Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie herzlich.Zunächst möchte ich einige Mitteilungen machen. Ich fange mit dem Geburtstag unseres Kollegen Benno Zierer an. Er feierte am 24. März seinen 60. Geburtstag. Unser Kollege Hans Koschnick beging am 2. April seinen 65. Geburtstag und der Kollege Hans Urbaniak am 9. April ebenfalls seinen 65. Geburtstag. Ich spreche den genannten Kollegen nachträglich unseren ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag aus.
Der Kollege Heribert Scharrenbroich hat am 23. März 1994 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als seine Nachfolgerin hat die Kollegin Dorothea Szwed am 24. März 1994 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
Die Fraktion der F.D.P. hat mit Schreiben vom 11. April 1994 mitgeteilt, daß der Abgeordnete Heinz-Dieter Hackel mit Wirkung vom 20. März 1994 aus der Fraktion der F.D.P. ausgeschieden ist. Er wird künftig dem Deutschen Bundestag als fraktionsloses Mitglied angehören.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zu den deutsch-türkischen Beziehungen
2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Notwendig zu ziehende Konsequenzen aus den aktuellen Fällen von Giftstoffen in Babynahrung3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Lage im früheren Jugoslawien4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste: Haltung der Bundesregierung zum verbrecherischen Brandanschlag auf eine Synagoge in Lübeck5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Dr. Roswitha Wisniewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dirk Hansen, Dr. Jürgen Schmieder, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Unterstützung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" — Drucksache 12/7225 —6.weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Apothekenrechts und berufsrechtlicher Vorschriften an das Europäische Gemeinschaftsrecht — Drucksache 12/7211 —Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.Weiterhin möchte ich Sie darauf hinweisen, daß die heutige Fragestunde entfällt, weil alle Fragen bereits gestern beantwortet wurden.Die Punkte ohne Debatte sollen unmittelbar nach Tagesordnungspunkt 5 aufgerufen werden. Danach findet die von der Gruppe PDS/Linke Liste verlangte Aktuelle Stunde statt.Der Tagesordnungspunkt 6, Änderung des Patentgebührengesetzes, soll abgesetzt werden.Des weiteren mache ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 210. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. Februar 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Wirtschaft überwiesen werden:Gesetzentwurf der Bundesregierung über Umweltstatistiken — Drucksache 12/6754 — (vom 3. Februar 1994)Sind Sie mit den Änderungen der Tagesordnung und der nachträglichen Ausschußüberweisung einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:Abgabe einer Erklärung der BundesregierungBericht der Bundesregierung zur Lage im früheren JugoslawienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä-
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18908 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthrung eine Stunde vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist eine Regierungserklärung zur Situation im früheren Jugoslawien. Aber Sie werden verstehen, daß ich zu Beginn doch gern sagen würde, daß wir uns freuen, daß alle Deutschen aus Ruanda gut herausgekommen sind,
und daß wir uns besonders darüber freuen, daß die elf Mitarbeiter der Deutschen Welle von belgischen Fallschirmjägern gestern herausgeholt worden sind.
Ich habe der belgischen Regierung, namentlich dem belgischen Außenminister, gestern dafür sehr, sehr herzlich gedankt. Ich glaube, das war angebracht. Es war eine gute, bemerkenswerte und für uns außerordentlich wichtige Leistung der belgischen Fallschirmjäger.Meine Damen und Herren, die Lage im ehemaligen Jugoslawien ist nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Insgesamt hat sie sich aber verbessert. Bosnier und Kroaten zeigen den ernsthaften Willen, auf der Grundlage der Vereinbarungen von Washington die Konfrontation des vergangenen Jahres zu überwinden und gemeinsam einen Bundesstaat aufzubauen.Die Menschen vor Ort glauben zum erstenmal seit langer Zeit mindestens an die Möglichkeit eines Friedens. Sarajevo ist aus dem schlimmsten Würgegriff serbischer Terrorangriffe — zumindest im Augenblick — befreit und kann auf eine Normalisierung des Lebens in der Stadt mit Hilfe der Vereinten Nationen hoffen, auch wenn es gestern leider wieder zu Zwischenfällen gekommen ist. In Mostar warten die Menschen auf die Einrichtung einer Verwaltung durch die Europäische Union, die von Hans Koschnick geleitet werden soll.Es muß jetzt alles getan werden, um das eingetretene positive Momentum zu erhalten. Es muß vor allem alles getan werden, daß die keimenden Hoffnungen nicht enttäuscht werden.Auch im kroatisch-serbischen Verhältnis hellt sich der Horizont etwas auf. Der Waffenstillstand vom 29. März wird eingehalten und umgesetzt. Das bedeutet, daß bislang gefährdete Bezirke Dalmatiens nicht mehr in der Reichweite der serbischen Artillerie liegen. Das ist für den Tourismus und damit für die gesamte Wirtschaft in der Region von erheblicher Bedeutung.Der nächste bedeutende Schritt muß die Wiederherstellung wichtiger Infrastrukturen beim Transport und bei der Energieversorgung sein. Auf der Grundlage eines solchen Modus vivendi können dann Verhandlungen über eine politische Lösung in Angriff genommen werden.Die Bundesregierung begrüßt das von uns immer wieder drängend erbetene starke amerikanische Engagement bei den Friedensbemühungen und die konstruktive Mitwirkung Rußlands. Die Rolle dieser beiden Länder ist von entscheidender Bedeutung. Rußland muß bei den Bemühungen um eine politische Lösung mit am Tisch sein. Ohne die Beteiligung Rußlands wird es im früheren Jugoslawien keine Lösung geben. Andererseits muß man auch erwarten dürfen, daß Rußland die Resolution des UN-Sicherheitsrates weiter mitträgt.Der Anteil der Europäischen Union darf auch nicht vergessen werden. Ja, es ist uns Europäern allein nicht gelungen, diesen eigentlich europäischen Konflikt in den Griff zu bekommen. Aber die Annäherung zwischen Moslems und Kroaten, die Forderung nach einer qualitativ befriedigenden territorialen Lösung in Bosnien, der Gedanke eines Modus vivendi in den serbisch besetzten Gebieten Kroatiens — diese Konzeptionen sind von der Europäischen Union auf Grund der Anstöße, die ich zusammen mit meinem französischen Kollegen Juppé gegeben habe, entwickelt worden.Die Verhandlungen über den Waffenstillstand in der Krajina haben zwar in der russischen Botschaft in Zagreb stattgefunden, aber sie sind — solche Dinge gehen leider unter — von einem deutschen Diplomaten im Auftrag der internationalen Konferenz über das ehemalige Jugoslawien geleitet. Wir stehen im ständigen engen Kontakt mit den Hauptbeteiligten, und wir waren mit unseren Vertretern aus dem Auswärtigen Amt natürlich auch bei den moslemisch-kroatischen Verhandlungen in Washington entscheidend dabei.Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist von großer Bedeutung, daß der Friedensprozeß glaubwürdig bleibt. Das bedeutet vor allem zweierlei. Es darf keine weiteren serbischen Eroberungen geben, und das Leiden der Menschen in den von den Serben belagerten Städten muß endlich aufhören.
Der Kampfeinsatz von Flugzeugen der NATO im Auftrag der Vereinten Nationen ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Der Einsatz war berechtigt, notwendig und richtig. Der Bundeskanzler und ich haben uns in den letzten beiden Tagen über die Gesamtsituation im früheren Jugoslawien und auch über diese speziellen Eingriffe nochmals ausführlich mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen unterhalten.Die rechtliche Grundlage für das Einschreiten ist unstrittig. Die Sicherheitsratsresolution 836, die von den Russen mitgetragen worden ist, sieht den Einsatz von Luftstreitkräften zur Unterstützung von UNPROFOR vor.Das serbische Vordringen auf Gorazde und die schwere Beschießung der Stadt haben die Sicherheit der dort stationierten Militärbeobachter der UN gefährdet. Ein UN-Soldat ist verwundet worden. Dar-
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkelaufhin forderte das Kommando von UNPROFOR mit Billigung durch den Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs Akashi bei der NATO Luftnahunterstützung an. Sie wurde am 10. April gewährt, am 11. April wiederholt.Dies entsprach dem vorher für solche Fälle festgelegten Verfahren. Bereits am 10. Juni des letzten Jahres ist innerhalb der NATO auf Grund der Sicherheitsratsresolution 836 beschlossen worden, generell solche Schutzmaßnahmen durch die NATO zuzulassen. Es bedurfte deshalb nicht mehr eines ausdrücklichen Verfahrens innerhalb der NATO, und aus Zeitgründen war die Unterrichtung aller anderen Beteiligten nicht mehr möglich.Es gab im UN-Sicherheitsrat am 11. April eine einhellige Zustimmung zu diesem Vorgehen, Ausnahme Rußland. Aber auch Rußland erhob keine völkerrechtlichen oder sonstigen rechtlichen Bedenken. Es monierte lediglich die fehlende Konsultation vor Durchführung der Einsätze. Aber ich sage nochmals: Eine neuerliche Befassung des Sicherheitsrates vor jedem Einsatz würde den Zweck der Resolution 836 beeinträchtigen und einen wirksamen, raschen, unmittelbaren Schutz gegen solche Angriffe vor allem gegen UNPROFOR-Soldaten unmöglich machen.Ich möchte noch einmal nachdrücklich darauf hinweisen, daß es sich nicht um eine der SarajevoDrohung vergleichbare Aktion gehandelt hat, sondern um eine gezielte Aktion auf Grund eines gezielten Angriffs gegen UNPROFOR-Truppen.Wir meinen, daß ein klares Signal der Entschlossenheit notwendig war. Der serbische Angriff auf eine UN-Schutzzone ist eine Provokation der Staatengemeinschaft, und wir wissen alle, was die Eroberung einer weitgehend moslemischen Stadt durch die Serben für deren Bewohner bedeuten würde. Die Vereinten Nationen durften es nicht zulassen, daß die von ihnen geschaffenen Schutzzonen einfach mißachtet werden. UN- Generalsekretär Boutros Ghali selbst — er hat es gestern noch einmal erläutert — hat noch am 9. April die bosnischen Serben unmißverständlich vor einer Fortsetzung der Angriffe auf Gorazde gewarnt und UNPROFOR angewiesen, im Einklang mit den Resolutionen des Sicherheitsrates alle verfügbaren Mittel anzuwenden, um einen Rückzug der Serben zu erreichen.Gorazde ist nach Sarajevo ein weiteres Symbol für das Leiden der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina. Dort sind seit Monaten rund 65 000 Menschen, meist Moslems, eingeschlossen. Leider kommen auch nur ganz selten und viel zuwenig die humanitären Hilfstransporte dorthin durch. In Gorazde muß sich jetzt zeigen, ob es der Staatengemeinschaft gelingt, das, was in Sarajevo erreicht worden ist, auch auf diese Stadt auszudehnen.Leider gibt es viele Sarajevos und Gorazdes, was zu leicht vergesssen wird, und wir müssen dringend versuchen, mosaikhaft an die anderen Brandherde genauso wie in Sarajevo heranzugehen. Es wird leider Gottes nicht anders gehen.Auch mit Blick auf den Friedensprozeß war der Einsatz richtig. Die Staatengemeinschaft kann dieKonfliktparteien nur dann zu einer politischen Lösung anhalten, wenn sie im Hinblick auf ihre eigenen Beschlüsse glaubwürdig bleibt.Die serbische Seite kontrolliert an die 70 % des Territoriums von Bosnien-Herzegowina. Die Staatengemeinschaft fordert, daß sich die Serben aus etwa 20 % des bosnischen Territoriums zurückziehen, wozu sich die serbische Seite früher schon einmal grundsätzlich bereit erklärt hat. Rückzug ist jetzt also angesagt und nicht weiterer Vormarsch.
Man kann den Serben auch in ihrem eigenen Interesse eigentlich nur raten, die Entschlossenheit der Staatengemeinschaft ernst zu nehmen und auf weitere militärische Vorstöße zu verzichten. Statt dessen sollten sie konstruktiv an den Bemühungen um eine friedliche Lösung mitwirken. Hierzu gehört vor allem, daß die serbische Seite ein qualitativ befriedigendes territoriales Angebot unterbreitet.Rußland sage ich: Wenn es vermeiden will, daß sich die Situation der letzten Tage wiederholt, so ist sicher das beste und wirksamste Mittel — das habe ich auch Herrn Kosyrew gesagt —, hierzu eine entsprechende Einflußnahme auf die serbische Seite weiter vorzunehmen. Allerdings muß ich sagen — ich habe es vorhin schon erwähnt —, daß die Russen außerordentlich konstruktiv mitarbeiten. Ihre Einflußmöglichkeit auf die Serben war entscheidend für den Rückzug der Truppen in und um Sarajevo, für die Freimachung von Tuzla für UNPROFOR-Truppen, jedenfalls bisher, und hoffentlich auch für weitere Friedensschritte.
Wenn jetzt die serbische Seite das legitime Eingreifen der Vereinten Nationen zur Durchsetzung der vom Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution zum Anlaß nehmen sollte, den Friedensprozeß insgesamt in Frage zu stellen — was ich mir nicht vorstellen kann —, dann allerdings wäre berechtigter Zweifel daran angebracht, daß sie jemals aufrichtig zu einem für die anderen Konfliktparteien und für die Staatengemeinschaft akzeptablen Frieden bereit war.Die Bundesregierung setzt weiter auf die Fortsetzung der in den letzten Wochen eingeleiteten Prozesse. Bei der Stabilisierung des noch schwierigen moslemisch-kroatischen Verhältnisses und vor allem bei der Implementierung einer hoffentlich bald kommenden Friedenslösung für ganz Bosnien-Herzegowina wird man hohe Erwartungen auch an uns, an die deutsche Seite, richten. Das gilt insbesondere für unsere Rolle bei der EU-Verwaltung von Mostar. Ich danke Herrn Koschnick ausdrücklich für seine Bereitschaft
zu seiner nicht ganz leichten Aufgabe, die er als EU-Administrator übernommen hat. Ich kann ihm nur sagen — er weiß das aus verschiedenen Gesprächen, die wir geführt haben —, daß er sich unser aller Solidarität und Unterstützung sicher sein kann. Ich
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkelhabe selten eine so positiv aufgenommene personelle Maßnahme innerhalb der Europäischen Union erlebt wie in Griechenland, als wir Herrn Koschnick gebeten haben, diese Aufgabe zu übernehmen. Viel Glück!
Auch bei der Öffnung des Flughafens von Tuzla und der Hilfe für den Wiederaufbau der vom Krieg betroffenen Gebiete wird man auf uns zählen, gerade weil wir uns an den militärischen Elementen der Befriedung nicht beteiligen können. Unser Engagement im humanitären Bereich, in dem wir sehr viel getan haben, muß aufrechterhalten bleiben.Ich danke nach wie vor auch von hier aus der deutschen Bevölkerung, die über 400 000 Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien aufgenommen hat; ich wiederhole stolz: mehr als doppelt so viele wie alle anderen europäischen Länder zusammen. Das ist eine erstaunliche Leistung.
Bei den Gesprächen in Washington ist das in ganz besonderer Weise gewürdigt worden, insbesondere auch von der moslemischen und der kroatischen Seite, und es ist uns nachdrücklich dafür gedankt worden, wie auch für unser sonstiges humanitäres Engagement, mit dem wir, was den finanziellen Beitrag anbelangt — man sollte das nicht so einfach wegdrükken oder vergessen —, an zweiter Stelle der Hilfsleistungen überhaupt stehen. Ich habe es hier schon einmal gesagt: Da brauchen wir unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.Aber die Weltgemeinschaft darf im Hinblick auf die nach wie vor schreckliche Situation im früheren Jugoslawien nicht müde und nicht desinteressiert werden. Das ist mit die größte Gefahr, die wir im Augenblick vor allem im Hinblick auf die humanitären Leistungen haben.Ich sage es noch einmal: Wir dürfen im Hinblick auf diese schreckliche Situation nicht müde, nicht lahm und nicht desinteressiert werden. Die Unterstützung, die der Deutsche Bundestag heute der Jugoslawienpolitik der Bundesregierung sicherlich geben wird, sollte auch als ein Signal in diesem Sinne verstanden werden.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans-Ulrich Klose.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Lage im ehemaligen Jugoslawien ist noch immer bedrückend. Noch immer werden dort im Krieg Menschen getötet, vertrieben, inhaftiert und vergewaltigt.Dennoch — da stimme ich mit dem Herrn Außenminister überein — gibt es heute Chancen für eine politische Lösung. Vorsichtig optimistisch stimmt mich einerseits die zum Positiven veränderte Situation in Sarajevo, zum anderen die Wiedereröffnung desFlughafens in Tuzla und schließlich die Tatsache, daß sich Kroaten und Muslime über eine gemeinsame Föderation geeinigt haben.Diese Vereinbarung könnte zum Ausgangspunkt für Frieden in Bosnien-Herzegowina werden, was freilich, meine Damen und Herren, nur realistisch ist, wenn es am Ende doch noch gelingt, die bosnischen Serben einzubeziehen. Danach sieht es derzeit noch nicht aus.Dennoch bin auch ich heute vorsichtig optimistisch, zum einen, weil sich die Russen allem Anschein nach konstruktiv an den Bemühungen um eine friedliche Lösung beteiligen. „Allem Anschein nach" sage ich, weil es in der Tat nicht ganz einfach ist, die russische Außenpolitik vor dem Hintergrund der innenpolitischen Unsicherheiten zu verstehen. Es gibt ja zu Jugoslawien die unterschiedlichsten Aussagen, auch aus den Reihen der russischen Regierung. Immerhin: Die bisher positive Rolle Rußlands sollte gewürdigt werden. Die Russen weiterhin in den politischen Prozeß einzubeziehen, halte ich jedenfalls für klug.
Zum anderen: Es ist unübersehbar, daß die amerikanische Entschlossenheit gewachsen ist. Jedenfalls sind die Amerikaner heute ganz offenbar bereit, sich aktiver einzuschalten als früher, und zwar politisch und militärisch. Zuvor haben sie sich erkennbar zurückgehalten, weil sie — wie ich finde: zu Recht — den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien in erster Linie als europäisches Problem angesehen haben. Die Europäer waren aber zu einer europäischen Problemlösung nicht fähig.Ich will niemandem, Herr Außenminister, zu nahetreten, aber meine Einschätzung der europäischen Rolle ist bei weitem negativer als Ihre. Ich will nicht so weit gehen und behaupten — was ja auch geschieht, und zwar nicht nur in der FAZ —, die Europäer hätten durch ihre Art von Politikmanagement den Konflikt eher noch verschärft. Ob das zutreffend ist und welche Rolle die deutsche Außenpolitik dabei gespielt hat, werden am Ende die Historiker klären. Die Frage, ob es schon in früheren Zeiten eine Chance für eine politische Lösung gegeben hätte, stelle ich deshalb nicht.Für heute sage ich: Es gibt vielleicht eine Chance für eine Lösung. Ich sage es ganz deutlich: Es gibt sie auch und vor allem, weil die NATO unter Führung der USA im Auftrag der UNO politisch und militärisch aktiv geworden ist.
Ein solches militärisches Eingreifen ist immer problematisch, weil gefährlich. Es besteht die Gefahr der Eskalation. Der Außenminister hat darauf hingewiesen. Ich stimme ihm zu.Gleichwohl bleibt die Feststellung richtig: Das UN/ NATO-Ultimatum hat im Falle Sarajevo gewirkt. Es bleibt zu hoffen, daß das aktive Eingreifen in Gorazde, von dem der Vorsitzende meiner Partei gesagt hat, es sei notwendig gewesen, dazu beiträgt, die Serben zur Besinnung zu bringen und — so füge ich hinzu — von
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Hans-Ulrich Kloseden Muslimen nicht als Zeichen einseitiger Parteinahme mißverstanden wird.
Meine Damen und Herren, die Verantwortlichen auf serbischer Seite sollten jetzt gut überlegen, was sie nach dem sehr vorsichtig dimensionierten militärischen Eingreifen der UNO tun wollen. Erste Reaktionen geben eher Anlaß zur Sorge. Die UNO führt aber keinen Krieg gegen das serbische Volk, und auch die NATO tut das nicht.Beide — die NATO übrigens als Erfüllungsgehilfe der UNO — schützen die eigenen Leute, die vor Ort den schwierigen Versuch unternehmen, Menschenleben zu retten und reale Bedingungen für eine politische Lösung des Konflikts zu schaffen. Die Verantwortlichen auf serbischer Seite sollten die richtige Schlußfolgerung ziehen und an den Verhandlungstisch zurückkehren. Deutsche Diplomatie sollte dazu beitragen, z. B. durch Nutzung der guten auch persönlichen Beziehungen zur russischen Regierung, daß dies geschieht. Wenn es darum geht, das Leiden der Menschen in Bosnien-Herzegowina zu beenden, dann liegen hier die eigentlichen Aufgaben der deutschen Außenpolitik. Darum sollte sich der deutsche Außenminister bemühen. Bei diesem Bemühen kann er mit unserer Unterstützung rechnen.Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, bei dieser Gelegenheit eine andere, eher bittere Berner-kung. Wir debattieren heute in diesem Hause ein weiteres Mal — etwas optimistischer als früher — über Jugoslawien. Die Situation dort bedrückt uns. Sie bedrückt uns nicht zuletzt, weil uns von dort tagtäglich Fernsehbilder erreichen. Ein paar Bilder kommen auch aus Kigali, so gut wie gar keine aus Afghanistan und überhaupt keine aus Angola, wo in dem noch immer anhaltenden Bürgerkrieg weitaus mehr Menschen getötet worden sind als im ehemaligen Jugoslawien. Ich stelle keine Vergleiche an, und ich werte auch nicht. Den sogenannten CNN-Effekt muß verantwortliche Politik aber einkalkulieren. Öffentliche Meinung ist wichtig. Sie wird gemacht, und sie hat Einfluß auf staatliches und internationales Handeln. Es darf aber kein bestimmender Einfluß werden, weil sich sonst die Frage nach der moralischen Legitimation unserer Politik stellt. Moral ist nicht der einzige Maßstab. Es zählen auch die eigenen Interessen und die der Partner. Doppelmoral sollten wir aber vermeiden.
Schlußwort: Meine Damen und Herren, unser langjähriger Freund und Weggenosse Hans Koschnick geht voraussichtlich schon im Mai nach Mostar, um dort beim Wiederaufbau zu helfen. Das ist keine leichte, sondern eine schwierige, sogar mit Gefahren verbundene Aufgabe. Daß du, lieber Hans, dafür zurVerfügung stehst, beweist Mut und großes humanitäres Engagement. Hab' Dank und viel Glück.
Als nächster spricht der Kollege Dr. Karl-Heinz Hornhues.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute den 14. April 1994. Vor zwei Jahren, präzise am 6. April 1992, hat die Europäische Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina als einen unabhängigen und selbständigen Staat, als ein Mitglied der Völkergemeinschaft anerkannt. Ich möchte damit auch in Erinnerung rufen, was seit der Zeit davor, seit 1991, im alten Jugoslawien insgesamt, aber speziell in Bosnien-Herzegowina geschehen ist, damit wir es nicht vergessen, wenn jetzt von Aufhellung gesprochen wird und sich hoffentlich auch Hoffnung abzeichnet. Seit der Zeit unendlicher Vermittlungsbemühungen, einer unendlichen Fülle von Waffenstillständen, die immer wieder gebrochen wurden, trotz wirtschaftlicher Blockaden und Embargos, trotz des Einsatzes einer immer größer werdenden Zahl von Blauhelmen hat es Hunderttausende von Toten, Vergewaltigungen, Folter und Mord in unsäglichem Maße gegeben.Auch wenn es richtig ist, Herr Kollege Klose, daß uns die Nähe des Brandherds, die Nähe des Elends beschert, daß wir es besonders nah miterleben, und daß anderes auch da ist, quantitativer vielleicht noch gewaltiger ist, stehen wir unverändert vor dem Problem, daß dort Lösungen fällig sind. Wenn wir heute Hoffnung haben, wenn hier von Aufhellung gesprochen wird — Herr Außenminister, ich stimme Ihnen zu, daß wir Grund haben, von Aufhellungen zu sprechen —, dann muß man allerdings auch deutlich genug sagen, warum wir denn Hoffnung auf Aufhellung haben.Ich teile die Kritik, die Herr Klose an unserem europäischen Verhalten geäußert hat. Es waren und sind letztendlich die Entschlossenheit der Amerikaner und, dadurch mit erzwungen, auch — so sehe ich dies — Aktivitäten der Russen, die insgesamt, aber vor dem Hintergrund des glaubwürdigen Androhens militärischer Gewalt zur Beendigung von Gewalt dazu geführt haben, daß überhaupt eine Chance da ist, daß wir heute wieder Hoffnung haben.Ich glaube, dies muß deutlich genug gesehen werden, damit wir für unsere Konsequenzen die richtigen Punkte ins Auge fassen. Denn es ist gut, sinnvoll und notwendig, über die Rolle Europas zu sprechen, zu begrüßen, daß die NATO Kraft gefunden hat. Aber es sollte dann auch nicht ausgelassen werden, daß Mitglied der Vereinten Nationen auch die Bundesrepublik Deutschland ist, daß Mitglied der NATO auch die Bundesrepublik Deutschland ist, daß Mitglied der Europäischen Union und all der Organisationen auch
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18912 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dr. Karl-Heinz Hornhueswir sind. Das Philosophieren und Räsonieren über die Lage in der Welt und die Aufgabe der Weltgemeinschaft ist richtig, notwendig und sinnvoll. Aber die Frage in erster Linie an uns — was ist unser Beitrag, was könnten wir denn tun, und haben wir genug getan? — muß gestellt werden.Die Wahrheit ist— so sehen wir es jedenfalls —: Erst das glaubhafte Androhen von Gewalt — wie sehr ist dies, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, im Plenum des Deutschen Bundestages bestritten und mit Begriffen wie „Militarisierung der Außenpolitik" von den Herren Kollegen Voigt, Verheugen und anderen diskriminiert worden —, erst die Bereitschaft, glaubwürdig Gewalt gegen die Gewalt zu setzen, hat Hoffnung gebracht. Dies möchte ich als wichtig zunächst einmal festgehalten wissen.
Herr Hornhues, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lowack?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Klose, Sie haben zwar nicht heute, aber vor einiger Zeit gesagt — ich möchte es hier zitieren, weil ich es für wichtig halte, daß Sie dies gesagt haben —:Die Weltgemeinschaft hat lange genug gebraucht, um zu begreifen, daß man ab einem bestimmten Punkt auf Gewalt nur noch mit Gewalt antworten kann. Eine politische Lösung kann nur zustande kommen, wenn zuvor deutlich gemacht worden ist, daß militärisches Vorgehen kein Ergebnis bringt.So wörtlich zitiert.
— Ich bezweifle dies nicht. Ich wollte es aber nur in Erinnerung rufen, weil es Ihre Meinung war.Die Frage, die sich heute stellt, ist für uns, für Sie, für uns alle: Was folgern wir eigentlich aus der Erkenntnis, daß die Weltgemeinschaft lange genug gebraucht hat? Denn Teile der Weltgemeinschaft — ich wiederhole das, was ich gerade gesagt habe — sind Sie, bin ich, sind wir. Deswegen stellt sich für uns im Bundestag die Frage, was es denn nun heißt, wenn Sie dies hier erklären und noch einmal bestätigen als Vorsitzender der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, also als Vorsitzender der Fraktion, die bis zum Augenblick noch damit beschäftigt ist, ihre Klagen beim Bundesverfassungsgericht genau gegen das aufrechtzuerhalten, was nach Ihrem eigenen Bekunden jetzt überhaupt erst Hoffnung bringt. Wenn Sie mit dem, was Sie sagen, glaubwürdig sein wollen, dann seien Sie bitte konsequent.
Sagen Sie dies nicht nur für sich, Herr Klose —
ich ehre Ihre Meinung, und ich weiß, was Sie denken —, sondern handeln Sie für Ihre Fraktion und für Ihre Partei, und tun Sie das, was in dieser Situation notwendig wäre.Die Frage ist, welche Konsequenzen Sie aus Ihren eigenen Erkenntnisprozessen für Ihre eigene Politik zu ziehen bereit sind. Sie haben nämlich nicht nur Ihre Klagen noch anhängig, sondern diesem Bundestag liegt auch noch ein Gesetzentwurf vor, mit dem Sie die Verfassung eingrenzen wollen, im Sinne eines isolierten Sonderrechtes für Deutschland, sich nicht zu engagieren und sich nicht zu beteiligen, also in dem Sinne, nicht die Konsequenzen aus Ihren eigenen Erkenntnissen, die ich gerade zitiert habe, zu ziehen.Ihr Parteivorsitzender, Herr Scharping, der sich bitter beschwert, daß wir hier diskutieren, ohne auf ihn zu warten — bitte schön, wir haben noch mehrere Gelegenheiten zu diskutieren —,
hat vorgestern in Washington Bemerkenswertes erklärt. Er hat gesagt:Als die Bundesrepublik Deutschland den Vereinten Nationen beitrat, übernahm sie die Rechte und Pflichten, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind.Ich kann nur sagen: Sehr richtig. Aber— so Scharping —wie alle anderen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen kann Deutschland nicht auf das Recht verzichten, im Einzelfall zu entscheiden, ob es an bestimmten Aktivitäten der Vereinten Nationen teilnimmt und, wenn ja, in welcher Form es dies tut.Ich kann wiederum nur sagen: Sehr richtig.
Dies war, so Scharping, die Linie der Bundesrepublik Deutschland, als sie den Vereinten Nationen beitrat. Wenn Sie jetzt „Sehr richtig!" sagen, bin ich zufrieden; denn das haben Sie noch bis vor kurzem bestritten.
Wir sagen also: Sehr richtig! Es ist, so Scharping, die Linie der gegenwärtigen Bundesregierung. Auch hier kann ich nur sagen: Sehr richtig, Scharping!
Dann kommt ein letzter Satz: Es wird auch die fundamentale Überzeugung einer SPD-geführten Bundesregierung sein. — Dazu kann ich nur sagen: Falsch — es sei denn, Sie sind endlich bereit, Konsequenzen aus solchen Sprüchen — ich kann dies nicht anders bewerten — zu ziehen, die nach außen etwas darstellen sollen, was sie nach innen, vor Ihrer eige-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18913
Dr. Karl-Heinz Hornhuesnen Partei, vor Ihrer eigenen Fraktion, nicht bereit sind, tatsächlich zu verifizieren.
Wenn dies Ihre neue Position sein soll — dies macht Herr Scharping allenthalben klar, und auch Sie versuchen, dies mit Ihren Erklärungen zu belegen —, dann beweisen Sie in diesem Hause, daß Sie die Kernbeschlüsse Ihres letzten Parteitages, so wie sie gemeint waren, in den Papierkorb werfen.Wir fordern Sie auf: Erstens. Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes zurück. Sein Inhalt, nämlich die Begrenzung der Isolierung Deutschlands auf einen Sonderpunkt, widerspricht eklatant
und elementar dem, was Ihr Vorsitzender Scharping soeben in den Vereinigten Staaten dem amerikanischen Volk und seinem Präsidenten versprochen und verkündet hat. Tun Sie endlich das, was Sie tun müssen, um glaubwürdig zu sein, auch vor dem eigenen Land, vor dem eigenen Volk.
Zweitens. Stimmen Sie, die SPD, unverzüglich unserem Koalitionsentwurf zum gleichen Problem zu. Sie können, indem Sie dem zustimmen, was Herr Scharping erklärt hat, genau dies tun. Nebenbei bemerkt hätte das noch den Vorteil für uns alle, daß wir bei Einsätzen der Bundeswehr ein Maximum an Mitbestimmung des Bundestages erreichen, das spätestens nach dem Urteil von Karlsruhe wohl nicht mehr erreichbar sein wird. Aber ich vermute, das interessiert Sie eh nicht besonders.Drittens. Nehmen Sie die Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht zurück. Wenn Sie dies nicht tun wollen, dann, bitte schön, stellen Sie sich hierhin und sagen klipp und klar ja zum Einsatz unserer Soldaten in den AWACS-Maschinen, der — wenn auch bescheidenen — Beteiligung unserer Soldaten an dem Versuch, Frieden in Jugoslawien zu schaffen.
Ihre Bekundungen hier sind ehrenwert und nett, aber Sie sind so lange unglaubwürdig
— da haben wir keinen Dissens mit dem Koalitionspartner —, wie Sie nicht bereit sind, jenseits des verfassungspolitischen Streites, den Sie, Herr Klose, austragen wollen, hier zu sagen:
„Wir sind in der Sache dafür, daß deutsche Soldaten, so gut es geht, helfen, in Jugoslawien Frieden zu schaffen. "
Herr Hornhues, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt ?
Nein. — Ich will das aufgreifen, Kollege Rüttgers. Sicherlich, auch der Koalitionspartner hat geklagt. Aber ich habe ja gerade gesagt: Stellen Sie sich jenseits der Klage — wenn das ausgetragen ist; und jedermann weiß ungefähr, wie es bei Gericht in einiger Zeit ausgetragen sein wird — hierhin und erklären für den Fall, daß es denn verfassungsmäßig wäre: Wir, die SPD, sagen ja.
Das wäre konsequent und glaubwürdig. Alles andere ist ein Herumreden und Heuchelei, jedenfalls ein Stück weit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen die Chancen ergreifen, die sich heute bieten, um das, was sich an Aufhellungen über dem ehemaligen Jugoslawien zeigt, zu nutzen. Dieser Punkt ist deshalb so wichtig — das hätte der Außenminister auch ruhig einmal vor dem Forum des Deutschen Bundestages sagen sollen —, weil wir mit unserer deutschen Politik in einer prekären Situation sind, wenn wir mit großen Appellen, mit unseren Vorstellungen kommen, aber immer dann, wenn es konkret wird, sehr leise sein müssen, weil wir da scheinbar unsere Probleme haben.
Sie haben den belgischen Fallschirmjägern gedankt — auch ich tue das —, daß sie unsere Leute, vor allem die Mitarbeiter der Deutschen Welle, aus Kigali nach Hause gebracht haben. Deutsche Verantwortung heißt auch: Vielleicht kommen die Belgier einmal auf die Idee, uns zu bitten, daß unsere Fallschirmjäger andere mitbringen.
Auch dies muß hier einmal bedacht werden. Es reicht nicht aus, anderen zu danken, daß sie uns helfen; denn irgendwann kommt der angesprochene Punkt, und das wird immer wahrscheinlicher.Ich bitte Sie, Ihre eigenen Presseerklärungen zu lesen, Erklärungen auf dem Papier Ihrer Fraktion, Herr Kollege Struck, die der Kollege Niggemeier nach seinem Besuch in den USA Ende vergangenen Jahres bezüglich der Erwartungshaltungen von anderen an uns herausgegeben hat, um deutlich zu machen, daß wir in manchen Fragen viel peinlicher berührt sein müßten, als wir uns berührt fühlen, wenn wir unseren eigenen Leuten zuhören.Letzte Anmerkung: Wir haben heute hier auch über die Rolle Rußlands geredet. Ich bin erfreut und
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Dr. Karl-Heinz Hornhuesmöchte das für meine Fraktion auch sagen, daß — soweit erkennbar — in diesen konkreten Punkten die russische Außenpolitik diese Prozesse positiv unterstützt und begleitet hat.Ich würde aber jetzt davor warnen, daraus grundsätzliche Positionen aufzubauen, die a priori sagen: Es geht nicht ohne Rußland, sondern nur mit Rußland. Denn dies ist in jeder Beziehung gefährlich.
Man stelle sich vor, andere hätten gesagt: Es darf nicht gegen, es muß immer mit Deutschland sein. Ich will nicht immer die anderen anführen, wenn es darum geht, wo wir in Sachen Jugoslawien in Europa eigentlich stehen könnten. Wir stehen als Europäer zum Teil wegen unseres eigenen Verhaltens dort, wo wir stehen.
Meine Bitte an alle Beteiligten: Es ist richtig, notwendig und sinnvoll, weil die Serben die Russen als eigentliche Schutzmacht begreifen, die Russen, so gut es geht, in den Prozeß im Sinne, Frieden und Befriedung zu schaffen, hineinzuziehen. Das ist richtig und notwendig. Jeder kleine Fehler kann sich zu einem großen Fehler auswirken.Wir sollten uns aber hüten, anderen ohne Not Positionen einzuräumen, die am Ende auch als Blokkaden begriffen werden können.Wir fordern die Bundesregierung mit dem, was wir in unserem Antrag formuliert haben, auf, mit aller Entschlossenheit und allem, was irgend möglich ist — dabei ist irgend möglich sehr weit zu interpretieren —, jetzt so engagiert wie möglich dafür zu kämpfen, daß sich die kleinen Aufhellungen zu großen Aufhellungen, zu großen Hoffnungen auf Frieden für die Menschen im betroffenen Bereich des ehemaligen Jugoslawiens entwickeln und letztlich auch uns helfen, einige Probleme bei uns besser lösen zu können.Herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Ulrich Irmer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Meine Damen und Herren! Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion, Herr Klose, hat eine sehr gute Rede gehalten.
Herr Klose, ich kann Ihnen in fast allem zustimmen, was Sie gesagt haben. Ich stimme Ihnen vor allem in dem zu, daß Sie hier erklärt haben, die militärischen Schläge, die es von der NATO im Auftrag der Vereinten Nationen gegeben hat, seien notwendig gewesen. Es ist leider so. Keiner kann begrüßen, daß die positiven Entwicklungen, die der Bundesaußenminister geschildert hat, erst durch militärische Schläge eingeleitet werden konnten. Das ist eine traurigeWahrheit, aber es ist die Wahrheit. Daß Sie dieses erkannt und anerkannt haben, begrüße ich.Sie haben dann gesagt, Herr Klose, auch Herr Scharping sei Ihrer Meinung. Ich kann nicht überprüfen, ob er das so erklärt hat.
Ich kann auch nicht überprüfen, ob richtig ist, was heute früh in einer kleinen Meldung der „Süddeutschen Zeitung" steht. Ich habe die Zeitung mitgebracht. Frau Präsidentin, wenn Sie gestatten, werde ich das vorlesen:Zugleich kritisierte Scharping die Bundesregierung, weil sie den Eindruck erwecke, die Amerikaner drängten die Deutschen zur Beteiligung an internationalen Kampfeinsätzen. Er habe aus den Gesprächen mit Clinton und dessen Administration vielmehr den Eindruck gewonnen, als ob auch die USA nach „strengeren Regeln für solche Einsätze suchen" .Jetzt kommt es, hören Sie ganz genau zu, denn so soll es Herr Scharping gesagt haben. Die „Süddeutsche Zeitung" ist in aller Regel sehr seriös, so daß ich mich auf dieses Zitat verlasse.Es sei „kaum vorstellbar", daß UNO-Truppen in den nächsten Jahren Einsätze unternähmen, an denen Deutsche nicht teilnehmen könnten, selbst wenn der Grundsatz der SPD gelte, sich an „aktiver Kriegsführung" nicht zu beteiligen.Da haben wir es, meine Damen und Herren.
AWACS-Einsätze, bei denen Deutsche beteiligt und mit Recht beteiligt sind, sind rechtlich gesehen Kampfeinsätze, also etwas, was Sie nicht wollen. Und deshalb klagen Sie ja auch in Karlsruhe. Ich weiß schon, welcher Einwand jetzt kommt. Keine Angst, keine Angst, ich gehe darauf ein.
Sie klagen ja in Karlsruhe nicht deswegen, weil Sie verfassungsrechtliche Probleme sehen, die ausgeräumt werden müßten, sondern deshalb, weil Sie den AWACS-Einsatz nicht wollen. Das ist eben genau der Unterschied zwischen Ihrer Position und der unseren.Auch wir klagen in Karlsruhe, jawohl. Wir werden nächsten Dienstag dort in Karlsruhe stehen.
Wir haben in Karlsruhe geklagt — zunächst ging es um die Erlangung einer einstweiligen Anordnung — weil wir wollten, daß die deutschen Soldaten, die sich dort beteiligen, nicht das Risiko in ihrem Tornister mit herumschleppen, möglicherweise in ein verfassungswidriges Abenteuer geschickt worden zu sein. Diese Klarheit haben wir durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekommen. Seit im Verfahren zur Erlangung einer einstweiligen Anordnung das
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18915
Ulrich IrmerBundesverfassungsgericht entschieden hat, der AWACS-Einsatz läuft weiter mit Beteiligung der Deutschen, bewegen wir uns, die wir das politisch verantworten wollen, und bewegen sich die Soldaten auf einer klaren verfassungsrechtlichen Grundlage.
Herr Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Ja.
Herr Irmer, wollen Sie dem Hause und den Menschen wirklich erklären, daß die Klage der F.D.P. in Karlsruhe etwas Gutes und die Klage der SPD in Karlsruhe etwas Schlechtes sei? Das würde mich wirklich interessieren, denn das ist doch wirklich scheinheilig.
Frau Kollegin, Sie haben das so präzise auf den Punkt gebracht, daß es mir fast schwergefallen wäre, das in dieser Perfektion zu formulieren.
Frau Kollegin, ich beantworte Ihre Frage. — Nein, ich lege Wert darauf, daß Sie stehenbleiben, weil ja sonst etwas von meiner Redezeit abgezogen wird.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, genau dieses ist der Fall. Ich kann Ihnen auch erklären, warum.
Die F.D.P.-Fraktion hat nämlich gemeinsam mit ihren Partnern in der Koalition, nämlich der CDU/CSU-Fraktion, einen Antrag ins Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht. Wenn dieser Antrag die notwendige Zweidrittelmehrheit finden würde, dann hätten wir mit dem AWACS-Einsatz und anderen von Ihnen selbst als notwendig bezeichneten Einsätzen keine Probleme mehr.
Wir haben das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet, kommen da aber leider Gottes nicht weiter, weil es eine bedeutende Fraktion in diesem Hause gibt, nämlich die SPD-Fraktion,
die zwar sagt, dieses alles sei notwendig, die aber nicht bereit ist, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür mit uns zu schaffen. Das mahnen wir hier erneut an. Das ist dringend erforderlich.
Die Klage der F.D.P.-Fraktion beim Bundesverfassungsgericht ist einfach der Versuch, aus einem sonst wegen Ihrer Verweigerung nicht lösbaren Dilemma
herauszukommen. Die F.D.P. ist eine Rechtsstaatspartei. Wir unternehmen nichts, bei dem wir nicht genau wissen, ob wir uns auf gesicherter verfassungsrechtlicher Grundlage befinden.
Weil wir wegen Ihrer permanenten böswilligen, destruktiven Verweigerung nicht dazu kamen, die Voraussetzungen für die Klarstellung zu schaffen, blieb uns nichts anderes übrig, als den einzigen Ausweg zu gehen, nämlich beim Bundesverfassungsgericht diese Klärung zu suchen. Ich werde Ihnen sagen: Wir werden nächste Woche triumphieren, weil wir nämlich mit unserer Klage abgewiesen werden.
Herr Irmer, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Schmidt?
Ja, bitte gern.
Herr Abgeordneter, könnten Sie sich vorstellen, daß sich der Parteivorsitzende der SPD, Scharping, ausweislich des von Ihnen vorgetragenen Zitats aus der „Süddeutschen Zeitung", mit der Diskussion in der amerikanischen Öffentlichkeit, insbesondere mit dem Antrag des Senators Cohen im amerikanischen Senat, der auf eine stärkere grundsätzliche und vorbehaltlose Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an allen Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen abzielt, vielleicht nicht beschäftigt hat oder die Tiefe der Diskussion in den Vereinigten Staaten nicht im vollen Umfang verinnerlicht hat?
Verehrter Kollege, ich kann mir bei Herrn Scharping insbesondere vorstellen, daß er im Weißen Haus bei Herrn Clinton auf dem Schoß sitzt
und ihm erklärt, daß sich an der deutschen Außenpolitik nichts ändern würde, daß er dem Präsidenten Clinton erklärt — das haben wir ja gerade von Herrn Klose gehört —, notfalls müsse mit militärischem Zwang auf militärische Gewalt geantwortet werden, daß er ihm dann aber auch erklärt: Die Deutschen machen das nicht. — Auf der einen Seite zitieren Sie, Herr Klose, Herrn Scharping und sagen, auch dieser halte das für notwendig, was im ehemaligen Jugoslawien leider notwendig war. Auf der anderen Seite wird aber gesagt: Das sollen die anderen machen. — Dazu kann ich nur sagen: Hier wird mit dem Säbel gerasselt, aber leider mit dem fremden. Das ist außerordentlich mißlich.
Wer selbst nicht bereit ist, sich an solchen Aktionen zu beteiligen, es aber von anderen verlangt, der soll sich einmal vergegenwärtigen, was für eine doppelbödige Moral er hier eigentlich vertritt.
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18916 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Ulrich IrmerDer Kollege Hornhues hat mit vollem Recht gefragt: Was wäre denn, wenn belgische Zivilisten eines Tages davon abhängig sein sollten, daß sie nur deutsche Soldaten aus einer Lage wie der in Kigali herausholen könnten? Da sagen wir: Ach, ihr Belgier, wir sind euch ja so unendlich dankbar, daß ihr unseren Landsleuten geholfen habt; aber — das tut uns ja so leid — das könnt ihr von uns doch nicht verlangen! Unsere Moral ist so hochwertig, daß — ich zitiere erneut Herrn Scharping, und zwar laut „Süddeutscher Zeitung" — der Grundsatz der SPD gelten muß, daß wir uns an aktiver Kriegführung nicht beteiligen können. — Machen wir uns die Finger nicht schmutzig! Die Dreckarbeit sollen die anderen machen!Wir müssen uns dann allerdings von Ihnen wiederum den Vorwurf machen lassen, wir betrieben Scheckbuchdiplomatie, weil wir, wenn wir uns selbst nicht beteiligen, um so mehr zahlen müssen. Das ist Ihnen dann auch wieder nicht recht.Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie im Herbst die Regierungsverantwortung übernehmen wollen, was Sie ja immer betonen, — —
— Sowieso, Herr Solms, das ist ja nicht zu erwarten. Das ist ja geradezu absurd!
Aber sie behaupten es ja immer. — Sie sind ja dreist genug, diesen Anspruch zu erheben. Da kann ich nur sagen: Wer diesen Anspruch erhebt, der muß sich in seiner Haltung zu den elementaren Fragen unserer nationalen Sicherheit und unserer nationalen Verantwortungsbereitschaft grundlegend ändern.
Dies noch dazu mit den Grünen, die aus der NATO austreten wollen, die die Bundeswehr einfach beiseite fegen wollen: Das brauchen wir ja alles nicht; das haben wir ja alles nicht mehr nötig. — Wir leben ja in einem sicherheitspolitischen Paradies. — Wer dieses sagt und auf dieser Basis Regierungsverantwortung übernehmen will, der muß sich dem deutschen Volk, unseren Mitbürgern stellen und muß sagen, wie die Herausforderungen beantwortet werden sollen, die leider Gottes ringsherum nach wie vor lauern. Wir reden doch heute über Jugoslawien. Ist denn die Welt seit dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes ein lauschiger Platz geworden? Wenige hundert Kilometer von uns entfernt wird gekämpft. Dort finden blutigste Auseinandersetzungen statt. Wir reden heute darüber, daß ein Hoffnungsschimmer da ist. Der Außenminister hat es erklärt. Wir reden darüber, daß vielleicht die Aussicht besteht, daß durch die Gegengewalt, die die NATO im Auftrage der UNO ausgeübt hat, der Friedensprozeß gefördert werden kann. In welcher Welt leben wir denn? Und da sagen Sie: Das sollen einmal die anderen machen! Oder: All diese sicherheitspolitischen Fragen interessieren uns nicht.Herr Klose, das, was Sie heute gesagt haben, war sehr gut. Das, was Herr Scharping erklärt hat, ist wahrscheinlich auch ganz gut. Aber dann müssen SieIhre Haltung ändern. Da dürfen Sie nicht nur reden, sondern Sie müssen das in praktische Politik umsetzen. Deshalb fordere ich Sie noch einmal auf: Stimmen Sie unserem Antrag auf Grundgesetzänderung zu. Dann können wir diese ewige Auseinandersetzung vergessen und beenden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte noch einen anderen Gesichtspunkt ansprechen. Wir haben hier gestern auch den traurigen Anlaß gehabt, uns über die zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen zu unterhalten, die auf unser Land durch Aktionen, zum Teil leider gewalttätige Aktionen, von Gästen in unserem Land übergreifen. In diesem Falle handelt es sich um die Kurden.Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, daß ich den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sehr dankbar bin, die bei uns Zuflucht gefunden haben — Herr Kinkel hat es erwähnt —, daß sie sich hier bisher friedlich verhalten haben. Ich möchte diese Menschen auffordern, sich nach wie vor friedlich zu verhalten.
Ich glaube, es verdient Anerkennung, daß diese Menschen unsere Gastfreundschaft bisher nicht mißbraucht haben.Ein anderer Aspekt noch in diesem Zusammenhang. Wir hatten neulich eine Auseinandersetzung darüber, daß Kriegsdienstverweigerer und Deserteure möglicherweise zurückgeschoben werden sollten. Ich möchte hier unsere Gerichte darum bitten, ihre Rechtsprechung nachhaltig zu überprüfen. Ich weiß, das Kriegsdienstverweigerung als solche kein Asylgrund ist. Das ist dann völlig richtig, wenn ein Land legitim junge Männer oder auch Frauen zum Wehrdienst einzieht. Das ist bei uns auch so, und das ist in vielen zivilisierten, gesitteten Ländern ohne weiteres so. Insofern ist Kriegsdienstverweigerung als solche kein Asylgrund.Aber es ist eine andere Situation, wenn, wie in Serbien, junge Männer, die wehrpflichtig sind, dazu gezwungen werden, in einen international als rechtswidrig erklärten Krieg einzugreifen, wenn sie von einer verbrecherischen Regierung — ich sage es hier so — gezwungen werden, das internationale Recht zu brechen und menschenrechtswidrig zu handeln. Ich glaube, es wäre angebracht, daß unsere Gerichte ihre Rechtsprechung zum Problem Kriegsdienstverweigerung als Asylgrund im Falle dieses rechtswidrigen Einsatzes noch einmal überprüfen und die Rechtsprechung ändern.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure ausdrücklich, hier sagen zu müssen, daß ich die Verfassungsauffassung meines verehrten Kolle-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18917
Dr. Burkhard Hirschgen Irmer nicht teilen kann. Ich halte die Beteiligung der Bundeswehr, außer im Falle der Verteidigung, an militärischen Einsätzen für verfassungswidrig.
Nichts anderes ergibt sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsfrage ausdrücklich offengelassen und hat sich lediglich entschieden, den Einsatz nicht durch eine einstweilige Entscheidung zu verbieten. Es hat diese Entscheidung ausdrücklich mit der Klarstellung verbunden, daß damit eine Entscheidung in der Hauptsache nicht getroffen ist.Ich hoffe, daß wir mit der Klage, die wir erhoben haben, in der nächsten Woche Erfolg haben werden. Denn nur auf diese Weise kann wirklich sichergestellt werden, daß der Deutsche Bundestag an derartigen Entscheidungen politisch beteiligt wird und daß sich keine Bundesregierung auf die Verfassung berufen könnte, wenn sie unsere Söhne in einen anderen Krieg schickt.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Hans Modrow.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Leid der Menschen in Bosnien, der Moslems, Serben und Kroaten, ist ins Unermeßliche gewachsen. Deshalb gibt es im gegenwärtigen Moment keine vordringlichere Aufgabe, als zu verhindern, daß das Feuer des Bürgerkrieges weiter angefacht wird.
Der Herr Außenminister hat leichte Verbesserungen festgestellt. Nichts wäre aber verhängnisvoller, als anzunehmen, daß die NATO unter dem Mantel der UNO durch Schläge aus der Luft in Bosnien den Bürgerkrieg beenden kann. Der Frieden läßt sich nicht mit Bomben herbeiführen. Mit ihnen wird der Weg einer friedlichen Verhandlungslösung belastet oder verlassen und den Menschen noch größeres Leid zugefügt.
Ausgerechnet in der jetzigen Situation — dazu noch in Jugoslawien — eine deutsche militärische Mitwirkung zu verlangen zeugt von einem überaus bedenklichen Mangel an Geschichtsbewußtsein und von einem Übermaß an großdeutschem Denken.
Hier wurde Herr Scharping zitiert. Lassen Sie sich bitte auch daran erinnern, daß der Herr Bundeskanzler mehrfach erklärt hat, daß die Bundeswehr nicht dorthin gehen dürfe, wo deutsche Soldaten schon einmal gewesen seien. Wir fügen allerdings hinzu, daß die Bundeswehr unter keinen Umständen außerhalb des NATO-Gebietes eingesetzt werden darf.
Niemand sollte auch die Augen davor verschließen, daß die angeblich im UNO-Auftrag abgefeuerten Raketen und Bomben auch der Weltorganisation selbst schaden können. Die NATO bombardiert in Bosnien und beruft sich dabei auf eine „Legitimation" der UNO. Aber sie weiß, daß Rußland und auch China, mit einem Vetorecht ausgestattete ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrates, diese Schritte, so wie geschehen, nicht mittragen. Der Hinweis darauf, daß Rußland in früheren, vielseitig auslegbaren Resolutionen einem solchen Vorgehen zugestimmt hat, kann nur zur Augenwischerei werden. Er ändert nichts an der Tatsache, daß das Land NATO-Luftangriffe ablehnt.
Wer diese Position mißachtet, setzt mehr aufs Spiel als nur die Grundlagen einer gemeinsamen Jugoslawienpolitik. Die berechtigten Erwartungen an Rußland müssen durch ständige Information und Absprachen gesichert werden. Das Mitwirken Rußlands ist, gerade wenn es um eine friedliche Lösung durch Verhandlungen mit den bosnischen Serben und Restjugoslawien geht, unverzichtbar.
Wenn die Veränderungen seit 1989, der Wandel in der internationalen Kräftebalance, der nicht wenige von einem entstandenen Machtvakuum sprechen läßt, dazu genutzt wird, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen, nach eigenem Gutdünken mit Gewalt zu drohen, Ultimaten zu stellen und zu bombardieren, dann geht die Welt schweren Zeiten entgegen. Alle Seiten — gerade auch wir Deutschen — sollten darüber nachdenken, wie ein Abdriften in internationale Anarchie und Chaos verhindert werden kann.
So betrachtet ist Bosnien für alle eine große Herausforderung, über den engen Horizont politischer Rechthaberei hinauszudenken. — Was hier von seiten der CDU und auch, Herr Irmer, von Ihnen an Polemik gegenüber der SPD vorgetragen wird, zeugt doch nachdrücklich davon: Wir stehen hier im Wahlkampf und nicht in der Diskussion über Jugoslawien. — Es geht nicht nur um Bosnien oder um den Balkan, sondern vor allem auch darum, nicht die Chancen für eine internationale Friedensordnung zu verspielen, die auf Gleichberechtigung, gegenseitiger Berechenbarkeit und gleicher Sicherheit beruht.
In diesen Tagen ist Bosnien ein Prüfstein für politischen Weitblick und Verantwortungsbewußtsein. Beides verlangt, wenn erforderlich, auch mit nichtmilitärischem Druck auf alle Seiten dazu beizutragen, daß endlich eine stabile Waffenstillstandsvereinbarung herbeigeführt und der Verhandlungsprozeß wieder aufgenommen wird. Eine internationale Konferenz fiber Sicherheit und Entwicklung in Jugoslawien, wie sie in Frankreich zunehmend ins Gespräch kommt, könnte ein weiterer Schritt zu einer dauerhaften Lösung des Konfliktes sein. Unabdingbare Voraussetzung ist und bleibt der Verzicht auf eine weitere militärische Einmischung der NATO.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Als nächste spricht die Kollegin Vera Wollenberger.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist begleitet von einer Kette schlimmster Unterlassungen seitens der Westmächte. Es werden nicht nur Mord, Vergewaltigung und ethnische Säuberung auf dem Balkan zugelassen, sondern auch eine beispiellose Entwertung unserer
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18918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Vera Wollenbergerdemokratischen Instrumentarien. Seit Jahren werden die UNO, die NATO und die westliche Diplomatie von den Serben vorgeführt.Das Ergebnis ist, daß alle Bemühungen eine Situation herbeigeführt haben, die einen halben Frieden und einen halben Krieg mit dem Westen bedeutet. Das ist eine gefährliche Lage, die den größten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg auslösen könnte, wenn es den Serben erlaubt wird, mit russischer Hilfe weiter die Machtprobe zu suchen.Am 6. Mai 1993 hat der Weltsicherheitsrat sechs Städten in Bosnien-Herzegowina den Status einer UN-Schutzzone zugewiesen: Sarajevo, Bihac, Gorazde, Žepa, Srebrenica und Tuzla. Seitdem sind die Menschen in diesen Zonen — Sarajevo seit kurzem ausgenommen — schutzlos dem Beschuß der Serben ausgesetzt. In allen Städten herrscht akuter Mangel an Nahrungsmitteln, Medikamenten und Brennholz. Bihac z. B. ist von seinen stadtnahen Wäldern abgeschnitten, so daß es nicht einmal Holz zum Kochen gibt. Wenigstens kann es, seit es die Friedensvereinbarung zwischen Kroaten und Muslimen gibt, über den Landweg notdürftig versorgt werden.In Gorazde und Žepa sind nächtliche Abwürfe von deutschen, französischen und amerikanischen Flugzeugen die Hauptversorgungsquelle. Die feierliche medienwirksame Öffnung des Flughafens von Tuzla, auf den heute sowohl der Außenminister als auch Hans-Ulrich Klose Bezug genommen haben, ist folgenlos geblieben. Bis heute gab es keinen einzigen Hilfsflug, der in der bedrängten Stadt landen konnte. Das muß man hinzufügen, wenn man von der Öffnung des Flughafens Tuzla spricht.
In Gorazde sind die Serben bis tief in die Stadt vorgedrungen. Nun hat die UNO in Form von Luftangriffen durch NATO-Kampfbomber auf diese Erstürmung reagiert — aber nicht etwa, um der Bevölkerung zu helfen, sondern um die UNO-Blauhelme zu schützen.Ich kann die Erwartung, die Serben würden daraufhin ihr Artilleriefeuer auf die Stadt abbrechen, nur als einfältig bezeichnen. Dazu hatten sie mit den Vereinten Nationen viel zu ermutigende Erfahrungen gemacht. Seit 1991 führen sie ihren Eroberungskrieg; erst Anfang 1994 entschlossen sich die Vereinten Nationen zu einer Tat. Vier serbische Kampfflugzeuge und zwei Panzer wurden abgeschossen. Das reicht aber nicht aus, um auch nur die dünnste Pufferzone um Gorazde zu ziehen, ohne die eine weitere Bombardierung der Stadt nicht verhindert werden kann.Vielleicht, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist Gorazde das letzte Signal für den Westen. Was jetzt unbedingt geschehen muß, ist, daß die sechs Schutzzonen in Bosnien mit demselben Engagement gesichert werden, wie dies gegenüber dem Irak mit kurdischem Gebiet geschieht.
Nur dann, wenn die UNO ihre Beschlüsse in die Tat umsetzt, entgeht sie der Gefahr, zum Papiertiger zu werden.
Ich bin aber der Meinung, daß in NATO-Einsätzen im Auftrag der UNO keine politisch weiterführende Perspektive liegt. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tritt für eine umfassende Stärkung der UNO ein. Das heißt auch, daß dann, wenn sich die UNO auf die Notwendigkeit militärischer Zwangsmaßnahmen einigt, diese von eigenen UNO-Truppen und nicht von einem einzelnen Land oder einem Militärbündnis ausgeführt werden sollten. Das heißt zugleich, daß UNO-Gremien, die UNO-Beschlüsse fassen, auch für die Umsetzung Sorge tragen. Ich möchte nicht eine Situation, in der die UNO nur noch ein Firmenschild ist, hinter dem die USA und Rußland ihre früheren Supermachtabsprachen fortsetzen. Genau das ist aber die Gefahr, in der wir uns heute befinden: Nicht die UNO, nicht die NATO, sondern letztlich der amerikanische Präsident hat die Luftangriffe in Bosnien befohlen, ohne übrigens diesmal Jelzin einzubeziehen. Prompt fühlte sich Jelzin boykottiert und drohte in alter sowjetischer Großmachtmanier bei seinem Besuch in Spanien mit einem „Krieg ohne Ende" .Ich unterstütze deshalb ausdrücklich die Entscheidung, daß russische Truppen, die in GUS-Staaten friedenserhaltende Aktionen durchführen, dies selbst dann, wenn sie von der jeweiligen Regierung darum gebeten wurden, nicht unter UNO-Mandat machen können.
Die UNO muß ihre eigene Legitimation haben, muß aus eigenem Recht handeln. Ihre Beschlüsse dürfen nicht von Großmachtinteressen instrumentalisiert werden können. Nur so können wir Schritte zu einer Weltinnenpolitik wirklich in Angriff nehmen.
Als nächster spricht der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon wahr, Frau Kollegin Matthäus-Maier: Ihr Parteivorsitzender hat uns etwas Erstaunliches aus Washington mitgeteilt. Es wird nämlich gemeldet: Der SPD-Kanzlerkandidat nannte es einen erstaunlichen Vorgang — so wörtlich —, daß die Koalitionsparteien ausgerechnet seine Abwesenheit nutzten, um zwei wichtige außenpolitische Debatten im Bundestag anzusetzen.
— Ja, so steht es hier wörtlich. — Dies zeugt nicht unbedingt von Selbstbewußtsein, sagt Herr Scharping. Aber von großem eigenen Selbstbewußtsein zeugt es schon. Ich finde, es zeugt von Überheblichkeit, die ganz unglaublich ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18919
Karl LamersGleichzeitig hat er sich auch darüber beklagt, daß wir — Kollege Irmer, wir beide sind hier gemeint, die F.D.P., die CDU/CSU — es wagten, die Außenpolitik in den Wahlkampf zu ziehen.Was hat denn Herr Scharping die ganze Zeit in Washington eigentlich gemacht? Und was machen auch Sie, Kollege Klose, die ganze Zeit hier im Bundestag? — Sie versuchen, wie er in Washington, die deutsche und die internationale Öffentlichkeit über Ihre wahren Positionen hinwegzutäuschen. Das ist die Tatsache.
— Ich will jetzt, Kollege Klose, nicht über Ihre Position, aber über die Position Ihrer Partei, wie sie in Parteitagsbeschlüssen, im Regierungsprogramm und in allen möglichen sonstigen Dokumenten verankert ist, sprechen.
Sie haben neulich einmal gesagt — zu Recht, wie ich leider zugeben muß —, im Südwestfunk, die internationale Öffentlichkeit habe lange gebraucht, um zu begreifen, daß in bestimmten Situationen Gewalt nur mit Gewalt beantwortet werden kann. Dies ist unsere Meinung immer gewesen, aber Ihre Partei hat es bis heute nicht begriffen. Wenn Sie es wirklich begriffen haben, dann haben Sie heute eine Gelegenheit, es zu beweisen, indem Sie unserem Antrag zustimmen. Den werde ich gleich noch einmal erläutern.Herr Scharping sagt im übrigen: Die Politik der Bundesregierung ist gut; wir wollen sie fortsetzen. — Ich sehe nicht ein, wieso er sie fortsetzen soll, zumal Ihr einziger Beitrag bislang gewesen ist, uns daran zu hindern, daß sie noch besser ist.
Das ist doch die Wirklichkeit, auf die der Kollege Irmer hingewiesen hat.Es ist nun einmal eine Tatsache, daß nach den Wiesbadener Parteitagsbeschlüssen, nach Ihrem Regierungsprogramm und nach Ihrem Antrag auf Änderung des Grundgesetzes die Teilnahme deutscher Streitkräfte, die Teilnahme deutscher Soldaten an den AWACS-Flügen ausgeschlossen wäre. Sie versuchen, das dauernd zu verschleiern. Sie begrüßen das, was jetzt in Bosnien geschehen ist, aber verschweigen eben der deutschen Öffentlichkeit, daß, wenn Sie das Sagen hätten, eine deutsche Beteiligung nicht möglich wäre. Das verschweigen Sie permanent.Scharping sagt in Washington: Wir müssen die vollen Pflichten eines Mitgliedes der Vereinten Nationen übernehmen. — Ja, aber dazu gehört die Teilnahme an allen in der Charta der Vereinten Nationen — nicht nur an den im Kapitel VI, sondern auch an den in Kapitel VII —vorgesehenen Maßnahmen, also auch an Kampfmaßnahmen. Wenn ich mich noch richtig erinnere, dann haben Sie ausdrücklich und mehrfach, auch auf Ihrem Parteitag, gesagt: Teilnahme an solchen Maßnahmen wie Golfkrieg auf gar keinen Fall. — Und gegen AWACS klagen Sie.Also, es ist einfach nicht wahr, was Sie sagen. Es steht in einem eklatanten Gegensatz zu dem, was Sie schriftlich niedergelegt haben, was Ihre Partei auf Vorschlag des Parteipräsidiums beschlossen hat. So müssen Sie schon einmal erklären, was denn nun eigentlich gilt: Das, was Sie sagen, oder das, was Sie auf Parteitagen beschließen, das, was Sie in Regierungsprogramme hineinschreiben.Ich erinnere daran, der Parteivorsitzende der SPD hat in der Tat einen anderen Beschluß auf dem Wiesbadener Parteitag angestrebt. Und er hat am 31. August vergangenen Jahres gesagt: Das Grundgesetz darf nicht auf Blauhelmeinsätze beschränkt bleiben, weil dies einem Teilaustritt aus den Vereinten Nationen gleichkäme. — Wie wahr! Aber schon wenige Tage später beschloß das SPD-Parteitagspräsidium auf Druck von Herrn Schröder und Herrn Lafontaine, genau diese Beschränkung des Grundgesetzes dem Wiesbadener Parteitag vorzuschlagen, und so ist es dann auch beschlossen worden.Und, Herr Kollege Klose, wenn ich Sie einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf— das hören Sie zwar nicht gern, aber es ist eine Tatsache —: Sie haben in der Tat zu Recht beklagt, daß die Europäer den Konflikt, der in erster Linie uns, die Europäer, angeht, nicht haben lösen können. Weiß Gott, das ist eine beklagenswerte Tatsache.Aber welchen Beitrag haben Sie denn geleistet, damit Europa überhaupt in die Lage versetzt wird oder zumindest künftig in die Lage versetzt sein könnte, solche Konflikte zu lösen?
— Nein, überhaupt keinen. Im Gegenteil! Auf dem Petersberg, einige hundert Meter von hier entfernt, hat die Westeuropäische Union die Petersberger Erklärung verabschiedet, in der genau das vorgesehen ist, was dazu führen soll, daß wir in Zukunft besser gewappnet sind. Und was schreiben Sie davon in Ihr Wiesbadener Parteitagsprogramm? — Das bedeute eine „Militarisierung der Europäischen Union".
Ihr Mißtrauen gegen eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas, der Europäischen Union, ist abgrundtief. Ich erinnere mich nur allzugut noch daran, wie der Kollege Voigt im Plenum des Bundestages gesagt hat: Frankreich und Großbritannien sind für uns keine Beispiele. — Nein, die sollen eben an die Front. Und es ist schon richtig, was der Kollege Hoyer hier einmal gesagt hat: Nach wie vor ist es Ihre Meinung, wir kämpfen bis zum letzten Briten und Franzosen. — Ja, das ist keine besonders überzeugende Position.
— Bitte sehr.
Herr Kollege Karsten Voigt, bitte.
Lieber Herr Kollege Lamers, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich Frankreich und Großbritannien
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18920 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Karsten D. Voigt
vorbehalten haben, ihre Truppen — unabhängig von Beschlüssen des UNO-Sicherheitsrates und der NATO — auch national weltweit einzusetzen, und daß diese Position für uns inakzeptabel ist? Ich dachte bisher, auch für Sie.
Darum geht es doch überhaupt nicht! Das ist wieder der Vorwurf des weltweiten Interventionismus. Das ist — ich muß es wirklich sagen, Herr Kollege Voigt — Unsinn. Nie hat irgendwer im Deutschen Bundestag, nie hat irgendwer aus den Koalitionsfraktionen einen solchen Unsinn gefordert. Sie kämpfen gegen Gespenster, um davon abzulenken, was Ihre wahre Position ist.
Es ist im Grunde in der Tat der fortgesetzte Vorwurf vom deutschen Sonderweg von der Hypertrophie der Macht zur Hypermoral.
Auch wenn sich der Kollege Klose kürzlich wieder gegen eine deutsche Sonderrolle in diesen Fragen gewandt hat, so hat der Kollege Catenhusen genau das jetzt gefordert: eine friedenspolitische Sonderrolle für die Deutschen. Genau das ist die Doppelzüngigkeit, die Sie fortwährend zu verdecken suchen, die aber nur allzu offenkundig ist, als daß dieses Verfahren erfolgversprechend sein könnte.
Herr Kollege Klose, in Ihrem Regierungsprogramm steht kein einziges Wort über eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Deswegen finde ich es schon ziemlich kühn, wenn Sie die Europäische Union hier kritisieren; das muß ich Ihnen nachdrücklich sagen. Sie kennen meinen Respekt vor Ihnen persönlich, aber das ist doppelbödig. Das ist nicht in Ordnung! Auf der einen Seite verhindern Sie alles, was zu einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik führen könnte — Sie reden von einer Militarisierung, was ja nichts anderes heißt, als daß alle unsere Partner Militaristen wären und die Koalitionsparteien, die das unterschrieben haben, auch; schließlich ist das auf dem Petersberg unter dem Vorsitz des Außenministers zustande gekommen —, und auf der anderen Seite sagen Sie hier, die Europäische Union hat versagt.
Es ist darauf hingewiesen worden, daß Sie in Ihren Parteitagsbeschlüssen von der NATO als Übergangsorgan reden. Jetzt sagen Sie hier im Plenum des Deutschen Bundestages: Gottlob, daß es die NATO gibt. Und Herr Scharping wird nicht müde, in Washington zu sagen: Ja, wenn wir die NATO nicht hätten! Aber gleichzeitig schreiben Sie: Die NATO ist ein Übergangsorgan. — Ein ungeliebtes, im Klartext.
Also, auch das ist ein mehr als nachdrücklicher Beweis für die Doppelbödigkeit, von der ich rede.
— Herr Kollege Klose, Sie haben ja Gelegenheit, zu beweisen, daß das, was Sie hier sagen, auch wirklich die Meinung Ihrer Fraktion und Ihrer Partei ist. Es gibt eine Möglichkeit, und die ist — ich will es Ihnen
deswegen noch einmal erläutern —, daß Sie unserem Antrag heute zustimmen.
Was sagt dieser Antrag? — Der sagt zunächst einmal das, was Sie auch gesagt haben, daß wir die Maßnahmen der NATO unter dem Mandat der Vereinten Nationen in Bosnien begrüßen. Es steht auch darin, daß wir der Überzeugung sind, daß diese Bereitschaft aufrechterhalten bleiben muß.
Dann kommt etwas, bei dem Sie sich dann entscheiden müssen. Hier steht nämlich:
In diesem Zusammenhang würdigt der Deutsche Bundestag den Einsatz deutscher Soldaten an der Seite unserer Bündnispartner zur Durchsetzung des Flugverbotes und für die Versorgung der notleidenden Bevölkerung.
Flugverbot bedeutet AWACS. Sagen Sie hier heute ja! Dann sieht die Sache etwas anders aus; dann sind Sie ein Stückchen glaubwürdiger geworden.
Im letzten Absatz unseres Antrages heißt es:
Der Deutsche Bundestag unterstreicht die prinzipielle Bereitschaft Deutschlands, sich an der Implementierung eines Friedens in jeder vertretbaren, jedoch der geschichtlichen Belastung Rechnung tragenden Weise
zu beteiligen. — Also, zunächst einmal geht es darum, daß wir uns beteiligen, wie wir das bei AWACS und in der Adria bereits tun. Daß wir es nicht in absolut der gleichen Weise tun können wie andere, wissen auch wir. Aber beteiligen — ja, prinzipiell ja, wie wir es schon tun.
Herr Lamers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Lamers, weil Sie gerade vom dritten Absatz Ihres Antrages sprechen: Wären Sie so freundlich, mir zu erläutern, was das Wort „ernsthaft" in diesem Absatz bedeutet? Es werden Bemühungen begrüßt, und es wird an alle Konfliktparteien appelliert,
ernsthaft an einer friedlichen Lösung mitzuarbeiten.
Weiterhin heißt es:
Der Deutsche Bundestag unterstreicht die prinzipielle Bereitschaft . . .
Was heißt „ernsthaft", und was heißt „prinzipiell"?
Prinzipiell heißt grundsätzlich, Herr Kollege Ullmann, und ernsthaft heißt ernsthaft. Ich finde, dieses Wort bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode— 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18921
Karl Lamers
Die deutsche Sprache ist in diesem Fall sehr einfach und gut verständlich. Ich verstehe, offen gestanden, Ihre Frage wirklich nicht.
Herr Kollege Ullmann, ich nehme gerne Zwischenfragen entgegen, schon deswegen, weil sie die Redezeit verlängern. Aber ich verstehe es wirklich nicht.
Zum Abschluß, meine verehrten Damen und Herren, will ich noch einmal den Kollegen Klose zitieren. Er hat gesagt:
Die SPD neigt dazu, die Wirklichkeit vor dem Hintergrund von Parteitagsbeschlüssen zu überprüfen.
Wie wahr!
Ich denke aber, wir müssen die Wirklichkeit nehmen, so wie sie ist.
Ebenfalls: Wie wahr! Die Wirklichkeit nehmen, wie sie ist, das heißt, auch die SPD nehmen, wie sie ist, nämlich regierungsunfähig.
Es spricht jetzt der Kollege Karsten Voigt.
Am Beginn der heutigen Debatte hatte ich noch die Hoffnung, daß es der CDU/CSU und der F.D.P. darum geht, den notleidenden Menschen in Bosnien zu helfen. Dies ist nicht der Fall. Es geht Ihnen um billigste parteipolitische Polemik;
es geht Ihnen um Wahlkampf und nicht um die Not der Menschen im ehemaligen Jugoslawien.
Dafür sprechen nicht nur die Einlassungen von Herrn Hornhues, Herrn Irmer und Herrn Lamers, sondern dafür spricht auch die Tatsache, daß Sie sich gar nicht darum bemüht haben, uns zu dem Entschließungsantrag, den Sie heute im Namen der CDU/CSU und der F.D.P. vorgelegt haben, vorher zu konsultieren. Sie haben ihn heute vielmehr in letzter Minute hier vorgelegt, offensichtlich weil Sie in dieser Frage an parteipolitischer Polarisierung, aber nicht an der Lösung der Probleme der Menschen in BosnienHerzegowina interessiert sind.
Trotzdem wollen wir uns dieser Frage nicht verweigern, weil es uns eben nicht um parteipolitische Polemik, sondern um die Menschen in BosnienHerzegowina geht. Deshalb möchte ich sagen, daß für uns dieser Antrag zustimmungsfähig ist. Wir werden ihm zustimmen, weil der von Ihnen zitierte zweite Absatz keine Billigung der verfassungsrechtlichen Positionen der Bundesregierung enthält und damit unsere verfassungsrechtlichen Einwände, die in der nächsten Woche vor dem Bundesverfassungsgerichtzur Sprache kommen, nicht berührt. Vielmehr werden im zweiten Absatz Ihres Antrages der Einsatz deutscher Soldaten für die Versorgung der notleidenden Bevölkerung und der Einsatz der Soldaten bei der Durchsetzung des Flugverbots ausdrücklich gewürdigt. Wir haben überhaupt keine Einwände dagegen, wenn der Einsatz der Soldaten gewürdigt wird.
Es ist selbstverständlich, daß wir im Rahmen der — für uns historisch verantwortbaren — Möglichkeiten an einer friedlichen Lösung im ehemaligen Jugoslawien mitwirken. Daß wir die Benennung und Entsendung von Hans Koschnick als Beauftragten für Mostar mit unterstützt haben, spricht dafür.Aber ich möchte dazusagen: Das kann es natürlich nicht allein sein. Hans Koschnick muß wirtschaftlich und finanziell bei der Durchführung seiner Aufgabe unterstützt werden. Es ist selbstverständlich, daß wir und die Europäische Union insgesamt etwas für die Infrastruktur in dem Gebiet tun müssen. Es ist selbstverständlich, daß wir auch etwas für die medizinische Versorgung in diesem Gebiet tun müssen.Es ist Ihr Problem, daß Sie, wenn Sie an einen Beitrag zur friedlichen Lösung denken, nur an den Einsatz von militärischen Kampfverbänden denken. Diese Verengung der Sichtweise ist es, was uns eigentlich trennt. Denn auch nach den völkerrechtlich zulässigen, politisch und moralisch legitimen Einsätzen der NATO im Auftrag der Vereinten Nationen gegen die Stellungen der bosnischen Serben bei Gorazde darf der Einsatz militärischer Gewalt weiterhin nur als äußerstes Mittel in Betracht kommen, um den Beschlüssen des UNO-Sicherheitsrates zur Durchsetzung zu verhelfen.Auch nach den bedauerlicherweise unvermeidlichen Einsätzen der Luftwaffe bei Gorazde bleibt wahr, daß ein stabiler Frieden im ehemaligen Jugoslawien nur politisch am Verhandlungstisch vereinbart und nicht militärisch erzwungen werden kann. Allerdings waren diese Militäreinsätze im Auftrag der Vereinten Nationen unvermeidlich und erforderlich, um in diesem Fall nach den vorausgegangenen Aggressionen den Aggressoren zu zeigen, daß auch sie diesen Krieg nicht militärisch zu ihren Bedingungen beenden können, sondern daß auch sie zu politischen und territorialen Kompromissen am Verhandlungstisch gezwungen sind.Insofern verfolgte dieser militärisch äußerst begrenzte Einsatz der NATO im Auftrag der Vereinten Nationen weniger militärische als politische Ziele. Er war ein Warnsignal der Völkergemeinschaft, vertreten durch die Vereinten Nationen, in diesem Fall besonders an die bosnischen Serben, aber in Wirklichkeit an alle Konfliktparteien, von weiteren militärischen Handlungen und Aggressionen künftig abzulassen, um endlich die Perspektive von politischen und gewaltfreien Kompromissen zu ermöglichen.Dieses Warnsignal kam nicht zu früh. Dieses militärisch begrenzte Warnsignal war — um auch auf einen Einwand von Herrn Lamers und Herrn Hornhues einzugehen — Ausdruck der Politisierung militäri-
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Karsten D. Voigt
scher Mittel und nicht Ausdruck der Militarisierung der Politik.
Dieser Vorrang des Politischen vor dem Militärischen darf auch in Zukunft nie preisgegeben werden:
nicht preisgegeben werden bei den Vereinten Nationen und erst recht nicht preisgegeben werden in der deutschen Außenpolitik.
Darum werden wir miteinander ringen müssen, wenn die verfassungsrechtlichen Fragen der Einsätze deutscher Soldaten außerhalb des normalen Bündnisauftrages geklärt sind; denn dann wird es um die Sache gehen, wann man im Einzelfall einen solchen Einsatz verantworten kann — politisch, rechtlich, aber auch moralisch verantworten kann. Ich warne heute bereits diejenigen, die dann nicht den Respekt vor dem Vorrang des Politischen in jedem Einzelfall haben, sondern die leichtfertig mit dem Militärischen drohen. Das würde mit Sozialdemokraten nicht zu machen sein.
— Herr Irmer, Si e haben heute eine so wilde und etwas dümmliche Rede gehalten, daß ich bei Ihnen solche Befürchtungen allerdings hätte.
Der Einsatz der Vereinten Nationen war, wie gesagt, rechtlich, auch völkerrechtlich, einwandfrei. Er war legitimiert durch die UNO-Resolutionen 824 und 336. Das bedeutet auch, daß Rußland diesen Resolutionen zugestimmt hat. Deshalb sind alle Experten übereinstimmend der Meinung, daß es, völkerrechtlich gesehen, zusätzlicher Absprachen mit Rußland vor dem Luftangriff nicht bedurft habe. Das klärt aber nicht die Frage, was politisch weise ist. Ich persönlich bin der Meinung, daß es durchaus politisch klüger gewesen wäre, Rußland vorher zu konsultieren.Ich füge hinzu: Jenseits der öffentlichen Rhetorik, die wir von Moskau aus hören, haben sich die russischen Verantwortlichen im ehemaligen Jugoslawien bisher durchaus konstruktiv verhalten.
Ohne ihr Engagement wäre es nicht zu den politischen Lösungen und den Kompromissen der bosnischen Serben in der Krajina und um Sarajevo gekommen.Ich hoffe, daß die Russen jenseits ihrer Rhetorik bei dieser vernünftigen und konstruktiven Haltung bleiben, daß sich die Befürchtungen, die im Westen manchmal geäußert werden, damit als gegenstandslos erweisen.Umgekehrt sage ich den Verantwortlichen und besonders unseren parlamentarischen Kollegen in Moskau, daß ihre Verschwörungsideologien über westliche Absichten im ehemaligen Jugoslawien, die sie in zunehmendem Maße verbreiten, aber offensichtlich auch glauben, völlig unberechtigt sind und jeder Grundlage entbehren.
Wir müssen jetzt schon auf Frieden im ehemaligen Jugoslawien hin orientieren. Das heißt, daß wir das, was sich an hoffnungsvollen Zeichen in der Umgebung von Sarajevo, hoffentlich auch bald bei Gorazde, in der Krajina am Horizont abzeichnet, ausweiten. Dazu gehört auch, daß wir den Verantwortlichen in den verschiedenen Nationalitäten heute schon sagen, daß bei einer späteren ökonomischen Hilfe beim Wiederaufbau besonders diejenigen belohnt werden, die sich darauf konzentrieren, das Zusammenleben nicht von ethnisch reinen, sondern von ethnisch gemischten Gebieten aufrechtzuerhalten und zu fördern. In großen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens, z. B. in Tuzla, aber auch anderswo, gibt es nämlich heute noch immer glücklicherweise nicht ethnisch reine Gebiete. Wir sollten dieses Zusammenleben ausdrücklich fördern.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im ehemaligen Jugoslawien wird sich die deutsche Außenpolitik nur bewähren können, wenn sie sich immer strikt in den Verbund von Vereinten Nationen, NATO und Europäischer Union einbettet. Deutsche Alleingänge, auch deutsche Vorreiterrollen schaden.Aus diesem Grunde bedauere ich es zwar, daß die großen Leistungen deutscher Diplomaten bei verschiedenen Friedensverhandlungen in der Öffentlichkeit nicht so sehr wahrgenommen worden sind wie die Ergebnisse, die durch Amerikaner verkündet worden sind. Aber der Tatbestand, daß sich deutsche Diplomaten im Verbund und im Hintergrund an solchen friedensfördernden Prozessen beteiligt haben, ist wichtiger und konstruktiver, als daß wir als Deutsche öffentlich überall bekannt sind und im Vordergrund stehen.Diese deutsche Rolle — im Hintergrund, engagiert, eingebettet in die multilateralen Institutionen, bei voller Beachtung unserer Einflußmöglichkeiten, unserer Rechte und Pflichten in den Vereinten Nationen, in der NATO und in der Europäischen Union —, das ist das tatsächliche Orientierungsmodell für unser Verhalten, nicht das symbolische Vorabanerkennen von bestimmten jugoslawischen Nachfolgestaaten, etwa Kroatien und Slowenien, wenige Tage vor der Anerkennung dieser Staaten durch die Europäische Union. Solche deutschen Alleingänge schaden dem deutschen Ansehen, schaden in Wirklichkeit der deutschen Politik und der Lösung der Probleme.Die multilaterale Einbettung der deutschen Außen-und Sicherheitspolitik, die Bescheidenheit gerade bei so vielen Nachbarn und die multilaterale Konsultation nicht nur mit den großen, sondern auch mit den kleineren Partnern, das ist die Logik nicht nur unserer Geschichte, sondern auch unserer Geographie.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18923
Karsten D. Voigt
Wenn Sie dies beachten, dann werden wir eine gemeinsame außenpolitische Konzeption haben. Für nationale Stolzparolen, einseitige Einzelgänge und für Großmannssucht, sei es im Militärischen, sei es im Ökonomischen, werden Sie unsere Hand nicht erhalten.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag kommen, haben die Kollegen Dr. Schwarz-Schilling und Stefan Schwarz um die Abgabe von Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung gebeten. Dr. Schwarz-Schilling, bitte.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen sagen, daß ich gegen diesen Entschließungsantrag votieren werde, und Ihnen die Gründe dazu nennen.
Erstens. Es handelt sich um eine Entschließung, die die Dramatik auch der heutigen Situation in keiner Weise widerspiegelt.
Wir haben wieder den Fall, daß wir der Geschichte hinterherhinken und solche Vorkommnisse wie jetzt in Gorazde auch in Zukunft möglich sind. Wir haben hier eine Situation, für die ich Ihnen nur ein Beispiel anführen möchte.
Ich bekomme seit zehn Tagen Hilferufe aus der Region von Bihac. Dort gibt es seit einiger Zeit, seit 9. April, Angriffe auf Kediza, Glavica und Buzin mit zusätzlichen Panzern, die aus Mittelbosnien abgezogen worden sind, mit 1 500 neuen Soldaten, die von dort hierhingekommen sind. Die Dörfer werden ausradiert, die Häuser werden heruntergebrannt, die Menschen fliehen alle in die Stadt. Seit der Offensive am 8. Februar in dieser Region sind allein 1 600 Verwundete und 300 Tote zu beklagen.
Meine Damen und Herren, und dann sprechen wir davon, daß der Friedensprozeß durch eine Fortsetzung der serbischen Eroberungspolitik nicht gefährdet werden darf, von der Bereitschaft, ihr auch in Zukunft „notfalls mit gewaltsamen Mitteln entgegenzutreten".
Ich frage mich: Wie hoch muß eigentlich die Zahl der Toten und Verwundeten sein, wann wir glauben, daß dieser Punkt erreicht ist? — Bei Gorazde war es der Fall der Stadt und die Situation, daß dort UN-Beobachter gefährdet gewesen sind. Das kann nicht Maßstab sein, insbesondere, wenn ich daran denke, was Sie gesagt haben. Es geht uns um die Frage, wie es um die Leute, um die Zivilbevölkerung steht, was sich dort abspielt.
Dann kann ich auch nicht von den „Konfliktparteien" sprechen; wir können auch nicht von einem Entschließungsantrag „zur Lage im ehemaligen Jugoslawien" sprechen, sondern es handelt sich um eine Aggression gegen Bosnien-Herzegowina, einem
Staat, den Europa und die UN anerkannt haben und wo es Aggressoren und Verteidiger gibt.
Schon wegen so einer Nomenklatur kann ich einem solchen Entschließungsantrag nicht zustimmen.
Zweitens: Ich sage Ihnen, was darin notwendigerweise hätte stehen müssen: Bei einer weiteren Beschießung von Gorazde und der anderen Friedenszonen der Vereinten Nationen müßte sofort ein entsprechendes Ultimatum mit dem 20-KilometerUmkreis angedroht werden, denn es ist doch keine befriedigende Situation, daß die Leute vor der Stadt schießen und jede Minute wieder beginnen können, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und Tote und Verwundete zu produzieren. Das muß für alle Friedenszonen bei einem solchen Vorfall wie bei Gorazde gelten. Das kann man doch nicht nur dann machen, wenn es jeweils passiert und Hunderte und Tausende von Menschen umkommen.
Das zweite, was fehlt, ist die Öffnung der Korridore für die Hilfsleistungen.
Die UNPROFOR bringt in die einzelnen Gebiete nur ganz unterschiedlich Hilfsleistungen. Sie gehen immer weiter zurück, und die privaten Transporte kommen überhaupt nicht durch. Auf dem Weg nach Bihac müssen sie Tausende von Mark an die Leute bezahlen, die dort als Wegelagerer von Abdic die Zölle erheben. Umgekehrt können die Verwundeten nicht herausgebracht werden. 4 000 DM pro Person fordern diese Leute, damit sie dort hinausgefahren werden können. Das ist die Lage, und so etwas müßte sich in einem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen widerspiegeln.
Drittens: Lassen Sie mich zum letzten sagen, meine Damen und Herren: Ich habe die Geschichte miterlebt, die Nazizeit, und ich habe meine eigenen Erfahrungen mit der Nazizeit. Für mich war es ein umgekehrter Schluß — deswegen bin ich letztlich in die Politik gegangen —, daß so etwas nie wieder in Europa passieren darf. Wir sollten besonders sensibel sein und nicht aus dieser geschichtlichen Situation eine Entschuldigung für Passivität und Tatenlosigkeit ableiten.
Deswegen kann auch dieser Passus für mich so nicht drinstehen.
Sie haben bitte Verständnis, daß ich gegen den Entschließungsantrag stimme, weil er nicht das widerspiegelt, was heute erforderlich ist.
Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Schwarz.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kol-
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18924 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Stefan Schwarzleginnen und Kollegen! Wenn ich jetzt gegen diese Erklärung stimme — wie Christian Schwarz-Schilling —, dann nicht deshalb, weil ich finde, daß man immer zusammengehen soll, sondern ich will versuchen, aus meiner Sicht zu ergänzen, warum ich glaube, daß dies eine schlechte Entschließung ist.Ich habe Berichte zur Kenntnis genommen, die darauf hindeuten, daß die Tschetniks — die Radikalserben, wie wir sie am besten wohl nennen — Selbsttäuschungen erliegen.Sie sagen jetzt: „Selbst Gott der Allmächtige kann uns nichts mehr anhaben." Da ist eine bestimmte Grenze überschritten, und sie erliegen Selbsttäuschungen, wie meiner Meinung nach auch wir Selbsttäuschungen erliegen — in einer völlig anderen Perspektive.Es wird hier davon gesprochen, daß diejenigen am besten gefördert werden sollen, „die territoriale Kompromisse machen", daß wir die Leute zu territorialen Kompromissen veranlassen sollen.Wie weit sind wir eigentlich mit unseren Prinzipien gekommen, daß wir sagen: Paßt auf, 70 % des Territoriums habt ihr, 200 000 Leute habt ihr umgebracht, wenn ihr jetzt ungefähr 5 bis 7 % zurückgebt, dann bekommt ihr als Dank für 200 000 Ermordete auch noch euren Staat? Wo sind wir eigentlich hingekommen?Glaubt eigentlich irgend jemand, daß dieser Prozeß, den wir eingeschlagen haben, dazu führt, daß sich die Lage stabilisiert? oder haben wir nicht in den letzten über zwei Jahren nur weitere Destabilisierungen erlebt?Der Bundesaußenminister fährt jetzt nach Albanien. Albanien, Griechenland, Mazedonien und die baltischen Staaten: Ist es nicht so, daß wir Blaupausen abliefern, wie die neue europäische Ordnung nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konflikts sein kann, indem wir Stück für Stück der Gewalt die Bahn brechen, weil wir, obwohl wir die Mittel hätten, ihr nicht entgegentreten?Ich habe gestern mit Kollegen aus dem amerikanischen Kongreß telefoniert. Da sagt man mir, es gebe in Amerika nicht so viel Interesse an Gorazde — international sowieso nicht —, denn es passe nicht in den Plan, daß es dort eine „Moslemenklave" gebe. Ist das der Weg, den wir einschreiten, daß wir jedes Mal — Herr Klose hat recht —, wenn CNN berichtet, Resolutionen fassen, um dann zu sehen, daß wir möglichst schnell wegkommen, während es in Banja Luka, in Brcko, in Bihac und in anderen Städten ähnlich schlimm und schlimmer ist? Und wenn Mazowiecki sagt: „Es wird täglich gemordet"?Wir aber reden — Entschuldigung, ich sage auch das in aller Deutlichkeit — über das ehemalige Jugoslawien zu großen Teilen zu einer innenpolitischen Debatte. Ich bin sehr dafür, daß wir den Streit mit den Sozialdemokraten führen; da stimme ich meiner Fraktion zu. Aber ich kann es nicht mehr ertragen, daß wir an Hand dieses Themas in dieser Lage zum Teil völlig sachfremde Themen, nicht direkt dazugehörende Themen befördern.Dann wird vom „Modell Sarajevo" gesprochen. Ich war letzte Woche da. Das „Modell Sarajevo" heißt: Wer in die Stadt will, muß an radikalserbischen Checkpoints durch. Und wenn dann ein Mann in die Baracke läuft und seine Maschinenpistole herausholt, dann sind wir gezwungen, umzukehren. Die Menschen kommen nicht raus. Sie haben keinen Strom. Sie haben kein Wasser. Die Mauer durch diese Stadt ist fünfmal — mindestens — brutaler als die Berliner Mauer. Und ich weiß, wovon ich rede. Ich habe sie beide gesehen und gegen beide versucht zu arbeiten.Während ich mit meinen Freunden dort war, wurden zwei Leute ermordet über diese Mauer hinweg. Dort herrscht die „Illusion von Frieden", meine Damen und Herren, wie es die Menschen in der Stadt sagen.Warum reden wir eigentlich von einem „Modell"? Wir können einfach nur eines sagen: Es gibt Gott sei Dank keine Granaten mehr. Und jetzt tun wir so, als wäre dies auf Gorazde und andere Städte übertragbar. Das ist doch artifiziell in einem ganz hohen Ausmaß, das ist doch fast Selbsttäuschung.Zwei letzte Punkte will ich noch nennen. Der stellvertretende Bürgermeister dieser Stadt, ein Kroate, ein Bosnier, wie er selbst sagt — zwei Söhne hatte der „Kroate" in der „muslimischen" Armee, wie wir sie nennen, oder „die Moslems", wie wir sie nennen: einer ist tot, und einer liegt mit Granatsplittern in einem Hospital in Deutschland —, der sagt mir: „Die UN hält uns künstlich am Hungern. " Wann reden wir einmal über diese Dinge im Rahmen des „Modells Sarajevo" oder anderer Modelle?Es gibt Alternativen zu dem, was wir machen. Deshalb habe ich mich hier gemeldet, deshalb stimme ich gegen den Antrag.Es gibt Alternativen zu dem, wie wir die Dinge betreiben. Wir betreiben sie meiner Meinung nach nicht seriös, nicht detailliert genug, sondern wir laufen CNN hinterher, um das noch einmal aufzugreifen. Das ist nicht richtig für die Menschen. Was glauben Sie, wie manches von dem, was wir hier gesagt haben, von den Leuten, die davon betroffen sind, aufgenommen wird?Ein letzter Punkt: Ich mache auch nicht mehr mit, daß wir Herrn Karadzic hernehmen und ihm die bosnischen Serben sozusagen alle „hintendranstellen". Nicht jeder Deutsche war ein Nazi, und nicht jeder Serbe ist ein Tschetnik. Das ist eine Minderheit. Und es wird Zeit, daß wir diejenigen bosnischen Serben, die moderat sind, endlich hören, z. B. deren 350 Delegierte für insgesamt 200 000 Menschen, die sich am 27. März in Sarajevo getroffen haben und die darauf warten, daß sich das zivilisierte Europa bei ihnen meldet.Weil die Anlage so falsch ist, meiner Meinung nach von viel Selbsttäuschung betroffen ist, stimme ich dem nicht zu.Und ich sage Ihnen ein allerletztes.Es ist zwar eine andere Zeit, und Geschichte wiederholt sich nicht. Ich kenne auch viele, die gesagt
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18925
Stefan Schwarzhaben: Nie wieder. Aber irgendwie riecht die Art und Weise, wie wir das betreiben, ein bißchen nach 1938. Ich hoffe, daß wir irgendwann einmal zu dem Punkt kommen, an dem wir das wieder zurückholen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/7255. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist bei einigen Gegenstimmen und Enthaltungen mehrheitlich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a bis d auf:
a) — Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1994
— Drucksache 12/6719 -
— Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes
— Drucksache 12/6481 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/7244 —
Berichterstattung: Abgeordneter Adolf Ostertag
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Änderung des § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes
— Drucksachen 12/6572, 12/7244 —
Berichterstattung: Abgeordneter Adolf Ostertag
c) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes — Nichtberücksichtigung der Kirchensteuer
— Drucksache 12/6104 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Gemeinsame Regelung für den Ausschluß von
Unternehmen von der Vergabe öffentlicher
Aufträge bei illegaler Beschäftigung von Arbeitskräften
— Drucksache 12/7199 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Zum Beschäftigungsförderungsgesetz liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Heinz Schemken.
— Ich darf diejenigen, die an der Beratung dieses Tagesordnungspunkts nicht teilnehmen, bitten, den Saal zu verlassen, damit wir weitermachen können.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 flankiert die Politik der Bewältigung der Investitionen in die deutsche Einheit, der soliden Finanzierung von Wachstum und Beschäftigung, des Abbaus staatlicher Regulierungen, besserer Rahmenbedingungen für den Mittelstand entsprechend dem Aktionsprogramm für mehr „Wachstum und Beschäftigung".Die jüngsten erfreulichen Konjunkturdaten zeigen steigende Produktionen und Auftragseingänge und mehr und mehr Zukunftsvertrauen der Unternehmen. Wir sind wirtschafts- und finanzpolitisch auf dem richtigen Weg.Obwohl die Arbeitslosenzahl Anfang April unter die 4-Millionen-Grenze gefallen ist, bleibt die Lage auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor auch für uns besorgniserregend. Im Interesse einer Politik für den Wirtschaftsstandort Deutschland müssen wir deshalb die bestehenden Arbeitsplätze sichern und neue wettbewerbsfähige Arbeitsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen.Die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes kann nur dadurch verbessert werden, daß Arbeitslose wieder schneller einen Arbeitsplatz erhalten. Um eine finanzielle Mehrbelastung durch sozialen Leistungsmißbrauch zu vermeiden, die wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze gefährden würde, muß auch dem begegnet werden.Einen wichtigen Beitrag in diesem Jahr haben bereits die Tarifpartner erbracht, die durch ihre maßvollen Tarifabschlüsse ein Zeichen setzten. Hier hat sich die Tarifpartnerschaft wieder einmal bewährt.Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen zum Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 soll mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen. Mit den vielfältigen Maßnahmen werden Voraussetzungen für die Festigung der konjunkturellen Auftriebskräfte und eine Verbesserung der Wachstums- und Beschäftigungsaussichten geschaffen. Die arbeitsmarktbezogenen Maßnahmen sollen durch die Verbesserung
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18926 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Heinz Schemkender Konditionen des Überbrückungsgelds für Arbeitslose, die sich selbständig machen, und zwar durch die Festlegung der Dauer des Bezugs von Überbrükkungsgeld auf 26 Wochen, den Übergang von Arbeitslosigkeit in Selbständigkeit umsetzen. Die Neugründung von Unternehmen wird dadurch angeregt, und der Arbeitsmarkt wird belebt.Neue und junge Unternehmen sind Träger des Strukturwandels und schaffen insbesondere in den neuen Bundesländern zukünftige sichere Arbeitsplätze. Es geht kein Weg daran vorbei: Arbeitsplätze werden im Handwerk, im Handel, in der Wirtschaft geschaffen. Der Staat kann dies nicht und soll dies auch nicht.
Das Alleinvermittlungsrecht der Bundesanstalt für Arbeit wird aufgehoben, so daß damit die Arbeitsvermittlung durch private Unternehmen zusätzlich verstärkt wird. Die Nutzung uneigennütziger Arbeitnehmerüberlassungen zur Vermittlung Schwervermittelbarer wird erleichtert. Auch dies ist eine Brücke für diese Menschen.Die Höhe der Förderung der Beschäftigung in allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung wird auf Zuschüsse zu Arbeitsentgelten in Höhe von 80 % des vergleichbaren Entgelts beschränkt. Damit soll der Anreiz zum Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt erhöht werden. Es können damit zugleich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in größerem Umfange dort, wo sie sinnvoll sind, angeboten und geschaffen werden.Das in den jungen Bundesländern bewährte Instrument der produktiven Arbeitsförderung — ich nenne hier den § 249 h des AFG — wird modifiziert, bis zum 31. Dezember 1997 befristet und auf die alten Bundesländer ausgedehnt — ein entscheidender Schritt.In den Regionen, in denen die Menschen von besonders hoher Arbeitslosigkeit betroffen sind, werden die erforderlichen Aufwendungen für Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit produktiv für beschäftigungsfördernde Maßnahmen, z. B. im Umweltbereich, zur Verbesserung sozialer Dienste oder in der Jugendhilfe, eingesetzt.Die Gewährung einer Saisonarbeitnehmerhilfe in Höhe von 25 DM pro Tag für Arbeitslosengeldbezieher wird eingeführt, um endlich einmal zumutbare Beschäftigungsmöglichkeiten in zeitlich befristeten Saisonverhältnissen, vor allem in landwirtschaftlichen Bereichen, zu ermöglichen. Bei diesen Maßnahmen — das war eine allgemeine Willensbildung im Ausschuß — soll für die Landwirtschaft der gültige Tariflohn gezahlt werden.Arbeitslosenhilfe soll weiter gewährt werden, wenn freiwillige Gemeinschaftsarbeiten verrichtet werden. Die beschäftigungsfördernden Maßnahmen des Beschäftigungsförderungsgesetzes, das wir vor einigen Jahren beschlossen haben, werden um weitere fünf Jahre verlängert.So haben — das stellen wir fest — wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, daß befristete Arbeitsverträge nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz als wirksame Instrumente zur Förderung von Neueinstellungen und als Brücke zu Dauerarbeitsverhältnissen führten. Es ist nachgewiesen, daß dies dazu geführt hat.Die illegale Beschäftigung wird durch folgende Maßnahmen besser bekämpft: Verstärkung der Möglichkeiten zur Aufdeckung und Verfolgung der Schwarzarbeit, Belegung der Generalunternehmen mit Bußgeld, wenn die Subunternehmer bei der Weitergabe von Aufträgen ausländische Arbeitnehmer ohne erforderliche Arbeitserlaubnis einsetzen, Ausschluß der Unternehmen, die sich an illegaler Beschäftigung beteiligen, von der Vergabe öffentlicher Aufträge.Als sinnvolle Möglichkeit der Arbeitnehmerüberlassung wir die Form eines flexiblen Personaleinsatzes immer mehr anerkannt. Deshalb ist das generelle Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe so nicht mehr durchzuhalten.
Zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und der Flexibilität der Betriebe im Baugewerbe soll die Arbeitnehmerüberlassung von Betrieben des Baugewerbes an andere Betriebe des Baugewerbes, also gewissermaßen als Hilfe unter Kollegen, zugelassen werden.
Das ist ein wichtiger Vorgang.Ich könnte mir in zwei Bauhandwerksbetrieben gleicher Branche folgende Situation vorstellen: Dem einen fehlen vier Handwerker zur Erfüllung eines Auftrages, und der andere müßte Leute wegen Auftragsmangels entlassen. Warum sollten diese vier Handwerker nicht in Arbeit bleiben können, wenn der eine dem anderen diese vorübergehend überläßt? Umgekehrt kann das genauso geschehen.
Es findet weiß Gott nicht das apostrophierte unwürdige Wort des Menschenhandels hier Gültigkeit,
— ja, das ist gefallen —, sondern es könnte sogar über Tarifverträge individuell geregelt werden, auch im Interesse des Arbeitnehmers, daß für ihn die Arbeit gesichert wird. Ich meine, es ist unwürdiger, keine Arbeit zu haben. Dazu soll die Bundesregierung bis zur parlamentarischen Sommerpause — das haben wir durch eine Resolution beschlossen — in einem geeigneten Gesetzgebungsverfahren eine Änderung des § 12 a des Arbeitsförderungsgesetzes vorschlagen.Der großen Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen soll durch die Gewährung des Bestandsschutzes bis zu drei Jahren für die Leistung von Arbeitslosenversicherung Rechnung getragen werden. Wir sind wirklich davon überzeugt, daß sich gerade hier im Arbeitsmarkt einiges bewegen könnte, wenn mehr als 250 000 Arbeitssuchende auf Grund ihrer familiären Situation den Wunsch nach Teilzeitarbeit nachdrücklich äußern. Dies gilt insbesondere für Alleinerzie-
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Heinz Schemkenhende. Auch damit kommen wir einem Bedürfnis einer veränderten Gesellschaft nach.Meine sehr geschätzten Damen und Herren, mit diesem Beschäftigungsförderungsgesetz werden also nicht nur die wirtschaftlichen Grundsätze, die den Wachstumsprozeß flankieren sollen, unterstützt, sondern dieses Gesetz geht in wesentlichen Punkten auch ganz konkret auf die Interessenlage der arbeitsuchenden Menschen ein.
Es hilft, daß die Menschen zu einem Arbeitsplatz kommen.Herr Gilges, Sie wissen es sehr wohl: Auch in den jungen Bundesländern hat sich durch das Arbeitsförderungsgesetz, durch unser nachdrückliches Einsetzen für die Erweiterung der Möglichkeiten des Transfers einiges ereignet.Wenn von neun Millionen Beschäftigten ausgegangen wurde und die Zahl jetzt bei sechs Millionen liegt, dann muß man dazusagen, daß eine Million Menschen aus dem Prozeß durch den Altersruhestand ausgeschieden sind. Aber zwei Millionen Menschen sind in zukunftssichere Arbeitsplätze vermittelt worden. Daran können Sie erkennen, daß Flexibilität und vor allen Dingen der im Sinne der Wirtschaft, des Wachstums und der wachstumsfördernden Kräfte richtige Ansatz gewählt wurde.Ich sage das ganz bewußt auch im Interesse der arbeitsuchenden Menschen, weil wir nach wie vor der Meinung sind, daß es nicht um die hohe Zahl, um die Millionen Arbeitslosen geht, sondern hinter jedem einzelnen ein Schicksal steht. Das höchste Gut ist nun einmal der Arbeitsplatz, und die Würde des Menschen kann sich letztlich nur in Arbeit verwirklichen.Insofern bitte ich um Ihre Unterstützung bei diesem Gesetz.
Es hat sich ja schon im Ausschuß gezeigt, daß das eine oder andere sogar über alle Fraktionen hinweg Zustimmung fand. Ich hoffe, daß dies auch in dieser Stunde dazu führt, daß wir einen gemeinsamen Weg gehen, um dieses große Problem im Arbeitsmarkt gemeinsam zu meistern, da die Tarifpartner, da die Gesellschaft, da das Handwerk, da die Wirtschaft, da der Handel, aber auch die Politik gefordert sind.Schönen Dank, Frau Präsidentin.
Als nächster spricht der Kollege Adolf Ostertag.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Beratung des sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetzes findet in einer arbeitsmarktpolitischen Situation statt, die noch nie so dramatisch war. Offiziell — ich betone: offiziell! — gibt es fast vier Millionen Arbeitslose. Binnen Jahresfrist ist die Arbeitslosenzahl um 500 000 gestiegen. Selbst der Wirtschaftsminister prognostiziert, daßin diesem Jahr noch einmal 450 000 Arbeitsuchende dazukommen. Das führt zu Angst, Not und Verzweiflung in Millionen von Haushalten dieser Republik. Wer wie diese Bundesregierung immer noch leugnet, daß damit die politische Stabilität unseres Landes bedroht ist, der hat den Blick für die Realität wirklich verloren.
Der Bundeskanzler ist für die Koalition ein leuchtendes Beispiel. Auf dem Bundesparteitag der CDU in Hamburg sprach er anderthalb Stunden zu den Delegierten.
Das Parteivolk klatschte ihm danach sechseinhalb Minuten stehend. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland war Helmut Kohl einen Satz von exakt 15 Sekunden wert.
Wer sich daran erinnert, welche Einschnitte ins Sozialnetz seit 1982 vorgenommen worden sind, der kann sich darüber eigentlich nicht wundern. Nach zwölf Jahren konservativer Politik fehlen mehr als sechs Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Durch dieses Gesetz mit dem wohlklingenden Namen Beschäftigungsförderungsgesetz werden keine zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen oder die Bedingungen dafür verbessert. Herr Schemken, ich glaube, Sie haben gegen Ihre Überzeugung gesprochen. Es wird gnadenlos weiter dereguliert und Sozialabbau betrieben.In der ersten Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 wurde noch eine „Atempause in der Sozialpolitik" angekündigt. Eine Atempause wurde angekündigt. Ein Sozialabbau wurde jedoch betrieben, der in der 45jährigen Geschichte unseres Landes ohne Beispiel ist.
Dabei nahmen Sie Leistungskürzungen und Abbau von Arbeitnehmerrechten, besonders in dem Bereich des Arbeitsförderungsgesetzes und der aktiven Arbeitsmarktpolitik, in Kauf.
Herr Louven, heute findet die letzte Aufführung in diesem Drama statt. Denn diese Koalition wird künftig keine Mehrheit mehr für ihre soziale Demontagepolitik haben.
Dieses von der Bundesregierung und den Koalitionsparteien inszenierte Drama hatte und hat für Millionen Menschen schreckliche Folgen. Wir erinnern uns: Der erste Akt dieses Dramas war von den Leistungskürzungen und den Finanzverschiebungen durch die 10. AFG-Novelle im Januar 1993 gekennzeichnet. Ein totaler Stopp bei der Bewilligung neuer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen folgte kurz darauf. In der sogenannten F- und U-Anordnung erfolgte die
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18928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Adolf OstertagI Einschränkung der beruflichen Bildung als Instrument einer präventiven Arbeitsmarktpolitik. Durch den ebenfalls verhängten Stopp von Auftragsmaßnahmen können jetzt nur noch sogenannte freie Maßnahmen der beruflichen Bildung gefördert werden. Dies wirkt sich vor allem auf die am Arbeitsmarkt besonders benachteiligten Gruppen aus.Der zweite Akt dieses Dramas trug die Überschrift „Solidarpakt" oder „Föderales Konsolidierungsprogramm". Durchgeboxt wurden Leistungskürzungen für die Jahre 1993 bis 1996. Sie erinnern sich, daß wir Sozialdemokraten nach zähen Verhandlungen im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß das Programm auf der Grundlage beschlossen haben, daß „soziale Regelleistungen nicht gekürzt werden".Doch, meine Damen und Herren, die Tinte unter dem Vermittlungsergebnis war noch nicht trocken, da kündigte der Finanzminister bereits an: Dieser Konsens gilt nicht. Er setzte trotzdem auf weitere Kürzungen. Und die Sozialpolitiker dieser Koalition haben dieses Diktat hingenommen. Das war ein eindeutiger Vertrauensbruch auch gegenüber dem, was im Vermittlungsausschuß abgesprochen worden war.
Außerdem hat diese Bundesregierung weit über die gesetzlichen Kürzungen hinaus im Rahmen der Genehmigungsverfahren den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zusammengestrichen. Damit mißachteten Sie erneut die Beschlüsse von Vorstand und Verwaltungsrat der Bundesanstalt. Die Folge war ein weiterer Abbau des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums.Der Stand im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurde damit nicht nur nicht gehalten, sondern zusammengestrichen. Die Folgen sind verheerend: mehr Arbeitslosigkeit und mehr passive Ausgaben, vor allen Dingen im Bereich der Lohnersatzleistungen.
Der dritte Akt dieses Dramas nannte sich Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm. Es ist wie alle Ihre Programme ein Etikettenschwindel. Denn die Inhalte entpuppten sich als ein weiterer massiver Angriff auf die Grundlagen des Sozialstaates und als eine Absage an die aktive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.Es wurde nicht gespart, es wurde nicht konsolidiert, geschweige denn Wachstum angepeilt. Es war ein Verschiebebahnhof zu Lasten der Kommunen, die durch dieses Programm mit mindestens weiteren vier Milliarden DM soziale Kosten belastet wurden.
Gerade Sie, Herr Schemken, als Bürgermeister müßten wissen, welche katastrophalen Auswirkungen dieses SKWPG für die Kommunen hat. Das ist nichts als ein Verschiebebahnhof.Als Folge der Kürzungen bei Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld, Eingliederungsgeld, Arbeitslosenhilfe und Eingliederungshilfe wurden weitere 100 000 Menschen im Sicherungssystem abgestuft, ausgegrenzt und in Armut getrieben.Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jahrelang Beiträge in die Kasse der Bundesanstalt für Arbeit bezahlt haben, erhalten jetzt geringere Versicherungsleistungen.In diesem Katalog ist das jüngste Beispiel, mit dem Sie zusehends den Sozialstaat aushebeln, das neue Arbeitszeitrecht. Die 60-Stunden-Woche ist wieder möglich geworden, Sonn- und Feiertage werden zu normalen Arbeitstagen gemacht. Abgebaut werden jahrzehntelange arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen. Und es ist ein Stückchen Eingriff in unsere Gesundheit, wofür mit diesem Gesetz wirklich die Voraussetzungen geschaffen wurden.
Der vierte und letzte Akt dieses Dramas spielt sich heute ab. Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz peitschten Sie weitere tiefgreifende Einschnitte in der Arbeitsförderung durch. Dabei steht die Bezeichnung des Gesetzes im völligen Gegensatz zu seinen mit Sicherheit eintretenden Wirkungen. Beschäftigung wird nicht gefördert, sondern destabilisiert und behindert. Die Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik werden nun endgültig ausgehebelt und völlig demontiert.An diesen Auswirkungen ändern auch vereinzelte Klarstellungen im Gesetz nichts, die wir gestern besprochen haben. Regelungen, die in der Tat nur Zahlungsbedingungen betreffen, sind keine Verbesserung. Das können Sie auch nicht so plakativ machen.Die geplanten Änderungen sind überwiegend drastische Maßnahmen des Abbaus an der Arbeitsförderung und an einer sozialen, verantwortlichen Arbeit insbesondere der Arbeitsämter.Ein schauriges Drama also, ausgerechnet zum 25. Geburtstag des Arbeitsförderungsgesetzes. Jetzt, wo sich das Gesetz im Sinne seiner Erfinder als Sicherungsgesetz, als Sicherungssystem für die Arbeitnehmer bewähren müßte, streicht diese Regierung die Instrumente rigoros zusammen und macht die von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen, Umschüler, Sozialhilfeempfänger ein weiteres Mal zu Opfern einer sich christlichen Werten verpflichtenden Regierungspolitik.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß es zwischen Sozialabbau, Massenarbeitslosigkeit und Entsolidarisierung Zusammenhänge gibt, Zusammenhänge zur steigenden Kriminalität in dieser Gesellschaft, zum zunehmenden Rechtsradikalismus und zur Politik- und Parteiverdrossenheit. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungskoalitionen, sollten sich damit mehr auseinandersetzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18929
Adolf OstertagDann würden Sie auch begreifen, daß die immateriellen Folgen dieser Kürzungspolitik ebenso verheerend sind wie die materiellen Auswirkungen auf die unmittelbar Betroffenen. Aber offensichtlich fehlen Ihnen dazu die Kraft, die Einsicht und der Wille, diese Zusammenhänge zu begreifen.
Der vorliegende Entwurf — daran ändern auch die hektisch eingebrachten Änderungsvorschläge, die Sie soeben genannt haben, letzten Endes nichts — verschärft insbesondere über Saisonarbeiten und Gemeinschaftsarbeiten den Druck auf Arbeitslose in dieser Gesellschaft und verschlechtert ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt. Mit dem Entwurf dieses sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetzes zeigt diese Regierung nur noch über Kurzschlußhandlungen blinden Aktionismus.Dies wird bei der überhasteten Einführung der gewinnorientierten Arbeitsvermittlung besonders deutlich. Die Bundesregierung will nicht einmal den erst kürzlich beschlossenen Modellversuch in Gang setzen, geschweige denn dessen Ergebnisse abwarten. Die bundesweite Freigabe der auf Gewinn ausgerichteten Arbeitsvermittlung schafft sicher genausowenig Arbeitsplätze, wie ein Makler — das ist ja vergleichbar — neue Wohnungen schafft. Es entsteht lediglich ein lukratives Geschäft für Vermittler. Das haben wir ja auch auf dem Wohnungsmarkt. Vielleicht übergeben wir auch diesen Part künftig Frau Schwaetzer.
Herr Abgeordneter, würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Josef Grünbeck beantworten?
Bitte.
Herr Kollege, wenn Sie gerade die privaten Vermittler diskriminieren wollen, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß im letzten Jahr, 1993, von den 9 Millionen vermittelten Arbeitsplätzen 6 Millionen privat vermittelt worden sind?
Das stimmt überhaupt nicht. Sie sind nicht privat vermittelt. Wir wissen doch, wie das vor Ort läuft. Sie sollten vielleicht einmal mit Ihrem Arbeitsamt sprechen,
dann werden Sie herausfinden, ob sich die Betriebe ans Arbeitsamt wenden oder nicht. Gucken Sie einmal samstags oder wann auch immer in die Zeitung! Wenn das eine private Vermittlung ist, wenn sich die Menschen selber einen Arbeitsplatz suchen, dann wundert mich das sehr. Vor allen Dingen braucht man dazu keine privaten Vermittlungsbüros oder Makler. Sie sind doch völlig überflüssig.
Lassen Sie eine weitere Frage zu?
Natürlich.
Herr Abgeordneter Grünbeck, bitte schön.
Darf ich nachfragen? Sie haben also die 6 Millionen privat Vermittelten durch Zeitungsannoncen oder wie auch immer — —
Meine Damen und Herren, Herr Abgeordneter Heyenn, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß ich den Abgeordneten Josef Grünbeck gebeten hatte, eine Zwischenfrage zu stellen, und nicht Sie. Ich bitte, das zu respektieren. Sollten Sie allerdings die Absicht haben, selber eine Zwischenfrage zu stellen, bitte ich Sie, sich ordnungsgemäß zu melden.
Nun wieder der Herr Abgeordnete Grünbeck.
Ihre lauten, aber wenig qualifizierten Zwischenrufe haben eigentlich nur belegt, daß Sie von der Sache nicht viel verstehen.
Eines steht doch fest: Wenn ein Unternehmer jetzt einen privaten Vermittler in Anspruch nimmt, wird er sich selbst möglicherweise die Zeit ersparen, sich alle Bewerber anzuschauen, erst einmal eine Vorauslese treffen und dafür bezahlen. Das heißt doch, daß die Arbeitsvermittlung entlastet wird und daß wir die Kosten auf die Unternehmen abwälzen. Begreifen Sie das denn nicht?
Sie sind also dafür, daß die Unternehmen künftig über die private Arbeitsvermittlung mehr Kosten haben.
Natürlich läuft das, was Sie hier ansprechen, im Managementbereich ausgezeichnet. Da gibt es die Unternehmensberatungsfirmen. Wir haben auch gar nichts dagegen, daß Herr Kienbaum oder wer es auch immer sei die Manager und das mittlere Management vermitteln und dafür entsprechende Gebühren nehmen. Wir sind aber dagegen, daß es das künftig für die Masse der Arbeitnehmer gibt.Übrigens sind auch das Handwerk und die mittelständische Industrie gegen diese private Vermittlung.
Das Ergebnis wird sein, daß die Fachkräfte der kleinen und mittleren Betriebe abgeworben werden. Derprivaten Arbeitsvermittlung im qualifizierten Bereich
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18930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Adolf Ostertagwird Tür und Tor geöffnet. Darüber kann wohl niemand froh sein.Auf der Strecke werden die schwer zu Vermittelnden in diesem Lande bleiben, die Frauen, Ältere und weniger Qualifizierte oder behinderte Menschen. Das kann niemand von uns wollen. Damit lösen Sie keine Probleme, sondern Sie schaffen lediglich neue. Statt die unentgeltliche öffentliche Arbeitsvermittlung zu privatisieren, sollten Sie sie lieber reformieren und die Arbeitsämter so ausstatten
— wir kämpfen ja seit langem für eine vernünftige Personalausstattung —, daß sie ihre Tätigkeit, nämlich die Kontakte zwischen den Arbeitslosen und den Arbeitsuchenden und den Betrieben zu vertiefen, intensivieren können.
Das wäre eine Politik, die die Vermittlungstätigkeit der Arbeitsämter nach vorne bringen könnte. Sie aber haben die Arbeitsämter zum Teil zu Stempelbuden degradiert.Die geplanten Gemeinschaftsarbeiten für Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfänger ohne sozialtariflichen und arbeitsrechtlichen Schutz sind sicherlich kein sinnvolles Mittel, um Arbeitslose in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie lassen eher Erinnerungen an vergangene Zeiten aufkommen. Zur Stunde demonstrieren, aus dem gesamten Bundesgebiet angereist, Arbeitsloseninitiativen vor dem Kanzleramt und kehren in Erinnerung an solche Zeiten dort die Straße sauber. Aber sie wollen eigentlich auch einen Kehraus der Politik, die Sie machen.
Meine Damen und Herren, der geplante Versand von Arbeitslosenhilfeempfängern in die Saisonarbeit und die längeren Befristungen von Beschäftigungsverhältnissen ohne sachlichen Grund, die ebenfalls beschlossen werden sollen, sind keinesfalls Maßnahmen zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit, sondern dienen dem erklärten Ziel der Deregulierung und der weiteren Zerschlagung von Arbeitnehmerschutzrechten.Die geplanten Maßnahmen beinhalten weiterhin eine Politik des gesetzlich verordneten Tarifbruchs. Bei der Absenkung der Bemessungsgrundlage für das Arbeitsentgelt bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und bei Projektförderung wird das besonders deutlich. Als Folge davon wird das Einkommensniveau der in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Beschäftigten generell sinken.Die Fördermaßnahmen verlieren an Qualität, da ja qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht mehr über die Grenze hinaus gefördert werden können. ABM-gestützte Beschäftigungsprojekte werden weiter zurückgehen, weil die Träger, die sich dankenswerterweise in der Arbeitslosenarbeit engagieren — die Kirchen und alle anderen Einrichtungen —, die notwendigen finanziellen Eigenmittel nicht mehr aufbringen können, um diese Projekte aufrechtzuerhalten. Die Folge wird weniger Beschäftigung sein.Arbeitslose sind für die Zukunft als Geringverdiener abgestempelt. Das von der Bundesregierung gebetsmühlenhaft gepriesene Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" hebelt sich damit selbst aus. Es ist zu befürchten, daß die öffentliche Beschäftigung zum Vorreiter für Lohnkürzungen auf breiter Ebene wird.
Auch der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit verwirft in seiner Stellungnahme das geplante Beschäftigungsförderungsgesetz. Ich zitiere:Für eine erfolgreiche Bekämpfung der immer noch alarmierend ansteigenden Arbeitslosigkeit sind stetige und verläßliche Grundlagen sowie aktive Instrumente zur Qualifizierung und Eingliederung von Arbeitslosen unerläßlich.Ich habe das Ganze anhand dieser Akten und verschiedener Vorgänge in einem Drama deutlich zu machen versucht.Die gerade in den letzten Jahren aber immer häufiger vorgenommenen Verschlechterungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen erschweren dauerhafte Planungen und aktive Bemühungen für alle arbeitsmarktpolitischen Akteure enorm.Der Verwaltungsrat hält den nunmehr vorgelegten Entwurf zu einem weiteren AFG-Änderungsgesetz in großen Teilen für ungeeignet, die Massenarbeitslosigkeit zurückzudrängen.Meine Damen und Herren, mit dem Verwaltungsrat sind wir Sozialdemokraten der Meinung: Mit dieser Politik der Regierung muß jetzt Schluß sein. Wir wollen die Arbeitslosigkeit und nicht die Arbeitslosenstatistik bekämpfen.Angesichts dieser besorgniserregenden Lage ist es höchste Zeit für eine neue Politik. Viele Aufgaben stellen sich heute grundsätzlich anders und erfordern natürlich auch ganz neue Antworten.
— Dazu komme ich gleich, Herr Kauder.Diese Herausforderungen sind mit der Ideologie „Der Markt wird's schon richten" allein nicht zu bewältigen. Dringend gefragt ist eine neue Konzeption von Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Der Nachkriegsrekord an Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen wirtschaftlichen und psychologischen Auswirkungen für die Betroffenen und Angehörigen sowie der wachsende gesamtgesellschaftliche Schaden machen eigentlich ein schnelles Handeln erforderlich. Aber Sie haben ja nur demontiert.
Wir Sozialdemokraten haben die Arbeitsmarktpolitik schon in den letzten Jahren zum Schwerpunkt der politischen Arbeit im Bund und in den Ländern gemacht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18931
Adolf Ostertag— Na, wir haben erreicht, daß wir in der Opposition von Ihnen ständig niedergestimmt worden sind bei den verschiedenen Vorschlägen, die hier debattiert worden sind. Ich stelle Ihnen gerne die diversen Anträge, Entschließungen und auch unsere Positionspapiere zur Verfügung, damit Sie es nachvollziehen können, wenn Sie bisher dazu nicht in der Lage waren.
Wir haben zu all diesen schlimmen Einschnitten— Föderales Konsolidierungskonzept, SKWPG — überall klare Vorschläge auf den Tisch gelegt. Wenn Sie sich erinnern: Vor allem wir Sozialpolitiker haben vor langer Zeit einen umfassenden Auftrag an die Bundesregierung eingebracht, ein neues Arbeits- und Strukturförderungsgesetz zu schaffen. Was war denn Ihre Antwort?
— Ja, kein Geld. Aber die Arbeitslosen bezahlen wir. Das ist doch nicht die Alternative. Wir wollen Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Das ist doch die Grundtendenz unserer Vorschläge.
Herr Abgeordneter Ostertag, der Abgeordnete Koppelin würde Ihnen gern eine Frage stellen.
Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Koppelin.
Herr Kollege, da Sie von Vorschlägen auch von den Ländern gesprochen haben, in denen die SPD regiert, meinen Sie auch die Vorschläge z.B. des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, beispielsweise den Export nach Taiwan zu fördern, zum Jäger 90 doch ja zu sagen usw., usw.? Denn auch die verkündet er ja als Arbeitsplatzsicherung.
— Ach, Heyenn!
Also, diese Vorschläge haben wir im Bundestag nicht gemacht, denn das waren landespolitische Aussagen.
— Moment! Er hat ja Schröder angesprochen. Und die Sozialdemokraten haben doch wohl — —
Wenn ich mich richtig erinnere, haben die Sozialdemokraten in Niedersachsen vor einigen Wochen doch einen sehr beeindruckenden Wahlsieg verbuchen können, der damit zusammenhängt, daß Herr Schröder insbesondere den Schwerpunkt Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsbeschaffung in den Mittelpunkt seiner Kampagne gestellt hat. Und Sie sind hinten heruntergefallen.
— Vor allen Dingen Sie, Frau Babel, müßten ganz ruhig sein. Sie sind ganz heruntergefallen.
Ich sage Ihnen ein weiteres Beispiel dazu. In NRW hat die Landesregierung ein Zwei-Milliarden-Programm zum Strukturwandel in Verbindung mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen aufgelegt.
Das sind vorzeigbare Beispiele, die ich in CDU-geführten Ländern vermisse.
Eine weitere Frage des Abgeordneten Koppelin.
Herr Kollege, nachdem Sie sagten, Herr Schröder habe wegen dieser Politik einen Wahlerfolg errungen, könnten wir uns nicht vielleicht gemeinsam, SPD und Koalition, auf diese Politik einigen? Vielleicht haben wir alle dann einen Erfolg. Ich teile jedenfalls die Auffassung von Herrn Schröder.
Wir können uns auf eine Politik einigen, wie ich sie hier vorgestellt habe und wie wir in der Tat auch in unseren Anträgen im Bundestag eingebracht haben, daß Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert wird, daß wir ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz brauchen, eine Umstrukturierung, vor allem ein Umlenken von den passiven auf die aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen. Dazu gehört natürlich eine ganze Fülle von Einzelaspekten, die ich gerne mit Ihnen weiter diskutiere.Wir wissen — das war ein bezeichnendes Beispiel, meine Damen und Herren —, daß die konzeptionslosen Vorschläge von Ihnen und der Bundesregierung dieser zentralen Aufgabe nicht gerecht werden. Damit ist sie sicherlich nicht zu meistern. Die Menschen in unserem Land trauen dieser Regierung auch gar nicht mehr die Lösung dieses Problems zu. Deshalb wird dieses Drama, das ich in vier Akten gezeigt habe, mit der ablaufenden Legislaturperiode endlich ein Ende nehmen.
Diese Regierung ist nicht mehr lernfähig, und den wirklichen Sorgen der Menschen ist sie weit entrückt.
Sie hat nicht bemerkt, daß mit ihrer unüberlegten hektischen Kürzungspolitik der letzten Jahre gleichzeitig das Arbeitslosenheer größer geworden ist und die Armut in unserem Land parallel zu den vielen Maßnahmen, die Sie mit Aktionsprogrammen eingeleitet haben, zugenommen hat.Mit dem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz verschlimmern Sie noch einmal die Situation hunderttausender Familien. Das scheint Sie aber wenig zu berühren. Die Quittung werden Sie ganz sicherlich am 16. Oktober bekommen.Vielen Dank.
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18932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Gisela Babel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt haben wir doch wieder ein wunderbares Beispiel unseres „Sozialstaates in Ruinen"! Dies ist das Schauerbild, das uns die Opposition immer malt. Und damit erspart sie sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Problemen, wie sie sich uns stellen, und vor allem mit den Möglichkeiten, die wir haben, sie zu ändern.
Das dritte Mal steht das Beschäftigungsförderungsgesetz im Mittelpunkt unserer Diskussion, heute in zweiter und dritter Lesung. So ist es wohl kein Wunder, daß über die Vorzüge der Bestimmungen, wie wir sie sehen, vielleicht auch über die Nachteile, wie sie die Opposition sieht, im Grunde das Wesentliche gesagt wurde.Wir haben aber in einigen Änderungsanträgen weitere Verbesserungen beschlossen. Ich nenne die Möglichkeit der Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen während der Arbeitslosigkeit. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt, der die Chancen von Arbeitslosen verbessern kann.
Ich nenne die Ausdehnung des Kurzarbeitergeldes auf Auszubildende sowie die Verlängerung des Bezugs von Altersübergangsgeld, um den Übergang in die Rente zu vereinfachen. Und sicher ist es auch ein wirksamer Beitrag zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung, daß Unternehmen von Aufträgen der öffentlichen Hand ausgesperrt werden können, wenn ihnen illegale Beschäftigung nachgewiesen wird.Meine Damen und Herren, bei dem, was man zu den Saisonarbeitern eingewendet hat, ist jetzt auch durch den Beschluß des Landwirtschaftsausschusses dafür gesorgt, daß die Arbeitsämter nur einen bestimmten Anteil von inländischen Arbeitskräften vermitteln sollen, damit die Funktionsfähigkeit in der Landwirtschaft erhalten bleibt.Nicht einigen konnten sich die Koalitionsfraktionen über die vollständige Streichung des § 13a AFG, nämlich darüber, das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe aufzuheben. Auch für die Aufnahme dieser Bestimmung sprechen viele Gründe. Aber es war vor allem die Sorge um die Zunahme einer ohnehin schon mißlichen illegalen Beschäftigung in dieser Branche, die eine entscheidende Rolle spielte.Unbefriedigend ist aber der Zustand, daß eigentlich nicht einmal zwischen zwei benachbarten Handwerksbetrieben eine Kollegenüberlassung rechtens ist. Deswegen, glaube ich, ist es gut, daß wir eine Aufforderung an die Bundesregierung ergehen lassen, daß sie noch bis zur Sommerpause eine Gesetzesänderung vorbereitet, durch die zumindest dieser Punkt geregelt werden kann. Übrigens handeln viele Betriebe schon so und wissen gar nicht, daß wir siedurch unsere Vorschriften in die Illegalität getrieben haben.
Meine Damen und Herren, das zweite, das wir nicht beschlossen haben — —
— Ich wußte nicht, daß der Herr Kollege Gilges auf einmal das Wort hat oder an sich gerissen hat.Dr. Uwe Küster [SPD]: Jawohl, Frau Präsidentin Babel!)Die F.D.P. ist überzeugt, daß das Angebot von Teilzeitarbeitsplätzen nicht ausreicht. Wir sind auch davon überzeugt, daß hier eine enorme Reserve liegt. Ich will sie nicht quantifizieren, und ich will nicht in die Diskussion darüber eintreten, wie viele das insgesamt sein mögen. Aber wir sind uns darüber einig, daß wir mit flexibleren Arbeitszeitkontingenten mehr Menschen in eine Beschäftigung bringen können.Nicht einigen konnten wir uns über das Modell, mit Geldprämien Anreize zu schaffen. Die F.D.P. ist davon überzeugt, daß diese Geldzuwendungen nichts bewirken können, daß die Unternehmer ganz andere Überlegungen anstellen, wenn sie Arbeitsplätze und auch Teilzeitarbeitsplätze schaffen. Im Grunde produzieren wir nur Mitnahmeeffekte.
Die Arbeitgeber selber halten von diesen Prämien nichts. Meine Damen und Herren, Geld, das man nicht hat, an Leute zu geben, die es nicht wollen, erscheint mir einigermaßen unsinnig.
Es ist nicht auszuschließen, daß wir dieses Thema später mit Vorschlägen noch einmal aufgreifen, die bessere Anreizwirkungen haben.Ein paar Worte zur privaten Arbeitsvermittlung, die Sie so ungeheuer aufregt. Es tut sich etwas im Lande. Das Interesse an diesem neuen Zweig von Dienstleistungen nimmt spürbar zu. Einige Firmen rüsten sich schon für diese Aufgabe, stellen Überlegungen an und entwickeln Konzepte. Nach Einschätzung einiger schon erfahrener Vermittler wird es zunächst ein gewisses Durcheinander geben, einen gewissen Dschungel. Da muß sich dann die Spreu vom Weizen trennen. Seriöse Firmen mit nachweisbaren Erfolgen, mit gutem Service und gutem Ruf werden sich durchsetzen.Ich will Ihnen kurz schildern, was sich solche privaten Vermittler vornehmen; da können Sie den Unterschied zum Arbeitsamt bereits erkennen. Die privaten Vermittler werden nach einer Anfrage durch ein Unternehmen, daß dort eine bestimmte Arbeitskraft gesucht wird, in den Betrieb gehen und sich den entsprechenden Arbeitsplatz ansehen. Sie werden
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18933
Dr. Gisela Babeldort die Bedingungen erkunden und mit mehreren Bewerbern Gespräche führen.
Sie werden versuchen, bei der Einstellung des Arbeitnehmers anwesend zu sein. Sie werden daran denken, Garantien in der Weise zu übernehmen, daß der Arbeitgeber das Geld nicht umsonst ausgegeben hat, wenn sich nach vier Wochen herausstellt, daß diese Vermittlung ergebnislos war.Es geht um eine seriöse und umfassende Beratung und Vermittlung, wodurch für alle Seiten im Grunde ein Höchstmaß an Sorgfalt aufgewendet wird. Ich möchte einmal das Arbeitsamt sehen, das sich diese Mühe macht.
Frau Dr. Babel, der Abgeordnete Gilges würde Ihnen gern eine Frage stellen.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ich will die Frage ohne Polemik stellen. Sind Sie schon einmal in einem Arbeitsamt gewesen und haben sich mit den Beschäftigten dort unterhalten? Ist Ihnen bekannt, daß das, was Sie gerade dargestellt haben, von den Arbeitsämtern geleistet wird? Ich bin Mitglied eines Verwaltungsausschusses und weiß, daß die Arbeitsvermittler in die Betriebe gehen, mit den Unternehmern sprechen und sich die Arbeitsplätze anschauen. Diese Mühe machen sie sich.
Im letzten Jahr ist diese Art der Tätigkeit deswegen etwas vernachlässigt worden, weil die Arbeitsvermittlung durch die Arbeitsämter auf Grund von zusätzlichen Regeln und Veränderungen im AFG lahmgelegt war. Daß diese Arbeit nicht mehr mit der Intensität, die das Gesetz fordert, geleistet wird, liegt an der Bundesregierung.
Wahrscheinlich hält auch Herr Blüm nachher noch eine Rede. Ich bitte ihn, auf diesen Aspekt einzugehen. Es ist ja seine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die Arbeitsämter in die Lage versetzt werden, genau jene Aufgaben wahrzunehmen, die Sie hier beschrieben haben. Dafür brauchen wir keine private Arbeitsvermittlung.
O ja, Herr Gilges, wir brauchen die private Arbeitsvermittlung, damit gerade die Bundesanstalt für Arbeit merkt, wo die Schwerpunkte der Vermittlung zu liegen haben. Auf diese Weise kommen vielleicht mehr Konkurrenz und Wettbewerbsfähigkeit in das Geschäft.
Natürlich weiß ich, daß es eine große Zahl von neuen Verwaltungsvorschriften gegeben hat. Ich will ganz offen zugestehen, daß hier der Gesetzgeber angesprochen ist. Was wir den Betroffenen durch eine Serie von AFG-Novellen zumuten, lädt zur Kritik ein. Ich meine, diese Kritik ist berechtigt. Dadurch wird
aber auch unser Bemühen deutlich, mit dem Instrumentarium etwas Richtiges zu tun.
Die Tatsache, daß die Arbeitsämter nur 25 % der Arbeitsplätze vermitteln, zeigt schon, daß das Geschäft auf anderen Bahnen läuft. Die Vermittlung durch die Arbeitsämter dauert meist länger und ist zumeist unbefriedigender, als es der Fall wäre, wenn es solche vermittelnden Firmen auf dem Markt gäbe. Solche Firmen können nur eine Bereicherung darstellen.
Frau Dr. Babel, ich habe noch zwei Fragewünsche, und zwar von Herrn Dr. Thiele und Herrn Grünbeck. Wenn Sie bereit sind, diese Fragen zu beantworten, möchte ich zunächst dem Abgeordneten Dr. Thiele das Wort geben, der sich als erster gemeldet hat.
— Herr Dr. Küster, das ist nicht Ihr Problem.
Frau Babel, ist Ihnen auch bekannt, wie ich es als Rechtsanwalt in meiner Tätigkeit immer wieder erlebt habe, daß viele Arbeitsplätze, die frei sind, dem Arbeitsamt überhaupt nicht gemeldet werden, weil die Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamts, insbesondere die Erfolge, in der Form bekannt sind, daß dort die Arbeitsplätze eben nicht immer so qualifiziert besetzt werden können, wie das Private machen könnten, und ist es nicht sinnvoll, entsprechend diesem Vorschlag dort eine Änderung herbeizuführen?
Herr Thiele, ich stimme Ihnen auch zu und sage, daß wir dem Arbeitsamt noch nicht einmal unbedingt einen Vorwurf machen können; denn ein privater Arbeitsvermittler — darüber will ich ja gerade noch reden — kann sich branchenspezifisch etablieren und hier Know-how entwickeln, so daß eben ein Unternehmer sehr schnell zu dem Team kommt und zu den Arbeitskräften, die er braucht.
Diese Arbeit kann eine private Arbeitsvermittlung viel besser leisten, weil ja ein Arbeitsamt sozusagen regional am Ort angebunden ist.
Bitte schön, Herr Grünbeck.
Frau Abgeordnete, Sie haben so umfassend geantwortet, daß schon die unterstellte Frage von Herrn Grünbeck mit beantwortet ist. Sie können sozusagen normal fortfahren.
Ich komme dazu noch. Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, daß wir
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18934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dr. Gisela Babeldavon ausgehen, daß sich nach einer Zeit des Durcheinanders die seriösen Firmen durchsetzen werden.Jetzt stelle ich die Frage: Wie wird man denn nun Vermittler? Wir haben im Gesetz enthalten: persönliche Zuverlässigkeit und eine nicht spezifizierte, fünf Jahre währende Berufserfahrung als Bedingung. Ich gehe davon aus, daß eben, wie ich vorhin schon andeutete, Vermittlungsfirmen branchenbezogen arbeiten werden und dann sozusagen aus der Branche auch kundige, versierte Mitarbeiter gewinnen.Aber wie wäre es denn, meine Damen und Herren, wenn das Arbeitsamt, der große und sicher lange übermächtige Bruder der privaten Arbeitsvermittler, einen Ausbildungslehrgang entwickelte, in dem künftige Vermittler ausgebildet werden?
— Ja, meine Damen und Herren, über einen solchen Vorschlag staunen Sie. Aber es wäre doch gar nicht schlecht, wenn das Arbeitsamt die von Ihnen ja auch zu Recht immer wieder herausgestrichene Kompetenz zur Ausbildung von Vermittlern nutzen könnte. Nun könnten Sie einwenden, dann würde ja das Arbeitsamt seine eigene Konkurrenz heranqualifizieren.Meine Damen und Herren, auch das Arbeitsamt erkennt — ich glaube, es ist viel besser, als Sie vermuten — den Vorteil des Wettbewerbs. Sie merken heute in Gesprächen mit Arbeitsamtsleitern — damit beantworte ich Ihre Frage, ob ich denn schon einmal im Arbeitsamt gewesen bin —, daß sie keine Angst haben, daß sie im Gegenteil den Eindruck eines — sozusagen — frischen Windes verspüren, indem sie sagen: Jetzt wollen wir endlich einmal über Vermittlung ein bißchen mehr wissen, aber auch ein bißchen mehr tun. Und sie haben den Eindruck, daß der frische Wind ihnen nicht schaden wird.Meine Damen und Herren, deswegen denke ich, daß wir für alle Beteiligten hier das Richtige tun.
Meine Damen und Herren, ich habe jetzt nur noch ganz wenige Bemerkungen zu dem zu machen, was die Opposition vorweist, nach bekannter Großkritik und Großbeschimpfung, weil wir ja die arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen, die wir hier immer anmahnen, in der Tat kaum kennen. Es wäre viel sinnvoller, wir würden diese Diskussion über das führen, was die SPD eigentlich sagt.Die SPD hat in ihrem eigenen Wahlprogramm nur einen ganz kleinen versteckten Hinweis auf ein neues Arbeits- und Strukturförderungsgesetz. Es sind ja nur die Kollegen im Bundestag, vielleicht nur die im Ausschuß, die damit etwas anfangen können. Denn wir kennen ja dieses Konzept aus dem damaligen Arbeits- und Strukturförderungsgesetz, das wir hier auch schon beraten haben.Meine Damen und Herren, keiner in der Öffentlichkeit weiß eigentlich, was diese Vorstellungen kosten. Der Herr Scharping hat bis jetzt nicht ein einziges Wort darüber verloren. Jetzt hören Sie sich einmal den herrlichen Katalog an, der hier aufgeführt wird und zu dem wir uns dann vielleicht Gedanken machen könnten, wer das bezahlen soll und wie das bezahlt wird.
In dem Katalog steht erstens: Rechtsanspruch auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen; Förderung zu 100 %; Dauer der Maßnahme wenigstens so lange, daß der Teilnehmer einen erneuten Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz erwirbt. Ich möchte heute von den Sozialdemokraten einmal wissen, ob sie sich von diesem Vorschlag distanzieren oder ob sie ihn nach wie vor als einen Programmpunkt beibehalten und wer diesen Drehtüreffekt erstens für richtig und zweitens für bezahlbar hält, meine Damen und Herren.
Zweitens: Förderung sogenannter sozialer Betriebe mit Lohn- und Sachkostenzuschüssen; Einführung einer sozialen Grundsicherung aus Bundesmitteln zwecks Vermeidung von Sozialhilfe; Bewertung von Pflege- und Kindererziehungszeiten bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes; Einführung eines Strukturanpassungsgeldes analog zum Altersübergangsgeld für Arbeitslose. Es gibt keine Evaluierung. Das ist ein 100-Milliarden-Programm, was hier von den Sozialdemokraten als Beschäftigungsprogramm oder als Arbeits-, Struktur- und Förderungsgesetz anvisiert wird.
Ich kann nur sagen, wer als politische Partei in einen Wahlkampf geht und glaubhaft machen will, die Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen, der hat sich mit diesem Konzept — —
Frau Dr. Babel, Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. Ich weiß nicht, wie lang der Katalog ist, aber Sie überschreiten die Redezeit.
Mein letzter Satz.
Dann bin ich beruhigt.
Wer in einem solchen Regierungsprogramm glaubhaft machen will und ankündigt, daß er die Oppositionsrolle loswerden will, handelt eigentlich wider besseres Wissen. Ich kann aus Ihren Forderungen nur erkennen, daß Sie in der Opposition bleiben wollen.
Meine Damen und Herren, vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wohl eindeutig, daß das zentrale gesellschaftliche Problem die Massenarbeitslosigkeit und die tiefgreifende soziale Spaltung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18935
Dr. Gregor Gysiin dieser Gesellschaft sind. Knapp 4 Millionen offizielle Arbeitslose, 6 Millionen Arbeitsuchende, 7 Millionen Bürgerinnen und Bürger am Rande des Existenzminimums, 1 Million Obdachlose und t Million Kinder in Obdachlosenheimen, ein nach dem Kriege beispielloser Sozialabbau — das ist die Bilanz der Politik der Bundesregierung.
Während vor allem die abhängig Beschäftigten 116 Milliarden Mark im Jahr mehr Steuern und Sozialabgaben zahlen müssen, sind die Unternehmen steuerlich entlastet worden. Statt 30 % zahlen sie im Durchschnitt jetzt nur noch 20 % Steuern und Abgaben.Der Anteil der Löhne am Volksvermögen sank während der Regierungszeit von Helmut Kohl um 10 %, während die Unternehmereinkommen und Vermögensgewinne um mehr als das Doppelte auf das 2,1 fache stiegen.Das Ergebnis ist Massenarbeitslosigkeit. Damit ist Ihre These widerlegt, daß sinkende Löhne und steuerliche Entlastungen der Unternehmen Arbeitsplätze schaffen oder sichern. Das Gegenteil ist richtig, weil sinkende Löhne und Sozialleistungen die Nachfrage stark reduzieren.Es gibt in diesem Lande 97 Milliardäre. Ein BMW-Konzern, der für über 2 Milliarden Mark den britischen Rover-Konzern kauft,
eine Firma Siemens, deren hauseigene Bankenabteilung rund 26 Milliarden Mark verwaltet, und eine deutsche Metallgesellschaft, die mal eben eine halbe Milliarde Mark in sogenannte Öltermingeschäfte in den Sand gesetzt hat. Das ist die Kehrseite des Lohn- und Sozialabbaus.Seitdem ich in diesem Bundestag bin, seit dem 3. Oktober 1990, ist die Sozialhilfe eingefroren worden, die Arbeitslosenunterstützung gekürzt worden, die Vergütung von Umschulungsmaßnahmen gekürzt worden, und jetzt wird hier die dramatischste Kürzung um 20 % für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschlossen.In derselben Zeit ist bei den Reichen und Vermögenden oder den Besserverdienenden — die Bundestagsabgeordneten eingeschlossen — nichts reduziert worden. Wenn es eine Veränderung gab, dann wurde nur erhöht. Das ist die Realität in dieser Gesellschaft.
Herr Dr. Gysi, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus zu beantworten?
Ja, gerne. — Das heißt, ob gerne, weiß ich noch nicht. Aber ich werde es machen.
Herr Kollege Gysi, können Sie bei Ihrer Trauermeldung, die Sie hier vom Stapel
lassen, wie schlecht das in diesem Staat hier alles ist, wenigstens akzeptieren, daß wohl in wenigen Staaten der Erde so viel für Sozialleistungen ausgegeben wird, nämlich im letzten Jahr eine Billion?
Und wollen Sie auch zur Kenntnis nehmen, daß höchstwahrscheinlich Ihre politischen Vorstellungen, die Sie in der ehemaligen DDR praktiziert haben,
dazu führten, daß jetzt 230 Milliarden Mark Schulden bei der Treuhandanstalt angelaufen sind, die wir als das Ergebnis eurer Bankrottwirtschaft beschreiben? — So.
Zur ersten Frage. Ich kann durchaus zur Kenntnis nehmen, daß der absolute Anteil von Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland immer noch relativ hoch ist. Es bringt nur nichts, allein diesen Vergleich anzustellen, wenn nicht zwei Dinge hinzugefügt werden, nämlich erstens, daß natürlich auch die Lebenshaltungskosten in dieser Bundesrepublik Deutschland sehr viel höher sind als in einer Vielzahl von Staaten auf dieser Welt, so daß Sie dies wenigstens in den Vergleich miteinbeziehen müssen, und zweitens, daß Grundlage natürlich immer eine bestimmte soziale Situation, die erarbeitet ist, sein muß und davon ausgehend, wenn Geld knapp wird, entschieden werden muß, woher man es holt. Meine Kritik richtet sich nicht dagegen, daß Sie die Absicht haben, Geld zu sparen oder neue Einnahmequellen zu erschließen, sondern dagegen, daß Sie das ausschließlich zu Lasten der sozial Schwachen und der sozial Schwächsten in dieser Gesellschaft tun, während die Reichen und Vermögenden permanent geschont werden.Zur zweiten Frage. Sicherlich kostet die deutsche Einheit eine Menge Geld. Das hat auch mit der Politik der Vorgängerpartei zu tun. Mit unseren heutigen politischen Vorstellungen hat es, glaube ich, sehr viel weniger zu tun. Dies wüßten Sie, wenn Sie sich ernsthaft damit beschäftigt hätten. Allerdings muß ich hinzufügen, daß die heutige Verschuldung der Treuhandanstalt und anderer Einrichtungen durchaus auch in ganz starkem Maße selbstgemacht ist und durch Fehler bei der Art und Weise des Zustandekommens und der Umsetzung der Währungsunion entstanden ist.
Ich sage Ihnen nur ein Beispiel. Der ehemalige Bundesbankpräsident Pöhl hat im Treuhanduntersuchungsausschuß ausgesagt, daß allein schon durch die Tatsache, daß viele Betriebe der DDR in den Ostblock exportiert haben und mit der Umstellung der Währung nur noch Einnahmen in Rubel hatten, aber alle Ausgaben in D-Mark hatten, ohne daß dafür vorher Maßnahmen festgelegt waren, die Treuhandanstalt dies alles zu kreditieren hatte, mit dem Ergebnis, daß sie eigentlich schon am 31. Juli pleite war. Vergessen Sie nicht, daß der Vorgänger von Frau Breuel das Gesamtvermögen der DDR noch auf über 600 Milliarden Mark geschätzt hat und daß Sie sich hier überhaupt geweigert haben, eine Vermögensbi-
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18936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dr. Gregor Gysilanz vorzulegen, damit man einmal eine klare Abrechnung vornehmen kann.
Das hatten wir beantragt und das ist hier abgelehnt worden.Ich komme dann zu einem weiteren Aspekt. Ein kommender, jetzt vielfach beschriebener konjunktureller Aufschwung wird ohne die Bevölkerungsmehrheit stattfinden, weil er nichts an der Arbeitslosigkeit ändern kann.Mehr noch: Wachstum und Beschäftigung driften erstmals nach dem Krieg auseinander. Nicht trotz, sondern wegen der konjunkturellen Erholung werden für dieses Jahr weitere 300 000 bis 500 000 Entlassungen prognostiziert. Die sogenannte Verschlankung der Produktion setzt sich fort, d. h. Konjunkturaufschwung bedeutet überhaupt nicht Arbeitsplatzsicherung oder -schaffung. Infolge der Möglichkeiten der Unternehmen, die Arbeitszeiten nach unten und oben flexibel zu gestalten, wird von Neueinstellungen in der Regel abgesehen.Vergessen Sie nicht, daß es Ihr Ministerpräsident Lothar Späth war, der gesagt hat: Wenn alle Innovationsmöglichkeiten ausgenutzt würden, hätten wir 9 Millionen Arbeitslose, und das wären dann 38 % aller Erwerbsfähigen. Das ist doch eine riesige Herausforderung, der man dringend gesellschaftlich begegnen muß. Die Konservativen vertrauen ideologisch borniert nur dem Markt, der Teilzeitarbeit, der Schaffung eines Niedriglohnsektors und dem Sozialabbau. Sie vertrauen auf den zweiten und den dritten Arbeitsmarkt. Die sozialen und materiellen Unterschiede sollen noch verschärft werden. Wer das aber anstrebt, fördert gesellschaftliche Rechtsentwicklung, einen Anstieg der Kriminalität und Verrohung. Dies wiederum provoziert geradezu den Drang nach einem starken, autoritären Staat, nach Demokratie- und Rechtsabbau.Was soll nun heute eigentlich entschieden werden? Sie wollen entscheiden, die Vergütung für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf 80 % des bisherigen Standes zu reduzieren. Das ist eine Kürzung um 20 %. Ich glaube, eine solche Kürzung hat es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Das wird hier irgendwie so nebenbei erledigt. Das wollen Sie auch noch im Osten Deutschlands durchführen, wo die Vergütung sowieso schon sehr viel niedriger ist. Es ist in beiden Teilen nicht gerechtfertigt.
Herr Abgeordneter Gysi, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, aber der Abgeordnete Dr. Krause möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, darauf möchte ich nicht antworten.
Das ist Ihr gutes Recht. Bitte sehr, fahren Sie fort.
Ich glaube, daß eine solche Entscheidung nicht nur gravierende soziale Auswirkungen hat, sondern wiederum dazu führt, daß die Nachfrage zurückgeht, was wiederum dazu führt, daß die Umsätze in Handel und Dienstleistung abnehmen und Arbeitsplatzabbau die Folge ist. Dann hat der Staat wieder weniger Einnahmen, und dann wird die nächste Sozialkürzung beschlossen. So setzt sich diese Spirale ewig fort.Ich halte auch überhaupt nichts von der privaten Arbeitsvermittlung. Sie können mit Ihren Argumenten — auch von der F.D.P. — nicht über eine Tatsache hinwegtäuschen: Sie kommerzialisieren Arbeitslosigkeit. Sie organisieren das Geschäft mit der Arbeitslosigkeit, statt es in den bewährten Händen der Arbeitsämter zu lassen, die übrigens Ihnen unterstehen, weshalb ich es besonders abenteuerlich finde, wenn Sie sie hier kritisieren und als unfähig darstellen.Es ist doch klar, was da passiert: Die schwer Vermittelbaren bleiben bei den staatlichen Arbeitsämtern, die leichter Vermittelbaren gehen zu den Privaten. Die Privaten haben außerdem noch die Möglichkeit — das können Sie gar nicht kontrollieren —, natürlich knallharte Zahlungsbedingungen zu stellen.Wenn ein Betrieb einen geeigneten Juristen sucht und der Private zehn Bewerber hat, die bei ihm zur Auswahl stehen, dann wissen Sie doch, was der eine, der den Job bekommt, dafür real bezahlen muß und was er nebenbei und schwarz macht. Das alles organisieren Sie sich. Sie organisieren mit dieser Entscheidung Kriminalität!
— Das wird aber dadurch noch verschlimmert und halb legalisiert.
Ich denke weiter, daß auch die Entscheidung des Arbeitszwangs für Arbeitslosenhilfeempfänger und -empfängerinnen eine Katastrophe ist, weil es nämlich bedeutet, daß Sie reguläre Arbeit entziehen, sie untertarifvertraglich entlohnen — d. h. kaum entlohnen — und damit wieder einen Angriff auf die Tarifautonomie starten. Irgendwann wird der Tariflohn zur Ausnahme, wenn das so weitergeht. Wir brauchen reguläre Arbeitsplätze, nicht zweite und dritte Arbeitsmärkte.
Ich denke, daß es zu alldem Alternativen gibt, geben muß. Lassen Sie mich das in Stichworten sagen.Wir müssen eine drastische Arbeitszeitverkürzung einführen. Eine Festlegung der 35-Stunden-Woche und eine gesetzliche Reduzierung der Zulässigkeit von Überstunden könnten allein 2 Millionen Arbeitsplätze schaffen. Dabei wäre ein voller Lohnausgleich für durchschnittliche und unterdurchschnittliche Einkommen erforderlich. Bei überdurchschnittlichen kann man über Reduzierung reden.Viele Unternehmen wären auch in der Lage, das zu bezahlen. Die, die dazu nicht in der Lage wären, müßten dann teilweise Lohnsubventionen erhalten,
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Dr. Gregor Gysiwas für den Staat immer noch billiger ist als Arbeitslosigkeit. Hätte VW die 30 000 entlassen, dann hätte der Staat dafür im Jahr 1,2 Milliarden DM aufwenden müssen. Hätte er die komplette Lohndifferenz übernommen, dann hätte es ihn nur 600 Millionen DM gekostet, d. h. die Hälfte. Das ist eine Tatsache. Es ist sozusagen besser für den Staat und für die Betroffenen natürlich erst recht.Wir brauchen auch flexiblere Arbeitszeiten, aber mit tariflicher Absicherung und Vorsorgeleistungen für die späteren Renten. Wir können das doch nicht so einführen, daß damit praktisch die soziale Sicherung völlig entfällt.Beschäftigung, Bildung, Weiterbildung müssen gefördert werden. Wir brauchen tatsächlich eine soziale Grundsicherung, und zwar unter anderem, um auch eine grobe Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft abzuschaffen, daß nämlich gerade Frauentätigkeit, also solche Tätigkeit, die leider überwiegend von Frauen erledigt wird, daß reproduktive Prozesse in dieser Gesellschaft kostenlos verrichtet werden. Das sind Erziehung, Betreuung, Haushaltsführung. Aber es gibt auch viele Arbeiten im Bereich von Kultur, Bildung und Umwelt, die heute kostenlos verrichtet werden und die mittels einer sozialen Grundsicherung wenigstens eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung finden würden.Wir brauchen Struktur-, Regional- und Arbeitspolitik, etwas, was in Japan gemacht wird, etwas, was selbst Clinton anerkennt. Nur diese Bundesregierung ist so marktborniert, daß sie solche Programme generell ablehnt.Wir brauchen auch Förderung alternativer Produktionsformen, von Selbsthilfegruppen und genossenschaftlichen Eigentumsformen, besonders in der Landwirtschaft. Wir brauchen die Verteidigung der Bodenreform, damit die Betriebe, die es diesbezüglich in den neuen Bundesländern noch gibt, nicht restlos plattgemacht werden; denn das wäre das Ergebnis.Wir brauchen Dezentralisierung und mehr Demokratie auch in der Wirtschaft. Die Beschäftigten, die Gewerkschaften müssen an Produktions-, Investitions- und Ökologieentscheidungen stärker beteiligt werden, auch an ökonomischen Entscheidungen. Sie müssen über Arbeitsinhalte und über Arbeitsbedingungen mitbestimmen können. Auch das sichert Arbeitsplätze, weil sie nämlich ganz anders in die Verantwortung der Wirtschaft einbezogen werden, als das gegenwärtig der Fall ist, wenn sie immer erst gefragt werden, sobald es um Entlassungen und Sozialabfindungen geht, was wesentlich zuwenig ist.Ich denke überhaupt, daß die Gesellschaft mehr Demokratie braucht, neben der demokratischen Verfaßtheit, die es ja gibt, auch eine umfassende Demokratisierung in Kommunen und anderen Bereichen.
Wir brauchen mehr unmittelbare Demokratie, auch mit Volksentscheiden, Volksinitiativen und vielen anderen Elementen.Ich sage auch, weshalb das in unserer Zeit so wichtig ist: weil das ein ganz wichtiges Mittel zur Förderung von Kreativität und Innovation ist und vor allen Dingen renitent macht gegen rechtsextremistische Einflüsse.
— Bitte schön.
Herr Abgeordneter, ich kann das nicht mehr zulassen. Sie haben Ihre Redezeit überschritten. Außerhalb der Redezeit lasse ich keine Fragen zu.
Herr Abgeordneter Gallus, Sie haben nicht das Wort. Sie können sich zu einer Kurzintervention melden. Herrn Abgeordneten Gysi möchte ich bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich weiß, daß alle diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch Geld kosten, und ich weiß, daß das immer Ihr stärkstes Argument ist. Deshalb lassen Sie mich als letztes sagen, wie man in dieser Gesellschaft zu Geld kommen könnte, um z. B. neue Arbeitsplätze, in den Bereichen Bildung, Kultur usw. zu bezahlen,
nämlich durch Abrüstung, durch Entbürokratisierung der Gesellschaft, durch höhere und gerechtere Besteuerung der Vermögenden und Besserverdienenden sowie Beseitigung von Steuerprivilegien für diese Gruppen, durch Abschöpfung von Spekulationsgewinnen, durch eine Zwangsanleihe bei den Banken zur zumindest teilweisen Abschöpfung des frei vagabundierenden Kapitals von über 700 Milliarden DM, durch Abbau steuerlicher Privilegien des Finanzkapitals und von Unternehmen mit hohen Gewinnen und wenigen Beschäftigten,
durch eine Steuer- und Abgabenreform, wonach die Unternehmen diese nach ihren Gewinnen und nicht nach der Zahl ihrer Beschäftigten zu bezahlen haben —
Herr Dr. Gysi, Ihrer Ankündigung habe ich eben geglaubt!
— und durch konsequente Bekämpfung der Steuerhinterziehung, was übrigens sehr viel sinnvoller wäre, als hinter jede Sozialhilfeempfängerin einen Kontrolleur zu stellen, der prüfen soll, ob sie nicht vielleicht 10 DM zuviel bekommt. Nein, in diesem Land gibt es nicht zuwenig Geld, es wird nur ungerecht verteilt!
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
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18938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, und der Staat zieht sich aus der Arbeitsmarktpolitik zurück. Jetzt liegt dem Bundestag ein Beschäftigungsförderungsgesetz zur Beschlußfassung vor, das der dramatischen Lage auf dem Arbeitsmarkt völlig unangemessen ist. Dieses Paket ist für mich ein deutlicher Beweis für die Kleinmütigkeit und die Handlungsunfähigkeit der Koalition. Die Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf sind vielfach inkonsequent, gehen in vielen Punkten am Problem vorbei und sind insgesamt unzureichend. Ich möchte dies an fünf Punkten verdeutlichen.Erstens. Die Bundesregierung möchte die finanzielle Förderung der AB-Maßnahmen weiter einschränken. Für die neuen Länder würde das bedeuten, daß nur noch ein Einkommen bis zu 2 400 DM förderbar wäre. Das ist aus der Sicht des Finanzministers vielleicht verständlich; der Lösung der gestellten Arbeitsmarktprobleme kommt die Regierung damit aber keinen Schritt näher.Wir wissen aber, daß es Ihnen nicht darum geht, das Instrument der ABM zu verbessern, sondern darum, sich Stück für Stück davon zu verabschieden. Im gleichen Zeitraum, in dem die Arbeitslosenzahl in Ost und West um 16 % zugenommen hatte, wurde die Zahl der ABM-Stellen um immerhin 21 % gesenkt, nicht weil es bessere Alternativen gegeben hätte — sie wären dringend nötig — sondern um die Haushaltsbelastungen zu senken. Das ist der einzige erkennbare Grund für die angestrebten Leistungsverschlechterungen.Zweitens. Die Koalition will das Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit schleifen. Dieses Vorhaben ist offenbar ein Lieblingskind der deregulierungswütigen Dogmatiker der F.D.P. Es schafft wohl neue Arbeitsplätze, allerdings nicht da, wo sie benötigt werden, sondern im Maklergewerbe. Sie müssen uns schon erklären, wie denn die privaten Arbeitsvermittler künftig die Arbeitslosen von der Straße holen sollen, wenn sie für ihre Dienstleistungen nur bei den potentiellen Arbeitgebern kassieren dürfen. Es ist doch absehbar, daß damit eine Zweiklassengesellschaft bei der Arbeitsvermittlung hergestellt wird:
die von den Arbeitgebern finanzierte private Vermittlung von gesuchten und knappen Arbeitnehmern auf der einen Seite und die staatliche Grundversorgung für die Problemgruppen am Arbeitsmarkt auf der anderen Seite.Das Dilemma der privaten Arbeitsvermittlung liegt doch darin, daß sie, solange nur die Arbeitgeber zahlen, zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme nicht beitragen kann, weil die problematischen Gruppen von Arbeitssuchenden gar keine Chance haben werden, über private Vermittler einen Arbeitsplatz zu bekommen. Werden aber die Arbeitssuchenden zur Kasse gebeten, besteht die Gefahr, daß der Kampf um Arbeitsplätze Formen annimmt, wie sie heute schon den Kampf um Mietwohnungen prägen. Am Ende bleiben den Arbeitsämtern die Problemgruppen, die dann noch tristere Aussichten haben als schon heute.Ich habe allerdings allergrößte Zweifel, daß die Regierung es ernst meint mit der Beschränkung der Vergütung auf die Arbeitgeber. Noch steht im Gesetz: „soweit nicht durch Rechtsverordnungen anders bestimmt" . Das läßt zumindest einiges offen.Drittens. Wenn Sie Arbeitslosenhilfeempfänger zu Saisonarbeit heranziehen wollen, dann erinnert das nicht nur hinsichtlich der mickrigen Lohnsätze an längst überwunden geglaubte Zeiten, da weht ein Hauch von Reichsarbeitsdienst durchs Land. Es ist ein reines Abschreckungsinstrument ohne jeden arbeitsmarktpolitischen Sinn.Besonders pikant ist, daß die Bundesregierung es fertig bringt, die Bezieher von Arbeitslosenhilfe durch verordnete Zwangsarbeit aus der Arbeitslosenstatistik herauszumogeln. Warum wollen Sie eigentlich nicht gleich die ganze Arbeitslosenstatistik abschaffen? Das wäre doch der größte Erfolg für diese nicht eben von Erfolg verwöhnte Koalition.Viertens. Die Bundesregierung will die Bedingungen eines Übergangs in die Selbständigkeit für Arbeitslose verbessern. Der Gedanke ist nicht verkehrt, aber die Maßnahme ist unzureichend. Wenn jetzt das Überbrückungsgeld statt längstens 26 Wochen nunmehr grundsätzlich 26 Wochen gezahlt wird, wird dadurch die bislang ausgebliebene Gründerwelle sicher nicht ausgelöst.Fünftens. Ähnlich ist es bei der Förderung der Teilzeitarbeit. Natürlich liegt in dem veränderten Berechnungsmodus für Lohnersatzleistungen ein gewisser Fortschritt für Teilzeitbeschäftigte. Aber auch hier ist ein Gesamtkonzept für die Förderung und die soziale Absicherung von Teilzeitarbeitsplätzen nicht erkennbar.Dieses Beschäftigungsförderungsgesetz hat seinen Namen nicht verdient. Was not tut, ist eine umfassende Initiative, die eine angemessene Antwort auf die Krise der Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft gibt. Wir brauchen ein Konzept zur Förderung von Arbeitszeitverkürzungen in den verschiedensten Formen. Dazu gehören Anreize und notwendige soziale Absicherungen. Wir brauchen eine Umstellung auf aktive Arbeitsmarktpolitik, eine dauerhaft angelegte produktive Arbeitsförderung.Hierzu gehört auch die Erkenntnis, daß Arbeitsmarktpolitik als gesamtstaatliche Aufgabe von der Gesellschaft als ganzer finanziell getragen werden muß. Wir treten daher für eine deutliche Trennung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung und staatlicher Arbeitsmarktpolitik in finanzieller wie in organisatorischer Hinsicht ein.Der soziale Frieden in diesem Land ist nicht zuletzt von Erfolgen in der Arbeitsmarktpolitik abhängig. Mit diesem Beschäftigungsförderungsgesetz und von dieser Regierung sind diese Erfolge nicht zu erwarten. All die Verbalanstrengungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zeugen von einem Rettungsprogramm für die eigenen Arbeitsplätze auf der Regierungsbank.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18939
Den Abgeordneten Kauder möchte ich stören und ihn bitten, das Wort zu ergreifen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als die Regierungskoalition am 3. Februar 1994 eine Reihe von Gesetzen eingebracht hat, mit denen das Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung umgesetzt wird, hat unser Frakionsvorsitzender Wolfgang Schäuble erklärt:
Die Bundesrepublik Deutschland ist auf dem Weg aus der wirtschaftlichen Rezession.
Dies haben Sie von der SPD mit Lachen quittiert.
Die letzten Zahlen von der Bundesanstalt für Arbeit haben diese Aussage dagegen bestätigt.
Unsere gegen viel Kritik und Widerstände durchgesetzte Wirtschafts- und Finanzpolitik zeigt also Wirkung, und sie zeigt Wirkung, Herr Gilges, ob Sie das wollen oder nicht.
Wenn ich Sie von der Opposition heute und in manch anderen Diskussionen höre und die Gesichter sehe, habe ich manchmal den Eindruck, es würde Sie freuen, wenn das zuträfe, was Sie hier immer als Bild malen.
Aber es geht hier um Menschen und nicht um Ihre Ideologie. Es ist deshalb richtig: Es geht aufwärts, und wir wollen alles daransetzen, daß es weiter aufwärtsgeht.
Wenn die Wirtschaft wieder Tritt fassen kann, gibt es auch wieder Arbeitsplätze, und bestehende bleiben erhalten. Diesen Weg werden wir konsequent weitergehen und uns nicht von falschen Rezepten der Opposition beirren lassen.
— Das ist nicht nur schön für uns, sondern das ist vor allem schön für die Menschen. Das haben Sie offenbar immer noch nicht verstanden.
Wie wenig wirtschaftspolitische Kompetenz diese SPD-Bundestagsfraktion hat, zeigt sich schon im ersten Satz ihres heute vorliegenden Entschließungsantrags zu unserem Beschäftigungsförderungsgesetz. Da soll unser Gesetzentwurf abgelehnt werden, da er keine neuen Arbeitsplätze schaffe.
Haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, aus dem Zusammenbruch des Sozialismus noch nicht gelernt, daß Gesetze und Staat Arbeitsplätze nicht schaffen und garantieren können, daß die Politik aber sehr wohl einen fruchtbaren Boden bereiten kann, auf dem unsere Wirtschaft wieder wächst?
Das veranlaßt den Abgeordneten Gilges, Sie zu bitten, eine Frage zu beantworten.
Aber bitte.
Herr Kollege Kauder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Zahlen der gemeldeten Arbeitslosen im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres in diesem Jahr im Durchschnitt um 16 bis 17 % höher sind? Das heißt, wir haben im Februar eine Steigerung von einem zum anderen Jahr im Vergleichsmonat von 16 %. Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in keinem Jahr gegeben.
Da sprechen Sie von einem Rückgang, obwohl es eine 16 %ige Steigerung gegenüber dem Vorjahr gibt? Ich meine, da muß man ja schon manipulieren oder zumindest ein manipuliertes Bewußtsein haben, was mich schon in Erschrecken und Erstaunen versetzt, Herr Kollege.
Herr Kollege Gilges, nehmen Sie einmal zur Kenntnis, daß die Arbeitslosenzahlen seit dem letzten Bericht der Bundesanstalt für Arbeit zurückgegangen sind. Da sehen wir einen ganz deutlichen Trend. Diesen Trend sehen nicht nur wir, sondern auch alle Fachleute.
Überall in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen ist geschrieben worden, daß leichte Hoffnung aufkommt. Dies wollen Sie nicht. Deswegen reden Sie so, wie Sie reden.
Der Herr Abgeordnete von Larcher möchte ebenfalls eine Frage stellen.
Verunglimpfen Sie nicht die Namen von Kollegen! Sonst kann ich über Sie auch einmal etwas sagen, Herr Kollege Schreiner. Noch sage ich Schreiner. Seien Sie bitte einmal vorsichtig!
Herr Kollege, haben Sie nicht ebenso wie ich die Stimme Ihres Bundeskanzlers und die Stimmen anderer Regierungsmitglieder im Ohr, die gesagt haben, wir haben in den 80er Jahren Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen?
— Bitte, 3,5 Millionen Arbeitsplätze hat diese Koaltion geschaffen. — Würden Sie denn dann diesen Stimmen und Ihrem Bundeskanzler bescheinigen, daß sie keine Ahnung von Wirtschaftspolitik haben?
Ich will es nicht so aufgreifen. Aber man kann Fragen natürlich gescheit und weniger klug stellen. Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir mit unserer Wirtschafts-
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18940 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Volker Kauderund Sozialpolitik Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Wirtschaft neue Arbeitsplätze zur Verfügung stellt. Aber Sie erwecken immer den Eindruck, als ob Sie persönlich bzw. die Opposition gerade dies könnten. Genau dies ist nicht der Fall. Ich komme noch darauf zu sprechen, was in Niedersachsen passiert ist. Hören Sie mir nur gut zu, dann werden Sie die Antwort noch bekommen.
Herr Abgeordneter Kauder, bevor Sie dies tun, fragt noch einmal der Abgeordnete Schemken, ob Sie bereit sind, eine Frage zu beantworten.
Aber bitte.
Herr Kollege Kauder, können Sie bestätigen, daß wir an der Schwelle des Jahres 1982/83 knapp 26 Millionen Arbeitsplätze in den alten Bundesländern hatten und wir mittlerweile bei über 29 Millionen Arbeitsplätzen angelangt sind?
Dies kann ich bestätigen. Gleichzeitig muß man dann auch noch fragen, wer in dieser Zeit die Regierung geführt hat. Dann weiß man, wer dazu einen ganz massiven Beitrag geleistet hat.
Ich habe gesagt, daß Politik sehr wohl einen fruchtbaren Boden bereiten kann, auf dem unsere Wirtschaft wieder wächst. Arbeitslosigkeit ist nicht mit politischen Kraftsprüchen — wie ich sie von Ihnen, von der Opposition, immer wieder höre — zu beseitigen. Dies haben wir doch alle in Niedersachsen erlebt. Der niedersächsische Ministerpräsident Schröder hat ja im Wahlkampf gerade so getan, als ob er die Arbeitsplätze nur so aus dem Hut zaubern könne. Und was hat er hingebracht? Nichts, gar nichts hat er hingebracht.
In den Bereichen, wo er vielleicht noch etwas hinbringen könnte, nämlich beispielsweise im Export, wird er ja von der eigenen Partei behindert. Wenn ich die Diskussion — dazu habe ich in diesem Bundestag auch gesprochen — zur Wehrtechnik und zur Dualuse-Problematik höre, stelle ich fest, daß Sie ihm in den Rücken fallen.
Herr Kollege Ostertag, es ist so, daß dies Ländersache ist. Sie wollen sich um die Verantwortung drükken. Aber wir müssen über die Frage, was mit Dualuse-Gütern geschieht, in diesem Haus diskutieren und nirgendwo anders. Da blockieren und bremsen Sie eine Entwicklung, die Arbeitsplätze schaffen würde.
Jetzt wird wieder laut nach dem Bund gerufen. So führen Sozialdemokraten die Menschen an der Nase herum. Die Politik, habe ich vorhin gesagt, kann durch entsprechende Maßnahmen die Wirtschaft beim Aufschwung unterstützen und ihr den Aufschwung auch erleichtern.
Aber davon ist die SPD meilenweit entfernt.
Der Kollege Diederich hat zwar am 3. Februar von diesem Platz aus gesagt, daß die SPD für jede Erleichterung unternehmerischer Aktivitäten eintrete. Wenn dies aber wirklich so ist, wenn diese Aussage wirklich zutrifft, dann hätte die SPD schon einer ganzen Reihe von Gesetzen, die wir in der letzten Zeit im Deutschen Bundestag eingebracht haben, zustimmen müssen. Sie müßte dann heute auch dem Beschäftigungsförderungsgesetz zustimmen. Aber genau dies tun Sie nicht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein danke, ich möchte keine Fragen mehr beantworten.
Wenn Sie nach dem 16. Oktober Regierungsverantwortung hätten — was der Wähler im eigenen Interesse verhüten möge —, dann würden Sie es nicht tun, und Sie könnten es auch nicht.
Obwohl Sie sich ständig um die Frage herumdrükken und Schröder gerade noch einmal daran vorbeigekommen ist, mit wem Sie eigentlich eine Koalition in Bonn bilden würden, ist völlig klar, daß Sie auf eine rot-grüne Koalition setzen.
Dies ist alles andere als ein Beschäftigungsförderungsprogramm. Eine rot-grüne Regierungskoalition, die hoffentlich nicht Realität wird, wäre ein klares Arbeitsplatzvernichtungsprogramm, nichts anderes.
— Ich kann verstehen, daß Sie sich getroffen fühlen. Da nützt aber die ganze Aufregung nichts. Das ist halt so.
— Das nützt alles gar nichts, Herr Gilges.Wenn nur Teile dessen, was die GRÜNEN in Mannheim beschlossen haben, umgesetzt werden würden,
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Volker Kauderwürde dies einem Wirtschaftsinfarkt in Deutschland gleichkommen.
Wenn Sie sagen, mit GRÜNEN, die solche Forderungen erheben, machen wir keine Koalition, dann können Sie eigentlich gleich erklären, daß sie nicht in die Regierung kommen können; denn Sie können doch wohl nicht meinen, daß die GRÜNEN mit ihren Forderungen nicht Ernst machen und daß Sie hier eine absolute Mehrheit erreichen können.Nein, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie können uns und den Wählern nicht weismachen wollen, daß die GRÜNEN mit ihren Forderungen nur wie Kindergartenkinder im Sandkasten mit Sand werfen und sie dann mit Ihnen eine Regierung eingehen, in der sie alle ihre Forderungen nicht durchbringen wollen.
Herr Abgeordneter Kauder, ich möchte Sie fragen, ob Ihre Ablehnung Zwischenfragen zuzulassen, grundsätzlich gilt. Es gibt nämlich erneut den Wunsch zu einer Zwischenfrage.
Ja, das gilt grundsätzlich.
Sie müssen jetzt also schon einmal sagen, was Sie wirklich wollen. Aber ich kann mir gut vorstellen, daß Sie gerade davor, daß Sie konkret werden sollen, eine panische Angst haben. Denn immer, wenn sich Scharping konkret äußert, wird es für ihn und die SPD brandgefährlich. Dies haben seine Versuche, zu erklären, was er unter einem Besserverdienenden verstehe, ja deutlich gezeigt.
Wie will ein Mann, der den Unterschied zwischen brutto und netto nicht kennt, unser Land in eine gute Zukunft führen?
Nein — das werden wir den Menschen sagen; jetzt hören Sie gut zu, Herr Gilges —; wer SPD wählt, riskiert eine rot-grüne Regierung und gefährdet Arbeitsplätze für viele Menschen in diesem Land.
Mit unserem Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung unterstützen wir den sich abzeichnenden Aufschwungprozeß in der Wirtschaft und tragen dazu bei, daß Arbeitsplätze erhalten, neue geschaffen und so Menschen vor Arbeitslosigkeit bewahrt werden. Die Menschen sollen aus der Arbeitslosigkeit wieder in den Arbeitsmarkt hineinkommen, und zwar in den ersten und nicht ausschließlich in den zweiten.
Genau dies werden wir mit unseren Maßnahmen aus dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 auch erreichen. Mit unserem Gesetzentwurf werden wir einen Beitrag dazu leisten, daß wieder mehr Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Beschäftigungsmöglichkeit finden. Es ist deshalb eines der Ziele unseres Gesetzes, daß bestehende Beschäftigungsmöglichkeiten voll genutzt, offene Stellen so schnell wie möglich besetzt und neue produktive Arbeitsplätze geschaffen werden können.Diesem Ziel dienen vor allem folgende Schwerpunkte: Wir wollen dem Alleinvermittlungsrecht der Bundesanstalt für Arbeit die Möglichkeit gegenüberstellen, daß auch private Vermittler tätig werden. Warum sollen in dieser schwierigen Zeit nicht auch Private zeigen, daß sie in der Lage sind, Arbeit zu vermitteln? Der Arbeitssuchende hat daraus überhaupt keinen Nachteil, sondern er hat eine zusätzliche Informations- und Vermittlungschance. Was soll daran eigentlich schlecht sein? Die Honorare für die Vermittlung müssen grundsätzlich vom Arbeitgeber beglichen werden.Vornehmlich die Opposition zeichnet wahre Horrorgemälde, was auf die Arbeitssuchenden nun alles zukommt. In einer Zeit dramatischer Veränderungen wollen Sie immer am Bestehenden festhalten oder mit alten Methoden auf neue Herausforderungen antworten. Mit Bedenkenträgern und Bremsern, so wie Sie sich auch heute wieder dargestellt haben, werden wir die Zukunft aber nicht gewinnen.
Wir sprechen dem Arbeitsamt die Kompetenz der Arbeitsvermittlung nicht ab. Aber wir sagen: In einer so schwierigen Zeit mit so dramatischen Herausforderungen müssen wir alles, was wir haben, einsetzen, um Menschen in Arbeit zu bringen. Dazu werden die Privaten ihren Beitrag leisten.
Sie sollten auch nicht immer so besserwisserisch tun. Lassen wir es doch einmal anfangen, und dann beurteilen wir, wie die Sache gegangen ist. Ich prophezeie Ihnen: Nach einem Jahr werden Sie mucksmäuschenstill sein, so wie es sich eigentlich auch gehören würde.
Wir wollen auch, daß es länger als bisher vorgesehen möglich ist, befristete Arbeitsverträge abzuschließen. Die Anhörung hat gezeigt, daß sich dieses Instrument bewährt hat.
Auch Sie haben selber schon mehrfach in Strategiepapieren zugegeben, daß die Belebung des Arbeitsmarktes immer der wirtschaftlichen Belebung nach-
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18942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Volker Kauderfolgt, daß zuerst das eine kommen muß und dann das andere.In einer Zeit, wo die wirtschaftliche Belebung langsamer geht, werden sich die Unternehmen schwerer tun einzustellen. Aber wenn sie wissen, daß sie befristet einstellen können, sowie der wirtschaftliche Aufschwung kommt, wird dieses Instrument auch eingesetzt. Dann werden wir wieder neue Arbeitsplätze haben.Im übrigen, zu dem Argument „immer auf die Kleinen" kann ich Ihnen nur eines sagen — das sollten Sie sich einmal genau überlegen —: Es ist besser, daß jemand mit einem befristeten Arbeitsvertrag anfangen kann, als daß er arbeitslos bleibt. Nachher kann aus dem befristeten dann ein Dauerarbeitsverhältnis werden. Auch das verstehen Sie aber offenbar nicht.
Wenn die Unternehmen die Möglichkeit haben, werden sie eine befristete Einstellung vornehmen.Wir wollen auch, daß bei saisonbedingten Tätigkeiten in der Land- und Forstwirtschaft nicht nur ausländische Arbeitnehmer, sondern auch deutsche Arbeitslose beschäftigt werden. Durch eine Saisonarbeitnehmerhilfe, die zum Lohn gezahlt werden wird, soll hier ein Anreiz geschaffen werden. Auch dies ist ein Beitrag, Beschäftigungsmöglichkeiten für deutsche Arbeitslose im ersten Arbeitsmarkt zu eröffnen.Meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt will ich Ihnen einmal was sagen: Die Menschen haben einfach kein Verständnis mehr dafür, daß wir ausländische Arbeitskräfte brauchen, während deutsche Arbeitslose an Stelle von Erwerbseinkommen Arbeitslosengeld beziehen.
Deshalb muß hier eine Möglichkeit der Vermittlung geschaffen werden.Allerdings — auch dies sage ich ausdrücklich —: In dem hochsensiblen Bereich unserer Land- und Forstwirtschaft, bei den Erntebetrieben werden wir auf die Anforderungen und auch auf die Bedürfnisse unserer Landwirte Rücksicht nehmen. Die Arbeitsverwaltung wird dies entsprechend ausgestalten. Aber es kann nicht so sein, daß bestimmte Arbeiten von Arbeitslosen rundweg einfach nicht mehr gemacht werden. Dies trägt nicht zur Gerechtigkeit in unserem Land bei.
Wir brauchen eine große Selbständigkeitsoffensive. Alle Erfahrungen zeigen, daß Selbständige nach kurzer Zeit neue Arbeitsplätze schaffen. Im Gegensatz zu anderen Ländern in Europa, in Amerika kommen bei uns viel zuwenig Arbeitslose in den Bereich der Selbständigkeit hinein, um eine eigene Existenz aufzubauen. Dies wollen wir nun unterstützen, indem wir die Weiterzahlung der Arbeitslosenunterstützung für sechs Monate gewähren. Dies wird Mut machen,
nicht in der Arbeitslosigkeit zu verharren, sondern sein Glück in der Selbständigkeit zu versuchen. Und dies ist genau richtig.
Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einmal unterbreche, Herr Abgeordneter Kauder.
Ich weiß, daß Zwischenrufe das Salz in der Suppe einer Debatte sind.
Aber solche doch nicht!
Mit Verlaub gesagt: Ich werde mich nicht dazu herablassen, die Zwischenrufe zu bewerten, Herr Abgeordneter.
Aber ich möchte Sie schon darauf aufmerksam machen, daß man eine Suppe auch versalzen kann. Denn wenn die Zahl der Zwischenrufe so groß ist, daß man den Redner nicht mehr verstehen kann, dann ist die Debatte nicht mehr sinnvoll. Ich möchte Ihnen daher eine gewisse Mäßigung empfehlen.
Bitte, Herr Abgeordneter.
Vielen Dank, Herr Präsident.
— Dann seien Sie ruhig. Aber nicht einmal das können Sie. An Disziplin fehlt es ja auch.
Wir brauchen auch mehr Teilzeitarbeitsplätze. Das Bundesarbeitsministerium hat deshalb eine große Teilzeitarbeitsinitiative gestartet
— ja, sind Sie nun diszipliniert oder nicht? —, die auch von den Gewerkschaften und der Wirtschaft unterstützt wird. Ich will mich gar nicht auf Spekulationen einlassen, wieviel Hunderttausende zusätzliche Plätze geschaffen werden können. Aber es wird von allen bestätigt, daß der Ausbau von Teilzeitarbeit zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten bieten wird.Hier sollten wir uns — da appelliere ich an unsere Wirtschaft, Handwerk, Industrie und Handel — vor allem der jungen Menschen annehmen, derjenigen, deren Ausbildungszeiten im Sommer beendet sind. Wir sollten ihnen lieber einen Teilzeitarbeitsplatz anbieten, als sie in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Es darf nicht die Erfahrung eines jungen Menschen sein, daß nach der Ausbildung Arbeitslosigkeit kommt, sondern die Erfahrung muß sein, daß Arbeit kommt. Da muß unsere Teilzeitinitiative in ganz besonderer Weise ansetzen.
Wir ermöglichen es auch, daß Arbeitslose an ihrem neuen, zukünftigen Arbeitsplatz eine kurzfristige Anpassungsfortbildung machen können, in der sie die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18943
Volker KauderLeistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz erhalten, ohne aber dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu müssen. Das ist vor allem eine Chance für all diejenigen, die aus der Industrie in handwerkliche Berufe gehen möchten und dort mit den Besonderheiten der handwerklichen Arbeit vertraut gemacht werden müssen.Im Zusammenhang mit diesem Beschäftigungsförderungsgesetz haben wir die Bundesregierung in einem Entschließungsantrag aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Möglichkeit eröffnet, daß sich Bauunternehmen im Rahmen der Kollegenhilfe gegenseitig Arbeitnehmer überlassen. Dies liegt ausschließlich im Interesse der Arbeitnehmer. Es ist doch besser, sie können in einem anderen Baubetrieb arbeiten, als daß sie arbeitslos werden.Der Regierungskoalition geht es bei diesem Programm um die Menschen.
Deshalb handeln wir. Es ist das Los der Opposition, daß sie redet. Aber auch dies könnte besser sein, als wir das heute von Ihnen gehört haben.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Gerd Andres das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da die Rede des Kollegen Kauder doch weitgehend durch seine Funktion als Generalsekretär der Union in Baden-Württemberg geprägt war, will ich zu diesen Passagen etwas sagen.
Wenn der Abgeordnete Kauder hier erklärt, der niedersächsische Ministerpräsident habe viele Arbeitsplätze versprochen, aber würde nicht entsprechend handeln,
will ich ihn daran erinnern, daß die Wähler in Niedersachsen dies bei der kürzlich stattgefundenen Landtagswahl anders bewertet haben, ganz im Gegensatz zu den Wahlergebnissen in Baden-Württemberg, bei der die Regierungspartei, die Union, mehr als 10 % der Wählerstimmen eingebüßt hat.
Der zweite Punkt, den ich Herrn Kauder entgegenhalten möchte, betrifft die Tatsache, daß man sicherlich darüber streiten kann, wie sich die wirtschaftlichen Daten weiterentwickeln und wie wir die Indikatoren zu werten haben. Aber eines kann überhaupt nicht wegdiskutiert werden: Selbst der Bundeswirtschaftsminister ist der Auffassung, daß die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit im Rahmen dieses Jahres noch einmal um 400 000 Menschen ansteigen wird.
Der dritte Punkt. Das, was hier an dünner Gesetzgebung vorgelegt wird, hat nur ein Ziel, nämlich das Ziel der Deregulierung. Ihre Position, daß aus einem
befristeten Arbeitsplatz hoffentlich viele unbefristete Arbeitsplätze werden, würde ich gerne teilen. Nur, ich bitte Sie, die gesellschaftliche Realität zur Kenntnis zu nehmen, die leider dadurch gekennzeichnet ist, daß immer mehr normale Arbeitsplätze in ungeschützte oder in Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt werden. Diese Tendenz fördern Sie mit diesem Gesetz, ohne an dem Grundproblem Massenarbeitslosigkeit etwas zu ändern.
Schönen Dank.
Nunmehr hat die Abgeordnete Renate Jäger das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kauder, ich glaube, die Frage, wer den Bürger mehr an der Nase herumführt, ist offen. Wenn Sie bei zu erwartenden 400 000 zusätzlichen Arbeitslosen mit Demagogie und Schönfärberei
eine solch falsche Situation malen, dann ist wohl sehr deutlich, wer hier den Bürgern etwas vormacht.
Im übrigen: Der erste Teil Ihrer Rede mutete wie ein Strampeln vor dem Untergang an. Mehr will ich dazu jetzt nicht sagen.
Meine Damen und Herren, das Wort „Beschäftigungsförderungsgesetz" läßt erwarten, daß mit diesem Gesetz Beschäftigung gefördert werden soll, daß Tätigkeitsfelder neu erschlossen werden, daß Arbeitslosen die Möglichkeit gegeben wird, sich am Erwerbsleben zu beteiligen. So ist das in Ihrer Begründung eigentlich auch vorgesehen. Aber schon die Anhörung vor dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat deutlich gemacht, daß die Mehrheit der vorgesehenen Maßnahmen diesem Ziele nicht dient. Insofern ist bereits der Begriff trügerisch und erweckt falsche Hoffnungen.Wenn man es denn „ Unternehmensentlastungsgesetz " nennen würde, könnte ein Außenstehender vielleicht schon mehr damit anfangen. Damit will ich überhaupt nicht in Frage stellen, daß eine Entlastung für die Konsolidierung der Wirtschaft und einzelner Unternehmen von Bedeutung sein kann. Entlastung kann aber auf zweierlei Art und Weise angestrebt werden: entweder im Miteinander der Sozialpartner oder aber im Gegeneinander. Im vorliegenden Gesetz wird eindeutig das Gegeneinander gewählt.Wenn die Bundesregierung durch gesetzliche Regelungen in die Tarifautonomie eingreift, macht sie deutlich, daß sie von der Sozialpartnerschaft nicht mehr viel hält und daß sie der Marktwirtschaft den
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Renate JägerVorrang vor dem Sozialstaat gibt. Richtiger wäre es, beides wirksam miteinander zu verbinden.Bereits mit dem schon existierenden § 249h wurde die Tarifautonomie und damit auch die Autonomie der Sozialpartner angetastet. Diese Regelung soll nun bundesweit ausgedehnt werden. Der positive Ansatz, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, wird durch die ungünstige Ausgestaltung aber wieder zunichte gemacht. Der Träger wird bestraft, der nach Tarif entlohnt, weil in solchen Fällen der Zuschuß gekürzt wird. Außerdem entsteht durch die notwendige Komplementärfinanzierung eine weitaus größere Belastung der Kommunen und Länder als bisher, und dieses auch noch in struktur- und in besonders finanzschwachen Regionen.Einen weiteren indirekten Eingriff in die tarifliche Entlohnung stellt die Absenkung der ABM-Zuschüsse dar. Wegen der notwendigen höheren Eigenbeteiligung kommen die Träger in größere finanzielle Schwierigkeiten. Sie werden sogar gezwungen sein, untertarifliche Löhne anzubieten.
Frau Abgeordnete Jäger, Frau Abgeordnete Dr. Babel hat eine Zwischenfrage.
Ja, bitte schön.
Frau Abgeordnete Jäger, Sie sagen, Sie hätten es für richtiger gehalten, statt Arbeitslosigkeit Arbeit zu finanzieren. Der § 249h finanziert sozusagen Beschäftigung und stellt dazu das zur Verfügung, was als Arbeitslosengeld von seiten der Bundesanstalt für Arbeit ansonsten zu leisten wäre. Andererseits beklagen Sie, daß die Komplementärfinanzierung der Kommunen so hoch ist. Damit geben Sie doch zu, daß einen Arbeitsplatz zu finanzieren nicht bloß bedeutet, daß man das Arbeitslosengeld dafür verwendet, sondern daß man sehr wohl beträchtliche, zusätzliche Mittel braucht, um das finanzieren zu können. Damit wird Ihre Theorie, daß das ein Weg sein könnte, bei knappen Mitteln in größerem Maßstab Beschäftigung zu sichern und zu bezahlen, widerlegt.
Frau Dr. Babel, ich hatte mir eigentlich vorgenommen, am Anfang der Rede auf einen Ihrer Diskussionspunkte einzugehen. Ich wollte Ihnen eigentlich sagen, daß es sehr unsolide ist — —
Meine Herren, lassen Sie doch wenigstens Ihre eigene Kollegin ausreden.
Frau Dr. Babel, es ist nicht solide, wenn Sie über eine Sache urteilen, mit der Sie sich nicht hinreichend genug vertraut gemacht haben.
Wir haben eine Finanzierungskonzeption in den Eckpunkten zu einem Arbeits- und Strukturförderungsgesetz ausgiebig deutlich gemacht. Wir haben das auch in unserem neuen Entwurf zu dem Gesetz in noch ausführlicherer Weise konzipiert. Ich werde Ihnen das zur Verfügung stellen.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß die Zuschüsse zu den ABM abgesenkt werden. Das kommt nicht zuletzt durch die Einführung des Begriffs „berücksichtigungsfähiges Entgelt" — statt tarifmäßiges oder ortsübliches Entgelt — zum Ausdruck. Der sächsische Wirtschaftsminister der CDU hat die Richtung eigentlich klar erkannt. Er sagte dazu in der Landtagsdebatte zum Beschäftigungsförderungsgesetz: Das könnte eine Plattform für weitergehende Kürzungen sein. — Ich füge hinzu: eine Plattform für weitere untertarifliche Löhne.Die Kürzung der ABM-Zuschüsse mit dem Anreiz zum Wechsel in ungeförderte Arbeitsverhältnisse zu begründen, ist einfach absurd. Allein schon die Befristung von ABM und die vorhandenen Einkommensdifferenzen zwischen ABM und regulärer Beschäftigung bewirken diesen Wechsel. In den neuen Ländern scheiden nach Angabe des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit 40 % vorzeitig aus AB-Maßnahmen aus. Davon wechseln 60 % erfolgreich in ungeförderte Arbeitsverhältnisse. Mehr ist nicht drin, wenn keine Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.
Da auch die Länder und Kommunen durch die Komplementärfinanzierung in dieser Sache sehr belastet sind, werden wir mit einem weitestgehenden Ausfall dieses Instruments rechnen müssen, obwohl es sich in der Vergangenheit als ein besonders gutes Instrument erwiesen hat. Es besteht die Gefahr, daß die gerade in den neuen Ländern aufgebauten und entwickelten Trägerstrukturen wieder zerschlagen werden. Es besteht eine große Gefahr für die Tätigkeit der ABS-Gesellschaften insgesamt.Auch im Hinblick auf die Übergangsregelungen in § 249 d AFG — das ist die Sonderregelung ABM Ost — bewirkt die Neuregelung eine Verschlechterung, weil auch hier bei der Bemessung des Zuschusses auf das berücksichtigungsfähige Arbeitsentgelt abgestellt wird. Dieses bedeutet wieder untertarifliche Löhne. Auch hier ist damit zu rechnen, daß trotz der vorgesehenen Übergangsregelung diese ABM in den neuen Ländern kaum mehr eine Entlastung bringen werden.Alle diese Beispiele machen deutlich, daß eine Bestrebung vorherrscht: die Tarifautonomie außer Kraft zu setzen, per Gesetz Niedriglohnbereiche und -gebiete zu schaffen und damit für bestimmte Bereiche die Sozialpartnerschaft aufzukündigen. Dies ist gefährlich, und dies ist auch unsinnig, weil sie
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Renate Jägergerade in dem Moment den Tarifpartner Gewerkschaft ausbootet, wo dieser Bereitschaft signalisiert hat, für bestimmte Beschäftigungsfelder auch veränderte Tarifabschlüsse zu tätigen.Die Entschließung des Verwaltungsrates der BA zum Entwurf des Beschäftigungsförderungsgesetzes ist Ihnen ja sicher bekannt. Meiner Kenntnis nach ist diese Erklärung im Verwaltungsrat der BA gegen die Stimmen der CDU-Länder zustande gekommen. Aber so eindeutig ist die Haltung der CDU in dieser Frage ja nicht. Denn auf der anderen Seite hat die sächsische Staatsregierung wie auch die Arbeitgeberbank in Sachsen im Verwaltungsausschuß des Landesarbeitsamtes in Sachsen ausdrücklich Wert darauf gelegt, sich bei einer Erklärung zum Beschäftigungsförderungsgesetz an dem Text des Verwaltungsrates der BA zu orientieren, was auch weitgehend erfolgt ist.Aber noch andere Widersprüchlichkeiten werden in der Rede des sächsischen Wirtschaftsministers deutlich. Einige Zitate:Die erneut vorgesehene Lastenverschiebung von der Bundesanstalt zu den Ländern ist für die Staatsregierung nicht akzeptabel.Oder:Die privaten Unternehmen sollten, wenn sie solche Maßnahmen durchführen,— gemeint sind Maßnahmen nach § 249h AFG —weiterhin volle Löhne zahlen können und einen Zuschuß bekommen.Und auf die Zulassung privater Arbeitsvermittlung bezogen, der er offensichtlich widerwillig zustimmt, sagte er:Ich möchte auch nicht in das eindeutige Halleluja einsteigen. ... Ich hätte es außerordentlich begrüßt, wenn man, wie ursprünglich geplant, die Zulassung privater Arbeitsvermittlung in einem Modellversuch ... getestet hätte.Soweit dazu.Dieses Gesetz muß aber auch unter einem anderen Gesichtspunkt kritisch bewertet werden: dem Abbau der aktiven Arbeitsmarktinstrumente generell. An der Hektik, in der die Bundesregierung diese zurückfährt — ich erinnere einmal daran: in anderthalb Jahren ist dies die vierte AFG-Änderung —, wird das sehr deutlich. Die Regierung glaubt offensichtlich, sich allein auf das wirtschaftliche Wachstum orientieren zu müssen, und sie negiert dabei die Notwendigkeit des öffentlich geförderten Arbeitsmarktes.Doch selbst der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel und Mitglied des Sachverständigenrates, Professor Siebert, stellt fest: „Wirtschaftliches Wachstum ist kein Zaubermittel für mehr Beschäftigung." Nachzulesen im „Handelsblatt" vom 8. April 1994.
Er nennt zwei wesentliche Bedingungen dafür, daßden Deutschen die Arbeit nicht ausgeht, nämlich mehrInnovation in den Unternehmen und bessere Qualifikation der Arbeitnehmer.Aber das steht für die Koalition in diesem Zusammenhang nicht zur Debatte, im Gegenteil: Die geförderten Weiterbildungsmaßnahmen haben sich in den neuen Ländern dramatisch verschlechtert. Während 1992 887 000 Menschen eine geförderte Weiterbildung beginnen konnten, waren es 1993 nur noch 294 000. Auch die zinsgünstigen Kredite für Meisterlehrgänge, bis vor kurzem noch von der BA gefördert, sind nur ein Bruchteil des Notwendigen.Festzuhalten ist auch: Zur Verbesserung der Lehrstellensituation trägt dieses Gesetz ebenfalls nicht bei. Wenn in Sachsen 125 000 Jungen und Mädchen direkt von der Schulbank zu Sozialhilfeempfängern werden, müßte dies eigentlich aufhorchen lassen.
Meine Damen und Herren, eines wird von allen Fachleuten deutlich gemacht, selbst von sehr konservativen: Deregulierung und Abbau des Sozialstandards allein werden nicht das Heilmittel für die Lösung des Beschäftigungsproblems werden.Danke schön.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 wird der arbeitsmarktpolitische Teil des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung umgesetzt. Wir bauen damit verkrustete Strukturen ab, wir verbessern die Flexibilität und die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes.
Damit schaffen wir die Voraussetzungen für das Entstehen neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze und für die Sicherung bestehender Arbeitsplätze.
Ich darf sagen, dies ist auch ein besonderes Anliegen des Bundeswirtschaftsministers Dr. Günter Rexrodt, der heute an der Schlußkonferenz des GATT in Marrakesch teilnehmen muß und deshalb daran gehindert ist, diese Debatte selbst zu begleiten.Die Maßnahmen des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1994 stellen entscheidende Weichen für die Überwindung struktureller Probleme des Arbeitsmarktes und zur Verbesserung der Effizienz der Arbeitsmarktpolitik. Hervorheben möchte ich die Zulassung der privaten Arbeitsvermittlung, die hier schon wiederholt angesprochen wurde, und ich möchte dies gerade auch aus wirtschaftspolitischer Sicht tun. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieser Schritt war längst überfällig; denn eine Bevormundung gut ausgebildeter und selbstbewußter Arbeitnehmer unter dem Vorwand einer sozialen Schutzbedürftigkeit paßt wahrlich nicht mehr in unsere moderne Wirtschaft und Gesellschaft.
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Dr. Heinrich L. KolbWir haben ja gehört, daß nur ein Drittel der Arbeitsplätze durch die Bundesanstalt für Arbeit vermittelt wird. Zwei Drittel der Arbeitsverhältnisse werden — Sie wollten den Begriff „private Vermittlung" nicht tolerieren — durch Eigeninitiative begründet. Aber dann frage ich Sie, meine Damen und Herren von der SPD: Warum wollen Sie nicht zulassen, daß sich diejenigen, die privat die Initiative ergreifen, was wir ja wollen, auch des Instrumentes einer privaten Arbeitsvermittlung bedienen können?
Ich freue mich, daß die SPD ihr Herz für die Kostenbelastungen der Unternehmer und hier insbesondere für die des Mittelstandes entdeckt hat.
Hierzu muß ich aber sagen: Zum einen handelt es sich um Kosten, die freiwillig entstehen. Kein Arbeitgeber ist gezwungen, solche Kosten in seinem Unternehmen entstehen zu lassen. Sie dürfen versichert sein, daß dies viele Unternehmer abwägen und dennoch eine private Arbeitsvermittlung in Anspruch nehmen werden. Sie übersehen in Ihrer Argumentation auch, daß auch bisher schon Kosten für die Personalbeschaffung in den Unternehmen entstehen. Es sind nicht nur die Anzeigenkosten, sondern es sind eben auch die Kosten, die dadurch entstehen, daß Bewerbungsgespräche geführt werden müssen und daß Vorstellungen stattfinden. Und auch das darf ich sagen: Nichts ist für einen Unternehmer und gerade für einen Mittelständler teurer als eine Fehleinstellung, die deshalb erfolgt, weil Arbeitnehmer und Arbeitgeber von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen sind.Ich meine, mit der privaten Arbeitsvermittlung ermöglichen wir ein zusätzliches Angebot zum Nutzen von Unternehmen und Arbeitnehmern. Mehr Wettbewerb wird zu einer besseren Qualität und Effizienz der Dienstleistung Arbeitsvermittlung und auch zu einem schnelleren Ausgleich von Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot führen. Der Entlastungseffekt, der dadurch erzielt werden kann, sollte jedenfalls nicht unterschätzt werden.Eine weitere entscheidende Maßnahme ist für mich die zukünftige Begrenzung von Lohnkostenzuschüssen für öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse. Damit, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verlassen wir endlich die Fiktion, aus sozialpolitischen Motiven subventionierte Arbeitsplätze mit regulären Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt gleichzusetzen. Dies hat finanzielle Auswirkungen, da nun mehr Arbeitslose als bisher von den begrenzten Mitteln profitieren können. Weiterhin werden auch die Anreize verstärkt, sich um einen regulären Arbeitsplatz zu bemühen. Ergänzend dazu wollen wir auf freiwilliger Basis Gemeinschaftsarbeiten einführen, und zwar als soziales Zusatzangebot für Arbeitslosenhilfeempfänger. Hierin sehe ich vor allem für Kommunen eine Möglichkeit, zusätzliche Maßnahmen durchzuführen, die sonst nicht möglich wären. Mein Appell an die Verantwortlichen vor Ort ist in diesem Zusammenhang: Nutzen Sie dieses Angebot im Interesse der Arbeitslosen.Wir reden hier über die staatlichen Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung.
Aber ich glaube, ich brauche nicht besonders zu betonen, daß dies nur ein Teil der notwendigen Maßnahmen ist. Wirtschaft und Tarifpartner, Unternehmer und Gewerkschaften müssen ihren Part ebenfalls übernehmen, wenn wir die Rezession schnellstmöglich überwinden und den Aufbau in den neuen Bundesländern voranbringen wollen. Ich nenne hier nur die Stichworte Lohnflexibilität und Arbeitszeitflexibilität. Mit dem Tarifabschluß in der Chemieindustrie sind ermutigende Zeichen gesetzt worden. Ich kann nur hoffen, daß sich die Tarifvertragsparteien in anderen Bereichen an diesem Vorbild orientieren werden.Ein Feld, in dem wir noch erhebliches Beschäftigungspotential haben und in dem vor allem die Tarifpartner, in erster Linie die Unternehmen, aufgefordert sind, aktiv zu werden, ist die Teilzeitarbeit. Sie kennen alle den Nachholbedarf, den die Bundesrepublik Deutschland hier im Vergleich zu anderen Industrieländern hat.
Auf gesetzgeberischem Feld ist hier aber auch schon einiges geschehen. Ich nenne das Beschäftigungsförderungsgesetz 1985, mit dem die Gleichbehandlung von Teilzeitarbeitsbeschäftigten und Vollzeitbeschäftigten festgelegt wurde.Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 wird jetzt zusätzlich ein zeitlich befristeter Bestandsschutz für die Leistungen auf Arbeitslosenunterstützung eingeführt, wenn Vollzeitbeschäftigte sich für eine Teilzeitarbeit entscheiden. Darüber hinaus will die Bundesregierung Zeichen setzen durch mehr Teilzeitarbeitsplätze auch und gerade im öffentlichen Dienst.Die Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen ist vorhanden, und sie ist groß. Es mangelt jedoch an einem ausreichenden Angebot. Hier muß sich auch in den Köpfen einiges ändern. Wir brauchen mehr Aufgeschlossenheit für neue Formen der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeitgestaltung. Ich begrüße deshalb sehr, daß die Tarifpartner und die Bundesanstalt für Arbeit bundesweit mehr für Teilzeitarbeit werben wollen.Und schließlich — ich halte das für wichtig —, wir bekämpfen auch illegale Beschäftigung. Wir haben den Ausschluß von Unternehmen, die illegal beschäftigen, von der Vergabe öffentlicher Aufträge vorgesehen. Bei erstmaligem Verstoß ist hier ein Ausschluß von sechsmonatiger Dauer vorgesehen, im Wiederholungsfall von zwei Jahren. Ich glaube, das ist eine Regelung, die zieht, die wirkt und die auch zu einem neuen Problembewußtsein in den Unternehmen führen wird.
Herr Dr. Kolb, der Abgeordnete Ostertag möchte eine Zwischenfrage stellen.
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Bitte sehr.
Sie loben hier die einzelnen Bestimmungen und das, was sie letzten Endes auf dem Arbeitsmarkt bewirken werden. Nun ist diese Bundesregierung ja seit 12 Jahren in der politischen Verantwortung. Warum haben Sie z. B. nicht schon vor 10 oder 11 oder 12 Jahren oder wenigstens vor 5 Jahren Regelungen zur Verbesserung der Teilzeitbeschäftigung oder ähnliche Bestimmungen durchgesetzt? Sie hatten immer die Mehrheiten dazu.
Herr Kollege Ostertag, es ist ja heute schon zitiert worden: Wir haben von 1982 an die Chance genutzt, in diesem Lande dreieinhalb Millionen neue Arbeitsplätze, Vollzeitarbeitsplätze, zu schaffen. Sie werden verstehen, daß wir uns in einer Situation, in der eine solch gigantische Ausdehnung der Beschäftigung möglich war, nicht in erster Linie Gedanken um die Teilzeitarbeit gemacht haben.
Aber ich stelle fest: Die Rahmenbedingungen haben sich verändert, und wir als verantwortungsbewußte Regierung reagieren auf diese veränderte Situation und wollen jetzt auch mehr Arbeitsplätze im Teilzeitarbeitsbereich schaffen. Ich denke, das zeigt, daß diese Regierung die Probleme und die veränderte Rahmenlage erkennt und darauf reagiert.
Meine Damen und Herren, das Beschäftigungsgesetz 1994 wie das gesamte Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist Teil unseres längerfristig angelegten Konzeptes von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Kernelemente sind Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, Privatisierung, Förderung von Investitionen, Innovation und Existenzgründung, Deregulierung und Abbau von bürokratischen Hemmnissen. Bei all diesen Maßnahmen geht es darum, den hemmenden und hinderlichen Einfluß und Anteil des Staates zurückzudrängen und mehr Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten für Unternehmen und Private zu ermöglichen.
Gestatten Sie mir zum Schluß noch folgende Anmerkung. Herr Kollege Gilges, Sie haben gefragt: Sind Sie schon einmal in einem Arbeitsamt gewesen? Darauf kann ich guten Gewissens antworten: Ja, zuletzt letzte Woche in Limburg. Aber ich frage Sie, ich frage die SPD überhaupt: Sind Sie schon einmal in einem Unternehmen gewesen, und haben Sie vor allen Dingen mit den Arbeitgebern, mit den potentiellen Arbeitgebern in einem Unternehmen gesprochen?
Das müssen wir nämlich festhalten, Herr Kollege Andres: Wer Arbeitsplätze in unserem Lande schaffen will, braucht Arbeitgeber. Das heißt, wir müssen in unserem Lande Menschen finden, die bereit sind, selbständig zu werden, und die bereit sind, als Selbständige Arbeitnehmer zu beschäftigen. Das wird aber nur dann gehen, wenn die Gesellschaft auch
bereit ist, solche Mitbürger, eben Selbständige, anzuerkennen und ihre Leistung anzuerkennen.
— Ja, diese Menschen leisten mehr, sie erzielen höhere Einkommen. Nur, solange die SPD diese Menschen als „Besserverdienende" in unserer Gesellschaft ächtet, können Sie nicht damit rechnen, daß wir ein Mehr an Arbeitgebern und damit auch ein Mehr an Arbeit in unserer Gesellschaft erreichen werden.
Vielen Dank.
Der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich konnte ja wirklich nicht ahnen, daß der Herr Kollege Kauder die Marginalie, auf die ich Sie aufmerksam machen muß, zu einem solchen Vergnügen hochstilisieren würde, weil das, Herr Kauder, ja jetzt eine Kostprobe der „furchtbaren arbeitszerstörenden Maßnahmen" geworden ist, die wir — wir heißen übrigens BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — in dieser Gesellschaft vorhaben. Es handelt sich um die Merkwürdigkeit eines völlig systemfremden Bestandteils des Arbeitsförderungsgesetzes, daß darin nämlich die Kirchensteuer auftaucht, die in dieser Debatte eigentlich nichts zu suchen hat. Aber das hängt damit zusammen, daß es eine sonderbare Berechnungsart für Lohnersatzleistungen bei uns gibt, bei der die Kirchensteuer als ein Regelabzug behandelt wird, so daß die Betreffenden, ob sie in der Kirche sind oder nicht, im Falle von Lohnersatzzahlungen auf einmal lernen müssen, daß sie eine Kirchensteuer angerechnet bekommen, ob sie sie gezahlt haben oder nicht.Das ist nun wahrlich das Musterbeispiel eines für die Betroffenen undurchschaubaren Gesetzes, eines wirklichkeitsfremden Gesetzes, weil es völlig vernachlässigt, ob jemand Kirchenmitglied ist oder nicht, und drittens sogar die Kirchen diskriminiert, weil es den Eindruck erweckt, daß es sich hier um kirchliche Steuerzahlungen handelt, um Gelder, die den Kirchen zufließen.Das ist natürlich ein unerträglicher Zustand, und das hat bereits dazu geführt, daß beim Bundesverfassungsgericht seit 1985 ein Verfahren anhängig ist über die Verfassungsgemäßheit dieser Berechnungsart. Es gibt schon Sozialgerichtsurteile, die das ausdrücklich ablehnen.Dieser Zustand wäre ganz schnell beendet, wenn Sie sich denn entschließen könnten, was meines Erachtens nicht schwer ist, dem Vorschlag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu folgen und im § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG kurz zu streichen. Ich kenne das
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Dr. Wolfgang UllmannTotschlagsargument, das darauf sicher kommt: Das ist doch eine Kostenerhöhung für die Bundesanstalt für Arbeit und für den Bundeshaushalt. — Sicher, aber ich erkenne dieses Argument nicht an. Ich denke, es ist unstatthaft, daß der Staat bzw. die öffentliche Hand unter einem fiktiven Titel Bürgern und Bürgerinnen Leistungen vorenthält, die ihnen zustehen.
Schließen möchte ich mit der Anmerkung, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen: In welcher Weltenferne von der gesellschaftlichen Realität bewegt sich wohl eine Gesetzgebung, die die Identität von Staatsbürgerschaft und Kirchenmitgliedschaft noch immer voraussetzt, obwohl diese nicht einmal mehr dort gegeben ist, wo eine Mehrheit von Bürgern und Bürgerinnen einer Kirche noch angehört?Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will am Ende dieser Debatte gerne auf die Argumente — —
— Das ist klar. Die Debatte über unsere Fragen geht auch heute nicht zu Ende. Ich sage mir: Zum Abschluß — —
Nein, Herr Bundesminister, wir haben noch etliche Redner auf der Liste stehen.
Das ist wahr. — Ich möchte also auf die Einwände eingehen, die in der Debatte gegen das Beschäftigungsförderungsgesetz vorgetragen wurden.
Ich finde, es entspricht auch gutem parlamentarischen Stil, im Dialog die Argumente auszutauschen. Ich weiß, daß mein Kollege Gilges noch nach mir kommen und an diesem Austausch weiter teilnehmen wird.Da ist zunächst einmal der Kollege Ostertag, der die Debatte damit eröffnet hat, und der Refrain hat sich dann auch fortgesetzt Sozialabbau, Sozialabbau! Herr Kollege Ostertag, können wir uns darauf einigen: „Das schönste Arbeitslosengeld ist nicht soviel wert wie Arbeit"?
Wenn das so ist, dann hat diese Bundesregierungeinen großen Sozialaufbau geleistet; denn sie hat inzehn Jahren drei Millionen neue Arbeitsplätze mitermöglicht. Andere haben sie geschaffen, aber sie hat sie mit ermöglicht. Das halte ich für die größte soziale Leistung.
Wenn der Satz gilt — ich wiederhole ihn —: „Das schönste, das höchste Arbeitslosengeld ist nicht soviel wert, wie Lohn aus einer anständigen Arbeit",
dann haben wir für drei Millionen Beschäftigte — ich wiederhole es — Lohn aus anständiger Arbeit geschaffen.
Daß in der gleichen Zeit die Arbeitslosenzahlen nicht entsprechend zurückgegangen sind, erklärt sich daraus, daß wir Zuzug aus dem Ausland hatten — 1,1 Millionen im Netto — und daß — was ich nicht kritisiere, sondern nur beschreibe — 1,5 Millionen Frauen mehr nach Beschäftigung gesucht haben als früher. Wir haben die höchste Frauenerwerbsquote, die es jemals in der Geschichte des Standortes Deutschland gab.
Der zweite Punkt bezieht sich auf den Einwand des Kollegen Schulz, die Bundesregierung ziehe sich aus der Arbeitsmarktpolitik zurück. Dafür gab es Beifall bei der Opposition. Dazu nur zwei Zahlen: Die Ausgaben der Bundesanstalt für die Arbeitsmarktpolitik lagen 1982 bei 9,1 Milliarden DM; jetzt sind es über 54 Milliarden DM. Eine Steigerung von 9 Milliarden DM auf über 54 Milliarden DM — mehr als die Hälfte der Gelder werden heute von der Bundesanstalt für die Arbeitsmarktpolitik ausgegeben — erklären Sie im Widerspruch zu Adam Riese zu einem Rückgang. Diesen Einwand muß ich zurückweisen.
— Adam Riese war nicht Mitglied der Sozialdemokratischen Partei; das habe ich Ihnen schon häufiger gesagt. Offensichtlich muß ich es wiederholen. Weil der Kollege Schreiner mich so quält, die Zahlen noch einmal zum Mitschreiben: 1982 waren es 9,1 Milliarden DM, jetzt sind es 54 Milliarden DM.
— Sie hören diese Zahlen nicht gern. Ich wiederhole sie so lange, bis Sie ruhig sind. 1982: 9,1 Milliarden DM, jetzt 54 Milliarden DM.
— Allein 15 Milliarden DM für Fortbildung und Umschulung, 10 Milliarden DM für ABM. Das gab es noch zu keiner Zeit!
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Herr Abgeordneter Schreiner, übertreiben Sie es nicht!
Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihre Unterstützung. — Schreien gegen Schreien: Sie können die Arbeitsmarktpolitik und die Zahlen kritisieren, aber Sie können nicht sagen, wir hätten uns zurückgezogen. Wir haben die Zahlungen vielmehr erhöht; das ist das Ergebnis unserer Politik.
Die befristeten Arbeitsverträge sind hier geradezu als ein sozialpolitisches Schreckgespenst dargestellt worden. Lieber Kollege Ostertag, würden Sie mir mitteilen, wie viele befristete Arbeitsverträge es beim DGB und der IG Metall gibt? Wenn Sie es wünschen, will ich Ihnen die Antwort in den nächsten Tagen schriftlich zukommen lassen. Ich erstrebe den befristeten Arbeitsvertrag ja nicht, aber ich sage: Eine befristete Arbeit ist immer noch besser als eine unbefristete Arbeitslosigkeit. So praktisch bin ich.
— Bei mir stimmt die Logik. Die Logik heißt: Ich habe lieber befristet Arbeit, als daß ich unbefristet arbeitslos bin.
— Dazu komme ich auch noch, lieber Herr Kollege Gilges. Sie müssen mir nicht immer die Bälle direkt vors Tor spielen. Ich habe ja schon Anlauf genommen, um den nächsten Schuß zu setzen.
Unser gemeinsames Ziel ist, daß befristete Arbeitsverträge zu unbefristeten Arbeitsverhältnissen führen. Sie dürfen nicht glauben, ich würde befristete Arbeitsverträge als den Normalzustand betrachten und mich da häuslich einrichten.
Also: Haben befristete Arbeitsverträge dazu geführt, daß unbefristete Arbeitsverhältnisse entstanden sind? Eine Untersuchung von Infratest hat ergeben: 1 % der Neueinstellungen des Jahres 1992 im privatwirtschaftlichen Bereich sind über den Weg der befristeten Arbeitsverträge zustande gekommen. Nach dieser Untersuchung soll durch die Umwandlung von befristeten in unbefristete Arbeitsverträge ein zusätzlicher Beschäftigungseffekt von 20 000 bis 45 000 Arbeitnehmern eingetreten sein.
Sie können sagen, das sei zuwenig. Gut, es könnten noch mehr sein. Aber 20 000 bis 45 000 Personen, die bisher unbefristet arbeitslos waren, haben zunächst einen befristeten und dann sogar einen unbefristeten Arbeitsvertrag erhalten. Ich täte dies auch für 10 000 Arbeitnehmer. Jeder Fall, in dem jemand mit Hilfe auch der Politik leichter den Weg zu einer Arbeit findet, ist ein Erfolg.
Dritter Punkt. Der Kollege Ostertag hat die Änderungen im Zusammenhang mit der Arbeitszeitordnung so dargestellt, als stünde nun die 60-StundenWoche ins Haus.
Das ist eine Verwechslung mit dem Denken der Arbeitszeitordnung aus dem Jahre 1938, die Sie und ich hinter uns lassen wollen. Damals gab es keine Gewerkschaften, damals gab es nur die Arbeitsfront. Damals war der Staat für Wochenarbeitszeiten zuständig. Gott sei Dank ist er das heute nicht mehr. Ich muß sagen: Diese alte Arbeitszeitordnung war viel zu lange in Kraft. Sie ist das letzte Überbleibsel aus Nazizeiten. Sie muß verschwinden. Die Wochenarbeitszeiten regeln die Tarifpartner. Ich bin nicht der Reichstreuhänder der Arbeit, und die Arbeitnehmer sind nicht mehr die Gefolgschaft.
So war die Situation nach der alten Arbeitszeitordnung. Diese haben wir überwunden. Das halte ich für einen ausgesprochenen Fortschritt.
Für die Wochenarbeitszeit sind nun wirklich die Gewerkschaften zuständig. Warum wollen Sie als Gewerkschafter den Gewerkschaften diese Arbeit abnehmen?
Wofür der Staat zuständig ist, ist Gesundheitsschutz, wann Pausen sein müssen, wie groß die Abstände zwischen zwei Arbeitszeiten sein müssen. Das ist unsere Aufgabe. Wie die Arbeitszeiten geregelt werden — da, fürchte ich, werden es sogar die Gewerkschaften schwer haben, maßgeschneiderte Lösungen zu finden. Selbst die Gewerkschaften werden sich auf Rahmenregelungen zurückziehen müssen, um der Flexibilität unter dem Dach des Tarifvertrages — damit Sie mich nicht falsch verstehen: unter dem Dach des Tarifvertrages — mehr Spielräume zu geben.
Frau Kollegin Jäger, die Höhe des zuschußfähigen Entgeltes für ABM ist kein Eingriff in die Tarifautonomie; das ist weiterhin Gegenstand der Vereinbarung. Aber wie wir den Zuschuß organisieren, das ist Sache des Staates.
Ich denke, Sie stimmen mir allerdings zu: Wir brauchen einen zweiten Arbeitsmarkt, aber wir sollten unsere Hauptkraft, Kreativität und Fantasie darauf richten, im ersten Arbeitsmarkt Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist das Ziel. Insofern muß alles getan werden, daß die Brücke besteht vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt und daß nicht, wie Frau Kollegin Babel heute morgen auch abschreckend gesagt hat, eine Drehtür entsteht: Einer kommt vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt, dafür fliegt einer vom ersten in den zweiten. Das wäre überhaupt kein Beschäftigungsgewinn. Ich bleibe also dabei: Wir müssen alles tun, damit nicht eine neue Klassenspaltung entsteht: auf dem ersten Arbeitsmarkt die Jungen, Gesunden, Ausgebildeten und auf dem zweiten, mehr therapeutischen Arbeitsmarkt die anderen. Das kann weder Ihr noch unser Ziel für die Beschäftigung sein. Ich denke, darin stimmen wir überein.
Herr Bundesminister, Sie sind bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Ostertag.
Nun wissen wir ja, daß der Norbert Blüm einmal Jugendvertreter in einem großen Konzern war.
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Richtig!
Von daher kennt er die betriebliche Wirklichkeit. Wir wissen bei der Arbeitszeitordnung, daß natürlich unbestritten ist, daß die Betriebsräte in den größeren Betrieben Regelungen durchsetzen und die Gewerkschaften auch. Aber ich glaube, der Arbeitsminister weiß auch — wenn nicht, müßte er sagen, ob das so ist —, daß die überwiegende Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land in kleinsten und kleinen Betrieben beschäftigt ist.
In vielen gibt es nicht einmal Tarifverträge. Sie wissen doch genau, wie dort die Arbeit für einen Betriebsrat aussieht, der in Mittelbetrieben vielleicht noch, in Kleinbetrieben aber überhaupt nicht vorhanden ist. Sie wissen doch, daß dort Rahmenschutzbestimmungen notwendig sind. Die Ablösung der alten Arbeitszeitordnung aus der Nazi-Zeit durch eine fortschrittliche Gesetzgebung kann doch wirklich nicht — das ist meine Frage — die gleichen Bedingungen inhaltlich haben wie damals, nämlich daß die Arbeitnehmer dem Arbeitgeber ausgeliefert sind, noch länger zu arbeiten, als es damals der Fall war.
Nein, das sind sie auch mit Hilfe der Arbeitszeitordnung nicht, weil auch da gilt: Der Regelarbeitstag ist der Acht-Stunden-Arbeitstag. Wo Überstunden gemacht werden, die möglicherweise in einer Woche einmal zu einer 60-Stunden-Woche führen könnten, muß das in einer anderen Zeit wieder ausgeglichen werden. Genau damit schützt die Arbeitszeitordnung auch den Arbeitnehmer außerhalb des Tarifvertrages vor einer Überforderung. Es gelten für die Arbeitnehmer im Tarifvertrag oder außerhalb des Tarifvertrages der Gesundheitsschutz, die Regelungen, wann Pause sein muß, wie groß die Abstände sein müssen. Das sind alles Aufgaben, von denen ich glaube, daß dafür der Staat zuständig ist. Aber ich bleibe dabei: Für die Wochenarbeitszeit — in welches Gedränge kämen wir; wir müßten wieder alles über einen Kamm scheren — ist der Gesetzgeber nicht zuständig, sondern, Gott sei Dank, die Tarifpartner, und dabei soll es auch bleiben.
Auch was die Sonntagsarbeit anbelangt, bitte ich, hier nicht zu proklamieren, als hätten wir die Sonntagsarbeit eingeführt. Es bleibt beim grundsätzlichen Verbot der Sonntagsarbeit. Ich stimme Ihnen nämlich zu: Bei aller Flexibilisierung wollen wir nicht einen Zeitbrei; der Sonntag muß ein anderer Tag sein als die sechs anderen Tage der Woche.Nur, auch heute schon gibt es Sonntagsarbeit. Unsere Wirtschaft würde ja sonst gar nicht florieren; die Krankenhäuser würden ihre Kranken im Stich lassen,
— die Feuerwehren nicht löschen. Sie haben alle Beispiele! Deshalb: Machen Sie doch hieraus keine Tabufrage! Es ist doch nur die Frage, wo wir die Grenze ziehen zwischen einer sinnvollen Flexibilisierung und dem grundsätzlichen Verbot der Sonntagsarbeit.
— Ich habe doch noch so viel Punkte, lassen Sie mich doch die anderen Punkte auch behandeln. Ich komme doch nicht auf jeden Einwand zurück, Sie haben ja so viele Einwände.Nun noch zum Kollegen Gysi und zum Kollegen Schulz,
der zu der Möglichkeit, daß bei landwirtschaftlichen Erntearbeiten auch Arbeitslosenhilfeempfänger untergebracht werden können, von einem Schauer des Arbeitsdienstes gesprochen hat.Wissen Sie, wovon ich spreche? Wenn ich Ihre Argumentation untersuche — seien Sie nicht überrascht —, dann stelle ich einen Hauch von Ausländerfeindschaft darin fest.
Seien Sie nicht überrascht! Das funktioniert ja so: In der ersten Abteilung heißt es Anwerbestopp, keine ausländischen Arbeitnehmer sollen zugelassen werden.Zweite Abteilung: Offenbar sind diese Arbeitsplätze so schlecht, daß sie für einen deutschen Arbeitslosen nicht zumutbar sind, und dann sollen sie durch einen Ausländer besetzt werden. Merken Sie nicht, wie Sie Selbsttore schießen?
Sie stellen die Arbeitsplätze so dar, als seien sie nur für Polen geeignet. Da muß ich die polnischen Kollegen schützen. Was für einen polnischen Arbeitnehmer zumutbar ist, das ist auch für einen deutschen Arbeitnehmer zumutbar; sonst führen Sie eine neue Schranke ein, die in der Tat nichts anderes ist als eine versteckte Ausländerfeindschaft, und das muß ich abwehren.
In der Tat soll es ja darum gehen, daß einer, der Arbeitslosenhilfe bezieht, bei solchen Erntearbeiten eingesetzt werden kann, und er bekommt ja dann vom Arbeitsamt dafür noch einen Zuschuß. Denn das versteht niemand: 4 Millionen Arbeitslose, auf der anderen Seite müssen wir Ausländer an bestimmten Arbeitsplätzen einsetzen. Ich finde, Sie schaden damit auch der Integration der Ausländer, die hier sind.Wissen Sie, wer da eingesetzt wird, wie das Leben dieses Problem löst? — Auf eine Weise, die Ihnen und mir nicht recht sein kann. Das Leben löst dieses Problem durch illegale Beschäftigung. Die nicht besetzten Arbeitsplätze werden illegal besetzt, und zwar mit Hungerlöhnen für die von Schleppern
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18951
Bundesminister Dr. Norbert Blümbeschafften Arbeitskräfte. Das ist eine neue Form von Ausbeutung, und dagegen muß man sein.
Herr Abgeordneter Wolfgang Ullmann, bitte.
Herr Bundesminister, können wir uns darauf einigen, daß Werner Schulz mit seinem Argument natürlich folgendes gemeint hat: Die jetzige Regelung birgt die Gefahr in sich, daß ausländische Arbeitnehmer zu unzumutbaren Bedingungen beschäftigt werden und nicht die Möglichkeit haben, sich dagegen zu wehren.
Wenn das so gemeint sein soll — ich habe ihn anders verstanden —, dann möchte ich den Kollegen Schulz unterstützen; denn ich sehe in der illegalen Beschäftigung, in dieser Dunkelzone wirklich neue Ausbeutungsverhältnisse, die nichts mit Randphänomenen der Illegalität zu tun haben, sondern die in manchen Fällen in die Kriminalität vorstoßen und bekämpft werden müssen, unserer ausländischen Kollegen wegen.
Herr Abgeordneter Gerd Andres.
Herr Bundesarbeitsminister, da ich mich hier an eine Initiative meiner Fraktion zum Thema Werkvertragsarbeitnehmer erinnere und an den hinhaltenden, verzögernden Widerstand, den zunächst Ihr Haus und dann die ganze Koalition dagegen geleistet hat, möchte ich fragen: Finden Sie es vermessen, wenn ich das, was Sie hier sagen, als pure Demagogie empfinde? Denn Sie haben es doch als Bundesregierung in der Hand, entschieden gegen illegale Beschäftigung und auch gegen die Rechtskonstruktion, die diese illegale Beschäftigung in massenweisem Umfang überhaupt erst möglich macht, vorzugehen. Und stimmen Sie mir nicht zu, daß man es wirklich — mit Verlaub — als eine Verdrehung der Tatsachen bezeichnen muß, wenn Ostermontag Ihr Staatssekretär, Herr Günther, donnernde Erklärungen zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung abgibt — da habe ich mich immer gefragt, als ich das hörte, bin ich eigentlich Opposition oder Regierung — —
Sie haben es doch in der Hand und haben in den letzten Jahren systematisch verhindert, daß hiergegen entsprechend vorgegangen wurde.
Wollen wir mal nicht glauben, daß das eine Kurzintervention war, sondern eine Frage, und mit diesem Glauben antwortet nun der Bundesminister.
Wenn ich nur auf die Frage antworten soll, dann antworte ich mit Ja.
Aber ich möchte noch den Inhalt behandeln.
Herr Kollege Andres, was ist das? Ist das Demagogie oder Unkenntnis, Werkvertrag mit illegaler Beschäftigung zu verwechseln? Der Werkvertrag ist ein ordentliches Instrument.
— Ja, doch. Mit der Beschäftigung in der Landwirtschaft habe ich doch nicht den Werkvertrag bekämpfen wollen. Ich habe die illegale Beschäftigung bekämpfen wollen. Denn abseits aller Strafen — für deren Verschärfung ich bin — ist es noch besser, die Arbeitsplätze legal zu besetzen, die sonst durch Illegale besetzt werden. Das ist der beste Kampf gegen Illegalität.
Im übrigen, was die Sanktionen anbelangt: Wir haben sie verschärft und wollen sie auch weiter verschärfen. Gegen manche Vorschläge, Mißbrauch und damit auch Illegalität besser zu erwischen, hat Ihre Fraktion massive Widerstände, auch hier im Bundestag, vorgebracht. Auch die Meldekontrollen, durch die Bundesanstalt für Arbeit, die wir eingeführt haben, waren und sind der Versuch, dem Mißbrauch und der Illegalität auf die Spur zu kommen.
Noch eine Frage? — Wissenshungrig, wie der Abgeordnete Andres ist, bitte schön.
Bitte, ich kann dem Kollegen Andres kaum widerstehen, wenn er seine Versuche fortsetzen will.
Herr Bundesarbeitsminister, ich frage noch einmal: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in meiner ersten Frage die Formulierung drinsteckte, daß Sie durch die Hinnahme solcher Systeme wie Werkvertragsarbeitnehmer und ähnliche Dinge mehr erst der massenweisen illegalen Beschäftigung Tür und Tor geöffnet haben?
Jetzt erweitere ich das: Sind Sie bereit, eine Position zur Kenntnis zu nehmen, die besagt, ob Sie nicht, je mehr Sie deregulieren und von bestehenden Normalarbeitsverhältnissen abweichen und je mehr Sie diese Praxis vorantreiben, gerade der illegalen Beschäftigung Tür und Tor öffnen, weil es dagegen überhaupt kein Bollwerk gibt?
Sind Sie mit mir der Meinung, je bürokratischer Sie werden, um so mehr drängen Sie die Leute in die Illegalität? Soll ich daraus auch einen Schuh machen? Insofern dreht es sich darum, die vernünftige Mitte zu finden, Regelungen zu finden, die Mißbrauch unmöglich machen. Aber ich sage Ihnen: Die überwuchernde Bürokratie ist auch eine
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18952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Bundesminister Dr. Norbert BlümEinladung, sich um Regelungen herumzudrücken und im Halbdunkel der Illegalität zu verschwinden.
Was den ersten Teil anbelangt, will ich noch einmal sagen: Der Werkvertrag hat mit Illegalität nichts zu tun. Wir haben ihn auch geregelt, quotiert, in seiner Zahl beschränkt. Insofern kann er gar nicht zu jenem Massenphänomen beitragen, das hier beschworen wird. Wir haben es allerdings im Bau und in manchen anderen Branchen in der Tat auch mit Schlepperorganisationen zu tun. Denen soll das Handwerk gelegt werden. Wer sich im Bau an dieser Art von Ausbeutung beteiligt, scheidet aus öffentlicher Vergabe aus. So handfest machen wir Politik.
Nun lassen Sie mich nach diesem Dialogbeitrag noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen. Ich glaube, unsere Volkswirtschaft darf nicht in Grund und Boden geredet werden. Sie hat Stärken, und sie hat Schwächen. Wenn Sie mich fragen, wo die Stärken liegen: Unsere größte Stärke — das zeigt sich auch im internationalen Vergleich — ist: Es gibt kaum eine Volkswirtschaft mit einem so hohen Qualifikationspotential wie in Deutschland. Das ist auch der Grund, warum Deutschland — neben Japan — das einzige Land ist, in dem die Jugendarbeitslosigkeit unter der allgemeinen Arbeitslosigkeit liegt. Der Grund — das kann ja nicht grundlos geschehen — liegt immer noch darin, daß wir ein hervorragendes System der Lehrlingsausbildung haben. Dieses duale System muß gestärkt werden. Das ist der Grund, warum wir es mit einem Facharbeiterstamm zu tun haben, der kaum ein zweites Mal in der Welt vorkommt.Ich denke, wir müssen allerdings auch die Weiterbildung intensivieren. Die technischen Neuerungen kommen immer schneller. Der Arbeitnehmer, dessen Ausbildung lange zurückliegt, ist in Gefahr, außer Tritt zu geraten. Es geht nicht nur um Aufstieg durch Bildung. Das ist nicht die einzige Motivation. Es geht auch um Fortbildung, damit sich der Arbeitnehmer auf dem Niveau, das er sich in seiner Lehre angeeignet hat, fortentwickeln kann. Immerhin haben wir in den neuen Bundesländern seit Geltung des Arbeitsförderungsgesetzes zwei Millionen Arbeitnehmer in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen untergebracht. Zwei Millionen, meine Damen und Herren, das ist nun wirklich eine Rekordleistung und rechtfertigt bei Gott nicht den Vorwurf, wir würden uns zurückziehen.Ich nenne als zweite Stärke unserer Volkswirtschaft: Wir haben noch immer, trotz mancher Konflikte, eine Sozialpartnerschaft, die ordnungsfähig ist. Das haben auch gerade die zurückliegenden Tarifvertragsvereinbarungen gezeigt. Ich zähle zu unseren Stärken Qualifikation und Sozialpartnerschaft — ein Standortvorteil!Zu unseren Schwächen zähle ich eine gewisse Strukturverspätung. Im Westen sind wir auf unseren Lorbeeren etwas eingenickt. In den östlichen, den neuen Bundesländern haben wir eine Strukturverspätung, die Fachleute auf 25 Jahre schätzen. Die können wir aufholen. Auch der westliche Teil muß Strukturverspätungen aufholen. Ich denke allerdings, daß wirVerspätungen ebenso in der Organisation unserer Arbeit haben. Unsere Arbeitszeiten sind verkalkt. Es gibt zuviel Beton. Deshalb brauchen wir Eisbrecher. Ich bin nicht nur des Beschäftigungseffekts wegen für Teilzeitarbeit, sondern auch deswegen, weil ich glaube, daß die Teilzeitarbeit ein Eisbrecher gegen die erstarrten, zuzementierten Arbeitszeiten ist.Allerdings wird die Teilzeit manchmal unter Wert gehandelt. Erstens darf sie sich nicht auf die minderqualifizierten Arbeitsplätze beschränken. Zweitens darf sie nicht für Frauen reserviert werden. Drittens sollten wir diese Form nicht nur als Tagesteilung anbieten; das ist zu einfach und zu schematisch. Teilzeit kann auch Wochen teilen: drei Tage in der Woche für den einen und zwei Tage für den anderen. Sie kann Monate umfassen. Wir brauchen maßgeschneiderte Arbeitszeiten.Zum erstenmal in der technologischen Entwicklung sind wir zu dieser Individualisierung fähig. Es ist technologisch möglich, wirtschaftlich erwünscht und entspricht der höchst unterschiedlichen Nachfrage der Menschen. So könnte die Teilzeit wirtschaftliche und soziale Gründe miteinander versöhnen.Arbeitszeiten können dem Lebensrhythmus besser angepaßt werden. Wieso hat ein Sechzigjähriger die gleiche Arbeitszeit wie ein Zwanzigjähriger? Warum kann er nicht den Übergang von der Erwerbsphase in den Ruhestand sanfter, sachter, schrittweise vollziehen? Wir können Rente mit Teilzeitarbeit verbinden, Teilrente und Teilzeitarbeit. Es liegt nicht am Gesetzgeber. Die Gesetze gibt es alle. Es liegt am Beton, am Kalk im Gehirn, am Brett vor dem Kopf, an unseren Gewohnheiten. Wir haben uns in unseren Gewohnheiten so häuslich niedergelassen, daß wir zu Veränderungen nicht mehr fähig sind.Das hat nichts mit Paragraphen zu tun. Ich habe manchmal den Eindruck: Wenn Sozialdemokraten etwas Neues wollen, verlangen sie entweder Geld oder Paragraphen. Es fängt im Kopf an, und die Teilzeitfrage ist eine Frage an die Köpfe, im übrigen nicht nur der Gewerkschaften, auch der Arbeitgeber. Auch die haben Personalplanung in der Einheit — —
— Ja, im übrigen: Freiheit, Freiheit! Teilzeitarbeit ist keine Befehlsform. Ich glaube, daß man sie auch mit Qualifikation verbinden kann, daß sie auch eine neue Chance für Menschen mit Handicaps, für Behinderte ist, die möglicherweise einen Achtstundentag nicht schaffen, aber einen Vierstundentag.Insofern, meine Damen und Herren, sollten wir uns in der Tat in einen Kreativitätswettbewerb begeben, nicht nur mit Paragraphen, nicht nur mit Geld, sondern vor Ort tätig werden und aus alten, liebgewordenen Gewohnheiten aussteigen.Die Preisfrage, die sich uns allen stellt: Die ersten Lichtblicke eines wirtschaftlichen Aufschwungs zeigen sich. Ich hoffe, sie gewinnen die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit, wie sie die schlechten Nachrichten erzeugen. Im verarbeitenden Gewerbe gibt es 3 % Plus bei Auftragseingängen, und das ist ein
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18953
Bundesminister Dr. Norbert Blümkritischer Sektor. Die Automobilindustrie beginnt anzuspringen, die Zulassungen nehmen zu. In der Bauindustrie gibt es für den Wohnungsbau viermal soviel Baugenehmigungen wie 1992.Meine Damen und Herren, es war immer so: Der Abstand zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und Besserung auf dem Arbeitsmarkt war immer vorhanden. Also kommt es um der Arbeitslosen willen darauf an, diesen Abstand zu verkleinern. Ich sehe, was der Arbeitsmarkt dazu tun kann — er ist natürlich auf die Bereitschaft der Mitwirkenden von allen Seiten angewiesen — : Die Teilzeitarbeit und der befristete Arbeitsvertrag körnen diesen Abstand verkürzen.Wir sollten in dieser Situation nicht miesmachen, sondern Mut machen zu neuen Initiativen. Der Staat kann und will gar nicht alles; aber er hat mit diesem Beschäftigungsförderungsgesetz einen Beitrag geleistet, damit neue Möglichkeiten in der Wirtschaft genutzt werden — unseres Wohlstandes wegen, aber ganz besonders der Arbeitslosen wegen.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Konrad Gilges das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung und insbesondere der Bundeswirtschaftsminister, Herr Rexrodt, haben dieses Programm mit der vollmundigen Aussage angekündigt, es würden neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion, Herr Solms, hat davon gesprochen, in den nächsten Jahren würden durch dieses Beschäftigungsförderungsgesetz 3 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Ein CDU-Kollege hat von 200 000 in diesem Jahr gesprochen usw. usf. Alles das würde durch dieses Aktionsprogramm geschaffen, wovon dieses Beschäftigungsförderungsgesetz ein Teil ist.In den Ausschüssen haben wir immer wieder nachgefragt, wieviel neue Beschäftigung durch dieses Gesetz hergestellt werde. Es kam keine Antwort. Wir haben heute hier auch keine Antwort gehört. Alles ist reine Spekulation. Der Herr Kollege Kauder hat selbst gesagt, er wolle nicht darüber spekulieren, wie viele neue Arbeitsplätze da geschaffen würden. Kurzum, das Ziel dieses Beschäftigungsförderungsgesetzes, neue Beschäftigung in dieser Republik zu schaffen, wird selbst von der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien nicht mehr wiederholt.Man fragt dann einfach, was dieses Gesetz außer der Deregulierung noch soll. Deregulierung bedeutet hier, Rechte, die Arbeitnehmer, die auch Arbeitslose haben, Herr Blüm, zugunsten anderer abzubauen, die dadurch Rechte zum Nachteil der Beschäftigten und der betroffenen Arbeitslosen gewinnen. Ich glaube, das kann keine soziale Politik sein.Es wäre sinnvoller gewesen, wenn Sie uns einmal dargestellt hätten, wie Sie denn neue Arbeitsplätze schaffen wollen. Denn Sie sind ja letztendlich die Regierung. Sie haben seit 12 Jahren die Verantwortung. Sie müssen uns am Ende dieser Regierungszeit, wenn Sie wiedergewählt werden wollen, auch darstellen, was Sie gegen die Zahl von 4 Millionen undreal sogar 6 Millionen Arbeitslosen unternehmen wollen; denn 2 Millionen Arbeitslose sind ja in irgendwelchen Beschäftigungsgesellschaften oder Ausbildungsprogrammen. Das heißt, es sind real 6 Millionen Arbeitslose. Was machen Sie nun wirklich?
Ich glaube, da bleiben Sie uns die Antwort schuldig. Es wird nichts passieren außer viel Gerede und viel Papier.
Ich will auf einen Schwerpunkt kommen, den Sie auch genannt haben. Das ist die Heranziehung von Arbeitslosenhilfeempfängern zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft. Auch nach der Debatte im Ausschuß bleibt der Eindruck, daß es ein Arbeitsdienst sein könnte — ich sage das so zurückhaltend: sein könnte —, wenn nicht bestimmte Bedingungen, die im Ausschuß diskutiert worden sind, erfüllt werden.Die wichtigste aller Voraussetzungen ist, daß garantiert ist, daß die in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeiter einen Tarifvertrag erhalten, daß sie nach Tarifvertrag bezahlt werden. Das liegt in Ihrer Gewalt und in Ihrer Macht,
indem Sie nämlich die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen für die Arbeiter in der Landwirtschaft herstellen. Nur dann ist garantiert, daß es kein Arbeitsdienst ist und daß bei den Betroffenen auch nicht der Eindruck entsteht, es sei Arbeitsdienst.Das sage ich jetzt auch generell für Ausländer, auch für Polen; denn das Schlimme ist ja nicht, daß Polen in der Landwirtschaft beschäftigt werden, sondern das Schlimme ist, daß sie im Osten für 3, 4, 5 DM und für 6 und 7 DM hier im Vorgebirge beschäftigt werden — das ist die Katastrophe —, wobei der Lohntarifvertrag aussagt, daß im Westen 12,10 DM pro Stunde und im Osten 6,10 bzw. 6,90 DM gezahlt werden sollen. Wenn die Landwirte das bezahlen würden, dann gäbe es darüber in unserer Republik überhaupt keine Diskussion. Ich habe nichts dagegen, daß Polen in der Landwirtschaft arbeiten. Ich habe etwas dagegen, daß sie in der Landwirtschaft unter Tarif arbeiten, daß sie ausgebeutet werden, als wären wir hundert Jahre zurück.
Das können Sie verhindern. Sie haben einen Auftrag, den der Ausschuß mit Mehrheit beschlossen hat und den Sie erfüllen können.Ich will zum dritten anmerken, daß Sie Gott sei Dank die Aufhebung des § 12 a des Arbeitsförderungsgesetzes, das Verbot der Leiharbeit im Baugewerbe, zurückgenommen haben. Ich sage: Gott sei Dank, daß Sie das gemacht haben.
Denn es hätte dazu geführt, daß wir im Baugewerbedie Sklavenarbeit und die Sklavenvermittlung, die daja schon vorhanden ist, wie wir alle wissen, noch
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18954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Konrad Gilgesverstärkt hätten. Der Gesetzgeber hätte gewollt, daß dort Sklavenarbeit stattfindet,
daß Leute ausgeliehen werden, die unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und auch menschenunwürdig bezahlt werden, wie es in der Vergangenheit, bevor es dieses Verbot von Leiharbeit gab, leider möglich war. Sie wissen das sehr gut.Zweitens hätten Sie damit die Sozialkassen geschädigt. Das, was Sie jetzt mit der sogenannten Kollegenhilfe vorhaben — ich habe mit dem Begriff ein bißchen Schwierigkeiten, aber das lasse ich jetzt einmal dahingestellt sein —, hat es auch in der Vergangenheit gegeben. Ich habe das eben schon gesagt. Auch ich bin mehrmals ausgeliehen worden. Sie wissen ja, daß ich von Beruf Fliesenleger bin. Es war unter den Handwerksmeistern überhaupt kein Problem, so etwas zu machen. Ich weiß nicht, weshalb man dazu eine gesetzliche Regelung braucht.
— Aber es ist doch jetzt nur eine zusätzliche Regulierung, die die freien Möglichkeiten, die die Handwerksmeister jetzt haben, einschränkt. Wenn sie das brauchen und wollen, werde ich mich dem nicht verweigern. Aber ich werde dagegen streiten, Herr Louven, daß das Leiharbeiterverbot für das Baugewerbe aufgehoben wird. Denn das führt zu Katastrophen. Die Vertreter von Bau-Steine-Erden haben recht, wenn sie sagen, daß sie mit allen ihnen als Gewerkschaft zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen vorgehen werden, wenn Sie diese Absicht in den nächsten Jahren noch einmal irgendwo aus dem Hut zaubern werden.
— Mit dieser Regelung kann ich leben, so will ich es einmal sagen. Ich habe das Gesetz noch nicht gesehen. Bis jetzt habe ich da keine Schwierigkeiten.Herr Blüm, ich will auf die Frage zurückkommen, was Sie eigentlich hätten tun müssen. Wo sich heutzutage die Katastrophe anbahnt, das ist doch der Ausbildungssektor. Wir haben zur Zeit 30 000 Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz bekommen. Eine Riesenkatastrophe kommt da auf uns zu. Auf diese Frage geben Sie überhaupt keine Antwort. Herr Kauder hat hier einen Appell losgelassen. Das nützt uns überhaupt nichts. Ich meine, Sie hatten zu Anfang Ihrer Regierungszeit eine Bildungsministerin, die sich um solche Fragen noch gekümmert hat. Das muß ich zugunsten von Frau Wilms fairerweise sagen.Ich habe den Namen des jetzigen Bildungsministers gar nicht mehr präsent. Ich habe den ganzen Morgen darüber nachgedacht; er ist mir nicht eingefallen. Vielleicht kann mir der Herr Präsident da einmal Nachhilfe geben.Der Bildungsminister ist weder hier anwesend, noch sagt er etwas zu der Frage, wie man denn den Jugendlichen helfen kann, die keinen Ausbildungsplatz haben. Es ist auch für den Standort Deutschlandeine Katastrophe, wenn 30 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz haben.Ich sage zum zweiten: Die Jugendarbeitslosigkeit nimmt in unserem Lande zu. Ich habe eben schon einmal aus dem Bericht der Arbeitsverwaltung zitiert. Wir haben eine Steigerung gegenüber dem Vergleichsmonat des Jahres 1993 um 13 %. Das heißt, die Jugendarbeitslosigkeit ist um 13 % gestiegen. Es ist nicht so, daß sie sinkt, sondern sie steigt kontinuierlich. Sie stellt einen höheren Anteil. Es kommt noch eine größere Katastrophe auf uns zu: 12 % aller Jugendlichen werden nicht übernommen, wenn sie die Ausbildung hinter sich gebracht haben.Dazu müßten Sie etwas Konkretes sagen, statt hier Appelle zur Teilzeitarbeit loszulassen. Was ist einem 19- oder 22jährigen Ausgebildeten geholfen, wenn man ihm sagt, daß er einen Job mit drei Stunden pro Tag bekommt? Er will seine volle Arbeitskraft einsetzen, er will Geld verdienen, mit Recht, er will eine Ehe schließen, eine Familie gründen, er will Kinder in die Welt setzen. Er braucht einen Verdienst, damit ihm das ermöglicht wird. Er will keine Teilzeitbeschäftigung, bei der der Verdienst nicht zum Leben ausreicht, viel weniger noch, um eine Familie zu ernähren.Das wäre eine konkrete Politik, wie Sie sie betreiben sollten,
statt hier Gesetze zu machen, die nur dazu führen, daß die Rechte, die die Arbeitnehmer haben, sich noch reduzieren.
Herr Kollege Gilges, Sie sind einverstanden, daß der Kollege Grünbeck eine Zwischenfrage stellt? — Bitte, Kollege Grünbeck.
Herr Kollege Gilges, halten Sie es eigentlich für verantwortlich, daß Sie hier demagogisch den Lehrstellenmangel beklagen und die deutsche berufliche Bildung an den Pranger stellen, während in der Europäischen Gemeinschaft nach Ende 1993 folgende Zahlen vorliegen? Würden Sie die bitte zur Kenntnis nehmen? In den reichen Industrieländern England, Frankreich und Italien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 20 %, in den armen EG-Ländern wie Portugal, Spanien und Griechenland liegt sie über 30 %. Bei uns liegt sie unter 6 %, und Sie kritisieren hier einen Mangel an Perspektiven, statt zu bejahen, daß die Jugend bei uns in dieser Republik Chancen hat.
Herr Kollege, ich habe die berufliche Ausbildung überhaupt nicht an den Pranger gestellt, im Gegenteil.
Ich glaube und bin fest davon überzeugt — Sie wissenja, daß ich auch in einer anderen Funktion mitHandwerkskammern, Industrie- und Handelskam-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18955
Konrad Gilgesmern und Berufsausschüssen zu tun habe —, daß es keine besseren Möglichkeiten der beruflichen Qualifikation insbesondere im gewerblichen Bereich gibt als in der Bundesrepublik Deutschland. Das gilt weltweit.
Darüber hatten wir überhaupt keinen Streit.Ich habe auch zur Kenntnis genommen, daß der amerikanische Präsident Überlegungen anstellt, wie man das deutsche Berufsbildungssystem in den USA einführen kann, um den Standort USA zu verbessern. Ich bin sogar der festen Überzeugung, daß unsere berufliche Qualifikation, unsere Berufsausbildung der wirkliche Wert des Standorts Bundesrepublik Deutschland ist.
Wenn wir dieser Überzeugung sind — ich gehe davon aus, daß auch Sie dieser Überzeugung sind —, dann muß man dafür sorgen, daß er nicht so verkommt wie in Portugal, in Italien oder in Frankreich, sondern daß die Spitzenstellung, die wir weltweit haben, auch erhalten bleibt.
Wir müssen dafür sorgen, daß nicht 30 000 Jugendliche nicht in eine Ausbildung gehen, sondern daß 30 000 Jugendliche eine Ausbildung bekommen. Es darf nicht sein, daß 12 % nach der Ausbildung keinen Arbeitsplatz bekommen. Es geht darum, daß auch diese 12 % die Chance auf einen Arbeitsplatz bekommen.
Das ist hier der Streitpunkt, für dessen Klärung Sie nicht sorgen. Da machen Sie nichts. Diese Gruppe lassen Sie hängen. Dafür tun Sie zuwenig. Das hat aber überhaupt nichts mit der Qualität unseres Bildungssystems zu tun, im Gegenteil.
Kurzum, ich will zum Schluß kommen. Ich will sagen: Sie haben Ihre Aufgabe, die Sie sich selber gestellt haben, nämlich mit diesem Beschäftigungsförderungsgesetz neue Arbeitsplätze zu schaffen und unsere Bundesrepublik einen Schritt weiterzubringen sowie den sozialen Frieden herzustellen, nicht erfüllt. Sie haben das Gegenteil erreicht. Mit Ihrem Beschäftigungsförderungsgesetz wird sozialer Unfrieden entstehen. Es werden mehr Auseinandersetzungen stattfinden. Viele Arbeitnehmer fühlen sich durch Ihre Propaganda und Ideologie zunehmend betrogen.
Ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention nach § 27 der Geschäftsordnung unserem Kollegen Julius Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ein paar Richtigstellungen vornehmen. Der Abgeordnete Gilges hat hier erklärt, die Herren Solms und Rexrodt hätten behauptet, xy Millionen Arbeitsplätze würden geschaffen.Herr Kollege Gilges, eine solche Diskussion verlangt von einem seriösen Abgeordneten, daß er richtig zitiert. Die Herren haben gesagt: Wir hoffen, daß dies ermöglicht würde. Das ist ein entscheidender Unterschied.Wir wissen, daß es keine Patentrezepte gibt. Aber wir wissen auch, daß einzelne sinnvolle und realistische Maßnahmen getroffen werden müssen. Dazu gehört, Herr Kollege Gilges, daß Kollegenhilfe, die bisher illegal war, aber praktiziert wird — wie Sie richtig festgestellt haben —, legalisiert wird.Zu der Frage der Beschäftigung von Jugendlichen und der Ausbildungsplätze gestatten Sie mir folgende Bemerkung: Ich bin wie viele Kollegen aus allen Fraktionen durch die Lande gezogen und habe die Unternehmen motiviert, über Bedarf auszubilden. Wenn jetzt jemand hergeht und sich darüber beschwert, daß die Unternehmen, die auf unseren Wunsch hin über Bedarf ausgebildet haben, nicht einstellen, dann sabotieren Sie geradezu diese unsere Arbeit und demotivieren die Unternehmen, in Zukunft über Bedarf auszubilden.
Ich halte das für geradezu kontraproduktiv zu dem, was Sie vorgeblich wollen.Lassen Sie mich, weil ich gerade das Wort habe, auch noch ein Wort zum Monopol der Arbeitsvermittlung und der Aufbrechung des Monopols sagen. Sie haben es doch sonst nicht mit Monopolen. Warum soll es dann gerade in der Arbeitsvermittlung beibehalten werden? Meine Freunde, stellen Sie doch die Arbeitsvermittlung dem normalen Wettbewerb. Es ist ja noch nicht einmal ein Wettbewerb unter Gleichen: Die eine Leistung wird umsonst angeboten, und für die andere muß man bezahlen.
Die Arbeitsämter, die entlastet werden, würden dankbar dafür sein; denn dann könnten sie sich gerade mit denen beschäftigen, die so schwer vermittelbar sind.
Eine persönliche Information zu befristeten Arbeitsverträgen: Wir haben befristete Arbeitsverhältnisse in meiner Firma begründet mit dem Erfolg, daß alle befristeten Arbeitsverträge in Dauerarbeitsverträge umgewandelt worden sind. Wir haben befristete Arbeitsverträge gewählt, weil wir Zweifel an der Eignung der Bewerber sowie daran hatten, ob es uns gelingt, dauerhaft die notwendigen Exportaufträge zu bekommen. Gott sei Dank ist uns dies gelungen. Das ist ein Erfolg. Ermöglichen Sie dieses Instrument! Benehmen Sie sich nicht wie Konservative! Handeln Sie nicht nach dem Grundsatz „keine Experimente"! Seien Sie vielmehr so experimentierfreudig, wie Sie
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18956 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dieter-Julius Cronenberg
sich das von Unternehmern wünschen! Dann bekommen Sie auch die Erfolge.Herzlichen Dank.
Nach unserer Geschäftsordnung hat Kollege Konrad Gilges jetzt natürlich das Recht zu antworten. Bitte sehr.
Herr Cronenberg, zum ersten Punkt. Ich zitiere aus der dpa-Meldung vom 20. Januar 1994, 11.30 Uhr — ich habe versucht, das entsprechende Protokoll zu besorgen; das war auf die Schnelle nicht möglich —:
Das Aktionsprogramm der Bonner Koalition für Wachstum und Beschäftigung kann nach den Worten von FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms in wenigen Jahren zwei bis drei Millionen Arbeitsplätze schaffen.
„Kann schaffen", Herr Cronenberg. Ich habe ausgeführt — das können Sie nachlesen —, daß Herr Solms gesagt hat, es werden in den nächsten Jahren drei Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Ich kann keinen Unterschied zwischen „kann schaffen" und „schaffen" sehen.
— Herr Kollege, auch ich habe ganz ruhig zugehört. — Es heißt nicht „Hoffnung", vielmehr hat Herr Solms das Schlichtweg unterstellt. Herr Rexrodt hat in der besagten Debatte, der ersten Lesung, so ungefähr gesagt, auf solch eine Formulierung ließe er sich nicht ein, und hat einen großen Rückzieher gemacht. Er hat gesagt, aber allein die Tatsache des Aktionsprogramms würde einen gigantischen Schub von Beschäftigung bringen. Ich weiß nicht, was das außer Demagogie und Ideologie bedeutet. Tut mir leid, anders kann ich das nicht bezeichnen.
Zweiter Punkt: „über den Bedarf ausbilden". Ich habe überhaupt nichts dagegen, daß über den Bedarf ausgebildet wird. Herr Cronenberg, ich stimme dem auch als DGB-Kreisvorsitzender zu, wenn Gewerkschafter aus Unternehmen kommen und fragen, ob sie das zulassen sollen. Im Gegenteil, ich bin der festen Überzeugung, daß eine Ausbildung immer noch mehr ist als keine Ausbildung.
Aber das entpflichtet nicht, die staatliche Verantwortung zu haben, auch dafür sorgen zu müssen, daß eine Übernahme stattfindet, d. h. daß der betroffene Jugendliche, der ausgebildet worden ist, eine Chance bekommt, diese Ausbildung auch einzusetzen und Arbeit zu haben. Da tun Sie zuwenig. Das heißt, die Übernahme der 30 000 ist das Problem. Aus dieser Verantwortung kommen Sie nicht heraus. Es ist keinem damit gedient — da gebe ich Ihnen recht —, daß nicht ausgebildet wird. Dann entsteht zwar nicht die Quote von 12 %, aber die Zahl der nichtausgebildeten Jugendlichen erhöht sich. Das heißt, Sie haben die Verantwortung, für Jugendliche Arbeitsplätze zu
schaffen. Dieser Verantwortung kommen Sie leider nicht nach.
-Der dritte Punkt betrifft die Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Es bleibt dabei, daß Herr Späth vor den Mittelständlern, vor dem Zentralverband des Deutschen Handwerks gesagt hat, daß Kopfjägerei entsteht. Das heißt, die privaten Arbeitsvermittler nehmen sich die Leistungsstarken heraus, die weniger Leistungsstarken bleiben bei der Arbeitsvermittlung.
Nebenbei: Sie ist konkurrenzfähig. Davon bin ich fest
überzeugt. Ich teile da die Meinung des Herrn Blüm.
Aber die anderen suchen sich die Leistungsstarken
heraus, weil an denen natürlich Geld zu verdienen ist.
Das ist der entscheidende Punkt. Das heißt, ein Teil,
mit dem man Geld verdienen kann, wird gut vermittelt, und der andere Teil bleibt für die Arbeitsvermittlung übrig.
Die Klassengesellschaft, die Sie mit der Privatisierung entwickeln, wollen wir nicht.
Meine Damen und Herren, das waren zwei interessante Kurzinterventionen, wie alle zugeben werden. Aber Sie beide haben die Zeit weit überschritten. Wir haben für Kurzinterventionen zwei Minuten.
Ich erteile nun unserem Kollegen Dr. Rudolf Karl Krause das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Arbeitsminister, wir sind einen guten Teil des Weges bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zusammen gegangen, mit viel Erfolg. Aber wenn im Entschließungsantrag der SPD gesagt wird, der Gesetzentwurf habe mit der Stärkung des Wirtschaftsstandortes nichts zu tun, so hat diese Debatte das zumindest nicht entkräftet.Bevor ich zu diesem Gesetz komme, noch eine Richtigstellung: Die höchste Frauenbeschäftigung in der deutschen Geschichte gibt es nicht jetzt in Deutschland, sondern es gab sie in der DDR. Und auch das war ja wohl ein Stück deutscher Geschichte.Nun aber zu den Gesetzesänderungen. Es sind viele gute Einzelpunkte, die bisherige Mißstände aufgreifen — ich sage das hier; es wäre unredlich, wenn ich es nicht täte —, die sich so auch im Parteiprogramm der Republikaner finden, die ich also voll unterstützen kann. Aber dieses Gesetz geht nicht an die Wurzeln der wirtschaftlichen Übel.Es gibt hier Bemühungen um eine gerechtere Verteilung der im Inland immer weniger werdenden Arbeit. Auch das Strafrecht — ich komme im einzelnen noch dazu — bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit kann nicht das Versagen der Wirtschaftspolitik
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18957
Dr. Rudolf Karl Krause
und das völlige Fehlen einer Handelspolitik aus der Welt schaffen.
Ich fordere deshalb, wie schon oft gesagt, erstens eine Sozialpflicht aller Importeure, um die Eigendiskriminierung des Produktionsstandorts Deutschland zu beseitigen. Ich fordere zweitens konkrete Renationalisierungen der Wirtschaftszweige, die in Billiglohnländer verlagert worden sind. Im amerikanischen Handelsgesetzbuch gibt es den § 301. Wir werden in Zukunft nicht darum herumkommen, etwas ähnliches auch für Europa und für Deutschland zu schaffen.
Herr Kauder, Sie sagten in Richtung Scharping, er könne brutto und netto nicht auseinanderhalten. Als Landesvorsitzender der Republikaner in Sachsen-Anhalt muß ich darüber zumindest schmunzeln; denn die Regierung ist darüber gestürzt, daß der Ministerpräsident und einige Minister nicht nur brutto und netto nicht auseinanderhalten konnten, sondern auch mein und dein nicht auseinanderhalten konnten und die Gehälter ihrer Mitarbeiter als eigene Gehälter angegeben haben. Ich danke für die Vorlage, die es mir gestattet, auf die Landespolitik hier einzugehen.Nun möchte ich die verbleibende Zeit für ein Problem nutzen, das noch nicht angesprochen worden ist.
Wir haben die Notwendigkeit einer Gegenwartsbewältigung für die Millionen Arbeitslosen in den neuen Bundesländern. In meinem Wahlkreis Altmark haben die Leute in den Dörfern schon immer, solange es die DDR gab, neben ihrem Hauptbeschäftigungsverhältnis ein Nebenbeschäftigungsverhältnis zu Hause als sogenannte individuelle Hauswirtschaft gehabt. Ich kann nicht mit dem Strafrecht verhindern, daß sich junge, in bestem Lebensalter stehende arbeitsfähige Männer und Frauen Arbeit auf einem dritten Arbeitsmarkt suchen, wenn der erste Arbeitsmarkt keinerlei Hoffnungen für sie läßt. Das gleiche gilt für Menschen, die nicht mehr in dem Alter sind, um zu der 1 Million zu gehören, die nach Westdeutschland umziehen mußten, weil es zu Hause keine Arbeit mehr gab, und die jetzt von der Kürzung der ABM betroffen sind.Was passiert? Es gibt eine Dauernachbarschaftshilfe. Es werden ganze Scheunen, ganze Ställe zu Wohnungen ausgebaut. Es wird wieder vermehrt geschlachtet. Man hält sich Schweine, man hält sich Rinder und produziert am Arbeitsmarkt vorbei für einen immer größeren Personenkreis. Natürlich ist das zu verurteilen. Aber ich kann nicht mit dem Strafrecht erzwingen, daß sich arbeitsfähige und arbeitswillige Leute Arbeit suchen. Es ist derzeit kaum zu verhindern, daß immer mehr Ausgabenanteile der Haushalte auf einem dritten Arbeitsmarkt erwirtschaftet werden.Wir brauchen also auch für die Bevölkerungshälfte, die nicht zu den am höchsten Gebildeten gehört, fürdie ärmere, für die auch geistig weniger bewegliche Hälfte der Bevölkerung Arbeitsplätze. Wir brauchen auch für die Frauen über 40 wieder Frauenarbeitsplätze. Wir brauchen wieder Handarbeitsplätze, nicht nur Computerarbeitsplätze. Das gelingt nur, wenn wir „ausgeflaggte" Wirtschaftszweige wieder nach Deutschland zurückholen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debattenrunde ist unser Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es bleibt dabei: Das kurzatmige und konzeptionslose Herumfummeln dieser Koalition an der Arbeitsförderung und an der Arbeitsmarktpolitik ist weder ein Mittel gegen die derzeitige Konjunkturkrise noch ein Mittel gegen die mit dem Stichwort Standortdebatte angesprochenen partiellen strukturellen Schwächen in der deutschen Wirtschaft.In seltener Einmütigkeit kritisieren Gewerkschaften und Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitsloseninitiativen und Kirchen die vorgesehenen Maßnahmen, die im übrigen bereits die vierte Änderung des AFG innerhalb eines Jahres darstellen. Die Selbsthilfeorganisationen der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger kritisieren völlig zu Recht, daß mit den vorgesehenen Änderungen Elemente von Zwangsarbeit in das soziale System eingeschleust werden. Die Kürzung der ABM-Zuschüsse trocknet die AB-Maßnahmen womöglich aus, so die Befürchtungen der Gewerkschaften, der Bundesanstalt und z. B. auch der evangelischen Kirche.Zu Recht fordert die evangelische Kirche, daß der Trend zur zunehmenden Verarmung und Verschuldung von Arbeitslosen wirkungsvoll gewendet wird, damit mehr Eigeninitiative möglich wird. Die unsozialen Sparmaßnahmen dieser Bundesregierung und dieser Koalition wirken jedoch dem erklärten Ziel der Förderung der Eigeninitiative entgegen.Wie es zur Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und zur Stabilisierung der sozialen Lage beitragen soll, wenn ein Unternehmen an einen privaten Arbeitsvermittler erst einmal ein, zwei oder mehr Monatsgehälter abdrücken soll, ist eines der bestgehüteten Geheimnisse der Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung und dieser Koalition. Übrigens, mit dieser Maßnahme stocken Sie doch die Lohnnebenkosten weiter auf.Nein, die vorgesehenen Maßnahmen sind nicht Maßnahmen der Arbeits- und Beschäftigungsförderung. Sie sind blanker Sozialabbau. Das ist ja schon mehrfach zum Ausdruck gekommen. Sie sind schlicht Deregulierungsmaßnahmen. Sie sind ein Vorgeschmack dessen, was noch kommt, wenn diese Koalition nach den Bundestagswahlen noch einmal vier Jahre weitermachen könnte.
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18958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dr. Ulrich BriefsWer wirklich etwas für die Arbeitslosen tun will, muß jetzt, wie Japan, wie Frankreich, insbesondere konjunkturpolitisch klotzen.
Ein schnell wirksames Stimulierungskonzept, z. B. durch Vorziehen und Aufstocken öffentlicher Aufträge, muß her. Entwickeln Sie endlich ein Instrumentarium von Strukturhilfen für die Wirtschaft, die an Beschäftigungsauflagen und an ökologische Auflagen gebunden sind. Stellen Sie für kleine und für Kleinstbetriebe, z. B. für Alternativprojekte, Investitionshilfen und vor allem Risikokapital mobilisierende Beihilfen zur Verfügung.Die deutschen Großbanken, die sich in diesen Jahren der größten Arbeitsmarktkrise in der Nachkriegszeit doll und dämlich verdienen, werfen ihr Geld lieber Baulöwen in den Rachen,
als arbeitsplatzschaffende Initiativen von z. B. bislang Beschäftigungslosen zu unterstützen.Dieser Bundesregierung fehlt jedes Konzept für ein wirksames Ineinandergreifen von angebotsorientierten Maßnahmen, die z. B. die Produktivität und den Branchenstrukturwandel fördern, von ihrer Art her aber nur mittelfristig greifen können, und von nachfragestimulierenden Maßnahmen, die kurzfristig Verbesserungen am Arbeitsmarkt bringen können. Der weiterhin praktizierte, fortgesetzte Sozialabbau ist im übrigen gerade auch wirtschaftspolitisch das exakte Gegenteil von dem, was notwendig ist, nämlich expansionsfördernde Maßnahmen.Es ist grotesk, aber leider wahr: Diese Bundesregierung und diese Koalition schaffen es immer wieder, an den falschen Stellen und mit den falschen Maßnahmen anzusetzen. Ich hoffe nur, die Wähler und Wählerinnen geben ihnen in diesem Jahr die dafür fällige Quittung. Ansonsten, so ist zu befürchten, steht uns der völlige Ausverkauf des sozialen Systems und des Sozialstaats ins Haus.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen. Wir kommen zu mehreren Abstimmungen.Wir stimmen zunächst über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1994 auf den Drucksachen 12/6719 und 12/7244 Nr. 1 ab.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Lesung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen das übrige Haus angenommen.Wir kommen zurdritten Beratung und Schlußabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in dritter Lesung angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7245.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis im umgekehrten Sinne abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes auf Drucksache 12/6481. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/7244 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen.Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 12/6481 abstimmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimme des Abgeordneten Dr. Rudolf-Karl Krause bei Enthaltung des übrigen Hauses abgelehnt.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 12/7244 unter Nr. 3 zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 12/6572 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei drei Gegenstimmen und bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.Unter den Nrn. 4.1 und 4.2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/7244 empfiehlt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung die Annahme von Entschließungen.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei Stimmenthaltung eines großen Teils des Hauses angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 c: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Nichtberücksichtigung der Kirchensteuer auf der Drucksache 12/6104 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Gibt es dazu andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 d: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf der Drucksache 12/7199 — das ist der Bericht der Bundesregierung zu einer gemeinsamen Regelung für den Ausschluß von Unternehmen von der Vergabe öffent-
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Vizepräsident Helmuth Beckerlicher Aufträge bei illegaler Beschäftigung von Arbeitskräften — zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Ich höre und sehe, das ist nicht der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt. Ich möchte nun Tagesordnungspunkt 4 aufrufen:Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung; hier: Existenzgründungs- und Innovationsinitiative für den Mittelstand
— Drucksache 12/7173 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungFür die Beratung soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen werden. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Herrn Dr. Joachim Grünewald.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In sehr engem und unmittelbarem Sachzusammenhang mit dem soeben verabschiedeten Beschäftigungsförderungsgesetz legt die Bundesregierung Ihnen nun einen weiteren Bericht zur Umsetzung des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung vor. Es geht hierbei um die Verwirklichung der Existenzgründungs- und Innovationsinitiative für den Mittelstand, die, jedenfalls aus der Sicht der Bundesregierung, von ganz besonderer Bedeutung für die aktuelle wirtschaftspolitische Debatte um die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist.Zielsetzung ist die Stärkung der unternehmerischen Initiative, verbunden mit einer deutlichen Akzentsetzung für die Umsetzung neuer technologischer Verfahren und Dienstleistungen. Die neuen Maßnahmen ordnen sich ein in die Gesamtpolitik zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und ergänzen die bisherigen Maßnahmen, insbesondere die so gewichtigen Maßnahmen im steuerlichen Bereich.Der vorliegende gemeinsame Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft, des Bundesministeriums für Forschung und Technologie und des Bundesministeriums der Finanzen verwirklicht einen außerordentlich breiten wirtschaftspolitischen Ansatz.Erstens. Das bewährte Eigenkapitalhilfeprogramm wird für die Existenzgründer in den alten Bundesländern wieder zur Verfügung gestellt, allerdings unter Wahrung des deutlichen Fördervorsprungs für die neuen Bundesländer. In den alten Bundesländerngelten im wesentlichen wieder die Konditionen, die vor der Einstellung dieses Programms im Westen galten: Die Eigenkapitalhilfe wird für zwei Jahre zinsfrei gewährt; in den dann folgenden drei Jahren wird der Zinssatz auf 2 %, 3 % und schließlich 5 % verbilligt. Bei der Übernahme von bestehenden, bereits am Markt tätigen Unternehmen erfolgt — entsprechend der alten und bewährten Regelung — keine Subventionierung der Zinsen.Zweitens. Es wird eine Verbesserung der Fördermöglichkeiten des ERP-Programms vorgenommen, die vor allem eine verstärkte Förderung auch und insbesondere des industriellen Mittelstandes ermöglicht. Hierzu werden in den ERP-Mittelstands- und -Umweltprogrammen die Kredithöchstbeträge verdoppelt, und zwar auf 1 Million DM in den alten Bundesländern und auf 2 Millionen DM in den neuen Bundesländern. Das bedeutet naturgemäß auch eine Erhöhung des Finanzierungsanteils, da insbesondere die Finanzierung größerer Investitionen in der Vergangenheit vielfach durch den Kredithöchstbetrag begrenzt wurde. Außerdem wird in dem Mittelstandsprogramm in regionalen Fördergebieten der Kreis der antragsberechtigten Unternehmen auf Unternehmen mit einem Umsatz von bis zu 100 Millionen DM vergrößert. Bisher waren es nur bis zu 50 Millionen DM.Drittens. Das Darlehensprogramm zur Förderung der beruflichen Fortbildung soll auch dazu beitragen, junge Menschen auf dem Weg in die Selbständigkeit zu fördern, also ihren Mut, den sie damit beweisen, zu unterstützen. Gefördert werden Fortbildungsmaßnahmen im Bereich der gewerblichen Wirtschaft sowie der Land- und der Hauswirtschaft, die mit einer nach Handwerksordnung, Berufsbildungsgesetz oder Schulrecht der Länder anerkannten Prüfung abschließen.Hierzu wird ein Darlehensvolumen von 600 Millionen DM pro Jahr durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zinsverbilligt und durch Gewährleistung des Bundes abgesichert.Viertens. Als besonders wichtige wirtschafts- und technologiepolitische Akzentsetzung ist das KfW-Innovationsprogramm zu bewerten. Dieses Kreditprogramm dient der langfristigen Finanzierung marktnaher Forschung und der Entwicklung neuer Verfahren und Dienstleistungen. Besondere Förderschwerpunkte sollen dabei die mittelständische Wirtschaft sowie deren Zusammenarbeit mit den Forschungseinrichtungen darstellen. Die Förderung der Forschung und Entwicklung ist im Regelfall für Unternehmen mit einem Jahresumsatz bis 500 Millionen DM gedacht. Bei kleineren Unternehmen mit einem Jahresumsatz von bis zu 40 Millionen DM kann — das ist uns ganz besonders wichtig — auch die kommerzielle Umsetzung und Markteinführung gefördert werden. Die Kredite werden zu günstigen Zinsen ausgereicht. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau wird dabei — das ist abhängig von der Kapitalmarktentwicklung — aus heutiger Sicht die Zinsen etwa bei 4 % und 5 % festlegen. Gleichzeitig wird durch die Möglichkeit einer besonderen Haftungsfreistellung der jeweils durchleitenden Banken die Voraussetzung
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18960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewalddafür geschaffen, dem wirtschaftlichen Risiko von Innovationen Rechnung zu tragen.Diese Maßnahmen sind sehr gewichtige Signale und machen deutlich, daß die Sicherung des Standorts Deutschland vor allem eine Aufgabe ist, bei der die unternehmerische Initiative und die technologische Innovation im Vordergrund stehen. Es geht also nicht darum, neue Erhaltungssubventionen zu schaffen. Wir sind zuversichtlich und hoffen sehr, daß die Europäische Kommission zu diesen neuen Bestimmungen alsbald ihre Zustimmung erteilen wird.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollege Dr. Uwe Jens das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein halbes Jahr vor der Wahl entdeckt die Bundesregierung wieder den Mittelstand in den alten Bundesländern. Im Kern geht es dabei, wie ich meine, um die Verabreichung von Beruhigungspillen. Sie werden nicht bestreiten, daß Sie diese Hilfen, über die wir heute diskutieren — vor allem das Eigenkapitalhilfeprogramm —, vor kurzem abgeschafft haben. Das ist drei Jahre her. Dann wurde der Druck vor allem auch der Opposition so stark, daß Sie es wieder eingeführt haben. Dagegen haben wir im Grundsatz nichts. Die beste Mittelstandspolitik wäre eigentlich eine gute, gleichmäßige konjunkturelle Entwicklung mit niedrigen Zinsen und angemessenem Wirtschaftswachstum. Das wußte schon Karl Schiller. Aber die schwerste Krise in der Nachkriegszeit — Rexrodt —, die hoffentlich bald zu Ende geht, hat Zigtausende von vor allem kleinen Unternehmen in den Konkurs getrieben. Jetzt hofft die Bundesregierung auf den Aufschwung, um sich als Krisenbewältiger feiern zu lassen. Diese Rechnung wird jedoch nicht aufgehen.Ich werfe der Regierung in der Mittelstandspolitik zweierlei vor. Erstens. Sie kommen mit Ihren Maßnahmen zu spät. Sie reagieren nur, weil Wahlen vor der Tür stehen und Ihre Klientel unruhig geworden ist. Zweitens. Sie haben in der Vergangenheit zum Teil eine Politik getragen und Sie tragen jetzt zum Teil eine Politik, die gegen den Mittelstand gerichtet ist. Ich will das begründen.Zu eins. Es war schlichtweg falsch, die verschiedenen Mittelstandshilfen, die seinerzeit von der sozialliberalen Koalition eingeführt worden sind, in den alten Bundesländern zu streichen. Zunächst wurde 1991 das Eigenkapitalhilfeprogramm abgeschafft. Jetzt wird es wieder eingeführt. Das ist eine Politik der Wechselbäder, die kein Vertrauen schaffen kann.Zu zwei. Vor allem die Konzentration im Handel hat ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen. Wären unsere Vorschläge zur Novellierung des Kartellrechts verwirklicht worden, hätten wir bestimmte Mammutfusionen zwischen Metro und anderen besser bekämpfen können. Unter dieser Konzentration leiden jetzt viele mittelständische Industrielle, vor allem Zulieferer, und es leiden darunter vor allemviele zigtausend kleine und mittlere Unternehmen im Handel, die nicht leben und nicht sterben können.Jetzt will vor allem die F.D.P. — die CDU macht das mit — auch noch das Rabattgesetz abschaffen. Wir werden noch ein Anhörverfahren zu diesem Thema haben. Ich behaupte, dadurch wird ein Stückchen an Preiswahrheit, die wir in diesem Lande bisher hatten, verlorengehen.
Dadurch wird vor allem auch wiederum die Konzentration im Handel, die sowieso schon ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat, erneut ansteigen. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung. Das können wir Ihnen auch beweisen, wenn Sie bereit sind, noch zuzuhören, Herr Grünewald. Das können wir Ihnen auch beweisen. Kommen Sie bitte zu diesem Anhörverfahren hin.Insofern ist das eine mittelstandsfeindliche Politik, die von dieser Regierung betrieben wird.
Der amtierende Wirtschaftsminister will, wie er manchmal so großspurig sagt, auch die Privatisierung der Sparkassen voranbringen, obgleich er dafür überhaupt keine Kompetenz hat. Das ist eine kommunale Angelegenheit. Aber er tönt in der Öffentlichkeit laut. Bundeskanzler Kohl ist Gott sei Dank dagegen, so habe ich vor kurzem gelesen. Vielleicht kann er ja einmal seinen Wirtschaftsminister in die richtigen Bahnen lenken. Das wäre sicherlich ganz vernünftig.Ich will nur sagen: Wenn wir auch noch die Privatisierung der Sparkassen bekämen, würden darunter mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder die kleinen und mittleren Unternehmen zu leiden haben. Das wäre eine völlig falsche Entwicklung.Ich sage Ihnen, das größte Problem des Mittelstandes ist noch immer die Kapitalbeschaffung. Wenn wir dieses Problem verringern wollen, dann brauchen wir generell niedrigere Zinsen. Vor allem ist es notwendig und richtig, wenn wir dafür sorgen, daß arbeitsplatzschaffende investierte Gewinne niedriger besteuert werden als konsumierte. Deshalb war es auch richtig, daß wir Sozialdemokraten im Rahmen des Standortsicherungsgesetzes dafür gesorgt haben, daß die Abschreibungserleichterungen der deutschen Wirtschaft nicht verschlechtert worden sind.
— Ja, Sie wollten es doch tun, das werden Sie doch nicht bestreiten. Wir haben doch dafür gekämpft, daß dieses kleine Privileg der Wirtschaft erhalten bleibt. Diese Bundesregierung hatte jedoch etwas anderes geplant gehabt. Das war eine völlige Fehlplanung, wie wir heute genau wissen.Besonders wichtig ist im übrigen für den Mittelstand, daß die Lohnnebenkosten nicht weiter steigen. Diese sind von dieser Bundesregierung leider in schwindelnde Höhen getrieben worden. Deshalb muß der kriminelle Griff der Regierung in die Renten- und Arbeitslosenkassen zur Finanzierung der Lasten in
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Dr. Uwe Jensden neuen Bundesländern schnellstens beendet werden.
Ich bin zutiefst davon überzeugt: Zur Senkung der Lohnnebenkosten benötigen wir auch eine ökologische Steuerreform. Der Faktor Umwelt muß vorsichtig verteuert und der Faktor Arbeit möglichst schnell dringend verbilligt werden. Auch das wäre eine wirksame Hilfe gerade für kleine und mittlere Unternehmen, auf die es uns ankommt, meine Damen und Herren.Diese Bundesregierung erweist sich wirklich als äußerst flexibel, insbesondere da es jetzt um den Erhalt der politischen Macht geht. Am 18. Februar hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion eine Mittelstandsoffensive gefordert. Darin war vorgeschlagen worden ein Investitionskreditprogramm für innovative Unternehmen mit einem Volumen von mehreren Milliarden D-Mark.Gut einen Monat später verkünden Finanzminister Waigel und Wirtschaftsminister Rexrodt das Innovationsprogramm, wie wir es gefordert haben. Es wäre zweifellos schön, wenn die Bundesregierung immer so schnell das tut, was die Opposition will. In diesem Fall hat es wirklich hervorragend funktioniert. Sie könnten, wenn Sie fair sind, vielleicht auch einmal zugeben, daß Sie hier die Vorschläge der Opposition aufgegriffen haben.Auch in den neuen Bundesländern hat es aus meiner Sicht keinen Zweck, die Situation schönzureden, wie es Wirtschaftsminister Rexrodt versucht. Die positive Entwicklung im ostdeutschen Mittelstand konzentriert sich auf Handwerk, Handel und Dienstleistungen. Der industrielle Sektor kämpft nach wie vor um sein Überleben. Um hier eine Besserung herbeizuführen, wäre es notwendig, die wirtschaftliche Förderung auf das eigene Potential zu konzentrieren und nicht die Ansiedlung aus dem Westen laufend zu forcieren. Wer wirklich etwas für die Entwicklung in den neuen Bundesländern im industriellen Bereich tun will, muß die tatsächlichen Engpässe beseitigen. Das heißt: Qualifizierung von Management und Belegschaft, verstärkte Unterstützung der Absatzförderung, Bereitstellung von Eigenkapital und eigenkapitalähnlichen Krediten zur Modernisierung der vorhandenen Unternehmen und Aufbau der Industrieforschung mit der dazugehörigen Forschungslandschaft. Diese Dinge müssen dringend angepackt werden. Und das werden wir, wenn wir die Regierungsverantwortung im Herbst übernehmen, auch tun, meine Damen und Herren.
Die Großunternehmen sind aus meiner Sicht — leider, füge ich hinzu — allzuoft keine nationalen Unternehmen mehr. Sie produzieren dort, wo die Löhne und wo die Steuern am niedrigsten sind. Sie beschaffen sich ihr Kapital, wo es am billigsten ist, irgendwo auf diesem Globus.Wir müssen in der Tat, um den Strukturwandel zu bewältigen, verstärkt auf die kleinen und mittlerenUnternehmen setzen. Davon sind wir Sozialdemokraten zutiefst überzeugt.
Es waren Sozialdemokraten, die 1967 die ersten Grundsätze einer Strukturpolitik für kleine und mittlere Unternehmen erarbeitet haben. Auf deren Grundlage wurden wichtige Initiativen verwirklicht. Ich darf als einige wichtige Beispiele nennen: die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige, die Kartellnovellen von 1973 und 1980, die gerade kleinen und mittleren Unternehmen Entlastung gebracht haben, die Heraufsetzung der Freibeträge bei der Gewerbesteuer, Lohnkostenzuschüsse für Forschung und Entwicklung.Gerade die Lohnkostenzuschüsse haben die Innovationskraft der kleinen und mittleren Unternehmen gestärkt. Sie haben auch dafür gesorgt, daß Ingenieure, Physiker, Chemiker, junge Wissenschaftler seinerzeit ohne Probleme einen Arbeitsplatz gefunden haben. Diese Personalkostenzuschüsse waren von außerordentlicher Bedeutung. Wir würden sie bei einem Regierungswechsel wieder einführen — eine besonders dringende Maßnahme, um gerade jungen Wissenschaftlern eine erneute Chance am Arbeitsmarkt zu geben.Ich erinnere zum Schluß an den Wiesbadener Parteitag der Sozialdemokraten, auf dem wir besonders der kleinen und mittleren Unternehmen gedacht haben. Danach müssen wir erstens den Vermachtungstendenzen im Handel besser entgegenwirken. — Ich habe versucht, das darzulegen. — Wir müssen zweitens die kleinen und mittleren Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge stärker als bisher begünstigen. Es geht drittens um die Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen, die verbessert werden muß. — Auch das hatten wir schon einmal, und das haben Sie abgeschafft. Auch das sollten Sie wieder einführen, Herr Grünewald. — Es geht viertens darum, kleinen und mittleren Unternehmen mehr Risikokapital zur Verfügung zu stellen. Und fünftens geht es darum, auch jungen Unternehmen den Zugang zur Börse zu erleichtern.Wir sind zutiefst davon überzeugt: Eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik muß sich gerade auch der kleinen und mittleren Unternehmen im Handel, im Handwerk, in der Industrie und den Dienstleistungen annehmen. Gerade beim Ausbau der Dienstleistungen wären noch viele Arbeitsplätze zu schaffen. Die heute von der Bundesregierung vorgestellten Maßnahmen sind entweder von den Sozialdemokraten abgekupfert oder völlig unzureichend.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Hansjürgen Doss.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin jetzt seit rund drei Stunden hier im Plenum, und ich möchte mich bei Professor Uwe Jens
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18962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Hansjörgen Dossfür seinen argumentativen Beitrag bedanken. Er hebt sich wohltuend von den Beiträgen der Sozialdemokraten davor ab, die ich als ausschließlich polemisch empfunden habe. Der Wettbewerb um die guten Ideen — das ist der richtige politische Stil.Die vielen Jahre des Zusammenseins im Wirtschaftsausschuß haben offensichtlich ihre Wirkung getan. Nicht alles, was er gesagt hat, war falsch. Das gibt doch Hoffnung. Wenn das in der SPD auch noch mehrheitsfähig wäre, wäre das alles nicht mehr ganz so schlimm. Also, vielen Dank für das Vortragen von Argumenten. Das halte ich für eine wichtige Sache.Meine Damen, meine Herren, wir brauchen ein paar Millionen neue Arbeitsplätze in Deutschland. Darüber sind wir uns einig. Wir wissen, daß sie nur durch die Wirtschaft entstehen können und daß der Staat hierbei helfen kann — nein, er muß helfen.Der Großteil der Arbeitsplätze in Deutschland, nämlich zwei Drittel, befindet sich in mittelständischen Betrieben. Diese mittelständischen Betriebe halten im Regelfall die Arbeitsplätze wesentlich länger als andere Wirtschaftsbereiche. Die Großindustrie baut Arbeitsplätze viel schneller ab als der Mittelstand.
Es ist deswegen konsequent und logisch, daß man für die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen bei der Förderung des Mittelstands ansetzen muß. Neben den allgemeinen Rahmenbedingungen, die das selbständige Wirtschaften attraktiv machen, geht es um die Frage von konkreten Hilfen: Wie mache ich mich selbständig? — Allein die gute Idee reicht ja nicht. — Woher kann ich Eigenkapital bekommen? — Ich habe auch einmal vor dieser Situation gestanden; ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich rede. — Wie überbrücke ich die ersten schwierigen Jahre?Auf diesem Feld hat die Regierung Helmut Kohl von Anfang an eine konsequente Förderungspolitik betrieben. Eine unserer ersten Maßnahmen bestand darin, 1982/83 die Konditionen für das Eigenkapitalhilfeprogramm deutlich zu verbessern. Durch das Eigenkapitalhilfeprogramm wurden im Laufe der 80er Jahre rund 100 000 Existenzgründer gefördert. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir und die Opposition geworben haben, dieses Programm wieder aufzulegen.Jeder Existenzgründer hat — das ist das beste Programm, das es gibt — nach einer Konsolidierungsphase von drei bis vier Jahren im Durchschnitt fünf Arbeitsplätze geschaffen.Mit der Steuerreform 1986/88/90 haben wir den sogenannten Mittelstandsbauch abgeschafft. Durch das Steueränderungsgesetz 1992 haben wir Erleichterungen bei der Gewerbesteuer eingeführt. Durch das Standortsicherungsgesetz wurden die Körperschaft- und die Einkommensteuer gesenkt. Es erfolgte eine verbesserte Behandlung der Altervorsorge für Selbständige. Das war eines unserer zentralen und lange vorgetragenen Anliegen. Darüber redet heute kein Mensch mehr. Das sind alles Leistungen, die in der letzten Zeit Platz gegriffen haben.Mit dem Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung wird diese Politik fortgeführt.Kernstück des Aktionsprogramms ist die Existenzgründungs- und Innovationsinitiative für den Mittelstand, über die wir zur Stunde debattieren: Wiedereinführung der Eigenkapitalhilfe in Westdeutschland, Investitionskreditprogramm bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Verdoppelung der Höchstbeträge bei den ERP-Mittelstands- und Umweltprogrammen, Darlehnsprogramm zur Förderung von Meisterkursen und anderen Bildungsmaßnahmen.
Ich weiß wirklich nicht, wie man auf die Idee kommen kann, wir täten nichts für den Mittelstand. Die Tatsachen sprechen eine ganz andere Sprache.
Auch in den neuen Bundesländern greift es. Dafür sprechen die Zahlen.
In den neuen Bundesländern gab es Ende Oktober vergangenen Jahres 435 000 Selbständige; in der Zwischenzeit sind es ein paar mehr. Das sind 375 000 mehr als vor der Wiedervereinigung. Diese Selbständigen beschäftigen rund 3 Millionen Menschen. Die Entwicklung gibt uns also recht.
— Hören Sie doch auf mit Ihrer Miesmacherei! Außer Sozialismus im neuen Gewande haben Sie hier doch nichts zu bieten.
Allerdings heißt das nicht, daß wir am Ende aller notwendigen Reformen angekommen sind. Ich behaupte: Wir sind mittendrin. Jeder Schritt weiter muß bedeuten: die Bürokratie abbauen, ein wirtschaftsfreundliches Klima schaffen, die Steuern- und Abgabenlast wieder senken. Letzterer Vorsatz ist vor dem Hintergrund des unglaublichen Kapitalbedarfs, den wir haben, natürlich nur sehr schwer zu realisieren.Arbeit haben wir genug, meine Damen und Herren, nur keine bezahlbaren Arbeitsplätze. Das ist das Problem.
Arbeitsplätze schaffen wir nicht durch Appelle und Geschwätz, sondern wir schaffen sie dann, wenn ein Unternehmer den Mut hat und die Verantwortung übernimmt, einen Arbeitsplatz zu schaffen. Im Gegensatz zu den Trockenschwimmern, die man ununterbrochen hört, weiß ich, wovon ich rede. Man überlegt sich sehr, ob man die Verantwortung übernehmen kann, jemanden einzustellen.
— Selbstverständlich.Deswegen ist es für mich so erstaunlich, daß ich im Regierungsprogramm Ihres Kanzlerkandidaten, meine verehrten Kollegen von der SPD, lese: Die Wirtschaftspolitik reduziert sich auf höhere Steuern,
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Hansjörgen Dosshöhere Abgaben und mehr Umverteilung. — Das ist ein Selbständigkeitsverhinderungsprogramm, das Sie hier haben.Noch schlimmer ist die Vorstellung einer rot-grünen Anti-Unternehmer-Allianz.All diese Belastungen würden biologisch-dynamisch geradezu potenziert, meine Damen und Herren.Also in einem Punkt sind Sie „echte" Konservative — ich entschuldige mich bei allen echten Konservativen —, nämlich in Ihrem traditionellen Feindbild — da sind Sie sich selbst treu geblieben — hinsichtlich der Besserverdiener. Ihr Kandidat hat es bei der Vorstellung seines Programms deutlich gesagt, und auch „Focus" schreibt diese Woche: Bei der Jagd auf den Besserverdiener ist jeder ab 5 000 DM brutto im Visier der SPD. — Erklären Sie mal, wie Sie mit einer solchen Stimmung, mit einem solchen Klima Menschen ermutigen wollen, daß sie sich selbständig machen.
Ich will Ihnen folgendes Szenario anbieten: Der fleißige Handwerksgeselle geht zur Meisterschule. Mit seiner Familie geht er volles Risiko ein. Er nimmt einen Kredit auf; er investiert sein ganzes Geld und sein ganzes Können, seine Phantasie und seine Arbeit, und vor allen Dingen investiert er Arbeit. Er hat nicht eine 35-Stunden-Woche, sondern eine 70-StundenWoche. Und endlich floriert der Betrieb. Er stellt Arbeitskräfte ein; das wollen wir ja. Mittlerweile hat er unser Existenzgründungsprogramm bekommen, und er kommt langsam in die Phase, in der er ein ordentliches Einkommen bekommt.Damit beginnt die Mutation. Aus dem ehemalig sympathischen Gesellen, dem Kleinverdiener und Meister, wird ein kleinkapitalistischer Besserverdiener, der natürlich aus Gerechtigkeitsgründen von einer SPD-Regierung — käme es denn dazu — das Fell über die Ohren gezogen bekommen muß. Also, meine Damen und Herren, das kann doch nicht der Weg sein, mit dem wir Menschen ermutigen wollen, daß sie sich selbständig machen und Arbeitsplätze schaffen.
Also, es tut mir leid, schon allein wegen dieser Leute und wegen der Wirtschaft müssen wir wohl die Wahlen gewinnen. Meine Damen und Herren, es gilt, sich anzustrengen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, als nächster hat unser Kollege Josef Grünbeck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Hier steht also ein mittelständischer Unternehmer, der nach den Aussagen von Uwe Jens von dieser Bundesregierung ausgebeutet und ausgelaugt wurde. Ich schaue nicht so aus, und ich bin auch nicht so.Ich warne davor — ich habe heute früh schon die ganze Debatte um das Arbeitsförderungsgesetzerlebt —, daß wir die Polemik, die billigste Polemik in dieser schwierigen Situation, in der wir uns sicher befinden, zu populistischen Attacken ausnutzen und fortsetzen.Wenn Sie z. B. das Rabattgesetz aufführen: Lieber Herr Jens, da würde ich Sie wirklich einmal bitten festzustellen, daß es kein Land in Europa gibt, in dem es ein solches Rabattgesetz überhaupt gibt, und daß es kein Land in Europa gibt, in dem die Rendite des Einzelhandels so niedrig ist wie bei uns. Sie haben das Ding genau umgedreht. Die Volksverhetzer gegen das Rabattgesetz sind die großen Kaufhäuser, die sich vom Personal her gesehen die Auswertung dieses Rabattgesetzes gar nicht leisten können, und die Profitler davon werden die kleinen und mittleren Einzelhandelsbetriebe sein.
— Da können Sie noch eine Weile weiterstänkern, das wird niemanden stören. Wenn wir das Rabattgesetz verabschieden werden, müssen Sie Farbe bekennen.Ich sage Ihnen auch, was irritiert. Sie meinen, diese Bundesregierung hätte irritiert. Irritiert hat Ihr Kanzlerkandidat allein in den letzten drei Wochen durch finanz- und wirtschaftspolitische Aussagen, die niemand mehr begriffen hat und die mich immer wieder — das wiederhole ich noch einmal — an den achtjährigen Buben erinnern, der abends sein Gebet spricht und sagt: Lieber Gott, laß morgen Paris die Hauptstadt von England werden, sonst stimmen übermorgen meine Schularbeiten nicht mehr. — So kann man wirklich nicht Wirtschafts- und Mittelstandspolitik betreiben.Ich warne auch davor, daß Sie die SPD-Mittelstandspolitik gar so loben, denn ich habe die Erfahrungen gemacht, daß zwei Millionen mittelständische Betriebe immer wieder mit demselben Lied kommen: Erst gehen sie in eine Stadt, in der es eine SPD-Regierung gibt, und wenn sie dann dort sind, erhöht diese die Gewerbesteuern, die Abgaben und alle anderen Steuern und sagt: Wir sind froh, daß wir euch als Melkkühe da haben. — Das ist eine Politik, die kann man nicht für gut halten.Das, was die Bundesregierung jetzt eingebracht hat, ist richtig. Ich würde nach der heutigen Debatte meine Ausführungen gerne damit überschreiben, daß man den Arbeitsmarkt nun wirklich nicht mehr verwalten kann, sondern daß man ihn gestalten muß.Wir haben viele Möglichkeiten geschaffen, und diese Bundesregierung hat mit diesem Gesetzentwurf zur Existenzgründung die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, daß die Einführung einer kapitalstärkeren mittelständischen Struktur möglich ist, damit die mittelständischen Betriebe den Anpassungsprozeß bewältigen können. Wir sind froh, daß wir uns darüber einig sind, die Einführung der kleinen Aktiengesellschaft auch für den gewerblichen und industriellen Mittelstand ermöglichen zu wollen. Damit wird die Kapitaldecke sicher breiter werden.
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18964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Josef Grünbeck— Also Stimmungsmache, lieber Herr Kollege: Entweder haben Sie die letzten zwei Jahre geschlafen, oder aber Sie machen jetzt nur noch Polemik; denn wir haben seit zwei Jahren das kleine Aktiengesetz in der Debatte. Da können Sie jetzt nicht von Stimmungsmache vor der Wahl reden. Das würde ich nicht zulassen.
Herr Kollege Grünbeck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?
Ja, gerne.
Bitte, Kollege Urbaniak.
Herr Kollege Grünbeck, es geht hier nicht um Polemik. Ich habe einen sachlichen Zwischenruf gemacht und frage Sie: Wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die kleine Aktiengesellschaft mitbestimmungsfrei machen? Das heißt, die Arbeitnehmer, die jetzt eine Drittelbeteiligung haben, würden von der Unternehmensmitbestimmung ausgeschlossen. Wollen Sie dieses Kapital der Arbeitnehmer, das sie auf Grund ihrer Erfahrung und Qualifikation einbringen, demontieren?
Darf ich die Bitte an Sie richten, mir die Antwort bis zum Schluß meiner Ausführungen zu schenken? Die kommt nämlich noch. Lassen Sie mich das dann sagen.
Das Innovationsprogramm der Bundesregierung ist richtig angesetzt. Ich hätte die große Bitte, daß wir die Subventionen für Innovationen in Zukunft wirklich einzig und allein danach ausrichten, ob sie Arbeitsplätze bringen oder nicht. Wenn sie Märkte bringen, wenn sie durch neue Produkte neue Märkte schaffen, dann wird es auch neue Arbeitsplätze geben, oder es werden bestehende Arbeitsplätze gesichert.
Auch der Ansatz zur beruflichen Bildung ist richtig.
Nun lassen Sie mich zur letzten Frage kommen, Herr Kollege. Wir müssen die Eigenverantwortung stärken und die kollektive Verantwortung zurückdrängen. Darüber sind wir uns einig. Unsere junge Generation braucht Perspektiven durch Chancen, und die haben wir, glaube ich, mit diesem Programm verstärkt.
Ich sage Ihnen auch ein Wort zur Mitbestimmung beim kleinen Aktiengesetz. Ich praktiziere sie selber seit 28 Jahren in meinem eigenen Unternehmen. Ich wollte, daß es mehr Mitbestimmung gäbe. Nur, eines dürfen Sie nicht vergessen: Die Mitbestimmung kann nicht von der Mitverantwortung abgekoppelt werden, und die Reihenfolge muß lauten: Mitbestimmung — Mitverantwortung — Mitverdienen. Das ist der Weg zum sozialen Frieden, nicht zum sozialen Unfrieden, wie das manche Leute gerne herbeireden wollen, um Stimmung zu machen. Ich sage das, weil Sie das Wort „Stimmung" eingebracht haben. Der Weg zum sozialen Frieden ist keine Einbahnstraße. Der Weg zum sozialen Frieden kann nur der Weg des gemeinsamen Miteinanders sein.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr unserer Frau Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn etwas der Innovation bedarf, dann ist es dieses sogenannte Aktionsprogramm. Da hilft keine Runderneuerung, kein Recycling, und da helfen nicht die schönsten Worte, die hier ausgesprochen wurden.Das Aktionsprogramm umfaßt — die Überschrift nicht mitgerechnet — gerade mal eine Seite. Es gibt keine einzige Angabe darüber, wie die Lage im Mittelstand tatsächlich ist und wie sie mit einzelnen Maßnahmen — oder besser gesagt: Überschriften — konkret verbessert werden soll. Es gibt keine konkreten Angaben, wann mit der Realisierung der Einzelmaßnahmen begonnen wird und wie die Absichtserklärungen in Kraft gesetzt werden sollen.Die ernüchternde Wirklichkeit sieht doch anders aus. Die kleinen und mittleren Unternehmen mit ihren unbestrittenen Potentialen für die Ausweitung der Beschäftigung und damit für die Eindämmung der Massenarbeitslosigkeit werden durch die Politik dieser Bundesregierung massiv behindert.Die angekündigte Abschaffung des Ladenschlußgesetzes und die geplante Aufhebung des Rabattgesetzes schaden gerade dem Bereich des Mittelstandes. In den neuen Ländern werden die kleinen und mittleren Unternehmen nicht nur neu geschaffen, wie Sie hier darzustellen versuchen, sondern massiv in ihrer Existenz bedroht und auch vernichtet.Ich nenne hier nur einige Punkte: die Genehmigungspraxis der Ansiedlung von Großbetrieben, die Regelung der Eigentumsfragen zugunsten der Alteigentümer ohne Rücksichtnahme auf drohende Arbeitsplatzvernichtung, die ungenügende Ausstattung der Amtsgerichte — Unternehmen müssen auf Eintragung in die Handelsregister bis zu neun Monate warten —, steigende Gewerbemieten. Die fatale Privatisierungspraxis der Treuhand, insbesondere die Vernichtung der Industrie, versetzt dem Mittelstand oftmals den letzten Schlag. Bundesweit leidet der Mittelstand unter der von der Bundesregierung tolerierten Benachteiligung durch die Banken, denn Zinssenkungen werden nicht weitergegeben. Häufig müssen Strafzinsen für ein angeblich erhöhtes Risiko gezahlt werden. An der Höhe des Investitionsvolumens ausgerichtete Unternehmensförderung, die eindeutig der Arbeitsplatzvernichtung dient und den größten Teil der Investitionsförderung den Großunternehmen zukommen läßt, schadet den Klein- und Mittelbetrieben.Für völlig abwegig halte ich die Begründung des Eigenkapitalhilfeprogramms für die alten Länder durch Hinweis auf einen — ich zitiere — „deutlichen Fördervorsprung für die neuen Länder". Die ungenügende Eigenkapitalausstattung der Betriebe in den neuen Ländern bietet eine — so muß man schon sagen — makabre Basis für diesen Vergleich.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18965
Dr. Barbara HöllEine Befragung Leipziger Unternehmer ergab, daß ein großer Teil der Unternehmen, insbesondere der kleinen und mittleren, vor allem des Handwerks, derzeit noch eine völlig ungesicherte Perspektive hat. Das gilt sowohl hinsichtlich der gegenwärtigen Standortbedingungen, also z. B. hinsichtlich der Eigentumsfragen, als auch in Hinsicht auf die betriebswirtschaftliche Stabilität. Es fehlen Mittel für Investitionen. Die Abzahlung von Schulden wird schwer möglich. Es ist gerade deshalb, trotz einer guten Auftragslage, im Baugewerbe in Leipzig z. B. oftmals nicht möglich, Zahlungsrückstände zu überbrücken, weil das Eigenkapital fehlt und weil die Banken nicht bereit sind, zu vernünftigen Bedingungen zu kreditieren. Pleiten sind vorauskalkuliert. So gab es in Leipzig 1992 7 432 Gewerbeanmeldungen — schön —, aber auch 4 470 Abmeldungen, 1993 6 739 An-, aber 4 845 Abmeldungen. Es fehlt eine vernünftige Steuer- und Kreditpolitik. Selbst der Präsident des Unternehmensverbandes Sachsen hat kritisiert, daß diese nicht an den Wertschöpfungsprozeß gebunden ist.Zum Investitionskreditprogramm vermissen wir konkrete Angaben. Wenn der Forschungsminister im „Handelsblatt" zitiert wird, daß die Forschungsförderung weder effizient noch praktikabel sei, dann frage ich mich, wie Sie das mit der allgemeinen Floskel, daß eine Änderung erfolgt, in dem Aktionsprogramm sicherstellen wollen. Wir sind dafür, die Sozialleistungen beizubehalten, wieder auszubauen; anderenfalls führt das zu Kaufkraftminderungen. Wir sind dafür, daß die Amtsgerichte, Grundbuch-, Kataster- und Vermessungsämter so ausgerüstet werden, daß sie ihrer Aufgabe gerecht werden können. — Dazu gibt es einen Antrag von uns. — Wir sind für eine Investitionsförderung, die tatsächlich an Arbeitsplatzschaffung gebunden ist. Und wir sind dafür, daß die offenen Vermögensfragen endlich geregelt werden.In diesem Sinne gäbe es viel zu tun. Das jetzige Aktionsprogramm leistet dazu überhaupt keine Hilfe.Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe jetzt zwei Wortmeldungen gemäß § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung.
Zuerst hat unser Kollege Ernst Hinsken das Wort zu einer Kurzintervention.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich darüber, daß alle Fraktionen heute festgestellt haben, darüber glücklich zu sein, daß dieses Existenz- und Eigenkapitalhilfeprogramm auch in den alten Bundesländern wieder eingeführt wird. Aber ich möchte die Möglichkeit dieser Debatte nutzen, darauf zu verweisen, daß es doch nicht richtig sein kann, daß jemand, der einen Betrieb neu gründet, diese Programme in Anspruch nehmen kann, derjenige aber, der einen Betrieb übernimmt, nichts bekommen soll. Ich verweise darauf, daß sich gar mancher Betrieb, der von den kranken Eltern übernommen werden muß, oft in einem maroden Zustand befindet. Dann ist es oftmals viel schwieriger, diesen Betrieb wieder neu
aufzubauen, nach oben zu päppeln, als einen neuen Betrieb aus dem Nichts heraus zu schaffen. Deshalb wäre es überlegenswert, auch darüber nachzudenken, inwieweit Betriebsübernehmer hier Berücksichtigung finden können.
Eine zweite Bemerkung: Wenn ein junger Unternehmer sich selbständig macht und zunächst das Darlehen in Anspruch genommen hat, das die Bundesregierung Gott sei Dank jetzt in Aussicht stellt, wonach bis zu 30 000 DM in Anspruch genommen werden können, um in Sachen beruflicher Fortbildung weiterzukommen, dann wäre es sinn- und zweckvoll, auch hier einen gleichen Bonus zu geben, wie er den Studenten zur Verfügung gestellt wird, wenn sie versuchen, ihr Studium zu beschleunigen. Auch hier gibt es einen saftigen Bonus, 10 %, 20 % oder sogar noch etwas mehr.
Deshalb bitte ich die Bundesregierung, darüber nachzudenken, inwieweit gerade ein junger Selbständiger, der zunächst diese Prüfungen machen mußte und nun den Weg in die Selbständigkeit geht, einen Bonus bei dem Darlehen bekommt, das er für die berufliche Fortbildung in Anspruch genommen hat — nämlich 30 000 DM —, und zwar pro neugeschaffenen Arbeitsplatz vielleicht 3 000 DM, wenn dieser Arbeitsplatz mindestens zwei Jahre vorgehalten wird; zunächst also 3 000 DM, beim zweiten Arbeitsplatz 6 000 DM, beim dritten Arbeitsplatz 9 000 DM usw.
Das würde sich meiner Meinung nach rechnen. Wenn schon darauf verwiesen wird, daß so viele Neugründungen wünschenswert sind, wäre es auch sinn- und zweckvoll, diesen Bonus ins Auge zu fassen und die beruflich Tätigen gegenüber den Studenten nicht zu benachteiligen.
Herzlichen Dank, Herr Präsident, daß ich das sagen durfte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf nun auf der Ehrentribüne den Herrn Vorsitzenden des Ministerrates der Republik Polen, Herrn Waldemar Pawlak, mit seiner Delegation begrüßen.
Herr Ministerpräsident, ich darf Sie und Ihre Begleitung im Namen des ganzen Hauses von dieser Stelle aus noch einmal ganz herzlich willkommen heißen. Sie haben in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen bereits Gespräche mit dem Herrn Bundeskanzler und Mitgliedern der Bundesregierung geführt. Sie werden weitere Gespräche mit dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion und anderen führen. Sie werden heute abend mit Wirtschaftsvertretern reden und morgen einen Besuch im Land Baden-Württemberg machen.Wir wünschen Ihnen fruchtbare Gespräche hier in Bonn und morgen in Stuttgart, die zur weiteren Vertiefung der guten Beziehungen zwischen Deutschland und Polen beitragen mögen. Noch einmal herzlich willkommen!
Zu einer weiteren Kurzintervention hat jetzt das Wort der Kollege Urbaniak.
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18966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grünbeck, ich habe einen parlamentskonformen Zwischenruf und keine Stimmung gemacht. Sie haben das höchstwahrscheinlich im Eifer Ihrer Darlegung nicht richtig aufgenommen.
Nun aber zum Problem. Es geht darum, daß die kleine Aktiengesellschaft aus Gründen wirtschaftlicher Flexibilität von Ihrer Seite geschaffen werden soll. Ich habe nichts dagegen. Das können Sie machen. Meinetwegen können Sie auch das Aktienbereinigungsgesetz machen.
Aber Sie können das doch nicht mitbestimmungsfrei machen! Sie können doch nicht einen Konsens, der seit 1945 zur deutschen demokratischen Kultur, zum Verständnis zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern gehört, beseitigen und wollen, daß — wie gerade in der letzten Zeit — die Arbeitnehmerinitiativen, deren Vorschläge und Überlegungen zur Unterstützung der Betriebe aus den Aufsichtsräten ausgeschaltet werden. Sie bringen doch die Belegschaften und auch die Vorstände in eine ganz scheußliche Situation. Man kann doch sonst das Element der Erfahrung aus den Betrieben überhaupt nicht mehr in die Beratungen hineingeben. Das kann man nicht machen.
Darum sage ich: Wir werden als Sozialdemokraten dagegen kämpfen, daß Sie die bisher praktizierte Mitbestimmung eliminieren wollen, und zwar sofort bei der kleinen Aktiengesellschaft, die neu geschaffen wird und nach fünf Jahren bei den kleinen Gesellschaften, die dann in diese Rechtsform hineingewachsen sein werden. Und Sie wollen die 76er Mitbestimmung mit dem Aktienrechtsbereinigungsgesetz in die betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung überführen. Dies bedeutet Demontage der Mitbestimmung.
Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Wenn Sie das betreiben, werden Sie auf den großen Widerstand der Belegschaften stoßen. Wir sind nicht daran interessiert, daß es Unfrieden gibt, sondern wir sind an vernünftiger Zusammenarbeit zur Bewältigung der schwierigen Fragen interessiert, und dazu ist die Mitbestimmung der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten unbedingt notwendig.
Zur Erwiderung erteile ich dem Abgeordneten Josef Grünbeck das Wort.
Lieber Herr Kollege, demontieren kann ich nur etwas, was es gibt. Die kleine Aktiengesellschaft mit Mitbestimmungsrechten gibt es nicht, also kann ich sie auch nicht demontieren. Da betreiben Sie jetzt wieder eine unsachliche Information, die mit den Tatsachen überhaupt nichts zu tun hat. Wenn ich heute ein Unternehmen mit 300 Mitarbeitern habe und dieses Unternehmen als GmbH führe, dann habe ich keine Mitbestimmung, sondern dann habe ich einen Betriebsrat, der mit mir
gemeinsam das Betriebsverfassungsrecht praktiziert.
— Aber natürlich! Wissen Sie, das ist ja das Schlimme, daß man hier immer wieder Polemik macht, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun hat. Also, das muß Ihnen doch sprachlich über die Zunge gehen, daß es die kleine Aktiengesellschaft mit Mitbestimmung nicht gibt. Also kann ich sie auch nicht demontieren. Insoweit war Ihr Beitrag falsch.
Herr Abgeordneter Urbaniak, ich kann geschäftsordnungsmäßig Ihren Wunsch, darauf wiederum zu erwidern, leider nicht zulassen.
— Das mag Ihre Meinung sein, ändert aber an der Geschäftsordnungslage nichts.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kleine und mittlere Unternehmen und Existenzgründer sind — das hat auch die Debatte heute morgen wieder in Erinnerung gerufen — der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Zur Bewältigung unserer Probleme auf dem Arbeitsmarkt, zur Stärkung unserer Exportkraft, zur raschen wirtschaftlichen Nutzung innovativer Produkte und Produktionsverfahren kommt es jetzt vor allem darauf an, noch stärker als bisher auf die Dynamik und auf die Flexibilität des Mittelstandes zu setzen.Die gesamte Politik zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland muß konsequent auch und gerade an den Belangen der kleinen und mittleren Unternehmen ausgerichtet werden. Nur so können neue zukunftssichere Arbeitsplätze geschaffen werden.Daß vor allem Kleinbetriebe mit bis zu 20 Beschäftigten die Hoffnungsträger des Arbeitsmarktes sind, zeigen übrigens deutlich die jüngst veröffentlichten Ergebnisse einer vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Sommer 1993 durchgeführten Befragung. Danach sind es in den alten Bundesländern ausschließlich die Unternehmen dieser Größenklasse, die trotz Rezession im Zeitraum 1992 bis 1994 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen werden.Ganz besonders deutlich wird der positive Beitrag der mittelständischen Unternehmen in den neuen Bundesländern. Kollege Doss hat die Zahlen genannt. 440 000 Selbständige in den neuen Ländern beschäftigen mittlerweile rund 3 Millionen Arbeitnehmer. Ganz ehrlich: Wer von uns hätte vor vier Jahren geglaubt, daß es innerhalb so kurzer Zeit gelingen würde, selbständige wirtschaftliche Aktivität in den
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18967
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbneuen Bundesländern in diesem Ausmaß zu entwikkeln?
Die Leistungsbereitschaft der Selbständigen sowie der in diesem Unternehmen arbeitenden Beschäftigten ist beispielhaft. Selbst in dem schwierigen Bereich der Privatisierung in Form von Management-Buy-Out haben sich überraschend positive Entwicklungen ergeben.Ich will aber noch einmal auf einen Zusammenhang hinweisen, der oft vergessen wird: Wenn wir an diesen Beispielen sehen, daß Selbständigkeit Arbeitsplätze schafft, dann müssen wir uns doch, wenn wir uns darüber Gedanken machen, wie wir in Deutschland mehr Arbeitsplätze schaffen können, auch Gedanken darüber machen, wie wir mehr Menschen in unserem Lande motivieren können, sich als Selbständige zu betätigen.Da gibt es einen Zusammenhang: Nicht jeder Selbständige wird beschäftigen, aber ohne Selbständige gibt es keine Beschäftigung.
Dann muß man, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch bereit sein, die Leistungen der Selbständigen anzuerkennen.Hier ist darauf hingewiesen worden, daß der Kanzlerkandidat der SPD, Herr Scharping, 60 000 DM als Grenze für den Beginn des Bereichs der Besserverdienenden ansetzen will, und jemand hat das auf 5 000 DM monatlich heruntergerechnet. Aber oft wird doch in den Unternehmen ein 13. Monatsgehalt gezahlt oder das Monatsgehalt dreizehneinhalbmal oder vierzehnmal ausgezahlt, und dann sind Sie sehr schnell bei Beträgen von 4 400 oder 4 500 DM brutto, bei denen die SPD ansetzen will.Da frage ich mich, wie Sie vor dem Hintergrund überhaupt noch Menschen in unserem Lande dazu bringen wollen, mehr zu leisten als andere.
Wie auch immer: Wir sehen, daß die Entwicklung vor allen Dingen in den neuen Bundesländern sehr positiv vorangeht. Wir haben eine dynamische Entwicklung im Handwerk, im Handel, im Dienstleistungsbereich, auch im industriellen Mittelstand. Bei der Industrie in den neuen Ländern können wir feststellen, daß wir mittlerweile 11 000 industrielle Unternehmen mit rund 550 000 Beschäftigten verzeichnen können. Das sind Unternehmen, die mittlerweile sehr flexibel geworden sind, weg von Kombinatsstrukturen hin zu mittelständischen Unternehmen, die schon heute auf moderne, innovative Strukturen ausgerichtet sind und auch erhebliche Produktivitätsfortschritte realisiert haben.Auf staatliche Hilfen, insbesondere im Bereich der Eigenkapitalbildung, wird aber auch weiterhin nicht zu verzichten sein, wenn wir die Umstrukturierung möglichst schnell voranbringen wollen. In den alten Ländern kommt es überdies darauf an, den Trend indie Selbständigkeit zu verstetigen und zu verstärken.
Im Rahmen des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung hat die Bundesregierung eine Existenzgründungs- und Innovationsoffensive im Mittelstand auf den Weg gebracht. Dadurch soll mehr Dynamik im Bereich des selbständigen Mittelstandes in ganz Deutschland freigesetzt werden. Herr Kollege Grünewald hat die auf den Weg gebrachten Programme im einzelnen benannt; ich kann mir das hier ersparen.Die rasche Umsetzung der Existenzgründungs- und Innovationsoffensive im Mittelstand ist jetzt um so notwendiger, als gerade von ihr ein positiver Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation in Deutschland zu erwarten ist.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 12/7173 zu überweisen, und zwar wie folgt: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung sowie an den Haushaltsausschuß. Andere Vorschläge werden aus dem Plenum nicht gemacht. Dann darf ich diese Überweisungen als beschlossen feststellen.Meine Damen und Herren! Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf:— Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern
— Drucksache 12/5468 —— Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ilse Janz, Hanna Wolf, Dr. Marliese Doberthien, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung von Frau und Mann
— Drucksache 12/5717 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Frauen und Jugend
— Drucksache 12/7232 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink Ilse JanzZum Gleichberechtigungsgesetz liegen sieben Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste und je
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18968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergein Änderungsantrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto, Jörg van Essen und Wolfgang Lüder, des Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Hermann Freiherr von Stetten, Hans-Joachim Otto und weiterer Abgeordneter vor. Das ist die Ausgangslage.Zunächst einmal schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Beratungszeit von einer Stunde vor. Es ist mir aber angekündigt worden, daß hier Zweifel daran bestehen, ob das überhaupt aufgesetzt werden kann. Deswegen erteile ich vorab dem Abgeordneten Dr. Hans de With das Wort zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beantrage Absetzung dieses Tagesordnungspunktes nach § 20 Abs. 3 letzter Satz unserer Geschäftsordnung, nach dem der Bundestag jederzeit einen Verhandlungsgegenstand von der Tagesordnung absetzen kann. Damit ist der Antrag zulässig; er ist aber auch begründet. Warum?In der ersten Lesung zu diesen beiden Gleichstellungs- bzw. Gleichberechtigungsgesetzen hatte dieses Bundestagsplenum beschlossen, daß der Rechtsausschuß ein mitberatender Ausschuß sein möge — aus dem einfachen und verständlichen Grund, da es um Verfassungsfragen geht. Ich meine, daß die vielen Änderungsanträge übrigens auch darin einen Grund haben.Als dieser Rechtsausschuß gestern nun Stellung nehmen konnte, wurde nach Aufruf des Tagesordnungspunktes bekannt, daß es dazu ein sage und schreibe 25 Seiten starkes Änderungspapier gebe. Dieses Änderungspapier war niemandem von der Opposition bekannt, und es stellte sich bei Umfrage im Rechtsausschuß heraus, daß nur der zuständige Obmann der Union, Herr von Stetten, im Besitz dieses Papieres war, sonst niemand.
Auch der Vorsitzende des Ausschusses, Herr Kollege Eylmann, mußte bekennen, daß er von diesem Papier keine Ahnung hatte. Wir stellten fest, wie so etwas geschehen konnte, und beschlossen einmütig: Wir können heute dazu nicht Stellung nehmen, weil diese Vorlage niemals den Rechtsausschuß erreicht hatte. Es gab keinen Eingangsstempel, keinen Eingang und nichts.Es war offensichtlich so, daß aus den Reihen der Koalition dieses Papier durch ein Versehen — ich habe dies nicht zu beurteilen — wohl an einige Mitglieder der Koalitionsfraktionen gegangen war, nicht aber an uns.Ich füge hinzu — damit auch dieser Verdacht ausgeräumt wird —: Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, daß dieses Papier auch nur vorhanden ist. Sonst hätte ich mir das Papier besorgt und es als Sprecher meiner Fraktion an unsere Mitglieder verteilt.Ich halte nicht viel von Formalien, wenn es um die Sache geht. Hier war es mir aber nicht einmal möglich, weil ich davon überhaupt nichts wußte, auf anderen Wegen dieses Papier zu besorgen. Wie kann dann der Rechtsausschuß eine Stellungnahme abgeben, wenndie Vorlage fehlt? Ich füge hinzu: Erst recht kann die Opposition, wenn sie davon überhaupt nichts weiß, nicht substantiell dazu Stellung nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wäre ein leichtes gewesen — und das haben wir einmütig gefordert —, die Sache um eine Woche zu verschieben. Die Stellungnahme wäre abgegeben worden — die ist ja nicht so ganz unwichtig bei dieser so schwierigen Materie —, und wir hätten eine Woche später hier in diesem Haus in zweiter und dritter Lesung votieren können.
Nun kann mir jemand vorhalten, in dem Bericht heiße es auf Seite 36 Ziffer 2:Vor dem Ausschuß für Frauen und Jugend erklärte der Vorsitzende des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, daß dies einer abschließenden Beratung im federführenden Ausschuß unter Berücksichtigung des Verfahrensablaufs nicht entgegenstehe.Erstens ist das nur der Vorsitzende, und hinter dem steht kein Beschluß des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Allein dieses wäre korrekt gewesen.
Zweitens teile ich bei aller Ehrerbietung vor seiner Person dessen Auffassung nicht.Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, Hand auf das Herz: Selbst wenn in diesem Fall formal gesagt werden könnte, dies geht: Es geht in der Sache nicht. Stilfragen in einer Demokratie haben prägende Kraft für unsere Streitkultur. Vergessen Sie das bitte nicht!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich füge hinzu — fassen Sie das bitte nicht polemisch auf —: Sie haben hier die Mehrheit. Aber es könnte ja geschehen, daß Sie bald in der Minderheit sind.
Dann würden auch Sie es nicht begrüßen, wenn die Mehrheit von der Mehrheitsmöglichkeit Gebrauch machte und Ihnen die Verhandlungsgrundlage für ein Votum einfach abschneiden würde. Das sollten wir bei uns nicht einreißen lassen.
Ich bitte Sie deshalb, damit einverstanden zu sein, daß wir die Sache um eine Woche verschieben.
Ich verstehe überhaupt nicht, warum mit Brachialgewalt die Sache heute verabschiedet werden muß.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18969
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ausweislich des Berichts des Ausschusses hat die erste Lesung des Gesetzentwurfs, der heute auf der Tagesordnung steht, am 30. September 1993 stattgefunden. Die Tatsache, daß heute die zweite und dritte Lesung stattfinden soll, ist seit vor der Osterpause bekannt.
Herr Kollege de With hat dankenswerterweise und fairerweise — wie wir das von ihm gewöhnt sind — darauf hingewiesen, daß es gestern nachmittag Diskussionen über die Frage gegeben hat — nachdem der Rechtsausschuß der Meinung war, sich mit dem Gesetz nicht befassen zu sollen —, ob es möglich ist, heute die zweite und dritte Lesung durchzuführen.
Es ist dann sowohl mit dem Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses, dem Kollegen Wiefelspütz, als auch mit dem Sekretär des Geschäftsordnungsausschusses gesprochen worden. Die Sache ist rechtlich untersucht worden, und es ist eindeutig festgestellt worden, daß es zulässig ist, heute diese Beratungen vorzunehmen.
— Im Rahmen einer Geschäftsordnungsdebatte geht das leider nicht, Herr Kollege Hirsch. Ich werde deshalb versuchen, das zu beantworten, was gestern diskutiert worden ist.
Es geht darum, daß jeder mitberatende Ausschuß in der Lage gewesen wäre, sich in den Monaten seit der ersten Lesung mit dem Gesetzentwurf zu befassen, seine abweichenden Voten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zu beschließen und dem federführenden Ausschuß zu übergeben. Darüber hinaus haben die Kolleginnen, vor allen Dingen die Kolleginnen, die sich im federführenden Ausschuß für Frauen und Jugend, mit dem Gesetzentwurf befaßt haben, versucht, mit den jeweiligen Berichterstattern frühzeitig Kontakt aufzunehmen und darüber zu sprechen, was nach ihrer Meinung geändert werden muß oder nicht. Vor diesem Hintergrund sehe ich keinerlei Probleme, heute die zweite und dritte Lesung durchzuführen.
Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen. Ich habe zusammen mit den anderen Kollegen Geschäftsführern häufiger die ehrenvolle Aufgabe, im Plenum zu Geschäftsordnungsfragen zu sprechen. Dennoch wundert es mich, daß gerade bei einem solchen Gesetz eine solche Debatte geführt wird. Jeder von uns — das nimmt jeder der hier vertretenen Fraktionen in öffentlichen Erklärungen für sich in Anspruch — sagt, daß man die Förderung von Frauen für einen wichtigen politischen Punkt hält.
— Sie brauchen jetzt nicht nervös zu werden. Ich wollte es ganz sachlich machen. Sonst könnten wir natürlich auch einmal darüber reden, was in den letzten Wochen und Monaten in verschiedenen Ausschüssen immer wieder versucht worden ist, um zu verhindern, daß dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung beraten werden kann. Da kann man
dann auch an Begriffe wie „Obstruktion" und ähnliches denken. Ich wollte das nicht. Aber wenn es denn gesagt werden muß, dann muß es sein.
Ich finde, daß wir, nachdem dieses Gesetz viele Monate in den verschiedenen Ausschüssen sehr ausführlich beraten wurde — im Bericht ist auch enthalten, daß es mitberatende Ausschüsse gegeben hat, die dies bereits im Januar, im Februar und im März und auch noch in dieser Woche gemacht haben —, in der Lage sein müssen, dieses Gesetz heute zu beraten.
— Sie brauchen nicht so zu brüllen, Herr Kollege Schmidt. Ob Sie dem Gesetz zustimmen, ist eine ganz andere Frage.
Ich erteile dem Kollegen Manfred Richter das Wort zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über den Werdegang und die Beratungen hat der Kollege Rüttgers das Nötige gesagt. Dies ist in der Tat ein Gesetzgebungsvorhaben, bei dem die Auffassungen im Plenum und in den Ausschüssen in wichtigen Fragen auseinandergehen. In den mitberatenden Ausschüssen und im federführenden Ausschuß gehen die Meinungen durchaus in verschiedene Richtungen.Die Diskussion darüber ist aber nicht über Nacht über uns gekommen. Die Diskussion darüber ist gründlich und kontrovers geführt worden. Irgendwann kommt dann einmal ein Zeitpunkt, an dem ein Schlußstrich gezogen werden muß, und dann muß der Deutsche Bundestag im Plenum entscheiden.Dabei wird niemandes Recht verkürzt. Es wird nicht das Recht der mitberatenden Ausschüsse verkürzt, ihr
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18970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Manfred Richter
Votum abzugeben, und es wird nicht das Recht eines jeden einzelnen Abgeordneten verkürzt. Bis zur zweiten Lesung können Änderungen vorgenommen werden.Aber irgendwann muß entschieden werden. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, dieser Zeitpunkt ist gekommen. Die Diskussion ist geführt, die gegensätzlichen Argumente sind ausgetauscht worden.Der wahre Grund dafür, daß nach der Vorstellung einiger jetzt abgesetzt werden soll, liegt darin, daß Ihnen das Ergebnis des federführenden Ausschusses nicht gefällt.
Es wird nicht so gehen, daß immer die jeweils Unterlegenen beantragen abzusetzen. So werden wir zu keinem Ergebnis kommen. So werden wir lediglich vorführen, was Entscheidungsunfähigkeit heißt.Ich bitte Sie, diesen Antrag abzulehnen.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der wahre Grund ist doch der, daß ohne Mitberatung des Rechtsausschusses manche Kollegen gar nicht wissen können, was hier rechtlich beschlossen werden soll und was nicht. Deswegen haben wir ja die Mitberatung des Rechtsausschusses gewollt.
Nun fällt mir auf, verehrter Herr Kollege Rüttgers, daß Sie in Ihrem Beitrag eine merkwürdige Formulierung verwendet haben. Ich habe das durch eine Zwischenfrage klären wollen. Sie haben gesagt, es sei geprüft worden, daß das Verfahren, das der Kollege de With dargestellt habe, rechtmäßig sei. Sie haben nicht gesagt, wer das geprüft hat.
— Gemach.
Nun höre ich, daß für 15.30 Uhr eine ordentliche Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses anberaumt und dazu geladen ist. Ich halte es für einen Kompromißweg, dem nun alle Seiten des Hauses zustimmen können, daß wir sagen: Lassen wir doch die Entscheidung über diese Geschäftsordnungsfrage von dem Ausschuß, dessen Mitglieder unser Vertrauen haben, treffen! Das heißt, stellen wir doch bitte die weitere Beratung zurück, bis wir zu der von dem Kollegen de With aufgeworfenen Geschäftsordnungsfrage das Votum des Ausschusses haben.
Solange ich diesem Hause angehöre, Herr Kollege — das ist seit 1972 mit einer Unterbrechung —, ist mir ein Vorgang dieser Art noch nicht bekannt geworden. Wir sollten den Inhalt vom Verfahren trennen.
Ich erteile nunmehr dem Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses, dem Abgeordneten Wiefelspütz, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde gerne den Vorschlag des Kollegen Hirsch aufgreifen, weil er geeignet ist, unseren Beratungen in einem wichtigen Punkt Frieden und Kollegialität zukommen zu lassen.Ich will noch einmal kurz zur Sache Stellung nehmen. Nicht alles, was rechtlich zulässig ist, ist politisch klug.
Der Geschäftsordnungsausschuß ist im März angerufen worden, weil sich verschiedene Fachausschüsse benachteiligt fühlten, da sie auf der Grundlage eines Gesetzentwurfes beraten hatten, der später durch wichtige substantielle Änderungsanträge verändert worden ist.Wir werden darüber gleich beraten und werden — ich will den Beratungen nicht vorgreifen, aber es gibt schon entsprechende Vermerke — das damalige Verfahren maßvoll, wie das unsere Art ist, kritisieren.
Die Kritik ist auch vom Ausschuß aufgegriffen worden. Mit einer Ausnahme hatten alle Fachausschüsse, beispielsweise der Innenausschuß, bei dem es wichtige Proteste gegeben hat, die Herr Kollege Lüder vorgetragen hat, im nachhinein die Gelegenheit, diese wichtigen Änderungsanträge ordnungsgemäß zu beraten, wenn ich mich richtig erinnere, am Mittwoch morgen dieser Woche.Dies ist aus ungeklärten Gründen im Rechtsausschuß nicht gelungen. Der Rechtsausschuß hat — dies ist offenbar nicht zu widerlegen — keine Kenntnis von diesen Änderungsanträgen bekommen und hat auf dieser Grundlage gesagt: Wir können nicht beraten, wir wollen eine Woche später beraten, wenn wir die Vorlagen haben. Dies ist sicherlich nachvollziehbar.Es gibt andererseits die Darstellung, daß die Änderungsanträge auf ordnungsgemäße Weise an den Ausschuß abgegeben worden sind. Es gibt auch Anhaltspunkte dafür, daß dem Sekretariat des Ausschusses bekannt war, daß das Ganze heute im Plenum abgeschlossen werden soll und daß die Fachausschüsse auf der Grundlage von substantiellen Änderungsanträgen am Mittwoch zuvor, also gestern, zu Ende beraten sollten, damit der federführende Ausschuß dies abschließen kann.Es bringt nicht viel, hier Schuldzuweisungen vorzutragen oder festzustellen, wo denn da der Fehler passiert ist.Ich denke, es wäre sinnvoll, den Vorschlag, den Herr Hirsch hier gemacht hat, aufzugreifen. Ich bin
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18971
Dieter Wiefelspützgestern in einer heiklen Situation vom federführenden Ausschuß für Frauen und Jugend gefragt worden, ob ich bereit sei, dazu meine Meinung zu sagen. Kollege de With hat hier völlig zu Recht hervorgehoben, daß ich dort natürlich nur meine persönliche Meinung darlegen konnte. Dies habe ich getan. Es war auch nie im Streit, daß ich nicht beabsichtigte, dem Geschäftsordnungsausschuß vorzugreifen. Wir werden im Geschäftsordnungsausschuß über diese Fragen ohnehin ab 15.30 Uhr sprechen.Ich würde deshalb gerne einen Verfahrensvorschlag machen. Ich habe gestern im federführenden Ausschuß deutlich unterschieden zwischen der geschäftsordnungsrechtlichen Betrachtungsweise und der politischen Betrachtungsweise. Als Parlamentarier, als Mitglied des Bundestages, sage ich: Wir wären alle gut beraten, wenn wir die Beratungen in der kommenden Woche zu Ende führen, nachdem der Rechtsausschuß die Möglichkeit hatte, seine Stellungnahme abzugeben. Mein gestriges Votum bedeutete nur, daß es rechtlich nicht verboten ist, heute abzuschließen. Aber — das sage ich noch einmal — das rechtlich Zulässige ist nicht unbedingt das politisch Kluge.Deshalb bitte ich um Zustimmung zu dem Vorschlag von Herrn Hirsch. Wir werden dann sehr zügig beraten und, wenn das vom Hause gewünscht wird, unverzüglich berichten und einen entsprechenden Vorschlag machen.Schönen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jürgen Rüttgers das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße diesen Vorschlag. Ich habe keine Bedenken damit und kann auch im Namen des Kollegen Manfred Richter sagen, daß wir diese Frage, so sie rechtlich im Streit ist, jetzt im Geschäftsordnungsausschuß klären.
Ich würde deshalb, Herr Präsident, wenn die anderen Kolleginnen und Kollegen und Fraktionen zustimmen, vorschlagen, daß wir jetzt für eine Viertelstunde unterbrechen, um den Kolleginnen und Kollegen, die in der folgenden Aktuellen Stunde das Wort ergreifen wollen, Gelegenheit zu geben, ins Plenum zu kommen, und dann, nachdem die Beratung des Geschäftsordnungsausschusses beendet ist, zusammen mit dem Präsidium und den Fraktionen beraten, an welchem Punkt der Tagesordnung dieser Gesetzentwurf wieder aufgerufen wird.
Meine Damen und Herren, ich möchte dann die Feststellung treffen, daß die Geschäftslage wie folgt ist: Der Geschäftsordnungsausschuß berät den Sachverhalt um 15.30 Uhr und wird nach Beendigung dieser Beratungen dem Plenum Bericht erstatten. Bis dahin wird dieser Tagesordnungspunkt zurückgestellt. DerAntrag des Abgeordneten de With wird ebenfalls zurückgestellt; er kann dann zurückgezogen werden, wenn die Beratungen des Geschäftsordnungsausschusses Entsprechendes ergeben.Herr Abgeordneter Rüttgers, nicht ganz zustimmen möchte ich Ihrem Vorschlag, die Sitzung jetzt zu unterbrechen; denn ich muß noch über ein paar Punkte ohne Debatte abstimmen lassen. Dennoch, sage ich, wird die vorgesehene Aktuelle Stunde nicht vor 15.15 Uhr beginnen. — Ich höre, es sind alle Redner da. Dann fahre ich mit Zustimmung des Plenums ganz normal in der Tagesordnung fort und bitte diejenigen, die den Saal verlassen wollen, dies jetzt lautlos zu tun.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 16a bis 16r und den Zusatzpunkt 6 auf:16. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Neuordnung zentraler Einrichtungen des Gesundheitswesens
— Drucksache 12/7112 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
InnenausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 161 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 26. Juni 1985 über die betriebsärztlichen Dienste— Drucksache 12/7191 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheitc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 164 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 8. Oktober 1987 über den Gesundheitsschutz und die medizinische Betreuung der Seeleute— Drucksache 12/7188 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für GesundheitAusschuß für Verkehrd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder"— Drucksache 12/6848 —
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18972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und JugendAusschuß für GesundheitHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOe) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Juni 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kuba über den Luftverkehr— Drucksache 12/6972 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr Finanzausschußf) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Mieter von Geschäftsraum in den Ländern Berlin und Brandenburg— Drucksache 12/6677 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaug) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. November 1990 über die allgemeine Gleichwertigkeit der Studienzeiten an Universitäten— Drucksache 12/6916 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung und Wissenschafth) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Prozeßkostenhilfe
— Drucksache 12/6963 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendi) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung der Urkundenstellen in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
— Drucksache 12/6967 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Rechtsausschußj) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsvereinheitlichung bei der Sicherungsverwahrung
—Drucksache 12/6969 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschußk) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beratungshilfegesetzes und anderer Gesetze— Drucksache 12/7009 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren1) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 1. Februar 1993 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und Rumänien— Drucksache 12/7010 — Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger AusschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für GesundheitAusschuß für Post und Telekommunikationm) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 8. März 1993 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Republik Bulgarien— Drucksache 12/7012 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft Auswärtiger AusschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für GesundheitAusschuß für Post und Telekommunikationn) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der gesetzlichen Amtspflegschaft und Neuordnung des Rechts der Beistandschaft
— Drucksache 12/7011 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendo) Erste Beratung des von den Abgeordneten Paul Breuer, Jürgen Augustinowitz, Dr. Karl-Heinz Hornhues, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Ulrich Irmer, Dr. Werner Hoyer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Erfassungs- und Musterungsverfahrens— Drucksache 12/7007 —Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuß InnenausschußAusschuß für Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18973
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergp) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache 12/7109 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaftq) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Wallow, Hermann Bachmaier, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDÄnderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages — Beantwortung von Fragen durch die Bundesregierung/Einsetzung eines Parlamentarischen Einigungsausschusses— Drucksache 12/6654 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschußr) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke ListeÄnderung des Strafvollzugsgesetzes — Drucksache 12/6419 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungZP6 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Apothekenrechts und berufsrechtlicher Vorschriften an das Europäische Gemeinschaftsrecht— Drucksache 12/7211 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für GesundheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich gehe davon aus, daß Ihr Gemurmel als Zustimmung gewertet werden kann.Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnung um Zusatzpunkt 7:Weitere Überweisungen im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Köppe, Dr. Klaus-Dieter Feige, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der Beratungsmöglichkeiten für einkommensschwache Rechtssuchende
— Drucksache 12/4346 — zu erweitern.Dieser Entwurf soll zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung sowie an den Ausschuß für Frauen und Jugend überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 a bis d auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bolivien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 12/5192 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/7209 —Berichterstattung:Abgeordneter Detlev von Larcherb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. Dezember 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation fiber die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen— Drucksache 12/6906 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/7210 —Berichterstattung: Abgeordneter Gunnar Uldallc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDAusländerfeindlichkeitzu dem Antrag der Abgeordneten Hans Martin Bury, Siegfried Vergin, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDRechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit entschlossen bekämpfen— Drucksachen 12/1270, 12/5124,12/6697 —Berichterstattung:Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann Dr. Burkhard HirschDr. Cornelie Sonntag-Wolgast
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18974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 302/93 des Rates zur Schaffung einer Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht— Drucksachen 12/5827 Nr. 2.3, 12/6932 —Berichterstattung:Abgeordnete Johannes Singer Michael StübgenWir kommen zum Tagesordnungspunkt 17 a. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17b. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/7210, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Niemand. Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17c. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/1270 in der Ausschußfassung anzunehmen.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei der Enthaltung des Abgeordneten Dr. Rudolf Karl Krause (fraktionslos) und der Gruppe PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir stimmen jetzt über eine weitere Beschlußempfehlung zum Tagesordnungspunkt 17 c ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 12/5124 in der Ausschußfassung anzunehmen.Wer dieser Beschlußempfehlung folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17 d. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei der Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.Bevor ich den Zusatzpunkt Aktuelle Stunde aufrufe, vergewissere ich mich, ob die Fraktionen damit einverstanden sind, daß wir mit diesem Punkt beginnen können. — Das ist offensichtlich der Fall.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke ListeHaltung der Bundesregierung zum verbrecherischen Brandanschlag auf eine Synagoge in LübeckDie PDS/Linke Liste beginnt mit der Aussprache. Herr Dr. Gregor Gysi hat das Wort. —
Auf Grund der etwas wirren Geschäftslage muß ich die Sitzung unterbrechen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir setzen die Sitzung fort. Ich bitte Platz zu nehmen. — Ich bitte, die Kollegen und Kolleginnen, die im hinteren Teil des Saals eine Konferenz haben, Platz zu nehmen, damit wir die Beratungen wiederaufnehmen können. — Falls nicht klar ist, wen ich meine: Herr Hörster, ich meine unter anderem Sie.
Danke.
Ich eröffne die Aussprache über den bereits aufgerufenen Punkt „Aktuelle Stunde" und erteile als erstem dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es dringend notwendig, daß sich der Bundestag — ich hatte gehofft, in besserer Besetzung — damit beschäftigt, daß das erste Mal seit 50 Jahren in Deutschland wieder eine Synagoge gebrannt hat.Dabei ist meines Erachtens folgende Tatsache von besonderer kriminologischer Bedeutung. Es wird 1945, 1946, 1947 und in jedem Folgejahr nicht weniger Antisemiten gegeben haben als heute. Es gibt, wenn Sie so wollen, auch in jedem Jahr eine Gruppe potentieller Täter, die so etwas tun könnten. Eine der wichtigsten Fragen, die leider in einem solchen Zusammenhang am seltensten gestellt wird, lautet: Weshalb werden in einer anderen Zeit aus potentiellen Tätern keine Täter, und weshalb wagen sie eine solche Tat im Jahre 1994?Das hängt mit einem veränderten gesellschaftlichen Klima zusammen. Es hängt damit zusammen, daß die Hemmschwelle für solche Taten aus irgendeinem Grunde reduziert ist, daß Leute, die sich noch Jahre vorher nicht getraut hätten, plötzlich meinen, sich das irgendwie trauen zu können.Ich will in diesem Zusammenhang auf einen anderen Umstand eingehen, der damit sehr, sehr eng zusammenhängt. Der Vorsitzende der Republikaner, Schönhuber, hat den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland danach als einen der schlimmsten Volksverhetzer bezeichnet, was seinen tiefen Antisemitismus zum Ausdruck bringt; das ist ja klar.So denkt er schon seit Jahren. Er sagt es aber erst jetzt. Und er ist jemand, der seine Äußerungen kühl berechnet. Das heißt, er ist davon überzeugt, daß ihm das heute zusätzlich Zustimmung bringt. Sonst würde er es nicht sagen. Er ist davon überzeugt, daß er damit sozusagen weitergehend eine Klientel erreicht. Und das macht mir eigentlich wirklich große Sorgen,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18975
Dr. Gregor Gysiweil ich denke, daß er sich da nicht geändert hat. Er wird so auch nach fünf Jahren denken, und vor fünf Jahren wird er auch so gedacht haben. Wenn er es in fünf Jahren nicht mehr sagt, dann würde das bedeuten, daß er eine andere Einstellung zum gesellschaftlichen Klima hat. Und ich befürchte, daß er nicht über falsche Analysen verfügt.Natürlich gehört zu diesem gesellschaftlichen Klima, wenn auch zeitlich zufällig, daß wir den Freispruch des NPD-Vorsitzenden erlebt haben, der den Massenmord an den Jüdinnen und Juden in der Nazizeit bestritten hat. Wir haben auch erlebt, daß die Staatsanwaltschaft meinte, gegen Herrn Schönhuber nichts unternehmen zu können. Wir hatten, wie ich immer noch meine, eine katastrophale Asyldebatte vom Stil her, nicht nur vom Inhalt her.Und wir haben ein deutliches Anwachsen von Rechtsextremismus und Neofaschismus. Ich will mich hier nicht mit den einzelnen Ursachen beschäftigen. Ich will nur sagen: In Deutschland gilt in einer solchen Zeit: Wenn so etwas wächst, kommt es irgendwann immer auch zu Antisemitismus.Hinter Antisemitismus steckt natürlich auch immer eine besondere Form von Intellektuellenfeindlichkeit, steckt auch eine Frage der politischen Kultur in einer Gesellschaft, mit der wir uns unbedingt auseinandersetzen müssen. Ich will Ihnen Beispiele aus unserem Leben bringen, die mich so erschüttern.Zum Beispiel möchte ich an den Historiker Alfred Schickel von der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle in Ingolstadt erinnern, der vom Bundespräsidenten auf Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten das Bundesverdienstkreuz für sein Engagement gegen „Unkenntnis, Vorurteil und Desinformation" erhielt. In Schiekels Forschungsstelle wird nicht nur die Authentizität des Wannsee-Protokolls angezweifelt. Schickel hatte sich in der rechtsextremen Zeitung „Deutschland in Geschichte und Gegenwart" mit dem, wie das Blatt es nennt, „ungeklärten Ausmaß der jüdischen Opfer" beschäftigt. Schickel reduzierte das Ausmaß der ermordeten Juden drastisch. In der neofaschistischen Zeitung „Nation Europa" wurde er deshalb als „Legendenkiller" hoch gelobt. Schickel selber war Redaktionsmitglied in der Zeitung „Junge Freiheit" und in der der Deutschen Liga nahen „Europa vorn".Für die Bundesregierung besteht übrigens kein Anlaß, die ZFI als rechtsextremistisch einzustufen, wie sich aus der Drucksache 12/2268 ergibt.Es muß hier beispielsweise erwähnt werden, daß der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt von 1989 bis zum Herbst 1993 im Verwaltungsrat des Vereins für das Deutschtum im Ausland einträchtig neben dem Vorsitzenden der rechtsextremen Österreichischen Landsmannschaft, Helmut Kowarik, saß. Kowarik ist presserechtlich verantwortlich für die Zeitung „Eckartbote". In dieser Zeitung wird die Vergasung von sechs Millionen Juden in deutschen KZs als — so wörtlich — „bösartige Propaganda" bezeichnet, die — auch wieder wörtlich —„der geschichtlichen Wahrheitsforschung in keiner Weise standhält".Im „Eckartboten" heißt es über den sogenannten Schriftsteller Härtle: Er unternimmt es,das jahrtausendalte Phänomen der jüdischen Einzigartigkeit und der weltweiten Judengegnerschaft auf seine Grundtatsachen zurückzuführen. Er weist nach, was den Juden die instinktive Feindschaft aller Völker eingetragen hat: der Auserwähltheitsglaube ihrer Religion, ihre durch das Rabbinertum bewußt hochgezüchtete und bewahrte blutsmäßige und geistige Inzucht, kurzum ihre völlige Andersartigkeit, die sie in jeder Umwelt als Fremdkörper erscheinen ließ.Und an anderer Stelle des Artikels wird der Antisemitismus als „natürliche Abwehrreaktion aller Wirtsvölker" bezeichnet.Darauf angesprochen, sah die Bundesregierung keinen Anlaß, irgendeine Konsequenz aus dieser Zusammenarbeit zwischen dem Parlamentarischen Staatssekretär Waffenschmidt und Kowarik zu ziehen.Lassen Sie mich als letztes noch eines sagen, weil ich von der gesellschaftlichen Atmosphäre gesprochen habe. Ich habe hier den „Viechtacher Bayerwald-Boten" vom 11. April 1994. Da hat ein Staatssekretär in Bayern, Hans Spitzner, mich wörtlich — so wird er hier zitiert — als „alte kommunistische Schlammsau" bezeichnet. Ich sage das nur aus einem Grunde: Ich bin dagegen nach wie vor nicht gefeit, obwohl es ja nicht ganz neu ist, daß der politische Stil der Auseinandersetzung mit mir so ist. Aber was mir Sorge bereitet, ist, welche Assoziationen mit dem Begriff „Sau" in diesem Zusammenhang entstehen können und entstehen müssen. Und ich glaube nicht mehr, daß das alles zufällig ist.
Die Zahlen von EMNID sagen viel über Antisemitismus in Deutschland aus. Es wird Zeit, daß wir ernsthaft etwas dagegen tun.Danke.
Als nächste hat die Kollegin Frau Professor Dr. Rita Süssmuth das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns heute nachmittag im Rahmen einer Aktuellen Stunde mit dem ersten Brandanschlag nach dem Zweiten Weltkrieg auf ein jüdisches Gotteshaus in Deutschland befassen, dann wissen wir sehr wohl, daß es in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern Europas neu aufflammend Antisemitismus, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit gibt. Wir wissen aber auch, daß bei gefallenen Hemmschwellen und geringerer Tabuisierung etwas möglich ist, was ich positiv bewerte: die öffentliche Auseinanderset-
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18976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dr. Rita Süssmuthzung mit dem Phänomen selbst. Und hier haben wir nicht erst begonnen; hier sind wir mittendrin.Ich denke, es ist wichtig, daß wir den Brandanschlag auf das jüdische Gotteshaus, die Synagoge, in Lübeck nicht nur als einen Anschlag auf das Judentum in Deutschland begreifen, sondern auch als einen Anschlag auf uns selbst.
Dies gilt eben nicht nur der geringen Zahl der jüdischen Bevölkerung, die von weit über 500 000 vor 1933 auf heute knapp 70 000 geschrumpft ist, sondern es ist der Anschlag auf das, was den Menschen Geborgenheit, Schutz und Sicherheit in ihrer Existenz als Bürger in unserer Gesellschaft gibt. Es ist der Anschlag auf das, was uns wertemäßig allen miteinander wichtig ist: daß Christen, Juden, Muslime in diesem Land gleichberechtigt miteinander leben und sich wechselseitig in ihrer Kultur respektieren und bereichern. Das muß das Ziel unserer Arbeit sein, damit wir nicht erneut Enklaven, für welche Minderheit auch immer, schaffen.
Ich sage das mit einem solchen Nachdruck, weil wir sonst immer wieder einen Sonderstatus schaffen.Der Anschlag auf die Synagoge in Lübeck, der einen Tag vor Pessach, dem jüdischen Festtag zur Erinnerung an die Befreiung von der Sklaverei in Ägypten, geschah, steht in einer langen Tradition von Herabsetzung, von Zerstörung und Vernichtung. Wir haben lange genug erfahren, wie die Würde des Menschen mißachtet wurde und wie immer wieder mit den Mitteln der Feindbilder, der Herabsetzung, der Diskriminierung, der Ausgrenzung, der Verächtlichmachung bis hin zur Volksverhetzung gearbeitet wird. Genau dies dürfen wir nicht zulassen. Ich denke, viele Bürgerinnen und Bürger in Lübeck und andere, die Stellung bezogen haben, haben es nicht zugelassen. Das ist mindestens genauso wichtig wie das, worüber wir hier reden.
Mir erscheint es wichtig, daß wir nicht jeweils nach neuen Gesetzen rufen, daß wir nicht Aktionismus vortäuschen, wo wir ihn gar nicht entwickeln können. Wir haben in unserem Alltag konsequent vorzuleben, welches unsere Werteordnung ist und was wir in unserem Gemeinwesen, in unserer Kultur nicht zulassen. Da helfen nicht Bekenntnisse und Erklärungen von Empörung und Betroffenheit, sondern es ist erforderlich, daß die Formen kultureller Vielfalt nicht nur deklariert, sondern miteinander praktiziert werden. Hier geht es um mehr als um Toleranz; es geht um das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen religiösen und kulturellen Bezügen, um das gleichberechtigte Nebeneinander und Miteinander von Bürgerinnen und Bürgern bei Achtung ihrer eigenen Identität. Es ist wichtig, daß dies mitten unterist, daß es nicht am Rande steht oder irgendwo verordnet wird.
Was ist das Wichtigste als Antwort? Es darf und wird den Extremisten, den unverbesserlichen Fanatikern nicht gelingen, jüdische Bürger und auch andere Bürger, die nicht Deutsche sind, aus Deutschland zu verdrängen, sie erneut zur Flucht aus Deutschland zu bewegen.
Wir wissen nicht, wer die Täter sind, aber jedwede Form von Extremismus, ob von links oder von rechts, ob sie von außen kommt oder aus unserem Lande selbst, dürfen wir nicht dulden. Dies betonen wir, weil wir nicht nur im Rahmen unserer Grenzen, sondern über sie hinaus sagen müssen: Wir wollen den Friedensprozeß im Nahen Osten. Wir wollen ihn auch bei uns. Wir dulden nicht, daß Extremisten und Terroristen Gewaltakte verüben, Menschen herabsetzen. Deshalb sollten wir das, was in Lübeck geschah, als Anschlag auf unsere Kultur betrachten. Dann gehen wir auch anders damit um.Ich danke Ihnen.
Nun spricht die Kollegin Anke Fuchs zu uns.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann an das anschließen, was Frau Süssmuth gesagt hat. Wir sind uns einig in der Verurteilung des abscheulichen Verbrechens von Lübeck. Wir sind schockiert, wir sind betroffen. Im Grunde mag ich diese Vokabeln gar nicht mehr benutzen. Dennoch müssen wir sie aussprechen.Wir fordern die rasche Aufklärung des Verbrechens, und wir fordern die harte Bestrafung der Täter.Die in diesen Tagen von verschiedenen Seiten geforderte öffentliche Erklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl zu den Vorgängen in Lübeck hätte freilich hilfreich sein können, zumal wenn man bedenkt, wozu er sich sonst massiv öffentlich äußert.
Ich unterstelle dem Bundeskanzler, daß er in dieser Frage unsere Auffassung teilt. Insofern ist er mit uns sicher einig in der Abscheu vor diesem Verbrechen.Ich möchte in meinem kurzen Beitrag über die geistigen Brandstifter reden und mich dabei nicht nur auf einen kleinen Kreis weniger Personen beziehen. Wir müssen die geistigen Brandstifter zur Rechenschaft ziehen, ganz so, wie Ignatz Bubis es gefordert hat. Ich finde, Ignatz Bubis hat sich in diesen Tagen in besonderer Weise großartig und souverän verhalten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18977
Anke Fuchs
Er hat völlig recht mit seiner Auffassung, daß ein Volksverhetzer nicht satisfaktionsfähig ist. Ich finde, wir sollten die Jüdische Gemeinde in Deutschland zu ihrem Vorsitzenden des Zentralrats beglückwünschen.
Was können wir tun? Ich bin enttäuscht, daß der Innenminister in seinem heute vorgelegten Verfassungsschutzbericht die Republikaner wieder nicht als rechtsextremistische Gruppe eingestuft hat; er sollte es schleunigst nachholen. Wir können uns da nicht nur auf Gewalttätigkeiten beziehen, sondern wir müssen die Frage beantworten: Ist nicht auch die geistige Urheberschaft zu kontrollieren. Ist hier nicht auch eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz gerechtfertigt? Minister Kanther sollte hier schnellstens seiner Aufgabe gerecht werden.
Dann gibt es diese ärgerlichen Gerichtsentscheidungen mit dem Leugnen der Massenmorde, die wir alle in den letzten Monaten über uns ergehen lassen mußten. Mancher erinnert sich ja noch an das Jahr 1982, als wir Sozialdemokraten damals — ich glaube, sogar mit der F.D.P. zusammen — sagen wollten, schon die Behauptung, daß der Massenmord von Auschwitz nicht passiert sei, müsse zu einer Bestrafung ausreichen, wenn sie in einer Weise geschieht, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet. Damals gab es eine sehr eigentümliche Debatte, die ich jetzt nicht wiederholen möchte. Wir wollten damals die einfachere Bestrafung. Ich glaube, wir hätten uns diese ärgerlichen Urteile ersparen können, wenn man damals unserem Antrag gefolgt wäre. Jetzt ist die Zeit dazu. Ich glaube, der Rechtsausschuß ist auf diesem Wege. Etwas kann nie zu spät kommen, was dem Rechtsfrieden dient. Ich ermuntere Sie alle, meine Damen und Herren, daß wir diesen Fehler in unserem Recht beseitigen und uns damit ärgerliche Urteile ersparen können. Ich halte das für besser, als dann mit einem schlechten Gesetz über gar nicht anders zu fällende Entscheidungen der Gerichte zu meckern, sondern dann sollte man die Gesetze so fassen, daß sie in diesen Fällen auch greifen. Ich glaube, wir sind alle der Auffassung, daß die in der Öffentlichkeit begangene Leugnung oder Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermordes in jeglicher Form unter Strafe gestellt werden muß. Ich glaube, dem sollten wir heute den Weg ebnen.Wir können sicherlich auch nicht umhin, Herbert Schnoor dabei zu unterstützen, wenn er die Gründung der Franz-Schönhuber-Stiftung verhindern will. Ich glaube, daß wir alle unsere Möglichkeiten dazu ausschöpfen müssen.Schließlich und hauptsächlich will ich doch wieder sagen: Wir brauchen auch eine Politik der sozialen Gerechtigkeit; denn was den Menschen in unserem Land an sozialer Schieflage zugemutet wird, das hilft dem Rechtsradikalismus in unserem Land.Wenn nun kritisiert wird, daß sich der Bundeskanzler nicht so zu den Vorgängen öffentlich geäußert hat, so möchte ich an dieser Stelle um Verständnis werben. Denn kann es nicht so sein, daß der Bundeskanzlerjetzt, am Ende seiner Kanzlerschaft, nachdenklich geworden ist und erschreckt verstummt über das, was aus seinem vollmundigen Versprechen der geistigmoralischen Erneuerung geworden ist?
Da biedert man sich nach rechts an, da gibt es verräterischen Sprachgebrauch, da gibt es das „Konservative Deutschlandforum" der CDU, das am 5. Dezember 1992 von elf Bundestagsabgeordneten gegründet worden ist und in dem ausdrücklich gefordert wird, daß man die Frage der Zusammenarbeit mit den Republikanern überprüfen müsse und sie nicht ausschließen dürfe. Sie haben einen Nachholbedarf, meine Damen und Herren, weil nämlich eine solche Politik, ein solcher Sprachgebrauch die rechtsradikalen Parolen salonfähig gemacht haben. Und heute ist von der Senkung der Schwellen gesprochen worden. Ich glaube, jeder sollte sich fragen, welchen Beitrag er selbst leistet, um diese Schwellen zu senken. Sie haben alle Veranlassung, bei Ihnen noch ein bißchen aufzuräumen, denn die Frau Justizministerin hat ja zu Recht gesagt: Solche Politiker, die von Durchrassung und solchen Geschichten sprechen, nehmen ihre Verantwortung für das innenpolitische Klima nicht ganz ernst. Sie haben ja recht. Ich wünschte mir, das wäre eine Aussage der gesamten Regierungskoalition und nicht nur der F.D.P.Meine Damen und Herren, was können wir weiter tun? Ich bin der Meinung — und da stimme ich Ihnen zu, Frau Süssmuth —, daß nicht nur wir Politiker gefordert sind, jeder jeden Tag, sondern daß uns die hoffnungsvollen Eindrücke, die wir nach den Lichterketten, nach dem Engagement, nach dem Protest doch alle hatten, dazu bringen, daß wir miteinander sagen: Zivilcourage ist gefragt; Bürgersinn ist gefragt; Farbe bekennen und Mitmenschlichkeit praktizieren, nicht mehr weggucken. Es ist nicht ein Problem der Parlamentarier, nicht ein Thema des Parlaments allein. Wir müssen unsere Pflicht tun. Aber ich glaube, die Menschen in unserem Lande, jeder Mann, jede Frau, sind aufgerufen, sich zu engagieren. Diese Demokratie ist es wert, daß man sich engagiert. Das sollte auch die Botschaft zu den Bürgerinnen und Bürgern nach außen sein. Wenn wir so Engagement verstehen, dann können auch die braunen Rechtsradikalisten in unserem Lande keinen Boden unter die Füße kriegen.Ich danke Ihnen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich unterbreche gerade bei diesem Thema Reden nur ganz, ganz ungern, bitte aber, daran zu denken, daß wir uns in der Aktuellen Stunde befinden und die Redezeit fünf Minuten beträgt, nicht sechs und nicht sechseinhalb und auch nicht fünf einhalb.
Als nächstes hat nun die Frau Kollegin Dr. Michaela Blunk das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bekannte
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18978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dr. Michaela Blunk
rechte Szene in Lübeck ist ergebnislos überprüft worden. Wir dürfen also bei aller Empörung nicht in den Fehler verfallen, vorzeitig Schuld zuzuweisen.
Wir wissen nicht, ob tatsächlich die zu neuem Leben erwachende Jüdische Gemeinde in Lübeck das Ziel war oder möglicherweise der Staat Israel getroffen werden sollte.Unabhängig von der tatsächlichen Täterschaft in Lübeck müssen wir uns mit der bedrückenden Frage beschäftigen, warum es in unserem Land fast täglich zu ähnlichen Anschlägen kommt. In unserem Land ist eine Atmosphäre entstanden, in der die Täter glauben, eine breite schweigende Zustimmung hinter sich zu haben. Zu dieser Atmosphäre haben auch Politiker beigetragen, die schon vor Jahren die Ausländerfrage in unangemessener Dramatik und in unverantwortlicher Wortwahl in den Mittelpunkt der Politik gestellt haben.
Im Laufe der Entwicklung wurden auch andere Minderheiten zur Zielscheibe chauvinistischer Verachtung. Dazu zählt auch, daß sich nach jedem Anschlag viele Politiker zuerst Gedanken darüber machen, welchen Schaden Deutschland genommen hat. Ein Gerichtsurteil, das die Auschwitzlüge als salonfähig einstuft, tut ein weiteres, Gewalttätern den Rücken zu stärken.
Die sintflutartige Verwendung des Begriffes „Völkermord" durch Politiker und Medien verharmlost die Verbrechen an den Juden, den Roma und Sinti und anderen Opfern von Deutschen.Im Laufe des Kommunalwahlkampfes in Schleswig-Holstein, der wenige Tage vor dem Anschlag auf die Synagoge endete, mußte ich an den liberalen Informationsständen in den meisten Gesprächen heftige Attacken gegen Fremde und andere Minderheiten abwehren. Die Feindseligkeiten richteten sich gegen alle Menschen, mit denen Ansprüche geteilt werden müssen. In den meisten Fällen entspringt der Haß aber der Ablehnung des zukünftigen Teilens, nicht schon des tatsächlichen heutigen Leidens. Es wird schon im Vorfeld nach Sündenböcken gesucht — mit allen schrecklichen Konsequenzen.Tabus ergeht es wie Kieselsteinen: Sie werden langsam abgeschliffen. Das Tabu des offenen Hasses, der angewandten Gewalt verschwindet langsam vor unseren Augen, weil wir zugelassen, zum Teil auch forciert haben, daß allzu viele Menschen in unserem Lande dem materiellen Wohlstand breitesten Raum in ihrem Leben eingeräumt haben.Wenn wir den Geist nicht wieder in die Flasche bekommen, dann habe ich in der Tat Angst um unser Gemeinwesen. Solange wir leugnen, daß sich in unserem Land tatsächlich eine Atmosphäre schweigender Duldung von Gewalt breit gemacht hat, werden wir der Problemlösung nicht näherkommen. Der Staat allein kann diese Aufgabe nicht lösen. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz setzt zwar einige Zeichen, aber verschärfte Gesetze verändern nichtdas Denken einer Gesellschaft, auch nicht von Teilen der Gesellschaft.
Die Beobachtung verfassungsfeindlicher Parteien oder Gruppen ist eine notwendige Sache, aber das Verbot z. B. der Republikaner eine ganz andere. Niemand kann wollen, dem redegewandten Herrn Schönhuber eine kostenlose Werbeplattform für seine inhaltslosen, aber gefährlich einfachen Grundideen zu liefern, als deren Ergebnis nicht einmal zwingend ein Verbot stehen muß, sondern möglicherweise eine Gruppe noch enger zusammengeschweißter Märtyrer.
Wer glaubt, daß Institutionen wie Schule und Justiz diese Entwicklung korrigieren können, überschätzt deren Möglichkeiten.
Erste Bildungs- und Erziehungsinstanz ist und bleibt die Familie. Zumindest in den Lehrplänen ist der Behandlung des Nationalsozialismus viel Zeit eingeräumt worden. Nicht jeder Lehrer kommt zu dem Thema, zugegeben. Aber selbst wer die Informationen nach der Schule nicht sucht, begegnet ihnen in den Medien. Mit mehr Information und Spielfilmen lösen wir meines Erachtens das Problem nicht.Die auch in Lübeck durchgeführten Mahnwachen, Kerzensignale, Schweigeminuten zeigen natürlich, daß es viele erschrockene Menschen gibt. Aber die sich wiederholenden Gesten der Betroffenheit schleifen sich ab, sind eigentlich mehr Zeichen der Hilflosigkeit als der Hoffnung.
Unsere Gesellschaft muß sich ohne Vorbehalt den Gründen für die Entwicklung stellen und Konsequenzen ziehen. Es wäre fatal, wenn wir uns weiterhin den Realitäten verschließen würden, weil sie unangenehm sind. Dazu gehört auch, daß sich diese Entwicklung bereits in der alten Bundesrepublik vor der Vereinigung gezeigt hat. Unsere Gesellschaft muß sich freiwillig, gemeinsam neue Tabus setzen. Dieser Satz fällt einer Liberalen nicht leicht, aber ohne allgemeingültige Werte kann kein menschliches Gemeinwesen existieren.Ich hoffe, daß der Anschlag in Lübeck und der jetzt laufende Prozeß gegen die vermutlichen Täter von Solingen dazu führt, daß wir uns eine Gelegenheit der Werte- und Tabudiskussion schaffen. Mindestens das sind wir den Opfern schuldig.
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Alptraum, ein Spuk muß es gewesen sein. So hätte man noch vor fünf Jahren auf die Nachricht reagiert, daß in Deutschland wieder eine Synagoge gebrannt
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Dr. Wolfgang Ullmannhat. Seit dem 25. März 1994 haben wir diese Ausflucht nicht mehr. Ausgerechnet in der Stadt Thomas Manns ist aus diesem Spuk häßliche, schmähliche, schmachvolle Realität geworden. Es ist eine Schmach für unser Land, eine Schmach darum vor allem für uns, das oberste Verfassungsorgan und die Repräsentation dieses Landes.Die Frau Bundestagspräsidentin hat am 9. November 1993 gesagt — und sie hat es gerade wiederholt —, wie in diesem Hause über die Unmenschlichkeiten gedacht wird, die nicht nur im deutschen Namen, sondern von Deutschen und nicht nur mit der Buh -gung seiner damaligen Repräsentanten, sondern auf ihren Befehl verübt worden ist.Die Reaktionen auf die Lübecker Untat haben klargestellt: Die Mehrheit in unserem Lande denkt in dieser Sache wie dieses Parlament. Die Brandstifter mußten das wissen. Aber das ist das eigentlich Schlimme an dieser ganzen Angelegenheit: Sie wissen es natürlich. Gerade deswegen tun sie, was sie tun. Sie wollen der Demokratie in das Gesicht schlagen. Sie wollen die Menschlichkeit verspotten, und so tun sie es auch. Woher haben sie die Kraft zu ihren widerwärtigen Frechheiten? Auf wessen Schutz rechnen sie so fest, daß ihre Feigheit auf einmal einen uns alle beleidigenden Mut bekommt?Der Generalbundesanwalt hat mehrmals versichert, es werde nach allen Richtungen ermittelt. Das mag im juristischen Sinne des Wortes und im Rahmen seiner speziellen Verantwortlichkeit zutreffen. Aber trifft es im moralischen und im spirituellen Sinne des Wortes zu?Was ich meine, will ich in einer Kritik an dem Titel verdeutlichen, den die PDS ihrem Antrag zu dieser Aktuellen Stunde gegeben hat:Haltung der Bundesregierung zum verbrecherischen Brandanschlag auf eine Synagoge in LübeckDer Gebrauch des Wortes „verbrecherisch" signalisiert, welche Haltung die Antragsteller als die einzig mögliche unterstellen: die des Brandmarkens, die des Zeigens mit dem Finger, die der Anprangerung oder, wie man früher gerne sagte, die der Entlarvung der Schuldigen.Aber wozu dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine parlamentarische Debatte? Die Verfolgung des Verbrechens ist Sache der Gerichte. Und was nützt das Fingerzeigen, wo die Schuldigen unsichtbar sind?Die Unsichtbarkeit der Schuldigen, das ist mein Punkt. Ist sie nicht ein zwingender Grund, auch in unsere eigene Richtung zu ermitteln? Wir sind ein Land, das sich laut Verfassung zu unveräußerlichen Menschenrechten bekennt. Aber die Unsichtbarkeit der Schänder unserer politischen und nationalen Ehre gibt Anlaß zu der Frage: Bekennen wir uns unzweideutig zur Unveräußerlichkeit von Menschenrechten?Die Unzweideutigkeit ist nicht durch Gesetzesverschärfungen und auch nicht durch die Polizei zu erreichen. Sie bedarf einer moralischen und einer intellektuellen Anstrengung. Zu beidem sind wiraufgerufen. Ermitteln wir einmal gegen uns! Prüfen wir die Gesetzgebung seit der deutschen Vereinigung darauf, ob sie und das Handeln der Bundesregierung ein unzweideutiges Bekenntnis zur Unveräußerlichkeit der Menschenrechte sind!Der Verlauf der deutschen Geschichte hat dazu geführt, daß der Jude der Mensch geworden ist, an dem in Deutschland diese Unzweideutigkeit gemessen wird und gemessen werden muß. Darum sei allen, die diesen Maßstab nicht anerkennen wollen, von diesem Platz aus gesagt: Wer Synagogen anzündet, jüdische Grabsteine schändet, vergreift sich an der Unveräußerlichkeit von Menschenrechten und damit an der Ehre dieser Nation, versucht, ihren Namen in der Völkergemeinschaft abermals stinkend zu machen und dieses Volk abermals aus der Völkergemeinschaft herauszubrechen.
Die dies schon einmal unternommen haben, sind in Nürnberg verurteilt worden, mit Recht und rechtskräftig. Wenn es nötig ist, wird dieses Land durch seine Bürger und Bürgerinnen stark genug sein, das gleiche Urteil auch über die Brandstifter und ihre unsichtbaren intellektuellen Hintermänner zu fällen, die diese Verbrechen rechtfertigen und wiederholen wollen.
Nun hat der Kollege Johannes Gerster das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im letzten Jahr wurden in Deutschland 656 antisemitische Straftaten registriert, darunter ein Tötungsdelikt, Fälle von Körperverletzung, Brandanschläge und weitere Straftaten.Veritas facit pacem — Wahrheit schafft Frieden. Zur Wahrheit gehört, daß neben politisch motivierten Straftaten von rechts auch politisch motivierte Straftaten von links hinzukommen, daß wir in Deutschland zwar die Freude der Öffnung der Grenzen auch nach Osten erfahren haben, daß wir aber in Deutschland wie in anderen Staaten nicht gefeit sind vor dem Sichaufschaukeln rechter und linker Extremisten, Radikalinskis und Gewalttäter.Das soll nicht von dem ablenken, worüber wir heute reden. Wir reden über den Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge und deshalb insbesondere über antisemitische Straftaten. Aus gutem Grund. Die Weimarer Republik ist daran gescheitert, daß man den nationalsozialistischen Brandstiftern nicht rechtzeitig und nicht geschlossen Widerstand geleistet hat. Dies muß uns allen Warnung und Mahnung zugleich sein.Geschlossen, das heißt, daß Demokraten nicht den Versuch machen — wie es auch in der Weimarer Republik war —, mit billiger Münze billige Schuldzuweisungen auszusprechen, wie es Frau Kollegin
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Johannes Gerster
Fuchs in für mich unveranwortlicher Weise gegenüber dem Bundeskanzler getan hat.
Die Geschichte unseres Volkes in diesem Jahrhundert sollte für uns bedeuten: Jede Schändung jüdischer Gebets-, Gedenk- und Mahnstätten schändet uns alle, ist eine Schande für unser Land, für unser Volk, für unsere Gesellschaft.Die Übeltäter sollen wissen, daß unsere Empörung über derartige Straftaten unsere Solidarität gegenüber unseren jüdischen Mitbürgern stärkt. Wir alle müssen alles tun, um ihre Würde, die Freiheit ihrer Religionsausübung, ihre Unantastbarkeit zu gewährleisten.Dies gilt auch gegenüber anderen Gruppen, gegenüber ausländischen Mitbürgern, gegenüber Behinderten, gegenüber allen Gruppen, in denen aus völlig unrationalen Motiven und für uns alle schwer verständlich Gewalt, Ausgrenzung geübt wird. Es gilt der Appell an alle, auch an diese Gruppen, auch an die ausländischen Mitbürger, mitzuhelfen, daß Gewalt in der Demokratie kein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ist.Dabei reicht es nicht, Brandstiftern die Maske des Biedermannes zu entreißen. Man muß es sagen: Ein Wolf im Schafspelz bleibt ein Wolf, auch wenn er Kreide gegessen hat.Es reicht auch nicht, sich nach jedem Anschlag immer wieder neu zu empören, nach dem Motto: Das bewegt uns wenige Tage und verfällt dann der Vergessenheit täglich neuer Nachrichten. — Danach bestimmen dann wieder andere Themen die Tagesordnung, und die antidemokratischen Kräfte treiben weiter ihr übles Unwesen. Wir müssen auch handeln.Nach meiner Auffassung müssen Recht und Gesetz durchaus auf den Prüfstand und gegebenenfalls so geändert werden, daß jeder, der aus rassistischen, insbesondere auch antisemitischen Motiven Mitbürger verunglimpft oder verleumdet, von Amts wegen von der Justiz zur Verantwortung gezogen werden kann. Es kann nicht sein, daß der Beleidigte, daß der Verleumdete zur Tat schreiten muß, damit ihm Recht widerfährt.Juristische Tricks, mit denen der Massenmord an Juden geleugnet werden kann, müssen unterbunden werden. Auch hier muß überlegt werden, ob der Gesetzgeber tätig werden muß.Auch muß über die hohe Eingriffsschwelle gegen Vereinigung mit verfassungsfeindlichem Charakter neu nachgedacht werden; denn, meine Damen, meine Herren, Brandanschläge sind die Folgen geistiger Urheber im Hintergrund. Genau diese sind ein Alarmzeichen für unsere Demokratie, vielleicht mehr als die geistig verführten Ausführer in oft jugendlichem Alter.Ich habe heute eine Zuschrift mit Absender bekommen: „Judenarschkriecher, Du lebst nicht mehr lange!" Es ist an der Tagesordnung, daß derartige Drohungen auch tagespolitisches Ereignis und Erlebnis werden.Reden und Handeln sind gefragt. Sorgen wir uns und sorgen wir dafür, daß Bonn und Berlin nicht Weimar werden! Gemeinsam und geschlossen, aber nicht in kleinkarierten Parteienzänkereien!Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Reinhold Hiller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die demokratische Öffentlichkeit in meiner Heimatstadt Lübeck ist zutiefst beunruhigt und beschämt darüber, daß der Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge zu einem neuen, unrühmlichen Höhepunkt von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus geführt hat. Nur durch einen Zufall und das schnelle Eingreifen der Lübecker Berufsfeuerwehr konnte eine mögliche Katastrophe verhindert werden.Besonders schlimm empfinde ich die Tatsache, daß der Kantor der jüdischen Synagoge, Herr Katz, als einer der nur zwölf Lübecker Überlebenden des Holocaust nach 1938 zum zweitenmal erleben mußte, daß seine Synagoge zerstört werden sollte und daß bei diesem Anschlag keine Rücksicht auf Leben und Tod der Bewohner des Hauses genommen wurde.
Die demokratische Öffentlichkeit hat unmittelbar nach Bekanntwerden des Verbrechens reagiert. Sie schützte die Synagoge, versammelte sich zu Demonstrationen und eindrucksvollen Kundgebungen. In manchmal kleinen und unspektakulären Gesten haben junge Menschen ebenso beeindruckend reagiert wie ältere Menschen, die den braunen Terror zwischen 1933 und 1945 erleben mußten. Tag und Nacht wurden Mahnwachen abgehalten. Spontan versammelten sich Bürgerinnen und Bürger, legten Blumen nieder und zündeten Kerzen an. In den Lübecker Kirchen wurde für die Beseitigung der Schäden gesammelt.Die demokratische Gegenwehr war nicht nur gekennzeichnet von Trauer über die Tatsache, daß nach den Verwüstungen der Reichspogromnacht und dem zwangsweisen Umbau der Synagoge in einen nordischen Ritterhof erneut ein Angriff auf die Lübekker Synagoge stattgefunden hat. Ich habe vielmehr eine ohnmächtige Wut gespürt, Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit über die als ungenügend empfundene Gegenwehr des Rechtsstaates und der demokratischen Gesellschaft.Aus konkretem Erleben der Tage in Lübeck möchte ich folgende Forderungen aufstellen. Sie mögen nicht die großen Forderungen sein, die sonst an dieser Stelle verhandelt werden.Zivilcourage ist wichtig. Wenn sich Schülerinnen und Schüler während des Unterrichts trotz des Verbots einer Lehrkraft an der Mahnwache vor der
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Reinhold Hiller
Synagoge beteiligen, dann ist dies nicht rechtlich bedenklich, sondern demokratisch und mutig.
Die Ausgrenzung und die Ächtung von Rechtsradikalen ist notwendig. Wenn im Kommunalwahlkampf in Schleswig-Holstein eine große Tageszeitung vier Tage vor der Wahl den Kandidaten der Republikaner zu einer öffentlichen Versammlung einlädt, dann war es richtig, daß der Hausherr, nämlich die Hansestadt Lübeck, diese Veranstaltung im Jugendzentrum untersagt und die SPD die Teilnahme an dieser Veranstaltung abgesagt hat.
Wir brauchen mehr solcher Zeichen bewußter Ausgrenzung von Rechtsradikalen.Die letzte Forderung, die ich aufstellen möchte, ist die nach mehr Gemeinsamkeit der Demokraten in der Haltung gegen Rechtsradikale. Mich widert es an, daß immer wieder Diskussionen nach Anschlägen aufbrechen, die, je länger diese Tat verstrichen ist, parteipolitisch motiviert werden.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, diese Sache ist mir einfach zu ernst, als daß man bei solchen Dingen in Deutschland an diese parteipolitischen Instrumentalisierungen überhaupt noch denken darf.Ich möchte ein historisches Beispiel anführen. Ich habe zu Hause ein Plakat, das zeigt, wie die demokratische Öffentlichkeit gegen den Kapp-Putsch Anfang der 20er Jahre reagiert hat — geschlossen und gemeinsam, und dieser Kampf gegen diesen Putsch von rechts ist damals erfolgreich gewesen. Ich habe gespürt, daß vermeintlich neue Lösungen ein gemeinsames Vorgehen aller Demokraten bei dieser ernsten Frage nicht ersetzen können.Die Lübecker Bevölkerung erwartet, daß die Täter und Drahtzieher schnell gefaßt und mit aller Härte des Rechtsstaates bestraft werden. Die Lübecker Bevölkerung hat sich eindrucksvoll mit den an Leib und Leben bedrohten jüdischen Mitbürgern solidarisiert. Sie erwartet nun vom Staat und von der Gesellschaft die Gewährleistung, daß insbesondere alle Minderheiten in Zukunft ohne Angst bei uns leben können.
Als nächste spricht nun Frau Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Anschlag auf die Synagoge der Jüdischen Gemeinde in Lübeck am 25. März 1994 läßt alte Erinnerungen und Ängste wieder wach werden. Nach Lübeck müssen unsere jüdischen Mitbürger mehr als vorher in Angst und Schrecken versetzt sein,auch wenn bei diesem Anschlag niemand verletzt wurde.Trotz intensiver Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft wissen wir noch nicht, wer den Anschlag wirklich begangen hat, aber allein der Umstand, daß die breite Öffentlichkeit diesen Brandanschlag Rechtsradikalen zurechnet, ist ein deutliches Zeichen für das Klima in unserer Gesellschaft. Mehr als 20 000 Straftaten mit rechtsextremistischem und fremdenfeindlichem Hintergrund im Jahre 1993 — deutlicher läßt sich das Ausmaß neofaschistischen Gedankengutes wohl kaum beschreiben.Alle demokratischen Kräfte müssen dem noch entschiedener als bisher Einhalt gebieten. Dazu gehört sicher auch eine unnachsichtige Strafverfolgung, und es wäre wünschenswert, daß die Ermittlungen bald zu greifbaren Ergebnissen führen.Aber mit der Strafverfolgung allein ist es nicht getan. Was wir brauchen, ist eine entschiedene und bedingungslose Allianz aller Demokraten gegen jede Art von Rechtsextremismus, von Extremismus und Antisemitismus.
Wir alle sind aufgerufen, täglich die offensive Auseinandersetzung zu suchen und deutlich zu machen, daß die Schönhubers in einer offenen und aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz haben.
Deshalb darf es von keiner Seite eine Verharmlosung der Republikaner geben.
Wir müssen alles tun, um dem Vordringen ihrer unheilvollen Ideen von einer rassisch-ethnisch-reinen Gesellschaft wirksam zu begegnen — nicht, indem wir diese Ideen verbieten und damit letztlich vielleicht noch ihre Verbreitung unterstützen, sondern indem wir dazu beitragen, wechselseitiges Verstehen zwischen Minderheiten und Mehrheiten in der Bevölkerung zu entwickeln.
Nicht Intoleranz oder Ausgrenzung, sondern ein interkultureller Dialog ist der Weg, um Vorurteile über ethnisch-kulturelle Unterschiede der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen abzubauen und damit konsequent gegen eine intolerante rechte Geisteshaltung vorzugehen.Es bleibt das traurige Verdienst einiger Historiker, in wissenschaftlicher Verkleidung die grausamen Massenmorde an jüdischen Bürgern in Konzentrationslagern durch Zahlenspielereien zu relativieren und damit letztlich zu verharmlosen. Sie tragen dazu bei, den Boden für den Rechtsextremismus wieder fruchtbar zu machen.
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerAuch dem Leugnen des Holocaust muß mit Entschiedenheit begegnet werden. Das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofs zur Auschwitz-Lüge hat zu vielen empörten Reaktionen geführt und manchenorts den falschen Eindruck entstehen lassen, das einfache Leugnen des Holocaust sei gar nicht oder nicht mehr strafbar. Die Urteilsgründe des Bundesgerichtshofs liegen noch nicht vor. Doch nach wie vor kann das einfache Leugnen des Holocaust wegen Beleidigung oder wegen Verunglimpfung Verstorbener strafbar sein.Um aber sicherzustellen, daß in jedem Fall das Strafrecht greift, wenn in menschenverachtender Weise der Holocaust geleugnet wird, begrüße ich die Überlegungen und Vorschläge, die Auschwitz-Lüge ausdrücklich unter Strafe zu stellen.
Dies bedarf einer gründlichen Beratung, und am Ende sollte der demokratische Konsens aller Parteien stehen.Selbstverständlich müssen Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus auch mit dem Strafrecht nachhaltig bekämpft werden. Aber ich warne davor, bei dieser Bekämpfung nur auf das Strafrecht zu setzen
und die Auseinandersetzung allein der Justiz zu überlassen.
Wir müssen mit allen in unserer Gesellschaft verfügbaren Mitteln entschlossen dafür sorgen, daß Bürger jüdischen Glaubens genauso wie unsere ausländischen Bürger hierzulande wieder ohne Ängste leben können.Die Werte unserer Verfassung, insbesondere der Schutz der Menschenwürde, müssen in uns allen lebendig sein, und Defizite in ihrer Vermittlung müssen von uns allen abgebaut werden.
Nun spricht Frau Kollegin Anke Eymer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir Lübecker, wir Deutsche sind empört über diesen barbarischen Anschlag. Wer dahintersteckt, soll wissen: Deutschland steht gegen ihn.Seit dem Massaker eines fanatischen israelischen Siedlers an Moslems in Hebron am 25. Februar hatte die Lübecker Polizei Schutzmaßnahmen für die Lübecker Synagoge getroffen. Noch kurz vor dem Anschlag war die Synagoge kontrolliert worden. Bis dahin gab es noch keine Hinweise.Daß alle überlebten, ist einem der beiden jüdischen Kantoren, Chaim Kornblum, zu verdanken, der aus dem Schlaf schreckte, als er Glas splittern hörte. Er schaute aus dem Fenster, sah Flammen an der Synagoge emporlodern und rief sofort die Feuerwehr und die Polizei. Ob es ein geplantes oder spontanes Attentat war, konnte noch nicht festgestellt werden.Zorn und Empörung, aber auch Solidarität kennzeichnen die Reaktionen der meisten Menschen in Lübeck. Was sollte dieser Anschlag erreichen? Welches Drehbuch wurde hier Realität? In jüngster Vergangenheit sehen wir bei Anschlägen in Ost und West viele gewaltbereite junge Rechtsextremisten. Unser Bundeskanzler hat deutlich gemacht, daß der Staat mit entschlossenen Maßnahmen gegen diese Gewalt und Fremdenfeindlichkeit vorgeht. Die Mehrheit der Bürger unterstützt diese Politik.Deutschland ist nach bitteren Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus ein Land mit toleranten und weltoffenen Bürgern geworden. Seit vielen Jahren leben Menschen verschiedener Nationen und Religionen in guter Nachbarschaft. Hysterische Reaktionen, Betroffenheitsrituale und dann wieder „business like usual" , so kann es nicht weitergehen.Mit Polizei und Justiz allein kann man aber der Gewalt als einem gesellschaftlichen Phänomen nicht beikommen. Man wird sich fragen müssen, ob nicht auch Bildung und Erziehung an dieser Entwicklung mitschuldig sind. Lange wurde die Werteerziehung als verzichtbar und reaktionär verspottet. Jetzt zeigt es sich, daß es unverzichtbar ist, junge Menschen mit klaren Orientierungen auf den Lebensweg zu schikken.Offene Gesellschaft und freiheitliche Demokratie ruhen auf Fundamenten, die der Staat nur in begrenztem Umfang garantieren kann. Deshalb muß das Wertebewußtsein geschärft werden, das den unauflöslichen Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung vertritt. Achtung vor der Würde des Menschen, Anstand, Rücksichtnahme, Toleranz, ja Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Dankbarkeit sollten unsere Gesellschaft prägen. Alle sind aufgerufen, in ihrem Wirkungskreis für einen breiten gesellschaftlichen Grundkonsens einzutreten.Dabei ist der Erziehungsauftrag der Schule besonders gefragt. Ethische Erziehung muß Leitmotiv für alle Fächer sein. Wer zur Mündigkeit erziehen will, darf sittliche Ansprüche nicht herunterschrauben, nivellieren oder gar lächerlich machen. Kritische Hinterfragung hört bei Gewalt gegen Personen und Sachen auf. Nie kann Gewalt verharmlost und geduldet werden.Der Einfluß der elektronischen Medien auf Jugendliche ist groß. Hier wird Gewalt und Brutalität breiter Raum gegeben. Eine Mitschuld an diesen Entwicklungen liegt sicherlich auch hierin. Achtung vor den anderen, Verantwortung für den Nächsten sind später nicht einfach abrufbar, wenn diese in Elternhaus, Schule und Medien nicht vermittelt werden.
Die Lübecker machten in verschiedenen Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern deutlich, wie abscheulich dieser Brandanschlag ist. Die vielen jungen Gesichter bei diesen Demonstrationen machen Hoffnung.
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Anke EymerIch danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun erteile ich Herrn Rudolf Krause das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jede Form von Kriminalität, jede Form von Gewalt und erst recht Brandstiftungen werden von den Republikanern verurteilt, abgelehnt und im Rahmen der politischen Möglichkeiten bekämpft.
Wer etwas anderes sagt, sagt in Unkenntnis oder vorsätzlich die Unwahrheit. In meinem Landesverband Sachsen-Anhalt habe ich weit über 100 000 Flugblätter in den letzten Monaten verteilen lassen, in denen eindeutig gegen jede Form von Gewalt und von Duldung der Kriminalität aufgerufen wird.
Es ist durch eine einseitige Darstellung der Medien, durch eine Vorverurteilung vor jeder Beweisaufnahme der Eindruck erweckt worden, als würden Republikaner mit diesem verbrecherischen Anschlag etwas zu tun haben.
Herr Pastor Ullmann, auch Sie kennen das achte Gebot: Man soll nicht falsch Zeugnis reden wider den Nächsten.
Es gab vor einigen Tagen eine Pressemitteilung — ich glaube in der „Welt" —, Spuren führten in den Nahen Osten, das Bundeskriminalamt wüßte davon. Ich erwarte eigentlich in dieser Debatte, daß der Kenntnisstand dem Parlament mitgeteilt wird.
Ich bin wie auch alle anderen verantwortlichen Republikaner in diesem Lande gegen jeden Mißbrauch von Gewalt für eigene politische Süppchen und gegen jeden Mißbrauch der Kriminalität für eigene politische Süppchen. Wer Recht und Ordnung will und wer sich das zum Programmpunkt gemacht hat, wird auch in den eigenen Reihen keine Ansätze dulden, die Gewalt als Teil von Unrecht irgendwie tolerieren. Ich erkläre das hier mit aller Entschiedenheit.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Als nächste hat unsere Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Ich schäme mich im Namen des gesamten Parlamentes dafür, daß unsere Demokratie es zuläßt, daß mein Vorredner hier soeben reden konnte. Denn seine Organisation gehört zu den geistigen Urhebern dessen, was wir hier beklagen. Der Vorsitzende seiner Organisation war es, der Ignatz Bubis aufs übelste verleumdet hat. Bitte schämen Sie sich!
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! „Eine Stadt hält den Atem an" — so nannten die Lübecker ihre Protestaktion, in deren Verlauf nicht nur in der Stadt selbst, sondern auch an anderen Orten in Schleswig-Holstein Autos und Busse stoppten und Gespräche verstummten. Ich will den Gedanken des „Innehaltens" weiterführen.Als die Nachrichten über den Brandanschlag auf das jüdische Gotteshaus das erste Mal aufkamen, da fragten sich manche: Wie ist das denn eigentlich? Ist das nun der erste Angriff auf eine Synagoge nach dem Ende der Nazidiktatur? Ich frage mich, wie solche Fragen entstehen. Sind wir schon so weit? Man hat die Anschläge auf KZ-Gedenkstätten, die Schändungen jüdischer Gräber und die antisemitischen und rassistischen Schmierereien der letzten Monate und Jahre im Gedächtnis und fragt, ob die Flammen von Lübeck denn überhaupt eine neue Dimension bilden. Es gibt auch den Medienjargon dafür. Das heißt dann „NewsWert" .Aus Journalistenkreisen hörte ich die Bemerkung: Natürlich fahre ich da hin, und ich berichte über die Gegendemonstrationen. Dann lesen die Leute am nächsten Morgen mal wieder so eine Betroffenheitsstory. Auch wenn das schrecklich klingt, liebe Kollegen und Kolleginnen, ich glaube, das ist noch nicht einmal berufsbedingter Zynismus, sondern einfach das Gefühl der Ratlosigkeit bei der Frage, was man mit Resolutionen, mit Kundgebungen und Reportagen überhaupt bewirken und bewegen kann und ob das Instrumentarium der wehrhaften Demokratie nicht am Ende schon abgenutzt ist. Ich wehre mich gegen diesen Trend der Gewöhnung. Ich stemme mich dagegen, daß rechtsradikale, antisemitische und fremdenfeindliche Gewalt in den Sog der sogenannten Normalität geraten können.
Nur, wie setzt man Zeichen? Die Öffentlichkeit ist ja in solchen Fällen gottlob wach und engagiert. Bürgerinnen und Bürger gehen auf die Straße. Mindestens ebenso deutlich müssen aber die führenden Repräsentanten des Staates und der demokratischen Parteien die Taten verurteilen. Dabei muß ich an die Adresse jedenfalls von Teilen in diesem Hause schon sagen: Die Intensität und Emsigkeit, die manche von Ihnen, der Kanzler eingeschlossen, bei der Forderung nach Abschiebung straffällig gewordener Kurden an den Tag legten, hätte Ihnen bei der Verurteilung des Angriffs auf die Synagoge sehr wohl angestanden.
Während wir in diesen Tagen in der Diskussion um die Kurden ein Wettrennen der Drohgebärden erleben, war der Abscheu über den Brandanschlag von Lübeck schnell, zu schnell abgehakt.
Diese Diskrepanz — ich spreche nur von dieser Diskrepanz — schadet dem Klima in unserem Land.
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18984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Dr. Cornelie Sonntag-WolgastDer Terror von rechts muß auch mit Recht und Gesetz bekämpft werden; die Justizministerin hat es eben gesagt. Aber seine Wurzeln und der Boden, aus dem er wächst, sind nur durch offensive politische Auseinandersetzung und gesellschaftliche Ächtung auszutrocknen.
Natürlich will auch ich, daß eine Partei wie die Republikaner lieber heute als morgen von der Bildfläche verschwindet. Aber niemand gebe sich der Illusion hin, ein Verbotsantrag sei der schnelle, richtige und erfolgversprechende Weg. Nein, leider ist er heikel, schwierig und riskant. Mit das Schlimmste, was wir erleben könnten, wäre ein juristisch besiegelter Persilschein für die Truppen rechts außen.
Daß sie rechtsextremistisch genannt werden müssen, hat begrüßenswerterweise jetzt gerade der Hamburger Verfassungsschutz festgestellt. Das hilft weiter.Kollegen und Kolleginnen, mir wird speiübel, wenn ich daran denke, wie Schönhuber Ignatz Bubis beleidigte und beschimpfte. Wenn man diesen widerwärtigen Äußerungen noch ein Positives abgewinnen kann, dann dies: Die Republikaner haben sich selbst endgültig die Maske vom Gesicht genommen. Jeder weiß jetzt, daß wir es nicht mit einem redegewandten Salonrechten, der auch noch bei Talk-Shows herumgereicht wird, zu tun haben, sondern mit einem Verleumder, einem Menschenverächter und einem üblen Hetzer.
Niemand, wirklich niemand kann sich jetzt noch damit herausreden, den Republikanern könne man ruhig einmal aus Protest und aus Daffke die Stimme geben, um die traditionellen Parteien aufzurütteln.
Mit brauner Brut kokettiert man nicht. Danke schön.
Nun hat der Kollege Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja ungewöhnlich, daß die Bundestagspräsidentin eine Aktuelle Stunde beginnt. Ich hätte gewünscht, daß mehr Mitglieder der Bundesregierung, über dieRessortgrenzen hinweg, den Weg hierher gefunden hätten.
Es ist sicherlich ein unbeabsichtigter Zufall, daß die Aktuelle Stunde am 46. Unabhängigkeitstag des Staates Israel stattfindet. Ich nutze die Gelegenheit, diesem Land und den dort lebenden Menschen zu wünschen, daß endlich Frieden in diesem Land einkehren möge.
Ich drücke unsere Hochachtung vor den Menschen aus, die die Entschlossenheit haben, sich trotz der terroristischen Anschläge uneinsichtiger Extremisten auf dem Weg zur Aussöhnung nicht beirren zu lassen.Ich möchte von dieser Stelle aus ausdrücklich auch dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, für sein unerschrockenes Auftreten gegen die Extremisten in Deutschland danken. Ich denke, daß er für die überzeugende Art, mit der er die jüdischen Deutschen repräsentiert, einen wesentlichen Beitrag zur Demokratie und zur politischen Kultur in unserem Lande leistet.
In Deutschland ist zum ersten Mal seit den Pogromen des 9. November 1938 eine Synagoge in Brand gesetzt worden. Der Begriff „Synagoge" bezeichnet in der griechischen und hebräischen Wortbedeutung nicht nur ein Haus, ein Gebäude, sondern eine Versammlung, eine Gemeinde von Menschen, die ihrem gemeinsamen Glauben Ausdruck geben wollen. Wer eine Kirche anzündet, will im Wortsinn auch die Menschen, die zu dieser Kirche gehören, und ihren Glauben verbrennen.Zur moralischen Bewertung ist kein Wort zu verlieren. Wir kennen die Täter nicht, aber ich hoffe, daß sie ihren Richter finden werden. Ich hoffe, daß die Richter nicht den mindesten Versuch unternehmen werden, ihre Beweggründe zu verstehen. Es gibt Taten, zu denen man nicht mehr argumentieren kann, und diese gehört dazu.Was ist zu tun? Die Auschwitz-Lüge, rassistische Volksverhetzung, der Versuch, faschistische Kennzeichen zu revitalisieren, die Herstellung und Verbreitung von NS-Devotionalien müssen endlich unterbunden werden. Wir sollten auch unsere Nachbarn Spanien, Dänemark und die Vereinigten Staaten ernsthaft fragen, ob sie weiter den Druck politischer Pornographie dulden wollen, die dort nur zu dem Zweck hergestellt wird, sie nach Deutschland zu exportieren.
Was uns beunruhigt, sind nicht diese Lücken in der Gesetzgebung, sondern die Frage, was zu dem Auf-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18985
Dr. Burkhard Hirschflackern neofaschistischer Vorstellungen, Phrasen, Aktionen und Mordtaten geführt hat, zu denen auch Mölln und Solingen gehören. Es gibt immer mehr Brandstifter, weil es zu viele Biedermänner gibt.
Müssen wir es dulden, daß der Bundespräsident von sogenannten Republikanern persönlich diffamiert wird und daß Ignatz Bubis als Volksverhetzer verhöhnt wird, ohne daß Sie es hier geradestellen? Ist es wirklich sozusagen eine Privatsache des jüdischen Teils unserer Bevölkerung, ob die Auschwitz-Lüge ohne Wenn und Aber unter Strafe gestellt wird? Unsere Vergangenheit geht uns alle und nicht nur einen Teil der deutschen Bevölkerung in gleicher Weise an.
Der Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministers schildert neofaschistische Tiragen der Republikaner. Die Feststellung dieser Tiraden allein reicht mir nicht. Wie wir auf den tatsächlich bestehenden Neofaschismus reagieren, werden nicht nur die Wahlen zeigen, das wird vor allem das Verhalten aller Demokraten in diesen Wahlkämpfen zeigen. Es wird sich zeigen, ob sie auf allen Ebenen klar und eindeutig die Zusammenarbeit z. B. mit den Republikanern ablehnen,
und ob es alle fertigbringen, daß neofaschistisches Verhalten, rassistische Hetze und dumme, ausländerfeindliche Sprüche eben nicht geduldet, sondern gesellschaftlich geächtet werden: klar, eindeutig und über jeden Zweifel erhaben.
Der Bundeskanzler hat zu Beginn seiner Amtszeit eine geistig-moralische Führung in Anspruch genommen. Hier ist sie notwendig, und nicht nur durch ihn. Jeder muß sich bekennen. Denn es geht um unsere Ehre, unser Bekenntnis zur unverbrüchlichen Menschenwürde, unseren Frieden und unsere Zukunft.
Nun spricht der Kollege Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht nicht nur um Lübeck, sondern es geht darum, daß die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung in unsererGesellschaft ein für allemal geächtet wird. Darin sind wir uns auch alle einig.Wir sollten uns in Lübeck vielleicht etwas zurückhalten; eine Vorverurteilung wäre falsch. Am Ende gehen die Wege tatsächlich in den Nahen Osten. Dann würden nur die triumphieren, die wir jetzt dafür veranwortlich zu machen versuchen, nämlich die Rechtsradikalen. Das wäre das Fatalste, was uns in dieser Frage passieren könnte. Deshalb ist es wohl sehr klug, sich zurückzuhalten. Deshalb ist das, Frau Kollegin Fuchs, was Sie dem Bundeskanzler vorgeworfen haben, nicht gerade ein Ausdruck großer politischer Klugheit.Wir Deutsche tun uns mit Worten wie Nation, Vaterland und Patriotismus schwer. Schuld daran ist zweifellos das Verbrechen des Nationalsozialismus. Viele unserer Zeitgenossen tun sich schwer, sich mit unserem Volk zu identifizieren, aus dessen Mitte der Nationalsozialismus entstand und das Land beherrscht und ein furchtbares Regime errichtet hat. Aber es hilft nichts. Wir können aus der Geschichte nicht aussteigen. Es ist unsere Geschichte. Die Zeit von 1933 bis 1945 wird auch in tausend Jahren noch ein Teil unserer Geschichte sein. Es nützt nichts, davonzulaufen.Die Jahre 1933 bis 1945 sind Teil unserer Geschichte, aber auch die Zeit danach, als unser Volk in einer Kraftanstrengung ohnegleichen und mit einem einzigartigen Lebensmut wenigstens im Westen — im Osten war das ja nicht möglich, weil dort genauso ein verbrecherisches Regime wie das Nazi-Regime weiterregiert hat — die Trümmer beiseite geräumt und das Land wiederaufgebaut hat. Auch das ist Teil unserer Geschichte, und darauf können wir stolz sein, meine sehr verehrten Damen und Herren. Auch das brauchen wir nicht zu verschweigen.Die PDS hat diese Aktuelle Stunde beantragt. Sie hat sich im März dieses Jahres auf ihrem Wahlparteitag als einzige politische Kraft gegen den Faschismus in Deutschland dargestellt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kommunismus und Nationalsozialismus haben dieselben Wurzeln. Sie liegen ganz eng beieinander; beide sind totalitäre Regime.
In beiden Regimen gab es Massenmorde. In beiden Regimen wurde die Wirtschaft dazu genutzt, die Menschen zu knechten. In beiden Regimen gab es ein ausgeklügeltes Spitzelsystem, mit dem die Freiheit und die Würde der Bürger auf das tiefste geknechtet worden ist. Auch das werden wir nicht vergessen. Auch daran werden Sie in Zukunft gemessen. Deswegen ist es einigermaßen eine Heuchelei, wenn Sie meinen, nur mit dem Anprangern der Gewalt von rechts — da teile ich Ihre Auffassung — könnten Sie von der eigenen Vergangenheit ablenken. Das werden wir nicht zulassen.
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18986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Norbert Geis— Wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, müssen Sie das schon ertragen.
Noch ein weiterer Punkt: Es fällt auf, daß es vor allem junge Leute sind, die sich mit rechtsradikalen Parolen schmücken, die rechtsradikale Parolen ausrufen und dabei Gewalt gegen Schwache, gegen Ausländerheime, gegen Fremde üben. Wir müssen uns fragen, warum dies so ist. Es ist kaum anzunehmen, daß diese rechtsradikalen Parolen wirklich reflektierte Ideologie dieser Jugendlichen sind. Es sind ja Jugendliche, zum Teil Minderjährige, die da aufgegriffen werden. Das muß man ja sehen. Mag es nicht auch ein Stück Orientierungslosigkeit sein, und mag daran nicht auch ein Stück die ältere Generation schuld sein?Die Jugendlichen — so sagt man uns — suchen Orientierung und Bindung. Sie suchen Bindung in der eigenen Familie und finden sie dort nicht mehr. Sie suchen sie in Vereinen und finden sie dort nicht mehr. Und dann suchen sie vielleicht Bindung in solchen verrückten Wehrsportgruppen wie der Wehrsportgruppe Hoffmann.
Ich meine, daß noch ein weiterer Gesichtspunkt berücksichtigt werden muß. Wir können nicht übersehen, daß jeder der Jugendlichen, der sich heute als Rechtsradikaler geriert, morgen in der Zeitung steht. Diese übermäßige Aufmerksamkeit der Medien und die übermäßige Registrierung von Rechtsradikalismus in unserem Land führen letztendlich auch dazu, daß es solche Ausfälle gibt.
Jedenfalls kann ich diesen logischen Schluß nicht von mir weisen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frage ist, ob wir für die Auschwitz-Lüge eigens einen Straftatbestand schaffen sollen. Das müssen wir lange überlegen.
Hier kann man nicht von vornherein nein sagen; hier darf es aber auch keinen Schnellschuß geben. Ich meine, Frau Ministerin, daß wir dies einmal in aller Ruhe bedenken und nach allen Seiten hin ausleuchten sollten.Das Verbot der Republikaner wäre falsch. Richtig ist, daß wir uns mit ihnen politisch auseinandersetzen müssen. Es muß jedem in unserem Land klar sein, daß, wer den Rechtsradikalismus unterstützt, nicht unser Land unterstützt, sondern unserem Volk schweren Schaden zufügt.Danke schön.
Und nun hat der Kollege Siegfried Vergin das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nie wieder — das war der tiefempfundene gemeinsame Wille demokratisch gesinnter Frauen und Männer in Deutschland nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nach Auschwitz. Nie wieder sollten Menschen auf Grund ihrer Rasse, ihrer Religion, ihres vermeintlichen Andersseins gedemütigt, verfolgt, getötet werden. Nie wieder sollte eine Synagoge brennen dürfen.Was ist aus unserem, meinem Wollen und Wirken, daß es nie wieder geschehe, geworden? War alles sinnlos, oder haben wir alles falsch gemacht? Ich glaube, hier mit einem Nein antworten zu können. Aber haben wir, d. h. haben genug Demokraten genug getan? Ich bin sicher, hier antworten zu müssen: Nein.Seit der Nacht vom 24. auf den 25. März 1994 liegt erneut Brandgeruch über Deutschland, der an die Nacht des 9. November 1938 erinnert. Dieser Scham, Entsetzen und Wut auslösende Synagogenbrand in Lübeck muß uns daran erinnern, daß der Schoß fruchtbar stets war. Dies zeigte nicht nur die erste große Silberman-Untersuchung der siebziger Jahre, sondern dies zeigen auch die Fakten. Am 25. Dezember 1959 wurde die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und Parolen beschmiert. Am 13. Januar 1960 wurde ein — glücklicherweise folgenloser — Brandanschlag auf die Synagoge in Amberg verübt. Im Sommer 1965 gab es eine ganze Serie von antisemitischen Schmierereien und Friedhofsschändungen. Antisemitische Schandtaten sind in den Jahren 1973, 1978, 1981, 1985 und seit 1992 verstärkt markiert.Meine Damen und Herren, wo jüdische Einrichtungen und Gedenkstätten geschändet werden, wo Synagogen brennen, sind alle Juden gemeint. Wo antisemitische Anschläge, aber auch Anschläge auf Behinderte, Fremde und Andersdenkende erfolgen, ist ein Nährboden dafür vorhanden. Diesen auszutrocknen ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit aller Demokratinnen und Demokraten.
Mit Friedbert Pflüger bin ich überzeugt — ich zitiere —, daß die Kräfte der Vernunft und der Demokratie nicht nur mit ihren linken, sondern auch mit ihren rechten Feinden fertig werden können. Aber dazu ist es notwendig, die neue Konservative Revolution nicht mehr zu verdrängen, sondern ernst zu nehmen und politisch zu bekämpfen.
Das heißt: Den Relativierern deutscher Geschichte muß endlich die Stirn geboten werden.
Zur Neuen Rechten muß eine eindeutige Abgrenzung aller Demokraten erfolgen, um schon den Anschein von Einvernehmen oder gar Kooperationsbereitschaft zu vermeiden.
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Siegfried VerginDie Ächtung der Täter, die auf besonders erschrekkende Weise an die schlimmsten Zeiten deutscher Geschichte anknüpfen, muß einhellig, die Empörung laut, deutlich, aber vor allem überzeugend sein. Die Legalitätstaktik von Rechtsextremisten muß enttarnt, und deren wahre Ziele müssen offengelegt werden.Meine Damen und Herren, wer nach dem Synagogenbrand 1994 immer noch glaubt, das Schielen nach rechts wäre nötig und entschuldbar, um Wähler für seine demokratische Partei zu gewinnen, muß mit diesem gefährlichen Spiel aufhören.
Bereits am 4. Oktober 1992 — dies will ich ins Gedächtnis zurückrufen — hatte uns der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, der israelische Schriftsteller Amos Oz, ins Stammbuch geschrieben — ich zitiere —:Die Vergangenheit — Ihre wie auch unsere — kann man nicht verbrennen. Nein, in Gefahr, Feuer zu fangen, sind Deutschlands Gegenwart und Zukunft.Er hatte hinzugefügt, daß es nicht nur Pflicht der Deutschen sei, Einwanderern Schutz zu gewähren und jüdische Gedenkstätten zu schützen, sondern auch — ich zitiere —sich selbst gegen gewalttätigen Rassismus und Gleichgültigkeit zu verteidigen.Hieran zu erinnern war heute geboten.
Nun hat der Kollege Horst Eylmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt Brandstifter, die mit eigener Hand Brände legen. Wer es in Lübeck gewesen ist, wissen wir nicht: unverbesserliche Antisemiten, politische Fanatiker oder verwirrte Jugendliche. Es kommt aber auch nicht entscheidend darauf an,
denn der Anschlag auf die Lübecker Synagoge war ja nur einer unter vielen antisemitischen Übergriffen; Kollege Gerster hat die Zahl hier genannt.Viel gefährlicher als die Täter, die mit eigener Hand etwas tun, sind die geistigen Urheber. Es gibt geistige Grabschänder, und es gibt geistige Brandstifter. Ein Grabschänder ist im übrigen von der gleichen moralischen Verkommenheit wie ein Brandstifter.
Am Aschermittwoch hat in Osterhofen Herr Schönhuber wörtlich gesagt — Herr Krause, hören Sie gut zu —: Das einzige Verbrechen vor der Weltgeschichte ist gewesen — er hat das in bezug auf die Deutschenund auf Deutschland gesagt —, daß wir zwei Weltkriege verloren haben.
Man muß sich diesen Satz wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Er bedeutet nämlich, wenn ich ihn logisch nehme, daß Schönhuber entweder den Völkermord an 6 Millionen Juden leugnet oder ihn für gerechtfertigt hält.
Das mag etwas zu messerscharf gedacht sein, aber Herr Schönhuber hat dies bisher nicht dementiert, er hat es auch nicht erläutert. Und Sie, Herr Krause, sein Parteifreund, haben es heute auch nicht getan.
Wer so etwas sagt, meine Damen und Herren, der trägt die moralische Mitverantwortung für Übergriffe gegen Juden in Deutschland, völlig ohne Zweifel.
Er ist einer der geistigen Brandstifter, er ist einer der geistigen Grabschänder. Dazu zählt Herr Schönhuber.
Berichten Sie, Herr Krause, ihm bitte, daß das die Meinung des Deutschen Bundestages ist.
Außerdem: Es gibt die Vorgänge im linksrheinischen Bergheim. Es ist sehr zweifelhaft, ob sich die Führung der Republikaner überhaupt noch von Gewalttaten ihrer Mitglieder distanziert. Auch dazu mag sich Herr Schönhuber äußern.Wir haben zur Zeit unzweifelhaft eine verbale Radikalisierung bei den Republikanern. Ich habe Zweifel, Herr Gysi, ob Sie recht haben, daß das ein erfolgversprechendes Rezept für die Republikaner ist.
Ich bin im Gegenteil der Auffassung, daß die Töne schriller werden, weil die politischen Erfolge für die Republikaner ausbleiben.
Ich glaube, daß dies eine gute Chance ist, denProtestwählern — und das sind ja zum Teil diejenigen,die die Republikaner gewählt haben — die Augen zu
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18988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Horst Eylmannöffnen, was für jämmerliche Gestalten dort an der Spitze stehen.
In diesen Wochen läuft in Deutschland der Film „Schindlers Liste". Wer ihn gesehen hat, der hat Schwierigkeiten, die Fassung zu bewahren. Die Bilder verfolgen ihn tage- und nächtelang. Diesen Film sehen Tausende, Millionen, hoffe ich, in Deutschland, auch junge Leute.Wer wird dann noch einem Politiker etwas abnehmen, der das alles verharmlosen will, der sagt, das einzige Verbrechen vor der Weltgeschichte sei gewesen, zwei Weltkriege zu verlieren!
— Das hat er wörtlich gesagt, und es ist nicht dementiert worden. Ich glaube, wir können alle überzeugt sein, daß dies alles seine Wirkung tun wird.Meine Damen und Herren, es ist hier häufig gesagt worden: offensive Auseinandersetzung. Das sagt sich so leicht. Totschweigen hilft nicht. Es hilft auch nicht, wegzusehen oder Diskussionen aus dem Wege zu gehen. Herrn Bubis mute ich nicht zu, sich mit einem Republikaner an einen Tisch zu setzen und auseinanderzusetzen.
Wir können nicht so vornehm sein. Wir können uns von den Republikanern nicht vorschreiben lassen, wann wir öffentliche Fernsehdiskussionen vor den Wahlen haben. Das alles gehört zu dieser Offensive, die wir uns selbst auferlegen wollen und müssen,
ob es uns nun paßt oder nicht.
Ich kann uns alle nur aufrufen, wirklich mit dieser politischen Offensive gegen die Republikaner und ihre armseligen Argumente anzufangen.Vielen Dank.
Damit sind wir am Schluß unserer Aktuellen Stunde angelangt, die ich hiermit beende.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Weinrechts
— Drucksachen 12/5138, 12/6060 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 12/7205 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Egon Susset Gudrun Weyel
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widersprüche? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Egon Susset das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich als Berichterstatter hier folgende Änderung bekanntgeben. Es ist etwas falsch übertragen worden. Auf Seite 37 der Drucksache 12/7205 bei § 20 Abs. 5 und 6 muß es heißen:
Für die Zuerkennung der in Absatz 4 Nr. 3 und 4 genannten Prädikate muß das Erntegut von Hand gelesen worden sein.
Die Landesregierungen können durch Rechtsverordnung zur Sicherung der Qualität oder soweit ein wirtschaftliches Bedürfnis besteht vorschreiben, daß für die Zuerkennung der Prädikate Auslese oder Eiswein das Erntegut von Hand gelesen worden sein muß.
Ich gebe das hiermit zu Protokoll.Meine Damen und Herren, die deutschen Winzer können auf einen hervorragenden Jahrgang 1993 von hochwertiger Qualität bei geringerer Menge zurückblicken. Statt Masse hat der Weinjahrgang 1993 auf Grund optimaler Wachstumsbedingungen Klasse gebracht — mit einem relativ hohen Anteil an Prädikatsweinen.Dennoch gibt die aktuelle Situation des Weinbaues Anlaß zu ernsten Sorgen. Das Überangebot an Wein in der Gemeinschaft läßt den Preisen für deutschen Wein auch bei sehr guten Qualitäten leider Gottes kaum Spielraum nach oben.
Daher müssen die Weinüberschüsse verringert werden. Die nationale Mengenregelung muß im Interesse stabilerer Weinmärkte und festerer Preise verbessert, die Qualitätsorientierung verstärkt werden. Dies ist die zentrale Zielsetzung des Gesetzentwurfs zur Reform des Weinrechts, den wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten.Zunächst einmal empfinde ich Befriedigung darüber, daß die Beratungen des Gesetzes trotz mancher Unkenrufe so rechtzeitig abgeschlossen werden konnten, daß es mit dem neuen Weinwirtschaftsjahr ab 1. September 1994 in Kraft treten kann, daß wir, was weitgehend eingeräumt wird, zwar einen Kompromiß, aber einen akzeptablen Kompromiß erzielt haben und daß wir dadurch für unsere Weinwirtschaft bessere Rahmenbedingungen für die Zukunft setzen können.Nun ist es Sache der Länder und der Weinwirtschaft, den Rechtsrahmen sinnvoll und in eigener Verantwortung zu nutzen. Den Ländern bleibt genügend Zeit, ihre weinrechtlichen Vorschriften bis zum 1. September 1994 anzupassen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18989
Egon SussetDie Weinwirtschaft hat ihre Vorstellungen und ihre regionalen Interessen eingebracht. Davon haben wir viele Anregungen aufgegriffen und im Gesetz verankert. Den Gesetzentwurf haben wir in wesentlichen Punkten zum Besseren verändert. Das Ergebnis ist — und ich sage das immer wieder — ein tragbarer Kompromiß.Die sehr unterschiedlichen Interessen der 13 deutschen Weinanbaugebiete ließen von vornherein kein anderes Ergebnis zu. Es galt, vieles unter einen Hut zu bringen. Kern der Auseinandersetzung war und ist die Ausgestaltung der nationalen Mengenregelung. Nach meiner festen Überzeugung ist eine striktere nationale Hektarertragsregelung notwendig. Nur so kann die Weinmenge wirksamer gedrosselt und die Qualitätsorientierung verbessert werden; denn niedrigere Erträge bringen bessere Qualität.
Darüber hinaus werden wesentliche Punkte der Kritik der Europäischen Kommission an der bisherigen Mengenregelung ausgeräumt: Von der bisherigen Begrenzung lediglich der Vermarktung wird das Schwergewicht auch auf die Drosselung der Erzeugung verlagert. Folgerichtig ist zur Ermittlung der Höchsterträge in Zukunft die tatsächlich in Ertrag stehende Rebfläche und nicht mehr die Betriebsfläche maßgebend. Darüber hinaus darf der über den Höchstertrag hinaus erzeugte Wein nicht mehr anderweitig verwertet werden; damit entfällt ein Produktionsanreiz. Vor allem wird die Möglichkeit, Wein aus ertragsstarken Jahrgängen unbegrenzt zu überlagern, auf 20 %, im Ausnahmefall — wenn zuvor eine schlechte Ernte war — auf 50 %, eingeschränkt. Allerdings gilt dies erst ab der Ernte 1997. Auch dies war ein Kompromiß, den wir eigentlich erst kurz vor der Verabschiedung in einem nochmaligen Gespräch mit den Vertretern der Weinanbaugebiete erreicht haben.Ich persönlich hätte auch damit leben können, daß dies schon in diesem Jahr in Kraft tritt. Bei dieser sehr umstrittenen Überlagerungsregelung haben wir uns jedoch die Entscheidung nicht leichtgemacht. Auch bei uns hat es Überlegungen gegeben, die Verantwortung für die Übermengen den Ländern zu übertragen. Allerdings ist dieser Weg nicht lösungsorientiert. Insbesondere wäre kaum vertretbar, daß die ungelöste Mengenfrage zu Lasten der Anbaugebiete ginge, die von sich aus die Menge erfolgreich begrenzen.Daher haben wir uns letztlich für eine verschärfte Mengenregelung entschieden, wie sie auch der Weinbauminister von Rheinland-Pfalz wiederholt gefordert hat. Er müßte eigentlich sehr zufrieden sein, zumal er noch im Januar dieses Jahres laut „Rheinpfalz" erklärt hat:Die Unfähigkeit der Deutschen,— so der Weinbauminister von Rheinland-Pfalz —sich im national gesteuerten Qualitätsweinbereich neue Regeln zu schaffen, beflügele Brüssel, das selbst in die Hand zu nehmen. Besser sei es, den jetzt vorliegenden Entwurf zu verabschieden, selbst wenn dort nicht alles optimal geregelt werde.Laut „Rheinpfalz" hält also Minister Schneider nichts von Vorschlägen, im neuen Weingesetz nur einen Rahmen vorzugeben und alle weinbaupolitisch umstrittenen Einzelheiten den Ländern zu überlassen.Die Überlagerungsbegrenzung ist notwendig, weil die Winzer von sich aus die Weinerzeugung bisher nicht auf die festgesetzten Hektarerträge begrenzt haben und weil die überlagerten Weinübermengen Markt- und Preisdruck ausgeübt haben.Dennoch wird den Winzern und der Weinwirtschaft eine dreijährige Anpassungsfrist eingeräumt. Mit dieser großzügigen Übergangsregelung sind wir an die äußere Grenze des Vertretbaren gegangen. Die geforderte Übergangsfrist von sechs Jahren würde nämlich die Überlagerungsregelung wieder aushebeln. Dies können wir nicht wollen; sonst würden wir die EU, die Europäische Union, geradezu einladen, für uns zu regeln. Wir hätten ohne Not nationalen Handlungsspielraum zu Lasten der Weinwirtschaft aufgegeben.Der mögliche Ausgleich qualitativ oder quantitativ geringer Ernten gibt den Winzern die notwendige Flexibilität, auf jährliche Mengen- und Qualitätsschwankungen angemessen zu reagieren. Damit kann dem Erfordernis einer kontinuierlichen Marktbeschickung selbst bei extrem hohen Ernteschwankungen Rechnung getragen werden.Für uns ist entscheidend: Mit der neuen Höchstertrags- und Überlagerungsregelung werden die Schwächen der bisherigen Regelung beseitigt. Nur mit dieser strikteren Regelung können wir die weitgehende nationale Zuständigkeit für den Qualitätsweinbereich sichern und eine EG-einheitliche Regelung zu Lasten des deutschen Weinbaus verhindern.Wir hätten uns leichter getan, die Regelungskompetenz auf die weinbautreibenden Länder oder aber nach Brüssel abzuschieben. Dies alles hätte aber nicht unserem Verständnis entsprochen, in grundlegenden Fragen eine verantwortungsvolle Entscheidung für die Zukunft des Weinbaus zu treffen.Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird auch das Einbetriebsprinzip für Genossenschaften und Erzeugergemeinschaften erhalten. Damit wird betriebswirtschaftliche Flexibilität gesichert.Um Wettbewerbsnachteile für voll abliefernde Genossenschaftsmitglieder zu vermeiden, werden diese in Zukunft, was den Eigenverbrauch anlangt, den selbstvermarktenden Winzern gleichgestellt.Der Qualitätsverbesserung — einem Kernanliegen des Gesetzes — dient die Anhebung des natürlichen Mindestalkoholgehalts bei Qualitätswein mit Prädikat. An dieser qualitätsverbessernden Maßnahme halten wir fest, zumal hierdurch das Angebot leichter Kabinettweine nicht beeinträchtigt wird.Mit diesem Bündel produktionsbegrenzender und qualitätsverbessernder Maßnahmen haben wir die Voraussetzungen geschaffen, das Weinangebot besser an die Nachfrage anzupassen, und gleichzeitig
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18990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Egon Susset— ich glaube, das müssen wir auch sagen, denn nur wenn Wein verbraucht wird, kann man Wein auf Dauer vernünftig und zu guten Preisen produzieren — haben wir dem Verbraucher signalisiert, daß er Vertrauen in die Qualität unserer Weine haben kann. Das ist auch wichtig. Wer die internationale Presse dazu dann und wann liest, der weiß, warum ich dies sage.Leitlinie bei den Beratungen war für uns, ein zukunftsorientiertes Weinrecht zu schaffen und in vertretbarem Umfang Entscheidungen auf die regionale Ebene zu verlagern, den Ländern mehr Verantwortung für die Gestaltung des Weinrechts zu übertragen und damit den Besonderheiten der einzelnen Weinanbaugebiete besser Rechnung zu tragen.Dabei haben wir weitestmöglich von den Ländern und von der Weinwirtschaft an uns herangetragene Vorstellungen, insbesondere auch aus dem Land Rheinland-Pfalz, aufgegriffen, wie z. B.:Auf die behördliche Festlegung von Spätleseterminen wird verzichtet.Auch wird die Ausgestaltung der neuen Ursprungsweine in die Hände der Weinregionen und der Länder gelegt. Das heißt, hier ist Spielraum vor Ort. Hier ist nichts von Bonn aus vorprogrammiert, sondern jedes Weinanbaugebiet kann sich nun gebietsspezifisch entscheiden.Schließlich berücksichtigt das neue Weingesetz weitgehend Forderungen nach „Entkriminalisierung" des Weinrechts.Eine funktionierende Mengenbegrenzung ist jedoch nicht ohne wirksame Kontrolle möglich. Daher haben wir uns bereits vor Jahren für die Einführung des Kontrollzeichens ausgesprochen.
Dennoch haben sich Bundesregierung und weinbautreibende Bundesländer auf eine dreijährige Erprobungsphase des alternativen Abschreibemodells verständigt. Daher sollte nun dieses Ergebnis abgewartet werden; aber auf das Kontrollzeichen kann nur dann verzichtet werden, wenn das Abschreibeverfahren zu einem gleichwertigen Kontrollergebnis führt.
Hierfür hätten wir jeweils die Zustimmung aller Fraktionen. Das haben wir ja bei der Diskussion zum Weingesetz in Berlin deutlich erlebt.
— Aber, lieber Kollege Sielaff, wir warten jetzt die drei Jahre ab, bevor wir als Gesetzgeber hier nun eine Vereinbarung zwischen Bund, Ländern und Weinwirtschaft kippen. Aber ich wollte darauf hinweisen, daß dieses Thema noch nicht aus der Diskussion ist.
— Gut.Ein weiterer Schwerpunkt der Gesetzesänderung zielt darauf ab, das Weinrecht zu vereinfachen. Es waren früher zwei Gesetze, das Weingesetz und dasWeinwirtschaftsgesetz. Nun haben wir nur noch eines.
Hier ist eine Vereinfachung eingetreten, die sicherlich denen, die damit zu tun haben, zugute kommt.
— Bitte schön.
Eine Zwischenfrage der Kollegin Gudrun Weyel.
Herr Susset, finden Sie wirklich, daß es eine Vereinfachung ist, wenn Sie es erst zusammenschreiben und anschließend feststellen, daß für den zweiten Teil des ehemaligen Weinwirtschaftsgesetzes überhaupt keine Reformen vorgenommen sind und wir heute beschließen werden, daß der Minister uns bis Ende nächsten Jahres erst einmal einen Bericht geben soll, damit wir dann wieder überlegen, ob wir nicht doch etwas ändern müssen? Darin sehe ich keine Vereinfachung.
Nun, Frau Kollegin Weyel, wenn Sie sagen, wir hätten da nichts geändert, muß ich erklären: Wir haben da durchaus etwas geändert. Darauf werde ich nachher auch noch zu sprechen kommen. Ich hätte selbst auch gesagt, daß wir den Bericht einfordern.Aus Ihrer Frage geht schon hervor, daß wir tatsächlich etwas geändert haben; sonst hätten Sie diese Frage ja gar nicht stellen können, weil dies nämlich das Weinwirtschaftsgesetz und nicht das Weingesetz betrifft.
Auf Grund ihrer großen Marktbedeutung wird an der Großlage festgehalten. Sie ermöglicht eine geographische Zusammenfassung von Weinen und eröffnet die Chance für ein marktgerechtes Angebot, für ein Angebot großer Partien gleicher Herkunft, gleichen Jahrgangs, gleicher Sorte und gleichen Preisniveaus. Das ist Wein für ein Marktsegment, das nicht vernachlässigt werden darf.Gleichzeitig haben wir der Aufnahme eines sogenannten Ursprungweinkonzepts im Weingesetz zugestimmt. Dadurch wird den Ländern die Möglichkeit gegeben — ich bin vorhin schon darauf eingegangen —, Qualitätsweine garantierten Ursprungs einzuführen. Dies ist ein neuer Ansatz, um die Markttransparenz zu verbessern. Hier sind regionale Entscheidungen notwendig, und jetzt liegt es an den weinbautreibenden Bundesländern, das Bestmögliche daraus zu machen.Ich glaube, wenn dies vernünftig gemacht wird, dann wird sich der Verbraucher in der Zukunft mit seinem Wein viel besser identifizieren können; denn das Einkommen im Weinbaubetrieb entsteht bei der Vermarktung. Deshalb kann uns nicht gleichgültig sein, was dort geschieht. Wir müssen uns auf die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18991
Egon SussetWünsche der Konsumenten einstellen, wir müssen auf Qualität setzen. Das ist die Stärke des deutschen Weinbaus. Deutschland ist ja immerhin der viertgrößte Weinexporteur. Auch deshalb ist es notwendig, daß wir in dieser Richtung einiges tim.Allerdings, und das muß man auch sagen, müssen unsere Winzer mit ausländischen Weinen konkurrieren, die großen Marktdruck ausüben. Der Selbstversorgungsgrad deutscher Weine beträgt nur 60 % . Aber dies macht doch deutlich, welche Chancen wir haben. Wir müssen sie ergreifen; angesichts des stagnierenden Weinkonsums kommt es darauf an, alle Chancen tatsächlich zu nutzen.
Eine verringerte Weinerzeugung in Deutschland muß einhergehen mit der Stärkung der Marktposition des deutschen Weins. Daher messen wir dem Gemeinschaftsmarketing und der Arbeit des Weinfonds, die sich im Prinzip bewährt hat, besondere Bedeutung bei. Vorrangiges Ziel ist gegenwärtig, das zur Durchführung der Aufgaben des deutschen Weinfonds erforderliche Aufgabenaufkommen auch künftig sicherzustellen.Zugleich haben wir die Bundesregierung beauftragt, das Konzept der gemeinschaftlichen Absatzförderung für Wein kurzfristig zu überprüfen und — jetzt kommt es, Frau Weyel — uns bis 1995 einen Bericht vorzulegen damit wir sehen, ob diese Lösung akzeptabel ist oder ob wir uns auch damit vertraut machen, unter Umständen andere Wege zu gehen.Daher haben wir die Weinfondsabgabe, statt sie bis zum Jahr 2000 schrittweise anzuheben, jetzt von 1,20 DM auf 1,40 DM erhöht, was den gestiegenen Kosten entspricht.Die Abgabe für den Weinfonds ist auf die Förderung des deutschen Weines insgesamt ausgerichtet. Die Abgabe für die Gebietsweinwerbung haben wir wegen der anderen Zielrichtung von der Abgabe für den Weinfonds abgekoppelt. Dies ist sachlich begründet; die Gebietsweinwerbung ist Sache der Regionen.Die Bundesregierung hat mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen in Brüssel manche Erfolge für die deutschen Winzer durchgesetzt. Insbesondere haben wir dank des persönlichen Engagements unseres Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl 1984 in Dublin die weitgehende nationale Zuständigkeit im Qualitätsweinbereich erhalten können.Auch bei den Verhandlungen über die Reform der Weinmarktordnung der Europäischen Union können sich unsere Winzer darauf verlassen, daß ihre Interessen mit dem gebotenen Nachdruck vertreten werden. Wesentliches Reformziel ist ein besseres Gleichgewicht auf dem europäischen Weinmarkt, vor allem über den drastischen Abbau der Überschüsse bei Tafelwein.Gleichzeitig muß die bewährte Qualitätsweinpolitik der nord- und der mitteleuropäischen Regionen erhalten und gesichert werden. Unsere traditionellen Produktions- und Anbaubedingungen bei Wein dürfen nicht gleichmacherischen Tendenzen geopfert werden. Deshalb haben wir nun dieses Weingesetz beschlossen, damit wir in Brüssel etwas durchsetzen können.
Ich bin fest davon überzeugt, die Bundesregierung und der Bundeskanzler werden sich in dieser Frage für die deutsche Weinwirtschaft stark machen.
Zu den Beratungen lagen höchst unterschiedliche Vorschläge vor. Selbstvermarkter, Weingüter, Genossenschaften, Weinhandel und Kellereien haben jeweils eigene Vorstellungen zum neuen Weinrecht entwickelt. Aber kein Verband und kein Anbaugebiet hat ein in sich geschlossenes Konzept vorgelegt, mit dem alle zufrieden gewesen wären. Ich habe es bisher nicht kennengelernt. Deshalb haben wir versucht, nun zusammenzufassen. Ich bin fest davon überzeugt, das Gesetz hat einen Rahmen geschaffen, mit dem das Vertrauen der Verbraucher in den deutschen Wein gestärkt wird und mit dem die Weinwirtschaft künftig auch leben kann.
Herr Kollege Susset.
Herzlichen Dank den Vertretern der Bundesregierung, den Damen und Herren des Ausschusses und der Fraktionen, die uns bei diesem nicht leichten Weg mit den vielen Anhörungen und Gesprächen unterstützt haben, damit wir Bestmögliches erreicht haben. Es ist wie bei allen Weingesetzen: Die Zufriedenheit — —
Herr Kollege, Ihre Redezeit.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Gudrun Weyel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Susset, ich habe mit großem Interesse zugehört. Wenn Sie von einem „tragbaren Kompromiß" sprechen, dann, finde ich, ist das ein etwas armseliges Ergebnis für ein Gesetz, das von der Regierung als der große Wurf angekündigt war und das zumindest bis zum Ende dieses Jahrhunderts unverändert Gültigkeit haben sollte.
Wir stimmen in vielen Fragen sachlich überein, aber was dabei herausgekommen ist, Herr Susset, ist zum Teil nicht das, was Sie in den Beratungen gesagt haben. Sie sagen, wir wollten den Ländern mehr Verantwortung übertragen. Was haben Sie gemacht? Sie haben den Länderministern mehr Verantwortung übertragen. Unser Vorschlag, den Ländern mehr Verantwortung zu übertragen, indem wir ihnen Gesetz-
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Gudrun Weyelgebungsbefugnisse übertragen, haben Sie abgelehnt.Ähnlich ist es mit dem Kontrollzeichen. Das, worauf Sie jetzt Bezug nehmen, ist eine Kann-Bestimmung. Wir wollten gerne eine klare verpflichtende Bestimmung für das Kontrollzeichen mit der Übergangszeit der Abschreibebuchführung. Dem haben Sie ebenfalls nicht zugestimmt.Wir sind uns darin einig: Wir wollen auf Qualität des deutschen Weines setzen. Aber auch hier sind wir der Meinung, daß das, was jetzt im Gesetz steht, diesem Wunsch nicht gerecht wird.
Die Änderung des Weinrechtes wurde damit begründet, daß das Weingesetz in seiner veränderten Form von 1971 den Anforderungen der Europäischen Union nicht mehr genügt und für die Betroffenen nur noch schwer zu übersehen ist. Es sollten „technische Detailfragen von geringerer weinbaupolitischer Bedeutung" in Zukunft nicht mehr gesetzlich geregelt werden.
Außerdem haben Sie schon über die Zusammenfassung der beiden Gesetze gesprochen. Ich habe dazu schon etwas bemerkt. Der Bundeslandwirtschaftsminister hat in einem Interview darüber hinaus gefordert, gegenüber der europäischen Weinbaupolitik nationale Handlungsfähigkeit zu dokumentieren und vor allem durch eine Verbesserung der Hektarertragsregelung die Kritikpunkte der europäischen Kommission auszuräumen.
— Da hatte er recht, richtig. Nur, was im Gesetz steht, entspricht dieser Absichtserklärung nicht.
Die Weinwirtschaft erwartete nach diesen Absichtserklärungen den großen Durchbruch, eine bessere Regulierung des Marktes, Erhaltung des deutschen Qualitätsanbaus und die Durchsetzung angemessener Preise. Erstrebt wurde aber auch eine stärkere Beteiligung der Betroffenen durch Regelungen für Weinwirtschaftsräte, die dann aber auch wirkliche Kompetenzen übertragen bekommen.Alle diese Erwartungen sind mit dem vorliegenden Gesetz leider nicht erfüllt. Insbesondere der Anspruch, gegenüber den europäischen Gremien deutliche Zeichen der Konsolidierung des deutschen Weinmarktes zu setzen, ist nicht einmal ansatzweise erfüllt.
Nun fällt natürlich in diese ganze langwierige Beratung der Wechsel des zuständigen Ministers. DerReferent ist weggegangen, und das Referat war lange Zeit verwaist.
— Hören Sie doch bitte zu! — Ich möchte den jungen Beamten herzlich danken, die sich wirklich große Mühe gegeben haben.
Aber sie haben noch nicht die Erfahrung, die ein altgedienter Referent hat.
Das Beratungsverfahren war lang und mühselig. Die Bundesregierung hat eineinhalb Jahre für die Erarbeitung des Entwurfs benötigt. Im Ausschuß war die Beratung sehr schwerfällig, insbesondere dadurch, daß eine Anhörung angesetzt wurde, ehe sich der Ausschuß überhaupt das erste Mal mit dem Text des Gesetzes befaßt hatte. Das führte dazu, daß Fragen, die im Laufe der Beratung auftraten, nicht mehr beantwortet werden konnten und deshalb manches im dunkeln blieb.
— Sie können Fragen, die bei der Beratung auftauchen, nicht vorher beantworten. Die kennen Sie nämlich gar nicht vorher, Herr Ausschußvorsitzender!Die Hektarertragsregelung ist nicht geändert, bis auf die Einziehung einer Grenze von 150 hl für Tafelwein. Es bleibt bei der Rechtsverordnungsermächtigung für die Landesregierungen, und wir wissen, daß diese sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Die Frage ist immer noch, was eigentlich an Bestimmungen, die jetzt durch Rechtsverordnung geregelt werden sollen, von „geringer Bedeutung" ist.In der Praxis kann auch die engere Fassung des Begriffs der Ertragsrebflächen in der Übergangszeit in diesem Jahr durchaus Schwierigkeiten bringen. Insofern ist das Ansinnen von Minister Schneider, das Inkrafttreten auf 1995 zu verschieben, nicht unverständlich; denn die Länder müssen ja die Umsetzung bis zur Ernte machen. Ich gehe davon aus, daß sich die zuständigen Länderminister noch einmal im Bundesrat mit diesem Problem befassen werden.Geändert ist allerdings der Umgang mit den Übermengen. Sie können insbesondere nicht mehr verwertet werden außer als Reserve für den Austausch regulärer Mengen. Dies wird bis zum Herbst unter Umständen Probleme aufwerfen, weil ja mancher Winzer noch Übermengen gelagert hat, von denen er angenommen hat, er werde sie anderweitig verwerten können.Natürlich kann man einwenden, alle Betroffenen hätten seit über einem Jahr das Gesetz gekannt
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18993
Gudrun Weyel— genau dieser Punkt war nie strittig —; aber trotzdem wird es Schwierigkeiten geben.In Zukunft werden wir die Begrenzung der Oberlagerung auf 20 % der Hektarerträge haben. Ich mache darauf aufmerksam, daß die Formulierung in § 10 zur Übermenge außerordentlich problematisch ist und dazu führen könnte, daß etwas ganz anderes darin gesagt wird, als wir gemeint haben. Das wird nur dadurch aufgehoben, daß in § 11 dazu eine andere Ausführung steht.Nach Auffassung vieler Sachverständiger ist es aber kaum kontrollierbar, wie das mit den 20 % Überlagerung tatsächlich gehandhabt wird, zumal insbesondere bei Mehrstufenmodellen die erlaubte Ertragsregelung pro Betrieb von Jahr zu Jahr wechselt. Deswegen halte ich diese Sache einfach nicht für praktikabel.Wir wollten den Winzern mehr Eigenverantwortung übertragen; denn sie wissen, daß sie Übermengen in Zukunft nur noch lagern können, um sie dann an Stelle regulärer Mengen nutzen zu können. Wir waren der Auffassung, daß die Winzer, wenn sie das wissen, auch mit einer unbegrenzten Überlagerung umgehen können. Sie werden dann nämlich auf eine unbegrenzte Überlagerung verzichten, weil sie wissen, daß sie sich damit nur betriebliche Kosten verursachen.Seit 1992 sind von der Regierung immer wieder neue Gesetzentwürfe vorgelegt worden. Der letzte Entwurf stammt vom 4. November 1993. Dabei wurden die Einzelbestimmungen, die erst schärfer gefaßt waren, immer mehr abgemildert. So ist zunächst davon ausgegangen worden, daß man die Großlagen abschaffen und nur noch auf Einzellagen zurückgehen will. Das ist im Laufe der Entwürfe immer wieder verändert worden. Nun haben wir die Einzellagen und die Großlagen und dazu als neue Schöpfung den Ursprungswein als Versuch eines marktgängigen Produkts mit gleichbleibendem Geschmacksprofil. Damit sollen Käufer angesprochen werden, die bei gleicher Bezeichnung eines Weins einen immer gleichen Wein erwarten. Weinkenner wissen aber, daß Weine je nach Jahrgang und Klima von Natur aus wechselnden Geschmack haben. Es soll für die nächsten Jahre geprüft werden, ob mit dem Ursprungswein die Großlagen ersetzt werden können.Ich möchte aber noch einmal auf die gewählte Bezeichnung hinweisen. Die Bezeichnung „Qualitätswein garantierten Ursprungs" könnte zu Irritationen führen; denn sie erweckt beim Käufer den Eindruck, „garantiert" sei doch sicherlich etwas Besseres, als wenn das nicht dabeistünde. Damit entsteht die Gefahr, daß der Ursprungswein gegenüber den guten Weinen aus Einzellagen einen Absatzvorteil gewinnt, der nicht gerechtfertigt ist.
Im übrigen habe ich in der Zwischenzeit mehrfach Zuschriften von Winzern und Weinerzeugern bekommen, die genau diese von mir geschilderte Beurteilung teilen.Hinsichtlich der Vereinfachung des Bezeichnungsrechts, die ja auch zu Ihren Vorstellungen gehörte, istüberhaupt nichts geschehen. Im Gegenteil, meine mehrfache Forderung, die Regierung möge uns eine vernünftige Vorlage dazu machen, wurde damit beantwortet, daß es ja eine AID-Schrift gibt, in der alles steht. Wenn Gesetze so beraten werden, meine Damen und Herren, dann stellt sich das Parlament wirklich selbst ein Armutszeugnis aus.
Auch das, was unter dem Stichwort „Entkriminalisierung" lief, ist höchst unvollständig. Ich bin der Meinung, bei der Flut von Antragsformularen, die ein Winzer heute bewältigen muß, kann es durchaus passieren, daß er nicht einmal fahrlässig, sondern einfach im Gang der Geschäfte gerade bei der Hektarertragsregelung Übertretungen begeht, die meines Erachtens nicht bestraft werden sollten. Unser Antrag ist leider von Ihnen abgelehnt worden, aber ich halte dies nicht für gerechtfertigt.
Noch einmal die Frage: Was eigentlich sind „Details von geringerer Bedeutung "? Ist eine Veränderung des Alkoholvolumens, ist eine Veränderung des Ertrages von großer oder geringer Bedeutung? Das kann uns bisher keiner sagen, und wir haben eben auf einen Großteil unserer gesetzgeberischen Rechte verzichtet.Über den Bericht, den der Ausschuß beantragt hat, ist schon gesprochen worden. Ich möchte aber noch auf die Sprache hinweisen. Die Sprache dieses Gesetzes ist bürokratisch-juristisch, sicherlich ordentlich, aber für den Benutzer kaum verwertbar. Oder was denken Sie sich — ich bitte jetzt die Kolleginnen und Kollegen, die bei der Beratung nicht dabei waren, gut zuzuhören —, wenn es heißt:Getränke, die mit Erzeugnissen verwechselt werden können, ohne Erzeugnisse zu sein, dürfen nicht verarbeitet und in den Verkehr gebracht werden.Das sind doch Stilblüten, und welcher Nutzer eines Gesetzes soll sich darunter etwas vorstellen können?
So geht es an verschiedenen Stellen weiter. Das Gesetz ist wirklich nur für Fachleute lesbar.
Es kommt darüber hinaus die Frage, da ja nun alle Hinweise auf die europäische Gesetzgebung sorgfältig entfernt worden sind, woher aber derjenige, der im deutschen Weingesetz nachsieht, weiß, was nun eigentlich alles seine Pflichten sind, wenn es gar nicht mehr drinsteht! Da muß er im Hinterkopf wissen, er muß nun auch noch die verschiedenen europäischen Verordnungen herbeiholen, und darüber hat er noch keine Unterlagen.Wenn sich also ein Winzer in der Praxis nach dem Gesetz richten will und nicht nach dem, was ihm sein
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18994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Gudrun WeyelBerater sagt, dann kann er das Gesetz einfach nicht nutzen.
Insgesamt muß ich sagen: Auf eine Novellierung in der vorliegenden Form hätte man gut verzichten können. Diese Meinung wird von vielen Fachleuten geteilt. Deshalb wird die SPD-Fraktion dem Gesetz als Ganzem nicht zustimmen; wohl aber werden wir den Aufträgen zustimmen, die im Ausschußbericht an die Bundesregierung erteilt werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Ulrich Heinrich, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz, das im wahrsten Sinne des Wortes einen Kompromiß darstellt.
So vielfältig, wie sich die Weinlandschaft in Deutschland selbst darstellt, so unterschiedlich sind selbstverständlich auch die Interessen der betroffenen Winzer und der Weinwirtschaft, und mit so unterschiedlichen Wünschen sind wir konfrontiert worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau Kollegin Weyel, ich möchte für uns im Ausschuß in Anspruch nehmen, daß dieses Gesetz ausgesprochen sorgfältig und gewissenhaft beraten worden ist. Es gibt überhaupt kein Gesetz, mit dem wir uns so viele Stunden befaßt, bei dem wir alles abgewogen und wo wir überlegt haben, in welcher Form wir es zu Papier bringen sollen. Ich möchte schon sagen: Die Geduld nicht nur unserer Kollegen haben wir sehr stark strapaziert, sondern auch die Geduld der Beamten, die uns begleitet haben und uns immer geduldig mit fachkundigen Auskünften und Informationen versehen haben.Frau Weyel, Sie hören jetzt nicht zu, Sie haben vielleicht das letzte Mal im Ausschuß auch nicht zugehört; das mag schon sein, aber danach kritisieren Sie. Das tut mir ausgesprochen leid, und ich finde es auch in gewissem Sinne unhöflich, sehr geehrte Frau Kollegin.
Zu den unterschiedlichen Interessen kommt natürlich noch die schon unglaublich zur Tradition gewordene Regelungsdichte auf europäischer Ebene. Auch dies hat uns bei der Beratung dieses Gesetzes begleitet, und wir konnten immer wieder feststellen, daß auch von Europa kein Erbarmen zu erwarten ist, was weitere Vorschriften in der Weinrechtspolitik anbelangt. Wir haben dort mit weiterem Regelungswerk zu rechnen.Als Liberaler braucht man in dieser Situation natürlich schon eine geraume Zeit, bis man sich an diese unglaubliche Regelungsdichte gewöhnt hat, obwohl wir ja von der Agrarpolitik in diesem Bereich ohnehin nicht verwöhnt sind, obwohl wir da ohnehin immer mit sehr ausufernder Bürokratie konfrontiert worden sind.
Was haben wir in diesem Gesetzeswerk geregelt?
Trotz allem, was ich gerade gesagt habe, und trotz allem, was Sie gesagt haben, Frau Weyel: Wir haben entbürokratisiert.
Wir haben aus zwei Gesetzen eines gemacht.
— Da freut sich sogar der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Herr Kollege Eylmann. Wir haben aus zwei Gesetzen eines gemacht, und das ist eine Entbürokratisierung, wenn man gleichzeitig viele Dinge zusammenfaßt und lesbar gestaltet.
Wir haben ein Weingesetz geschaffen, das überhaupt erst wieder lesbar geworden ist. Das alte war ja nicht mehr nachvollziehbar. Daß Sie genau das jetzt dem neuen Gesetz unterstellen — man könne es nicht lesen —, kann ich nicht nachvollziehen.
Ich gebe Ihnen ja zu, juristisches Schriftwerk ist für Praktiker wie uns nicht einfach. Aber ich glaube, das ist nichts Außergewöhnliches in diesem Gesetz, sondern das begleitet uns bei der Gesetzesarbeit hier in Bonn insgesamt.
Wir haben des weiteren den nationalen Spielraum, wie ich meine, voll ausgenutzt und das Maximale dessen erreicht, was uns die europäische Weinmarktordnung überhaupt beläßt. Ich glaube, wir haben vielleicht sogar schon haarscharf die Grenze überschritten, so daß wir befürchten müssen, gegebenenfalls hier eine Korrektur zu erfahren. Ich hoffe das aber nicht.Wir haben uns dabei immer von dem Gedanken der Qualitätsverbesserung leiten lassen und dabei die Aufnahmefähigkeit des Marktes nicht aus den Augen verloren. Denn ich meine schon, wenn wir uns hier in einer weinwirtschaftlichen Diskussion befinden, so ist der Markt eigentlich der Punkt, der an allererster Stelle stehen muß und der alle Beachtung verdient und nicht in den Hintergrund treten darf.Darüber hinaus haben wir aber den regionalen Gegebenheiten einen optimalen Spielraum einge-
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Ulrich Heinrichräumt, indem wir in Form von Ermächtigungen an die Länder dort regeln lassen, was nicht auf Bundesebene geregelt werden muß. Das war schon im Sinne einer praktisch vollzogenen Subsidiarität. Dieses Wort führt man immer so leichtfertig im Mund. In der Regel hat man aber Schwierigkeiten, es umzusetzen. Wir haben es hier jedoch in die Tat umgesetzt.Wir haben gleichzeitig den Bundesgesetzgeber entlastet. Ich muß sagen, seitdem ich hier Weinbaupolitik mitbetreiben darf, seit 1987, haben wir kaum ein Jahr verstreichen lassen, in dem wir nicht das Weingesetz novelliert haben. Wir haben durch diese Arbeit den Gesetzgeber für die Zukunft entlastet, indem wir durch Ermächtigungen an den Bundeslandwirtschaftsminister die Wege verkürzt und vereinfacht haben.
Dabei darf ich auch erwähnen: In diesem Zusammenhang von einem Ermächtigungsgesetz zu reden, halte ich für völlig unangemessen.Wir haben der Gebietsweinwerbung in ihrer besonderen Bedeutung mehr Schlagkraft verliehen, indem wir die Entkoppelung von der Abgabe für den Deutschen Weinfonds vollzogen haben, und wir haben einer nur mäßigen Erhöhung der Abgabe für den Deutschen Weinfonds zugestimmt, weil wir gleichzeitig einen Auftrag an die Bundesregierung erteilt haben. Das wurde von meinen Vorgängern bereits erwähnt.Ich glaube schon, daß es den Schweiß der Edlen wert ist, einmal die gesamte Problematik des Deutschen Weinfonds und des Weininstituts zu hinterfragen und zu überlegen, ob wir hier nicht auf mittlere und längere Sicht zu neuen Ufern kommen müssen, um ein Instrument zu bekommen, das schlagkräftig ist und dem gerecht werden kann, was wir auch für die Zukunft brauchen.
Ich weiß sehr genau, daß die entsprechende Erhöhung der Beiträge heftig kritisiert wird. Wir haben nur mäßig erhöht: um 20 Pfennig. Aber den Kritikern möchte ich schon sagen: Sie wollen zwar im Wettbewerb erfolgreich abschneiden, aber für die Weinwerbung wollen sie nicht mehr Geld ausgeben. Also das geht ja wohl nicht. Wenn ich am Markt erfolgreich sein will, muß ich das Instrument der Werbung besser und effektiver einsetzen. Dazu braucht man nun einmal Geld.Nun möchte ich zum Ursprungswein noch einiges sagen. Dies ist ein neues Thema in Deutschland, aber ein erfolgreiches Vermarktungsinstrument in Frankreich, meine sehr verehrten lieben Kollegen. Man muß sich doch auf der Zunge zergehen lassen, daß es andere Länder verstanden haben, ihr Angebot so darzustellen und es dem Verbraucher so anzubieten, daß ein hoher Wiedererkennungsgrad für den Verbraucher entsteht. Denn der Verbraucher ist von der unglaublichen Fülle von Bezeichnungen und von der unglaublichen Fülle der unterschiedlichen Rebsorten und der Ausbaustufen verwirrt. Er findet seinen Wein, den er so gerne trinken möchte, in der Kürze, die erzum Einkaufen zur Verfügung hat, gar nicht mehr im Regal. Insofern sollten wir es dem Verbraucher leichter und nicht schwerer machen. Wir sollten dem Verbraucher eine schnelle Wiedererkennung ermöglichen, so daß er sozusagen im Blindflug seine Flasche aus dem Regal mitnehmen kann und sicher ist, daß ihm die heute abend schmecken wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich darf zum Schluß eine ganz kurze Bemerkung, Herr Präsident, zur Überlagerungsregelung machen. Hier kann man leicht auf dem Standpunkt stehen: Wir sollten das alles dem Markt überlassen; was brauchen wir uns als Politiker in das Marktgeschehen einzumischen? Aber eines ist sicher: Brüssel erlaubt das nicht. Ich glaube, das ist unwidersprochen. Es wird von uns eine effektive Vermarktungsregelung erwartet, nicht zuletzt, weil es auch Bundeskanzler Kohl versprochen hat.
Zum zweiten glaube ich, daß wir — —
Entschuldigung, Herr Kollege Heinrich. Jetzt kann ich Sie nicht mehr nach der Zwischenfrage fragen, sondern muß Sie darauf hinweisen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Das tut mir aber leid. — Ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit sehr herzlich bedanken.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, unserem Kollegen Wolfgang Gröbl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich würde gern die Anregung vom Kollegen Carstensen aufgreifen und die Weinkönigin hier begrüßen, aber ich darf das nicht. Deshalb muß es auch so gelten.
Das Weingesetz und das Weinwirtschaftsgesetz standen in der Vergangenheit schon häufig auf der Tagesordnung dieses Hauses. Viele haben sich daran schon versucht. Aus vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen weiß ich, daß sich die meisten von uns lieber mit den Erzeugnissen des Weinsektors befassen als mit der komplizierten und eher trockenen Rechtsmaterie.
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18996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, der Kollege Dr. Weng würde Sie gern etwas fragen.
Herr Staatssekretär, warum dürfen Sie die Weinkönigin nicht begrüßen?
Ich glaube, die Geschäftsordnung des Bundestages verbietet es dem Redner, Gäste auf der Tribüne besonders anzusprechen. Deshalb habe ich diesen Weg versucht. Ich glaube, das hat die Zustimmung auch der Kolleginnen und Kollegen gefunden.
Dies ist eine der geschicktesten Umgehungen der Geschäftsordnung, die es gibt, mit dem zusätzlichen Vorzug, daß sich der Kollege Weng in die Begrüßung eingeschlossen hat. Ich darf das als Präsident auch noch tun.
Herr Präsident, nach den langen und manchmal auch etwas aufreibenden Beratungen zum Weingesetz freue ich mich natürlich, etwas zur Harmonie des Hauses beitragen zu können.
Ich möchte fortfahren und eine Parallele zum Wein und zur Entstehung des Weines ziehen. Der Wein erhält seine Qualität aus dem Zusammenwirken von Mensch und Natur. Nachdem der Winzer seine Ernte eingebracht hat, ist die Kunst des Kellermeisters gefordert, den Wein zur vollendeten Reife zu bringen. Voraussetzung für einen guten Wein sind qualitativ hochwertige Trauben und deren sorgfältige Verarbeitung.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Weinrechts dem Deutschen Bundestag gute Trauben übergeben. Der Ernährungsausschuß hat als Kellermeister die Gährung des Mostes entscheidend beeinflußt und damit den Charakter des Weines, d. h. des neuen Weingesetzes, geprägt.
Dabei mußte der Ausschuß wie jeder Kellermeisterdas Notwendige tun und Überflüssiges unterlassen.Die Frage der richtigen Maßnahmen wurde lange undintensiv erörtert. Schließlich wurden in den Kernfragen gemeinsam mit der Weinwirtschaft die, wie ich meine, richtigen Entscheidungen getroffen.Im Vordergrund der weinbaupolitischen Diskussion der vergangenen Monate stand die Verbesserung der nationalen Hektarertragsregelung. Die Überarbeitung der bisherigen Vorschriften ist auch notwendig gewesen, um Schwachstellen zu beseitigen und Kritikpunkte der Europäischen Kommission auszuräumen. Insbesondere wegen der Möglichkeit der unbegrenzten Überlagerung von Übermengen blieb der Preisdruck am Markt auch nach Inkrafttreten der Mengenregelung von 1989 fast unverändert bestehen. Hier soll ja das neue Gesetz Abhilfe schaffen.
— Um insgesamt ein Überangebot auf dem Markt zu verhindern.
— Nein. Sie wissen, daß wir von Zwangsvermarktung viel weiter entfernt sind als Sie.
Jetzt gehen wir zur Materie selber zurück. Ich darf an die Kritik aus Brüssel erinnern, die vor allem die unbegrenzte Überlagerung, die Verwendungsmöglichkeit von Übermengen und die Festlegung der Betriebsrebfläche als Bezugsgröße für die Ertragsberechnung betroffen hat. Für das neue Weingesetz sind deshalb diese Neuregelungen vorgesehen. Generell gilt die Ertragsrebfläche eines Betriebs als Bezugsrebfläche. Das ist schon eine einschneidende Neuerung.Die Hektarertragsregelung wird somit von einer Vermarktungsregelung zu einer Erzeugungsregelung hin entwickelt. Deshalb soll die Überlagerung von Übermengen auf 20 % der Menge begrenzt werden, die je Erntejahrgang vermarktet werden darf. Alles darüber hinaus ist bis zum 15. Dezember des auf die Ernte folgenden Jahres zu destillieren. In Jahren mit hohen Erträgen bei gleichzeitig hoher Qualität und niedrigen Lagerbeständen können die Länder jedoch eine 50%ige Überlagerung zulassen. Das gleiche gilt zur Vermeidung unbilliger Härten in Einzelfällen, z. B. witterungsbedingter Härten. Hier können Ausnahmen von der Destillationspflicht ebenfalls zugelassen werden.
— Herr Müller, es ist doch wirklich ein Vorzug, Freunde zu haben. Gerade wenn wir vom Wein sprechen, Herr Müller, da werden Sie mir doch zustimmen.
— Na also.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18997
Parl. Staatssekretär Wolfgang GröblBereits ab der nächsten Ernte sollen Übermengen nur noch zum Ausgleich geringer Ernten oder zur Destillation verwendet werden dürfen. Dagegen soll die Begrenzung der Überlagerung erst ab der Ernte 1997 gelten. Würden wir auf die Begrenzung der Überlagerung verzichten oder ihre Anwendung noch weiter hinausschieben, würde sich die Europäische Union mit Sicherheit um die Mengenbegrenzung beim deutschen Wein kümmern. Das ist wohl auch der Grund, warum der Deutsche Weinbauverband die im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen als Verbesserung unserer Verhandlungsposition für die bevorstehende europäische Weinmarktreform ansieht.Auf die Winzergenossenschaften wird im Rahmen der Hektarertragsregelung eine gewisse Einschränkung des „Ein-Betriebs-Prinzips" zukommen. Die Genossenschaften tragen aber diese Neuregelung mit, da sie wissen, daß die Europäische Kommission die bisherige Regelung nicht akzeptiert und daß ihnen künftig die Rücklieferung von Übermengen zur Selbstversorgung der Familien ihrer Mitglieder erlaubt ist. Das ist ein Zugeständnis im Hinblick auf die Forderung sehr vieler Genossenschaftsmitglieder.Neben der Neugestaltung der Hektarertragsregelung dient auch die Anhebung der Mindestmostgewichte für Prädikatsweine der Qualitätssteigerung unseres Weines. Ich verstehe diese Anhebung auch als Signal für die weinbautreibenden Länder, das Ihre zur Qualitätsverbesserung zu tun.Das gilt genauso für die Ernteverfahren für Prädikatsweine. Dazu hat der Ausschuß gegenüber dem ursprünglichen Entwurf beschlossen, in das Gesetz kein Verbot der Maschinenlese für Auslese- und Eiswein aufzunehmen, sondern es den Ländern zu überlassen, für diese Prädikate die Handlese vorzuschreiben. Das war auch eine Ihrer Forderungen.
— Ich meine, daß die Lander gefordert sind, diesen Spielraum zu nutzen.Ich bin auch der Meinung, daß die Aufnahme des Ursprungsweinkonzeptes eine Verbesserung der Markttransparenz darstellt. Damit soll es den Ländern ermöglicht werden, innerhalb des bisherigen Bezeichnungssystems Qualitätsweine garantierten Ursprungs mit herkunftstypischem Geschmacksprofil festzulegen. Das ist eine zusätzliche Möglichkeit.
Der Kollege Müller würde Sie gerne etwas fragen.
Danke für die Möglichkeit einer Zwischenfrage. Ich wollte sie schon vorhin bei Herrn Heinrich anbringen. Wir haben ja keinen Streit über das Prinzip — das wollte ich schon vorhin sagen —, sondern nur in der Frage, warum dieser Begriff auf dem Etikett abgedruckt werden kann. Ich frage Sie, warum Sie nicht bereit waren, hier
Klarheit zu schaffen. In der Praxis wird Wein aus Einzellagen diskreditiert
— doch! —, denn der Verbraucher denkt mit Sicherheit, der Wein, der mit „Qualitätswein garantierten Ursprungs" etikettiert ist, sei originärer als der Wein, auf dem nur steht, dies sei ein Qualitätswein eines bestimmten Anbaugebietes, der aus einer Einzellage stammt, wobei letzteres noch nicht einmal auf dem Etikett steht. Das ist eine klare Irreführung. Ich habe bis jetzt nicht begriffen, warum die Bundesregierung, warum die Koalition — sonst konnte man ja sachlich reden — nicht bereit war, diese Irreführung zu vermeiden.
Zunächst, Herr Müller: Ich glaube, wir haben uns während der ganzen Beratungen sachlich unterhalten. Das wird man nicht in Abrede stellen. Unsere fleißigen Beamten haben uns dabei kräftig unterstützt.Zum zweiten. Die bisherige Bezeichnung „Qualitätswein b. A." ist ein nicht nur in Deutschland feststehender Begriff, den man überhaupt nicht diskriminieren kann, weil er sich beim Verbraucher fest eingeprägt hat. Dieses Ursprungsweinkonzept soll die Lücke schließen, die wir in der Vermarktung gegenüber den Franzosen entdeckten. Darauf wurde heute schon hingewiesen.
Deshalb sind wir der Auffassung, daß es den Versuch wert ist, den Begriff „Qualitätswein garantierten Ursprungs" einzuführen. Die Lander haben die Möglichkeit, entsprechende Genehmigungen auszusprechen. Ich möchte die Länder geradezu ermuntern, davon auch Gebrauch zu machen. Von einer Diskriminierung sollten wir nicht sprechen; wir sollten sie schon gar nicht herbeireden.
Ich möchte noch etwas zum Inkrafttreten sagen. Frau Weyel, Sie hatten das angesprochen, ebenso wie den Brief von Minister Schneider mit Einwendungen zu diesem Weingesetz.
Wir sind der Auffassung, daß es sehr wohl gerechtfertigt und notwendig ist, dieses Weingesetz möglichst bald in Kraft zu setzen. Es gibt überhaupt keine Probleme. Alle Durchführungsverordnungen und alle Bestimmungen, für die Durchführungsverordnungen nach diesem neuen Gesetz vorgesehen sind, sind bisher nach altem Gesetz geregelt. Solange wir keine neuen Durchführungsverordnungen haben, gelten
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18998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Pari. Staatssekretär Wolfgang Gröbldiese weiter. Deshalb sind wir der Auffassung, daß das in Ordnung ist.Zum zweiten — ich darf das noch zu Ende führen —: Wenn der Bundesrat bei der nächsten Gelegenheit — das ist noch im April — das Weingesetz verabschiedet, dann liegen noch dreieinhalb Monate bis zum Inkrafttreten dieses Weingesetzes vor uns. In diesen dreieinhalb Monaten müßte es doch den Länderverwaltungen, noch dazu denen, die in der Regelung des Weinmarktes und des Weinanbaus geübt sind, möglich sein, die erforderlichen Durchführungsverordnungen, insbesondere zu Hektarertragsregelung, zu erstellen.Drittens. Es ist auch notwendig, daß wir, bevor die Kommission einen Vorschlag zur Änderung der Weinmarktordnung vorlegt, unser deutsches Recht so novelliert haben, daß die Hauptkritikpunkte der Kornmission ausgeräumt sind.Frau Weyel, Sie wollten eine Frage stellen?
Frau Weyel, wir sind schon ein bißchen mit der Zeit in Schwierigkeiten. Dem Staatssekretär leuchtet bereits das rote Licht. Ich verstehe aber, daß er Ihre Frage noch beantworten will.
Zu dem roten Licht bitte ich schon noch eine Erklärung abgeben zu dürfen.
Nach § 31, vermute ich. Bitte, Frau Kollegin Weyel.
Herr Staatssekretär, ich stimme Ihnen ja weitgehend zu. Können Sie mir aber in folgenden Punkten zustimmen? Die Länder müssen die Weinbauflächen kontrollieren, weil wir den Begriff der Ertragsrebfläche verändert haben. Dazu ist eine ganze Menge an Erfassung notwendig.
Sie müssen die Hektarertragsregelung in bezug auf den Tafelwein ändern und, was erschwerend hinzukommt, sie müssen davon ausgehen, daß im Bereich der Verwertung der Übermengen eine ganze Menge von Maßnahmen notwendig ist, um das in Zukunft zu unterbinden.
Ich habe in meinem Beitrag gesagt: Da diese Regelung bei allen unwidersprochen war und es alle seit mehr als einem Jahr wissen, konnte man das vorbereiten. Deshalb haben wir den Antrag auch nicht hier im Bundestag übernommen, sondern wir haben gesagt: Wenn die Landesminister im Bundesrat übereinstimmend zu dieser Auffassung kommen, dann haben sie im Bundesrat die Möglichkeit, das noch einmal einzuwenden.
Frau Weyel, natürlich haben jetzt die Landesminister im Bundesrat dazu das Wort. Ich traue es einer Landesverwaltung ohne weiteres zu, innerhalb von dreieinhalb Monaten vernünftige Verordnungen zu machen.
Wenn sie Probleme dabei haben, meine Damen und Herren Mitarbeiter stehen ihnen gerne zur Beratung zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns jetzt alle einigen, dieses neue Weingesetz zu unterstützen, dann haben wir nicht nur ein neues, gutes Weingesetz auf den Weg gebracht, sondern wir haben auch etwas zur Pflege und Förderung bester deutscher Kultur getan.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Sielaff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die, die hier sitzen, wissen: Der Wein ist wie kaum ein anderes Produkt von äußeren Faktoren wie Klima, Bodenbeschaffenheit, Sonneneinstrahlung zur richtigen Zeit und in genügender Menge sowie der weiteren Bearbeitung durch den Winzer selbst abhängig.Der Verbraucher wiederum hat sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie der Wein seiner Wahl sein soll. Die einen wollen, daß er in jedem Jahr so schmeckt wie im letzten Jahr, und wissen nicht, daß das nur durch die Kunst des Winzers bei der Weinherstellung zu erreichen ist.
Andere wollen den spezifischen Geschmack der Rebe oder des Bodens, auf dem sie wächst, erkennen und auch immer wieder neu entdecken.Meine Damen und Herren, für mich wird immer zweifelhafter, ob in einem Gesetz alles bis ins letzte Detail geregelt werden muß und kann. So viele gesetzliche Details wie bei Wein werden wohl kaum für irgendein anderes Produkt geregelt. Jede dieser Regelungen ist mit einem Wust von Bürokratie für den Produzenten verbunden. Es ist doch unwahr, daß in dem Augenblick, wo man aus zwei Gesetzen eins macht, automatisch die Bürokratie abgebaut werden würde. Ich meine: Es wird noch komplizierter für den einen oder anderen Winzer.
Ich meine, man sollte wieder stärker den Verbraucher bzw. den Käufer entscheiden lassen, welchen Wein er haben will. Unsere Aufgabe sollte es sein, Vorgaben für die politische Zielsetzung zu geben. Dazu würde z. B. das Festlegen einer extensiven, umwelt- und standortgerechten Produktionsweise gehören. Weiterhin brauchten wir gesetzlich nur zu garantieren, daß der Verbraucher erhält, was auf dem Etikett versprochen wird, und das zu verbieten, was gesundheitsgefährdend sein könnte, durch Grenzwerte für Zusatz- und Bearbeitungsstoffe.Während diese in meinen Augen wirklich wichtigen Dinge in dem vorliegenden Gesetz sehr großzügig geregelt werden oder ausgespart werden, wird gesetzlich und teilweise, wie ich meine, sehr kleinkariert vorgeschrieben — ich zitiere —, wieviel Pfennig
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 18999
Horst Sielaffpro Flasche der Winzer für die Werbung an den Weinfonds zu zahlen hat
— da sieht man, Herr Hornung, Ihren Standort —, wie viele und welche Mitglieder in welchen Gremien des Weinfonds sitzen, wie welcher Wein geerntet werden darf, per Hand oder maschinell, wie hoch der Alkoholgehalt in welcher Qualitätsstufe sein darf, usw. Anderes dagegen bleibt völlig offen oder ungeregelt, oder — was noch schlimmer ist — es werden Kennzeichnungen beschlossen — Herr Müller, Frau Weyel und andere haben darauf hingewiesen — wie die Bezeichnung „Qualitätswein garantierten Ursprungs", die den Verbraucher sogar, wie wir meinen — ich unterstreiche das —, in die Irre führen können.Ich fürchte auch, daß dieses Gesetz den ausländischen Weinen mehr Chancen gibt und einigen Regionen wie der Südpfalz manches erschweren kann.
Hinzu kommt, daß die EU derzeit ein neues Weinrecht verabschiedet, das vieles, was wir hier beschließen, in Frage stellen kann.Mein Fazit: Nach Monaten der Diskussion ist hier ein Gesetz herausgekommen, das unbefriedigend ist und seinem Anspruch nicht gerecht wird.
Es bringt nicht, Herr Rüttgers, mehr Klarheit in die komplizierte Weinpolitik, und mit Recht fragen manche Fachleute: Warum beschließen wir im gegenwärtigen Zeitpunkt so ein Gesetz nach so langen Diskussionen?
Es ist kein gutes Gesetz, und vieles bleibt ungeklärt und wird kompliziert.
Herr Kollege Sielaff, ich entschuldige mich für den „Wolfgang". Natürlich war das der Kollege Horst Sielaff. Aber Sie wissen ja: Meine Vorgängerin auf diesem Stuhle ist eine Fraktionskollegin von Ihnen. Von ihr habe ich die Liste übernommen.
— Sie hat es natürlich nicht aufgeschrieben, sondern ein Schriftführer.
Ich schließe die Aussprache. Zur Schlußabstimmung über das Weingesetz haben 18 Kollegen nach § 31 unserer Geschäftsordnung Erklärungen zu Protokoll gegeben.') Ein Kollege möchte die Erklärung
*) Anlagen 2 und 3
aber vortragen. Das ist der Kollege Günther Schartz, dem ich hiermit das Wort erteile.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen! Meine Herren!
Es ist das erste Mal seit meinem Eintritt in den Deutschen Bundestag im Jahre 1976, daß ich nicht für die CDU/CSU-Fraktion über Wein spreche. Ich kann das heute nicht tun, weil ich über weite Bereiche dieses Gesetzes eine andere Meinung habe als meine Fraktion. Diese möchte ich hier im Rahmen einer persönlichen Erklärung vortragen.Ein neues deutsches Weingesetz soll, wie wohl alle Gesetze, der Verbesserung der Situation der Bürger — in diesem Falle der Verbesserung der Situation der Winzer -- dienen. Die Materie Wein ist äußerst schwierig zu regeln. Ganz ohne Zweifel stellt die miserable Einkommenslage der deutschen Winzer eine zusätzliche Belastung für ein solches Gesetz dar. Die deutschen Winzer haben Angst vor der Zukunft.
Dieses Gesetz — das ist eben angeführt worden — kommt unter einer schweren Drohung zustande. Es muß nämlich EG-konform sein. Die Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Europäischen Gemeinschaft muß, so sagen die Juristen, gegeben sein, egal, ob diese Bestimmungen richtig sind oder falsch. Ich wiederhole: Egal, ob diese Bestimmungen für die deutschen Winzer richtig sind oder falsch, sie müssen eingehalten werden. Ich bin davon überzeugt, daß diese Ideologie der Europäischen Kommission dem deutschen Weinbau schwere Schäden zufügt, wie ja auch allgemein sichtbar ist, daß auch die deutsche Landwirtschaft unter ihr leidet.
Kein vernünftiger Mensch — auch ich nicht — kann gegen die Europäische Union sein. Aber dieser Normierungswahn der Europäischen Union zwingt die Winzer in der Bundesrepublik Deutschland zu Produktionsbeschränkungen, obwohl mehr als die Hälfte des in Deutschland verzehrten Weines eingeführt wird.
Der Normierungswahn der Europäischen Union zwingt die deutschen Winzer unter eine Bürokratie, die kein Mensch versteht. In Deutschland werden diese bürokratischen Bestimmungen exakt eingehalten, in anderen Ländern der Europäischen Union nicht. Das erweckt zu Recht den Zorn der deutschen Winzer.Es ist ein besonderes Charakteristikum der nördlichen Weinbaugebiete, daß die Erträge, sowohl was die Menge als auch was die Güte anbelangt, von Jahr zu Jahr in einer ganz großen Spannbreite schwanken. Ich bin praktizierender Winzer. Ich habe Jahre mit allergeringsten Ernten und einer schlechten Qualität erlebt. Ich habe Jahre mit großen Ernten und einer
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19000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Günther Schartz
vorzüglichen Qualität erlebt. Bisher hatten wir die Möglichkeit, diese Gunst oder Ungunst der Jahre durch eine entsprechende Vorratshaltung abzupolstern. Das neue Gesetz, das heute hier verabschiedet werden wird, läßt diese Vorratshaltung nicht mehr zu. Es schreibt vor, daß die deutschen Winzer höchstens 20 % ihrer Vermarktungsmenge einlagern dürfen. Das wird dazu führen, daß in guten Weinjahren deutsche Qualitätsweine, ja Prädikatsweine wie Spät- und Auslesen destilliert, d. h. vernichtet werden müssen. Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, widerspricht allen Erfordernissen des Marktes. Denn der Markt verlangt eine hohe und gleichmäßige Qualität und eine gleichmäßige Beschickung.
Wenn das Gesetz, so wie es jetzt vorgesehen ist, verabschiedet wird, dann wird der deutsche Wein vom Markt zurückgedrängt, und der Auslandswein wird hineinstoßen. Die Erfahrung zeigt, daß es nie mehr gelingt, diesen Wein ganz zurückzudrängen.Die Winzer werden einer Bürokratie unterworfen, die sie nicht ertragen können. Jeder Winzer muß nachweisen, daß er die ihm zugestandene 20prozentige Überlagerungsmenge nicht überschreitet, und er muß bis zum 15. Dezember des auf die Ernte folgenden Jahres durch eine zollamtliche Bescheinigung nachweisen, daß diese Menge destilliert, d. h. vernichtet worden ist.Meine sehr geehrten Damen und meine Herren, nach meinem Wissen gibt es in keinem Wirtschaftsbereich eine Bestimmung, die untersagt, daß eine qualitativ einwandfreie Ware eingelagert wird. Insoweit bestreite ich die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzentwurfs.Ich werde diesen Gesetzentwurf ablehnen, weil er die deutschen Winzer zwingt, gute deutsche Qualitätsweine zu vernichten, und weil er die Erfordernisse des Marktes mißachtet. Ich lehne den Gesetzentwurf ab, weil er die deutschen Winzer mit einer unzumutbaren Bürokratie überzieht.
Ich lehne den Gesetzentwurf ab, weil die Strafbestimmungen überzogen und nicht praxisgerecht sind.Dieses Gesetz wird auf Unverständnis bei den deutschen Winzern stoßen. Ein gutes Gesetz muß auch von den Rechtsunterworfenen verstanden werden.Ich weiß, daß die Mitglieder des Deutschen Bundestages, die heute diesem Gesetz zustimmen und denen ich meinen Respekt sage, in gutem Glauben handeln. Die letztendliche Entscheidung über die Einführung der 20prozentigen Überlagerungssperre ist in einem Gespräch der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. mit den Präsidenten des Deutschen Weinbauverbandes und der deutschen Weinbaugebiete gefallen.Ich bedaure als praktischer Winzer, daß am Ende dieses Gespräches kein einziger der anwesenden Präsidenten der 20prozentigen Überlagerungssperrewidersprochen hat, auch nicht der Präsident meines Gebietes.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
Sie erlauben mir, Herr Präsident, noch einen Schlußsatz zu sagen.
Meine sehr geehrten Damen, meine Herren, in der Bezeichnung sollten wahrheitsgemäßere Bestimmungen gefunden werden. Ich bedanke mich herzlich für die ausreichende Zeit, die den Fachleuten zur Beratung dieses Gesetzes im Ausschuß zur Verfügung gestanden hat.
Ich bin davon überzeugt, der nächste oder der übernächste Bundestag wird sich mit einer Reparatur der Bestimmungen befassen müssen, die wir heute hier beschließen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform des Weinrechts, Drucksachen 12/6060 und 12/7205. Dazu liegt auf Drucksache 12/7241 unter Nr. 1 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Bei einer Stimmenthaltung abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit den vom Berichterstatter vorgetragenen Berichtigungen zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen gedenken, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/7205, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/5138 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter den Nrn. 3 bis 5 empfiehlt der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten die Annahme von Entschließungen. Dazu beantragt die Fraktion der SPD unter Nr. 2 ihres Änderungsantrages auf Drucksache 12/7241 die Anfügung einer Nr. 6. Wer stimmt
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Vizepräsident Hans Kleinfür diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen?— Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten? — Gegenprobe! —
— Wir sind in der Abstimmung, Frau Kollegin.
— Entschuldigung, ich habe ja nicht gesagt, es gehe um die gesamte Beschlußempfehlung. Wenn Sie zugehört hätten, Frau Weyel, dann hätten Sie es gehört. Ich habe gesagt: Unter den Nr. 3 bis 5 empfiehlt . . .
— Nein, wir sind in der Abstimmung, jetzt gibt es keine Äußerungen dazu.Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten? Die Frage ist bereits gestellt worden. Ich habe jetzt die Frage nach der Gegenprobe zu stellen. — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.Meine Damen und Herren, wir kommen noch einmal zum Tagesordnungspunkt 5 zurück, dessen Beratung wir heute nachmittag unterbrochen haben. Es handelt sich um die zweite und dritte Beratung der von der Bundesregierung und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwürfe eines Gleichberechtigungs- bzw. Gleichstellungsgesetzes. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die zweite und dritte Lesung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/5468 und 12/5717 erst nächste Woche durchzuführen. Die Gesetzentwürfe sollen an die Ausschüsse zurückverwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Daubertshäuser, Robert Antretter, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDMehr Verkehrssicherheit durch Senkung der Promillegrenze und Einführung der elektronischen Atemalkohol-Analyse— Drucksachen 12/985, 12/7212 —Berichterstattung:Abgeordnete Hermann Bachmaier Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Burkhard ZurheideNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege Hermann Bachmaier.
— Verzeihung, Herr Kollege Bachmaier. Der Zettel, auf dem die Anmeldung des Ausschußvorsitzenden angegeben war, ist bei den Vorgängern untergegangen.Ich bitte also zunächst den Kollegen Eylmann ans Rednerpult.
Als großer Freund des trockenen Rotweins gebe ich Ihnen, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, folgenden Bericht über die Behandlung der Promilleangelegenheit im Rechtsausschuß:Der Bundestag hat am 19. März 1992 in erster Lesung den Antrag der SPD-Fraktion beraten und an den Rechtsausschuß zur Federführung sowie an den Innenausschuß und den Ausschuß für Verkehr zur Mitberatung überwiesen.Wir haben uns im Rechtsausschuß zuerst am 9. Dezember 1992 mit der Sache beschäftigt und eine Anhörung beschlossen. Diese fand am 24. Juni 1993 statt. Wir haben dann im Anschluß die Vorlagen am 12. Januar und am 25. Februar dieses Jahres behandelt. Zuvor waren die mitberatenden Ausschüsse um Stellungnahmen gebeten worden.Der Innenausschuß hat in seiner Sitzung vom 4. November 1992 mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion bei einer Enthaltung seitens der Fraktion der SPD empfohlen, den Antrag abzulehnen.Der Ausschuß für Verkehr hat in seiner Sitzung vom 18. Januar 1994 die Beratung des Antrags mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der Fraktion der SPD und der Gruppe PDS/Linke Liste bei Abwesenheit der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vertagt und will die Beratung wieder aufnehmen, wenn die Bundesregierung die erforderlichen Vorschriftenentwürfe zur Einführung der Regelkontrolle auf der Basis der Atemalkoholanalyse vorgelegt hat.Die SPD hält den Antrag für entscheidungsreif. Die Begründung wird von Ihnen, Herr Bachmaier, sicherlich vorgetragen. Demgegenüber sind die Koalitionsfraktionen der Auffassung, daß die Einführung der Atemalkoholanalyse mit einer Mitwirkungspflicht der Kraftfahrer verbunden werden müsse. Die entsprechenden Vorschriften müßten erarbeitet werden. Der Rechtsausschuß hat jedenfalls am 25. Februar dieses Jahres mehrheitlich beschlossen, die weitere Beratung des Antrags zu vertagen, bis die Entwürfe für die erforderlichen Vorschriften vorliegen. Soweit, meine Damen und Herren, der Verhandlungsablauf im Rechtsausschuß.Ich darf einige persönliche Anmerkungen hinzusetzen: Ich habe mich in der Vergangenheit mehrfach für die 0,5-Promille-Grenze ausgesprochen und halte
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Horst Eylmanndaran fest. Ich bin im übrigen überzeugt, daß sie irgendwann kommen wird.
Es läßt sich nämlich nicht ernsthaft bestreiten, daß die Fahrtüchtigkeit eines Kraftfahrers bereits ab 0,5 Promille zunächst gering, ab 0,8 Promille dann stark ansteigend beeinträchtigt wird.
Auch eine geringe Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit kann bei plötzlich auftretenden, ungewohnten Situationen bereits schlimme Folgen haben.Auf der anderen Seite läßt sich aber ebensowenig ernsthaft in Abrede stellen, daß bei einer bloßen Absenkung der Promillegrenze eine nennenswerte Verringerung der alkoholbedingten Unfälle nicht zu erwarten ist. In der DDR galt die 0,0-Promille-Grenze. Dennoch war der Anteil der alkoholbedingten Unfälle, an der Gesamtzahl der Verkehrsunfälle gemessen, sogar noch höher als in der Bundesrepublik.
Alle Experten sind sich darüber einig, daß eine nennenswerte und nachhaltige Verringerung der alkoholbedingten Unfälle nur durch eine bessere Kontrolle zu erreichen ist. Die Dunkelziffer liegt heute bei etwa 600, d. h. von 600 Alkoholfahrten wird nur eine entdeckt. Diese Dunkelziffer würde bei einer Absenkung der Promillegrenze noch weiter ansteigen.
Bei einer solchen Situation kann eine Neufestsetzung der Promillegrenze keineswegs die Wirkung einer positiven Generalprävention entfalten; eher ist eine Verstärkung der schon jetzt vielfach zu beobachtenden Pechvogelmentalität zu erwarten.Wir müssen unsere Bemühungen also in erster Linie darauf richten, eine stärkere Kontrolldichte zu erreichen. Die technisch-wissenschaftliche Entwicklung bietet uns durch die Geräte zur Messung der Atemalkoholkonzentration eine gute Voraussetzung dafür. Ob diese Geräte schon ausreichend praxiserprobt sind, dürfte noch nicht völlig sicher sein.Notwendig und keineswegs rechtsstaatswidrig scheint mir zu sein, jeden Kraftfahrer gesetzlich zu verpflichten, auch an einer ohne konkreten Verdacht erfolgenden Atemalkoholkontrolle mitzuwirken. Zur Zeit erwischen wir bei den Kontrollen vor allem den fahrenden Trinker, der deutliche Ausfallerscheinungen schon in seiner Fahrweise zeigt, kaum aber den trinkenden Fahrer, der mit der Zeit die Fähigkeit entwickelt hat, sich auch unter Alkoholeinfluß noch unauffällig im Straßenverkehr zu verhalten. Seine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit manifestiert sich dann erst in ungewohnten Situationen.Aus all diesen Gründen, meine Damen und Herren, sprechen vernünftige Erwägungen dafür, eine Absenkung der Promillegrenze, die ich grundsätzlich für richtig halte, nicht isoliert vorzunehmen, sondern mitanderen Maßnahmen zu verbinden, die ihr erst die eigentliche Wirksamkeit verleihen können.
Sie könnte sonst als Alibi dafür gewertet werden, daß man etwas getan hat, ohne im Ergebnis wirklich etwas zu bewirken. Die Bundesregierung ist jetzt am Zuge; sie sollte das klären und auf den Weg bringen, was uns für eine Entscheidung noch fehlt.Allen Weintrinkern, die Bedenken gegen die 0,5Promille-Grenze haben, gebe ich zum Schluß noch eine Empfehlung mit auf den Weg: Weintrinken und Autofahren brauchen nicht zu kollidieren. Man muß nur die richtigen Prioritäten setzen. Goethe trank bis zu drei Flaschen Rotwein am Tag, hat sich aber in diesem Zustand nie ans Steuer gesetzt, sondern Gedichte gemacht.
Wer hindert uns, es ihm gleichzutun? Ich jedenfalls appelliere an alle, sich dieses Beispiel immer vor Augen zu halten.Vielen Dank.
Herr Kollege Hermann Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ältestenrat hat die Weisheit besessen, die Debatte um die Absenkung der Promillegrenze unmittelbar nach der Beratung des Weinrechts auf die Tagesordnung zu setzen. Dies entbehrt nicht einer gewissen — sicherlich unfreiwilligen — Pikanterie.Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben die heutige Debatte beantragt, weil wir es für unerträglich halten, daß die Entscheidung über die Absenkung der Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 Promille in den Ausschüssen des Bundestages immer weiter verschleppt wird.Im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 ist vorgesehen, die in den beiden Teilen Deutschlands bestehenden unterschiedlichen Promillegrenzen bis zum 31. Dezember 1992 zu harmonisieren. Seit Juli 1991 bzw. seit Juni 1992 liegen die Anträge der SPD-Bundestagsfraktion bzw. des Bundesrates vor, die Promillegrenze in § 24 a des Straßenverkehrsgesetzes von 0,8 Promille auf 0,5 Promille zu senken. Nachdem die Mehrheit der Koalitionsfraktionen es verstanden hat, eine Entscheidung in den zuständigen Ausschüssen vor dem 1. Januar 1993 zu verhindern, gilt seit diesem Zeitpunkt auch in den neuen Bundesländern der Grenzwert von 0,8 Promille, also der Grenzwert, der bis dato im Westen gilt.Dieser hohe Grenzwert ist mit ursächlich für die vielen schweren Unfälle, die auf Fahren unter Alkoholeinfluß zurückzuführen sind. So und nicht anders habe ich die von uns angehörten Sachverständigen und viele andere Erkenntnisse bis zum heutigen Tage verstanden.
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Hermann BachmaierMeine Damen und Herren, seit 1955 — diese Zahl sollten wir in diesem Zusammenhang beherzigen — mußten über 100 000 Menschen ihr Leben auf unseren Straßen lassen, über eine Million Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, weil Alkohol die Ursache von Verkehrsunfällen war.Untersuchungen haben ergeben, daß sich das Unfallrisiko bereits ab 0,5 Promille gravierend erhöht — manche Sachverständige sagen: verdoppelt — weil die Steuerungsfähigkeit von Fahrern spätestens ab diesem Alkoholgrenzwert gefährlich abnimmt.In der vom Rechts- und Verkehrsausschuß bereits im Juni 1993 durchgeführten Sachverständigenanhörung haben wir auch erfahren, daß die Einführung der 0,5-Promille-Grenze in den Niederlanden zu einer Verringerung der Zahl der alkoholbedingt auf den Straßen getöteten Menschen von 12 auf 4 % geführt hat.In Australien, meine Damen und Herren, wo im Jahre 1991 die Promillegrenze von 0,8 auf 0,5 Promille abgesenkt wurde, konnte festgestellt werden, daß erheblich weniger Fahrer mit überhöhten Blutalkoholwerten — auch im Bereich höherer Blutalkoholkonzentrationen — anzutreffen waren.Diese Zahlen unterstützen die von Sachverständigen schon länger geäußerte Erwartung, daß eine Absenkung des zulässigen Blutalkoholgehaltes letztlich generell dazu beiträgt, daß weniger Verkehrsteilnehmer überhaupt alkoholisiert am Straßenverkehr teilnehmen.Diese zunächst verblüffend erscheinende Konsequenz ergibt sich daraus, daß ein auf 0,5 Promille abgesenkter Grenzwert dazu führt, daß Menschen unter geringerem Alkoholeinfluß leichter einsehen, daß sie nicht mehr fahrtüchtig sind und mit dem Gesetz in Konflikt geraten können, und deshalb schon frühzeitig eine entsprechende Entscheidung treffen, um dann auch später, bei höherem Alkoholgehalt, nicht mehr am Straßenverkehr teilzunehmen. Ihr Blick wird also nicht durch die alkoholbedingten Unzulänglichkeiten und Risikofaktoren getrübt. Eine Absenkung der Promillegrenze führt nachweisbar dazu, daß, wie es ein Sachverständiger salopp formuliert hat, nicht nur die Zahl der trinkenden Fahrer, sondern letztlich auch die Zahl der fahrenden Trinker auf unseren Straßen deutlich abnimmt.
— Dies war aber die doch recht einheitliche Meinung der Sachverständigen, Herr Hornung. Ich habe Sie im übrigen in dieser Anhörung nicht gesehen. Das ist doch sehr merkwürdig.
— Das kann man sich nun wirklich nicht vorstellen, daß er sich „da drübergesetzt" hat.
Meine Damen und Herren, sicherlich wird es nach wie vor eine hohe Dunkelziffer nicht entdeckteralkoholbedingt fahruntüchtiger Verkehrsteilnehmer geben, wenn die Kontrolldichte nicht deutlich erhöht wird. Dennoch wird schon ein abgesenkter Grenzwert, für sich genommen, das alkoholbedingte Unfallrisiko auf unseren Straßen deutlich senken, wie dies die Sachverständigen zum Ausdruck gebracht haben.Weil der Zusammenhang zwischen erhöhtem Unfallrisiko und Alkohol offensichtlich ist, tritt auch die Mehrheit der Bevölkerung, meine Damen und Herren, für eine Absenkung der Promillegrenze ein, wie dies Umfragen im übrigen eindeutig belegen.
Es liegt jetzt ausschließlich am Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren, ob er seiner Verantwortung gerecht wird und die Absenkung der Promillegrenze noch vor den Wahlen im Herbst beschließt.
Damit können wir, meine Damen und Herren, buchstäblich von einem Tag auf den anderen das durch Unfälle auf unseren Straßen entstehende Leid und Elend ein wesentliches Stück weit verringern, ohne daß dadurch im übrigen irgendwelche zusätzlichen Kosten entstehen würden.In Zeiten zunehmender Verkehrsdichte führen eben häufig auch schon geringere Beeinträchtigungen der Verkehrstüchtigkeit zu schweren Folgen, nicht selten zu Tod und lebenslangen Gesundheitsbeeinträchtigungen.
Es ist unsere Pflicht, meine Damen und Herren, das Menschenmögliche zu tun, um diese vermeidbaren Unfallursachen zu reduzieren. Wir Sozialdemokraten haben deshalb kein Verständnis dafür, daß die Koalitionsfraktionen — wie jüngst im Rechtsausschuß geschehen — die Entscheidung über eine Absenkung der Promillegrenze immer weiter verschleppen und, wie dies offensichtlich beabsichtigt ist, über den Wahltag hinaus verschieben. Diese Verzögerungstaktik ist in Anbetracht der unbestrittenen Fakten und des buchstäblich täglichen Risikos, dem die Menschen im Straßenverkehr durch alkoholbedingt fahruntüchtige Fahrer ausgesetzt sind, nicht zu verantworten.
Meine Damen und Herren, es ist schon ein schwer erträglicher Widerspruch, daß in unserem Land der Drogenkonsum mit allen erdenklichen strafrechtlichen und strafprozessualen Mitteln verfolgt wird, während die Droge Alkohol,
die täglich in unserem Land, insbesondere auf unseren Straßen, so viel Unheil anrichtet, so nachsichtig — insbesondere auch vom Deutschen Bundestag — behandelt wird.
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Hermann BachmaierWir Sozialdemokraten wissen natürlich auch, daß es in den Reihen der Koalitionsfraktionen viele gibt, die lieber heute als morgen — und soeben hat hier einer dazu gesprochen — den Grenzwert von 0,8 auf 0,5 Promille senken wollen, weil für sie der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit Vorrang vor anderen Erwägungen hat. Es kann doch nicht sein, daß eine eindeutige Mehrheit des Bundestages — und um eine solche handelt es sich wohl — bei einer zentralen Frage der Sicherheit auf unseren Straßen daran gehindert wird, entsprechend ihrer Einsicht zu entscheiden, weil nach wie vor einflußreiche Kräfte in den Koalitionsfraktionen eine derartige Entscheidung mit allen erdenklichen Mitteln verhindern wollen und bis heute erfolgreich verhindert haben.
Herr Kollege Bachmaier, zwei Kollegen, der Kollege Gallus und der Kollege Kalb, würden Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Gallus, bitte.
Herr Kollege, eingedenk der Tatsache, daß wir alle wollen, daß möglichst wenig Unfälle passieren, interessiert mich jetzt doch, was die Wissenschaftler bei der Anhörung in bezug auf die Nullgrenze in der ehemaligen DDR gesagt haben, wo es mehr Unfälle gab als bei uns mit der 0,8-PromilleGrenze. Was sagen Sie denn dazu?
Herr Kollege Gallus, ich war selbst etwas verblüfft, wie der von mir sehr geschätzte Herr Vorsitzende des Rechtsausschusses aus dieser Anhörung derartige Erkenntnisse gewinnen konnte. Uns sind derartige Erkenntnisse nicht bekannt. Wir haben uns mit der Frage in dieser Sachverständigenanhörung sehr gründlich beschäftigt und letztlich von allen Sachverständigen bestätigt erhalten, daß sich schon ab 0,3 Promille erhebliche und zunehmende Beeinträchtigungen der Fahrtüchtigkeit im Straßenverkehr ergeben.
Herr Kollege Kalb, bitte.
Um Ihren vorhin gemachten Unterstellungen zu begegnen, darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich deswegen dagegen bin, die Promillegrenze abzusenken, weil ich davon nichts halte; denn die von Ihnen vorhin zitierten Bürger werden, wenn ihnen nach z. B. einer Feier der Führerschein abgenommen wird, zu uns kommen und von uns fordern, das zu reparieren.
Ich bin im übrigen der Meinung, hier im Bundestag sollten diejenigen dafür stimmen, die noch nie in der
Gefahr waren, über die 0,8-Promille-Grenze zu kommen.
Herr Kollege, ich bin von Haus aus Anwalt und rede nicht wie der Blinde von der Farbe. Ich weiß daher ganz genau, was Alkohol im Straßenverkehr bedeutet, in welcher Not sich die Betroffenen — vor allem die Verletzten und natürlich auch diejenigen, die unter Alkoholeinfluß im Straßenverkehr erwischt werden oder in Erscheinung getreten sind — befinden. Wir wissen alle, was ein Fahrerlaubnisentzug bedeutet — vor allem, wenn die Betroffenen beruflich auf den Führerschein angewiesen sind. Dann setzen sie alle Hebel in Bewegung, um so schnell wie möglich — unter Geloben von Besserung — wieder zu ihrem Führerschein zu kommen. Ist das denn so schwer verständlich? Das würden wir wahrscheinlich auch tun, auch wenn wir einsehen, daß wir uns falsch verhalten haben.
Herr Kollege Bachmaier, der Kollege Eylmann würde Ihnen auch gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja sicher, sehr gern.
Die Kollegen sind alle daran interessiert, Ihre Redezeit zu verlängern.
Er bringt sicherlich die Zitatstelle, so daß wir alle einen Nutzen davon haben.
Herr Kollege Bachmaier, sind Sie bereit, wenn Sie jetzt in Ihr Büro zurückkehren, noch einmal die Gutachten durchzulesen, —
Ich habe sie sogar hier, Herr Eylmann.
— die uns damals erstattet worden sind? Würden Sie dann bereit sein, zur Kenntnis zu nehmen, daß z. B. der ADAC diese Zahlen genannt hat?
— Meine Damen und Herren, Sie haben doch gehört, daß ich für 0,5 Promille bin. Aber es hat doch keinen Zweck, an Zahlen zu zweifeln. Auch andere Sachverständige haben deutlich gemacht, daß eine nachhaltige, — von vorübergehenden Dingen wie in Australien abgesehen — Verringerung der Trunkenheitsfahrten eben nicht durch eine bloße Absenkung, sondern durch eine verbesserte Kontrolle zu erreichen ist. Sind Sie nicht doch dieser Meinung, wenn Sie die Stellungnahmen der Sachverständigen noch einmal Revue passieren lassen?
Herr Eylmann, welche Grundauffassung der ADAC in dieser Frage vertritt, die er uns auch im Ausschuß vermittelt hat, war uns schon vor dieser Anhöhrung bekannt. Ich habe hier von den medizinischen und psychologischen Sachverständigen gesprochen, die durch Felduntersuchungen die Erkenntnisse gewonnen haben, die ich Ihnen hier mitgeteilt habe. Das Urteil dieser unabhängigen Sachverständigen, die selbst Untersuchungen durch-
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Hermann Bachmaiergeführt haben und das gesamte Feld der Untersuchungen kennen, war einhellig, daß spätestens ab 0,3 und noch deutlicher ab 0,5 Promille die Fahrbeeinträchtigung gravierend zunimmt. Dies konnte auch der ADAC nicht bestreiten.Noch eines dazu: Daß natürlich die Kontrolldichte — davon habe ich auch gesprochen — eine große Bedeutung hat, steht außer Frage. Aber es hat eben auch eine Bedeutung, ob ich den Grenzwert so niedirg ansetze, daß die Menschen noch die entsprechende Steuerungsfähigkeit haben, um sich entsprechend den gesetzlichen Grenzwerten zu verhalten, und sich von dem Punkt an nicht mehr in den Straßenverkehr begeben, von dem an sie in ihrer Fahrtüchtigkeit deutlich beeinträchtigt sind. Dies ist unbestreitbar ab 0,5 Promille der Fall. Die Mehrheit der Sachverständigen war der Ansicht, daß dies auch schon darunter gegeben ist.So, Herr Präsident, darf ich fortfahren? — Meine Damen und Herren, was für die Entscheidung über den Regierungssitz Bonn oder Berlin galt und was für die Entscheidung über die Verhüllung des Reichstages galt, muß doch eigentlich erst recht für diese Frage gelten, bei der es um den Schutz von Menschenleben im immer dichter werdenden Straßenverkehr der Bundesrepublik geht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, meine Damen und Herren, daß das Fortbestehen der Regierungskoalition davon abhängt, ob eine im Bundestag vorhandene Mehrheit aus allen Fraktionen dieses Hohen Hauses endlich den Mißbrauch des Alkohols im Straßenverkehr erfolgversprechender einschränkt, als dies bislang der Fall ist. Deshalb bitte ich Sie, mit dafür Sorge zu tragen — und dann hätte diese heutige Debatte einen Sinn —, daß wir die Beratungen in Bälde abschließen und endlich zu einem vernünftigen Ergebnis kommen, also die Promillegrenze in § 24 a des Straßenverkehrsgesetzes, wie längst geboten, absenken.Vielen Dank.
Herr Kollege von Stetten, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig und gut, daß der Deutsche Bundestag nicht in einem sogenannten Schnellverfahren eine gesetzliche Änderung der Promillegrenze durchführt, wie dies soeben noch gefordert wurde. Wenn man manche Gutachten und Empfehlungen liest oder heute Herrn Bachmaier hört, könnte man meinen, die Deutschen seien ein Volk alkoholisierter Autofahrer. Das stimmt ganz einfach nicht, weil über 90 % der Unfälle passieren, ohne daß Alkohol im Spiel ist, und 96 % der Autofahrer fahren ohne Alkohol oder weit unter 0,3 Promille. Das heißt: Es fahren ganz wenige mit Alkohol.
Die Zahl der Getöteten im Straßenverkehr und die Personenschäden sind in den letzten 20 Jahren trotz Verdreifachung des Autoverkehrs um über 30 %, beitödlichem Ausgang sogar um 50 % zurückgegangen. — Das ist ein Verhältnis von eins zu neun oder eins zu zwölf. — Dennoch sind natürlich 8 000 Tote und 35 000 Verletzte zuviel, und es sollte alles versucht werden, um diese Zahlen weiter zu reduzieren. Dazu könnte gegebenenfalls auch die Herabsetzung der Promillegrenze dienen, wenn — das ist die Hauptsache — mehr Überprüfungen schnell und sicher durchgeführt werden könnten.
Dazu gehören in erster Linie beweissichere Atemalkoholkontrollgeräte und die Möglichkeit, Kontrollen routinemäßig ohne Anhaltspunkte durchzuführen. Die Senkung als solche mag dabei ein Signal sein, ist aber als Unfallverursachung fast zu vernachlässigen. 95 % — die Statistiken schwanken ein wenig — der mit Alkohol verursachten Unfälle geschehen mit einer Alkoholkonzentration von 0,8 Promille und darüber und sogar 60 % mit 1,3 Promille und mehr. Das heißt doch, daß nur ganz wenige Unfälle unter 0,8 Promille geschehen, und das sind dann eben alkoholbedingte Ausfälle, die auch geahndet werden, weil sie schon ab 0,3 Promille indiziert sind. Dies zeigt eindeutig, daß das Verkehrsverhalten wenig oder fast nichts mit der Promillegrenze zu tun hat, sondern mit der Kontrolle.Es ist einer der größten Irrtümer, daß man glaubt, mit der Herabsetzung der Promillegrenze automatisch auch die 90 % bis 95 % derjenigen, die mit einem erhöhten Alkoholgehalt fahren, zur Änderung ihres Verhaltens zu bringen; denn sie sind bisher mit über 0,8 Promille gefahren und werden wegen der Herabsetzung nicht plötzlich mit ihrem Alkoholkonsum heruntergehen. Dies ist ebensowenig zu erwarten, wie die Senkung der Alkoholwerte einen Rückgang alkoholbedingter Unfälle erwarten läßt.Hier bin ich anderer Meinung als Herr Bachmaier, weil eindeutige Statistiken da sind. In Polen, der ehemaligen DDR oder anderen Ländern mit geringen Alkohol-Promillegrenzen sind die Unfallzahlen, bei denen Alkohol eine Rolle spielt, nicht geringer. Dort, wo die Zahlen geringer geworden sind, lag es an der erhöhten Kontrolle, Herr Bachmaier. — Sie sollten zuhören, Herr Bachmaier, ich spreche gerade zu Ihnen. — Ihre Statistik stimmt nur dann und nur dort, wo gleichzeitig mit der Senkung eine erhöhte Kontrolle durchgeführt wurde — wie in Holland —; deswegen sind die Zahlen heruntergegangen.Meine Damen und Herren, es ist entscheidend, daß wir die Atemalkoholanalyse verbessern, damit sie beweiskräftig eingesetzt werden kann. Das befürwortet die CDU nachdrücklich. Die Versuche sind bzw. werden gerade erst abgeschlossen. Die Ergebnisse werden in den nächsten Monaten dasein. Die Arbeitsgruppe Recht hat das auch schon einmal selbst probiert. Die Atemalkoholgeräte sind noch nicht absolut sicher.Wenn die Ergebnisse dann vorliegen, darf die 0,5-Promille-Grenze zwar kein Tabu sein, aber sie ist auch keine Voraussetzung, wenn sie nicht ein zusätzliches Signal ist. Sie muß sinnvoll sein. Insofern stimme ich meinem Kollegen Eylmann nicht pauschal
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Dr. Wolfgang Freiherr von Stettenzu, wenn er sagt, die 0,5-Promille-Grenze komme sowieso.Unabhängig davon sollte aber überlegt werden, meine Damen und Herren, ob nicht für bestimmte Gruppen, nämlich Berufskraftfahrer und Führerscheinneulinge, eine besondere Grenze, gegebenenfalls 0,3 Promille, eingeführt werden soll. Bei Berufskraftfahrern sollte im Grunde genommen von vornherein die 0,0 Promillegrenze gelten, da sie oft zwölf Stunden und mehr — wenn auch mit Unterbrechung — unterwegs sind, Hunderttausende von Kilometern im Jahr fahren und durch die Beschaffenheit ihrer Fahrzeuge und ihre Ladung — oft auch menschliche Ladung — eine erhöhte Gefahr für die anderen darstellen.Professor Krüger von der Universität Würzburg hat in einer sehr interessanten Studie — er hat das in der Anhörung ausgeführt — zusammen mit Professor Schösch von der Universität Göttingen den Zusammenhang von Alkoholunfällen, Alter und Führerscheindauer dargestellt und ist dabei zu dem überzeugenden Ergebnis gekommen, daß junge Leute, die gerade ihren Führerschein gemacht haben, schon ab 0,3 Promille stark gefährdet sind und daß diese alkoholbedingte Gefährdung mit zunehmendem Alter drastisch abnimmt.Dies ist auch leicht zu erklären, da zu der Jugend und dem damit vorhandenen Leichtsinn der Geschwindigkeitsrausch des Fahrzeuges kommt, oft auch das Imponiergehabe gegenüber Mitfahrern und dazu ein Alter, in dem sich der junge Mann oder die junge Frau an Alkohol gewöhnt. Nach statistischen Untersuchungen verdoppeln junge Menschen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren ihren mittleren Alkoholkonsum. Diese Faktoren bewirken zusammengenommen eine steigende Unfallhäufigkeit bei diesem Personenkreis, und hier könnte man — wie beim Führerschein auf Probe — einen beträchtlichen Erfolg erzielen.Bei all dem darf nicht vergessen werden, daß bereits jetzt zwischen 0,3 und 0,8 Promille die relative Fahruntüchtigkeit zu beachtlichen Strafen und zum Entzug der Fahrerlaubnis führt, wenn, was häufig indiziert wird, alkoholbedingt ein Unfall geschieht.Unabhängig von den unterschiedlichen Auffassungen über Promillegrenzen sind sich alle Wissenschaftler und Praktiker nahezu übereinstimmend einig — das hat auch die Anhörung ergeben —, daß eine drastische Reduzierung der Alkoholfahrten nur durch bessere Kontrollen, die auch ohne Verdachtsmomente durchgeführt werden können, erreicht werden kann.Deswegen — um das zu wiederholen — sollte alles daran gesetzt werden, daß die vorhandenen Atemalkohol-Analysegeräte verbessert und damit als beweissicher anerkannt werden und — das ist das Entscheidende — deutlich vermehrt eingesetzt werden.Zum Schluß zur Wiederholung: 96 % der Autofahrer fahren ohne jeden Alkohol. Nur 4 % der Autofahrer fahren mit über 0,3 Promille. Von diesen 4 % der Fahrer sind wiederum nur wenige Prozent, unter 5 %, an Unfällen beteiligt, so daß die Dringlichkeit derBekämpfung — ohne Gefahren zu leugnen und zu verniedlichen — nicht übertrieben werden muß.Der Anstieg der Verletzten und Toten — wie ihn Herr Bachmaier hier vorbrachte — in den fünf neuen Bundesländern ist nicht auf den freien Alkoholkonsum zurückzuführen, sondern auf die gestiegene Motordichte, den Geschwindigkeitsrausch durch schnelle Wag en und erheblich verkehrsunsicherere Straßen als in der Bundesrepublik West.
— Es ist eine erhebliche Verkehrsdichte in den ehemaligen DDR-Ländern zu finden. — Das waren die Zahlen, die heute vorliegen.Nach neuesten Zahlen sinken bereits wieder die Unfälle mit Verletzten und Toten. Das ist eine Tatsache. Die Zahlen sind nicht von mir. Deswegen sollten und wollen wir zwar alle durch eine vernünftige Gesetzgebung für eine weitere Senkung sorgen, aber ohne in eine Gesetzeshektik zu verfallen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Burkhard Zurheide.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß jeder Tote im Straßenverkehr ein Toter zuviel ist und daß jeder, der durch Alkoholfahrten zu Tode kommt, genauso ein Toter zuviel ist. Alkohol im Straßenverkehr ist ein ernstes Problem, auch ein Problem, das wir ernst nehmen müssen. Daran kann kein Zweifel bestehen.Trotzdem ist es richtig, was der Kollege von Stetten gesagt hat. Entgegen den Beschreibungen, die der Kollege Bachmaier hier vorgebracht hat, ist das deutsche Volk kein Volk von trinksüchtigen oder trinkenden verantwortungslosen Autofahrern.
— Ich spreche nur das Horrorszenario an, das Sie hier an die Wand gemalt haben, als sei allein durch die Absenkung der Promillegrenze ein Problem zu lösen.Die Absenkung der Promillegrenze allein beleuchtet nämlich in Wirklichkeit einen immerhin wichtigen, aber nur kleinen Ausschnitt des Gesamtproblems der Alkoholfahrten.
Denn es ist so, daß die 0,8-Promille-Grenze nur für folgenlose Trunkenheitsfahrten gilt und wir bereits jetzt eine Rechtslage haben, nach der eine Bestrafung stattfinden kann, wenn Sachen oder Personen zu Schaden kommen, wenn auch nur ein Alkoholgrad von 0,3 Promille vorhanden gewesen ist. Also ist es nicht so, daß etwa jedermann bis zu 0,8 Promille trinken darf und dann im Straßenverkehr tun und lassen kann, was er will. Jeder Autofahrer weiß und
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Burkhard Zurheidemuß wissen, daß er bereits mit erheblich geringerem Alkoholgehalt bestraft werden kann, wenn ein Schaden eintritt.
Es gibt — auch dies ist unstreitig — erhebliche Dunkelziffern. Es ist darauf hingewiesen worden, daß nur jede 600. Trunkenheitsfahrt tatsächlich aufgedeckt wird. Daher gilt das, was wir in diesen Diskussionen immer gesagt haben: Nicht die Promillegrenzesenkung löst das Problem, sondern eine erhebliche Ausweitung, eine Verbesserung und Effektivierung der Kontrollen. Dies ist notwendig, und dies wäre ein Beitrag zur Lösung des Problems.
Wir haben eine neue Möglichkeit, statt der Blutentnahme Atemalkohol-Analysen durchzuführen. Gegenwärtig befinden wir uns im Stadium der wissenschaftlichen Überprüfung dieser neuen Meßgeräte. Wir müssen für Atemalkohol-Analysen einen Grenzwert festlegen. Dies ist überhaupt keine Frage. Die forensische Verwertbarkeit dieser Meßergebnisse steht mittlerweile außer Frage, allerdings noch nicht definitiv.Aus diesem Grunde haben wir gesagt: Wir wollen abwarten, bis wir dies schwarz auf weiß nachgewiesen haben. Im Augenblick werden neue Geräte getestet, und die Ergebnisse sollten nach unserer Auffassung abgewartet werden.Die Blutwertekontrolle ist in der Tat wesentlich aufwendiger als die Atemalkohol-Analyse; dies kann keine Frage sein. Aus diesem Grunde sind wir ja dafür, daß die Atemalkohol-Analyse eingeführt wird, sobald die Ergebnisse vorliegen und dies rechtfertigen.Meine Damen und Herren, wir von der F.D.P.-Fraktion, sind der Auffassung: Die 0,8-PromilleGrenze hat sich bewährt und sollte beibehalten werden. Ich will Ihnen gerne sagen, welche Gründe für uns für diese Position sprechen.Es kann statistisch nachgewiesen werden, daß die Mehrzahl der alkoholbedingten Unfälle in einem Bereich oberhalb 0,8 Promille passiert. Mehr als die Hälfte aller alkoholbedingten Unfälle ereignen sich nach statistischen Ergebnissen, die über Jahre gesammelt worden sind, sogar bei einem Blutalkoholwert von über 1,5 Promille. Auch im internationalen Vergleich können Sie entsprechende Schlüsse ziehen.Nun bin ich selber nicht jemand, der gegenüber jeder Statistik gläubig ist. Wir wissen ganz genau, daß man das Ergebnis je nach dem, wie man fragt, zwar nicht immer entsprechend hinbekommen kann, daß man es aber auslegen kann. Deswegen bin ich vorsichtig.Aber eine Statistik will ich Ihnen doch zur Kenntnis geben. Wenn man einmal den Anteil der bei alkoholbedingten Unfällen im Straßenverkehr Getöteten an deren Gesamtzahl betrachtet, so ergibt sich für 1982 — das sind die letzten Ergebnisse, die vorliegen — für uns in der damaligen Bundesrepublik Deutschland ein Anteil von 22 %, für die damalige DDR bei einerGrenze von 0,0 Promille ein Wert von 19 %, also kein signifikanter Unterschied.Also kann man den Schluß nicht ziehen — ich will ja keinen positiven Schluß ziehen, aber ich will auch nicht dabei sein, wenn ein negativer Schluß gezogen wird —, daß etwa eine Herabsetzung auf 0,5 oder 0,0 Promille den Anteil gravierend nach unten setzen würde. Ich meine auch, daß derjenige, der ändern will, nachweisen muß, daß geändert werden sollte.Meine Damen und Herren, weil es immer weiterführt, auch die parteipolitischen Führer zu hören, können wir ja einmal nachschlagen, was denn die Parteivorsitzenden der hier vertretenden Parteien zu diesem Problem sagen. Auf die Frage „Wie stehen Sie zur Promillegrenze?" antwortet der Kanzler in einer Zeitung aus Mai 1994, die „Auto und Straßenverkehr" heißt:Promillegrenze und Kontrollen müssen sein, aber ein Glas Bier oder Wein muß erlaubt sein.Mein eigener Parteivorsitzender antwortet auf diese Frage:Wir sind für die bestehende Promillegrenze; — insoweit einig mit mir, wie sich das gehört — die sollte man allerdings besser kontrollieren.Nun gucken wir einmal, was Rudolf Scharping auf diese Frage antwortet. Scharping:Die gegenwärtig bestehenden Regelungen halte ich für absolut angemessen.
— Es ist interessant, daß der Kollege Wiefelspütz sagt, der Mann sei befangen. Ich möchte mir weitere Nachforschungen dazu ersparen, warum denn der Mann befangen sein soll.Das ist übrigens auch ein Grund gewesen, warum die Koalitionsfraktionen geradezu wohlwollend Ihnen gegenüber gewesen sind, als wir gesagt haben, wir wollen das noch nicht zum Abschluß bringen, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, diesen wirklich dramatischen, ernsten und kaum überbrückbaren Konflikt in Ihrem eigenen Verein erst einmal zu klären. Wir würden also dringend empfehlen, doch mit Herrn Scharping einmal Kontakt aufzunehmen und zu versuchen, dies zu harmonisieren.
— Herr Kollege Bachmaier, wenn es noch in mehreren Positionen Unterschiede zwischen der Bundestagsfraktion und Ihrem Parteivorsitzenden gibt, dann sollten Sie auch das einmal darstellen. Das wäre ja auch ganz interessant, das zu wissen. Meistens haben Sie ja die Wellen, die Ihr Parteivorsitzender geschlagen hat, nachvollzogen; vielleicht machen Sie es hier ja auch.Meine Damen und Herren, ich möchte mich kurz noch verfassungsrechtlichen Problemen widmen, weil ich glaube, daß sie durchaus entscheidend sind.
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Burkhard ZurheideErstens. Sie verlangen, daß verdachtsfreie Kontrollen durchgeführt werden können. Ich halte dies für problematisch, weil es unserem Strafrecht und auch unserer Verfassung fremd ist, daß auf Grund von nicht vorhandenem Verdacht entsprechende Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt werden. Ich warne davor, einfach holterdiepolter einen wichtigen Verfassungsgrundsatz über Bord zu werfen, ohne genügend Gründe dafür zu haben.Zweitens. Sie wollen eine Mitwirkungspflicht bei der Atemalkohol-Analyse einführen. Sie wollen qua Bußgelddrohung den Autofahrer, der verdachtsfrei erwischt wird, veranlassen, bei einer AtemalkoholAnalyse mitzuwirken, wie es im Amtsdeutsch heißt, sein Atemgut einzubringen.Normalerweise können Sie das nicht. Bei der Blutentnahme ist das etwas anderes, weil der Autofahrer dabei eine passive Rolle hat. Bei der AtemalkoholAnalyse verlangen Sie von dem Fahrer ein aktives Mitwirken. Rechtlich gesehen ist das das mögliche Mitwirken an der Selbstbeschuldigung.
Ich sage das nur aus verfassungsrechtlicher Sicht. Man muß sich darüber im klaren sein, was man tut. Wir haben im Strafprozeßrecht den hehren Grundsatz, daß niemand daran mitwirken muß, sich selber zu beschuldigen. Man kann diesen Grundsatz nicht einfach über Bord werfen, indem man sagt: Nun gut, Verfassung hin oder her. Es kommt mir, Herr Bachmaier, bei Ihrer Partei in den letzten Monaten leider etwas häufig vor, daß solche elementaren Verfassungsgrundsätze einfach über Bord geworfen werden, ohne daß bis zum Ende nachgedacht wird.Wir sind in der Tat hier rechtsstaatlich wirklich sauber, weil wir sagen: Man muß zumindest darüber nachdenken.
Wenn man dies denn tun wollte, Herr Bachmaier, könnte man ja zumindest bei der Schadensabgrenzung auf den Gedanken kommen, ob man denn in diese verfassungsrechtlich sehr bedenkliche Situation überhaupt kommen muß. Was passiert denn, wenn sich ein Verkehrsteilnehmer weigert, an einer Atemalkohol-Analyse teilzunehmen? Dann macht man eine Blutentnahme.Also: Aus diesem Grund braucht man eine Mitwirkungspflicht überhaupt nicht einzuführen. Es gibt nicht einmal eine Notwendigkeit dafür. Deswegen sollten Sie darüber noch einmal nachdenken.Ich will zum Abschluß sagen: Für meine Fraktion gilt, daß wir im Augenblick überhaupt keine Gründe sehen, von der 0,8-Promille-Grenze abzurücken. Wir sind sehr dafür, daß man eine bessere und effektivere Kontrolle durchführt, und wir sind auch dafür, daß man die Atemalkohol-Analyse einführt, wenn die forensische Verwertbarkeit gegeben ist.Wir haben im Rechtsausschuß gesagt: Die Bundesregierung muß jetzt das Notwendige tun, um diese Atemalkohol-Analyse qua Vorschriften so aufzubereiten, daß der Rechtsausschuß und wir dann anschließend zustimmen können. Hier wird überhaupt nichts verschleppt, im Gegenteil.
— Nein, nein; das, glaube ich, habe ich Ihnen ja deutlich nachgewiesen. Wahrscheinlich sind Sie nachweisungsresistent; das ist ja in Ordnung. — Ich glaube schon, daß man sagen kann, daß wir uns wirklich Mühe geben und die rechtsstaatlichen Grundsätze nie, jedenfalls nicht ohne Not aufgeben möchten.Meine Damen und Herren, wir werden das im Rechtsausschuß demnächst beraten können, wenn die Ergebnisse vorliegen. Sie sollten die Zeit nutzen, um mit Ihrem Parteivorsitzenden das Problem einmal in aller Ruhe zu erörtern. Vielleicht kommen Sie ja doch noch zu einem gemeinsamen Ergebnis.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was hier um die Promillegrenze abläuft, ist ein Trauerspiel par excellence.Herr von Stetten, was Sie über Schnellverfahren gesagt haben, ist eigentlich ein schlechter Witz. Man kann vielleicht bei den Sparpaketen der Bundesregierung, die hier durchgepeitscht wurden, von Schnellverfahren sprechen, aber nicht bei einem Gesetz, das seit über zwei Jahren in diesem Bundestag und in den Ausschüssen ist.
Seit mehr als zwei Jahren werden Anträge der SPD von Abweichlern der CDU/CSU-Fraktion — der Antrag hat sich im übrigen inzwischen von selbst erledigt — sowie ein Antrag der PDS/Linke Liste von einer Schreibtischseite auf die andere geschoben. Am liebsten ließe man diese Anträge offenkundig im Schreibtisch verschwinden.Heute läßt sich das Parlament mit einem Zwischenbericht abspeisen, der eher in den „Eulenspiegel" unter die Rubrik „Viel Lärm um nichts" gehört. Fazit des Berichts ist nämlich: Warten wir es ab.Man begibt sich auf einen Nebenkriegsschauplatz und fordert von der Bundesregierung — ich zitiere —„die erforderlichen Vorschriftenentwürfe zur Einführung der Regelkontrolle auf der Basis der Atemalkohol-Analyse". Die effektivste Maßnahme gegen Alkohol am Steuer sei danach die Kontrolle. Im Klartext: Der, der erwischt wird, hat halt Pech gehabt — ein Kavaliersdelikt.Der Argumentation der SPD kann ich in diesem Fall nicht folgen.
Wie heißt es in dem Bericht: Eine geringere Promillegrenze veranlasse die Fahrer, sich in ihrem Trink-
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Dr. Dagmar Enkelmannverhalten anzupassen und von vornherein weniger alkoholische Getränke zu sich zu nehmen.
Damit sagen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, doch zugleich: Es darf getrunken werden — bloß nicht ganz so viel.Was aber ist viel? Bekanntlich ist die Wirkung von Alkohol von Person zu Person sehr unterschiedlich,
abhängig von der Konstitution, von sonstigem Trinkverhalten usw.
Schon ab 0,3 Promille — das haben einige der Kollegen hier schon bestätigt — verändern sich nachweislich die Reaktionszeit, das Konzentrationsvermögen und die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung. Ein klares eindeutiges Verbot setzt meines Erachtens eher den Maßstab für Trinkverhalten.Daß es dennoch immer wieder Unbelehrbare geben wird und auch in der DDR gegeben hat, ist für mich kein Argument, damit a priori locker umzugehen.Herr Kollege Eylmann, Ihr Argument zieht meines Erachtens nicht, denn beispielsweise ist auch Diebstahl gesetzlich verboten und findet trotzdem statt.Meine Damen und Herren, wieder einmal setzen Sie sich kraft Ihrer Mehrheit über Forderungen eines großen Teils der Bürgerinnen und Bürger hinweg. Nach einer EMNID-Umfrage vom vergangenen Jahr sprachen sich immerhin 56 % der Befragten für ein generelles Alkoholverbot am Steuer aus, in den neuen Bundesländern sogar 75 %. 24 % forderten eine Absenkung der Promillegrenze auf 0,5. Lediglich 18 % waren für eine Beibehaltung der bisherigen Regelung.Offenkundig geht an Ihnen auch die Forderung aller Innenminister der neuen Bundesländer nach absolutem Alkoholverbot im Straßenverkehr vorbei. Eine mögliche Reduzierung auf 0,5 Promille wäre aus deren Sicht lediglich ein politischer Kompromiß.Als Argumentation genügt Ihnen, meine Damen und Herren der Koalition, daß der ADAC keinen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Promillegrenzen verschiedener Länder und Unfallhäufigkeit feststellen konnte. Nun ist der ADAC nicht gerade die seriöseste Quelle. Immerhin wird im Bericht des Europaparlaments festgestellt, daß in den Mitgliedsstaaten der EU bei mehr als 40 % aller tödlichen Unfälle Alkohol im Spiel war.Läßt es Sie wirklich eiskalt, daß nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Zahl der alkoholbedingten Unfälle in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren dramatisch gestiegen ist?
Unfälle mit Personenschaden nahmen allein von 1991 zu 1992 um 13,9 % zu, Unfälle mit schwerem Sachschaden um sage und schreibe 55 %.Ein deutliches Anwachsen der Zahl der unter Alkoholeinfluß fahrenden Kraftfahrer wurde nach der Übernahme bundesdeutschen Rechts ab Januar 1993 festgestellt. Mit der Übernahme der 0,8-PromilleGrenze in den neuen Bundesländern wurde genau ein falsches Zeichen gesetzt. Der Anteil alkoholisierter Kraftfahrer in Thüringen z. B. wuchs um etwa zwei Drittel. In dieser Statistik bleibt allerdings offen, wie viele der Geschädigten selbst alkoholisiert waren und wie viele völlig unschuldig Opfer eines verantwortungslosen Kraftfahrers wurden.Die große Toleranz gegenüber dem „einen Bierchen für den Kraftfahrer" oder „Ein Schnäpschen kann doch nicht schaden" ist Toleranz gegenüber Rücksichtslosigkeit und fehlende Verantwortung im Straßenverkehr. Jeder Kraftfahrer muß gesetzlich verpflichtet werden: Kein Alkohol am Steuer. Deshalb tritt die PDS/Linke Liste für eine unmißverständliche 0,0-Promille-Regelung ein.Warum wehren Sie sich im Parlament eigentlich so vehement, und das seit immerhin mehr als zwei Jahren, gegen eine Änderung, die außerhalb längst von einer Mehrheit befürwortet wird? Weil sie auch Abgeordnete nicht ausschließen würde? Also auf zu Ossi!Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege KlausDieter Feige, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat ihren Antrag schon vor fast drei Jahren, nämlich im Juli 1991, in den Bundestag eingebracht.
Sie forderte die Herabsetzung der Promillegrenze auf 0,5 und zur verbesserten Kontrolle der Autofahrer den Einsatz der elektronischen Atemalkohol-Analyse als gerichtsverwertbares Beweismittel. Darüber hinaus sollen in Übereinstimmung mit immer noch bestehenden auch GRÜNEN-Forderungen im Straßenverkehrsgesetz und in der Strafprozeßordnung die Voraussetzungen geschaffen werden, um polizeiliche Alkoholkontrollen auch ohne Vorliegen konkreter Verdachtsmomente zu ermöglichen.Die Ursachen für die Forderung nach Verschärfung der bestehenden rechtlichen Regelung sind also klar: In den knapp drei Jahren seit Einbringung des Antrags sind mindestens 4 500 Menschen im Verkehr alkoholbedingt zu Tode gekommen. Über 2 Millionen Alkoholabhängige in Deutschland bilden die Spitze eines Eisbergs in einer Gesellschaft, die allzu fahrlässig mit der Droge Alkohol umgeht. Ganz im Gegensatz zur koalitionsoffiziellen scharfen Antidrogenrhetorik wird der gewohnheitsgemäße Umgang mit Alkohol auch im Verkehr fast widerstandslos hingenommen. Geredet wurde viel, konsequent gehandelt gar nicht. Es scheint, als ob auch die eigene Betroffenheit
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Dr. Klaus-Dieter Feigemanchen Abgeordneten von einer konsequenten Problemlösung abgehalten hat.Es ist zudem völlig unverständlich, warum angesichts der bestehenden Situation die Anhörung zu diesem Antrag erst ganze zwei Jahre nach der Einbringung im Bundestag stattfand.Ein weiterer Handlungsbedarf besteht darüber hinaus auf Grund der hohen Dunkelziffern von Fahrten unter Alkoholeinfluß. Ich muß sagen, es geht nicht um die 96 %, die konsequent ohne Alkohol fahren, sondern um die 4 %, die auch die 96 % und dazu sämtliche Fußgänger in ihrer Gesundheit gefährden.Die Polizei kontrolliert bisher wegen des enormen Aufwandes in der Regel nur bei verdächtig auffälligem Verhalten oder bei besonderen Anlässen wie Neujahr oder Karneval. Doch der Vorteil der elektronischen Atemalkohol-Analyse gegenüber den heutigen Meßmethoden liegt darin: Sie ermöglicht bei gleichem Personalbestand wesentlich mehr und intensivere Kontrollen. Damit sind alle Voraussetzungen geschaffen, den vorliegenden Antrag im Bundestag zu verabschieden — und keine weitere Diskussion.
Ich stimme übrigens mit den Unionsfraktionen, mit Herrn Eylmann, dahin gehend überein, daß eine Absenkung auf die 0,5 Promille-Grenze allein nicht ausreicht. Nur, unsere Konsequenz ist eine andere als bei Ihnen. 90 % aller Unfälle im Straßenverkehr sind nämlich auf menschliches Versagen zurückzuführen. Von der Gesamtzahl der Verkehrstoten beträgt der Anteil der bei Alkoholunfällen Getöteten 20 %. Verkehrsexperten gehen angesichts der hohen Dunkelziffer bei der Unfallursachenerfassung von einem deutlich höheren Anteil aus.Zur Ausschaltung des Spitzenreiters Alkohol aller vermeidbaren Unfallursachen wären daher nur 0,0 Promille konsequent. In diesem Sinne stimme ich mit Professor Wagner überein, von dem das schöne Zitat vom trinkenden Fahrer und fahrenden Trinker stammt. Er hat es konsequent auf den Punkt gebracht — und er ist ja nun nicht gerade Mitglied unserer Partei.Die medizinischen Gutachter haben bestätigt, daß auch der 0,5-Promille-Spiegel ein willkürlich gesetzter Grenzwert ist. Bei gleichen Alkoholkonzentrationen bestehen extreme Unterschiede zwischen Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts, Gesundheitszustandes, aber auch Alkoholgewöhnungszustandes.In diesem Zusammenhang muß ich noch einmal den Unfug mit dem Vergleich bezüglich der DDR-0,0Promille zurückweisen. Das ist doch einfach irrsinnig. Das waren ganz andere gesellschaftliche Verhältnisse. Sie haben doch vorhin selbst zitiert, welche Straßenverhältnisse dort vorherrschen. Das ist doch ein Argument dafür, daß jedes höhere Quantum an Alkohol unter geringfügig veränderten Straßenbedingungen zu einer erhöhten Unfallgefahr führt. Selbst die Alkoholeinwirkung bei ein und derselben Person ist stark unterschiedlich je nach Tagesrhythmus, Kondition und Getränk.Der Promillespiegel hinter dem Steuer darf nicht von der individuellen Selbsteinschätzung der trinkenden Fahrer abhängig gemacht werden. Es sind wirklich nur 0,0 Promille ein eindeutiges Entscheidungskriterium für den Autofahrer. Intensive Kontrollen mit der soeben genannten Atemalkohol-Analyse und ausreichend hohe, von mir aus gestaffelte Bußgelder oder Strafen, aber auch eine verbesserte Aufklärung und Erziehung werden ihrerseits dazu beitragen, den Alkohol am Lenkrad zu verbannen.Die Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind gewiß keine asketischen Weltverbesserer.
Feiern soll nicht eingeschränkt werden. Das ist aber ein Grund mehr, der Verkehrssicherheit zuliebe den öffentlichen Nahverkehr und flexible Elemente wie Taxen oder Rufbusse zügig auszubauen. Alkoholgenuß und Autofahren müssen endlich wirkungsvoll und vollständig voneinander getrennt werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kollegen Michael Jung das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Ich glaube, daß doch alle gemeinsam in diesem Haus die Verantwortung haben, dafür zu sorgen, daß sich die Zahl derjenigen, die alkoholisiert Pkw oder Lkw fahren, also am Straßenverkehr teilnehmen, reduziert. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, und das ist auch vollkommen unstrittig.
Man soll aber bei der Diskussion nicht so tun, als wäre hier in den vergangenen Jahren nichts passiert, als habe sich die Situation verschlechtert oder verschärft.Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat sich die Unfallursache Alkoholeinfluß von über 58 000 Fällen im Jahre 1972 auf knapp über 34 000 Fälle im Jahre 1988, d. h. um über 40 %, vermindert. Ebenso zurückgegangen ist die Zahl der wegen Alkoholstraftaten im Straßenverkehr Verurteilten. Das zeigt, daß der Weg, der bisher beschritten worden ist, so falsch ja wohl nicht sein kann und daß es darum geht, hier gemeinsam zu überlegen, wie dafür gesorgt werden kann, daß sich das viele Leid, das über Angehörige bei solchen Unfällen, bei vielen tragischen Fällen, die passieren, kommt, reduzieren und minimieren läßt. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.Die zweite Bemerkung. Das ist gar keine parteipolitische Sicht. Es gibt bei uns genauso wie bei Ihnen diese oder jene Position. Ich erinnere nochmals daran, daß das Land Rheinland-Pfalz unter Ihrem Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden im Bundesrat die
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Michael Jung
Initiative nicht mitgetragen hat, sondern für die Beibehaltung der jetzigen Regelung gestimmt hat.
Sie werden doch so parteipolitische Unterstellungen, wie sie uns gegenüber hier vorgetragen worden sind, sicher nicht gegen Ihren eigenen Spitzenmann gelten lassen, sondern ihm konzedieren müssen, daß er das — genauso wie wir — aus sachlichen Positionen heraus getan hat.Meine dritte Bemerkung dazu: Mich stört an dieser Diskussion, auch heute, daß wir so tun, als ließe sich das Problem auf die Frage „0,5- oder 0,8-PromilleGrenze?" reduzieren. Meine Damen und Herren, ich sage mit Nachdruck, weil wir in der Öffentlichkeit diesen falschen Eindruck revidieren müssen: Wir haben bereits heute die 0,3-Promille-Grenze.
Denn es ist nach der Rechtsprechung ganz eindeutig, daß derjenige, der mit 0,3 Promille im Verkehr angetroffen wird und Anzeichen alkoholbedingter Ausfallerscheinungen aufweist, seinen Führerschein los ist. Das ist die heute geltende Rechtslage. Insofern ist es eine fatale Diskussion, auch in der Öffentlichkeit so zu tun, als ob die Folge der Strafbarkeit derzeit an die 0,8-Promille-Grenze — oder später bei Ihnen an die 0,5-Promille-Grenze — anknüpft.
Das Gegenteil ist der Fall. Die 0,3-Promille-Grenze ist schon heute vorhanden.Der Unterschied, Herr Kollege, ist, daß bei der Grenze, die heute geltendes Recht ist, eben die Ausfallerscheinungen hinzukommen müssen, während Sie durch die Änderung des § 24a StVG eine feste Grenze einführen wollen, die automatisch die Fahruntüchtigkeit indiziert, ohne daß sie in der Praxis tatsächlich nachgewiesen werden muß.Als vierten Punkt möchte ich auch aus meiner anwaltlichen Praxis, bemerken — das müßten Sie eigentlich bestätigen —: Das Problem sind nicht diejenigen, die mit 0,5 bis 0,8 Promille alkoholisiert am Straßenverkehr teilnehmen, sondern diejenigen, die mit deutlich höheren Werten fahren,
weil sie wissen, daß die Chance, erwischt zu werden, gleich Null ist. Das ist das eigentliche Problem. Mit dem, so meine ich, müßten wir uns auseinandersetzen. Die Gewißheit, nicht kontrolliert und damit nicht bestraft zu werden, muß beseitigt werden. Dazu werde ich gleich noch einen Satz sagen.Bei den Kontrollen auf den Straßen — das ist eben schon angesprochen worden und stützt meine These — werden 90 % der Fahrer nüchtern angetroffen, weitere 6 % bleiben unter 0,3 Promille. Weniger als 1 % der Erfaßten fahren mit mehr als 0,8 Promille; diese sind aber zu 23 % an den Unfällen beteiligt. Das macht deutlich, daß wir uns dieser Gruppe mit besonderer Aufmerksamkeit widmen müssen.Daß 1988 der Anteil der Alkoholunfälle an den Verkehrsunfällen in der Bundesrepublik 9,8 %, in der damaligen DDR bei Geltung der 0,0-Promille-Grenze aber 10,1 % betragen hat, macht — Stichwort Verkehrssicherheit — im übrigen deutlich, daß die 0,0-Promille-Grenze, einhergehend mit einer in der DDR aus anderen Anlässen höheren Kontrolldichte, überhaupt nichts darüber aussagt, wieviel Alkohol im Straßenverkehr genossen wird. Das ist der einzige Wert, den Sie gebrauchen können, weil er an die Zahl der Verkehrsunfälle insgesamt anknüpft. Insofern ist Ihre These, so meine ich, nicht richtig.Was wir mit Nachdruck fordern müssen, meine Damen und Herren, ist, die Kontrollhäufigkeit und -dichte zu verstärken.
Das ist außerordentlich wichtig. Dazu gehört natürlich auch das Thema Atemalkohol-Analyse.Herr Kollege Zurheide, ich war mit vielem von dem, was Sie gesagt haben, sehr einverstanden. Nur eines verstehe ich nicht ganz, obwohl das, so sage ich als Jurist, natürlich in den Bereich der juristischen Spitzfindigkeiten hineingehört: die aktive Mitwirkungspflicht bei der Atemalkohol-Analyse und die passive Duldungspflicht bei der Blutentnahme.
Herr Kollege Jung, Ihre Redezeit ist schon ein Stückchen überschritten.
Sie hatten mich etwas irritiert, Herr Präsident, indem Sie mir am Anfang mehr Zeit zugemessen haben, als mir tatsächlich zur Verfügung stand. Unter dem Gesichtspunkt des Bestandschutzes habe ich darauf vertraut, daß mir die Zeit bleibt.
Ich darf aber, Herr Präsident, abschließend folgendes sagen: Die Atemalkohol-Analyse ist im Vergleich zu den sonstigen juristischen Methoden natürlich das schwächere Mittel. Unter dem Prinzip des Übermaßverbots bzw. der Verhältnismäßigkeit, das in der Rechtsprechung sonst angewandt wird, ist es doch paradox, daß jemand sich weigern kann, für die Atemalkohol-Analyse zu blasen, und daß man dem sagt, dann müsse von der Blutentnahme — was das weitaus stärkere Mittel ist, das auch in seine körperliche Unversehrtheit stärker eingreift — Gebrauch gemacht werden.
Weshalb das für die Praxis notwendig ist, weiß jeder. Woran mangelt es heute? Wir haben wenig Polizeipräsenz. Was ist das Problem? Die Polizei macht Kontrollen, erwischt einen, baut ihre Kontrolle ab, fährt zum Arzt oder Polizeirevier, ist eine Stunde unterwegs, damit die Blutentnahme vorgenommen werden kann. Dann kommt sie zurück, und die anderen sind in der Zwischenzeit alkoholisiert vorbeigefahren.
Das war jetzt genug Bestandsschutz.
Um das zu vermeiden, brauchen wir die Atemalkohol-Analyse. Deswegen
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Michael Jung
hoffe ich, daß wir im weiteren Verlauf der Debattegemeinsam zu dieser sinnvollen Regelung kommen.Vielen Dank.
Er hat ja recht: Die Uhr war irrtümlich zunächst auf zehn Minuten eingestellt. Er hat es jetzt auf sieben bis siebeneinhalb statt fünf Minuten gebracht.
Ich erteile der Kollegin Elke Ferner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich muß sagen, es ist ein bemerkenswerter Vorgang, wie von den Koalitionsfraktionen mit einem Antrag umgegangen wird, der seit 35 Monaten in diesem Bundestag liegt.
— Das sind knapp drei Jahre, Herr Hinsken. Nächsten Monat wäre es dann soweit.Sie haben soeben gesagt: Wir brauchen hier noch Erkenntnisse, wir brauchen da noch Erkenntnisse.
— Ich komme noch darauf, Herr Kollege. Sie können sich darauf verlassen, daß ich dazu noch etwas sage, Herr Gallus.Da andere umfangreiche Gesetzeswerke in diesem Parlament mit einer Eile und in einem recht unparlamentarischen Verfahren durchgepeitscht worden sind, ist es nicht verständlich, warum dieser recht einfache Antrag von einer Seite 35 Monate braucht, um überhaupt in einer Geschäftsordnungsdebatte noch einmal debattiert zu werden.Wir wissen alle, daß es eine parlamentarische Mehrheit für diesen Antrag gibt. Die F.D.P. ist im wesentlichen diejenige Partei in unserem Parlament, die die Beratung und auch die Abstimmung dieses Antrages blockiert.
Wie das Kaninchen auf die Schlange starrt die Union auf den kleineren Koalitionspartner. Die Kollegen und Kolleginnen aus der Union, die wie wir eine vernünftige Regelung wollen, müssen sich öffentlich vorführen lassen.
— Herr Gallus, ich komme noch darauf: Keine Angst!Es wurde noch nicht einmal über eine Verlängerung der Übergangsregelung in den neuen Ländern über den 31. Dezember 1992 hinaus abgestimmt, so wie das einige mutige Kollegen und Kolleginnen aus Ostdeutschland gefordert hatten.
Sie hatten die Befürchtung, daß nach Einführung der 0,8 Promille-Grenze in den neuen Ländern verheerende Folgen bei der Verkehrssicherheit eintreten könnten. Sie sind leider eingetreten.Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sprechen eine deutliche Sprache: Von Januar bis November 1993 hat sich die Zahl der Verkehrsunfälle, die auf Alkoholeinfluß zurückzuführen waren, in den neuen Ländern um 10,8 % erhöht. Das waren in diesem Vergleichszeitraum fast 1 000 Verkehrsunfälle mehr als 1992.Gerade die Auswirkungen des Alkohols auf die körperliche und seelische Verfassung bei Autofahrern sind gravierend. Gerade in dem immer komplizierter werdenden Verkehrsgeschehen auf unseren Straßen benötigen die Verkehrsteilnehmer ihre uneingeschränkte Reaktions- und Wahrnehmungsfähigkeit, vor allem in schwierigen Verkehrssituationen.Ab 0,5 Promille treten deutliche Beeinträchtigungen auf. Rasch wechselnde Verkehrsituationen, unvorhergesehene Ereignisse auf der Straße, verschiedene, gleichzeitige Anforderungen an den Fahrer oder Situationen mit aggressionsauslösenden Reizen werden schlecht bewältigt. Diese Feststellung aus Heft 12/1991 des Amtsblattes des Bundesverkehrsministeriums wurde im wesentlichen auch durch die Expertenanhörung des Rechtsausschusses bestätigt.Ab 0,5 Promille steigt das Unfallrisiko dramatisch an. Dieses Risiko steigt nicht nur für Autofahrer, die Alkohol konsumiert haben, an, sondern für alle Verkehrsteilnehmer. Es ist gesagt worden: 90 % aller Autofahrten werden nüchtern durchgeführt. Das ist gut. Aber die 10 %, die eben nicht nüchtern durchgeführt werden, sind 10 % zuviel.Da stellt sich nun wirklich die Frage, ob wir die Grenze nicht zum Schutz aller Verkehrsteilnehmer möglichst niedrig ansetzen sollten, anstatt das Risiko unnötig zu erhöhen, indem der Eindruck erweckt wird, was erlaubt sei, sei auch möglich und sei auch sicher.
Das Gegenteil ist der Fall, und auch Sie wissen das.Alle Umfragen zeigen, daß eine klare Mehrheit in der Bevölkerung einen besseren Schutz gegen betrunkene Autofahrer befürwortet. Und nicht ohne Grund hat die Fachwelt, vom Deutschen Verkehrsgerichtstag bis zu den Verkehrswarten und dem Verkehrssicherheitsrat, seit Jahren die Absenkung der Promillegrenze gefordert.Die Begründung ist der Stand der Wissenschaft: Gegenüber 0,5 Promille beträgt die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mit Todesfolge bei 0,8 Promille mehr als das Doppelte und gegenüber 0,0 Promille mehr als das Vierfache. Das sollte uns doch alle bedenklich stimmen und sollte nicht zu solchen verharmlosenden Äußerungen führen.
Dem widerspricht auch nicht, daß es in Ländern mit niedrigerer Promillegrenze einen höheren Anteil an Alkoholunfällen gibt. Die Beispiele, die angeführt
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Elke Fernerworden sind, wie die frühere DDR, hinken, weil die Verkehrsdichte nicht mit der im Westen zu vergleichen ist und man insofern — ich übertreibe jetzt einmal — eigentlich schon besoffen sein mußte, um überhaupt einen Unfall zu bauen. Wenn es dann eine Grenze von 0,0 Promille gibt, fallen natürlich mehr Menschen auf als bei einer Grenze von 0,8 Promille oder auch von 0,3 Promille.
Lieber Kollege Gallus, es ist ein Interview mit Rudolf Scharping zitiert worden. Zum einen hat sich das Land Rheinland-Pfalz bei der Bundesratsinitiative damals bei den einzelnen Abstimmungen wegen der F.D.P., die ja in Rheinland-Pfalz mit in der Koalition ist, der Stimme enthalten,
und zum zweiten steht in unserem Regierungsprogramm eben nichts im Widerspruch zu dem, was in unserem Antrag steht. Insofern verstehe ich Ihre Aufgeregtheit nicht.
Werte Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gallus gestatten?
Gerne. Ich bekomme es aber nicht angerechnet?
Frau Kollegin, würden Sie hier vor dem Hohen Hause bestätigen, daß das Verhalten des Landes Rheinland-Pfalz haargenau den Äußerungen des dortigen Ministerpräsidenten entspricht?
Herr Gallus, das kann ich Ihnen nicht bestätigen.
Das Land Rheinland-Pfalz hat sich wegen der Koalitionsfrage im Bundesrat der Stimme enthalten, weil die F.D.P. eine andere Auffassung hat. In unserem Entwurf eines Regierungsprogramms steht nicht, daß wir an der jetzigen 0,8-Promille-Grenze festhalten sollten. Außerdem habe ich natürlich in der Staatskanzlei in Mainz nachgefragt. Auch wir haben dieses Interview gelesen. Mir ist da gesagt worden, daß das die Meinung der Landesregierung sei und nicht die Parteimeinung in diesem Interview wiedergegeben worden ist.
Frau Kollegin Ferner, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Zurheide?
Gerne. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bitte.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß in Ihrem eigenen Antrag die Herabsenkung auf 0,5 Promille gefordert wird und Ihr Parteivorsitzender, entgegen Ihren vorherigen Aussagen, das Gegenteil — nicht das gleiche — sagt, wenn er auf die Frage „Wie stehen Sie zur Promillegrenze?" antwortet: „Die gegenwärtig bestehenden Regelungen halte ich für absolut angemessen."?
Ich habe ja schon Ihrem Kollegen Gallus gesagt, daß es die Meinung der Landesregierung ist, an der ja auch Ihre Partei beteiligt ist, und daß es eben in der SPD keinen gegenteiligen Beschluß zu den 0,5 Promille, so wie es in unserem Antrag steht, gibt.
Es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage. Dann ist Schluß. Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte.
Frau Kollegin, stimmen Sie mir denn zu, daß Herr Scharping als SPD-Parteivorsitzender geantwortet hat und nicht als Vorsitzender einer Koalitions-Landesregierung,
und stimmen Sie mir auch zu, daß Herr Scharping sich in aller Regel nicht als Vorsitzender einer Koalitionsregierung zu Wort meldet?
Es steht über dem Interview, er habe sich als Parteivorsitzender geäußert. Aber ich habe Ihnen eben auch dargelegt, welche Antwort ich aus der Staatskanzlei des Landes Rheinland-Pfalz erhalten habe, und hoffe, daß Sie damit zufrieden sind.
— Ach, Herr Gallus, schreien Sie doch nicht so herum! Das macht doch überhaupt keinen Spaß mehr.Wir wissen natürlich auch, daß die Absenkung der Promillegrenze alleine nicht ausreicht. Aber ihre Wirkung auf das Bewußtsein und das Verhalten der Autofahrer im Hinblick auf Alkoholkonsum und Autofahren ist sicherlich nicht zu unterschätzen.In der öffentlichen Diskussion wird oft behauptet, eine Absenkung ändere nichts am Unfallgeschehen, weil die Mehrzahl der Unfälle mit mehr als 0,8 Promille passiert. Aber auch ein Unfall mit 0,6 Promille ist ein Unfall zuviel. Außerdem kommt es darauf an, die Autofahrer zu veranlassen, sich an niedrigeren Grenzen zu orientieren, wenn sie schon nicht ganz auf Alkohol verzichten, was eigentlich das Vernünftigste wäre.
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Elke FernerSchließlich wollen ja die meisten eine niedrigere Grenze. Aber die muß natürlich mit besseren und sicheren Kontrollen einhergehen. Dies wollen die Bürger auch.Deshalb wollen wir den Einsatz der elektronischen Atemalkohol-Analyse als eines gerichtsverwertbaren Beweismittels. Heute kann diese als technisch sicher bewertet werden und auch gleichwertig als gerichtsverwertbar gelten. Das ist in der Anhörung auch von einigen Sachverständigen festgestellt worden. Insofern waren die Bedenken der Koalition in der Ausschußsitzung am 19. Januar für meine Begriffe nur vorgeschoben, um eine Entscheidung in dieser Wahlperiode zu verhindern.Auch international wird seit langem die 0,5-Promille-Grenze gefordert. Die EG schlug dies bereits 1989 vor. Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir sollten uns alle nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit dem Inkrafttreten des Vertragswerks von Maastricht die Verkehrssicherheit Gegenstand der Gemeinschaftskompetenz geworden ist, so daß die Befürworter der 0,8-Promille-Grenze ihre Position über kurz oder lang nicht werden halten können.Ich begreife nicht, warum man die Entscheidung jetzt nicht in die Hände des Parlamentes legt. Offenbar gibt es in den Koalitionsreihen einige, die Angst haben, daß im Parlament eine Mehrheit für unseren Antrag zustande kommt.Wenn man sich einige Äußerungen ansieht, die von prominenten Koalitionsmitgliedern gemacht werden, empfindet man sie als etwas wunderlich. Heiner Geißler, immerhin der stellvertretende Fraktionsvorsitzende, wird mit der Äußerung in einem politischen Frühschoppen zitiert, wer mit 0,8 Promille nicht fahren könne, der könne es mit 0,5 Promille auch nicht.
Noch bezeichnender ist für mich, daß auf Einladung des Mittelstandskreises der CDU/CSU-Fraktion ein Experte für Weinkultur zum Thema „Verkehrssicherheit oder Lebensqualität" referiert. Sollte das für die Koalition repräsentativ sein, so bestünde wohl ein erhebliches Risiko für die Verkehrssicherheit.
Der Verkehrsausschußvorsitzende Jobst sieht das nüchterner. Er schließt sich unserer Meinung an.Ich bitte Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen, die Sie eine vernünftige Haltung haben, nicht stur auf 0,8 Promille zu beharren. Geben Sie mit uns den Weg frei, damit hier im Bundestag endlich abgestimmt werden kann, damit klar wird, daß dieses Parlament in der Lage ist, wichtige Entscheidungen zu treffen, und daß nicht Taktiererei wichtige Entscheidungen hinauszögert! Es geht hier nicht darum, irgend jemanden in seiner persönlichen Freiheit einzuschränken. Es geht schlicht und ergreifend um mehr Verkehrssicherheit, und damit geht es letztendlich um Menschen, die durch Verkehrsunfälle unter Alkoholeinfluß in ihrerGesundheit beeinträchtigt werden oder sogar ihr Leben verlieren.
Als nächster hat der Kollege Wolfgang Börnsen das Wort.
Frau Präsidentin! Einer, der in der Region lebte, aus der ich komme, starb in meinem Wahlkreis mit 18 Jahren. Der Führerscheinneuling, der gerade das Abitur in der Tasche hatte, hatte in einer Diskothek einiges über den Durst getrunken. Er hatte den starken Mann markiert und drei Freunden angeboten, sie nach Hause zu fahren. Und dann ist es passiert. Der Arzt, der zur Unfallstelle kam, hat später gesagt, die drei seien sofort gestorben. Nur Patricia hat die schreckliche Trunkenheitsfahrt überlebt; allerdings ist sie jetzt querschnittgelähmt.Alkoholunfälle stehen an der Spitze der vermeidbaren Unfallursachen.
Sie sind überdurchschnittlich schwer. Sie ereignen sich häufig am Wochenende. Sie passieren meist nachts. Junge Leute sind häufiger betroffen als ältere. Über 40 000 Trunkenheitstäter gab es nach Angaben der Verkehrswacht 1992 in Deutschland. Sie verletzten über 55 000 Menschen, und 2 102 Mitbürger wurden getötet.Trotz dieser traurigen und zugleich zornig machenden Bilanz gilt so manche Autofahrt mit Alkohol immer noch als Kavaliersdelikt. Wenn der Druck der Gesellschaft auf die fahrenden Ausraster ohne Wirkung bleibt, dann — da bin ich mit meinem Kollegen von Stetten der selben Meinung — muß man für die Risikogruppe der Jungen über eine Senkung der Promillegrenze auf 0,3 nicht mehr nachdenken, sondern sie auch praktizieren.
Ernstzunehmende Untersuchungen gehen davon aus, daß regelmäßig 5 % aller Führerscheinbesitzer alkoholisiert Auto fahren. Das bedeutet 2 Millionen mal tägliches Risiko auf Autobahnen, Stadt- und Landstraßen bei uns. Problemtrinker gehören zu ihnen, Alkoholiker und alle, die meinen, es gebe ein Recht auf Rausch.Der Fahrer, der manchmal trinkt, bleibt vielfach unentdeckt. Der fahrende Trinker dagegen wird häufiger von der Polizei festgemacht. Das ist eine Unterscheidung, die nicht mehr zu sein braucht, denn seit dem 1. Juli 1992 besteht die gesetzliche Möglichkeit, Autofahrern auch nach dem Zufallsprinzip und nicht erst bei konkretem Verdacht auf den Zahn zu fühlen.Bei der Anhörung des Rechtsausschusses im vergangenen Jahr zur Atemalkoholprobe war die einhellige Auffassung aller Experten: Die neue Rechtsgrundlage wird von den Ländern zuwenig genutzt. Es fehlen eine ausreichende Kontrolldichte und -intensi-
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Wolfgang Börnsen
tät, und es fehlt eine ausreichende Kontrollbereitschaft. Die Dunkelziffer von alkoholisierten Autofahrern ist immer noch zu hoch. Forschung und Fachverbände haben in ihrer großen Mehrheit eindeutig gesagt: Die Atemalkohol-Analyse ist ein effizientes, zeitsparendes und gerichtsverwertbares Beweismittel.Ich frage die Justizministerin: Warum kann man bei uns nicht das verwirklichen, was in Frankreich seit fünf Jahren, in den Niederlanden seit sieben Jahren, in Großbritannien seit acht Jahren, in den USA seit 30 Jahren anerkannt, akzeptiert und praktiziert wird: die Atemalkohol-Analyse als Hauptbeweismittel?
Als Australien den Atemtest zusammen mit der Promillesenkung auf 0,5 einführte und stärker kontrollierte, war das Resultat überzeugend: Die Zahl der Alkoholunfälle konnte halbiert werden. Auch ich wünsche mir eine solche Signalwirkung für unser Land. Die Berliner Bundesratsinitiative der CDU-SPD-Koalition macht das möglich. Die Blutprobe als Akt der Körperverletzung würde weitgehend vermieden. Der Atemtest vor Ort ließe den Autofahrer sofort erkennen, ob er fehlgehandelt hat.Für mich — damit komme ich zum Schluß — ist der Schutz von Leib und Leben wichtiger als formale verfassungsrechtliche Bedenken. Immer mehr Bundesbürger haben kein Verständnis dafür, daß hier nicht eindeutig und rasch und zügig gehandelt wird. Die neue Generation der Testgeräte, die überall in Europa angewendet wird, würde auch bei uns ein solches Ergebnis erzielen. Ich hoffe, daß der Verkehrsminister sehr bald dazu kommt, diese neuen Geräte auch in ganz Deutschland einsetzen und prüfen zu lassen.Die tägliche Herausforderung, vor die wir uns gestellt wissen, verlangt Reformen, aber Reformen nicht im Schneckentempo.Danke schön.
Nun spricht unser Kollege Ernst Hinsken.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich verhehle nicht, daß gerade diese Rede meines Kollegen Wolfgang Börnsen sicherlich alle nachdenklich stimmt. Trotzdem bin ich anderer Meinung.Ich bin weder Winzer noch Gastwirt und dem Alkohol fast nicht zugetan. Deshalb fühle ich mich in gewisser Hinsicht unbefangen, zu diesem Thema zu reden, wobei ich nicht verkenne, daß leider ein Fünftel der Verkehrstoten in der Bundesrepublik Alkoholtote sind und deshalb bei der Bekämpfung und Vermeidung von Alkoholfahrten kein Bereich tabuisiert werden darf.Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich meine, daß eine Senkung von 0,8 Promille auf 0,5 Promille nicht das bringt, was man erwartet. EinVergleich mit dem Ausland zeigt das eindeutig. Was nützt es denn, wenn es z. B. eine 0,0-Promille-Grenze gibt wie in Ungarn und dann festgestellt werden muß, daß 14,3 % — ich wiederhole: 14,3 % — aller Verkehrsunfälle Alkoholunfälle sind? Was nützt es denn, wenn wie in Polen die Grenze bei 0,2 Promille liegt und dann der Unfallbericht ausweist, daß die tödlichen Verkehrsunfälle zu über 28 % Alkoholunfälle sind?Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, neun von zehn alkoholbedingten Unfällen in Deutschland sind auf einen Blutalkoholgehalt von über 0,8 Promille zurückzuführen. Jeder Alkoholtote ist ein Alkoholtoter zuviel. Wichtig ist auch, festzustellen, daß bei über 50 % der Alkoholunfälle ein Blutalkoholgehalt von über 1,5 Promille im Spiel ist.Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß z. B. Spanien und Großbritannien mit einer 0,8-PromilleGrenze die geringste Zahl alkoholbedingter Unfälle in der ganzen EG aufweisen, obwohl in einigen anderen Ländern die Promillegrenze schon auf 0,5 herabgesetzt worden ist.
— Ich bedanke mich, Herr Kollege Oswald. Es ist interessant, die Verhältnisse in Österreich mit denen in Deutschland zu vergleichen. Dort hatte man in der vergangenen Woche die gleiche Debatte. Man hat dort Kontrollen durchgeführt, die Ergebnisse über das ganze Jahr gesammelt und jetzt ausgewertet. Es hat sich herausgestellt, daß rund 55 % der Autoführer, die alkoholisiert erwischt wurden, einen Blutalkoholgehalt zwischen 1,5 und 2,5 Promille aufwiesen.Meine Damen und Herren, wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind doch eingebettet in die Europäische Gemeinschaft. Da es in Dänemark, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Österreich und der Schweiz, also in fast allen Anliegerstaaten, die 0,8-Promille-Genze gibt, kann ich mir nicht vorstellen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland diese kosmetische Korrektur auf 0,5 Promille vornehmen. Denn ich meine, daß eine Reduzierung auf 0,5 Promille den Straßenverkehr nicht sicherer machen wird.Vielmehr möchte ich mich gerade in dieser Debatte dafür aussprechen, uns dafür stark zu machen, daß schärfere Kontrollen durchgeführt werden, daß der Einsatz moderner Atemalkohol-Analysegeräte in Zukunft zugelassen wird und daß die Verkehrserziehung und -aufklärung besser gestaltet werden. Wir müssen uns selber am Riemen reißen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig und gut, wenn die Bundesregierung gerade der Jugendlichen wegen einen Vorschlag einbringt, daß in jeder Gaststätte mindestens ein alkoholfreies Getränk genauso billig angeboten werden muß wie ein alkoholisches. Dieser Vorschlag liegt in den Ausschüssen. Es ist an uns, dafür die gesetzliche Grundlage zu schaffen. Ich verkenne natürlich nicht, daß sich weit über 90 % der deutschen Gastronomen sowieso daran halten. Aber für die übrigen, die nicht dazu bereit sind, diesen dringend erforderlichen Wünschen nachzu-
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Ernst Hinskenkommen, muß eine solche gesetzliche Regelung geschaffen werden.Lassen Sie mich abschließend feststellen: Jeder Autofahrer muß sich darüber im klaren sein — ich zitiere hier meinen Kollegen Michael Jung — daß er schon mit 0,3 Promille Blutalkoholgehalt verurteilt werden kann, wenn er einen Unfall verursacht. Deshalb gibt es indirekt schon die 0,3-Promille-Grenze.Wenn wir hier Aufklärungsarbeit unmittelbar vor Ort leisten und dem Bürger sagen, daß wir bereit sind, ihm eine gewisse Freiheit einzuräumen, er diese aber nicht bis zum Gehtnichtmehr auskosten darf, sondern gezwungen ist, sich daran zu halten, dann werden, meine ich, die Verkehrsunfälle, die durch Alkoholgenuß entstehen, zurückgedrängt.Gott sei Dank haben wir eine positive Tendenz. Ich hoffe und wünsche, daß diese Tendenz anhält.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 und den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Meckel, Angelika Barbe, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Arbeitsmöglichkeiten der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"
— Drucksache 12/6933 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Koschyk, Dr. Roswitha Wisniewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dirk Hansen, Dr. Jürgen Schmieder, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Unterstützung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"
— Drucksache 12/7225 —
Ûberweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Gert Weisskirchen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DieArbeit der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" kann sich — das darf man vielleicht schon jetzt sagen — sehen lassen. Ich sage das nicht deswegen, weil diejenigen, die anschließend sprechen werden, in dieser Enquete-Kommission arbeiten, sondern weil sich die Kommission in dieser Legislaturperiode, die jetzt zu Ende geht, diese Arbeit vorgenommen hat, bei der freilich — das darf man sagen — leider mancher in der Kommission ab und an nicht der Versuchung hat widerstehen können, Teile der Quellen, die die Enquete-Kommission zu bearbeiten hat, in Wahlkampfmunition umzuschmieden.Es war auch mancher versucht, wissenschaftliche Strenge hinter politischer Instrumentalisierung zurücktreten zu lassen. Das gilt nicht nur für Politiker. Sachverständige Mitglieder der Kommission — das war für mich eine ganz neue Erfahrung, auch wenn ich schon mit der Kollegin Wilms fünf Legislaturperioden hier bin und auch in einer zweiten Enquete-Kommission arbeite — haben dieser Verlockung leichter nachgegeben als mancher Abgeordnete.Neben mancher Kontroverse also — es werden noch viele hinzukommen — darf man doch sagen, daß wir auch Übereinstimmung haben erarbeiten können. Von einer solchen Übereinstimmung ist hier die Rede.Es liegen zwei Anträge, einer von der Regierungskoalition, der andere von der SPD, vor. Beide Anträge zielen darauf ab, daß die Enquete-Kommission die einschlägigen Akten einsehen kann, die auf westdeutscher Seite in der alten Bundesrepublik angelegt waren.Die beiden Anträge wollen im Kern das gleiche, wenn auch unterschiedlich im Ton. Es gehört nun einmal dazu, daß der eine Antrag gegenüber der Regierung fordernd, der andere maßvoll und zurückhaltend formuliert ist; das letzte ist unglücklicherweise beim Antrag der Mehrheit der Fall. Die Absicht dieser beiden Anträge gründet auf dem gleichen Argument. Dieses Argument allerdings ist durchschlagend: Es geht um die Debatte darüber, was die DDR hinterlassen hat, was sie so lange hat leben lassen, wer ihre Existenz gesichert hat. Es stellen sich gar die Fragen: Was hat der Westen dazu beigetragen? Und warum? In welcher Kontextur — so sagen manche Sachverständige klug — ? Dies alles muß sorgfältig geklärt werden. Dies muß alles sorgfältig geklärt werden.Ich bin überzeugt davon, daß — ich glaube, das kann ich für alle Mitglieder der Enquete-Kommission sagen — unsere Fähigkeit zur historisch-kritischen Bewertung ausgeprägt genug ist, auch unsere Bereitschaft zur kritischen Selbstprüfung, daß wir mit der ungeheuren Masse geschichtlichen Materials verantwortungsbewußt umgehen können. Uns geht es nicht nur darum — und darf es auch gar nicht gehen —, Geschichtsurteile zu fällen; uns geht es in erster Linie darum, Kriterien zu erarbeiten, die sich an Grundwerten orientieren, an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder — Frau Präsidentin, wenn man das sagen darf — Geschwisterlichkeit. Es sind Kriterien, die mithelfen werden, die SED-Diktatur zu bewerten mit dem Ziel,
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Gert Weisskirchen
Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, soweit wir es nur vermögen.Unsere Aufgabe ist dabei mindestens eine doppelte: erstens politisch dafür zu sorgen, daß alles getan wird, um die Bedingungen für die Erforschung der SED-Diktatur so zu verbessern, daß Historiker wohlabgewogene Bewertungen erarbeiten können, und zweitens die Auseinandersetzung mit jeglicher Form einer Diktatur — sei sie vergangen, sei sie gegenwärtig noch existent oder gar im Entstehen begriffen -- so zu führen, daß die Widerstandskräfte gegen die Diktatur gestärkt werden. Das ist unsere politische Aufgabe.Damit wir aber in der Lage sind, wirklich alle wesentlichen Momente zu berücksichtigen, die, wenn auch in manchen Fällen ungewollt, zur Stabilisierung der SED-Diktatur möglicherweise haben beitragen können, braucht die Enquete-Kommission den unverstellten Zugang zu allen Akten, auch zu denen, die der Forschung noch im Rahmen der Schutzfrist von 30 Jahren verschlossen bleiben würden. Es kann nicht sein, daß nur die Akten, die in der ehemaligen DDR schon jetzt unter bestimmten Bedingungen öffentlich zugänglich sind, zur Bewertung und zur Beurteilung herangezogen werden. Wir wollen der Schieflage entkommen, von den Akten der untergegangenen SED-Diktatur wesentlich abhängig zu sein.Daß sie parteilich sind, liegt auf der Hand. Aus dem Grunde sind sie ja auch, so wie sie geschrieben worden sind, geschrieben worden. Wir blieben, wenn wir in dieser Schieflage bleiben würden, Gefangene einer Absicht, die in ihrer Praxis von der Lüge durchdrungen war. So könnte das Gift der Diktatur über ihre formale Existenz hinaus so lange weiterwirken, bis die Demokratie ihre Akten — dann, nach einer langen Frist — erst öffnen würde. Wollen wir 30 Jahre lang z. B. von den Zwecken der Staatssicherheit abhängig bleiben? Welch später Triumph der SED-Diktatur wäre dies!Es ist nicht nur legitimes Interesse von Wissenschaft und Publizistik, durch einen Vergleich der Lage aller Akten der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Auch die handelnden Personen, denke ich, müssen ein Interesse daran haben, daß ihre Entscheidungen frei von böswilliger Spekulation, möglichst objektiv bewertet werden.Gewiß, jeder steht — wie im übrigen auch jede Partei, daran besteht kein Zweifel — vor dem Dilemma, daß bei einer generellen Öffnung aller Akten Mißbrauch nicht ausgeschlossen werden kann, und doch wird eine wirklich differenzierte und wissenschaftlich ernsthafte Bearbeitung der deutschen Geschichte nach 1945 nur dann möglich sein, wenn parallel zu den zugänglichen Akten im Osten z. B. die Akten des Bundeskanzleramts, des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen sowie aller bundesrepublikanischen Parteien für die wissenschaftliche Arbeit zugänglich gemacht werden. Aller bundesrepublikanischen Parteien — ohne Unterschied; damit kein Zweifel aufkommt! Ein jeder kann dazu beitragen, daß er seine eigenen Akten der wissenschaftlichen Forschung öffnet.Das gilt auch für jede Partei. Das Präsidium meiner Partei, der SPD, hat dies in seiner Sitzung am 8. März 1993 beschlossen und hinzugefügt, die SPD werdesich an einer Gesamtlösung beteiligen, soweit sich alle bundesrepublikanischen Parteien dazu bereit erklären. Ich hoffe, dies geschieht bald.Niemand kann seiner Geschichte davonlaufen. Besser ist es, wir stellen uns ihr, auch dem, was wir selbst falsch wahrgenommen haben, auch unseren eigenen Fehlern. Dem auszuweichen könnte nur einer Vergangenheit die Existenz verlängern, die nicht zu den glücklichen Zeiten unserer Geschichte zählt.Die jüdische Philosophie hat dazu eine Erkenntnis gewonnen, die sich uns auch hier neu offenbart. Sie heißt: Vergessen verlängert das Exil; das Geheimnis der Erlösung aber heißt Erinnerung.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächster hat nunmehr der Kollege Hartmut Koschyk das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Weisskirchen, ich hätte Ihnen wenigstens gewünscht, daß Sie für den Antrag der SPD-Fraktion Beifall aus Ihrer Fraktion bekommen hätten. Aber wir haben das höflichkeitshalber mitübernommen. Das zeigt ja auch die große Gemeinsamkeit, mit der in dieser Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland unter dem Vorsitz des Kollegen Rainer Eppelmann mit vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen gearbeitet wird.Ich finde es gut, Herr Weisskirchen, daß Sie auch die Arbeit der Sachverständigen erwähnt haben, die den Kolleginnen und Kollegen bei ihrer schwierigen Aufgabe in der Enquete-Kommission Hilfe und Unterstützung angedeihen lassen.Wir waren uns bei der Einsetzung dieser Enquete-Kommission einig — das sollte auch heute deutlich werden —, daß es ihre Aufgabe nicht sein kann, die jetzt erforderliche breite und intensive historische Forschungsarbeit zu leisten. Wir waren uns einig, daß es Aufgabe der Enquete-Kommission sein soll, Beiträge zu einer politisch-historischen Analyse und zu einer politisch-moralischen Bewertung der deutschen Teilungsgeschichte zu erarbeiten, begangenes und erlittenes Unrecht offenzulegen, dafür die Verantwortlichkeiten zu benennen und vor allem uns allen Hilfe bei der Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit anzubieten.Dabei erscheint es mir besonders wichtig, daß diese Enquete-Kommission versucht, einen Beitrag zur inneren Wiedervereinigung unseres Volkes zu leisten, indem sie durch ihre öffentlichen Anhörungen auch den Betroffenen ein Forum bietet, über ihre Erfahrungen im Umgang mit dem SED-Staat vielfach erstmals einer breiten Öffentlichkeit zu berichten.Ich meine, daß es gerade das Ineinandergreifen von wissenschaftlichen Expertisen, Berichten und Vorträgen einerseits, aber dann auch von Erlebnisberichten
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Hartmut Koschykund Zeugnissen von Betroffenen, Opfern der SED-Diktatur, ist, was das Besondere an der Arbeit der Enquete-Kommission ausmacht.Ich glaube, wenn wir jetzt Schwierigkeiten bei der Erstellung des Abschlußberichts haben, so liegen sie nicht so sehr, Herr Kollege Weisskirchen, in einer ungenügenden Quellenbasis, sondern darin, daß die Arbeit der Enquete-Kommission eben keine akademisch-wissenschaftliche, sondern eine politische Arbeit ist.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit des SED-Staates und der deutschen Teilung schließt natürlich eine notwendige politische unterschiedliche Bewertung ein. Es hat doch keinen Sinn, daß wir aus der Arbeit dieser Enquete-Kommission, die die deutsche Teilungsgeschichte aufarbeitet, die großen deutschlandpolitischen Kontroversthemen der 80er Jahre ausklammern. Ich erinnere nur an Honeckers Geraer Forderungen und die Art und Weise, wie sie hier in der bundesdeutschen Öffentlichkeit in Politik und Gesellschaft ihre Entsprechung und Zustimmung gefunden haben.Das gilt natürlich auch für bestimmte Dinge aus dieser Vergangenheit, wenn ich nur an die Frage des SPD-SED-Ideologiepapiers denke. Dies alles können wir natürlich bei der Aufarbeitung und auch bei unserem Abschlußbericht nicht auslassen, sondern wir müssen es aufgreifen.
Wenn ich jetzt zu unserem Entschließungsantrag kommen darf, dann ist es, glaube ich, wichtig, daß man einmal die positive Unterstützung der Bundesregierung und der ihr nachgeordneten Institutionen für die Arbeit der Enquete-Kommission hervorhebt und nicht so tut, als müßten wir uns über mangelnde Unterstützung der Bundesregierung, des Bundesarchivs, der Gauck-Behörde und anderer Einrichtungen für die Enquete-Kommission beklagen; nein, wir haben dafür zu danken, und es war oftmals gerade auch das unbürokratische Vorgehen des Bundesarchivs oder der Gauck-Behörde, durch das viele Expertisen, die wir in Auftrag gegeben haben, schneller fertiggestellt wurden, als wenn man hier auf Fristen und Rangordnung und sonstiges geachtet hätte.
Es ist natürlich auch wichtig — und deshalb sagen wir es auch in unserem Antrag —, daß jetzt für die Fortsetzung der Arbeit eine Aufforderung an die Bundesregierung enthalten ist, diese Unterstützung auch weiterhin der Enquete-Kommission gerade in der Schlußphase zuteil werden zu lassen. Das schließt die Frage der Benutzung von Akten der Bundesregierung ein.Aber ich meine doch, Herr Kollege Weisskirchen, daß bei Ihrem Antrag einige Dinge unklar sind. Hier haben wir Fragen.Zum einen sehen wir nicht, daß die Auftragserfüllung der Enquete-Kommission in irgendeiner Weise behindert wird. Erhebliche Probleme bei der Arbeit der Kommission und der Expertisenautoren auf Grund des Quellenzugangs sind meines Erachtens bis jetztnicht aufgetreten. Ich kenne keinen Autor einer Expertise, der sich an uns oder die Enquete-Kommission gewandt und gesagt hat: Obwohl ich hier einen Auftrag von euch habe, konnte ich den nicht erfüllen, weil ich keinen Quellenzugang habe.Was die bisher erreichte Arbeit und den Kenntnisstand ergibt, wie ich ihn bereits skizziert habe — die vielen Expertisen, die Protokolle, die Anhörungen —, so meine ich, haben wir eine gute Basis für den abschließenden Bericht der Enquete-Kommission.Ich sehe auch einige Unstimmigkeiten im Hinblick auf die geltende Rechtslage, die in Ihrem Antrag auftaucht. Zeitzeugen konnten vor der Enquete-Kommission jederzeit ungehindert aussagen, wenn sie dies wollten. Wenn diese Zeitzeugen ehemalige Beamte oder Minister gewesen sind, dann unterliegen sie dem Beamten- und dem Ministergesetz. Darin ist ihre Verschwiegenheitspflicht bezüglich dienstlicher Angelegenheiten festgelegt und sind dementsprechend die Notwendigkeiten der Aussageerlaubnis, über deren Erteilung die Bundesregierung nach Pflichtermessen zu entscheiden hatte, geregelt. Ich möchte von Ihnen wissen: Wollen Sie an dieser Rechtslage des Beamten- und des Ministergesetzes etwas geändert haben im Hinblick auf Aussagen von Regierungsmitgliedern oder ehemaligen Regierungsmitgliedern vor der Enquete-Kommission?
Im Antrag jedenfalls steht es nicht drin.Sie plädieren in der Begründung Ihres Antrages auch nachdrücklich für die Aufhebung, wie Sie es nennen, der unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs zu ost- und westdeutschen Akten. Hierüber, Herr Kollege Weisskirchen, sagt das Bundesarchivgesetz das Wesentliche aus. Bei den gesetzlichen Bestimmungen über den Zugang zu archivierten Akten für wissenschaftliche Zwecke sind alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt worden: die Erfordernisse des Persönlichkeitsschutzes, die Gesichtspunkte von staatlichen Sicherheitsinteressen, der Effizienz von Verwaltung, aber auch die Bedürfnisse wissenschaftlicher Forschung. Die sorgfältige Abwägung aller Gesichtspunkte hat — das wissen Sie doch, Herr Kollege Weisskirchen — auch in Anlehnung an internationale Gepflogenheiten zu dieser 30jährigen Schutzfrist geführt, die unter bestimmten Gegebenheiten verkürzt werden kann. Auch hier erkenne ich aus Ihrem Antrag nicht, ob Sie eine grundsätzliche Änderung dieser Rechtslage, d. h. der 30jährigen Schutzfrist für Archivgut, wollen. Ich kann das Ihrem Antrag nicht entnehmen. Wenn Sie das wollen, müßten Sie es uns hier noch einmal zur Erläuterung sagen.Andererseits ist es sicher unbestreitbar, daß eine umfassende wissenschaftliche Erforschung der Deutschlandpolitik, der innerdeutschen Beziehungen und schließlich auch der Wiedervereinigung Deutschlands eine über die SED-Akten hinausgehende breitere Quellenbasis erfordert. Dies schließt allerdings dann nicht nur die Akten der Bundesregierung ein, sondern auch die Akten der bis 1990 für Deutschland als Ganzes Verantwortung tragenden Vier Mächte
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Hartmut Koschykund darüber hinaus von deren jeweiligen Bündnispartnern. Ich sage dies nur, damit wir uns auch über die Dimension im klaren sind: Wenn wir jetzt fordern, daß die Enquete-Kommission nur dann einen Abschlußbericht erstellen könnte, wenn ihr alle sogenannten Westakten zur Verfügung stehen, dann würden nicht die Akten der Bundesregierungen bis heute genügen, sondern es müßten auch, um ein abschließendes Bild — aber das können und wollen wir nicht leisten, weil wir keine Forschung leisten können — zu gewinnen, die Akten der Westmächte und überhaupt der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die für Deutschland als Ganzes bis zum 3. Oktober 1990 Verantwortung getragen haben, eingesehen werden.Worum es jetzt und heute nur gehen kann, ist die weitere Ermöglichung einer für die Arbeit der Enquete-Kommission in ihrer Schlußphase notwendigen Quellenbasis. In diesem Sinne haben wir unseren Entschließungsantrag formuliert, daß die Bundesregierung aufgefordert wird, die Arbeit der Enquete-Kommission weiterhin positiv zu begleiten, dabei zu unterstützen und in konkreten Fällen wohlwollend und im Sinne der Aufgabe der Enquete-Kommission zu prüfen, wieweit Akten, die der Schutzfrist unterliegen, der Arbeit der Kommission zugänglich gemacht werden können.Aber ich sage noch einmal: Ich habe in der bisherigen Arbeit von niemandem aus Ihrer Fraktion, Herr Kollege Weisskirchen, einmal einen solchen Einzelfall gehört, wo das, was wir mit Ihnen gemeinsam fordern, jetzt notwendig wäre. Deshalb bitte ich Sie: Wir sollten hier keine Schauanträge einbringen, die eigentlich an der sachlichen Notwendigkeit vorbeigehen, zu einem Schlußbericht zu kommen, den wir am 17. Juni im Deutschen Bundestag diskutieren wollen. Wir sollten uns jetzt auf die Arbeit konzentrieren. Wir haben als Enquete-Kommission sehr viel zu tun, damit der Deutsche Bundestag am 17. Juni unseren Abschlußbericht zur Kenntnis nehmen kann.
Nun hat der Kollege Dirk Hansen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man fragt sich eigentlich, warum der Antrag überhaupt zur Debatte steht. Herr Koschyk hat zu Recht darauf verwiesen, daß er von den Inhalten her eigentlich nichts Strittiges enthält. Und da, wo man etwas Zusätzliches, etwas qualitativ Neues beantragen könnte, steht es im Antrag der SPD-Fraktion nicht drin.Ganz offensichtlich wollen Sie über die vorhandenen gesetzlichen Regelungen gar nicht hinausgehen. Ich habe Ihre Einlassung, Herr Weisskirchen, auch so verstanden, daß Sie durchaus mit dem konform gehen, was wir in unserem Alternativ-Entschließungsantrag formuliert haben. Ich bin Ihnen deswegen auch sehr dankbar, daß Sie die Gemeinsamkeit des Anliegens deutlich herausgestrichen haben.Eine zweite kurze Überlegung, warum dieser Antrag von Ihnen überhaupt gestellt worden ist und warum ich daran so große Zweifel habe, betrifft denZeitpunkt. Wenn wir bis zum 17. Juni dieses Jahres unseren Bericht erstellen und hier debattieren wollen, dann zeigt das ja, daß wir in der unmittelbaren Schlußphase unserer Arbeit als Enquete-Kommission sind und daher das Anliegen, nun gewissermaßen im Westen Archivmaterial, Quellen verstärkt zu Rate zu ziehen, gar nicht mehr erfüllbar ist. Der Zeitpunkt ist, so gesehen, reichlich spät.Ich ahne natürlich, warum der Antrag gekommen ist: Es hat bei bestimmten Anhörungen durchaus die eine oder andere Frage gegeben, auf welche Weise Zeitzeugen Aussagegenehmigungen bekommen haben. Aber im Grunde genommen erfüllt sich das Anliegen, das wir haben, doch eigentlich dadurch, daß wir — wie soll ich sagen — appellieren oder fordern — ich bin ganz einverstanden, daß man es nicht so devot formulieren muß —, daß wir die Bundesregierung, die verschiedenen Ministerien und nachgeordneten Institutionen ausdrücklich auffordern, ein bißchen weniger bürokratisch oder, positiv ausgedrückt, flexibler mit den Dingen umzugehen.Es gibt ja offensichtlich in den Ämtern, etwa im Bundesarchiv, Akten, die mit dem Stempel „Vertraulich" oder mit dem Stempel „Geheim" versehen sind, die aber inzwischen längst in Publikationen oder gar Zeitungen zugänglich sind. Hier wäre es eine Aufgabe für den Apparat, gewissermaßen den Vorgang der Entsperrung dieser Stempel vorzunehmen und auf diese Weise Zugang zu den Akten zu ermöglichen.Der Außenminister, mit dem wir darüber gesprochen haben, hat ausdrücklich die Auffassung vertreten, daß es möglich sein muß, aus der bisherigen Asymmetrie von Ostakten und Westakten unter Beachtung der Gesetze herauszukommen. Herr Koschyk hat zu Recht das Ministergesetz und das Beamtengesetz angesprochen. Die sollen nach Ihrer Ansicht auch gar nicht verändert werden, nach unserer Ansicht genausowenig.Also ist es doch möglich, innerhalb der gesetzlichen Vorschriften — denn die Gesetze geben es her, auch was die 30 Jahre Schutzfrist angeht —, durchaus ausgewiesenen Personen — im Zweifelsfall sind das ja Wissenschaftler, eben deswegen ausgewiesen — Zugang zu Akten zu gestatten, die jünger als 30 Jahre sind. Das muß möglich sein, und es ist ja auch möglich.Ich denke nur an einen in Bonn lehrenden Großwissenschaftler, der ständig publiziert, der auch Zugang zu Akten gehabt hat, die jünger als 30 Jahre sind. Und das ist ja auch in Ordnung so.Herr Weisskirchen, ich bin sehr einig mit Ihnen darin, was Sie unterstrichen haben, daß es keineswegs nur um Staats- und Regierungsakten geht, sondern ausdrücklich auch um Parteiakten.Ich fordere Sie auf, doch noch ein bißchen Werbung in Ihrer eigenen Fraktion dafür zu betreiben, daß auch in Ihrer Fraktion geschlossen momentan nicht etwa — aus bekannten Gründen; wir befinden uns im sogenannten Superwahljahr — die Schließung von Akten geradezu empfohlen wird, wie es der stellver-
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Dirk Hansentretende Parteivorsitzende auf Ihrer Seite gemacht hat.
Dies sind nun wirklich kontraproduktive Äußerungen, nicht nur in der Sache, sondern, ich vermute, auch innerparteilich; aber das ist dann weniger mein Bier.Ich bin einverstanden und auch sehr froh, daß Herr Thierse Ihren Antrag mit unterschrieben und insofern einen Sinneswandel dokumentiert hat. Offensichtlich hat die Überzeugungsarbeit auf Ihrer Seite gefruchtet. Aber in der Öffentlichkeit ist das noch immer ein Teil der Debatte.Wir sind froh, daß wir in die gleiche Richtung marschieren wollen, auch unabhängig davon, daß der Zeitpunkt überschritten ist. Wir befinden uns in der Endphase. Ich bin trotz einigen Nachdenkens noch immer guter Hoffnung, daß wir den bisherigen Gesamtkonsens — von Einzelfragen abgesehen — in der Enquete-Kommission aufrechterhalten können.Vielen Dank.
Nun hat der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller das Wort.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner haben davon gesprochen, daß die Enquete-Kommission vor allem einen historisch-politischen Auftrag hatte. Wir sind uns in der Enquete-Kommission auch der Kompliziertheit bewußt geworden, daß ein Urteil über die politische Geschichte, die Ursachen und die Folgen der SED-Diktatur, ohne ausreichende wissenschaftliche Aufarbeitung mitunter an Grenzen stößt.
Die Konflikte, die Politiker und Sachverständige gehabt haben, hängen natürlich damit zusammen, daß der Zeitraum für die wissenschaftliche Aufarbeitung sehr, sehr kurz gewesen ist und all das, was an wissenschaftlicher Arbeit vorliegt — bei allem Bemühen und aller Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit eines objektiven Bemühens — immer nur Teilwahrheiten darstellen kann.
Insofern bedauere ich, daß die beiden Anträge am Ende der Arbeit der Enquete-Kommission kommen; denn westdeutsche Zeitzeugen werden nicht mehr auftreten. Die Arbeiten an den Expertisen sind abgeschlossen. Die Arbeit wird jetzt am Bericht gemacht. Es wäre sinnvoll gewesen, wenn wir uns über die Frage der Öffnung auch bundesrepublikanischer Archive und der Erweiterung der Erforschung bisher unbekannter Quellen in den alten Ländern zu Beginn unserer Arbeit gewidmet und versucht hätten, darauf Antworten zu finden.
Damit es keine Mißverständnisse gibt: Ich bin dafür, daß die Archive der DDR geöffnet worden sind. Ich bin auch als Historiker dafür, weil es ein phantastisches Erlebnis ist, wenn man im Archiv arbeitet und Originalquellen findet und wenn man sich auch dessen bewußt ist, daß es dabei nicht nur Edelpilze gibt, sondern auch manchen Giftpilz, der, wenn man ihn
nicht aussortiert, die ganze Mischung verderben kann.
Als politisch denkender Mensch weiß ich auch um die Gefährlichkeit der Öffnung von Archiven. Denn wenn es keine saubere Garantie für den Umgang mit Quellen gibt und dafür, daß dieser auch eine gewisse Sicherheit beinhaltet, hat das Konsequenzen für das Anlegen künftiger Archive. Ich weiß als gelernter DDR-Bürger, was wir in die Archive gegeben haben und was nicht.
Ich weiß, daß man es mißbrauchen konnte. Vor diesem Problem will ich einfach warnen.
Ich denke mir, daß es, da wir heute keine Lösung zu den beiden Anträgen finden werden, vielleicht möglich wäre, in den Abschlußempfehlungen der Enquete-Kommission zu sagen: Auf welchen wissenschaftlich-theoretischen Gebieten ist es dringend erforderlich, zu überlegen, wie die Quellenlage für Wissenschaftler, die auf diesem Gebiet ernsthaft arbeiten, verbessert werden könnte?
Danke.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, vom Kollegen Poppe ist der Wunsch geäußert worden, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen. *) Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann können wir so verfahren.Weitere Wortmeldungen liegen mir nun nicht mehr vor. Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6933 und 12/7225 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 10 auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 1631 BGB
— Drucksache 12/6343 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendb) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur gewaltfreien Erziehung von Kindern (Züchtigungsverbotsgesetz)— Drucksache 12/5359 — *) Anlage 4
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 19021
Vizepräsidentin Renate SchmidtÜberweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wilhelm Schmidt , Hanna Wolf, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (Züchtigungsverbot)— Drucksache 12/6783 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und JugendNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Minuten erhalten soll. Besteht damit Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann ist dies so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Frau Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Der Regierungsentwurf des Mißhandlungsverbotsgesetzes, den wir heute in erster Lesung debattieren, hat schon im Vorfeld der Parlamentsberatungen manche Diskussionen — in den Medien ebenso wie bei vielen Eltern — ausgelöst. Dies ist nicht verwunderlich, berührt der Entwurf doch das so wichtige und heute leider allgegenwärtige Thema der gegen Kinder gerichteten Gewalt.Will man dieser Gewalt, die sich häufig in der Familie abspielt, in unserer Gesellschaft besser Herr werden, so bedarf es eines tiefgreifenden Bewußtseinswandels. Dabei muß mit allen zur Verfügung stehenden — auch gesetzgeberischen — Mitteln darauf hingewirkt werden, daß die Rechte von Kindern mehr zählen und nicht länger von eben zum Teil nachlässigen, egoistischen oder gar skrupellosen Erwachsenen mit Füßen getreten werden.Als Beispiel für die zahlreichen Aktivitäten der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder sei an dieser Stelle nur das am 1. September letzten Jahres in Kraft getretene Gesetz gegen Kinderpornographie und Kindersextourismus erwähnt.Im Gegensatz zu diesem Gesetz bedient sich das Mißhandlungsverbotsgesetz, um das es heute geht, nicht der Mittel des Strafrechts. Vielmehr will es als eine zivilrechtliche Vorschrift zu einer Präzisierung des elterlichen Erziehungsrechts beitragen. Es geht darum, das notwendige Bewußtsein dafür zu schärfen, welche Erziehungsmethoden gesetzlich erlaubt und welche unzulässig sind.Die bisherige Formulierung in § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches lautet:Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig.Nach dem Regierungsentwurf sollen jetzt körperliche und seelische Mißhandlungen sowie andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen unzulässig sein. Dabei greift der Entwurf mit den Worten „körperliche und seelische Mißhandlungen" auf Begriffe zurück, die in unserer Rechtsordnung bereits feststehende Konturen haben.Es ist klar: Der so oft genannte bloße Klaps bleibt weiterhin zulässig. Verboten sind körperliche und ausdrücklich auch seelische Mißhandlungen. Die Vorschrift sagt damit klarer als heute nach der geltenden Rechtslage, was erlaubt ist, ohne — wie mitunter zu Unrecht befürchtet wird — die Strafbarkeit auszudehnen.An diesem Konzept des Regierungsentwurfs, der insgesamt viel Zustimmung erfahren hat, wurde kritisiert, er gehe nicht weit genug; nötig sei vielmehr ein völliges Gewaltverbot in der Erziehung. Diese Forderung liegt ja den anderen hier vorliegenden Gesetzentwürfen zugrunde.Gewaltverbot in der Erziehung: Für viele, die das Ziel einer gewaltfreien Erziehung vor Augen haben — ich glaube, das verfolgen wir letztendlich ja alle mit unseren Bemühungen im Zusammenhang der hier anstehenden Beratungen —, klingt das als Forderung für die Gesetzesformulierung vielleicht überzeugend. Würde der Gesetzgeber allerdings ein solches absolutes und ausdrückliches Gewaltverbot beschließen, wäre dies in meinen Augen auch ein bedenklicher Eingriff in die Rechte von Eltern. Wir dürfen nämlich nicht außer acht lassen, daß der Gewaltbegriff nach der Rechtsprechung unserer Gerichte außerordentlich weit ausgedehnt worden ist. Er umfaßt auch viele Handlungen, die man landläufig und nach unserem Sprachgebrauch nicht als Gewaltausübung ansehen würde. So dürfte etwa eine Mutter ihr Kind, das gerade die Wohnung verlassen will, nicht am Arm festhalten, damit es zuerst seine Hausaufgaben erledigt.Aus gutem Grund hat deshalb die Forderung nach einem absoluten Gewaltverbot, die zu Recht zu Unmut bei vielen Eltern geführt hat, im Bundesrat keine Mehrheit gefunden. Auch ich bin entschieden der Auffassung, daß Schläge kein geeignetes Erziehungsmittel sind. Kinder sind Träger von Grundrechten, die von den Eltern zu achten und zu respektieren sind. Durch ein gesetzlich festgelegtes absolutes Gewaltverbot aber wäre den Familien nicht geholfen. Das verfassungsmäßig garantierte Elternrecht umfaßt grundsätzlich auch die Auswahl von Erziehungszielen und Erziehungsmitteln. Der Staat darf deshalb nur das verbieten, was sich nicht mehr im Rahmen des auch rechtlich Vertretbaren hält.Anstelle von Überreaktionen beim Verbot von Erziehungsmitteln kommt es vor allem darauf an, Eltern in ihrer mitunter schwierigen Erziehungsaufgabe noch viel mehr zu unterstützen, als dies schon bisher geschieht. Ich denke hier etwa an die Verbesserung und den Ausbau von Beratungs- und Hilfsangeboten des Jugendamtes, in denen Alternativen zur Gewaltanwendung vermittelt werden. Wichtig und von der Bundesregierung geplant sind auch gezielte Aktionen zur besseren Information von Eltern und Erziehern über zulässige und unzulässige Maßnahmen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen.
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerDas Mißhandlungsverbotsgesetz ist Teil einer großangelegten Reform des Kindschaftsrechts. Dieses umfaßt so wichtige Themen wie die Beseitigung nicht mehr zeitgemäßer Unterschiede im Recht ehelicher und nichtehelicher Kinder, die gemeinsame Sorge für Kinder unverheirateter oder geschiedener Eltern sowie ein besseres Umgangs-, Abstammungs- und Verfahrensrecht.Die Vorbereitung dieser Reform wird — darauf habe ich immer wieder hingewiesen — in meinem Haus mit großem Nachdruck betrieben. In Kürze wird die eigens dafür eingerichtete interdisziplinäre Expertenarbeitsgruppe ihre Tätigkeit abschließen können. Bis zum Ende dieser Legislaturperiode sollen dann Formulierungen für einen umfassenden Gesetzestext erarbeitet werden, so daß einer Verabschiedung in der nächsten Legislaturperiode nichts im Wege steht.
Ebenso wie der Entwurf des Mißhandlungsverbotsgesetzes ist auch der Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der gesetzlichen Amtspflegschaft und der Neuordnung des Rechts zur Unterstützung der alleinerziehenden Mutter, also der Beistandsschaft, vorgezogener Teil der Reform. Dieses Gesetz ist ja heute schon an die Ausschüsse überwiesen worden.Der Entwurf schlägt vor, die gesetzliche Amtspflegschaft, die derzeit in den alten Ländern — anders als in den neuen Ländern — bei der Geburt eines nichtehelichen Kindes automatisch eintritt, abzuschaffen und durch eine freiwillige Hilfe, also Beistandsschaft des Jugendamtes, zu ersetzen. Nicht nur, weil es um die) Beseitigung einer der letzten Rechtsungleichheiten im vereinigten Deutschland geht, sondern vor allem im Interesse der betroffenen Kinder und Eltern hoffe ich, daß auch dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann.Ich wünsche mir deshalb für die anstehenden Beratungen, daß eines für alle erkennbar zum Ausdruck kommt: daß unser Land — im Gegensatz zu manchen Behauptungen und Befürchtungen — kein kinderfeindliches Land ist.Vielen Dank.
Als nächster hat Kollege Wilhelm Schmidt das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mitglied der Kinderkommission — und in dieser Frage federführend — möchte ich zunächst auf die Einigkeit, die in diesem Unterausschuß des Hauses besteht, über die Notwendigkeit hinweisen, in diesem Rechtsgebiet nun endlich etwas zum Positiven zu verändern, also im Interesse und im Sinne der Kinder.Wenn wir in dieser Zeit in der vermeintlich zivilisierten deutschen Gesellschaft feststellen, daß hunderttausendfach Gewalt gegen Kinder ausgeübt wird, die in mehr als hundert Fällen jährlich sogar mit demTode endet, dann ist es mehr als Zeit, daß wir uns mehr als bisher dem Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft zuwenden. Es gibt neben der körperlichen Gewalt, wie wir alle mittlerweile wissen — Sie haben es mit Recht angedeutet, Frau Ministerin —, auch das genauso belastende Phänomen der seelischen Gewalt und der Grausamkeiten, die damit verbunden sind.Dies alles hat offensichtlich auch historische Hintergründe, auf die man aufmerksam machen sollte. Gewalt trägt sich in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern der Welt von Generation zu Generation weiter. Immer wieder stellen wir fest, daß die Kinder als niedere Objekte der Gesellschaft behandelt werden, und dies nicht nur in der tagtäglichen Praxis durch Erwachsene, sondern oftmals auch durch das Rechtssystem. Genau dies gilt es aufzuarbeiten. Dazu bietet uns der heutige Tag in einem ersten Einstieg mit den drei Gesetzentwürfen einen guten Anlaß.Wir haben dazu allerdings auch schon einige weitere Anlässe gehabt, die das Haus durch Mehrheitsentscheidungen bedauerlicherweise nicht genutzt hat. Einer war, die UNO-Konvention über die Rechte des Kindes nicht nur zu ratifizieren, sondern diese Konvention ernst zu nehmen und sie zum Anlaß zu nehmen, das deutsche Rechtssystem so zügig wie möglich an die internationalen Standards zum Schutze der Kinder anzugleichen. Dies ist bis heute nicht geschehen. Es steht sogar der anstehende Bericht über diese Aufgabe noch aus. Es ist schon sehr verwunderlich, wie zögerlich die Bundesregierung in dieser Hinsicht verfährt.Wir hatten auch im Zusammenhang mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz Ende der 80er Jahre die Möglichkeit, die Rechtsposition der Kinder in Deutschland entscheidend zu verbessern. Auch dies ist aus mehr oder weniger deutlichen ideologischen Gründen der Regierungsmehrheit nicht wahrgenommen worden.Ich will hinzufügen, daß wir — auch wenn es in diesem Zusammenhang vielleicht etwas profan erscheint — eine Chance verpaßt haben, als das Haus vor knapp einem Jahr die Berichterstattung über die Lage der Kinder in Deutschland abgelehnt hat und es an dieser Stelle nicht für nötig gehalten hat, einen speziellen Kinderbericht in Deutschland erarbeiten zu lassen.Neben der Gewalt, die ich genannt habe und die tagtäglich auf Straßen und Plätzen, in Schulen, in Gemeinschaftseinrichtungen, aber auch als Darstellung brutalster Szenen im Fernsehen stattfindet, ist immer wieder klar, daß das Unerklärlichste, das Unsinnigste, das Verwerflichste doch wohl die Gewalt gegen Kinder in der Familie ist. Abrüstung in den Kinderzimmern habe ich vor zwei, drei Jahren hier einmal gefordert. Das ist ein Appell an das Verantwortungsbewußtsein von Eltern und Erzieherinnen und Erziehern, dem die Tatsache zugrunde liegt, daß wir offensichtlich nicht einmal in der Lage sind, den Kindern im familiären Umfeld eine Grundlage für ihre Entwicklung zu bieten, wie sie für eine positive seelische Ausstattung notwendig wäre.Dabei ist darauf hinzuweisen, daß wir hier überhaupt nicht mehr im dunkeln tappen. Unter anderem
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Wilhelm Schmidt
die Untersuchungen der Universität Nottingham in Großbritannien haben bewiesen, daß in Familien, in denen Kinder Gewalt ausgesetzt sind, die Eskalation des Strafverhaltens enorm zunimmt, nämlich etwa 70 % höher liegt als in anderen Familien, und daß beispielsweise Kinder, die in ihrer Kindheit Gewalt durch Erwachsene, insbesondere durch Eltern, erfahren, dies auch an ihre Kinder weitergeben, weil sie die Gewalt gegen sich als ein normales Phänomen empfunden haben. In dieser Hinsicht sind also doch wohl dann auch gezüchtigte und mißhandelte Kinder von vornherein in dieser Gesellschaft benachteiligte Kinder. Warum nehmen Erwachsene, insbesondere Eltern dies eigentlich bewußt in Kauf?Wir haben im Zusammenhang mit den hier zu behandelnden drei Gesetzentwürfen auch einen Rechtskonflikt. Sie haben ihn angedeutet. Wir sollten ihn ernst nehmen, weil es natürlich darum gehen muß, daß wir eine wirksame Regelung finden, die dem Anspruch gerecht wird, den Kinderschutz auch wirklich umzusetzen, wie ich ihn soeben als notwendige gesellschaftliche und politische Komponente skizziert habe. Meine Kollegin Frau von Renesse wird darauf noch näher eingehen.Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten in den Ausschußberatungen die Gelegenheit nutzen müssen, genau diese Schnittstelle zu beleuchten und damit auch dafür zu sorgen, daß wir weder eine Überziehung des Anspruchs durchsetzen noch eine vielleicht zu leichtfertige und zu schwache Darstellung dessen, was gesetzlich möglich ist, schaffen. Ich bewerte letzteres im Zusammenhang mit Ihrem Entwurf; ich darf das andeuten.Es gibt auch erhebliche Verbands-, Organisations-und Expertenkritik. Die Kinderkommission des Bundestages hat sich noch einmal vor zwei Monaten sehr ausführlich mit Expertinnen und Experten zusammengesetzt, die ebenso wie die Kinderkommission — fraktionsübergreifend — einstimmig der Meinung waren: Hier müßte mehr getan werden, als der Regierungsentwurf zur Zeit zeigt. Ob es so weit gehen kann, wie die Gesetzentwürfe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD hier vorschlagen, das will ich auch deswegen bewußt offenlassen, weil wir im Interesse der Sache gesprächsbereit sein wollen.Die schon erwähnte UNO-Konvention, meine Damen und Herren, hat uns verpflichtet, das deutsche Recht anzupassen. Bedauerlicherweise — Sie haben das heute wieder getan, Frau Leutheusser-Schnarrenberger — ist die Bundesregierung bei vielen praktischen Dingen nicht sehr viel weiter gekommen, insbesondere im Kindschaftsrecht nicht, dessen Änderung wir ebenfalls als eine Verpflichtung der UNO-Konvention entnehmen müssen.Wir wollen, daß mit dem Postulat „Kinder sind gewaltlos zu erziehen" in dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, grundsätzlich auch darauf hingewiesen wird, daß das das Ziel des ganzen Unternehmens ist. Um aber dem Ganzen vorzubeugen und Mißverständnisse gleich von vornherein auszuräumen: Es geht nicht um eine wie immer geartete und immer wieder mißinterpretierte Form der antiautoritären Erziehung. Das kann es und soll es beileibe nicht sein.Klar ist, daß die Grenzziehung nach wie vor von Fall zu Fall erfolgen muß. Daran geht auch in der Zukunft überhaupt kein Weg vorbei, egal, welches Gesetz wir hier verabschieden. Aber eines, glaube ich — darüber sind wir uns alle ja wohl auch im klaren —, kann überhaupt nicht mehr Gültigkeit haben: das, was seit acht Jahren in der deutschen Rechtslandschaft steht, nämlich der Satz des Bundesgerichtshofs, daß sogar der Gebrauch eines Gartenschlauchendes bei einer Züchtigung noch nicht die Würde des Kindes verletzt. Das muß weg. Das wollen wir durch die gemeinsamen Bemühungen so schnell wie möglich weg haben.Auf diesem Wege muß — das will ich zum Schluß erwähnen — Zusätzliches geschehen. Sie haben es angedeutet. Ich hoffe nur, daß die Bundesregierung — Frau Rönsch wird ja noch sprechen — entsprechend konsequent an dieser Stelle weiterarbeitet. Wir müssen nämlich den Kindern helfen, mit diesen Problemen fertig zu werden. Wir brauchen also einen Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe an allen Stellen. Das ist insbesondere die Verpflichtung der Gemeinden.Erforderlich ist genauso, daß wir die Umstände der Lebensbedingungen für die Familien mit Kindern verbessern. Denn es ist natürlich nicht nur das Gewaltsymptom insgesamt in der Gesellschaft, das uns Probleme bereitet, sondern es sind oftmals weitere soziale Umstände, die diese Symptome und die Situation insbesondere für die Kinder als das schwächste Glied verschärfen: die Wohnbedingungen, die Lebensbedingungen sowie die Entwicklungs- und Entfaltungsbedingungen insgesamt.Ich sage heute: Lassen Sie uns die Diskussion so schnell wie möglich zu einem guten Ende führen. Wir als die Initiatoren dieser Sache sind dazu bereit. Aber ich denke schon, wir sollten ernsthaft darauf hinarbeiten, daß wir nicht zuwenig tun. Wir sollten vielmehr wirklich so weit, wie es geht, an die Grenze der rechtlichen Möglichkeiten gehen, um die Kinder in unserer Gesellschaft künftig wirksamer zu schützen.
Als nächster hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Dieser Satz provoziert noch immer in Deutschland. Er provoziert und ruft heftigste Ablehnung hervor, obwohl er nichts anderes einfordert, als daß selbstverständliche Grundbedingungen für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft uneingeschränkt auch für Kinder gelten.Das Grundgesetz stellt die Achtung der Menschenwürde in den Mittelpunkt unseres Handelns. Wir Erwachsenen bemühen uns, Meinungsverschiedenheiten im demokratischen Diskurs gewaltfrei auszutragen. Der Rechtsstaat sichert die Unversehrtheit der Person. Selbstverständlich darf uns Erwachsene niemand schlagen, seelisch quälen und drangsalieren.Es ist für Eltern in Deutschland leider keine Selbstverständlichkeit, die Würde des Kindes gleicherma-
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Konrad Weiß
ßen zu achten. Erhebungen des Deutschen Kinderschutzbundes zeigen ein erschreckendes Bild vom Erziehungsstil in deutschen Familien: Rund 70 % aller Eltern sind bereit, ihre Kinder mit der Prügelstrafe zu erziehen. Jährlich werden 100 Kinder von ihren Eltern zu Tode geprügelt. 300 000 bis 500 000 Kinder werden so sehr geprügelt, daß sie körperliche Folgen davontragen. Nicht erfaßt sind dabei die unzähligen seelischen Verletzungen und Nötigungen, die den Kindern tagtäglich aus Faulheit oder Dummheit, aus Verzweiflung und oft auch aus Hilflosigkeit und aus Überforderung zugefügt werden.Es ist ein Armutszeugnis für uns alle, wenn sich unser Verhältnis zu den Kindern auf das Recht des Stärkeren, auf Gewalt und Demütigung stützt. Ein Kind wird nicht erst Mensch, es ist Mensch, unantastbar in seiner Würde und in seinen Rechten. Der Respekt, der Kindern als Trager von Grundrechten zukommt, wird jedoch versagt, wenn Gewalt als Erziehungsmittel und legitimes Mittel des Umgangs mit Kindern angesehen wird.Der massiven Verletzung elementarer Kinder- und Menschenrechte muß endlich auch ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben werden. Die jetzige Vorschrift des BGB reicht nicht aus, um Kinder angemessen gegen gewalttätige Übergriffe ihrer Eltern zu schützen. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat deshalb einen Gesetzentwurf zur gewaltfreien Erziehung von Kindern in den Deutschen Bundestag eingebracht. In der Kinderkommission waren sich die Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien einig, die Formulierung, die wir und die SPD jetzt im Antrag haben, gemeinsam einzubringen. Leider konnten sich die Kollegen aus der CDU und der F.D.P. in ihren Fraktionen nicht durchsetzen. Ich bedauere das.Unser Entwurf hat Formulierungen übernommen, die von der Gewaltkommission des Deutschen Bundestages, von der Kinderkommission, vom Deutschen Kinderschutzbund und von anderen Fachverbänden entwickelt und empfohlen wurden. Er postuliert einerseits das Gebot einer gewaltfreien Erziehung und stellt andererseits klar, daß entwürdigende Maßnahmen, insbesondere körperlich und seelisch verletzende Strafen unzulässig sind. Er macht gegenüber der Rechtsprechung deutlich, daß es ein gewohnheitsrechtlich verbürgtes Züchtigungsrecht an Kindern nicht geben kann und daß Züchtigung und die Anwendung entwürdigender Maßnahmen nicht Ausdruck des Erziehungsrechtes sind.Einhergehen muß die Umsetzung dieses Gesetzes mit der Sicherstellung und dem Ausbau von Beratungs-, Betreuungs- und Hilfseinrichtungen für Kinder und Eltern. Der Staat muß auch in diesem Bereich Hilfestellung geben und solchen, die Hilfe leisten, Unterstützung gewähren, um der Spirale der Gewalt entgegenzuwirken.Demgegenüber bedeutet nach unserer Auffassung der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf einen Rückschritt. Er besagt lediglich, daß die Eltern ihr Kind auch weiterhin nicht schwer mißhandeln dürfen — ein Tatbestand, der doch ohnehin nach unserem Strafgesetzbuch verboten ist. Darüber hinaus aber sollen Eltern weiterhin das Recht haben, ihr Kind zu schlagen, es also körperlich zu züchtigen.Die Bundesjustizministerin hat wiederholt die Auffassung vertreten, daß die Grenzen des elterlichen Erziehungsrechts erst dort erreicht seien, wo Kinder schwer mißhandelt würden. Wer sich aber, wie die Bundesregierung, vor der grundsätzlichen Ächtung von Gewalt scheut und Strafanwendung zur erfolgversprechenden Erziehungsmethode erklärt, braucht sich über die Mauer des Schweigens, die prügelnde Eltern, nicht aber mißhandelte Kinder schützt, nicht zu wundern.Wir sind im Gegensatz zur Bundesregierung der Auffassung, daß als Gewalt gegen Kinder nicht nur die offen gewalttätigen Handlungen, die Mißhandlungen anzusehen sind. Maßnahmen, die darauf abzielen, Kinder zu entwürdigen oder sie zu bestimmten Verhaltensnormen zu zwingen, wie auch psychischer Zwang können Kinder ebenso schwer schädigen und sind der unmittelbaren Gewaltanwendung gleichzusetzen. Dabei ist es gleichgültig, ob diese Maßnahmen im Interesse des Kindes oder als Erziehungsmaßnahmen angewandt werden oder nicht. Als Beispiele nenne ich das immer noch übliche Einsperren in eine dunkle Kammer oder stundenlanges Inder-Ecke-Stehenlassen.Ein Kommentator in der „FAZ", der unseren Vorschlag glossiert, führt das absurde Argument an, daß Eltern, denen die Prügelstrafe nicht mehr zur Verfügung stünde, verstärkt mit Liebesentzug reagieren könnten. Was ist das für ein antiquiertes Denken. Als ob die körperliche Züchtigung ein Liebesbeweis wäre! Die Grenze ist nicht zwischen Züchtigung und Mißhandlung zu ziehen, sondern zwischen dem unbedingten Respekt vor der Würde des Kindes und ihrer Mißachtung. Das sind die Alternativen.Die Tatsache, daß Gewalt gegen Kinder in diesem Ausmaß ausgeübt wird, hat vielfältige gesellschaftliche und soziale Ursachen. Die Armut und soziale Verunsicherung in den Familien hat erschreckende Dimensionen angenommen. Wir alle kennen das. Immer mehr verzweifeln an ihrer sozialen Situation, weil sie keine Arbeit, keinen ausreichenden Wohnraum haben, weil es keine Betreuung für ihre Kinder gibt, weil sie ihren Kindern kein kindgerechtes Umfeld bieten können und weil sie mit ihren Existenzängsten alleingelassen sind.Die eigene Frustration und Erniedrigung lassen Eltern nicht selten an ihren Kindern aus. Diese sind gleich in mehrfacher Weise betroffen. Die dramatische Umweltzerstörung und die gesundheitliche Belastung durch Umweltgifte, die Vernichtung kindlichen Lebens oder Lebensraums sowie Gewalt an Schulen sind ebenso Formen gesellschaftlicher Gewalt, unter denen Kinder zu leiden haben.Vor allem aber — und darauf möchte unser Gesetzentwurf besonders aufmerksam machen — ist die körperliche und seelische Züchtigung stets ein individuelles Drama. Der polnische Pädagoge und Arzt Janusz Korczak sagt: Ein geschlagenes Kind trägt Spuren der Folter. Er meint damit, daß jedes Kind, das geschlagen wird, in diesem Moment zugleich gefoltert wird, ganz unabhängig davon, ob das Kind sichtbare
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Konrad Weiß
Schädigungen erleidet oder nicht. Jedes Kind, das geschlagen wird — sei es durch eine Ohrfeige oder den Klaps auf den Po —, wird in diesem Moment gedemütigt, erniedrigt und eingeschüchtert. Das ist das eigentliche Problem.Es schadet nicht nur dem Kind, wenn es hilflos Gewalt durch Vertrauenspersonen erleiden muß, es schadet auch unserer Gesellschaft und unserer Demokratie, wenn Kinder Gewalt als Unbeherrschtheit, als akzeptierte und gewöhnliche Mittel der Konfliktlösung erfahren sollen. Sollen es wirklich die Lehren, die wir unseren Kindern mit auf den Weg geben, sein, daß die Welt von Gewalt beherrscht wird, daß der Stärkere den Schwächeren niederschlägt, wenn er ihm im Wege ist?Es ist unabhängig vom Stand, vom Einkommen und vom Intellekt, ob wir unsere Kinder respektvoll als Menschen und Mitbürger behandeln. Eine Ohrfeige bringt vielleicht ein rasches Ergebnis, aber auf lange Zeit wird sie nichts nützen. Wenn man sein Kind schlägt, zeigt das nur, das man nicht mehr weiter weiß. Es zeigt die eigene Schwäche.Als Vater von drei Kindern und als Großvater von zwei Enkelkindern weiß ich, wie schwer es ist, diese Herausforderung tagtäglich zu bestehen. Auch meine Kinder waren keine pflegeleichten Kinder. Auch ich habe meinen Kindern Unrecht getan. Gewaltfreie Konfliktbewältigung muß erlernt werden. Dabei müssen wir den Eltern helfen. Das ist ein mühevoller Prozeß.
Unser Gesetzentwurf postuliert kein generelles Strafverbot. Das ist eine oberflächliche oder böswillige Lesart. Wer glaubt, hier sollten alte Schlachten über autoritäre und antiautoritäre Erziehung neu geschlagen werden, hat von der Politik von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, so wie wir sie heute betreiben, nichts verstanden. Wir wissen durchaus zwischen autoritärem Gebaren und Autorität zu unterscheiden. Autorität ist gut. Wer Autorität hat, braucht nicht autoritär zu sein. Autorität überzeugt durch innere Gewißheit, durch innere Sicherheit. Strafe kann sinnvoll sein, wenn die Würde des Kindes gewahrt bleibt. Es gibt Strafen, die vom Kind nicht als ungerecht und erniedrigend empfunden werden, die nicht auf Gewalt beruhen, sondern auf Vertrauen und Verantwortung.Erziehung ist oft schwierig und frustrierend. Die Erziehungsmittel, die wir anwenden, müssen sich logisch aus dem ergeben, was wir dem Kind beizubringen versuchen. Korczak hat in seinem Waisenhaus eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie so etwas im großen wie im kleinen funktionieren kann.Mit der positiven Formulierung unseres Gesetzentwurfes wollen wir deutlich machen, daß eine Erziehung ohne jede Gewaltanwendung von unserer Gesellschaft gewünscht wird und möglich ist. Die Neuregelung bewirkt nicht nur eine Klarstellung, sondern stärkt auch die Rechte des Kindes. Damit kommen wir endlich der Verpflichtung nach, die wir vor zwei Jahren mit der Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes eingegangen sind.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind uns natürlich alle darüber einig, daß Gewalt gegen Kinder, die zu den Schwächsten und Wehrlosesten unserer Gesellschaft gehören, mit allen Mitteln bekämpft werden muß. Gewalt gegen Kinder ist an sich schon schändlich. Dazu kommt noch, daß sie Spätfolgen an den Opfern und an der Gesellschaft zeitigt. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Wer selbst Gewalt erleiden muß, wendet seinerseits vielleicht später leichter Gewalt an.Die Bundesregierung hat eine Menge auf diesem Gebiet getan. Angesprochen worden ist bereits die verstärkte Bekämpfung der sexuellen Gewalt gegen Kinder, speziell auch der Kinderpornographie. Ich möchte auch die geplante höhere Bestrafung der Körperverletzungsdelikte allgemein ansprechen. Ich möchte auch die Arbeit der Gewaltkommission und der Kinderkommission würdigen. Aus diesem Grunde halte ich die Zielsetzung des Regierungsentwurfes, nämlich den Unterschied zwischen erlaubten und verbotenen Erziehungsmaßnahmen zu machen und zu verdeutlichen, für begrüßenswert.Aber, wir dürfen dabei auch nicht über das Ziel hinausschießen. Sicherlich geht es nicht in allen Familien vorbildlich und gesittet zu. Andererseits ist auch nicht jede Familie oder die Familie schlechthin eine gewalttätige Institution, aus der man das Kind befreien muß.
— Ja, wenn Sie die einschlägige Literatur aus einschlägigen Kreisen über den Gewaltbegriff und über die strukturelle Gewalt, die ja schon in den 70er Jahren angesprochen worden ist und an die ich mich noch sehr gut erinnern kann, studieren, dann stellen Sie selbstverständlich fest, daß da die Familie als verlängertes Herrschaftsinstrument eines repressiven Staates etc. und als ähnlicher Quatsch bezeichnet worden ist.
Deshalb lehnen wir ganz klar Forderungen nach einem Verbot jeglicher Strafen ab.
— Warum wollen Sie mir nicht zuhören? Das sind doch Leute, die natürlich Ihrer Richtung immer schon nähergestanden haben. Das kommt aus der linken Ecke. Ich wollte es nicht extra ansprechen. Aber wenn Sie jetzt die Urheberschaft, die geistige Verwandt-
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Dr. Wolfgang Götzerschaft plötzlich leugnen wollen, dann muß ich Sie daran erinnern.
— Was soll denn das, Frau Kollegin? Diese Leute stehen Ihnen doch näher. Das war doch Gedankengut der Jungsozialisten und ähnlicher, die es heute nicht mehr gibt. Dazu müssen Sie sich doch auch bekennen; das ist auch ein Teil ihrer Vergangenheit.
Wir sind dagegen, jegliche Strafe zu verbieten. Dann wäre ja auch das Fernsehverbot beispielsweise eine Strafe, die verboten werden müßte. Meine Damen und Herren, auch ich bin Vater von zwei Kindern. Deswegen weiß ich, daß man mit Lob, mit Vorbild besser erzieht als mit Bestrafung. Aber aus meiner Erfahrung weiß ich auch, daß man bei einer Erziehung nicht ohne jegliche Sanktionen auskommen kann, wenn man seinen Erziehungsauftrag ernst nimmt.Den SPD-Entwurf, der ein völliges Verbot von Gewalt als Erziehungsmittel vorsieht — die anderen Entwürfe stehen ihm da nicht nach —, lehnen wir aus dem Grund ab, den ich schon vorher erwähnt habe: weil wir zum einen die Ausuferung des Gewaltbegriffes in den 70er Jahren erlebt haben und mittlerweile auch in der Rechtsprechung einen sehr weit gefaßten Gewaltbegriff vorfinden.Wenn der Gewaltbegriff wie in § 240 StGB ausgelegt wird, dann ist damit auch die Nötigung und selbstverständlich die Freiheitsberaubung mit umfaßt. Das heißt dann — dieses Beispiel muß man sich vor Augen führen —: Wenn sich ein Kind eben nicht nach mehrmaliger Aufforderung, wenn keine unmittelbare Gefahr droht, von der Straße entfernt und die Mutter daraufhin das Kind mit Gewalt am Arm packt und auf den Gehsteig wegzerrt, dann ist das selbstverständlich Gewalt. Ich weiß nicht, Herr Kollege Weiß, ob Sie Jurist sind.
aber maßvolle Zurechtweisungen weiterhin ermöglicht. Wir müssen das auch für juristische Laien verständlich formulieren, weil es ja alle Eltern in unserem Lande, also Millionen Menschen betrifft.
Deshalb hat der Freistaat Bayern im Bundesrat einen Antrag eingebracht. Dem geplanten § 1631 Abs. 2 soll ein Zweiter Satz angefügt werden. Ich zitiere:Maßvolle Zurechtweisungen, die das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit nicht erheblich beeinträchtigen, bleiben von dem Verbot des Satzes 1 unberührt.Damit setzen wir ein Signal gegen Kindesmißhandlung, aber wir verhindern auch eine ausufernde Kriminalisierung der Eltern.Meine Damen und Herren, da die rechtliche Problematik nicht ganz einfach ist,
halte ich in diesem Fall eine Anhörung für sinnvoll.Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wir sind uns alle einig darüber, daß man mit Gesetzen allein Gewalt gegen Kinder letztlich nicht beseitigen kann. Notwendig ist eine kinderfreundliche Einstellung in unserem Volk, und da ist noch eine Menge zu tun. Lassen Sie mich aber auch eines sagen: Wer Gewalt
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Dr. Wolfgang Götzergegen Kinder anprangert und sich darüber empört, der muß auch die tödliche Gewalt, die jährlich hunderttausendfach an ungeborenen Kindern durch Abtreibung verübt wird, beim Namen nennen und etwas dagegen tun.
Ansonsten ist der Einsatz für die Kinder insgesamt nicht glaubwürdig.
Als nächster hat der Kollege Burkhard Zurheide das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gewalt gegen Kinder ist sicherlich ein großes gesellschaftliches Problem. Es gibt in der Tat widerwärtigste und schlimmste Kindesmißhandlungen. Die Bilder, die von Zeit zu Zeit in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht werden, sind einfach schrecklich, und man möchte am liebsten wegschauen, wenn man sieht, wie bestimmte Gruppen oder bestimmte Eltern mit ihren Kindern umgehen.
Problematisch ist sicherlich auch, daß sich im Rückblick auf die eigene Erziehung so manches verklärt. Denn Gewalt gegen Kinder ist ja kein neues Problem, kein modernes Problem. Es gibt viele, die, auch wenn sie schwerste Prügelstrafen — nicht den kleinen Klaps, sondern die schwere Prügelstrafe — als Kind haben empfangen müssen, sagen, das habe in Wirklichkeit gar nicht geschadet, und die dies als Rechtfertigung für ihr eigenes gewaltsames Verhalten gegenüber ihren eigenen Kindern benutzen. Dies ist nicht in Ordnung, dies will niemand von uns.
Es gibt auch noch in der Erinnerung an vergangene Zeiten den berühmten Schlüsselwurf des Lehrers, den berühmten Wurf mit dem Stück Kreide, den der Lehrer früher gerne hat machen dürfen, was wir heute nicht mehr wollen, was heute auch gar nicht mehr erlaubt ist.
Aber, meine Damen und Herren, all diese Kindesmißhandlungen sind natürlich heute schon unter Strafe gestellt und haben insoweit mit dem Problem, über das wir uns zu unterhalten haben, nichts zu tun. Dies steht unter Strafe, und das ist gut so.
Der Anlaß für die heutige Debatte und für die Gesetzentwürfe, die eingebracht worden sind, insbesondere der Anlaß für die Einbringung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, ist diese mittlerweile berühmt gewordene Gartenschlauch-Entscheidung — sie ist vorhin schon zitiert worden —, nach der es als zulässig betrachtet wurde, mit einem Gartenschlauch sein Kind zu prügeln, weil das Kind, glaube ich, eine Brille seines Vaters oder was auch immer zerstört hatte.
Da konnte man sehen, daß das bestehende Recht nicht ausreicht. Deswegen hat die Bundesregierung die richtige Konsequenz gezogen und versucht, für Fälle dieser Art eine gesetzliche Neuformulierung zu schaffen, die juristisch eben sehr schwierig ist.
Wir sollten auch, glaube ich, ehrlich miteinander umgehen. Wir reden über Gewalt gegen Kinder,
reduziert auf die Frage: Kann man Kinder vollständig gewaltlos erziehen? Das möchten wir alle gerne. Diese Erklärung abzugeben fällt niemandem von uns schwer. Aber das in der Realität, im täglichen Erziehungsalltag durchzuhalten ist eben verflixt schwierig. Dies ist verflixt schwierig! Wir sollten hier auch keine Wolkenschieberei begehen und sollten auch jede Form von Selbstgerechtigkeit, die bei diesem Thema natürlich immer sehr schnell überkommt, vermeiden.
Es passiert im Erziehungsalltag eben dem einen oder anderen Erziehenden schon mal, daß die sogenannte Hand ausrutscht. Das ist leider so. Aber es ist so. Das ist gesellschaftliche Realität.
— Also, Frau Kollegin, ich weiß nicht, welchen Erfahrungshorizont Sie haben.
— Nein, nein, Sie sprachen jetzt über unsere Fraktion. Der Erfahrungshorizont, daß in den Fraktionen geprügelt wird, ist mir nicht bekannt. Sollte bei Ihnen ein anderer Erfahrungshorizont vorhanden sein, ist das eine ganz spannende Frage,
aber Sie brauchen sich jetzt nicht zu outen.
Herr Kollege Zurheide, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Enkelmann?
Ja, bitte.
Herr Kollege, ich frage Sie, warum Sie Gewalt gegen Kinder — und eine Ohrfeige ist Gewalt — als normal ansehen — Sie sagen, es kann mal passieren, daß die Hand ausrutscht — und Gewalt in der Auseinandersetzung in der Fraktion als nicht normal ansehen? Warum machen Sie hier Unterschiede?
Frau Kollegin, Sie haben offenbar nicht hingehört oder es nicht begriffen, daß die Beschreibung der Wirklichkeit mit dem Wunsch von der Wirklichkeit nicht übereinzustimmen braucht. Ich habe die Wirklichkeit beschrieben. Ich habe eine Tatsache beschrieben. Ich habe zuvor ausdrücklich gesagt, welches meine Meinung ist. Ich habe mit keinem Wort gesagt, daß dies vernünftig oder richtig oder was auch immer ist. Ich habe gesagt: Dies ist die Wirklichkeit, die wir zu akzeptieren haben.
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19028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Burkhard ZurheideOb das jemand als normal oder als nicht normal abnimmt, ist eine zweite Frage.Und was das damit zu tun hat, ob in Fraktionen geprügelt wird, diesen Zusammenhang müssen Sie in der Tat selber herstellen. Vielleicht gelingt es Ihnen. Vielleicht laden Sie mich mal zu einer Ihrer Fraktionssitzungen ein. Wenn so etwas passiert, möchte ich es zumindest gesehen haben.Aber lassen Sie uns zum Ernst des Themas zurückkommen, weil das Thema wirklich ernst genug ist. Herr Weiß hat gesagt, der Satz „Kinder sind gewaltlos zu erziehen" provoziere. Das ist richtig. In der Tat, dieser Satz provoziert. Aber er ist natürlich hilfreich, um bei Eltern ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß man sich zumindest darum bemühen muß, ohne Gewalt zu erziehen.Nur, Herr Kollege Weiß, das als moralische Richtschnur zu unterschreiben fällt uns allen leicht. Das in gesetztes Recht umzusetzen ist das Problem, vor dem wir stehen, weil wir bei der Umsetzung sofort vor der Problematik stehen, daß dann fast jede Art etwas strengerer Erziehungsmethoden rein theoretisch unter Strafe stehen könnten. Das Beispiel, das vorhin angeführt wurde, von dem Wegreißen des Kindes auf einer Straße — —
— Ja, natürlich, man muß es nicht so sehen. Man kannes aber so sehen. Frau von Renesse, wir sind beideJuristen. Wer sagt denn, daß nicht ein anderer Jurist eine völlig andere Meinung hat, als Sie und ich sie haben? Es ist ja nicht ungewöhnlich, daß in der Juristerei die Meinung A und die Meinung B herrscht und jemand noch eine völlig andere Meinung gewinnt. Das kann so sein.Wir wollen jedenfalls vermeiden, daß Eltern stärker kriminalisiert werden als gegenwärtig. Wir setzen uns dafür ein, daß Hilfe geleistet wird, daß Eltern deutlich gemacht wird, daß bestimmte Bedingungen bestehen müssen, in denen man sein Kind möglichst gewaltfrei erziehen kann. Dann ist die Ausweitung der Mittel des Strafrechts nicht der richtige Weg.Aus diesem Grunde ist der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, richtig, weil er an den Begriff „Mißhandlung" anknüpft, der für den Juristen jedenfalls ein relativ konturenscharfer Begriff ist, den man in der Praxis auch anwenden kann.Dem Kind selber — und um das geht es uns doch — ist nicht damit gedient, daß man seine Eltern kriminalisiert. Dem Kind dienen Sie damit, daß Sie die Bedingungen verändern, unter denen es aufwächst, daß Sie die Bedingungen verändern, unter denen Eltern ihre Kinder erziehen, und daß Sie Eltern Hilfe geben, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen.Das Kind hat ein Recht auf Erziehung. Auch dies steht in der Kinderkonvention. Ich halte es für wichtig, dies immer wieder zu betonen. Es haben nicht nur die Eltern ein Recht auf Erziehung, sondern auch das Kind hat ein Recht auf Erziehung, und das Kind hat ein Recht auf Erziehung ohne persönlichen Schaden für seine Gesundheit und seine Psyche. Dies ist völlig klar, und ich glaube, die Ministerin hat es vorhin angesprochen. Unsere Bemühungen zur Kindschaftsrechtsreform werden eine ganz bedeutende flankierende Maßnahme sein, um dieses Ziel zu erreichen.Im Ergebnis, meine Damen und Herren, hoffe ich, daß wir in der Ausschußberatung vielleicht doch noch zu einer gemeinsamen Lösung kommen werden. So, wie Sie es vorgeschlagen haben, in dieser Ausschließlichkeit, kann man es vernünftigerweise, jedenfalls wenn man dafür hinterher als Gesetzgeber verantwortlich ist, nicht formulieren. Wir müssen eine andere Formulierung finden, aber vielleicht zeigt die Anhörung einen neuen Weg. Solange dies nicht so ist, halte ich den Gesetzentwurf mit seiner Formulierung für den besseren, ja den besten Weg.Vielen Dank.
Und nun hat Frau Kollegin Barbara Höll das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Zurheide, Sie haben meines Erachtens schon mit Ihrer Nichtbeantwortung etwas gravierend ausgedrückt. Auf die Frage von Frau Dr. Enkelmann haben Sie den Klaps für das Kind als die „sogenannte Hand, die ausrutscht" bezeichnet. Aber da rutscht eine Hand, da rutscht nicht etwas Sogenanntes. Und im Vergleich dazu war es in der Fraktion gleich eine Prügelei! Einmal ist es ganz wenig, nur der sogenannte Klaps, aber in der Fraktion wäre es dann gleich eine Prügelei. Es mag ja an der Fraktion liegen, aber es liegt sicher auch daran, was Gewalt ist oder was man darunter versteht, und unter Erwachsenen wäre das sicher gleich eine ganz andere Behandlung.Ich habe leider nur sehr wenig Zeit und möchte nur kurze Bemerkungen machen.
— Es ist sehr ernsthaft, weil das eine sprachliche Verharmlosung ist. Ich habe nur vier Minuten Zeit. Stellen Sie mir bitte noch eine Frage. Ich würde mich darüber freuen.
Ich meine, daß das tatsächlich ein sehr wichtiges Problem ist, und gerade weil es so wichtig ist, ist es notwendig, dieses Thema ernsthaft zu behandeln, nicht nur heute in dieser Diskussion, sondern es wäre notwendig, es auch im Rahmen der Verfassungsdiskussion zu behandeln.Die Bundesrepublik, die Bundesregierung hat die UNO-Kinderrechtskonvention anerkannt, unterschrieben, ratifiziert. Die verbale Übereinstimmung, daß das Kind als eigene Rechtspersönlichkeit zu achten ist und ihm der notwendige gesellschaftliche Schutz zu gewährleisten ist, wurde damit nochmals bestätigt. Es steht auch im Grundgesetz, daß die Achtung der Würde des Menschen ein Grundsatz
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 19029
Dr. Barbara Hölldieser Demokratie ist. Aber wie wir heute schon an vielfachen Zahlenbeispielen gehört haben, ist das leider nicht die Realität.Deshalb sollten wir die Möglichkeiten der derzeitigen Verfassungsdiskussion auch nutzen, um klar zu regeln, daß Kinder tatsächlich Rechte haben und daß es notwendig ist, bestimmte Rechte für Kinder auch in dieser Verfassung mit Verfassungsrang anzuerkennen. Für mich ist das Recht eines Kindes auf gewaltfreie Erziehung tatsächlich ein solches Recht, das es wert wäre zu diskutieren. Ich kann nicht verstehen, daß bisher die Mehrheit in der Verfassungskommmission und im Rechtsausschuß nicht bereit ist, überhaupt weiter in diese Richtung der Rechte für Kinder nachzudenken und etwas Entsprechendes in die Verfassung aufzunehmen.Ich glaube, in den bisherigen Diskussionsbeiträgen heute herrschte Einigkeit, daß Handlungsbedarf unmittelbar besteht. Es freut mich, daß die Inititative der Kinderkommission des 11. Bundestages hier nun endlich auch Widerhall findet. Aber ich glaube, es geht nicht nur um eine verbesserte Formulierung, sondern auch um ein Umdenken und um die Mittel, die der Gesetzgeber hier hat.Sicher werden wir durch eine Neuformulierung des § 1631 BGB nicht das Verhalten von Eltern, nicht das Verhalten der Öffentlichkeit ändern, die vielleicht oftmals Druck auf Eltern ausübt, wenn ein Kind in der Straßenbahn oder in der Kaufhalle Krach macht, wo dann gefragt wird: „Warum klatschen Sie ihm nicht eins?" Dieser Druck wird durch eine Neuformulierung wohl nicht verschwinden, aber es geht hier um eine klare Normsetzung. Es geht darum, tatsächlich zu verdeutlichen, daß wir eine gewaltfreie Erziehung wollen.Ich glaube, das bisher Angesprochene, daß eine notwendige Basis für diese gewaltfreie Erziehung glückliche Eltern sind, Eltern, die sozial abgesichert sind, die nicht von unmittelbaren Existenzängsten bedroht sind, die nicht frustriert sind und ihren Frust dann an Schwächere, an Kinder, abgeben, ist sehr wichtig. Ebenfalls wäre eine wichtige Basis, über die Gewaltfreiheit nachzudenken, die man erst erlernen muß.Ich glaube, auch hier kann es nicht angehen, daß wir, wenn wir über Kinder reden, so tun, als wären wir uns alle einig, wie schön doch eine gewaltfreie Erziehung ist, aber täglich vorexerzieren, daß wir uns mit der Politik, die die Bundesrepublik macht — die Bundesrepublik hat den zweiten oder dritten Platz in Waffenexporten inne —, weltweit an der Zuspitzung von Konflikten beteiligen. Ich habe wirklich noch nie gehört, daß Kinder, die mit Gewehren spielen, eine Möglichkeit haben, zu lernen, wie man Konflikte verbal oder auf andere Weise austragen kann.Ich denke, hier ist ein weites Feld. Es geht darum, tatsächlich umzugestalten und umzudenken; dies wäre wünschenswert. Wir als PDS/Linke Liste unterstützen deshalb, wie auch die SPD und das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, den Vorschlag der Kinderkommission. Wir hoffen, daß sich in den Diskussionen zeigen wird, daß die konsequente Formulierung „dasRecht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung" eine Mehrheit in den Ausschüssen und dann hier im Hause findet.Ich danke Ihnen.
Nun hat die Kollegin Margot von Renesse das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, daß sich alle vorliegenden Gesetzententwürfe eindeutig vornehmen, das Züchtigungsrecht der Eltern abzuschaffen und damit ein alteingeschliffenes Mißverständnis auszuräumen. Ich sage „Mißverständnis"; denn während der Begriff vom elterlichen Züchtigungsrecht von der Justiz, wie ich finde, in der Vergangenheit durchaus sinnvoll benutzt worden ist, um nicht jeden erzieherischen Mißgriff von Eltern strafrechtlich zu verfolgen, versteht ihn die Öffentlichkeit ganz anders, nämlich als selbständiges Recht, den eigenen Kindern seelische und körperliche Gewalt anzutun.Indem wir den Begriff „Züchtigungsrecht" nun definitiv aus dem Gewohnheitsrecht beseitigen, wollen wir elterlicher Gewalt in jeder Form die Legitimation entziehen.Allerdings beschwört die Formulierung des Regierungsentwurfs wieder ein neues Mißverständnis als Gefahr herauf. Der Begriff der Mißhandlung hat im allgemeinen Sprachgebrauch eine andere Bedeutung als unter Fachjuristen; das ist das Problem. Bei Juristen ist dies ein sehr weiter Begriff, während die meisten Menschen unter Mißhandlung nur rohe Gewaltanwendung mit schweren Folgen verstehen. Hier müssen wir vermeiden, daß sich wieder eine neue Wertschere auftut.Meine Damen und Herren, das Klügste wäre gewesen, man hätte den Grundsatz einer Pflicht zur gewaltfreien Erziehung in die Verfassung aufgenommen.
Dann hätten wir ein Problem, das wir jetzt haben, nicht, nämlich — wenn man es genau nimmt — die Quadratur des Kreises zu schaffen: die elterliche Gewalt zu delegitimieren, nicht aber verschärft zu kriminalisieren. Das ist jetzt wieder sehr kompliziert geworden.Wie sollten wir auch kriminalisieren? Wer gibt uns das Recht dazu? Es gibt zwischen Eltern und Kindern — das werden Sie gerade von mir gerne hören, nehme ich an — neben Liebe immer auch Spannungen, Unfrieden und Ungerechtigkeit, ja tiefliegende Aggressionen. Das gehört zum Leben, so wahr die Familie Lebenswirklichkeit von Menschen ist.Was das heißt, kann man z. B. an den keineswegs süßlichen, sondern wahrhaftigen Familienbildern der Bibel, aber auch mit Hilfe der modernen Tiefenpsychologie lernen. Auseinandersetzung mit der gegebenen, häufig fehlhaften Übermacht der Eltern — lassen Sie mich als kinderreiche Mutter hinzufügen: mitunter
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19030 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Margot von Renesseauch der Kinder — gehört zum Lern- und Erfahrungsbereich von Kindheit und Familie.Ich kenne die Eltern nicht, weder privat noch beruflich, die immer hundertprozentig geduldig, pädagogisch klug, abgeklärt, aufgeklärt und Genies von Erziehung sind. Eine Gesellschaft, die die Verschärfung des Jugendstrafrechts diskutiert, der bei mißratenen Jugendlichen nur „Draufhauen" einfällt, sollte sich wahrhaftig hüten, Steine auf Eltern zu werfen, deren Erziehungsauftrag heute schwieriger zu erfüllen ist denn je.Unser Gesetz soll Wissen und Gewissen der Eltern sensibilisieren. Auch die eigenen Kinder kann man um Verzeihung bitten, die Achtung vor ihrer personalen Würde auch dann erfahrbar machen, wenn es zu Übergriffen gekommen ist.Kein Zweifel, es gibt elterliches Versagen, das strafrechtlich geahndet werden muß. Auch in diesem Bereich — dazu soll das Gesetz beitragen — muß die Gesellschaft erst noch lernen, ihre Kinder zu schätzen und zu schützen.Sehr viel häufiger aber sind die Fälle, bei denen Strafe nichts nützt, sondern eher schadet, und zwar allen Beteiligten. Überforderung, Hilflosigkeit, Verzweiflung sind klassische Ursachen für jede Form von Gewalt in Familien. Zu kleine Wohnungen, finanzielle Enge und die Verinselung von Familien in einer Umgebung, die den Familien gleichgültig gegenübersteht, die Kinder als Störfaktoren wahrnimmt — davon kann ich auch wieder als Mutter und aus meinem Beruf einiges erzählen —, sind die eigentlichen Ursachen für das, was wir beklagen.
Lassen Sie mich daher mehr das Versagen der Gesellschaft an den Familien als das Versagen der Familien, das es gibt, beklagen. Darum widerspricht mir alles, was die Haftung der Eltern für ihre Erziehungsleistung verschärft und sie praktisch in eine „Produkthaftung" nimmt. Lieber wäre mir mehr Hilfe und Mitverantwortung der Gesamtgesellschaft, an der Spitze natürlich die politisch und verwaltungsrechtlich Verantwortlichen.Ich weiß mich kollegial verbunden, auch als Familienrichterin, mit allen Eltern, die sich mühen, häufig auch versagen und doch, selbst wenn sie Fehler machen, ihre Kinder mehr und verzichtbereiter lieben als alle Gesetzgeber, Richter und Jugendämter. Das ist der Sinn dessen, was die Verfassung von uns verlangt, wenn sie von uns Respekt vor den Eltern verlangt und gleichzeitig die klarere Erklärung, was wir unter Kindeswohl verstehen.Vielen Dank.
Nun hat Frau Bundesministerin Rönsch das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! In unserer Gesellschaft ist Erziehung als erstes Aufgabe der Eltern. So will es das Grundgesetz, so soll es bleiben, und ich denke, das ist auch gut so.Eltern kennen am besten die Bedürfnisse ihrer Kinder, sie kennen ihre Fähigkeiten, sie sollen sie schätzen, ausbauen und weiter fördern. Wohl zu kaum einer Zeit haben Kinder so viel emotionale Zuwendung durch ihre Eltern erhalten, war der Anspruch, den Mütter und Väter an die Erziehung ihrer Kinder stellen, so hoch wie heute.
Gleichzeitig ist Kindererziehung aber sicherlich auch wesentlich schwieriger geworden. Die Vielfalt der Lebensstile, äußere Einwirkungen von den Medien — ich denke, vor allem durch die Medien — oder auch das Schwinden tradierter Normvorgaben stellen Familien und Familienleben vor immer neue Herausforderungen.Die Erziehungsleistung von Eltern unter Respektierung der Eigenpersönlichkeit des Kindes fordert immer wieder neues Eingehen auf unterschiedliche Situationen und auf sich ändernde Anforderungen. Dabei müssen Eltern auch stets den individuellen Entwicklungsstand des Kindes sowie die Wünsche und die Erwartungen der jeweiligen Altersstufe im Auge behalten.Hinzu kommt natürlich — das ist verschiedentlich angesprochen worden —, daß äußere Einflüsse Folgen für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern haben können. Ich denke z. B. an das Wohnen in Ballungsgebieten und an das Fehlen entsprechender Freiräume für Kinder, wo sie sich entfalten können, aber auch an den Rückgang von Geschwisterzahlen. Eigene, tiefgreifende Probleme von Eltern oder z. B. der hohe Anspruch an das, was man seinem Kind mit auf den Lebensweg geben will, können in manchen Fällen zu einer Überforderung der Eltern führen. Schläge und Gewalt sind dann nicht selten Ausdruck von Verunsicherung und eine Widerspiegelung der eigenen Ängste.Eltern, die als Kinder selbst mit Schlägen erzogen worden sind, dürfen eine solche Erziehung nicht auf ihre Kinder übertragen.Lange war das Thema „Gewalt in den Familien" ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Auch heute hört man immer noch den Satz: „Ein Klaps auf den Po hat sicher noch niemandem geschadet. " Das mag zutreffen für eine insgesamt harmonische Eltern-KindBeziehung. Aber wir müssen uns natürlich fragen, wo die Grenzen liegen zwischen dem, was wir als elterliches Erziehungsrecht noch zulassen können, und den Übergriffen in die Persönlichkeitsrechte des Kindes.Darauf will der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Mißhandlungsverbotsgesetzes eine Antwort geben. Er erklärt körperliche und seelische Mißhandlungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen für unzulässig. Das elterliche Züchtigungsrecht kann jetzt nicht mehr als Rechtfertigung für Körperverletzungen an Kindern mißbraucht werden. Von dieser gesetzlichen Klarstellung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 19031
Bundesministerin Hannelore Rönschsoll und wird, so hoffe ich, ein deutliches bewußtseinsbildendes Signal ausgehen.Es darf aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit nicht sein Bewenden haben. Was wir darüber hinaus brauchen, sind einerseits Hilfen und Unterstützung für Familien. Wir wollen Familien bei der Bewältigung ihrer Erziehungsaufgaben unterstützen, wenn sie damit allein nicht fertig werden. Hier leisten die Familienberatungseinrichtungen, die Familienbildungsstätten, aber auch die Familienorganisationen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, seit vielen Jahren hervorragende Arbeit.Die Stärkung der Erziehungskraft der Familie durch stützende Netze und vorbeugende Hilfen wird weiterhin der Leitfaden für unser Handeln sein. Auf diese Weise lassen sich am besten Konflikte vermeiden. So kann Gewalt in Familien wirksam begegnet werden. Wir müssen Familien bei ihrer Erziehungsaufgabe so stützen, daß es erst gar nicht zu körperlicher und seelischer Gewalt kommt,
daß solche Gesetze für die zukünftigen Jahre vielleicht gar nicht mehr notwendig wären.Ich denke aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß es andererseits unerläßlich ist, immer wieder auch den Blick von Nachbarn und Freunden zu schärfen, sie aufzufordern und zu bitten, nicht wegzusehen, wenn es zu Übergriffen in Familien kommt,
dann nicht abseits zu stehen und die Not von Kindern tatsächlich auch entsprechenden Stellen mitzuteilen. Denn es greifen oft Gesetze dann nicht, wenn man als Nachbar, oder als Freund wegsieht.Wir müssen und wir können durch die Beratungsstellen allen Eltern, die in Gefahr sind, Grenzen zu überschreiten und Kinder zu mißhandeln, wirksame Hilfen anbieten. Aber damit Beratungsstellen Hilfe leisten können, muß man zunächst überhaupt wissen, daß in einer Familie Gefahr für Kinder bestehen könnte.Ich glaube, unsere Gesellschaft hat zu lange vor Exzessen die Augen verschlossen. Ich würde mir wünschen, daß wir diese Gesetze, die heute noch notwendig sind, in der Zukunft nicht mehr bräuchten. Gesetze allein reichen allerdings nicht aus, wenn wir in unserer Gesellschaft nicht insgesamt ein kinderfreundlicheres Klima schaffen.Ich meine, daß wir alle aufgerufen sind, unseren Kindern in unserer Gesellschaft ein Leben in Vertrauen und Geborgenheit zu gewährleisten. Dazu sind wir alle aufgefordert — wir, die Gesetzgeber, aber die Gesellschaft auch insgesamt.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/6343, 12/5359 und 12/6783 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Gruppe der PDS/ Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur des Rentenüberleitungsgesetzes
— Drucksache 12/6217 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. Gibt es dazu Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster der Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beendet das grausame Spiel! Das ist nicht etwa ein PDS-Slogan, sondern der dringende Appell des Bundes der Ruhestandsbeamten, Rentner und Hinterbliebenen, den der Verband in der März-Ausgabe seiner Zeitung an den Gesetzgeber formuliert. Weiter heißt es dort: Einmal müssen ohnehin die Unrechtsvorschriften fallen. Tut es sofort!Wir meinen, es ist für den Bundestag allerhöchste Zeit, daß alle Parteien hier und heute Farbe bekennen.Vor einem Jahr, bei der Verabschiedung des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes, beteuerten fast alle Redner, einschließlich des Herrn Blüm, daß weiterer Handlungsbedarf besteht. Hinter den Kulissen laufen seit langem in den Fraktionen diverse Vorstöße, nur offiziell tut sich hier in Bonn in Sachen Rente real nichts.Das hat uns bewogen, im November dem Parlament einen Vorschlag zur Diskussion zu unterbreiten. Wir haben lange Zeit gegeben, daß Sie Ihre Vorstellungen dazupacken können. Betroffene wehren sich mit Petitionen, Widersprüchen und Klagen. Verbände, Gewerkschaften, angesehene Sozial- und Verfassungsrechtler verweisen nachdrücklich auf Mängel und Ungereimtheiten.Die Parlamente aller ostdeutschen Länder sind aktiv geworden, nicht zuletzt durch die dortigen PDS-Fraktionen. Urteile des Bundessozialgerichts mahnen Handlungsbedarf an. Worauf warten Sie also? Das fragen wir sowohl die Regierungskoalition als auch die SPD. Brauchen Sie wirklich eine Legitimation durch das Bundesverfassungericht, um tätig zu wer-
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19032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Petra Blassden, damit Sie nicht Fehler unmittelbar einzugestehen brauchen? Oder wollen Sie das Ganze zu einem Wahlkampfthema machen? Dagegen wenden wir uns. Wir meinen, daß dieser Bundestag, der die sogenannte Überleitung der Renten in Gang gebracht hat, auch den Mut haben muß, erkannte Unzulänglichkeiten — um nicht zu sagen: gravierende Mängel — aus der Welt zu schaffen. Dieser Bundestag muß es auch deshalb tun, weil es zum Teil auch um hochbetagte Menschen geht. Es wäre doch makaber, sich die Absicht zur sogenannten biologischen Lösung unterstellen lassen zu müssen. Wir bitten deshalb um eine sachliche, von Emotionen freie Beurteilung der Lage und unserer Vorschläge.Zweifellos konnten nicht wenige Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern anfangs Verbesserungen verzeichnen, die aber zum Teil durch das enorme Wachstum der Lebenshaltungskosten inzwischen zu effektiven Verlusten geführt haben. Und dann gibt es mehr als 350 000 Rentnerinnen und Renter aus Zusatz- und Sonderversorgungen, die seit 1990 und sicher auch noch bis Ende 1995 keine oder nur geringfügige Rentenerhöhungen erhalten haben. Eine solche Behandlung hatte ja nicht einmal der Einigungsvertrag vorgesehen. Leider sind wir, die wir diesen Vertrag in der Volkskammer einst wegen seiner entwürdigenden und diskriminierenden Regelungen abgelehnt haben, heute in die Rolle gedrängt, die wenigen Vertrauensschutzgarantien einfordern zu müssen.
— Dann stellen Sie eine Zwischenfrage.Den Einigungsvertrag einfordern, der mit dem Renten-Überleitungsgesetz vom Sommer 1991 nach offenem Eingeständnis der Bundesregierung ausgehebelt wurde —
— vielleicht lassen Sie mich wenigstens zu Ende reden —,
nicht mehr, aber auch nicht weniger will unser Korrekturgesetz. Deshalb widmet sich der erste Komplex der Abschaffung des Strafrechts durch die Anerkennung der Zusatz- und Sonderversorgungen nach den Maßgaben des Einigungsvertrages. Das ist für die einen viel, für andere wenig. Dessen sind wir uns bewußt.Viel ist es für die dem Strafrecht unterliegenden Rentnerinnen und Rentner, weil unser Lösungsansatz die Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung ohne Wenn und Aber, also bis zur allgemeinen Bemessungsgrenze, ist. Die allgemeine Bemessungsgrenze anzuwenden reicht unseres Erachtens völlig aus, in der DDR erzieltes Einkommen — um den Begriff zu nennen — zu „entprivilegisieren" . Da erübrigt sich ein Nachdenken über sogenanntes unwertes Einkommen. Diese Lösung ist auch untereiner gewissen Analogie zum Grundgesetzartikel 131 zulässig.Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden alle, die aus der Beamtenversorgung geworfen wurden, in der gesetzlichen Rentenversicherung ohne Abstriche nachversichert. Welchen vernünftigen Grund gibt es heute für die erheblichen Abstriche bei der Überführung der zum größten Teil auf Beitragsleistungen basierenden Zusatz- und Sonderversorgungsystemen der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik? Wo bleibt hier die Wertneutralität von Sozialrecht? Hier führte eindeutig Siegermentalität den Bleistift.Für die Angehörigen der technischen, wissenschaftlichen, medizinischen, künstlerischen und pädagogischen Intelligenz bleibt die Überführung bis zur allgemeinen Bemessungsgrenze eine enorme Schlechterstellung gegenüber ihren Berufskolleginnen und -kollegen im Westen. Deshalb setzen wir uns in unserem Entwurf auch dafür ein, daß in absehbarer Zeit bei vergleichbaren Berufsgruppen durch berufsständische, beamtenrechtliche oder betriebliche Aufstockungsregelungen in gewissem Maße Gerechtigkeit hergestellt wird. Ein sofortiges Plus hätten aber die Angehörigen der Intelligenz durch unseren Gesetzentwurf auch, indem die bisherigen Zahlbeträge nach DDR-Recht ohne Kappungsgrenze und dynamisiert und vor allem auch für Neurenten nach dem 1. Januar 1994, wie es der Einigungsvertrag vorsah, gewährt werden.Es kann doch wohl kein sozialer Frieden entstehen, wenn einerseits Teile der ehemals staatlich Bediensteten der DDR — ob nun Polizisten, Soldaten, Lehrerinnen und Lehrer, Behördenangestellte oder andere — noch tätig beamtet werden, andererseits aber die Rentnerinnen und Rentner aus solchen Berufsständen faktisch ausgegrenzt werden.Der zweite Komplex unseres Gesetzentwurfs ist Überführungslücken und -ungerechtigkeiten gewidmet, die überwiegend aus DDR-typischen, mit bundesdeutschen Verhältnissen nicht vergleichbaren Sachverhalten entstanden sind. Das sind Probleme, die wir zugestandenermaßen auch nicht auf den ersten Blick bei der Begutachtung des Renten-Überleitungsgesetzes gesehen haben. Einiges zeigte sich erst bei konkreten Rentenberechnungen, auf anderes wurden wir durch Betroffenenverbände hingewiesen.Dazu zählen u. a. die Anerkennung der Beschäftigungszeiten von Blinden- und Sonderpflegegeldempfängerinnen und -empfängern, die Berücksichtigung aller freiwilligen Beitragszahlungen, die Anerkennung des zweiten Bildungsweges, ein Ausgleich für vermindertes Bruttoeinkommen von Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Kindergärtnerinnen, gleiche Krankenversorgungsmodalitäten für Rentnerinnen und Rentner aus Sonderversorgungssystemen sowie die Gleichstellung von Dienstbeschädigtenrenten mit Unfallrenten.Vor allem liegt uns auch am Herzen, älteren Menschen, die durch die pauschale Umbewertung ihrer vormaligen Sozialversicherungs- und FZR-Renten benachteiligt wurden, eine Neuberechnungsmög-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994 19033
Petra Blässlichkeit zu eröffnen. Gerade für Frauen, die am Ende ihrer Berufstätigkeit teilzeitgearbeitet haben, ist die Umbewertung auf der Basis der letzten zwanzig Jahre ungünstiger gegenüber einer Neuberechnung über das ganze Arbeitsleben.Erst dieser Tage sind wir durch Betroffene auf eine weitere schwerwiegende Ungereimtheit hingewiesen worden. Sowohl DDR-Bürger, die in ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas studiert und gearbeitet haben, als auch eventuell deren Ehepartnerinnen und -partner gehen künftig ihrer dort erworbenen Rentenansprüche verlustig. Das hängt damit zusammen, daß für Rentenbeginn generell nach dem 31. Dezember 1996 und für Zusatz- und Sonderversorgungssysteme gar ab 1. Januar 1994 keine Vergleichsrente nach DDR-Recht mehr berechnet wird. Wenn also der Art. 2, das weitergeltende DDR-Recht, außer Kraft gesetzt wird, entfallen auch die nach DDR-Recht anerkannten rentenrechtlichen Zeiten, wozu — in § 19 unter Punkt 10 und 12 — die außerhalb der DDR erworbenen Anwartschaften gehören.Dieser und ähnlich gelagerte Fälle zeigen, daß der Vertrauensschutz es gebietet, den Katalog der rentenrechtlichen Zeiten der DDR in das SGB VI zu übernehmen. Für die Behandlung unseres Gesetzentwurfs in den Ausschüssen werden wir einen dementsprechenden ergänzenden Antrag vorbereiten.Drittens wollen wir durch eine eigenständige und zeitlich unbegrenzte Gewährung des Sozialzuschlags einen Anstoß für die Weiterentwicklung des bundesdeutschen Rechts geben. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die weitgehende Unvereinbarkeit von Familie und Beruf in der Bundesrepublik und die überwiegend nur beitragsbezogene Ausgestaltung des Rentenrechts führen zu massenhafter Altersarmut, die vor allem weiblich ist.Deshalb muß eine grundsichernde Regelung im Rentenrecht verankert werden. Akut ist das vor allem für die älteren Frauen im Westen notwendig; denn die meisten älteren Frauen im Osten haben noch den Bonus langer Berufstätigkeit. Wenn aus dem letzten Rentenbericht der Bundesregierung zu entnehmen ist, daß über die Hälfte der Altersrenten von Frauen im Westen unter 600 DM liegt, ein Viertel gar unter 300 DM mit einem Durchschnitt von 194 DM, ist die Zahl der Frauen, die im Osten zu ihrer Rente einen Sozialzuschlag erhalten, mit rund 150 000 verschwindend gering. Aber die Zahl derer, die künftig die Rente mit Sozialhilfe aufstocken müssen, wird auch hier steigen. Zwar repariert die großzügige Witwenrentenregelung einiges, doch gerade in der DDR hatten viele Frauen, auf die bestehenden sozialen Regelungen bauend, einen anderen, eigenständigen Lebensplan.Unser Vorschlag einer grundsichernden Regelung im Rentenrecht soll das leistungsbezogene Versicherungssystem nicht zerschlagen, sondern ergänzen. Wer sich dem entgegenstellt, will Armut nicht als sozialpolitische Realität in dieser reichen Bundesrepublik akzeptieren.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die eigentliche Ursache der vielfältigen Kalamitäten bei den Renten ist dem Umstand geschuldet, daßungeachtet der jahrzehntelangen unterschiedlichen sozialen Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands das Rentenrecht der Bundesrepublik mit einem Schlag den Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR übergestülpt wurde, anstatt die historische Chance des Vereinigungsprozesses zu nutzen und in Ruhe ein neues, sozial gerechteres Rentenrecht für die Bundesrepublik insgesamt zu schaffen.Wir appellieren zum wiederholten Male: Schieben Sie die betagten und behinderten Bürgerinnen und Bürger nicht auf die lange Bank der Sozialgerichtsbarkeit, um auf diesem beschwerlichen und kostspieligen Weg eine Veränderung des Renten-Überleitungsgesetzes einfordern zu lassen! Handeln Sie hier und heute, und korrigieren Sie das Renten-Überleitungsgesetz grundlegend! Trennen Sie eindeutig Sozial- und Strafrecht, schließen Sie Überführungslücken und -ungerechtigkeiten! Sichern Sie die Existenz der Renten aller Bürgerinnen und Bürger in Ost und West!Ich danke.
Als nächster hat nun der Kollege Heinz Rother das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was liegt uns allen mehr am Herzen, als unseren älteren Bürgern einen sorgenfreien Lebensabend zu schaffen?
Ich meine, ja ich bin fest davon überzeugt, mit dem Renten-Überleitungsgesetz ist uns das auch gut gelungen. Denn es wurde mit viel Sorgfalt und großen Überlegungen erarbeitet. Die Aspekte aller Seiten sind eingebracht und berücksichtigt worden.Ich verstehe zwar Ihre Beweggründe, meine Damen von der PDS/Linke Liste, dieses Korrekturgesetz einzubringen, betrifft es doch besonders Ihren Bekannten- und Verwandtenkreis.
Sehen Sie, in meinem Verwandtenkreis hat man zu DDR-Zeiten trotz 40 Arbeitsjahren nur eine Rente von 350 Mark der DDR erhalten, und der Kreis der Menschen mit Mindest- und Niedrigrenten war sehr groß. Das haben wir, meine Damen und Herren, doch wohl noch nicht vergessen?Ich glaube, ich muß Ihnen einfach die grundlegende Situation noch einmal verdeutlichen.
Am 30. Juni 1990, dem Tag vor der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, betrug die verfügbare Standard-Ostrente im Vergleich zu den Westrenten zwischen 29 % und 37 %.
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19034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. April 1994
Heinz Rother— Lassen Sie mich bitte ausreden; Sie werden hören, worauf ich hinaus will. — Zum 1. Januar 1994 betrug das Verhältnis Ost- zu Westrenten 75 %. Bei den Renten der Frauen haben die Ostrentnerinnen mittlerweile die Westrentnerinnen sogar überholt.
Es ist uns somit gelungen, in einer relativ kurzen Zeit eines der fortschrittlichsten Rentensysteme der Welt auf die neuen Bundesländer zu übertragen, ein System, bei dem man hier im Westen 40 Jahre brauchte, um es in seiner heutigen Form zu erreichen.Ich behaupte, ja, ich weiß aus einer Vielzahl von Gesprächen, daß es der ganz überwiegenden Mehrheit der Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern heute so gut geht wie nie zuvor. Und da kommen Sie und behaupten, das Rentenüberleitungsrecht setze alles daran, die in der DDR erworbenen Rentenansprüche dem bundesdeutschen Recht unterzuordnen. Ich glaube, in Anbetracht der vorher von mir geschilderten Entwicklung führt sich dieser Vorwurf von selbst ad absurdum.Auch Ihr Vorwurf, hier sei das Sozialrecht als politisches Strafrecht mißbraucht worden, wird durch die ständige Wiederholung nicht richtiger. Wenn Sie uns schon nicht glauben wollen, so bitte ich Sie, doch wenigstens die Meinung eines unabhängigen Gerichts zur Kenntnis zu nehmen. Aus der mittlerweile ja allseits und — wie ich annehme, wenn Sie sich ernsthaft mit dem Problem beschäftigt haben — auch Ihnen bekannten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 27. Januar 1993 darf ich kurz zitieren:Hauptziel der Vorschriften des AAÜG ist dabei, alle Anspruchselemente auszusondern, die nicht auf volkswirtschaftlich sinnvoller Arbeit, sondern sachfremd auf politischer Begünstigung durch das Regime beruhen.Auch Ihr Vorwurf, daß dies alles unter Mißachtung des Einigungsvertrages geschehen sei, entbehrt jeder Grundlage. In der von Ihnen zitierten Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9 heißt es ausdrücklich:... wobei ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen sind .. .Nichts anderes ist im Rahmen des Renten-Überleitungsgesetzes geschehen.Der Grundgedanke ist und bleibt richtig, daß sich ungerechtfertigte Vorteile auf Grund der politischen Nähe zum System gegenüber den systemkritischen Menschen nicht auch noch im Alter fortsetzen dürfen.
Herr Kollege Rother, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Höll?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, ich kann nicht auf alle Ihre Widersprüche hier eingehen, ich hätte aber eine Frage: Wie bewerten Sie die Aussagen u. a. Ihres Fraktionskollegen Herrn Eppelmann auf einer gemeinsamen Veranstaltung beim Bundeswehrverband vor Vertretern aller Parteien, daß dieses Renten-Überleitungsgesetz offensichtlich Elemente des politischen Strafrechts enthält?
Vielleicht als Meine Illustrierung ein Fall, der mir in Leipzig unterkam und der von Ihrem Kollegen Herr Dr. Pohler vor 300 bis 400 Personen in einem Saal ebenfalls als politisches Strafrecht und sogar als Sippenhaft klassifiziert wurde: Zwei Kinder unter 14 Jahren, Vollwaisen, verwaist durch einen Verkehrsunfall ihrer Eltern 1990, sind inzwischen von der pauschalen Rentenkürzung betroffen, und sie werden davon betroffen sein, bis sie keinen Anspruch mehr auf Kindergeld haben. Sie sind von jeglicher Steigerung ausgeschlossen. Ich denke, die Kinder können nichts für die Berufswahl ihres Vaters, der beim Ministerium für Staatssicherheit gedient hat. Ich weiß nicht, wie für Sie dann solche Argumentationen mit dem von Ihnen Gesagten übereinstimmen. — Dies nur als kleine Möglichkeit, hier vielleicht eine Richtigstellung vorzunehmen.
Zunächst darf ich Ihnen sagen, daß wir gerade diese Problematik sehr häufig in der Arbeitsgruppe beraten und besprochen haben. Diese Meinung des Herrn Eppelmann bzw. des Herrn Pohler sind ihre Meinungen und nicht die Meinungen der gesamten CDU/CSU-Fraktion. Das möchte ich dazusagen.
Im übrigen ist auch mir bekannt, daß es durchaus einzelne Härtefälle gibt. Auch mein Bemühen ist es — das habe ich hier mehrfach schon zum Ausdruck gebracht —, daß hier eine Einzelfallprüfung vonnöten ist. Diese Einzelfallprüfung grundsätzlich für alle Fälle durchzuführen ist zur Zeit nicht möglich. Denn Sie wissen wie auch ich, daß die Rentenversicherungsträger zur Zeit durch die Neuberechnungen der Renten enorm belastet sind. Solche Einzelfälle — das erkenne natürlich auch ich an — sind dann natürlich zu prüfen. Ich sehe auch, daß die Kinder in dem von Ihnen genannten Fall nichts für ihre Eltern können. Da gebe ich Ihnen natürlich recht.Ich wiederhole: Der Grundgedanke ist und bleibt richtig, daß sich ungerechtfertigte Vorteile auf Grund der politischen Nähe zum System gegenüber den systemkritischen Menschen nicht auch noch im Alter fortsetzen dürfen. Dies wäre geradezu eine Verhöhnung aller Menschen, die wegen ihrer kritischen Haltung die vielfältigsten Schikanierungen und Benachteiligungen, besonders auch bei der Rente, in Kauf nehmen mußten.Die davon Betroffenen werden nun im Rentenrecht nicht besser und nicht schlechter behandelt als der Durchschnitt aller ehemaligen DDR-Bürger. Dies ist keine Strafe, sondern lediglich eine Gleichstellung
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Heinz Rothermit den Bürgern, die sich dem Regime nicht angedient haben.Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß wir uns mit dieser Meinung in Übereinstimmung mit der ganz überwältigenden Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger befinden, und zwar in Ost und West.
Nach einer Repräsentativumfrage der Infas-Sozialforschung zum Thema Zusatz- und Sonderversorgung vertreten rund drei Viertel der Befragten in Ost und West die Meinung, daß für die Zeit, in der Personen Spitzenpositionen in Staat und Wirtschaft innehatten, nicht mehr als die durchschnittliche Rente aller Arbeitnehmer gezahlt werden sollte.Als ungerecht bewertet die überwältigende Mehrheit auch, wenn hohe Einkommen aus politisch bedeutsamen Tätigkeiten zu hohen Renten führen, während andere Bürger auf Grund ihrer kritischen Haltung zum politischen System keine Karriere machen konnten und deshalb auch geringere Renten zu erwarten haben. Auch hier, meine Damen und Herren von der PDS, bewegen Sie sich meilenweit entfernt von den Wünschen der Bürger, die offenbar ein wesentlich besseres Gespür als Sie dafür haben, was gerecht ist und was nicht.Schließlich sollte auch noch die Kostenfrage Ihres Gesetzentwurfes angesprochen werden.Die von Ihnen verlangten Änderungen würden allein für die gesetzliche Rentenversicherung im Jahr 1995 zu Mehraufwendungen von ca. 100 Millionen DM führen. Für den Bund würden sich 1995 Mehraufwendungen von ca. 307 bis 344 Millionen DM ergeben, 20 Millionen DM Bundeszuschuß, 75 bis 112 Millionen DM auf Grund der Änderungen im AAÜG, 12 Millionen DM für die Überführung der Dienstbeschädigtenrenten und 200 Millionen DM für die Neuregelung des Sozialzuschlages.Die Aufwendungen für den Bund würden sich wegen der Nachzahlungen auf Grund der Änderungen des AAÜG insgesamt um weitere 750 Millionen DM erhöhen. Langfristig dürfte die Mehrbelastung insbesondere auf Grund der Änderungen des AAÜG auf ca. 1,2 Milliarden DM im Jahr ansteigen.
Herr Kollege Rother, es gibt noch einmal den Wunsch nach einer Zwischenfrage: vom Kollegen Ullmann.
Herr Kollege Rother, da Ihnen die Opfer der SED-Herrschaft so sehr am Herzen liegen, möchte ich Sie fragen: Warum hat es dann Ihre Fraktion in der Koalition hingenommen, daß die Opferentschädigungen derart niedrig sind, daß z. B. Herr Stoph eine sehr viel höhere Haftentschädigung bekommt als diese Opfer?
Sehen Sie, Herr Ullmann, da bewegen wir uns genau wieder an dem Punkt, wo
es um das Geld geht. Wir würden ja liebend gern allen Opfern weitaus mehr zukommen lassen,
wenn es finanziell möglich wäre. Aber es ist an dieser Stelle nun einmal nicht möglich.
— Sehen Sie, in Anbetracht der allgemeinen schwierigen finanziellen Situation sind diese Forderungen völlig illusorisch. Auch in Anbetracht der riesigen sozialen Aufgaben, die auf anderen Gebieten auf uns zukommen, müssen in Zeiten knapper Finanzen Prioritäten gesetzt werden.
Ich glaube, dieser Bundesregierung ist das bisher vorzüglich gelungen.
In Abwandlung eines Wortes von Aristophanes sage ich öfter: Auch von der Opposition kommt häufig ein guter Rat. Dieses Korrekturgesetz, meine Damen und Herren von der PDS/Linke Liste, ist aber keiner.
Als nächstes hat nun die Kollegin Ulrike Mascher das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Überschrift über diese Debatte könnte ja heißen: Das Renten-Überleitungsgesetz — eine unendliche Geschichte. Ich denke, sie ist für viele Betroffene auch eine schmerzhafte Geschichte.Herr Rother, ich möchte Sie nur daran erinnern — weil Sie über die Vorzüge des westdeutschen Rentensystems so schmückende Worte gefunden haben —, daß wir zusammen mit dem Renten-Überleitungsgesetz auch eine einstimmige Entschließung beschlossen haben, die fordert, daß wir Entwürfe zur Bekämpfung der Altersarmut vorlegen. Also auch das vorzügliche Rentensystem der westdeutschen Bundesrepublik hat es nicht vermocht, Altersarmut, insbesondere von Frauen, wirksam zu bekämpfen. Ich denke, da haben wir noch eine ganze Menge Lükken.
Aber wir reden heute vom Renten-Überleitungsgesetz. Die Altersarmut werden wir hoffentlich mit
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Ulrike Mascheranderen Mehrheiten in der nächsten Legislaturperiode wirksam bekämpfen.
Für viele Betroffene ist das Renten-Überleitungsgesetz eine schmerzhafte Erfahrung gewesen. Das zeigt sich auch darin, daß alle Fraktionen, alle Mitglieder des Bundestages immer wieder Briefe und Petitionen erhalten haben und aufgefordert werden, Regelungen des RentenÜberleitungsgesetzes, die als ungerecht empfunden werden, im Interesse der Betroffenen zu ändern.
— Ich denke, auch Herr Rother bekommt sie, aber er liest sie vielleicht etwas anders.
Die SPD jedenfalls hat bereits ein Rentenüberleitungs-Korrekturgesetz durchgesetzt, und wir wollen auch weitere Korrekturen am Renten-Überleitungsgesetz.
Die SPD ist bei ihren Überlegungen und Entscheidungen zum Renten-Überleitungsgesetz von folgenden Grundpositionen ausgegangen: erstens, der Respektierung der gewachsenen sozialen Besitzstände im Rentenrecht der DDR, z. B. der Bewertung von Kindererziehungszeiten als Anerkennung der Lebensleistung der betroffenen Frauen, zum zweiten der Respektierung der Entscheidung der Volkskammer — wenn ich richtig informiert bin: aller Fraktionen der Volkskammer — im Jahre 1990, ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen bei Renten aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen abzubauen. Ich denke, dieser Teil der Vorgeschichte des Renten-Überleitungsgesetzes sollte auch nicht unterschlagen werden.
Die dritte Grundposition ist die Beachtung des Grundsatzes der Trennung von sozialrechtlichen Sachverhalten und Sanktionen, die im Bereich des Strafrechts ihren Ort haben.
Leider standen die Beratungen zum Renten-Überleitungsgesetz 1991 unter einem unglaublichen Zeitdruck. Ich denke, wir haben versucht, sorgfältig zu arbeiten, Herr Rother. Aber ich muß sagen, ich war als Neuling im Bundestag erschrocken, mit welchem Tempo und mit welchem Zeitdruck ein so schwieriges Gesetzesvorhaben durchgeboxt wird.
Sie wissen auch, daß die SPD einen Vorschlag gemacht hat, der uns ein Jahr mehr Zeit geboten hätte und der trotzdem die Interessen der betroffenen Rentner berücksichtigt hätte. Das war aber mit Ihnen leider nicht durchzusetzen, weil wir damals und jetztimmer noch keine Mehrheit haben. Aber, wie gesagt, ich denke, das wird sich ändern.
Die Regierungskoalition wollte das westdeutsche System dem ostdeutschen System so rasch wie möglich überstülpen und die Entscheidungen der Volkskammer drastisch verschärfen, um durch das Rentenrecht eine politische Ablehnung der DDR-Staatlichkeit zu dokumentieren.
-- Das ist meine Bewertung.Die SPD hat versucht, dieses Konzept der Regierungsmehrheit zu korrigieren. Wir haben beim Renten-Überleitungsgesetz und bei dem von uns durchgesetzten Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz eine ganze Reihe substantieller Verbesserungen erreicht: Die Sozialzuschläge zu den Renten, die nach dem Willen der Bundesregierung entfallen sollten, werden bis zum 1. Dezember 1996 weitergeführt. Damit ist die Chance eröffnet worden, daß ab 1997 an Stelle der auslaufenden Sozialzuschläge im Osten eine soziale Grundsicherung tritt, die dann im Osten wie im Westen gilt und hoffentlich vor allen Dingen die Armut von Frauen im Alter wirksam bekämpft.Die Anwartschaften, die nach dem alten Recht in den neuen Bundesländern bis zum 31. Dezember 1991 entstanden waren, bleiben für alle Berechtigten garantiert, die bis zum 31. Dezember 1996 neu in Rente gehen. Nach dem ursprünglichen Entwurf der Bundesregierung sollte der Bestandschutz für Neuzugänge bereits am 1. Juli 1995, also eineinhalb Jahre früher, enden.Bei der Umrechnung der Sonder- und Zusatzrenten der ehemaligen DDR in Renten nach bundesdeutschem Recht wollte die Bundesregierung ursprünglich alle Arbeitsverdienste nur maximal pauschal in Höhe des Durchschnittsverdienstes berücksichtigen. Die SPD konnte bereits beim Renten-Überleitungsgesetz 1991 erreichen, daß diese Kappung zunächst auf die früheren Beschäftigten in leitender Stellung in staatsnaher Tätigkeit beschränkt wurde. Mit dem Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz wurde der noch verbliebene Fallbeileffekt bei den Angehörigen von staatsnahen Systemen wesentlich gemildert. Die Berechtigten der Zusatzversorgung der Intelligenz waren dank der Bemühungen der SPD von vornherein von der Begrenzung nicht betroffen.Ursprünglich wollte die Bundesregierung die Zahlbeträge an alle Berechtigten aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR pauschal auf 1 500 DM kürzen. Die SPD konnte beim RentenÜberleitungsgesetz 1991 erreichen, daß diese Grenze auf 2 010 DM erhöht wurde. Mit dem Korrekturgesetz von 1993 haben wir eine weitere Erhöhung auf 2 700 DM erreichen können. Außerdem wurden mehrere Teilgruppen der ehemaligen Mitarbeiter des Staatsapparats völlig aus der Entgeltpunktbegrenzung herausgenommen: Schuldirektoren, Leiter bestimmter Bildungseinrichtungen, Beschäftigte auf der Ebene der Kreise, Gemeinden und Städte. Das
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Ulrike Mascherbetriebliche Versorgungswerk des ehemaligen VEB Zeiss-Jena wurde ebenfalls in die gesetzliche Rentenversicherung übernommen. Ich denke, man muß sich auch das immer wieder vor Augen halten, weil hier doch eine ganze Menge an Korrekturen geschehen ist.Wir wissen, daß mit diesen Korrekturen nicht alle Mängel und Ungerechtigkeiten des Renten-Überleitungsgesetzes ausgeräumt werden konnten. Deshalb wird die SPD nach der Bundestagswahl unter hoffentlich veränderten Mehrheitsverhältnissen das RentenÜberleitungsgesetz erneut überprüfen und notwendige Korrekturen vornehmen. Ich denke, es hat bei der Haltung der Regierungsmehrheit derzeit keinen Sinn, solche Anstrengungen in diesen Monaten zu unternehmen.Für diese Initiative, Frau Bläss, halten wir es aber auch für notwendig — und zwar nicht, weil wir abwarten wollen, daß es hier eine biologische Lösung gibt, sondern aus Rechtssicherheitsgründen —, daß wir wissen, wie das Bundesverfassungsgericht die anhängigen Klagen entscheidet. Wir wollen also Korrekturen, aber wir wollen sie dann auch im Rahmen der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen vornehmen.
Das Ganze — der Korrektheit halber muß man auch das sagen — muß dann auch noch finanziert werden. Sie wissen genausogut wie ich, daß die Finanzierung für Mehraufwendungen bei den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR zwischen dem Bund und den ostdeutschen Ländern geteilt werden muß. Ich will mich damit nicht aus der notwendigen Korrektur herauswinden. Aber ich denke, auch das muß man bei der Frage „Was kann da geschehen?" beachten.Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf einen ganzen Katalog aller denkbaren Verbesserungen im Bereich des RentenÜberleitungsgesetzes vor. Das ist für das Jahr 1994 natürlich ein verlockendes Angebot. Ob es auch ein seriöses Angebot ist, das werden wir im Ausschuß — das kann ich Ihnen versprechen — gründlich prüfen. Ob wir angesichts der wenigen Zeit bis zum Oktober 1994 hier noch eine Verabschiedung erreichen werden und ob es uns gelingt, noch einmal wie bei dem Rentenüberleitungs-Korrekturgesetz die Regierungsmehrheit zu Zugeständnissen zu bewegen, dahinter mache ich ein großes Fragezeichen. Monate vor der Wahl sind, glaube ich, keine sehr gute Zeit, um solch ein schwieriges Thema anzupacken.Eines möchte ich aber noch einmal feststellen: Wenn das Renten-Überleitungsgesetz 1991 nicht unter einem derartigen Zeitdruck durchgeboxt worden wäre und wenn den Vorschlägen und den Bedenken der SPD besser Rechnung getragen worden wäre, dann hätten wir uns diesen Antrag von seiten der PDS, aber möglicherweise auch die Klagen vor dem Verfassungsgericht, ersparen können. Ich würde mir wünschen, daß wir solche schwerwiegenden, solche umfangreichen Gesetzgebungswerke nicht in dieser Hast durchziehen und damit nicht die handwerklichen Fehler, die dabei einfach passieren, in Kauf nehmen müssen, welche dann zu Lasten der Betroffenen gehen.Fazit: Die SPD wird sich für Korrekturen einsetzen. Wir sehen im Moment noch keine Mehrheiten für deren Durchsetzung. Aber wir können allen Betroffenen versprechen, daß wir das Ganze ernsthaft prüfen werden.Danke.
Als nächster hat nun der Kollege Professor Christoph Schnittler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das RentenÜberleitungs- und das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz sind eine Rechtsmaterie, die in vielerlei Hinsicht schwierig und konfliktreich ist. Um sich ihr zu nähern, bedarf es der Fachkenntnis, darüber hinaus aber auch der Nachdenklichkeit, um so mehr, als immer auch die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit im Hintergrund steht.Fachkenntnisse waren bei der Erarbeitung dieser Gesetze ohne Zweifel vorhanden. Auch hat es an nachdenklichen Stimmen aus dem Lager der Sozialpolitiker keineswegs gefehlt. Es war vor allem mein Kollege und der damalige sozialpolitische Sprecher der F.D.P.-Bundestagsfraktion Dieter-Julius Cronenberg, der nicht müde wurde, vor politisch motivierten Rentenabsenkungen zu warnen. Denn Rentenrecht ist wertneutral und verträgt schon gar keine politische Bewertung. Gewarnt hat er vor allem vor einer pauschalierenden Absenkung ohne Einzelfallprüfung. Zwangsläufig sind dadurch viele Menschen betroffen, die eine gute berufliche Arbeit geleistet haben und eher zufällig die Voraussetzungen für eine solche Absenkung erfüllen, ohne daß sie je dem SED-Regime wirklich nahegestanden hätten.
Nun will ich hier ein Gegenargument nicht einfach vom Tische wischen: Viele Abgeordnete, insbesondere aus den neuen Bundesländern, wollten einfach verhindern, daß das sozialistische Privilegiensystem sich im Rentenrecht fortsetzt. Unter dem Eindruck der verheerenden Auswirkungen von 40 Jahren Sozialismus sind sie — durchaus im Bemühen um Gerechtigkeit; das will ich Herrn Rother sehr gerne zugestehen — der Versuchung erlegen, Rentenansprüche politisch bewerten zu wollen. Heute, fast fünf Jahre nach der Wende, sehen wir deutlicher, daß das so nicht geht.Deshalb will ich hier sehr deutlich sagen, daß eine pauschale Rentenabsenkung für ganze Personengruppen ohne Einzelfallprüfung nicht der richtige Weg sein kann, mit unserer DDR-Vergangenheit umzugehen.
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Dr. Christoph Schnittler— Liebe Frau Enkelmann, seien Sie bitte so nett und lassen Sie mich hier meine Meinung zum Ausdruck bringen. Ich meine, daß ich damit auch für viele meiner Kollegen, insbesondere aus den neuen Bundesländern, spreche.Veränderungen im Rentenrecht für die neuen Länder müssen sich aber streng an den tragenden Prinzipien des Rentenrechts in der Bundesrepublik Deutschland ausrichten. Dies bedeutet, daß an der Lohn- und Beitragsbezogenheit der Renten, natürlich unter spezieller Berücksichtigung der Bedingungen in der DDR, festzuhalten ist.Tragendes Prinzip unserer Rentenversicherung ist auch, daß sich die maximale Rentenhöhe an der Beitragsbemessungsgrenze orientieren muß. Ich meine, daß wir uns in dieser Beziehung zumindest auch mit der SPD einig sind, obwohl wir keineswegs glauben, daß alle guten Dinge im Rentenrecht für die neuen Länder etwa von der SPD gemacht worden wären.
Gewiß kann den Beitragszahlern in Ost- und Westdeutschland keinesfalls zugemutet werden, daß sie mit ihren Beiträgen für Renten in einer Höhe aufkommen müssen, wie sie diese wegen der geltenden Bemessungsgrenzen später selbst niemals erreichen können.Natürlich sehen wir auch die Problematik derjenigen Anspruchsberechtigten, die in der ehemaligen DDR in vergleichbarer Weise tätig waren wie Beamte oder Angehörige des öffentlichen Dienstes in der Bundesrepublik. Die gravierenden Unterschiede in ihren Altersbezügen lassen sich natürlich aus der Rentenkasse nicht bezahlen; das erlaubt schon der Generationenvertrag nicht. Hier müssen die neuen Bundesländer in die Pflicht genommen werden, deren Haushalte ja von Pensionsleistungen vorerst noch unbelastet sind.Es ist für mich etwas erstaunlich, daß gerade die PDS mit einem umfangreichen Forderungskatalog hervortritt,
war es doch Ihre Vorgängerpartei, die verschuldet hat, daß in der sterbenden DDR alle Kassen leer waren — bis auf Ihre Parteikasse allerdings.
Gewiß nicht Ihnen zuliebe stelle ich hier fest: Unter Berücksichtigung aller von mir genannten Umstände und der beim Bundesverfassungsgericht im übrigen anhängigen Verfahren müssen wir zu Beginn der nächsten Legislaturperiode überprüfen, welche Veränderungen des Renten-Überleitungsgesetzes notwendig sind.
Ich denke, es bestehen gute Aussichten, daß wir dies auch in dieser Koalition erreichen können.
Wenn das möglich ist, meine Damen und Herren, dann hat die Sache noch einen Vorteil: Sie bleibt sogar bezahlbar.Danke schön.
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Hauptunruheherde gibt es in der Bevölkerung Ostdeutschlands — das ist allgemein bekannt —: Der eine ist die Eigentumsfrage, der andere, Herr Rother, sind die Renten.
Jedes beliebige Bürgergespräch, jedes Bürgertelefon zeitigt dieses Ergebnis. Insofern hat die Initiative der PDS einen guten Grund.
Darum hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser Sache eine Große Anfrage an die Regierung gerichtet. Aber eben darum muß ich jetzt auch gleich sagen: Diese hochbedeutsame, aber auch hochkomplexe Angelegenheit in einer halben Stunde zu diskutieren ist unangemessen.
Das Kernproblem ist allerdings ganz klar formulierbar: Es sind die Rentenkürzungen wegen sogenannter System- oder Staatsnähe. Schon daß diese beiden Wörter synonym gebraucht werden können, meine Damen und Herren, zeigt, wie weit wir mit ihnen auch nur von den Mindestbedingungen der Normenklarheit entfernt sind. Das ist schon seit Anfang der Arbeit am Renten-Überleitungsgesetz geltend gemacht worden. Die verfassungsrechtliche Bedenklichkeit dieser Kategorien ist, Herr Rother, gerade neuerlich durch ein ganz anderes BSG-Urteil über die Stasi-Renten öffentlich sichtbar geworden. Dennoch halte ich den in der Kritik der Rentenkürzung gebrauchten Begriff des Rentenstrafrechts für unangebracht und sachlich unzutreffend, handelt es sich doch gerade nicht um eine individuelle Bestrafung, sondern eine pauschale
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Dr. Wolfgang UllmannDiskriminierung von ganzen Berufsgruppen aus politischen Motiven.
Gesetzgeberische Aufgabe, und zwar jetzt schon unabhängig von allen Koalitionsperspektiven, die es da geben mag, kann darum nur sein, diese Diskriminierung so schnell wie möglich — denn es ist eine Rechtsforderung — zu beseitigen und allenfalls eine Korrektur der Rentenhöhe dort vorzunehmen, wo in der DDR politisch bedingt überhöhte Einkommen gezahlt wurden.Wenn ich Sie richtig verstanden habe, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, sind auch Sie dieser Meinung, wenn ich Ihren Entwurf richtig gelesen habe. Der PDS-Entwurf freilich — das ist soeben von der Kollegin Bläss auch bestätigt worden — geht viel weiter und verspricht, ein neues sozial gerechteres Rentenrecht für die ganze Bundesrepublik zu schaffen, obwohl sich — das muß man doch auch sagen, liebe Kollegin — der Gesetzentwurf im wesentlichen mit der Neuregelung von Renten ehemaliger DDR-Bürger und -Bürgerinnen beschäftigt.Gegen die Art, wie Sie das tun, habe ich aber zwei Einwände. Ich glaube, Ihr Entwurf vergißt eines völlig, nämlich daß die Basis der Rentenüberleitung gar nicht der Einigungsvertrag ist — der ist schon eine Konsequenz —, sondern die Währungsunion vom 1. Juli 1990 und ihre gesetzliche Ausgestaltung im Bereich des Rentenrechtes in Art. 20 des Staatsvertrages. Dieser ist mit überwältigender Mehrheit in der Volkskammer der DDR beschlossen worden.Ob das gut war und ob wir dem zustimmen, ist doch eine ganz andere Frage. Das ist geltendes Recht. Das kann man jetzt nicht mehr aushebeln. Ich denke, man sollte das auch gar nicht tun, denn das würde zu einer völligen Verwirrung führen. Dort steht, es geht um die uneingeschränkte Übernahme des Rentenversicherungsrechtes der Bundesrepublik Deutschland. Das ist geschehen, und zwar in der DDR.Der zweite Einwand ist nun schwerwiegender. Der PDS-Entwurf erweckt Hoffnungen, die er niemals zu erfüllen in der Lage sein wird.
Frau Bläss, ich kann nun wirklich nicht verstehen, daß Sie sich auf den Weg von Helmut Kohl begeben und blühende Landschaften versprechen,
wo nur der Rentenalltag im neuen, gemeinsamen Haus aller Deutschen zu erwarten steht. So ist es doch.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird schon nächste Woche einen Antrag vorlegen, der den hier aufgestellten Bedingungen genügen soll.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/6217 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu eventuell irgendwelche anderweitigen Vorschläge? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. April 1994, 9 Uhr ein.
Ich wünsche einen wunderschönen guten Abend. Die Sitzung ist geschlossen.