Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, bestürzt und in großer Betroffenheit haben wir gestern die Nachricht erhalten, daß in Schanghai drei Todesurteile an jungen Menschen durch Erschießen vollstreckt worden sind. Mit Entsetzen sehen wir in diesen grausamen Hinrichtungen einen weiteren Höhepunkt der Verfolgungen, die ganz China überziehen und die Ausdruck von Willkür und Menschenverachtung sind. Junge Menschen taten nichts anderes, als ihr natürliches Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung einzufordern.
Der Deutsche Bundestag appelliert an die gegenwärtige politische Führung Chinas: Lassen Sie ab von Verhaftungen, von Folter und Erschießungen! Auch im Gedenken an diese Opfer werden wir heute nachmittag über einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen debattieren.
Auf der Tribüne hat der Speaker des Unterhauses der Republik Indien, Herr Dr. Bal Ram Jakhar, mit einer Delegation von Mitgliedern beider Häuser des indischen Parlaments Platz genommen.
Im Namen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Besuch unterstreicht die guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Parlamenten. Ich wünsche Ihnen nützliche und interessante Gespräche sowie noch einen angenehmen Aufenthalt in unserem Lande.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat beantragt, die heutige Tagesordnung um die Anträge zur Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht" und zur Aufstockung des Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen — Drucksachen 11/4838 und 11/4841 — zu erweitern.
Wir kommen zur Abstimmung über den Erweiterungsantrag der Fraktion der SPD. Wer stimmt für diesen Antrag?
— Sie möchten ihn erst begründen? — Dann erteile ich zunächst der Abgeordneten Frau Schmidt das Wort zu diesem Antrag.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Guten Morgen, liebe Kollegen und liebe Kolleginnen!
— Guten Morgen!
— Ich finde, um diese Zeit darf man das sagen. — Ich habe diese beiden Anträge gestern in der Debatte zu Tagesordnungspunkt 5 bereits erwähnt. Wir haben einen Fehler gemacht: Wir haben diese Anträge am Dienstagabend nicht rechtzeitig um 18 Uhr eingereicht. Ich glaube, solche Fehler sind anderen auch schon unterlaufen. Bisher war es bei solchen Versehen üblich, daß man sich interfraktionell geeinigt und solche Anträge — vor allen Dingen bei diesem Thema — auf die Tagesordnung genommen hat.Daß das bisher noch nicht geschehen ist, habe ich gestern noch auf die Überreiztheit, auf die Eile in den letzten Sitzungswochen und auf unsere lange Tagesordnung geschoben. Ich habe dafür Verständnis gehabt, weil ich dachte, das ginge heute morgen ohne irgendwelche Schwierigkeiten. Allein an Ihrer Präsenz aber sehe ich, daß diese Schwierigkeiten offensichtlich zu erwarten sind.Wir beantragen, daß diese beiden Anträge auf die Tagesordnung genommen und ohne Debatte an die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden. Wir haben gestern und in den Beratungen zum Antrag der CDU/CSU und zu unseren Anträgen deutlich gemacht, daß wir glauben, daß nur eine Stiftung den vergessenen Opfern der Nationalsozialisten tatsächlich helfen kann. Wir waren uns nicht nur in der SPD, sondern nach dem, was der Kollege Lüder gesagt hat, offensichtlich auch darüber hinaus einig, daß für diejenigen, die als Nationalgeschädigte bezeichnet werden und die bisher vom Hohen Flüchtlingskommissar Entschädigungen erhalten haben, der Fonds aufgestockt werden soll.Die beiden Anträge wenden sich genau in diese Richtung. Ich könnte es nicht verstehen, wenn dieser
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Frau Schmidt
Antrag abgelehnt wird, in meinen Augen aus Kleinkariertheit, in meinen Augen aus einer Art Rechthaberei, in meinen Augen diesem Thema in keiner Weise angemessen. Wir waren uns bisher in der Ernsthaftigkeit unserer unterschiedlichen Bemühungen einig, daß wir etwas für diese Opfer tun wollen. Wir möchten dieses Thema weiter in der Diskussion halten. Sie wissen, daß wir diese Anträge auf jeden Fall einbringen werden. Sie wissen auch, daß wir diese Anträge auf jeden Fall diskutieren werden. Sie sollen auch wissen, daß wir bei diesem Thema auf keinen Fall nachlassen werden.Wir bitten um Ihre Zustimmung zur Aufsetzung auf die Tagesordnung.
Das Wort hat nun der Herr Abgeordnete Gerster.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die CDU/CSU stimmt gegen diesen Antrag, und zwar nicht, Frau Kollegin, weil ein Fehler passiert ist; den würden wir natürlich mit korrigieren. Fehler können passieren, auch der, daß man Fristen versäumt. Auch die Nichteinhaltung der Frist bis zur Debatte gestern — wir haben ja gestern 90 Minuten über dieses Thema geredet — wäre für uns kein Anlaß, Ihrem Antrag nicht zuzustimmen.
Aber das Problem ist ja ein ganz anderes. Meine Damen, meine Herren, wir haben zu Beginn dieser Wahlperiode für Opfer des NS-Unrechtsregimes einen neuen Härtefonds von 300 Millionen DM geschaffen. Wir haben im Laufe der Zeit festgestellt, daß das, was wir mit diesem Härtefonds regeln wollen, wegen sehr stringenter Richtlinien nicht so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben. Deswegen haben wir durch intensive Beratung im Unterausschuß und im Innenausschuß versucht, eine Verbesserung der Richtlinien zu erreichen. Exakt dies hat gestern der Bundestag beschlossen.
Was die Sozialdemokraten jetzt wollen, ist nichts anderes, als ihren ursprünglichen Antrag wieder aufleben zu lassen. Sie wollen statt dieses Härtefonds eine eigene Stiftung. Wir haben damals eine solche Stiftung abgelehnt, weil sie sehr kompliziert ist, so daß die Opfer noch länger auf Wiedergutmachung warten müßten.
Sehen Sie, Frau Kollegin, da wir angekündigt haben — das wissen Sie auch —, daß wir im September noch einmal in eine Überprüfung eintreten wollen und möglicherweise die Richtlinien noch einmal verbessern wollen, ist Ihr Antrag heute doch nichts anderes als ein gewisser Schaufensterantrag.
— Es ist keine Unverschämtheit, Herr Jahn.
— Herr Jahn und Frau Schmidt, es ist wirklich eine Show, die hier veranstaltet wird. Wenn wir hier ge-
stern gemeinsam eine neue Grundlage geschaffen haben
und wenn wir gemeinsam versuchen, den Opfern wirklich zu helfen, ist das Ausgraben eines ganz alten Antrags, von dem Sie wissen, daß er aus sachlichen Gründen hier keine Mehrheit findet, in der zweitletzten Sitzung vor der Sommerpause nichts anderes als der Versuch, den Eindruck zu erwecken, als wollten Sie mehr und Besseres.
Nichts anderes ist das doch, und das bei der sehr gedrängten Tagesordnung dieser Woche.
Ich finde — Herr Jahn, ich weiß, daß Sie das persönlich auch so sehen —, daß das Thema der Wiedergutmachung so sensibel ist und mit soviel Behutsamkeit erörtert werden muß, daß gerade eine Nacht-undNebel-Aktion nicht geeignet ist, diesem Thema gerecht zu werden.
Deswegen bieten wir Ihnen an — wie bisher auch —, sowohl im Unterausschuß als auch im Innenausschuß weiter ganz genau zu prüfen,
was den geschädigten Opfern am besten zukommt.
Sie werden mir zustimmen müssen, daß diese Form hier nicht nur eine Kuriosität darstellt, sondern auch der Sache letzten Endes nicht dient. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion DIE GRÜNEN unterstützt die Forderung, daß die SPD-Anträge auf die Tagesordnung gesetzt werden sollen. Dabei muß ich sagen, Herr Gerster, daß man sich darüber wundert, warum man gerade in dieser Sache immer wieder so ungeheure bürokratische Schwierigkeiten bekommt. Ich finde, Sie sollten auch nicht von einem „Schaufensterantrag" sprechen,
denn das, was in dem Schaufenster zu sehen ist, ist ein ziemlich erbärmliches Häppchen.
Das Ergebnis der gestrigen Debatte war — wir hatten dafür, glaube ich, sehr gute Argumente und Fakten, die Sie auch nicht bestreiten können —, daß von
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Frau Dr. Vollmerden 300 Millionen DM nur 1,6 Millionen DM ausgegeben worden sind
und daß genau diese Tatsache dazu drängt, eine neue Lösung zu suchen.Auf Grund dieses Ergebnisses muß die SPD mit diesem Antrag noch einmal in eine Debatte, weil nämlich Ihre Alternative, die Sie gestern vorgestellt haben, überhaupt keine parlamentarische Beeinflussung mehr möglich macht. Sie haben Prüfaufträge erteilt ohne eine Verpflichtung und ohne eine Möglichkeit des Parlaments und des Ausschusses, darüber noch einmal zu diskutieren oder zu entscheiden.
Das ist der Fakt. Das Parlament hat sich, wenn es bei Ihrem Stand bleibt, jeder Mitwirkungsmöglichkeit begeben.
Deswegen müssen diese Anträge noch einmal auf die Tagesordnung. Sie müssen aber auch aus einem anderen Grund noch einmal auf die Tagesordnung: Sie haben gesagt, sachlich sei das widerlegt worden. Damals ist gesagt worden, es würde zu lange dauern, eine solche Stiftung einzurichten, und das würde nicht zu einer schnellen und unbürokratischen Hilfe führen.Jetzt sieht es aber faktisch so aus, daß Ihre Regelung zu lange gedauert hat, daß dadurch sogar die Bereitschaft der Länder, eigene Stiftungen zu gründen, gemindert worden ist und daß das zuungunsten der Betroffenen gelaufen ist. Deshalb unterstützen wir nachdrücklich, daß die Anträge auf die Tagesordnung gesetzt werden.Im übrigen ist bei Ihrer Regelung die Frage der Nationalgeschädigten überhaupt nicht gelöst worden, so daß es auch von daher sachlich begründet ist, diese beiden Anträge auf die Tagesordnung zu setzen. Wir bitten Sie, dies zu unterstützen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich die Geschäftsordnung richtig verstehe, so reden wir jetzt eigentlich nur darüber, ob heute etwas behandelt werden soll oder nicht.
Wie die bisherigen Wortbeiträge zeigen, würde die Behandlung dieser Anträge dazu führen, daß noch einmal über das diskutiert wird, was gestern schon Gegenstand einer 90minütigen Debatte war.
Wenn es aber darum geht, jetzt nur etwas ohne Debatte in den Ausschuß zu bringen,
so kann das heute nur dann berechtigterweise auf die Tagesordnung gesetzt werden, wenn irgendeine Frist dadurch versäumt würde, daß wir das nicht heute, sondern erst im September behandelten.
Der normale Gang der Beratungen, lieber Herr Jahn, ist doch, daß dies im September auf die Tagesordnung kommt, wenn wir das heute ablehnen, und daß es dann in den Innenausschuß geht.
Dieses Recht gibt die Geschäftsordnung, und dies ist der ordentliche Gang der Dinge.
Da wir gestern beschlossen haben, die Bundesregierung zu bitten, dem Innenausschuß einen Bericht zu geben, der aber erst im September beraten werden kann, kommen wir zum selben Zeitpunkt auch dazu, über Ihre heute vorgelegten Anträge zu beraten,
nämlich dann, wenn sie in der ersten Sitzung nach den Ferien behandelt werden.
— Frau Schmidt, folgendes spricht dagegen, es heute zu machen: Mir hat bis heute nicht eingeleuchtet, wieso erst am Dienstag aus der Sicht Ihrer Fraktion dieses Thema evident wurde, wieso wir das erst gestern über die Pressestelle und dann heute morgen als Drucksache bekamen.
Das macht mich nachdenklich. Ich möchte die Sommerpause zum Nachdenken darüber nutzen. Deshalb stimmt die Fraktion der FDP dem Antrag, diese Vorlagen auf die Tagesordnung zu setzen, nicht zu.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Rufsetzung der Anträge auf den Drucksachen 11/4838 und 11/4841. Ich frage: Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Antrag abgelehnt.Ich möchte, bevor wir zur Beratung kommen, noch folgende Amtliche Mitteilung zur Verlesung bringen: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
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Präsidentin Dr. Süssmuth4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Zur politischen Entwicklung in Ungarn — Drucksache 11/4840 —5. Beratung des Antrages der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN: Todesurteile in der Volksrepublik China — Drucksache 11/4857 —6. Aktuelle Stunde: Die Zwangsumsiedlung der Irakischen Kurden und die Notwendigkeit bundesdeutscher Hilfe7. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 14. November 1988 über den Beitritt der Portugiesischen Republik und des Königreichs Spanien zur Westeuropäischen Union — Drucksache 11/4707 —8. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses — Sammelübersicht 118 zu Petitionen— Drucksache 11/4855 —9. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses — Sammelübersicht 119 zu Petitionen— Drucksache 11/4856 —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Antrag auf Genehmigung zur Fortsetzung eines Strafverfahrens — Drucksache 11/4864 —
11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Gedenktage zum Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkriegs — Drucksachen 11/2715, 11/4858 —
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNEN: Institutionalisierung von Technikfolgenabschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag — Drucksache 11/4832 —
13. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 1987/1988 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet — Drucksache 11/4611 —
14. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Siebtes Hauptgutachten der Monopolkommission 1986/87 hier: Stellungnahme der Bundesregierung — Drucksache 11/4804 —
15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN: Umsetzung der UNO-Resolution 591 in bundesdeutsches Recht — Drucksache 11/4825 —
16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN: Einhaltung des UNO-Rüstungsembargos gegenüber Südafrika — Drucksache 11/4826 —
17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Müller , Bachmaier, Dr. von Bülow, Dr. Emmerlich, Gansel, Jungmann (Wittmoldt), Dr. Scheer, Dr. Soell, Vosen, Wiefelspütz, Ibrügger, Bulmahn, Hauchler, Frau Weiler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Verminderung der Rüstungsexporte und verbesserte Rüstungsexportkontrolle — Drucksache 11/4842 —
18. Beratung des Antrags der Abgeordneten Müller , Bachmaier, Dr. von Bülow, Dr. Emmerlich, Gansel, Jungmann (Wittmoldt), Dr. Scheer, Dr. Soell, Vosen, Wiefelspütz, Frau Weiler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Keine Genehmigung für Waffenexporte in den Nahen und Mittleren Osten — Drucksache 11/4843 —
19. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
a) zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Friedensprozeß in Mittelamerika
b) zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Förderung
des Friedensprozesses in Zentralamerika — Drucksachen 11/824, 11/1130, 11/4812 —
Ich weise darauf hin, daß beim Punkt 16 der Tagesordnung zusätzlich die Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates der Deutschen Welle erfolgen soll. Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.
Sind Sie mit den Ergänzungen der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum Bericht zur Lage der Nation 1988 im geteilten Deutschland
— Drucksachen 11/3585, 11/4420 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lintner Büchler
Frau Hensel
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dies ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat Herr Abgeordneter Büchler das Wort.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe, daß die jetzige Debatte nicht wieder zu einer Prinzipienreiterei wird, wie das eben leider geschehen ist.Gemeinsamkeit in der deutschen Politik ist und hat eine Chance, und der Deutsche Bundestag sollte die Gelegenheit zu dieser Gemeinsamkeit heute nicht verstreichen lassen. Der Besuch von Gorbatschow und die deutsch-sowjetische Erklärung, der Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1988 und nicht zuletzt die Rede Erhard Epplers am 17. Juni, die auch von den Regierungsparteien mit viel Beifall aufgenommen worden ist, zeigen die Breite der Übereinstimmungen. Im Ausschußbericht steht, daß sich die Fraktionen noch einmal über die Möglichkeit einer Gemeinsamkeit zu unterhalten haben. Ich habe dieses Angebot gemacht. Leider ist die CDU/CSU nicht darauf eingegangen. Ich hoffe sehr, daß sich dieses Angebot heute im Abstimmungsverhalten der Koalition positiv niederschlägt, so daß sie unserem Antrag zustimmt.Ich glaube, daß diese Gemeinsamkeit auch notwendig ist. Es geht darum, in einer immer schwieriger werdenden Situation eine Politik der Zusammenarbeit zum Nutzen der Menschen fortzuführen. Es geht darum, die unabweisbar erforderliche Zusammenarbeit von Ost und West zur Lösung der globalen Probleme in der Friedenssicherung, im Umweltschutz und im Nord-Süd-Verhältnis mit Augenmaß fortzuführen und weiterzuentwickeln.
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Büchler
Dies könnte deshalb schwieriger werden, weil die DDR durch eine Reihe von innenpolitischen Entscheidungen der SED an Ansehen eingebüßt hat, wie wir allerorts feststellen. Weil sich die DDR an das Ende der Reformentwicklung im RGW und im Warschauer Pakt begeben hat und weil sie in der Gefahr ist, sich selbst zu isolieren, könnte dies alles schwieriger werden. Selbst in den Ost-West-Beziehungen sehen wir mehrdeutige Elemente der SED-Politik. Wir registrieren eine Überbetonung der Elemente, über die doch in der ersten Phase der Entspannung Klarheit geschaffen wurde. Ich meine die Frage, die die Grenzen in Europa betrifft.Die Größe der Wohnungen im europäischen Haus steht fest. Es kann kein Ziel unserer Politik sein, eine der Wohnungen aufzulösen. Es ist das Ziel, Möglichkeiten zum freien Meinungsaustausch und zur Kommunikation innerhalb der Staaten Europas und zwischen ihnen zu erreichen. Die Grenzen sollen ihren trennenden Charakter verlieren.In dieser Frage sehe ich aber auch ein Problem der Union. Denn alle Einwände, die ich bisher aus Ihren Reihen gegen unseren Antrag gehört habe, beziehen sich auf die eben dem Sinn nach zitierten Passagen unseres Antrags. Das müßte doch nach den jüngsten Erklärungen und Ereignissen überwunden sein, so daß einer Zustimmung auch bei Ihnen nichts mehr im Wege stehen dürfte.Die schwierige Situation, die uns in den Diskussionen immer wieder bewegt, steht in einem Zusammenhang mit der Erklärung, die Bundeskanzler Kohl und SED-Generalsekretär Honecker am 12. März 1985 abgegeben haben:Die Unverletztlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden.Darum geht im Grundsatz unser ganzer Streit.Dort, wo die Grenzen innerstaatlich für die Bürger enger gezogen sind, sollten sie — auch das möchte ich sagen — so verändert werden, daß die Menschen größere individuelle Handlungsfreiheit erlangen. Ich möchte es jetzt mit den Worten Erhard Epplers sagen: Wir wollen uns nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen. Wir wollen, daß sich die Menschen in der DDR in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen können. Das muß unser Ziel sein. —Das wurde auch von Ihnen mit Beifall aufgenommen.Ich füge hinzu: Die DDR-Bürger müssen selber entscheiden können, in welchen staatlichen und gesellschaftlichen Formen sie leben wollen. Die Deutschen haben — auch dies soll hier noch einmal gesagt werden — wie alle Völker ein Recht auf Selbstbestimmung. Wenn sich die DDR-Bürger für eine Zweistaatlichkeit, also für die Fortexistenz der DDR, in freien Wahlen entscheiden, müssen wir als Bürger der Bundesrepublik Deutschland diese Entscheidung ebenfalls akzeptieren.Nicht hinnehmen können wir als demokratische Parteien die Entwicklung, die seit dem letzten Sonntag sichtbar geworden ist. Unsere Demokratie steht vor einer Herausforderung von rechts. Mit demokratischen Parteien, von der CSU bis zu den GRÜNEN, werden wir diese Herausforderung annehmen und sie bestehen. Die Republikaner als nachgeschobene Rechtfertigung der DDR für die Mauer in Berlin: dies ist, glaube ich, allerdings ein ganz untauglicher Versuch, den Menschen ein absurdes Bauwerk als notwendig zu verkaufen.
Wenn wir die Herausforderung von rechts bestehen wollen, ist das nicht möglich mit der Übernahme der Parolen dieser rechten Bewegung und, Herr Lummer, auch nicht mit der Bescheinigung, daß sie koalitionsfähig sind. Das geht nicht. Es muß eine klare Sprache gesprochen werden; es müssen eindeutige Positionen bezogen werden. Sonst werden wir alle miteinander unglaubwürdig. Rechte Bewegungen sind nur mit klarer Sprache zu stoppen.Wir sollten im Deutschen Bundestag gemeinsam den Mut haben, über die Unverletztlichkeit der Grenzen aller europäischen Staaten das zu sagen, was Helmut Kohl und Erich Honecker 1985 formuliert haben — wir Sozialdemokraten sagen es öfter als Sie von den Koalitionsparteien, zumindest als Sie von der größeren Koalitionspartei:Erstens. Die Staaten in Europa einschließlich der DDR sind ein Faktum, das wir akzeptieren und nicht in Frage stellen.Wer die Westgrenze Polens heute noch in Frage stellt, verstellt den Weg zur Einigung Europas. Es muß Schluß gemacht werden mit den mißverständlichen oder bewußt gemachten Aussagen, die in Polen so verstanden werden, als würden die Grenzen von Deutschen wieder in Frage gestellt.Auch die polnische Westgrenze war gemeint, als sich Bundeskanzler Kohl mit Honecker 1985 auf die Formel über die Grenzen Europas einigte. Die Grenzen in Europa müssen ihren trennenden Charakter verlieren. Dies zu erreichen ist unser vorrangiges Ziel.Zweitens. Der Status von Berlin und das Viermächteabkommen weisen den Weg, um auf seiner Grundlage die Situation von West-Berlin zu verbessern. Walter Momper hat zu Beginn dieser Woche ja nun wirklich ein Beispiel einer erfolgreichen Operation geliefert.
Drittens. Der Maßstab für die Veränderungen, die wir wollen, ist in den Dokumenten von Helsinki und denen der KSZE-Nachfolgetreffen genau festgelegt und definiert.Nicht wir wollen vorgeben, wie die DDR dieses Maß an Freiheit und Selbstbestimmung sicherstellt, sondern die Menschen in der DDR werden dies selber tun müssen. Dabei hat sich die DDR mit ihrer Unterschrift zu den Prinzipien des KSZE-Prozesses verpflichtet. Dies einzufordern ist selbstverständlich ebenfalls unsere Pflicht.Was nun die konkreten nächsten Schritte der deutsch-deutschen Zusammenarbeit sein sollen, wel-
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Büchler
che Maßnahmen mit der DDR verhandelt werden sollen, darin besteht hier ohnehin Einigung, wie wir es im letzten Jahr in unseren Anträgen, die zur Lage der Nation eingebracht worden sind, festgestellt und verdeutlicht haben. Mir scheint die Zeit reif zu sein, einen Schlußstrich unter die zum Teil heftigen und früher sogar erbittert ausgefochtenen Differenzen bezüglich des richtigen Kurses in der Deutschlandpolitik zu ziehen. Dies soll nicht verschleiern, daß es weiter Unterschiede zwischen den Parteien gibt. Dazu gehören die Behandlung der Erfassungsstelle Salzgitter und die Möglichkeit, mit der DDR politische Einigung über den Verlauf der Grenze im Elbeabschnitt zu erzielen.Besonders unverständlich bleibt, wieso CDU und CSU nach wie vor nicht bereit sind, offizielle Beziehungen zur Volkskammer der DDR aufzunehmen.
Hier böte sich zusätzlich Gelegenheit, über alles zu diskutieren und in einen offenen Dialog einzutreten. Es wäre doch geradezu spannend gewesen, Herr Schulze, mit Mitgliedern der Volkskammer über die Erklärungen der beiden Parlamente zu den jüngsten Ereignissen in China diskutieren zu können. Das wäre doch wirklich ein politischer Höhepunkt gewesen und wäre, so meine ich, genauso spannend gewesen, wie manch andere Debatte zwischen den deutschen Staaten eh schon ist.
Man kann diese Auffassungsunterschiede — auch das sage ich hier — natürlich als Grundsatzpositionen verstehen. Man kann sie aber auch tiefer hängen. Dann werden sie zu praktischen Fragen danach, was als nächstes zu tun oder zu lassen ist.Um da nichts zu verwischen, sage ich Ihnen offen: Wir Sozialdemokraten beurteilen die Problematik der Elbegrenze als eine Problematik, die man pragmatisch lösen kann.
— Sie ist nicht gelöst!
Salzgitter ist spätestens mit dem KSZE-Prozeß überflüssig geworden. Straftaten — da stimme ich jedem zu — müssen natürlich auch in Zukunft durch die Staatsanwaltschaft verfolgt werden.Die beiden Fragen — Volkskammer und Erfassungsstelle — haben ja auch viel mit der ganzen Anwendung unseres Grundlagenvertrages zu tun. Wir haben die Zuversicht, daß die CDU/CSU auch in diesem Punkt noch lernfähig sein wird.
Wir sollten die unnötigen Stolpersteine, die zwischen beiden deutschen Staaten in der deutsch-deutschen Politik bestehen,
wegräumen, damit wir uns für das Große und für die großen Themen öffnen können. Tatsächlich handelt es sich dabei, Herr Lummer, nur um Kleinigkeiten. Wir haben doch die Aufgabe, im europäischen Konzert als deutsche Staaten unseren Beitrag zu leisten. Das sind in Relation zu diesen Fragen natürlich wichtigere und größere Aufgaben.Heute geht es — das ist eigentlich alles, was wir heute zu entscheiden haben — um die Differenz in den beiden Anträgen, darum, was nun zu dieser Grenzfrage zu sagen ist, und darum, ob diese Koalition zu dem steht, was Bundeskanzler Kohl und der Staatsratsvorsitzende Honecker damals festgelegt haben. Um nichts anderes geht es. Deswegen meine ich: Im Hinblick auf das, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat — im Ausschuß haben Sie unseren Antrag ja noch abgelehnt — , sollten Sie in der Lage sein, Ihrem Bundeskanzler heute hier zuzustimmen,
indem Sie unseren Antrag mit übernehmen, d. h. die Ausschußempfehlung gemeinsam mit uns zurückweisen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Gedenkrede Erhard Epplers vor diesem Forum am 17. Juni liegt in der Tat noch keine Woche zurück — Herr Büchler hat auch daran angeknüpft —, und bei der dabei bekundeten Übereinstimmung wäre es ja wohl nicht undenkbar gewesen, wenn wir uns heute als „Jünger" Epplers mit der deutschlandpolitischen Problematik beschäftigt und den dringend angeratenen Konsens gesucht hätten. Da mit dem SPD-Entschließungsantrag zum Bericht zur Lage der Nation die Deutschlandpolitik bereits auf der Tagesordnung dieser Woche stand, wäre es ja vielleicht auch bekömmlicher gewesen, die beim Besuch des Regierenden Bürgermeisters Momper in der DDR eingesammelten Verbesserungen im Reise- und Besuchsverkehr jetzt bei diesem Tagesordnungspunkt — statt in einer Aktuellen „Feierstunde" — zu behandeln.
Meine Damen und Herren, wo auch immer, in jedem Fall lohnt es sich, daran zu erinnern, daß es schon im Juli 1984 war, als die DDR im Gegenzug zur Gewährung des von der Bundesregierung verbürgten Bankkredits u. a. die Besuchsdauer im kleinen Grenzverkehr auf zwei Tage erweiterte. Damals wurde Staatsminister Jenninger ausdrücklich zugesagt, diese Maßnahme auch auf Berlin auszudehnen. Es hat dann bis zum Honecker-Besuch 1987 gedauert, bis Berlin in die Zwei-Tage-Besuchsregelung einbezogen wurde — dies aber nur auf Ost-Berlin begrenzt. Wenn
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Hoppedie DDR ihre Zusage von 1984 jetzt endlich in vollem Umfang einlöst, dann ist dies wahrlich noch kein bejubelnswertes Zugeständnis der DDR; aber endlich wird damit eine Zusage erfüllt.Jede Erleichterung im Reise- und Besuchsverkehr ist zu begrüßen, nicht zuletzt deshalb, weil dadurch die Diskriminierung Berlins teilweise abgebaut wird.
Herr Abgeordneter Hoppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehmke?
Bitte.
Herr Kollege Hoppe, Sie haben die Frage angesprochen, warum eine einheitliche Resolution nach der Eppler-Rede nicht möglich gewesen ist. Ihnen ist doch bekannt, daß der Versuch einer Einigung mit den Kollegen von der Union nur daran gescheitert ist, daß die Union es abgelehnt hat, einen Satz über die Westgrenze Polens aufzunehmen, der wörtlich dem Protokoll über das Gespräch des Bundeskanzlers mit dem SED-Generalsekretär entnommen worden ist. Ich darf also noch einmal festhalten: Die Einigung ist daran gescheitert, daß die Union es abgelehnt hat, ein Kohl-Zitat in einen gemeinsamen Antrag zu übernehmen. Angesichts dessen sollten Sie das doch vielleicht eher in der Koalition in Ordnung bringen.
Herr Ehmke, ich sage Ihnen jetzt, worum es hier heute geht. Damit komme ich zurück zum SPD-Antrag, der heute vorliegt und über den im Rahmen des Berichts zur Lage der Nation heute abzustimmen ist.
Bei der Behandlung dieses Antrags geht es nicht um eine Beschreibung des Zustands der deutsch-deutschen Situation mit Licht und Schatten, sondern es handelt sich leider nur um die Behebung einer Verfahrensspanne. Als der Deutsche Bundestag am 1. Dezember 1988 über die Lage der Nation debattierte, gab es zwei Anträge, nämlich den der CDU/ CSU und der FDP sowie den der SPD. Der Koalitionsantrag wurde nach der Beratung verabschiedet, der SPD-Antrag aber nicht, wie es logisch gewesen wäre, abgelehnt, sondern dem innerdeutschen Ausschuß zur Beratung überwiesen.
Aus diesem Grunde treffen wir uns nach sechs Monaten nun hier wieder und stehen vor dieser Peinlichkeit, denn eine solche ist es in der Tat.
Aber ich habe versucht, Herr Büchler — ich sage es Ihnen; nun seien Sie mal nicht so, wie Sie hier wieder tun — , uns die Peinlichkeit zu ersparen, und deshalb angeregt, einen gemeinsamen Antrag neu zu formulieren. Das haben die Antragsteller leider abgelehnt und auf einer Abstimmung über den Antrag in der alten Fassung bestanden. Das, meine Damen und Herren, ist aber nicht anders zu haben als mit der
Fortschreibung des Ergebnisses vom 1. Dezember 1988, d. h. leider mit einer Ablehnung.
Meine Damen und Herren, so wie der 17. Juni und Epplers ermahnende und aufmunternde Rede noch nicht lange zurückliegen, so ist auch der 18. Juni mit seinen Wahlergebnissen noch präsent. Wir alle hier wären gut beraten, endlich mehr Vernunft aufzubringen, um unserer politischen Verantwortung gerecht zu werden.
Gerade auf dem Feld der Deutschlandpolitik ist den Menschen nur mit substantiellen Verbesserungen gedient und nicht mit plakativer Schönrederei.
Verbesserungen erreichen wir aber nur dann, wenn wir der DDR geschlossen gegenübertreten, und nicht, wenn wir uns rechthaberisch die Augen auskratzen. Wir sollten uns an der Sache orientieren und im fairen Dialog ein gemeinsames Handlungskonzept erarbeiten. Wer sich vom reinen Parteiegoismus leiten läßt und an den Menschen vorbei agiert, schadet der Sache und sich selbst. Notorische Rechthaber dürfen sich nicht wundern, wenn ihnen agitatorisch gewandte Rechte dann das Wasser abgraben.
Meine Damen und Herren, kehren wir deshalb zur demokratischen Praxis zurück, sachlich zu streiten, und bewahren wir die Fähigkeit zum Kompromiß, um im Interesse der Bürger wahrzunehmen, was unsere Aufgabe ist. Alle demokratischen Parteien haben seit Jahren für die Abschaffung des skandalösen Zwangsumtausches für Rentner gestritten. Dennoch leidet diese Bevölkerungsgruppe noch immer unter dieser inhumanen Maßnahme. Gerade aber die sozial Schwachen brauchen eine konsequente Interessenvertretung gegenüber der DDR. Fordern wir deshalb unsere Bundesregierung gemeinsam auf, der DDR die Rücknahme dieser Abgrenzungsmaßnahme als unverzichtbare politische Forderung zu präsentieren.
Das Wort hat der Abgeordnete Eich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt Anträge, die enthalten banale Selbstverständlichkeiten, Anträge, die enthalten politisch verfehlte Bekenntnisse, und es gibt Anträge, die im Lichte aktueller Entwicklungen nicht auf der Höhe der Zeit sind. Dieser Antrag hat von jedem etwas. Es mutet schon recht krampfhaft an, wenn seitens der SPD-Fraktion die Grundsätze des gemeinsamen Entschließungsantrages von CDU/CSU, SPD und FDP vom Februar 1984 zum Bericht zur Lage der Nation erneut bestätigt werden. Nach diesen Grundsätzen soll der Deutsche Bundestag für die nationalstaatliche Wiedervereinigung eintreten und die Grenze zur DDR wie diejenige zwischen Hessen und Niedersachsen behandeln. Solche Handlungskoordinaten für eine Politik gegenüber der DDR und in den deutsch- deutschen Beziehungen zu empfehlen dürfte wohl auch bei vielen Sozialdemokraten als starker Tobak
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11422 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Eichempfunden werden. Die jüngsten Reden von Gerhard Schröder und Horst Ehmke — die Europarede — oder die erklärte Einsicht in die Unvereinbarkeit von europäischer Integration und Wiedervereinigung von Egon Bahr kennzeichnen hier völlig andere Entwicklungslinien. Aber ihr Antrag enthält nicht die längst überfällige Anerkennung der DDR und schon gar nicht die Selbstanerkennung der BRD.
— Wunderbar.Angesichts der noch unabsehbaren Folgen der Kontroverse zwischen der Bundes- und der US-Regierung nach dem NATO-Gipfel, nach Bush- und Gorbatschow-Besuch in Bonn, nach dem bemerkenswerten Erfolg nationalistischer Kräfte bei der Europawahl besteht die Notwendigkeit, gerade über die Grundorientierung bundesdeutscher Politik zu streiten. Es ist ja nicht zu übersehen, wie das politische Denken in der Bundesrepublik zunehmend von nationalen Kategorien beherrscht wird. Nachdem seit einigen Jahren erhebliche Kräfte in der Union im Bündnis mit Rechtsradikalen durch Relativierung der Nazivergangenheit den Nationalismus als gesellschaftlichen Fixpunkt wieder etablieren wollen, erleben wir seit 1987 und besonders in den letzten Monaten eine Renationalisierung bundesdeutscher Außenpolitik. Waren es in der Diskussion um die doppelte Null-Lösung erst einige deutschnationale Unionspolitiker, die die Deutschen als Opfer westlicher Strategien wähnten, so erleben wir in diesem Frühjahr einen Nationalchor von Dregger bis Lafontaine, die sich in nationalem Pathos und antiamerikanischen Ressentiments gefielen.Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Wir kritisieren diese Massenvernichtungsmittel, und wir kritisieren diese Regierung, die den Weg zu einer Null-Lösung in diesem Bereich mit verbaut hat.
Es erschreckt aber die Breite der Zustimmung zur Aktivierung historisch desavouierter Nationalismen, mit der die Auseinandersetzung um die atomaren Kurzstreckenraketen geführt wurde. Die sprachlichen Bilder vom „Schlachtfeld Deutschland" und „Je kürzer die Reichweiten, desto toter die Deutschen" zielen alle auf die Wiederbelebung der alten nationalen Legitimationsmuster der Sonderlage und Opferrolle der Deutschen. Vor diesem Hintergrund wundert es dann nicht, wenn der Bundeskanzler mit geschwellter Brust vor seine Fraktion tritt und die abgenötigten Erklärungen von Bush und Gorbatschow, die Bundesrepublik sei Führungsmacht im Westen, als Resultat deutscher Selbstbehauptung und neuer nationaler Größe verkauft.Europa als Vehikel neuer vaterländischer Bewegungen, wie sie den Rechtsnationalisten Jörg Haider und Heinrich Lummer mit der Osterweiterung der EG vorschweben,
oder das Schüren nationaler Ängste gegenüber der EG-Integration, wie das die rechtsradikalen und neofaschistischen Parteien im Europa-Wahlkampf taten, können nicht durch eine Aufwertung nationaler Orientierungen in Politik und Kultur aufgehalten werden. Sollte das Lob für nationalen Partikularismus, wie es Herr Vogel durch seine Hervorhebung im NRW-Wahlkampf als Leitbild für die Zukunft aussprach, zur Generallinie der SPD werden, würde das nachhaltig autoritäre Stimmungen in der Gesellschaft stärken.In diesem Sinne dürfte es kein Zufall gewesen sein, daß Erhard Eppler am 17. Juni und am Vorabend der Europawahl eine deutsche und keine europäische Rede gehalten hat und sich in einem gewissen Sinne für Deutschland und gegen Europa ausgesprochen hat. Der mit sich selbst versöhnte Nationalismus hat mit Epplers Rede eine neue Variante erfahren; das haben auch die deutschen Patrioten gemerkt.
Das Wort hat der Abgeordnete Werner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Eine jüngste Umfrage in der Bundesrepublik hat eine überwältigende Mehrheit für die deutsche Einheit ergeben. Waren vor wenigen Jahren nur 65 % der Befragten der Meinung, die staatliche Einheit sei erstrebenswert, so sind es heute 87 %. Sicherlich ist der Anteil der Landsleute in der DDR, die für die Einheit in Freiheit plädieren, nicht geringer.Wir wissen, daß immer mehr Landsleute die Eigenstaatlichkeit der DDR als nicht auf Dauer angelegt empfinden. Ihr nach dem Kriege gewachsenes Wir-Gefühl steht ebensowenig dem Streben nach Einheit entgegen, wie dies bei uns der Fall ist. Auch die Bürger der DDR wollen die Verwirklichung der Freiheitsrechte und die Selbstbestimmung. Das Streben nach Überwindung der Teilung Europas und der Teilung Deutschlands ist in allen Teilen Deutschlands wohl gleich stark.Die Unterzeichnung des Schlußdokuments der Wiener KSZE-Konferenz im Januar durch die DDR hat unseren Landsleuten in der DDR Mut gemacht, verstärkt auf die schrittweise Liberalisierung in Richtung Gorbatschow zu drängen. Die kommenden Monate werden zeigen, inwieweit die SED-Führung die Wiener KSZE-Verabredungen in die Wirklichkeit umsetzt. Wir dürfen unsererseits nicht nachlassen, gegenüber der Führung der DDR die zügige Umsetzung der von ihr unterzeichneten Dokumente anzumahnen.
Die jüngsten Äußerungen von Kurt Hager bis Margot Honecker lassen zwar erkennen, daß sich die SED der Brisanz des Perestroika-Prozesses und des neuen Denkens in der UdSSR bewußt ist, im Augenblick unter Hinweis auf die unterschiedliche Entwicklung in den sozialistischen Ländern jedoch noch alles daransetzt, ihre Politik der Unbeweglichkeit beizubehalten. Die betonte Billigung der Unterdrückungsmaßnahmen in China, die Gewaltanwendung an der Mauer und die Einschüchterung der Kritiker in der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11423
Werner
DDR zeigen, daß die derzeitige Führungsriege nicht die notwendige Flexibilität und das erforderliche Selbstvertrauen für eine eigene Perestroika-Politik besitzt, wie dies in Ungarn, Polen und der Sowjetunion der Fall ist.Doch die DDR-Führung wird sich auf Dauer nicht gegenüber dem allgemeinen Entspannungsprozeß abschotten können. Die nächste Führungsgeneration wird dies zur Kenntnis nehmen und die erforderlichen innenpolitischen Folgerungen daraus ziehen müssen! Schon die heutige Führung hat ja angesichts der wachsenden politischen Unzufriedenheit den Reiseverkehr erleichtert und einer steigenden Zahl von Menschen die Umsiedlung genehmigt, um innenpolitisch Druck abzulassen. Ich möchte hier der Bundesregierung danken, weil sie stets die Regierung der DDR darauf hingewiesen hat, daß gute Nachbarschaft auch das Zusammenkommen der Menschen voraussetzt.Herr Eppler hat hier eine bemerkenswerte Rede gehalten, die jedoch nicht vergessen machen kann, was die SPD unter der von ihr verlangten zweiten Phase der Deutschlandpolitik versteht. Äußerungen der Herren Brandt, Bahr, Schmude, Büchler, Lafontaine und jüngst des niedersächsischen SPD-Chefs Schröder belegen, daß die SPD die staatliche Einheit der Deutschen nicht mehr als vorrangiges Ziel ansieht, sondern lediglich als eine von mehreren Möglichkeiten.
Die SPD scheint sich immer mehr mit der sogenannten deutschen Kulturnation zufriedenzugeben.Herr Eppler hat die Grenze durch Deutschland eine tragende Wand im gemeinsamen Haus Europas genannt, die ohne Gefährdung des ganzen Hauses nicht entfernt werden könne. Deutet er damit an, daß die Beseitigung der Teilung Europas eben nicht notwendig das Ende der Teilung Deutschlands zur Folge hat?Die CDU/CSU ist davon überzeugt, daß die Teilung Europas tatsächlich erst dann völlig beseitigt ist, wenn das ganze deutsche Volk — und nicht nur ein Teil — das Selbstbestimmungsrecht ausüben und für die staatliche Einheit in freier Wahl votieren kann.
Dies schließt den Abschluß eines Friedensvertrages, der die Rahmenbedingungen für das staatliche Zusammenleben der Deutschen festlegt, mit ein.Lieber Hans Büchler, die bestehenden Rechtspositionen sollte man nicht einfach beiseite fegen, auch nicht um einer falsch verstandenen Gemeinsamkeit willen.Bei der Diskussion über diese Rahmenbedingungen der staatlichen Einheit wird man zunächst von den Grenzen von 1937 ausgehen müssen. Inwieweit diese in einem Europa, in dem die Grenzen ihren trennenden Charakter verlieren werden, dann politisch durchsetzbar sind, darüber brauchen wir heute nicht zu spekulieren. Wie die Grenzen auch immer sein mögen, sie können an dem grundlegenden Recht auf die Heimat nichts ändern. Dies steht den Deutschen in den deutschen Ostgebieten ebenso wie den dort nach 1945 geborenen und verwurzelten Polen zu. In dem freiheitlichen Europa der Zukunft soll ja niemand mehr vertrieben werden oder in politischer Unfreiheit leben müssen, egal wie und wo die Grenzen gezogen sein werden.Deshalb fordern wir heute schon die Verankerung eines allgemein anerkannten Volksgruppenrechts im Völkerrecht, das ja für die Deutschen, aber auch für die anderen Minderheiten in den Staaten Osteuropas von größter Bedeutung wäre. Präsident Bush hat bei seinem jüngsten Besuch in der Bundesrepublik Deutschland deutlich die Beseitigung der Teilung Europas und der Teilung Deutschlands sowie das Selbstbestimmungsrecht für die Deutschen ohne Einschränkung gefordert. Die NATO hatte zuvor in Brüssel das gleiche Bekenntnis abgelegt. In der deutsch-sowjetischen Erklärung hat sich zum erstenmal in einer bilateralen Erklärung ein sowjetischer Staats- und Parteichef zu dem Selbstbestimmungsrecht der Staaten und der Völker — dies heißt auch des deutschen Volkes, das ja nicht nur in den beiden Staaten in Deutschland lebt — bekannt und die Mitwirkung an der Beseitigung der Teilung Europas zugesichert.Die Einsicht, daß die Deutschen ihre originären Rechte als Volk auch durch den Krieg Hitlers nicht einfach verloren haben, setzt sich nunmehr auch im Osten durch! Es setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, daß eine gesamteuropäische Friedensordnung als Ordnung der Freiheit und des Rechts auf der Herstellung der Gerechtigkeit beruhen muß. Das Ziel der staatlichen Einheit zu verfolgen, meine Damen und Herren, steht in keinem Widerspruch zu dem Einsatz für die westeuropäische Integration, denn dieser Zusammenschluß freier Staaten soll sich auf der Grundlage der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts vollziehen. Er soll eine Vorstufe für die freiheitliche Organisation ganz Europas und seiner Völker sein und allen Völkern die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts zusichern. Im übrigen werden die Rechte und Pflichten der vier Mächte für Deutschland und der Deutschland-Vertrag durch die westeuropäische Integration keineswegs obsolet. Sie gilt es auch in Zukunft im Interesse der Freiheit für alle Deutschen zu nutzen! Sie bilden gemeinsam mit dem Viermächteabkommen die Grundlage für die Sicherheit des freien Berlins.Beide Staaten in Deutschland müssen aktiv an dem Entspannungsprozeß mitarbeiten. Die Mitarbeit an den Abrüstungsvorschlägen der Militärbündnisse ist wichtig, aber reicht nicht aus. Eine umfassende Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten in Deutschland ist nötig! Sie muß von mehr Freiheit für die Menschen begleitet sein, wobei die erste humanitäre Meßlatte das Wiener KSZE-Dokument sein muß.
Die DDR muß endlich die von ihr selbst eingegangenen Verpflichtungen und die Menschenrechtspakte erfüllen, meine Damen und Herren.
Der gleiche Appell muß sich an die Volksrepublik Polen richten, wo die Lage der Deutschen, die in ihrer angestammten Heimat bleiben wollen, verbessert werden muß. Wir hoffen, daß die Volksrepublik Polen
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11424 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Werner
während des bevorstehenden Besuchs des Bundeskanzlers entsprechende Zusagen doch noch machen wird.Insgesamt läßt sich, meine Damen und Herren, sagen: Die Verbindungen zwischen den Menschen im geteilten Deutschland sind zahlreicher und enger geworden, und zwar in einem Ausmaß, das die heutige Opposition nicht für möglich gehalten hatte. Die deutsche Nation lebt! Sie will in Freiheit zusammenfinden! Zum Wohle der Menschen und um des Zusammenhalts des deutschen Volkes willen müssen wir daher alles tun, damit Veränderungen auch in der DDR zu mehr Freiheit, zu mehr Reiseerleichterungen, zum Abbau der Mauer und zur Reduzierung des Mindestumtauschs führen, so daß noch mehr Menschen zusammenkommen und Gemeinsamkeit erfahren können. Wir werden alles Vertretbare tun, damit unsere Landsleute mehr Freiheit und Recht erfahren!In diesem Sinne bitten wir die Bundesregierung, ihre erfolgreiche Politik fortzusetzen.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heimann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe die Koalition nicht; sie hat sich hier wirklich nach der großen Rede von Erhard Eppler eine Chance entgehen lassen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir hier nicht zu einer gemeinsamen Entschließung kommen können. Ich meine, das sind doch fast vertauschte Rollen: Normalerweise ist es doch so, daß nicht die Opposition an einer Gemeinsamkeit in der Politik mit der Regierung interessiert ist; normalerweise ist es doch umgekehrt. Der Opposition müßte es eigentlich sehr viel schwerer fallen, zu Gemeinsamkeiten zu kommen, denn unsere Aufgabe ist es zu kritisieren. Wenn wir also dazu bereit sind, dann doch nur in der Verantwortung für die Deutschland- und Berlinpolitik, weil wir die Deutschland- und Berlinpolitik nicht einfach zu einem Feld nur parteipolitischer Auseinandersetzung machen wollen, weil sie zu wichtig ist.
Die Ostpolitik, die Willy Brandt und Egon Bahr eingeleitet, begründet haben — das wissen wir doch alle — , kann ihre Wirkungen nur dann entfalten, wenn sie in einer historischen Perspektive verstanden wird, d. h. wenn die Politik nicht von einer Regierung zur anderen wechselt, sondern wenn es Kontinuität in dieser Politik gibt. Denn es geht ja um nicht weniger und nicht mehr als um die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes, und das ist nur in langen Fristen mit viel Geduld möglich.
Deshalb hat die SPD es immer begrüßt und auf eine kleinliche Oppositionsrolle verzichtet, wenn sie gesehen hat, daß die Bundesregierung die operative Deutschland- und Berlinpolitik fortsetzt. Das war unsere Haltung. Übrigens — ich sage das jetzt einmal — wäre es gut, wenn es in der Berlinpolitik, nachdem wir in Berlin die Regierung gewechselt haben, umgekehrt von der CDU aus auch so sein würde.
Sie haben die Chance, die Erhard Eppler hier gegeben hat, nicht wahrgenommen. Erhard Eppler hat gesagt: So, wie die SPD die Westpolitik Adenauers übernommen hat, so muß die CDU/CSU die Ostpolitik der SPD übernehmen. Nur Westpolitik und Ostpolitik zusammen machen einen Sinn. Meine Befürchtung, die durch die heutige Diskussion bestätigt wird, ist, daß die Union zwar die operative Ostpolitik der SPD fortsetzt, daß sie aber ihre konzeptionellen Grundlagen bis heute nicht teilt.
Das ist genau der entscheidende Punkt. Herr Werner, durch Ihre Rede haben Sie das, finde ich, bestätigt.
Was Sie gesagt haben, hat nun wirklich mit der Position, die Eppler hier vorgetragen hat, nichts zu tun. Lesen Sie im übrigen unseren Antrag. Auch wir sprechen dort vom Selbstbestimmungsrecht, aber wir sagen: Gerade wenn wir das Selbstbestimmungsrecht fordern, kann heute nicht vorweggenommen werden, zu welchem Ergebnis es führt. Wenn Sie jetzt die Grenzen von 1937 wieder ins Feld führen, dann haben Sie doch überhaupt nicht begriffen, daß die dramatischen Reformprozesse, die jetzt in Polen und in anderen Ländern stattfinden, überhaupt nur möglich sind, wenn an den Grenzen nicht gedeutelt wird. Dazu wäre eine klare Erklärung der Bundesregierung an dieser Stelle ganz wichtig.
Ich vermute: Sie stimmen unserem Antrag nicht zu, weil Sie nach wie vor nicht das unterschreiben, was der Kanzler in Moskau gesagt hat, nämlich daß die Unverletztlichkeit der Grenzen und die Achtung vor der Integrität und Souveränität aller Staaten in Europa Grundlage des Friedens sind — ich sage: nicht nur des Friedens, auch des Reformprozesses — , Grundlage eines Prozesses, der, wie wir hoffen, zu mehr Demokratie und Freiheit in allen Ländern führt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lummer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden über die Lage der Nation 1989. Wenn man vor zehn Jahren darüber geredet hat, wo auch immer im Lande oder hier im Hause, gab es sehr häufig Anflüge von Resignation. Aus Zweifeln ist bei einigen Verzweiflung geworden, weil man der Meinung war, die Geschichte habe vielleicht eine Aussage über Deutschland im Sinn einer Endgültigkeit gemacht.Heute, meine ich, sieht die Welt wirklich anders aus. Auch Herr Kollege Heimann hat auf diese Prozesse der Veränderung hingewiesen.Wenn es damals Prediger gegeben hat, die gesagt haben, man müsse die Mauer, die DDR und ich weiß
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11425
Lummernicht was noch alles in dieser Welt als Realitäten anerkennen — wir haben das gestern noch einmal beim Regierenden Bürgermeister gehört — , dann spürt man heute doch zunehmend die Brüchigkeit dieser Formel von der Anerkennung der Realitäten.Welcher Realitäten eigentlich? Realitäten von heute hat es gestern zum Teil nicht gegeben. Realitäten von heute wird es morgen wahrscheinlich nicht mehr geben. Es verändert sich etwas. Die Frage ist doch sicher: In welche Richtung geht diese Veränderung?Alles geschieht in der Zeit. Wir können, glaube ich, heute ruhig sagen, daß die Zeit nicht gegen uns arbeitet — ein Eindruck, der früher oft vorhanden war. Sie arbeitet vielmehr für uns, meine ich, und zwar aus zwei erkennbaren Gründen.Kollege Büchler hat auch von den Bedingungen des Friedens gesprochen. Auf Dauer ist eine Bedingung des Friedens, des inneren wie des äußeren, mehr Freiheit.
Diese Freiheit bahnt sich ihren Weg. Alles muß im Frieden geschehen. Das ist klar. Aber eine wirklich konsequente und dauerhafte Friedensregelung wird ohne Freiheit und Gerechtigkeit nicht möglich sein.Wir haben eine zweite Erfahrung gemacht und machen sie zunehmend: Was unter den Bedingungen des Wohlstands, des Versuchs, die Lebensqualität nicht nur in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen zu erreichen, geschieht, hat auch etwas mit Freiheit zu tun. Ich denke an die zunehmende Erkenntnis etwa in Ungarn — Herr Professor Heimann, ganz unbeschadet der Frage, wie man sich zu der einen oder der anderen Grenze äußert — : Eine Bedingung von mehr Wohlstand ist auch mehr Freiheit.Wenn das die Linien der Geschichte sind, finde ich, sollten wir doch die historische Vorläufigkeit von manchem, was an Realitäten vorhanden ist, erkennen.Sie haben, Herr Kollege Heimann, gemeint, daß wir die konzeptionellen Grundlagen der veränderten Ostpolitik von damals bis heute nicht akzeptieren. Was sind denn diese konzeptionellen Grundlagen? Der Regierende Bürgermeister hat gestern eine Frage gestellt: Ist es durchdacht, von einer Wiedervereinigung zu reden, die zwei Staaten betrifft, die einander gegenüberstehenden militärischen Blöcken angehören? Wollen die Länder des Westens und des Ostens überhaupt ein großes wiedervereinigtes Deutschland?Die Frage so zu stellen, heißt, sie in dem Sinn zu beantworten: Ich will diese Wiedervereinigung gar nicht. — Anders kann ich das gar nicht verstehen.Wenn das eine konzeptionelle Grundlage Ihrer Politik ist, kann ich nur sagen: Nicht mit mir und nicht mit uns.
Wenn Sie das Selbstbestimmungsrecht wirklich konsequent aufnehmen — in Ihrem Antrag steht es ja —, dann müssen Sie doch irgendwann begreifen: Dies steht im Widerspruch zu einer solchen Fixierung.
Es geht doch darum, daß den Deutschen die Möglichkeit gegeben werden muß, zu einem geeigneten historischen Zeitpunkt selber über ihr Schicksal zu bestimmen — auch, wenn sie es wollen, in den Kategorien eines Staates.Nun können Sie das nicht etwa mit der Formel diskreditieren und diffamieren: Da will jemand den Nationalstaat von vorgestern, des 19. Jahrhunderts.Den Nationalstaat genauso, wie die Franzosen und die Engländer ihn in Europa haben und behalten wollen: Mehr will ich nicht und mehr wollen wir nicht. Aber dies, meine ich, muß doch auch den Deutschen in einem Nationalstaat gestattet sein, der sich in Europa einfügt, etwa im Sinn des Bildes, das Herder einmal verwendet hat, von den konzentrischen Kreisen, wo es die Region, den Staat und die darüber hinausgehende supranationale Gemeinschaft gibt. Das alles sind doch Bilder, an denen man sich orientieren kann.Ich bin ziemlich sicher, daß die Tendenzen der Geschichte, jene historischen Perspektiven, von denen Sie gesprochen haben, Herr Professor Heimann, in eine solche Richtung verlaufen, das deutsche Problem eben in dem Sinn der Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts zu lösen.
Herr Abgeordneter Lummer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt ?
Bitte schön.
Kollege Lummer, ich habe nur eine Verständnisfrage. Ist es Ihrer Logik entsprechend, daß ein solches wiedervereinigtes Deutschland, so wie Sie es beschreiben, weder der NATO noch dem Warschauer Pakt angehört, sondern dann, so wie Sie es beschreiben, neutral wäre?
Ich vermute, daß die Lösung dieser Problematik zu einem Zeitpunkt erfolgen wird, zu dem der Warschauer Pakt und die NATO, wenn sie noch formal existieren, jedenfalls ihre noch heute vorhandene Bedeutung verloren haben werden. Das ist gut so; denn ich glaube, daß diese Lösung nur dann möglich ist, wenn es einen Prozeß der Abrüstung gibt, den wir alle wollen.Um auch davon zu reden: Dieser Prozeß der Abrüstung ist inzwischen ebenfalls auf einem guten Wege; einmal sicher aus der Erkenntnis, daß im atomaren Zeitalter Krieg kein Mittel der Politik mehr ist, sicher aber auch aus der Erkenntnis, daß es töricht ist, diese materiellen Ressourcen für nichts und wieder nichts wegzuschmeißen. Die Sowjetunion braucht — wir vielleicht auch — das Geld für andere und wahrscheinlich bessere Dinge. Es gibt also Triebfedern der Abrüstung, von denen ich glaube, daß sie sich so stark erweisen werden, daß wir auch die militärischen Bündnisse in absehbarer Zeit in einem anderen Lichte werden sehen können.
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11426 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
LummerUm das noch einmal zu unterstreichen, Herr Kollege Voigt: Ich glaube, daß sich die Europäische Gemeinschaft nicht mit jenen Kräften verbinden sollte, die— wie das Militärische — nur den Status quo stabilisieren können, sondern mit den dynamischen Kräften. Das ist die Auseinandersetzung um die Frage der Menschenrechte, alles, was von Helsinki ausgegangen ist. Ich bestreite ja gar nicht, daß wir zuweilen die dynamischen Kräfte, die darin stecken, nicht immer so gesehen und eingeschätzt haben. Aber sie sind ganz zweifellos da, und sie verändern die Welt.Ganz zweifellos ist es auch so, daß die Europäische Gemeinschaft als eine Wirtschaftsmacht durch bloßes Dasein und So-Sein einen Veränderungsdruck auf den Osten Europas ausübt und damit die Leitlinien der historischen Entwicklung bestimmt.
Von daher gesehen, so möchte ich wirklich sagen, haben wir alle Veranlassung, unsere Politik fortzuführen. Ich bin überzeugt davon, dabei wird es in Zukunft auch wieder mehr Gemeinsamkeit geben. Wir werden in der Lage sein, eine Perspektive zu erkennen, die im Rahmen einer europäischen Lösung auch eine deutsche Lösung so, wie die Deutschen das wollen, zuläßt.
Herr Abgeordneter Lummer, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage
— sie wird Ihnen nicht auf die Zeit angerechnet — des Abgeordneten Heimann?
Bitte schön.
Herr Kollege Lummer, nehmen wir einmal an, die Prozesse verlaufen so, wie Sie sie darstellen. Sind Sie dann der Meinung, daß es um ein Deutschland in den Grenzen von 1937 ginge, und, wenn nicht, warum erwähnt Ihr Kollege Werner das heute so ausdrücklich?
Herr Kollege Heimann, ich will einmal eine offene persönliche Bemerkung zu dieser Frage machen. Ich erinnere an etwas: Der Vorstand der Jungen Union Deutschlands hat einmal den Beschluß gefaßt, man solle auf einem Deutschlandtag der Jungen Union die Grenze förmlich anerkennen. Dann haben sie das eingebracht, und es wurde abgelehnt. Ich sage Ihnen: Das eine war so töricht wie das andere. Es gibt Fragen, die eine Antwort in den Verträgen erfahren haben. Da steht das drin. Es bringt überhaupt nichts, diese Frage andauernd wieder auf den Tisch zu legen. Vielmehr sollte man auch einmal eine Frage in angemessener Weise so stehenlassen, wie sie da ist.
— Aber ich bitte um Entschuldigung: Pacta sunt servanda. Natürlich erkennen die Bundesregierung und auch der Bundestag die Verträge an, die geschlossen worden sind. Da bestehen überhaupt gar keine Zweifel.
Aber ich will Ihnen etwas sagen: Gelegentlich habe ich den Eindruck — —
— Entschuldigung, der Kollege Bahr hat hier einmal gestanden und etwas über die Wahrheit in der Politik gesagt. Er hat gesagt, manches könne man nicht gleich sagen. Im Laufe der Zeit habe ich dann erfahren, daß manches — etwa im Zusammenhang mit dem Brief zur Einheit der Nation — von den Sozialdemokraten später uminterpretiert, daß etwas draufgesattelt worden ist, daß man mehr aus den Texten heraus-interpretiert, als man damals dem Volk glaubte zumuten zu können.
Das dürfen Sie nicht machen, mit der Bevölkerung nicht und auch mit uns nicht. Wir sollten bei diesen Texten bleiben. Dann können wir uns getrost dazu bekennen, daß diese Verträge von Ihnen wie auch von uns eingehalten werden.
Das ist eine Gemeinsamkeit, mit der man, glaube ich, ein Stück Kontinuität auch der Deutschlandpolitik fortführen kann. Ich bin sicher, die Gemeinsamkeit wird wachsen, weil die Lehren aus der Historie dazu zwingen werden, und das finde ich gut so.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen auf Drucksache 11/4420. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3585 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mehrheitlich angenommen.Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch den WehrbeauftragtenJahresbericht 1988— Drucksachen 11/3998, 11/4809 —Berichterstatter:Abgeordnete BreuerHeistermannMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Interfraktionell ist nach § 115 der Geschäftsordnung beantragt, dem Wehrbeauftragten zu Beginn dieser Aussprache das Wort zu erteilen.Herr Wehrbeauftragter, Sie haben das Wort.Weiskirch, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein Jahresbericht 1988 hat, wie ich aus vielen Gesprächen mit Soldaten weiß, in jenen Passagen besondere Zustimmung gefunden, in denen ich mich zur sogenannten Akzeptanz der Streitkräfte und des soldatischen Dienstes durch die Gesellschaft
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Wehrbeauftragter Weiskirchgeäußert habe. Ich teile die Auffassung des Bundesministers der Verteidigung, daß die Streitkräfte — ich zitiere aus seiner Stellungnahme zu meinem Jahresbericht — „immer nur besondere Teilaspekte politischer Bildung vermitteln können" . Wenn aber bedauerlicherweise die dafür eigentlich berufenen Institutionen, z. B. die Schulen, diese politische Bildungsaufgabe nicht oder sogar kontraproduktiv leisten, dann bleibt halt der Bundeswehr nichts übrig, als sich dieser Aufgabe, einer Pflichtaufgabe notabene, zu unterziehen.Lassen Sie mich ein ernstes Wort hinzufügen: Ich vermisse, mit vielen Angehörigen der Streitkräfte übrigens, den klaren Schulterschluß der Politik mit unseren Soldaten, genauer gesagt, das eindeutige und durchgehende Engagement aller Politiker für die Männer, die sich zum Dienst in der Bundeswehr verpflichtet haben.
Unsere Soldaten müssen wissen — ich zitiere den Jahresbericht —, „daß sie die Gesellschaft, in der sie leben, mitträgt und stützt". Sie dürfen erst gar nicht auf den Gedanken kommen, sich für ihren Dienst selbst rechtfertigen zu müssen.
Ich hatte in der vergangenen Woche den Besuch von Soldaten einer bayerischen Einheit, die mit ihren Ehefrauen nach Bonn gekommen waren. Von diesen Soldaten wurde mir bittere Klage darüber geführt, daß durch die Medien in der Öffentlichkeit — gestern abend haben wir noch ein Beispiel dafür im Ersten Deutschen Fernsehen gehabt — das Bild einer Bundeswehr gezeichnet werde, die eigentlich völlig überflüssig sei und nur friedensstörend wirke und daß jung in die Streitkräfte kommende Wehrpflichtige durch den aktiven Dienst und den Umgang mit den Vorgesetzten und Kameraden erst mühevoll von dem Trauma befreit werden müßten, an einer ungerechtfertigten Sache mitzuwirken.Der ehemalige Verteidigungsminister Georg Leber hat zu diesem traurigen Kapitel kürzlich in der „Quick" die Sorge geäußert, die Bundeswehr könne sich in eine Art von Getto zurückziehen und sich von der Bevölkerung, der sie diene, immer weiter entfernen. Georg Leber wörtlich: „Wir sollten uns nicht täuschen, diese Armee wird gebraucht. Jemand, der das Gegenteil sagt, wirkt vielleicht im Augenblick populärer, aber er täuscht sich und uns alle."
Dem, meine Damen und Herren, habe ich nichts hinzuzufügen.Lassen Sie mich nun einige Fragen aufgreifen, die nach der Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung zu meinem Jahresbericht wohl noch der Klärung oder doch der Erörterung bedürfen. Um es vorweg zu sagen: Das Bundesministerium der Verteidigung hat sich in diesem Jahr besonders nachhaltig den Anmerkungen und Anmahnungen des Wehrbeauftragten angeschlossen. Formulierungen wie „Dem Wehrbeauftragten wird zugestimmt" oder „Der Wehrbeauftragte hat recht" und ähnliche finden sich in der Stellungnahme des Verteidigungsministeriums in weiten Passagen.Ich begrüße es, daß dies auch für meine kritischen Ausführungen zum Thema „Menschenführung in den Streitkräften" gilt. Gleichwohl möchte ich hierzu folgendes anmerken: Wenn dieses Thema im Jahresbericht 1988 anders als im Jahr davor nicht mit Schwerpunkt behandelt wurde, darf man daraus nicht, wie gelegentlich geschehen, den Schluß ziehen, daß es da zu spürbaren Verbesserungen gekommen sei. Die Anzahl der Eingaben gerade zu diesem Thema ist auch im vergangenen Jahr gleich hoch geblieben. Auch künftig muß daher der Bundesminister der Verteidigung um Verbesserungen in der Praxis der Menschenführung ernsthaft bemüht bleiben. Hierzu zählt vorrangig auch eine beschleunigte Weiterentwicklung der Beteiligungsrechte, wie ich sie im Jahresbericht nachdrücklich angemahnt habe.
Nachdem durch die Sachverständigenanhörung am 14. Juni 1989 im Verteidigungsausschuß die Erkenntnisgrundlagen nochmals erweitert wurden, vermag ich keine Gründe mehr zu erkennen, warum der Abschluß der vom Bundesminister der Verteidigung zu leistenden Arbeit weiter hinausgezögert werden sollte.Trotz der Übereinstimmung in vielen Punkten bleiben naturgemäß Meinungsunterschiede, auch solche, die man nicht einfach unter den Teppich kehren sollte. Lassen Sie mich einige nennen.Der einzige wirklich kontroverse Punkt in der Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung betrifft meine Ausführungen zum Beurteilungswesen. Sie muß leider als unzureichend bezeichnet werden
und geht auf konkrete Bedenken zum Beurteilungsverfahren erst gar nicht ein. Das geschilderte Beispiel in meinem Bericht, das Beispiel eines Divisionskommandeurs, der die Meinung vertreten hatte, die Beurteilungsbestimmungen garantierten keinen einheitlichen Bewertungsmaßstab, wird ohne nähere Begründung abgetan. Dabei negiert man die erheblichen Bedenken, die zur Maßstabfindung in den Beurteilungen bestehen. Diese aber beschäftigen mein Amt heute immer noch, vor allem in Eingaben von Portepeeunteroffizieren, die fürchten, in der Beförderungsreihenfolge ungerechtfertigt zurückgefallen zu sein.
Die Beurteilung ist nach wie vor, meine Damen und Herren, eines der wichtigsten Personalführungsmittel. Gerade deshalb muß darauf geachtet werden, daß die Beurteilungsvorschriften, zu denen auch die Hilfen zur Maßstabfindung gehören, einheitlich angewendet werden. Die Bedeutung der Beurteilung als Förder- und Beförderungsauswahlkriterium wird von den Soldaten zunehmend erkannt. Sie reagieren deshalb besonders kritisch, weil sie befürchten müssen, durch eine unsachgemäße Beurteilung zusätzlich zu den Folgen des Verwendungs- und Beförderungsstaus benachteiligt zu werden. Dieses Unrechtgefühl berührt nicht nur die Akzeptanz von Personalent-
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Wehrbeauftragter Weiskirchscheidungen, sondern auch letztlich — das sage ich mit allem Nachdruck — die Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr überhaupt.Ich möchte nun einige Punkte ansprechen, die vor allem die jungen Wehrpflichtigen betreffen. Zunächst will ich positiv vermerken, daß die Musterungsärzte nunmehr in den Tauglichkeitsrichtlinien angewiesen wurden, solche Wehrpflichtige als nicht wehrdienstfähig zu beurteilen, von denen aus einem bestimmten gesundheitlichen Grund nicht zu erwarten ist, daß sie innerhalb von fünf Jahren einberufbar sind. Nach Feststellungen des Inspekteurs des Sanitätswesens besteht seit 1963 für Musterungsärzte die Vorgabe, täglich im Durchschnitt 25 Untersuchungen durchzuführen. Die musterungsärztlichen Dienste haben aber zur Zeit nicht selten 30 und mehr Wehrpflichtige am Tag zu untersuchen. Bei dieser Sachlage scheint mir eine fach- und sachgerechte Musterung, zumal nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, kaum noch möglich zu sein.Unklar ist es mit der Auffassung des Bundesministers der Verteidigung über die besondere Belastung heimatfern einberufener Soldaten bestellt. Wenn er zunächst die Begriffe heimatnahe bzw. heimatferne Einberufung als Beispiel mit 50 bis 100 km Entfernung vom Wohnort verknüpft, verschweigt er, daß die Einberufungs- und Versetzungspraxis grundsätzlich davon ausgeht, daß eine Stationierung 150 km vom Heimatort entfernt noch als heimatnah angesehen wird.Bei den dann genannten Vorteilen, die sich aus einer heimatfernen Stationierung, z. B. in einer größeren Stadt, ergeben sollen, wird völlig verkannt, daß es den Wehrpflichtigen in erster Linie darum geht, den Kontakt zu ihrem bisherigen Lebenskreis — und wohl auch zum künftigen Arbeitgeber — zu erhalten. Mithin handelt es sich bei den vom Bundesminister der Verteidigung erwähnten Vorteilen nur um scheinbare Vorteile.Schließlich aber bleibt anzumerken, daß im Jahresbericht 1988 keineswegs gefordert worden ist, als Berechnungsfaktor für Entfernungszulagen die rein räumliche Distanz zu wählen. Entscheidend dürften vielmehr der Zeitverlust und der Zeitaufwand sein, den Wehrpflichtige hinzunehmen oder zu erbringen haben. Als Bemessungsfaktor käme deshalb beispielsweise die erforderliche Fahrzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Frage.Die abschließenden Bemerkungen des Bundesministers der Verteidigung, Ausgleich — ich zitiere — „dürfe im Grundsatz nicht vom Wohlverhalten der Soldaten abhängig gemacht werden", sind zumindest mißverständlich. Hier wäre eine klare Absage an eine unzulässige Verknüpfung von Dienstausgleich mit erzieherischen Maßnahmen erforderlich gewesen.Die Vielzahl von Eingaben aus Reservistenkreisen hatte mich veranlaßt, in meinem Jahresbericht erneut Kritik an den Einberufungsverfahren und an der Durchführung der Wehrübungen zu üben und auf Verbesserungen zu drängen. Vor wenigen Tagen nun habe ich mich vom Bundesminister der Verteidigung eingehend über die hierzu angelaufenen Arbeiten unterrichten lassen. Mit Interesse konnte ich zur Kenntnis nehmen, wie den immer wieder vorgetragenen Kritikpunkten künftig begegnet werden soll.So ist u. a. beabsichtigt: erstens die Festlegung der Mob-Verwendung bereits am Ende der Grundwehrdienstzeit unter Beteiligung der kommenden Reservisten; zweitens eine frühere Unterrichtung des Reservisten über die geplante Heranziehung zu einer Wehrübung; drittens eine zeitgleiche Unterrichtung des Arbeitgebers, was ich für sehr wichtig halte; sodann eine stärkere Berücksichtigung der persönlichen, familiären und beruflichen Belange des Reservisten und schließlich die Straffung der Wehrübungen, z. B. durch verstärkten Einsatz technischer Hilfsmittel wie Simulatoren.Ich halte die Verwirklichung dieser und ähnlicher Maßnahmen für dringend und werde mit Aufmerksamkeit beobachten, ob und wie sie letztendlich in die Tat umgesetzt werden. An Hinweisen aus der Truppe selbst — daran habe ich nicht den geringsten Zweifel — wird es mir auch in Zukunft nicht fehlen.Mir haben, meine sehr verehrten Damen und Herren, am 3. April den 30. Jahrestag der Amtsübernahme des ersten Wehrbeauftragten begangen. In seiner Nachfolge haben sich fünf weitere Wehrbeauftragte bemüht, ihrem Verfassungsauftrag gerecht zu werden, d. h., über die Grundrechte der Soldaten in den Streitkräften zu wachen und den Bundestag bei der parlamentarischen Kontrolle über die Streitkräfte zu unterstützen. Die Zahl der Eingaben, die den Wehrbeauftragten als Petitionsinstanz erreichen, pendelt pro Jahr zwischen 7 000 und 9 000. Daraus spricht viel Vertrauen. Dieses Vertrauen zu rechtfertigen, bemühen sich meine Mitarbeiter und ich nach bestem Vermögen.Ich kann hier — und damit lassen Sie mich schließen — eine ganz erfreuliche Feststellung treffen: Der Rückhalt, den der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages bei seinem Auftraggeber, eben dem Deutschen Bundestag, also bei Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, findet, ist besser kaum denkbar. Und dafür danke ich Ihnen.
Herr Wehrbeauftragter, für alle Fraktionen des Hauses danke ich Ihnen für Ihren Jahresbericht. In diesen Dank schließe ich Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein. Aber der Dank gilt insbesondere Ihrer engagierten Arbeit und dem Einsatz für die Bundeswehr.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Herr Breuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Institution des Wehrbeauftragten ist heute, 30 Jahre nach ihrer Einrichtung durch den Deutschen Bundestag, hoch anerkannt. Dies ist gerade eben durch die Worte der Frau Präsidentin deutlich geworden.Wichtig ist die Feststellung, daß nirgendwo auf der Welt Streitkräfte derart effektiv, aber auch derart politisch kontrolliert werden wie in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundeswehr kann mit Recht von sich behaupten, die demokratisch bestkontrollierte Streitmacht der Welt zu sein. Ich hoffte, meine Damen und Herren, daß dies in der gesellschaftlichen Ausein-
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Breuerandersetzung über die Bundeswehr des öfteren deutlich würde.Die Institution des Wehrbeauftragten ist ein wesentliches Element, diese Behauptung mit Recht aufstellen zu können. Ich möchte den Wehrbeauftragten der vergangenen drei Jahrzehnte Dank für ihre Arbeit sagen und Willi Weiskirch heute Dank sagen nicht nur für den Bericht 1988, sondern auch für seine Arbeit als Anwalt der Soldaten.
Der Bericht des Wehrbeauftragten zum Jahr 1988 greift erstmals ein Stichwort auf, das seit geraumer Zeit Schlagzeilen macht: die Frage der Akzeptanz der Bundeswehr. Ich möchte auf eine Stelle im Bericht des Wehrbeauftragten eingehen, die ich hier zitieren möchte:Mit der schwindenden „Akzeptanz" der Bundeswehr und ihres Verteidigungsauftrages in unserer Gesellschaft hat sich sowohl bei den Berufs- und Zeitsoldaten als auch bei den Wehrpflichtigen spürbare Unruhe breitgemacht. Ein Stabsfeldwebel, der als Vertrauensmann der Unteroffiziere mit mir ein Gespräch hatte, brachte diese Unruhe auf die folgende Formel: „Ich bin jetzt 28 Jahre Soldat und habe meinen Beruf immer geliebt und überzeugt vertreten. Nun muß ich plötzlich erleben, wie meine Nachbarn, ja selbst meine Freunde von mir abrücken, weil sie in mir einen ,Friedensstörer', ja — so wörtlich — einen ,Killer' entdeckt zu haben glauben."Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß Willi Weiskirch gerade mit dem Zitieren des Erlebens dieses Soldaten sehr deutlich macht, wie sich viele Soldaten der Bundeswehr heute fühlen. Sie haben kein Verständnis dafür, daß einerseits der Auftrag, den sie ausführen, vom Souverän, vom Staatsvolk, über das Grundgesetz festgelegt ist, sie aber andererseits feststellen müssen, daß wachsende Teile dieses Volkes versuchen, sie in eine Ecke des Unverständnisses hineinzutreiben. Dem müssen wir alle gemeinsam widerstehen. Das ist der Auftrag der Politik. Wir dürfen die Soldaten der Bundeswehr nicht alleinlassen.
Mit welcher Berechtigung maßen sich heute beispielsweise Hinz und Kunz an,
die Berufssoldaten danach zu fragen, mit welcher moralischen Begründung sie eigentlich Soldat geworden sind, d. h. sich in die Verpflichtung begeben haben, einen Beruf zu wählen, der seine Grundlagen in der Institution Bundeswehr hat, die ja immerhin Verfassungsrang besitzt? Mit welchem Recht maßt man sich an, moralische Begründungen dafür zu verlangen, daß wehrpflichtige junge Männer ihrer Pflicht nachkommen, die ihnen das Grundgesetz vorschreibt? Es kann doch nicht abwegig sein, sich den Verpflichtungen zu stellen, die die Gesetzeslage der Bundesrepublik Deutschland, zumal das Verfassungsrecht, vom einzelnen verlangt. Ich glaube, wir sind in Teilen unserer Gesellschaft an einem Punkt angelangt, wo man sich wirklich fragen muß, ob denn nicht von den Falschen die moralische Rechtfertigung gefordert wird.Meines Erachtens ist das Grundgesetz so aufgebaut, daß zunächst einmal von jedem verlangt wird, für diese Verfassung und für die Freiheitsrechte, die sie dem einzelnen bietet, auch über das Soldatsein einzutreten. Das ist die Pflicht, die von jedem verlangt wird. Es ist nicht etwa so, daß derjenige, der dieser Pflicht nachkommt, sich dafür vor der Öffentlichkeit rechtfertigen muß. Meine Damen und Herren, das Gegenteil ist der Fall: Derjenige, der dieser Pflicht nicht nachkommt, hat sich vor seinem Nachbarn, hat sich vor dem Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland dafür zu rechtfertigen, daß er etwas nicht tut, was normalerweise Pflicht ist.
Wenn der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages uns dazu auffordert, die Politik dazu auffordert, den Soldaten der Bundeswehr den entsprechenden moralischen Rückhalt zu geben, dann ist es wichtig, gerade auch auf diesen Punkt hinzuweisen. Der Wehrbeauftragte fordert es von jedem.Ich möchte an dieser Stelle einmal auf die Frage eingehen, ob denn wirklich jeder, der sagt, er stehe zur Bundeswehr, tatsächlich dazu bereit ist, auch mit denjenigen eine Diskussion aufzunehmen, die gegen den Auftrag der Bundeswehr in der Öffentlichkeit agieren. Lassen Sie mich hierzu ein Beispiel heranziehen, das in der deutschen Presseöffentlichkeit Schlagzeilen gemacht hat. Ich meine die Errichtung von Mahnmalen für den sogenannten unbekannten Deserteur.In Bremen wurde im Jahre 1986 mit finanzieller Unterstützung des Senats — ich füge hinzu: des SPD-geführten Senats — das erste Denkmal dieser Art errichtet.
Wichtig ist, einmal zu schauen, wer die Errichtung dieses Denkmals politisch betrieben hat.
— Herr Kollege Heistermann, hören Sie einen Augenblick zu! Es geht hier nicht um das Feindbild, sondern es geht darum, ob Sie dazu bereit sind, die Diskussion mit denjenigen aufzunehmen, die der Bundeswehr Schaden zufügen. Darum geht es.
Die Errichtung dieses Denkmals hat eine Gruppe betrieben, die sich nennt: „Reservisten verweigern sich". 80 Mitglieder dieser Gruppe haben am 18. Oktober 1983 ihre Wehrpässe öffentlich verbrannt und zur Verweigerung des Wehrdienstes aufgerufen.
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BreuerBei diesem Mahnmal für den unbekannten Deserteur geht es in der Zielrichtung nicht nur um die völlig undifferenzierte Gleichsetzung der Deserteure des letzten Weltkrieges mit den Widerstandskämpfern gegen das Nazi-Regime — schon das ist schlimm genug —, sondern es geht auch darum, ein allgemeines gesellschaftliches Verhalten dahin gehend zu produzieren, den Wehrdienst für die freie Verfassung der Bundesrepublik Deutschland zu verweigern und nicht anzuerkennen, daß dies die freieste Verfassung ist, die jemals auf deutschem Boden existierte, u. a. auch deshalb, weil sie die Möglichkeit bietet, den Wehrdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern.
Herr Kollege Heistermann, ich nehme das, was Sie eben im Zwischenruf hinsichtlich des Aufbauens eines Feindbildes formulierten, ernst, weil ich es nicht möchte.
Ich möchte Ihnen einerseits zugestehen, daß Sie für die Bundeswehr und ihren Auftrag öffentlich eintreten; das weiß ich. Aber ich möchte Sie andererseits herzlich darum bitten, die Diskussion auch in Ihrer Partei mit denjenigen intensiv und engagiert aufzunehmen, die die Gewähr, die ich Ihnen attestiere, nicht bieten können. Engagieren Sie sich in Ihrer eigenen Partei, und machen Sie deutlich, daß hier Grundfesten unserer Verfassung erschüttert werden, meine Damen und Herren.Ich bin davon überzeugt, daß es notwendig ist, unter Demokraten auch so zu reden. Es hat keinen Sinn, den Mantel des Schweigens darüberzulegen und die eigentlichen Probleme nicht zu erkennen.Meine Damen und Herren, nachdem ich mich bisher im wesentlichen mit den Einflußfaktoren außerhalb der Bundeswehr beschäftigt habe, möchte ich mir jetzt erlauben, über Dinge zu reden, die innerhalb der Bundeswehr Einfluß auf die Motivationslage der Soldaten nehmen können.Der Bericht des Wehrbeauftragten 1988 spricht meines Erachtens mit Recht davon, daß die Gestaltung des Dienstes für die Soldaten nach wie vor zu kritisieren ist, und zwar sowohl des Dienstes für die Grundwehrdienstleistenden als auch des Dienstes für die Reservisten.Ich möchte an dieser Stelle feststellen, daß es wichtig ist, daß alle Kommandoebenen innerhalb der Bundeswehr, daß alle Führer und Unterführer hinsichtlich der Wehrpflichtigen feststellen, daß sie ihre Dienstzeit in einer Zeit absolvieren, die nach eigenem Empfinden für ihr Leben ungeheuer wichtig ist. Junge Leute, die zur Bundeswehr gehen, befinden sich in einer Phase, in der sie versuchen, sich mit Ausbildung, mit beruflicher Qualifizierung oder mit einem Studium einen Platz in dieser Gesellschaft zu sichern. Wenn gerade in dieser Zeit die Gefahr besteht, daß sie innerhalb der Bundeswehr Signale bekommen, die dahin gehen, daß dies eine verlorene Zeit sein könnte, dann sind das Signale, die mit großem Engagement aus der Bundeswehr heraus bekämpft werden müssen, meine Damen und Herren. Die jungen Leute dürfen nicht den Eindruck haben, die Bundeswehrzeit sei für sie eine verlorene Zeit.
Hier ist es lohnend, sich zu engagieren. Hier dürfen wir die Bundeswehr ebenfalls nicht im Regen stehenlassen. Wir stehen in der Verantwortung, die politischen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß die Frage der Weiterbildung, ob militärischer oder ziviler Art, innerhalb der Bundeswehr optimaler gelöst werden kann.
Wir, meine Damen und Herren, stehen in der Verantwortung dafür, der Bundeswehr so viele Stellen zu geben, daß die Führer- und Unterführerdichte gewährleistet, daß man sich mit dem jungen Soldaten engagierter und besser beschäftigen kann.
Auch da dürfen wir die Bundeswehr nicht alleine lassen.Meine Damen und Herren, wir sind dabei — ich möchte sogar sagen: mit Hochdruck — , in der Verfolgung der Zielsetzung des Attraktivitätspaketes Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Dienstzeit für die jungen Soldaten der Bundeswehr, für die Wehrpflichtigen und die Zeitsoldaten und für die Längerdienenden, optimaler gestaltet werden kann und daß die Dienstzeit auch für die Reservisten eine bessere Ausgestaltung erfährt. Ich glaube, daß die Diskussion um die Bundeswehr auf Grund der Veränderung unserer Gesellschaft gerade in der Aus- und Weiterbildung eine neue Dimension erhält und daß das Parlament hinsichtlich der finanziellen und personellen Möglichkeiten für die Bundeswehr dort in einer besonderen Herausforderung steht, der sich meine Fraktion gerne stellen möchte.
An dieser Stelle nochmals ganz herzlichen Dank für den Bericht 1988 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Ich bin insgesamt der Meinung, daß er uns die Zielsetzungen, die wir verfolgen müssen, deutlich aufgezeigt hat. Ich bin davon überzeugt, daß die gestellten Aufgaben in den Händen des Verteidigungsministers Dr. Gerhard Stoltenberg hervorragend aufgehoben sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Heistermann.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Kollege Breuer, das war eine Rede in die Bundeswehr hinein, aber keine Rede für die Bundeswehr. Ich glaube, wenn Sie das noch einmal nachlesen, werden Sie feststellen, daß das am
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HeistermannThema, an dem, was heute zur Debatte steht, vorbei war.
Die Bundeswehr steht auf dem Prüfstand, nicht nur im Jahresbericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, sondern auch in der Offentlichkeit. Das hat vielfältige Gründe: zum einen internationale Verhandlungen über Abrüstungs- und Rüstungskontrollbegrenzungen, zum anderen hausgemachte Probleme.Wenn ich hier feststelle, die Bundeswehr steht auf dem Prüfstand, dann sind damit nicht die Soldaten gemeint, sondern es sind jene angesprochen, die heute bestimmen, wie sich die Bundeswehr gliedert, welchen Personalumfang sie hat, und die Verantwortung dafür tragen, wie auf Grund der demographischen Entwicklung eine Bundeswehr in den 90er Jahren aussehen wird.Meine Damen und Herren, diese Fragen zu beantworten ist nicht Sache der Soldaten, sondern der Bundesregierung. Die große Hilflosigkeit der Bundesregierung in vielen Fragen der Bundeswehr ist eine der wesentlichen Ursachen dafür, daß sich der innere Zustand der Bundeswehr derart verschlechtert hat.Lassen Sie mich das an einigen Beispielen deutlich machen, wie sie im Bericht des Wehrbeauftragten vermerkt sind: Das Soldatengesetz mit seinen Bestimmungen über die politische Betätigung bindet alle Soldaten, ganz besonders natürlich die Vorgesetzten. Ich versetze mich dabei in die Lage eines Soldaten, der die offizielle Sicherheitspolitik der Bundesregierung zu vertreten hat, z. B. die damals beabsichtigte Wehrdienstverlängerung von 15 auf 18 Monate, die zwar unsinnig, aber angeblich doch unumgänglich war. Jahrelang hat die Bundeswehr die Notwendigkeit von 18 Monaten Wehrdienst verteidigen müssen.Ich kann Ihnen sagen, das war wahrlich keine kompetente Meisterleistung. Mit Ihrem Zickzackkurs haben Sie den Soldaten und ganz besonders den Wehrpflichtigen sehr viel zugemutet, Herr Minister.
Die Aussage unseres Bundespräsidenten, die der Wehrbeauftragte zitiert — „. . . nicht der Soldat ist die Zielscheibe des Zweifels. Dikussionsbedürftig und diskussionswürdig ist dagegen die Sicherheitspolitik" =, wird von uns voll mitgetragen. Für uns ist es deshalb keine Frage, daß kontroverse Auseinandersetzungen über den Weg zu einem dauerhaften Frieden und die richtige Ausgestaltung der Sicherheitspolitik sich nicht in Angriffen erschöpfen dürfen, die selbst vor der persönlichen Integrität der Soldaten nicht haltmachen.Schon in der Vergangenheit, Kollege Breuer, haben wir derartige Angriffe auf die Integrität der Soldaten zurückgewiesen. Dies werden wir auch in Zukunft tun. Denn der Soldat erfüllt nicht nur einen aus dem Grundgesetz abgeleiteten Auftrag, sondern als Staatsbürger in Uniform steht er unter dem vollen Schutz unseres Grundgesetzes, das die Würde desMenschen als unantastbar erklärt. Das ist der Maßstab, den wir anzulegen haben.
Wie erlebt der Soldat in der Bundeswehr nun die Leitidee vom Staatsbürger in Uniform? Es kann kein Zweifel daran bestehen: Das Konzept der inneren Führung hat sich bewährt, es ist vorbildlich. Müssen wir aber nicht kritisch festhalten, daß trotz 30jähriger Erfahrung und Praxis immer wieder gravierende Mängel in der Menschenführung auftreten? Wie kommt es zu den Übergriffen? Wie kommt es, daß gegen die elementaren Grundsätze der inneren Führung immer wieder verstoßen wird? Sind die Auf gaben und die Wirkungsfelder der inneren Führung bei der Menschenführung, der Betreuung und Fürsorge, der politischen Bildung und der soldatischen Ordnung auf der Höhe der Zeit? — Da sind Zweifel angebracht.Wo ist das Konzept des Bundesministers der Verteidigung dafür, den soldatischen Dienst im Zeichen des Abrüstungs- und Entspannungsprozesses zu begründen, die militärischen Aufgaben im Hinblick auf neue Bedingungen einsichtig und verständlich zu machen, wo das Konzept dafür, die Belastungen auszugleichen, die sich aus der Spannung zwischen den Rechten des Soldaten als Staatsbürger und seinen gesetzlich begründeten Pflichten und den Bedingungen seines Dienstes ergeben? — Die Truppe spürt, daß diese Bundesregierung auf drängende Fragen keine nachvollziehbaren Antworten gibt. Mit Befehl und Gehorsam mag man für einige Zeit vorhandene Probleme überdecken; die Folgen des Nichthandelns werden aber für die gesamte Bundeswehr negativ sein.
Wie kann es eigentlich dazu kommen, Herr Bundesminister, daß sich innerhalb der Bundeswehr immer mehr Interessengruppen zur Durchsetzung ihrer Forderungen bilden. Da gibt es die Gruppe „Hauptleute im Stau", die Gruppe der Jet-Piloten, der Flugbesatzungen nicht strahlgetriebener Flugzeuge, des technischen Prüfpersonals, der Heeresflieger und jetzt auch noch die Gruppe „Unteroffiziere im Stau". Weitere Gruppen zeichnen sich ab. Spürt diese Bundesregierung nicht mehr, was sich hier an Protestpotential aufbaut? Merkt diese Bundesregierung nicht, daß sich zwischen der militärischen Führung einerseits und den Soldaten andererseits ein Vertrauensschwund von riesigen Ausmaßen auftut? — Da ist viel Vertrauen verspielt worden, und dies hat die Bundesregierung mitzuverantworten. Sie steht nach fast siebenjähriger Regierungsverantwortung vor dem Schrotthaufen ihrer nicht eingehaltenen Versprechungen.
Unsere wiederholten Hinweise auf Fehlentwicklungen glaubten Sie durch besonders markige Worte wegdrücken zu können. Die Wirklichkeit hat Sie aber schneller eingeholt, als es Ihnen lieb sein konnte. Wir haben recht behalten mit unseren Warnungen, daß der zahlenmäßige Umfang der Bundeswehr nicht einzuhalten ist. Wir haben recht behalten damit, daß die finanziellen Ressourcen fehlen, um die von Ihnen ge-
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Heistermannplanten Vorhaben zu verwirklichen. Wir haben recht behalten mit unserer Feststellung, daß die Aufgaben der Bundeswehr in den 90er Jahren nur mit einer neuen Wehrstruktur gelöst werden können. Die Soldaten in der Bundeswehr haben erkannt, daß sie für eine Politik den Kopf hinhalten mußten, die sich als falsch erwiesen hat, und das schafft kein Vertrauen.
Herr Abgeordneter Heistermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breuer?
Ich gestatte.
Herr Kollege Heistermann, Sie sprachen eben die Jet-Besatzungen an.
Ist es nicht so, daß sich gerade die Jet-Besatzungen dagegen wenden, daß sie — gerade vor dem Hintergrund der Tiefflugproblematik — in zunehmendem Maße durch Entscheidungen der Gemeinderäte oder anderer politischer Gremien in Schwierigkeiten kommen,
und ist es nicht auch so, daß sie sich gerade in dieser Frage insbesondere mit SPD-Gemeinderäten, SPD-Unterbezirksvorständen usw. auseinandersetzen müssen?
Herr Kollege Breuer, ich antworte Ihnen nur kurz: Ich habe noch keinen Jet-Piloten getroffen, der beantragt aus der Bundeswehr entlassen zu werden, weil er Probleme mit örtlichen SPD-Kommunalpolitikern hatte. Der tritt aus der Bundeswehr aus, weil er sich durch seine militärische Führung nicht mehr vertreten gefühlt hat, und da liegen die wesentlichen Ursachen und die wesentlichen Begründungen.
Ich möchte einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen. — Unter Ihrer Regierungsverantwortung erlebt die Bundeswehr nun den dritten Verteidigungsminister. Jeder dieser Verteidigungsminister hat vor diesem Hause erklärt, daß er alles überprüfen werde. Es sei mir die Frage erlaubt: Gibt es eigentlich keine Konzeption der CDU/CSU und der FDP, die verbindlich festlegt, welche Sicherheitspolitik umgesetzt werden soll und was man tun will, um den sozialen Belangen der Soldaten gerecht zu werden? Warum muß jeder Minister hier antreten und sagen „Ich mache ständig was Neues"? Das zeugt von Hilflosigkeit, und das spüren die Soldaten draußen. Deshalb hat die Bundesregierung innerhalb der Bundeswehr auch so viel an Vertrauen verloren.
Herr Abgeordneter Heistermann, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle?
Bitte, Kollege Biehle.
Herr Kollege Heistermann, mich hat ein Satz betroffen gemacht, den Sie gerade ausgesprochen haben. Sie haben gesagt, Soldaten hätten den Kopf hinhalten müssen für eine Politik, die falsch gewesen sei. Teilen Sie nicht meine Auffassung, daß dies völlig im Widerspruch zu dem steht, was Ihr ehemaliger Parteivorsitzender, Altbundeskanzler Brandt, am vergangenen Freitag hier gesagt hat im Sinne des Lobes dieser Friedenspolitik, die sich auch in der Begegnung mit Gorbatschow abgezeichnet hat?
Hier geht es nicht um die Friedenspolitik und um die Initiativen zum Ausgleich zwischen den Völkern, sondern hier geht es um die inneren Probleme der Bundeswehr. Hierüber haben wir heute zu debattieren, und die Bundesregierung hat heute Antworten zu geben auf die Fragen, die die Opposition und die Parlamentarier dieses Hauses hier stellen.
Glaubt die Bundesregierung tatsächlich, mit einem sogenannten Attraktivitätsprogramm die Probleme der Bundeswehr lösen zu können? Die entscheidende Frage ist doch: Warum bedarf es eines solchen Programms für die Bundeswehr? Das muß doch Ursachen haben. Wer ist eigentlich für diese Ursachen verantwortlich? Eine Fraktion, Kollege Breuer, glaubt sogar mit einem Bundeswehrbeauftragten das Problem angehen zu müssen.Das alles sind Versuche, die scheitern werden; denn das Herumdoktern an Symptomen löst kein Problem der Bundeswehr. Notwendig sind klare politische Entscheidungen, die Umfang, Struktur und finanzielle Rahmenbedingungen eindeutig und planbar festlegen. Davor drücken Sie sich. Wer so eklatant zwischen militärischen Beschaffungen einerseits und sozialen Bedingungen der Soldaten andererseits Mißverhältnisse entstehen läßt, darf sich doch nicht wundern, daß die Stimmung in der Bundeswehr auf Null sinkt.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird Sie immer wieder auf Ihre soziale Aufgabe hinweisen, sich den Problemen der Soldaten zuzuwenden. Kollege Breuer, Sie können sicher sein, daß wir die Neuregelung des Wehrsoldes, die Stellenplanprobleme bei den verschiedenen Gruppen der Zeit- und Berufssoldaten, die verbesserten Mitbestimmungsrechte im Rahmen des Bundespersonalvertretungsgesetzes Ihnen auf den Tisch legen werden. Dazu einen Satz aus der Antwort der Bundesregierung auf den Bericht des Wehrbeauftragten. Es heißt dort:Ebenso wichtig ist es für den Soldaten, daß er unsere Lebensordnung im Umgang miteinander erleben, den maßvollen und gerechten Gebrauch von Amtsgewalt erfahren und die Möglichkeit der Beteiligung und Mitgestaltung nutzen kann.
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HeistermannDie Praxis in der Bundeswehr sieht leider anders aus. — Wenn das tatsächlich Ihre Meinung ist, dann lassen Sie uns gemeinsam neue Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitwirkung von Soldaten im Rahmen des Bundespersonalvertretungsgesetzes beschließen. Sie sind jedenfalls herzlich eingeladen, mit uns diese Beratungen im zuständigen Ausschuß zu führen.
Wir erklären von hier aus: Machen Sie weiter auf dem Weg, den Sie bei der Anhörung angedeutet haben. Wir helfen den Soldaten eben nicht dadurch, daß wir solche Sätze in Antworten vermerken, sondern dadurch, daß wir daraus die parlamentarischen Initiativen ableiten und diese hier im Hause auch beschließen.
— Ich freue mich, Kollege Nolting.Aus aktuellem Anlaß möchte ich jetzt noch ein Wort zur neuen Dienstzeitregelung anfügen. Uns liegen inzwischen Hinweise darauf vor, daß bei der Umsetzung der neuen Dienstzeitregelung Mißbrauch nicht auszuschließen ist. Da werden Dienstpläne von bisher 42 Stunden auf 46 Stunden erhöht.
Da gibt es Befehle, Mehrstunden grundsätzlich finanziell auszugleichen und keine Freizeit zu gewähren.
Das ist ein beachtlicher Vorgang. Wir bitten den Wehrbeauftragten, sich dieses Vorgangs anzunehmen,
und wir bitten auch die militärische Führung, eindeutige Befehle in die Truppe zu geben, um klarzumachen, was der Gesetzgeber mit dieser Dienstzeitregelung — die wir nicht für richtig halten, weil wir für eine gesetzliche Regelung sind — beabsichtigte, damit der Handlungsrahmen eindeutig eingehalten wird, wie er vom Parlament beschlossen worden ist. Wir werden sehr genau verfolgen, ob sich die Dienstaufsicht der Kommandeure weiterhin auf eine zweckmäßige, systematische und methodische Gestaltung des Dienstes und der Ausbildung sowie den verantwortungsbewußten Umgang mit der Zeit gerichtet ist, so wie es die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ausführt.Wie Dienstaufsicht versagen kann oder nicht ausgeübt wird, kann bei der Erprobung des T-3F-Fallschirms deutlich werden. Der Wehrbeauftragte schreibt in seinem Prüfbericht unter anderem:Der Truppenversuch war von Anfang an von gravierenden Verstößen gegen die Grundsätze der Inneren Führung begleitet. Zu diesem fehlerhaften Führungsverhalten gehört auch der Einsatz— nun kommt es —von überwiegend kurzdienenden und wehrpflichtigen Soldaten bei der Durchführung des Truppenversuchs.Selbst ein tödlicher Unfall vom 14. Dezember 1983 und ein schwerer Unfall im März 1985 waren immer noch kein Anlaß, das untaugliche Objekt einzustellen.Lassen Sie mich das ganz persönlich anmerken: Man kriegt eine innere Wut, wenn man sich vorstellt, wie leichtsinnig hier mit dem Leben von Untergebenen gespielt wurde.
Das ist nicht die Bundeswehr, aber auch Bundeswehr. Das muß hier vor diesem Hause deutlich angesprochen werden.Lassen Sie mich zusammenfassen. Die Bundeswehr hat hausgemachte Probleme, die lösbar sind, wenn klare politische Beschlüsse gefaßt werden. Ob diese Bundesregierung die Kraft dazu aufbringt, das zu tun, dahinter machen wir allerdings ein Fragezeichen.Nun lassen Sie mich zu Ihnen kommen, Herr Wehrbeauftragter. Bevor ich Ihnen den Dank der Sozialdemokraten abstatte, möchte ich allen Soldaten danken, die ihren Dienst verantwortlich ausfüllen. Wir schließen in diesen Dank die Familienangehörigen ein, die die besonderen Belastungen des Soldatenberufes mitzutragen haben. Bei aller Kritik, die wir auszusprechen haben, können die Soldaten und ihre Familien aber sicher sein, daß wir an ihrer Seite stehen. Ebenso gilt unser Dank dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern, die uns in die Lage versetzen, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Zum 30jährigen Jubiläum des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, lieber Willi Weiskirch, auch von dieser Stelle unseren Glückwünsch.Im übrigen: Wir stimmen dem Beschlußvorschlag des Verteidigungsausschusses zu.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Nolting.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den zurückliegenden 30 Jahren hat uns der Wehrbeauftragte durch seine Berichte in unserer parlamentarischen Kontrollfunktion unterstützt. Für die FDP-Fraktion möchte ich das Jubiläum zum Anlaß nehmen, mich bei Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, und bei Ihren Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit zu bedanken. Das gilt auch für Ihre objektive und ausgewogene Stellungnahme im Jahresbericht 1988. Vielen Dank.
Ich möchte eingangs einige grundsätzliche Aussagen machen. Es ist hier schon darauf hingewiesen worden, daß es im Jahre 1988 8 441 Vorgänge gegeben hat, fast genauso viele wie 1987. Ich will aber sagen, daß man diese Vorgänge nicht pauschal als Beschwerden der Soldaten bezeichnen kann. Denn — auch darauf will ich hinweisen — unter den Einsendern sind auch viele ehemalige Soldaten, sind Familienangehörige, sind Mitarbeiter, sind Nichtgediente usw. Ich will die Zahl von über 8 000 hier wahrlich nicht beschönigen.
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NoltingAber ich möchte auf die Vielzahl von Gruppen hinweisen, die als Petenten in Frage kommen.Außerdem können wir die Bundeswehr — ich will es einmal so sagen — nicht mit einem normalen Unternehmen vergleichen. Denn erstens handelt es sich um Wehrpflicht, aus der zweitens eine hohe Fluktuation resultiert und drittens das Prinzip von Befehl und Gehorsam zwangsläufig zu mehr Konflikten führen kann.Positiv festhalten möchte ich an dieser Stelle auch die weiterhin erfreulich niedrige Zahl von Grundrechtsverletzungen, wenngleich ich auch hinzufügen will: Jede Grundrechtsverletzung ist eine zuviel.In einem weiteren Punkt möchte ich darauf hinweisen, daß der Wehrbeauftragte in seinem Jahresbericht 1987 auf die menschliche Kühle hingewiesen hat. Nunmehr berichtet er, daß sich das Klima verbessert habe. Diese Feststellung wiegt mehr als alle nackten Zahlen. Ich glaube, das ist ein Lob für alle Soldaten.Wir begrüßen, daß der Wehrbeauftragte in seinem diesjährigen Bericht die Negativbeispiele bewußt und verstärkt als besondere Fälle gekennzeichnet hat; wir haben im letzten Jahr darum gebeten — Sie wissen, welche Irritationen der letzte Bericht hervorgerufen hat — , auch dafür bedanken wir uns. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Ausnahmeerscheinungen von Fehlverhalten dürfen nicht auf die gesamte Bundeswehr übertragen werden.Meine Damen und Herren, ich darf wohl für uns alle festhalten, daß wir uns bemühen müssen, die Zahl der Vorgänge weiter zu reduzieren. Wenn die Eingaben aber abnehmen sollen, muß das Betriebsklima innerhalb der Bundeswehr weiter verbessert werden. Das heißt, der Soldat muß sich als Gleichberechtigter und nicht als Untergebener sehen.Ich habe aber den Eindruck, daß zu viele Soldaten dem normalen Dienstweg bei der Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche offensichtlich nicht trauen. Ich erinnere hier an die Befragung, an das Hearing, zu den Beteiligungsrechten der Soldaten und wiederhole noch einmal unsere Forderung: Die Mitwirkungsrechte der Soldaten müssen überpüft, deren gesetzliche Grundlagen überarbeitet und unter Berücksichtigung des Auftrages den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen angepaßt werden.
Wir wollen für den Arbeitsplatz Bundeswehr in allen Bereichen gesellschaftliche Normalität schaffen.Herr Kollege Heistermann, ich denke, gesellschaftliche Normalität heißt auch — wenn wir sie denn in der Bundeswehr wollen — , daß sich Gruppen in der Bundeswehr bilden können, die ihre Vorstellungen und ihre Forderungen vorbringen. Sie können sich darauf verlassen — Sie haben diese Gruppierungen vorhin eher negativ dargestellt — , daß diese Koalition und diese Bundesregierung die berechtigten Forderungen erfüllen werden.
Wir wären Ihnen und Ihrer Fraktion dankbar, wenn Sie uns dabei unterstützen würden. Ich denke, daß wir uns alle — Koalition wie Opposition — bemühen sollten, gerade in diesen Fragen den Konsens wieder herzustellen. Es ist an dieser Stelle schon auf den letzten Freitag hingewiesen worden. Herr Heistermann, Ihr Kollege Nachredner, Herr Steiner, sollte sich vielleicht bemühen, das, was Sie hier teilweise an Konsens zerschlagen haben, wieder zu kitten.
— Das ist kein Fett; das ist wohl berechtigt.
Sie haben hier die Dienstzeit angesprochen, Herr Heistermann. Auch wir haben den Eindruck, daß das, was zur Zeit in der Truppe läuft, vom Ministerium vorgegeben, nicht das ist, was wir wollten. Wir werden— wir haben uns vorhin darüber verständigt — das Thema Dienstzeitregelung im Verteidigungsausschuß noch einmal behandeln müssen, um Verbesserungen herbeizuführen.
— Mit meinen Kollegen aus der Fraktion.
Meine Damen und Herren, Sorgen bereitet uns auch die schwindende Akzeptanz des Verteidigungsauftrages in einigen Teilen der Bevölkerung, auf die der Bericht ausführlich eingeht. Ich brauche dies hier nicht zu wiederholen. Ich sage an dieser Stelle aber auch — ich hoffe, daß wir auch da Konsens haben —: Die Soldaten der Bundeswehr erhalten ihren Auftrag durch die Politik. Dieser Auftrag ist durch das Grundgesetz legitimiert. Herr Kollege Breuer, ich will hier keine Grundgesetzdiskussion führen. Ich sage an dieser Stelle aber, daß das Recht auf Wehrdienstverweigerung im Grundgesetz in Art. 4 festgelegt ist. Auch das sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen.
Meine Damen und Herren, unsere Soldaten haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß wir alle in den letzten Jahrzehnten die längste Friedensphase unserer Geschichte erleben durften. Wir sagen: Bundeswehrdienst ist Friedensdienst. Deshalb ist es für uns unerträglich, wenn Soldaten unserer Bundeswehr ungestraft als — ich zitiere — „Folterknechte", „KZ-Aufseher" oder „potentielle Mörder" bezeichnet werden dürfen. Ich denke, daß hier das Recht auf freie Meinungsäußerung weit überschritten wird, ohne daß ein Aufschrei der Empörung und Zurückweisung durch die Bevölkerung geht. Auch für unsere Soldaten gilt Art. 1 unseres Grundgesetzes:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige wenige Punkte aus dem Bericht ansprechen.
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NoltingErstens. Der Wehrbeauftragte beklagt die Gammelei und erwartet eine sinnvolle Dienstgestaltung. Dem können wir, glaube ich, alle zustimmen, denn Klagen über ineffiziente Arbeitsabläufe oder beschäftigungslose Präsenzpflichten hört jeder von uns. Auch die Reservisten leiden bei ihren Wehrübungen unter diesen Erscheinungen. Ich denke, daß wir auch hier einen Auftrag zur Verbesserung der Situation an den Minister, an das Verteidigungsministerium geben müssen, hier per Erlaß Abhilfe zu schaffen. Die FDP hat auf ihrem letzten Bundesparteitag einen Antrag zum Thema Bundeswehr einstimmig verabschiedet, der auch die Aufgabe der Sinnvermittlung und der sinnvollen Ausgestaltung des Bundeswehrdienstes behandelt. Wir fordern u. a. die Entrümpelung der Dienst- und Ausbildungspläne, die Verbindung von Ausbildungsgängen mit zivilen Berufsbildern, die verstärkte Ausbildung, die zum einen militärisch sinnvoll und zum anderen zivilberuflich nutzbar ist. Ich glaube, das ist ein guter Beitrag auch zur Steigerung der Motivation in der Truppe.Zweitens. Im Bericht des Wehrbeauftragten wird die Vermittlung von Rechtsbewußtsein angesprochen. In der Tat sollten Vorgesetzte nicht nur die Behandlung von Beschwerden und Eingaben kennen, sondern ihre Untergebenen auch über die Nutzung ihrer Möglichkeiten informieren. Denn, meine Damen und Herren, moderne Menschenführung eröffnet Vorgesetzten die Chance, gleichermaßen Autorität und Vertrauen ihrer Männer zu erwerben.
Drittens. Herr Wehrbeauftragter, Sie haben Veränderungen bei den Kriterien der Einberufung zum Grundwehrdienst gefordert. Sie haben hier aufgezeigt, daß es Vorschläge von seiten des Hauses gibt. Wir werden darauf warten und uns vielleicht im nächsten Jahr noch einmal mit dieser Frage beschäftigen müssen, um festzustellen, ob sie so zum Erfolg geführt haben, wie wir uns das gemeinsam vorgestellt haben.Ich komme zum vierten Punkt. Der Wehrbeauftragte hat heute auch die Probleme der Reservisten angesprochen. Es ist für uns nicht einsehbar, warum einige Reservisten häufiger zu Wehrübungen herangezogen werden als andere. Das Problem der MangelATN ist ein organisatorisches Problem. Wenn die während der Grundausbildung benötigten ATNs prozentual andere sind als die bei den Wehrübungen benötigten, so muß es zu Diskrepanzen kommen. Aus Gründen der Gleichbehandlung aller Reservisten können wir aber die unterschiedlich häufigen Einberufungen nicht akzeptieren. Das Ministerium ist auch hier aufgefordert, für Strukturen zu sorgen, die die Gleichbehandlung ermöglichen.Meine Damen und Herren, ein anderes Problem ist die Gleichstellung der Reservisten aus dem öffentlichen Dienst und aus der freien Wirtschaft durch die Achte Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz. Sie wissen, daß sich dieses Gesetz in der parlamentarischen Beratung befindet
— nach der Sommerpause werden wir es behandeln —, so daß wir uns beim nächsten Bericht mit diesem Problem nicht mehr zu beschäftigen brauchen.
Herr Abgeordneter Klejdzinski, ich habe den Eindruck, Sie wollen noch vor der Sommerpause eine Zwischenfrage stellen.
Nur unter der Voraussetzung, daß es mir nicht angerechnet wird.
Nein. Bitte sehr.
Sie liegen richtig, daß ich diese Zwischenfrage noch vor der Sommerpause stellen will.
Herr Kollege Nolting, darf ich Sie, da Sie sich über die Reservisten geäußert haben, ganz kurz fragen: Stimmen Sie mir zu, daß es diese Bundeswehr noch nicht geschafft hat, zwei Drittel aller Reservisten richtig auszubilden, daß zwei Drittel aller Reservisten für Reservistenaufgaben nicht ausgebildet sind?
Herr Kollege, wenn Sie mir richtig zugehört hätten und sich nicht so intensiv auf Ihre Zwischenfrage vorbereitet hätten, dann hätten Sie meinen Ausführungen entnehmen können, daß ich genau dieses Problem angesprochen und das Ministerium aufgefordert habe, hier gemeinsam mit uns im Verteidigungsausschuß für Änderung zu sorgen.
— Das werden wir wohl vor der Sommerpause kaum noch hinbekommen. Herr Rixe, ich weiß nicht, wieviel Stunden Ihr Tag hat; meiner hat nur 24.
Herr Präsident, zum Schluß begrüße ich es, daß der Truppe im Dezember 1988 Ausbildungshilfen zum Thema „Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages" zur Verfügung gestellt worden sind. Ich hoffe, daß auf diesem Wege die Kenntnisse vertieft und eventuell bestehende Vorurteile abgebaut werden können.
Meine Damen und Herren, seit 30 Jahren dient der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages als Kummerkasten der Bundeswehr. Lassen Sie uns alle gemeinsam zum Wohle unserer Soldaten daran arbeiten, daß der Inhalt dieses Kummerkastens von Jahr zu Jahr schrumpft!
Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mechtersheimer.
Weshalb, Herr Präsident, meine Damen und Herren, stößt dieser Bericht des Wehrbeauftragten denn eigentlich nicht auf jene herbe Kritik, die wir aus den vergangenen Jahren kennen? Ich glaube, das Verteidigungsministerium liefert dafür eine Erklärung. Ich darf zitieren:Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hat im vorliegenden Jahresbericht 1988 mehr
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Dr. Mechtersheimernoch als in den früheren Berichten auf die Darstellung spektakulärer Fälle verzichtet. Der Bundesminister der Verteidigung begrüßt dies.Es ist nun eine andere Frage, ob es das Recht und die Aufgabe des Verteidigungsministeriums ist, ein Organ des Bundestages in dieser, wenn auch gewohnten Weise zu klassifizieren und zu zensieren, aber immerhin habe ich Verständnis für diese Beurteilung des Ministeriums; denn der Bericht ist in der Tat eher beschönigend und gibt kein realistisches Bild von den wirklichen Verhältnissen über den inneren Zustand in den Streitkräften.In seinen früheren Berichten hat der Wehrbeauftragte sehr deutlich grobe Verfehlungen dargestellt. Das ist in diesem Fall kaum zu finden. Im Gegenteil, er greift manchmal sogar zu belustigenden Erklärungen, indem er beispielsweise den Vorgang mit dem Zugführer aufgreift, der im Rahmen einer Anzugskontrolle den angetretenen Soldaten befohlen hatte „Hosen runter", um feststellen zu können, ob alle lange Unterhosen tragen. Das müßte ja nun in einer angemessenen Weise kommentiert werden. Was macht der Wehrbeauftragte? Er stellt die süffisante Frage, welchen Dienst dieser Zugführer mit diesem Befehl den Streitkräften wohl erwiesen habe. Man kann derartige Vorgänge natürlich auch auf die Ebene einer Militärklamotte herunterinterpretieren. Das wird der Bedeutung derartiger Vorgänge sicher nicht gerecht.Im übrigen gibt es einen Widerspruch zwischen diesem Tenor des Berichts und der Tatsache, daß die Zahl der Eingaben, der Vorgänge nicht zurückgegangen ist, sondern, wenn auch nicht sehr stark, zugenommen hat. Offenkundig hat die Einschüchterungskampagne, die auch von ehemaligen Generalen der Bundeswehr gegen den Wehrbeauftragten im vergangenen Jahr geführt wurde, ihre Erfolge nicht ganz verfehlt.Zu begrüßen ist, daß beispielsweise im Zusammenhang mit der Behandlung der Wehrpflichtigen die Einberufungspraxis deutlich kritisiert wird. Nur fehlt eben ein Hinweis auf das grundsätzliche Problem, daß nämlich hier auf dem Rücken der Wehrpflichtigen ein Umfang der Streitkräfte aufrechterhalten wird, für den es sicherheitspolitisch nicht mehr die geringste Rechtfertigung gibt.
Wir haben von der Fraktion DIE GRÜNEN im vergangenen Jahr ein Hearing durchgeführt, also in der Zeit, über die der Wehrbeauftragte hier berichtet. Da ist sehr viel und sehr eindrucksvoll von den Menschenrechtsverletzungen gesprochen worden, von aufgezwungener Unmündigkeit, von Kriechertum, Verlust des Rückgrats, von Ausbeutung und dergleichen. Das ist kein Beleg dafür, daß die angebliche Klimaverbesserung in den Streitkräften eingetreten ist. Es ist nicht verwunderlich, daß derjenige, der vor seiner Grundwehrdienstzeit eine positive Einstellung zur Bundeswehr hat, diese positive Einstellung nicht mehr mit nach Hause nimmt.Übrigens ist auch bei der Anhörung des Verteidigungsausschusses deutlich geworden, daß Vertrauensleute, die sich engagiert für ihre Kameraden einsetzen, nach wie vor von Schikanen und Benachteiligungen bedroht sind. Auch das ist eine Aufgabe des Wehrbeauftragten, diese Beauftragten, die sich für andere einsetzen, sozusagen kollegial zu schützen.Die Mitbestimmungsrechte sollen nach dem Bericht des Wehrbeauftragten ausgedehnt werden. Nur, das, was dazu gesagt wird, halte ich für zu vage. Es ist unumgänglich, die Zumutungen des besonderen Gewaltverhältnisses, das für Wehrpflichtige gilt, erträglicher zu machen. Da muß der Verteidigungsausschuß, muß der Bundestag weitgehende Mitwirkungsrechte schaffen. Auch hierzu wäre ein deutlicheres Wort mit konkreten Hinweisen angebracht gewesen. Die Dienstzeit in der Armee darf nicht zu einer Entdemokratisierungsübung, zu einem Exerzieren von Anpassung und Kritiklosigkeit werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Kollege, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß wir erst am Beginn der Beratungen zur Erweiterung der Beteiligungsrechte sind und daß wir sehr sorgfältig das beraten müssen, was wir in der Anhörung gehört haben, und daß es verfehlt wäre, wenn wir uns aus der parlamentarischen Verantwortung zurückzögen und nur das übernähmen, was uns von seiten des Verteidigungsministeriums vorgelegt wird?
Ich verlange vom Wehrbeauftragten ja nur, daß er bei diesem Diskussionsprozeß, den Sie korrekt beschrieben haben, deutlicher darauf hinwirkt, daß diese Rechte der Wehrpflichtigen mehr und stärker ausgebaut werden, als es gerade nach dieser Anhörung vom BMVg und auch den Koalitionsparteien offenkundig vorgesehen ist. Ich habe aus Ihren Reihen noch kein Signal gehört, das nach meiner Einschätzung ausreichen würde, um Änderungen vorzunehmen, die angesichts dieser Menschenrechtssituation in den Streitkräften notwendig sind.Ich bringe eine weitere Aufgabe des Wehrbeauftragten zur Sprache, die, wie ich glaube, künftig wichtig ist. Im Zusammenhang mit zeitgemäßem Führungsstil — vielleicht geht es gar nicht so sehr um dieses Kapitel — ist auch das Liederbuch der Bundeswehr erwähnt worden, insbesondere z. B. die vierte Strophe des Panzerlieds, die übrigens in der neuen Auflage des Liederbuchs für die Streitkräfte zum Glück nicht mehr enthalten ist. Auch die verbleibenden drei Strophen stellen sich angesichts aktueller Entwicklungen in der Bundesrepublik, gerade nach dem vorigen Sonntag, vielleicht doch in einer etwas anderen Weise dar. Ich zitiere:Braust unser Panzer im Sturmwind dahin, stoßen wir tief in die feindlichen Reihen, suchen uns Wege, die keiner sonst fand.Dieses Lied kann man nicht aus seiner Entstehungszeit trennen: 1934. Es ist, glaube ich, erlaubt, gerade
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Dr. Mechtersheimerheute, am Jahrestag — oder muß ich sagen: am Verdrängungstag? — des Überfalls der Hitlerwehrmacht auf die Sowjetunion auf diese Zusammenhänge hinzuweisen.
Wir wollen nicht, daß unter diesem Vorwand „Ja, wir müssen singen" eine Geisteshaltung gepflegt wird, die ganz negative Auswirkungen auf die Grundhaltung junger Wehrpflichtiger haben muß.
Zusammenfassend darf ich sagen: Mit diesem Bericht büßt der Wehrbeauftragte einen Teil seiner Wirkung ein. Er hat nämlich den Konflikt zwischen seiner Aufgabe und seiner Sorge um die Akzeptanz der Streitkräfte sich für das zweite entschieden. Er ist eher ein Konsenshelfer geworden. Das muß zu Lasten der schwierigen Aufgabe des Wehrbeauftragten gehen. Vieles an Menschenrechtsverletzungen in der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren deshalb nicht passiert, weil man den Wehrbeauftragten gefürchtet hat. Wer aber fürchtet den Wehrbeauftragten noch in dieser Weise
nach diesem Bericht, den man als Gefälligkeitsbericht auch gegenüber der Regierung und der Koalition verstehen könnte.
— Das müssen Sie anhören. Lesen Sie den Bericht und vergleichen Sie das!Herr Weiskirch soll — dazu fordern wir ihn auf — wieder so mutig werden, wie er bei seinen früheren Berichten war.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zunächst dem Wehrbeauftragten, Ihnen, lieber Herr Weiskirch, für den Jahresbericht 1988 herzlich danken. Sie haben sich in ganz besonderer Weise zum Anwalt unserer Soldaten gemacht und vor allem auch zum Friedensdienst der Bundeswehr bekannt.Ich danke Ihnen auch für die konkrete Kritik, für das Aufweisen von Problemen und einzelnen Mißständen und zugleich die positive Art und Weise, in der Sie sich für die Belange unserer Soldaten einsetzen. Sie tun das in einer Tradition, die über 30 Jahre gewachsen ist.Sie betonen, daß es gilt, negative Begleiterscheinungen und einzelnes Fehlverhalten, das es in einer großen Institution immer wieder einmal geben wird, klar zu beschreiben und abzustellen. Ich unterstreiche das.Seit drei Jahrzehnten begleitet der Wehrbeauftragte die Bundeswehr und ihre Soldaten. Sein gesetzlicher Auftrag lautet, die Grundrechte der Soldaten zu schützen und über die Einhaltung der Grundsätze der Inneren Führung zu wachen. Immer wieder standen für den Wehrbeauftragten der einzelne Mensch und sein rechtsstaatlicher Schutz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Insofern steht dieser Bericht in der Kontinuität vieler bedeutender Berichte.In meinen Dank für diesen Bericht schließe ich auch die Mitarbeiter des Amtes des Wehrbeauftragten besonders ein.In einem Punkt hebt sich der Jahresbericht 1988 in besonderer Weise von den Vorgängern ab. Angesichts der hier und da geäußerten Zweifel an den Notwendigkeiten unserer Verteidigungsanstrengungen unterstreicht der Wehrbeauftragte sehr nachdrücklich die Wichtigkeit des soldatischen Dienstes für unsere Bürger in unserem Land. Der Wehrbeauftragte hat zum Ausdruck gebracht, daß diese veränderte psychologische Situation auch für ihn eine völlig neue Aufgabe ist.In der Tat — das will ich hier hervorheben — , ohne das westliche Bündnis, ohne die Bundeswehr und ihre Soldaten, ohne ihren Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit wäre es nicht zu jenen Veränderungen im Ost-West-Verhältnis gekommen, auf die sich jetzt Hoffnungen gründen.
Auch in Zukunft werden wir — wie wir hoffen, bald durch Rüstungskontrollvereinbarungen auf einem niedrigen Niveau der Streitkräfte und der Waffensysteme in Ost und West — eine einsatzbereite und einsatzfähige Bundeswehr benötigen, die gemeinsam mit unseren Verbündeten unverändert die Grundlage dafür ist, daß Frieden und Freiheit gesichert bleiben.Das konkret und anschaulich zu machen ist vor allem die Aufgabe der Politiker, nicht die vorrangige Aufgabe der Soldaten.
Aber die Aufgabe der Politiker ist es auch, gegenüber Verzerrungen und negativen Verzeichnungen über den Alltag der Bundeswehr und die Beachtung der Menschenrechte — wie wir es eben von Herrn Mechtersheimer gehört haben — nachdrücklich ein richtiges Bild zu zeichnen und pauschale schlechte Urteile zurückzuweisen.
Natürlich wird es gerade in einer Zeit des Wandels in der sicherheitspolitischen Debatte in stärkerem Maße auch Auseinandersetzungen geben können. Es bedarf ja auch einer großen Anstrengung, die Folgerungen aus den Veränderungen für Verteidigungskonzeption, Struktur der Bundeswehr und ihren Auftrag zu beschreiben.Aber wir alle sollten uns wirklich dagegen wenden, wenn nun brutale Diffamierungen zunehmen. Die jüngst bekanntgewordenen Urteile einzelner Ge-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergrichte, nach denen Soldaten als Mörder tituliert oder durch andere übelste Beschimpfungen beleidigt werden können, illustrieren jenen Verfall der Sitten
in der Auseinandersetzung um Verteidigung und Bundeswehr, die gar nicht so sehr die Soldaten treffen, sondern diejenigen, die sie verwenden oder in Entscheidungen noch meinen rechtfertigen zu können.
Insofern beziehe ich mich hier auch ausdrücklich auf einen bestimmten wichtigen Passus in dem Bericht, den wir heute erörtern.Meine Damen und Herren, natürlich widmet der Wehrbeauftragte dem Ablauf und der Gestaltung des Alltagsdienstes in den Streitkräften zu Recht immer wieder besonders breiten Raum. Ich hebe hervor, daß Sie, Herr Wehrbeauftragter, in Ihrem Bericht auch die Anstrengungen des Bundesministeriums der Verteidigung und die der Truppenteile unterstreichen, Mißstände immer wieder abzustellen.In der Tat, die Konzeption der Inneren Führung hat die Bundeswehr seit der Aufstellung geprägt. Wenn der Wehrbeauftragte auch in diesem Jahresbericht wieder einzelne Verstöße gegen ihre Grundsätze beanstanden muß, dann wollen wir darüber nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir wollen uns vielmehr immer wieder mit Nachdruck dafür einsetzen, daß der Alltag der Bundeswehr diesen höchst anspruchsvollen Vorgaben so weit wie möglich voll entspricht. Die Maßstäbe sind anspruchsvoll, und es bedarf einer ständigen Bemühung aller, sie zu erreichen.Menschenführung betrifft natürlich nicht nur die Wehrpflichtigen, sondern genauso die Berufs- und Zeitsoldaten. Ich freue mich, daß der Wehrbeauftragte die in diesem Bereich eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung der Personalführung und für realitätsnahe Laufbahnerwartungen ausdrücklich unterstützt.Ich nehme an, daß das neue Beurteilungssystem trotz einiger Schwierigkeiten zu Beginn der Einführung,
auf die Sie mit Recht hinweisen, auf die Dauer dazu beitragen wird, weitmöglichst den richtigen Mann an den richtigen Platz zu bringen. Ich hoffe, daß das auf die Dauer dazu beiträgt, die Berufszufriedenheit unserer Zeit- und Berufssoldaten zu stärken.Ich nehme dabei bestimmte Bedenken in bezug auf unterschiedliche Maßstäbe bei Beurteilungen ernst, die im Bericht angesprochen sind. Gerade deshalb werde ich mich bemühen, mit geeigneten Mitteln streitkräfteweit einen möglichst einheitlichen Maßstab in Beurteilungen sicherzustellen. Sie können sicher sein, daß wir jeden Einzelfall, der jetzt zu begründeter Kritik führt, sorgfältig daraufhin prüfen, ob wir in geeigneter Form Abhilfe schaffen können. Wir werden natürlich auch die bisher gesammelten Erfahrungen, auch die über den Wehrbeauftragten gewonnenen Erkenntnisse für die Verbesserung der Beurteilungsbestimmungen nutzen.Ich sagte schon: Es gilt, immer wieder das Bild des Staatsbürgers in Uniform in der Praxis des soldatischen Dienstes zu verwirklichen und zugleich der Notwendigkeit einer hierarchischen, auf Befehl und Gehorsam basierenden Armee Rechnung zu tragen. Es lohnt sich übrigens, einmal in der Geschichte dieses Parlaments, in den hochbedeutenden Debatten über die Wehrverfassung aus den Jahren 1954 bis 1957 nachzulesen, was führende Politiker der demokratischen Parteien, die damals dieses Parlament geprägt haben, dazu in bemerkenswerter Übereinstimmung gesagt und schließlich ja auch überparteilich in der Verfassungsänderung beschlossen haben. Es ist auch eine lohnende Lektüre für Sie, Herr Mechtersheimer; denn es hebt sich erheblich von dem ab — wenn ich an Fritz Erler oder Richard Jaeger denke — , was Sie hier heute vorgetragen haben.Sicherlich wird nicht jeder Dienst optimal gestaltet, und es passieren immer wieder Pannen, die sich bei zielgerichteter Vorbereitung hätten vermeiden lassen. Der Maßstab allerdings, mit dem der Ausbildungsbetrieb der Streitkräfte gemessen wird, muß realistisch bleiben. Auch im zivilen Berufsalltag reiht sich nun nicht immer Höhepunkt an Höhepunkt. In den Streitkräften sind die zuverlässige Ausführung von Routinetätigkeiten und die nur durch Wiederholung einzuübende Beherrschung von Waffensystemen, Gerät oder Verfahren unverzichtbare Voraussetzung für die erforderliche Einsatzbereitschaft. Formalisierte Übungen, Bereitschaftsdienst, Wachdienst sind nicht immer interessant, aber sie sind im Kern unentbehrlich, und sie sind Teil der Präsenz unserer Streitkräfte. Die Präsenz gut ausgebildeter Streitkräfte ist ja eben das politische Mittel der Kriegsverhütung und Friedenserhaltung.Dennoch erkenne ich ausdrücklich an, daß wir Anstrengungen unternehmen müssen, den Alltagsdienst vor allem auch für unsere Wehrpflichtigen ein Stück erfüllter zu machen.
Dies steht natürlich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit anstehenden Strukturentscheidungen, vor allem in der Frage der Verstärkung der Zahl der Unterführer und der wachsenden Attraktivität in einer Zeit stärkeren Wettbewerbs um qualifizierte Mitarbeiter für diese Laufbahnen.
Ich will das hier unterstreichen.
Ich komme darauf zurück, wenn ich jetzt einmal kurz sage, daß auf diesem Gebiet schon in den vergangenen Jahren viel geschehen ist. Ich habe Ihre sehr herben Worte über die Bilanz dieser Regierung und Koalition mit einiger Überraschung gehört, Herr Kollege Heistermann. Mein Eindruck, der ich hier nun auch in anderer Funktion an dieser Gesetzgebung in den letzten sechs, sieben Jahren aktiv mitgewirkt habe, ist, daß wir in den Jahren seit 1983 in dieser Koalition — in vielen Fällen, nicht immer, auch mit
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Bundesminister Dr. StoltenbergIhrer Zustimmung — erheblich mehr für die Verbesserung der beruflichen und sozialen Rahmenbedingungen unserer Soldaten getan haben als Sie vorher in Ihrer Regierungszeit.
Ich kann das alles in der kurzen Zeit hier gar nicht vortragen:
Unterhaltssicherungsleistungen, finanzielle Leistungen für die Wehrpflichtigen, Erhöhung des Wehrsolds, erste Schritte für die Reservisten
— das ist wesentlich weiter gegangen —, Erhöhung wichtiger Zulagen für die Soldaten, Umzugs- und Trennungsgeldrecht; besonders wichtig auch die Erfolge bei der Anrechnung von Renten auf Versorgungsbezüge oder auch bei der Dienstunfallversorgung. Wir müssen weiter gehen, weil der Wettbewerb um gute Leute sich verschärft,
aus demographischen Gründen und auch mit der erfreulichen Zunahme der Beschäftigung im zivilen Sektor unserer Volkswirtschaft.Deshalb haben wir, wie Sie wissen, im Bundesverteidigungsministerium — „wir" : das begann zur Zeit meines Vorgängers — ein umfassendes Programm zur Steigerung der Attraktivität vorbereitet, von dem ich nach den Gesprächen der jüngsten Zeit erwarte, daß die Bundesregierung bereits Anfang Juli wesentliche Punkte beschließen wird, in den Haushalt einbringen wird, und ich habe die herzliche Bitte an Sie — ich sage das schon heute — , daß dies auch eine positive Aufgeschlossenheit im Deutschen Bundestag finden wird, über den Verteidigungsausschuß, wo das selbstverständlich ist, hinaus.Meine Damen und Herren, die Zeit reicht nicht mehr, alle Punkte aufzuführen. Ich will nur ganz kurz etwas zu den Diskussionen auch auf Grund der letzten Anhörung über das Thema der Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte der Soldaten sagen. Ich persönlich gehe in Übereinstimmung mit der militärischen Führung, aber auch den leitenden Zivilberatern und hohen Beamten des Ministeriums davon aus, daß ein guter Ausgangspunkt für diese Debatte in der Tat das bewährte System der Vertrauensmänner ist. Mit dem Vertrauensmann haben die Streitkräfte eine ihrem Auftrag und den Bedingungen des soldatischen Dienstes entsprechende Instituion der Beteiligung erhalten, die gut ist. Wir sollten sie erhalten, und wir sollten sie weiterentwickeln. Hier bin ich ganz offen, auch auf dem Hintergrund der Anhörung und der Debatten, mit den Fraktionen die Form der Ausgestaltung im einzelnen zu erörtern. Aber die Besonderheit des soldatischen Dienstes muß beachtet werden. Wir können nicht das, was für Verwaltungsdienste sinnvoll ist, hier schematisch zum Maßstab für die Regelung machen.
— Nein, in weiten Bereichen überhaupt nicht, schematisch schon gar nicht. — Auf diesen Grundlagen, die noch einer Konkretisierung bedürfen, werden wir das Gespräch miteinander führen.Meine Damen und Herren, der Jahresbericht des Wehrbeauftragten hat die politische Leitung ebenso wie die militärische Führung der Bundeswehr erneut mit einer Vielzahl von Hinweisen und Anregungen ausgestattet. Wir werden sie auf das sorgfältigste auswerten. Wir werden, wo immer möglich, in Maßnahmen zur Weiterentwicklung der inneren Lage der Bundeswehr Konsequenzen ziehen. Ich bin sicher, daß der Bericht auch das Führungsverhalten und den Umgang miteinander in Stäben und Truppenteilen maßgeblich beeinflussen kann und wird.Ich bedanke mich noch einmal beim Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Steiner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich möchte kurz auf einige Ihrer Anmerkungen eingehen. Ihre Bewertung, Sie hätten während Ihrer Regierungszeit, d. h. seit 1982, mehr für den sozialen Bereich der Soldaten geleistet, als dies vorher die sozialliberale Koalition getan habe,
war zwar eine stramme,
aber aus meiner Sicht unbewiesene Behauptung.
Ich werde darauf noch zu sprechen kommen.
Konsens besteht sicherlich zwischen den Fraktionen, wenn ich sage: Brutale Diffamierungen von Soldaten wurden und werden gemeinsam zurückgewiesen. Ich glaube, daß wir das auch weiterhin so halten werden.Aber jetzt zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten, um den geht es ja nun heute. Wenn der Wehrbeauftragte in seinem Bericht auch diesmal Verstöße gegen militärische Regeln und Vorschriften exemplarisch erwähnt und Unzulänglichkeiten in den Streitkräften konkret anspricht, so löst das meistens keine große Begeisterung aus. Und konkrete Hinweise, die zur Verdeutlichung der Probleme gedacht sind, haben in den zurückliegenden Jahren nicht nur zahlreiche Journalisten zu schockfarbenen Berichten über die Bundeswehr veranlaßt, sondern im letzten Jahr auch zwei kommandierende Generäle zu völlig unangemessenen öffentlichen Äußerungen.
Das hat leider mehr Wirkung gehabt als unsere Beratung über den Jahresbericht hier im Deutschen Bundestag.
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11440 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
SteinerNun kann man sagen, es waren Generäle, zu deren angenehmsten Tätigkeiten es gehört, anderen sagen zu dürfen, was richtig ist, ohne es selbst tun zu müssen. Aber ich glaube, damit wird der Stellenwert des ungewöhnlichen Vorgangs nur ungenau beschrieben. Ich meine, wir sind wohl etwas zu schnell darüber hinweggegangen. Wir hätten uns mit diesem Vorgang noch etwas ernster beschäftigen müssen.Nun, in diesem Jahr ist es um den Bericht bisher ruhig gewesen; der Kollege Mechtersheimer hat schon darauf hingewiesen. Das kommt dem Wunsch der für die Bundeswehr Verantwortlichen sicherlich sehr entgegen. Wer nun aber glaubt, in den Streitkräften sei nun endlich alles zum besten bestellt, der irrt.Auch der Jahresbericht 1988 hat es in sich. Wenn es eine Fortschreibung über den 31. Dezember 1988 hinaus bis zum heutigen Tag gäbe, dann, so meine ich, wäre es mit der Ruhe gänzlich vorbei. Ich denke dabei insbesondere an die im Jahresbericht erwähnten Wehrübungen, an die besonderen Probleme der Reservisten. In seinem Jahresbericht 1988 hat der Wehrbeauftragte wieder einmal auf die unterschiedliche Belastung der Reservisten durch Wehrübungen, auf die unzumutbaren Einberufungen von Reservisten während wichtiger Ausbildungsphasen und auf die mangelhafte Durchführung von Wehrübungen aufmerksam gemacht. Was selbst ich nicht für möglich gehalten hätte, ist nachweisbar kein Einzelfall: Über 60jährige, in Ehren ergraute ehemalige Berufsunteroffiziere werden in Friedenszeiten — und das noch gegen ihren Willen — zu Wehrübungen einberufen.
Dazu lautet die Antwort aus dem Bundesministerium der Verteidigung: „Zur Zeit wird geprüft, ob die Mob-Beorderung von Reservisten über 60 Jahre von deren Einverständnis abhängig gemacht werden soll. "
Warum, so muß man fragen dürfen, gibt es wohl die besondere Altersgrenze für diese Berufsunteroffiziere? Der Bundesminister der Verteidigung macht gute Miene zu einem mehr als unverständlichen Tun, anstatt sofort eine Korrektur dieser unsinnigen und menschlich unzumutbaren Handhabung herbeizuführen.
— Es kommt ja gar nicht auf die Zahl an, Herr Kollege Breuer. — Prüfen durch das Ministerium heißt doch im Regelfall suchen nach weiteren Argumenten, um die bisherige Handhabung beibehalten zu können.
Wer gibt denn schon gerne zu, daß er in der Vergangenheit Mist gemacht hat?
Gleiches gilt auch für die regelmäßige Einberufung von Reservisten bei den sogenannten Mangel-ATNs zu Wehrübungen. Die Sorge dieser Reservisten um ihren Arbeitsplatz und damit um ein gesichertes Einkommen für ihre Familien berührt den Minister, wie der Wehrbeauftragte es etwas sanfter umschreibt, anscheinend nicht. Wie soll das Verständnis, ja, die Motivation für den Dienst in den Streitkräften aufrechterhalten werden, wenn die seit langem bekannten persönlichen Probleme der Reservisten politisch wieder einmal ausgesessen werden sollen? Der Wehrbeauftragte hat die Mißstände in dankenswerter Weise wiederholt aufgezeigt. Der Minister und sein Riesenapparat reagieren, wie ein Riesenapparat zu reagieren pflegt: Sie zeigen Beharrungsvermögen.
Aber was soll jetzt geschehen? Nach dem Auf und Ab in der Festsetzung der Wehrdienstzeit fangen die Heeresplaner wieder bei Adam und Eva an. Auch die Reservistenkonzeption muß in diesem Zusammenhang wohl neu überdacht werden.Ich möchte mit meinen Ausführungen nicht diejenigen Mitarbeiter im Ministerium kritisieren, die sich um vernünftige Regelungen bemühen. Aber ich spreche diejenigen unnachgiebig an, die sich in der Regel recht wenig um den Bericht des Wehrbeauftragten zu kümmern pflegen, und ich spreche diejenigen an, die das Beharrungsvermögen einer selbstzufriedenen Organisation noch verstärken und aufjaulen, wenn durch Fallbeispiele auf sie hingewiesen werden könnte.
Ich spreche diejenigen an, die dann gern auf „mangelnden Patriotismus" , die „Luschigkeit der Gesellschaft" und auf die „unfähige Politik" verweisen, um so die wahren Probleme wegzudrücken.Und ich spreche uns an; uns nehme ich nicht aus. Wir sind doch diejenigen, die jedes Jahr diesen Bericht beraten und zulassen, daß diese Beratung mehr und mehr zu einer reinen Pflichtübung wird. Wir lassen es häufig zu, daß der Riesenapparat Bundeswehr und die in den Streitkräften scheinbar nicht auszurottende Tretleiter von oben nach unten Entscheidungen zu kraftvollem Umsteuern verhindern.Es hat über drei Jahre gedauert, nämlich von 1985 bis 1988, bis der anachronistische Kommandeursbrief 2/85 des ehemaligen Heeresinspekteurs, mit dem wir uns ja mehrfach auseinandergesetzt haben, vom Generalinspekteur in einer, wie ich sagen will, literarisch recht ansprechenden Form endlich in eine zeitgemäßere Fassung gebracht wurde. Wie anders liest sich dagegen sein Leitfaden zur Sicherheitspolitik und Militärstrategie!Wenn ich daran erinnere, daß der Wehrbeauftragte bereits in seinem Jahresbericht 1986 die Ungerechtigkeit bei der Behandlung von Wehrübungen erwähnte und Empfehlungen zur Verbesserung gab, dann tue ich das, weil davon nur ein Teil umgesetzt worden ist. Umgesetzt davon haben wir mit der Verabschiedung der 7. Novelle am 5. November 1987 die allgemein anerkannte Forderung nach Gleichstellung der Wehrübenden aus der freien Wirtschaft mit denen aus dem öffentlichen Dienst in einkommensmäßiger und
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Steinerversicherungsrechtlicher Hinsicht bis heute noch nicht.
Ich habe durch einen Zwischenruf bereits geäußert, das mit der parlamentarischen Beratung bleibt abzuwarten, ob sie in dem Umfang kommt, wie es seinerzeit geplant war.Bis heute jedenfalls ist die Bundesregierung die Einhaltung ihrer Ankündigung schuldig geblieben, mit einer 8. Novelle dieses Problem lösen zu wollen, obwohl im Haushalt von 1989 bereits 25 Millionen DM dafür vorgesehen worden waren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Es wird ja nicht angerechnet. Darf ich davon ausgehen?
Daß es angerechnet wird? Steiner : Nein, nicht.
Wenn Sie dies wünschen, selbstverständlich nicht.
Herr Kollege, haben Sie denn zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung bereits einen Beschluß gefaßt hat, der eine 8. Novelle vorsieht? Das ist bereits vor einigen Wochen durch die Medien gegangen. Sind Sie nicht auch mit mir der Meinung, daß es jetzt unsere Aufgabe ist — das kann nicht mehr vor der Sommerpause geschehen, sondern muß danach erfolgen — , dies dann auch parlamentarisch umzusetzen, damit das Gesetz zum 1. Januar 1990 in Kraft treten kann?
Herr Kollege Nolting, ich möchte mich nicht so gern auf die Bundesregierung oder Kabinettsbeschlüsse berufen. Sie wurden schon gefaßt und dann wieder verworfen. Selbst Entscheidungen in diesem Hause hatten nur kurzfristig Bestand. Ich will wissen, was nachher zur Beratung auf den Tisch kommt und ob das auch versicherungsrechtlich so vorgesehen ist, wie wir es als Parlamentarier haben wollen.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Breuer.
Herr Kollege Steiner, ich beziehe mich auf das, was das Parlament beschlossen hat, nämlich auf die 7. USG-Novelle. Sie haben eben das Wort des Verteidigungsministers ein starkes Wort genannt, nämlich daß diese Koalition für die Soldaten mehr erreicht habe als die Vorgängerregierungen. Ich darf Sie deshalb fragen, weshalb die 7. USG-Novelle, die ja die Dynamisierung der Leistungen für die Wehrpflichtigen und deren Angehörigen zum Inhalt hat, notwendig war. Könnte es nicht so sein, daß Sie es in 13 Jahren nicht geschafft haben, die Leistungen zu dynamisieren?
Herr Kollege Breuer, ich würde an Ihrer Stelle mit ähnlich gelagerten Zwischenfragen ganz vorsichtig sein. Sie haben nämlich einen Ankündigungshaufen aufgebaut, bevor Sie die Regierungsverantwortung übernommen haben. Sie sind dann erst nach fünf Jahren, im Jahre 1987, zu der Erkenntnis gekommen, was bei uns schon vorbereitet zum Umsetzen in der Schublade lag.
Insofern war Ihre Frage völlig unangebracht. Es gibt noch eine ganze Reihe von weiteren Beispielen für die Schwerfälligkeit oder gar für die vorsätzliche Verhinderung von dringend notwendigen Verbesserungen für unsere Soldaten und für ihre Familien.
Wenn ich hier noch die mehr als unbefriedigende Situation im Zulagenwesen erwähne — das gilt insbesondere für das fliegende und das technische Personal — und die unangemessene Altersversorgung der BO-41, dann verdeutlicht das die wahre Situation. Es macht wenig Sinn, wenn der Wehrbeauftragte aufgrund seiner qualifizierten Erkenntnisse dem Bundestag jedes Jahr Berichte und gut umsetzbare Empfehlungen oder Vorschläge unterbreitet, es macht doch wenig Sinn, wenn das Bundesministerium der Verteidigung dazu jeweils umfassende Stellungnahmen abgibt, gewürzt mit Ankündigungen für alsbaldige Verbesserungen, es macht doch wenig Sinn, wenn wir im Verteidigungsausschuß dazu Beschlüsse fassen, bei deren Ausführung wir uns dann sogar noch selbst behindern — ich denke dabei an den gemeinsam getragenen Beschluß, eine „Arbeitsgruppe Zulagen" zu bilden und arbeiten zu lassen, den wir bis heute nicht umgesetzt haben, weil die Unionspolitiker das nicht mehr wollen — , es macht doch wenig Sinn, wenn wir hier debattieren und je nach parteipolitischer Zugehörigkeit Erfolge der Vergangenheit, wie es auch der Minister hier getan hat, nachträglich noch vergolden oder aber beklagen, wie schrecklich doch alles geworden ist, denn damit ist den Soldaten nicht geholfen.
Damit ist auch uns nicht geholfen. Wenn wir weiter so verfahren, werden der Frust und der Vertrauensverlust bei den Soldaten noch mehr anwachsen. Ich meine, der Frust ist eigentlich schon groß genug. Lassen Sie uns an die Arbeit gehen und die Vorschläge und den Handlungsbedarf, den der Wehrbeauftragte in seinem diesjährigen Bericht aufgezeigt hat, durch schlüssiges Handeln umsetzen!
Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jah-
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11442 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Vizepräsident Stücklenresbericht 1988 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages auf Drucksache 11/4809.Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Keine Gegenstimme. Wer enthält sich? — Keine Enthaltung. Meine Herren von der Fraktion DIE GRÜNEN, was ist mit Ihnen?
— Haben Sie zugestimmt?
Ich darf die Abstimmung wegen des Protokolls noch einmal wiederholen: Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Keine Gegenstimme. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnsitzes für Aussiedler und Übersiedler— Drucksachen 11/4615, 11/4689, 11/4710 —Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 11/4859 —Berichterstatter:Abgeordnete Frau Hämmerle Dr. CzajaLüderMeneses Vogl
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Gerster
, Dr. Laufs, Lintner, Dr. Czaja,
Dr. Blank, Dr. Blens, Clemens, Fellner, Dr. Hüsch, Kalisch, Dr. Kappes, Krey, Neumann , Dr. Olderog, Regenspurger, Weiß (Kaiserslautern), Zeitlmann, Dörflinger, Geis, Dr.-Ing. Kansy, Magin, Dr. Mahlo, Dr. Möller, Oswald, Pesch, Frau Rönsch (Wiesbaden), Ruf und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Lüder, Dr. Hirsch, Richter, Beckmann, Bredehorn, Engelhard, Dr. Feldmann, Funke, Gries, Grüner, Grünbeck, Dr. Hitschler, Hoppe, Irmer, Kleinert (Hannover), Mischnick, Neuhausen, Nolting, Rind, Ronneburger, Frau Seiler-Albring, Frau Folz-Steinacker, Timm, Frau Würfel, Wolfgramm (Göttingen) und der Fraktion der FDPAufnahme und Eingliederung der Aussiedlerzu dem Antrag der Fraktion der SPD Eingliederung der Aussiedler und Aussiedlerinnen aus Staaten Ost- und Südosteuropas sowie der Übersiedler und Übersiedlerinnen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland— Drucksachen 11/3465, 11/3178, 11/4701 — Berichterstatter: Abgeordnete Dr. CzajaFrau Hämmerle LüderMeneses VoglZum Tagesordnungspunkt 14 a liegt jeweils ein Änderungsantrag und Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Es handelt sich dabei um die Drucksachen 11/4861 und 11/4862.Im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen worden. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche vor allem zum Gesetz; zum Grundsätzlichen werden die Kollegen Lüder und Zeitlmann mehr als ich sagen.Aus den Ausschußberichten kann man die ernste Mühe der Ausschüsse entnehmen, unzulässige Formen von Eingriffen in das fundamentale Grundrecht auf Freizügigkeit, also den ungehinderten Ortswechsel von Land zu Land und von Gemeinde zu Gemeinde, auch für die Deutschen, die erstmalig in das Bundesgebiet einreisen, auszuschließen. Auch Rechtsverpflichtungen aus den politischen Menschenrechtspakten und die politischen Zusagen aus den letzten Beschlüssen der KSZE-Folgekonferenz in Wien, die sich für das innerstaatliche Leben ergeben, wurden beachtet.Die Aussiedler behalten natürlich die volle Reisefreiheit und vor allem die Freiheit, sich einen endgültigen Arbeitsplatz und Wohnsitz frei in der ganzen Bundesrepublik zu wählen.Aber zu ihrem eigenen Wohle, zur Vermeidung schwerster Notlagen bei der Unterkunft und in Anbetracht der allgemeinen Fürsorge sind jene Länder, die das wollen, ermächtigt, sie in näher zu bestimmenden Gemeinden für bis zu zwei Jahre einzuweisen, und zwar damit die notwendige vorläufige Fürsorge einschließlich vorläufiger Unterkunft gewährleistet wird. Insofern wurde die Zweckbestimmung des Regierungs- und Unionsentwurfs für diese Erstbetreuung verdeutlicht, und so sind auch alle Vorschriften des Gesetzes auszulegen.Die Freizügigkeit für die Aussiedler bei der freien Wahl einer endgültigen ausreichenden Lebensgrundlage bleibt also gewährleistet. Wir wollen sie nicht wie eine Ware verteilen. Sie sollen aber auch nicht in bestimmten Ballungskernen, in überfüllten Übergangswohnheimen oder Notunterkünften vegetieren, sondern für eine Übergangszeit in anderen Gemeinden eine menschenwürdige Unterkunft erhalten.Wenn die Angehörigen oder die Aussiedler selbst vorher schon ausreichenden Wohnraum haben, gilt die Zuweisung nicht. Wenn sie innerhalb der beschränkten Frist von zwei Jahren in einer anderen als der Einweisungsgemeinde Arbeits-, Studien- oder Ausbildungsplätze erhalten, ist für diese andere Gemeinde — was durch Einfügung im Gesetzestext klar-
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Dr. Czajagestellt wird — die Betreuungshilfe geboten, beispielsweise die Honorierung der Wohnungsberechtigungsscheine, die Weiterbehandlung einer etwa noch nicht abgeschlossenen Anerkennung der Vertriebeneneigenschaft und manches andere.Die Gemeinden sind natürlich nur zu Leistungen in ihrem kommunalen Zuständigkeitsbereich verpflichtet. Das schließt weitere freiwillige Leistungen nicht aus, was im Bericht angeführt ist.Die meisten guten Anträge des Bundesrates haben wir dankbar übernommen — ich glaube, quer durch die Fraktionen — , so den Begriff „Wohnort" an Stelle von „Wohnsitz", weil Wohnsitz nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch der Mittelpunkt der dauernden Lebensgrundlage ist. Rückwirkende Ermächtigungen mußten wir jedoch ablehnen.Meine Damen und Herren, kein Gesetz und keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sagen bisher, was gemäß Art. 11 Abs. 2 des Grundgesetzes die „ausreichenden Lebensgrundlagen" sind. Wir haben uns daher — wieder quer durch die großen Fraktionen — auf den in der Rechtslehre unumstrittenen Standpunkt des möglichen „fürsorgerechtlichen Vorbehalts" gestellt. Den Ländern steht es natürlich frei, von der Ermächtigung Gebrauch zu machen. Einzelne Länder betonten aber im Laufe des Verfahrens, daß ihnen die Klarstellung und die Durchsetzung des Verteilungsschlüssels zwischen den Ländern noch wichtiger sei.Besonders Nordrhein-Westfalen wollte das Gesetz haben. 80 % der Wünsche Nordrhein-Westfalens konnten erfüllt werden.
Die letzten 20 % gingen in einen Entschließungsentwurf ein, mit dem sich Nordrhein-Westfalen abzufinden schien. Wir hoffen darauf, daß sich Nordrhein-Westfalen hinter das Gesetz stellt und daß es seinen Wünschen entspricht.Die SPD will einen Verteilerschlüssel in § 1 a des Gesetzes verankern. Der Bundesrat ist aber mit Mehrheit dagegen. Das Gesetz würde dann scheitern oder in den Vermittlungsausschuß gehen.
Die Koalition meint deshalb, daß eine gemeinsame Entschließung vorgeschlagen werden sollte: Der Bundesbeauftragte müsse dafür Sorge tragen, daß der seit 1952 bestehende Schlüssel der Verteilung auf die Länder eingehalten werde. Es gab tatsächlich — das hat sich im Verfahren gezeigt — Verzerrungen zum Nachteil insbesondere von Nordrhein-Westfalen.
Wir haben ganz besonders auf die Sonderbelastung von Berlin geschaut. Insbesondere der Kollege Lüder hat immer wieder darauf hingewiesen.
Dort können auch Nichtdeutsche ohne Visum in großer Zahl einreisen. Außerdem hat Berlin sehr vielePersonen, die sich auf ihre Aussiedlereigenschaft berufen, ohne Anhaltspunkte dafür zu haben. Die Ablehnungsquote für Aussiedler in Berlin liegt bei 30 %, in den meisten Ländern bei 1 %. Diese 30 % der als Aussiedler Abgelehnten warten aber in Berlin ab, ob ihr Antrag tatsächlich rechtskräftig endgültig abgelehnt wird.Wir bitten daher die anderen Länder, bei neueintreffenden echten Aussiedlern das Land Berlin zu entlasten. Insbesondere die Länder, die ganz niedrige Prozentsätze von Aussiedlern aufnehmen, beispielsweise das Saarland mit etwa 1 % , könnten mit Bruchteilen von Prozenten, mit einem halben oder einem viertel Prozent, Berlin sehr gut helfen.Meine Damen und Herren, 1986 waren 600 000 unerledigte Ausreiseanträge angestaut. 1987/88 gab es plötzlich eine Lockerung der Ausreisemöglichkeiten. Der Ostblock wollte bei uns damit auf Ansätze zur Beachtung des Menschenrechts der Ausreisefreiheit verweisen.Vieles blieb dennoch problematisch. Die meisten Aussiedler kommen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, aber die Volksrepublik Polen gibt ihnen, abweichend von den Vereinbarungen und der Praxis vor 1982, zu 85 % keine Ausreisepapiere und versucht, sie in der polnischen Staatsangehörigkeit zu halten. Dies ist eine Verletzung der Geschäftsgrundlagen des Warschauer Vertrages, des Ausreiseprotokolls von 1976 sowie des sogenannten Schnur-Briefs von Bundesminister Genscher, mit der er eine Verknüpfung der Erfüllung der Offenhalteklausel des Ausreiseprotokolls mit hohen finanziellen deutschen Leistungen versuchte. Auch die Entlassung aus der sowjetischen Staatsangehörigkeit bleibt ein echtes Problem. Die Lage der Rumäniendeutschen wurde hier wiederholt behandelt.Finanziell gibt der Bund viel für Sprachförderung, an Einrichtungshilfe und an Eingliederungsgeld. Es ist daher, meine Damen und Herren von der SPD, für uns nicht zumutbar, daß, wie Sie es möchten, zwei Drittel der Kosten der Übergangsunterbringung in Heimen und Ausweichquartieren vom Bund übernommen werden. Nach dem Überleitungsgesetz sind dafür die Länder zuständig.Im übrigen zahlen diejenigen Aussiedler, die Arbeitslosengeld bekommen oder Arbeit haben, für Unterkünfte und Verpflegung selbst. Wir sehen allerdings, daß, wenn die Übergangsunterbringung nicht rasch zahlenmäßig ausgeweitet wird, ein neues Desaster droht.Meine Damen und Herren, die Aussiedler sind dort, wo vergleichbare Leistungen vorhanden sein mögen, nicht besser und nicht schlechter als Deutsche zu stellen, die seit langem hier leben; das sagt der Grundsatzbeschluß. Abweichungen zur Verwaltungsvereinfachung und aus anderen Gründen im Einzelfall sind im Herbst zu beraten.Danach sollen aber die Aussiedler wissen, daß man trotz mancher Auswüchse vor Ort mit ihnen Solidarität üben will. Die Leistungen für sie sind in der Gesamtsumme gewaltig, aber für den einzelnen nicht groß. Wir müssen die Öffentlichkeit auch über die schwere Vergangenheit der Aussiedler informieren. Die muttersprachlichen Schwierigkeiten sind durch sehr harte
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11444 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Dr. CzajaZwangsassimilation bedingt. Wir wollen, daß möglichst viele bei gewährleisteter Entfaltung ihrer kulturellen und nationalen Eigenarten, nicht diskriminiert, daheim, in ihren Heimatgebieten bleiben können. Wer es aber nicht aushalten kann, muß hier solidarisch aufgenommen werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hämmerle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als am 1. Juni dieses Jahres der Gesetzentwurf zur Festlegung eines vorläufigen Wohnsitzes für Aussiedler und Übersiedler zur ersten Beratung anstand, habe ich für die SPD-Fraktion etwas erklärt, was ich auch heute noch uneingeschränkt sagen kann: Dieser Gesetzentwurf hat einen Vorläufer in dem Gesetz über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet vom 22. August 1950. Und er soll nun die Antwort auf die heutige Problematik sein! So, wie er vorliegt, bietet er aber keine ausreichende Lösungsmöglichkeit für die Probleme,
insbesondere nicht für die der Länder und Gemeinden.
Der Gesetzentwurf ist das schlichte Eingeständnis des Scheiterns der Aussiedlerpolitik der Bundesregierung.
Es ist eindeutig, daß die Bundesregierung auf dem entscheidenden Feld, um das es heute geht, nämlich auf dem der Wohnungsfürsorge, versagt hat. Sie war nicht in der Lage, die Rahmenvoraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Menschen mit einem der wichtigsten Güter für ihre Existenz, nämlich einer Wohnung, die angemessen und bezahlbar ist, versorgt werden können. Dies gilt nicht nur für Aussiedler, sondern dies gilt für mehr als eine Million Haushalte in der Bundesrepublik.
Wir Sozialdemokraten haben seit langer Zeit auf diesen Umstand hingewiesen, und seit ebenso langer Zeit sperrt sich die Bundesregierung, auf diesem Feld eine vernünftige Politik zu betreiben
und — das ist das Wichtigste — die entsprechenden Mittel dafür vorzusehen. Mit diesem Gesetzentwurf wird nun sehr spät der Versuch unternommen, eine Regelung hierzu herbeizuführen und Bevorzugungen abzubauen, von denen wir schon seit langer Zeit gesagt haben, daß es dringend notwendig ist, sie abzubauen.Meine Damen und Herren, Herr Kollege Czaja, natürlich sieht dieser Entwurf eines Zuweisungsgesetzes eine Einschränkung der Freizügigkeit vor,
eine Einschränkung eines der garantierten Grundrechte des Grundgesetzes. Ich habe schon mehrfach deutlich gemacht, daß eine Weiterberatung dieses Gesetzentwurfs für uns nur in Frage kommen kann, wenn eine ordentliche Prüfung der Verfassungskonformität mit befriedigendem Ergebnis stattgefunden hat.Dies scheint der Fall zu sein, da der Rechtsausschuß eindeutig die Auffassung vertreten hat, daß die Einschränkung des Grundgesetzes so möglich ist. Dagegen sage ich auch gar nichts, obwohl wir natürlich grundsätzlich erhebliche Bedenken gegen die Einschränkung eines Grundrechts haben. Dieses also wäre ein Punkt, der für uns im Augenblick ausgeräumt sein könnte, zumal die Geltungsdauer des Gesetzes ja auf drei Jahre beschränkt sein soll. Dies also wäre kein Grund.
Zwei Gründe aber — das sage ich Ihnen gleich, Herr Staatssekretär — sind für uns ausschlaggebend, die die Koalition nicht bereit war mitzutragen. Beide liegen Ihnen heute als Anträge vor.Das zweite Petitum — das haben wir immer und von vornherein gesagt — ist, daß die Länder ganz genau wissen, welche Zuweisung sie bekommen, und daß einzelne Länder, die heute sehr stark und über alle Maßen belastet sind, von der Aussiedlerzuweisung entlastet werden. Die Forderung der betroffenen Länder liegt Ihnen auch im Bundesrat vor. Dieses ist mitnichten eine Erfindung der SPD.
Wir haben diesen Änderungsantrag deswegen eingereicht. Sie kennen ihn. Er liegt auch heute noch einmal auf Ihren Plätzen.Auch Sie, Herr Dr. Czaja — das will ich ja anerkennen — , sprechen in Ihrem Entschließungsantrag davon, daß Sonderbelastungen einzelner Länder vermieden werden müssen,
und auch der innerdeutsche Ausschuß — dafür bin ich sehr dankbar — empfiehlt — wörtliches Zitat — eine Regelung zu diesem Gesetz, die dem Anliegen sowohl von Berlin als auch von Nordrhein-Westfalen entgegenkommt.
Wie aber ist denn die Wirklichkeit? Berlin nimmt 8,4 % der Aussiedler auf, obwohl die Marke 2,7 % lautet; Nordrhein-Westfalen 40 %, obwohl die Marke 31 beträgt. Aus diesen Zahlen können Sie einiges erkennen.Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie eine gerechtere Verteilung wollen, dann kommen Sie, wenn Sie ehrlich sind, nicht darum herum, einen neuen Zuweisungsschlüssel zu beschließen, mit dem der jetzige geändert wird, der — das wissen wir doch alle — überhaupt nicht funktioniert.
Ich füge ganz bewußt an diesem Rednerpult hinzu:Wenn die Länder es nicht schaffen, miteinander eineVereinbarung zu treffen, dann halten wir Sozialdemo-
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Frau Hämmerlekraten es für unumgänglich, daß der Bund hier an dieser Stelle seine Meinung kundtut und diesen Zuweisungsschlüssel beschließt.
Wie Sie bemerkt haben, meine Damen und Herren, haben auch wir die Hoffnung, daß die Länder doch noch eine Vereinbarung zustande bringen. Deshalb haben wir in unserem Antrag formuliert:Die Länder können durch Verwaltungsvereinbarung einen Schlüssel zur Verteilung der Aussiedler und Übersiedler festlegen. Ohne eine solche Verwaltungsvereinbarung richtet sich die Verteilung nach folgendem Schlüssel .. .Dann kommen die Zahlen. — Sie, Herr Dr. Czaja, sagen, die Bundesregierung wird aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, daß der vom Bundesrat beschlossene Verwaltungsschlüssel auf die Länder eingehalten wird. Er wird aber nicht eingehalten, wie Sie wissen und wie wir wissen.Unsere dritte Bedingung, deren Erfüllung die Zustimmung zu diesem Gesetz möglich machen würde, liegt als Entschließungsantrag vor Ihnen. Dieser Entschließungsantrag begehrt, daß die Kosten für die Übergangswohnheimplätze der Bundesländer nach dem Schlüssel zwei Drittel Bund/ein Drittel Bundesland aufzuteilen sind. Dies wäre nichts anderes als der Vollzug eines Bundesratsbeschlusses, der genau dies fordert.Nachdem der Herr Kollege Gerster gestern im Innenausschuß gemeint hat, er müsse gegen unsere Anträge polemisieren, möchte ich jetzt einen ganz anderen Zeugen heranziehen. Ich möchte zitieren, was der Herr Staatssekretär Waffenschmidt in einer Sendung des ZDF am 7. Januar, in der wir miteinander waren, gesagt hat:Wir werden nicht mehr lange streiten über finanzielle Fragen zwischen Bund und Ländern in dieser Aufgabenstellung. Also es wäre für mich beschämend,— Sie sagen das, Herr Staatssekretär —wenn wir angesichts der Tausende von Menschen, die aus anderen Ländern jetzt zu uns kommen, hier einen Finanzstreit führen würden. Den werden wir beenden.Dazu haben Sie heute die Chance, Herr Staatssekretär. Dazu hat heute auch die Koalition die Chance. Wenn dieser Entschließungsantrag abgelehnt wird, dann werden wir uns bei Ihrem Gesetzentwurf der Stimme enthalten.Es steht noch ein anderer Antrag zur Abstimmung, nämlich über die Eingliederung der Aussiedler. Der Innenausschuß empfiehlt in seinem Beschluß die Annahme des Koalitionsantrags. Wir als SPD haben einen detaillierten und umfangreichen Antrag vorgelegt und darin formuliert, wie wir uns die Eingliederung der Aussiedler und Übersiedler vorstellen. Diesen Antrag haben Sie im Innenausschuß niedergestimmt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir haben eigentlich immer gut miteinander gearbeitet; daß Sie gegenüber unseren Vorstellungen keinerlei Entgegenkommen gezeigt haben, hat mich deshalb doch sehr überrascht. Ich muß Ihnen sagen, daß wir uns aus diesem Grunde heute im Plenum genauso verhalten werden wie im Innenausschuß, d. h. daß wir uns bei Ihrem Antrag der Stimme enthalten werden. Im Interesse der Sache lehnen wir den Antrag nicht ab, weil die Eingliederung der Aussiedler und Übersiedler vollzogen werden muß. Wir wissen das.
Die Enthaltung ist aber das äußerste, was Sie von uns erwarten können. Ich habe hiermit das Abstimmungsverhalten meiner Fraktion deutlich gemacht.Ich kann es nur bedauern, daß Sie unseren Anträgen nicht gefolgt sind. Dennoch hoffe ich — Herr Dr. Czaja, das ist ganz besonders an Sie gerichtet —, daß es auch in der Zukunft möglich sein wird, im Interesse der Bewältigung dieser großen Problematik eine gemeinsame Basis zu finden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es heute mit der grundsätzlichen Einstellung zur Frage der Aussiedler und Übersiedler zu tun — das ist das, was in dem Bericht des Innenausschusses dargelegt ist — und mit einem Gesetzentwurf. Ich will zu beiden Themen sprechen.Dem außenstehenden Beobachter mag es manchmal erscheinen, als würde der Deutsche Bundestag von Jahr zu Jahr in der Beurteilung der Angelegenheiten der Aussiedler unterschiedliche Positionen einnehmen. Noch bis in die Mitte dieses Jahrzehnts hinein forderten viele Parlamentarier, daß möglichst jedem Deutschstämmigen, der in der UdSSR, in Polen, Rumänien oder Ungarn lebt, das uneingeschränkte Recht gegeben werden müsse, in die Bundesrepublik überzusiedeln. Als im letzten Jahr diese Wünsche Realität wurden, haben wir alle das begrüßt.
Wir haben in der Beschlußempfehlung des Innenausschusses zur Eingliederung der Aussiedler und Übersiedler noch einmal die Grundlagen unserer Politik zu den Aussiedlern dargelegt. Frau Kollegin Hämmerle, wir haben in diesem Antrag doch nicht streitige Themen formuliert, sondern wir haben uns bemüht, alles das aufzunehmen, was in diesem Hause von den verschiedenen Seiten zur Problematik der Aussiedler und zu ihrer Hilfe aufgenommen werden muß.
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11446 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
LüderVon daher verstehe ich den Anwurf von Ihnen nicht, daß wir Gedanken der SPD nicht mit aufgenommen hätten.
— Warum haben Sie unserem Antrag nicht zugestimmt? Das können wir genauso fragen.
— Sehen Sie, und da gibt es eben Grenzen, über die wir nicht hinausgehen wollten. Wir haben uns hier in einem verantwortbaren Rahmen gehalten. Deswegen stellen wir den Antrag so zur Abstimmung, wie er heute hier vorliegt.Ich will die zwei Grundaussagen dieses Antrags noch einmal verdeutlichen, von denen wir uns leiten lassen.Erstens. Jeder Aussiedler, jeder Übersiedler, der zu uns kommen will, hat das Recht dazu. Er ist bei uns willkommen. Wir dürfen uns auch nicht auf Relativierungsdebatten einlassen, wie sie draußen im Lande bisweilen geführt werden. Wir brauchen hier nichts zu verteidigen. Wir sollten uns nicht von rechtsaußen in eine Rechtfertigungsdebatte drängen lassen.
Wir müssen uns für diese freiheitsschützende Grundhaltung nicht verteidigen. Verteidigen müssen sich jene, die dieses Recht in Zweifel ziehen. Verteidigen müssen sich insbesondere jene, die — ich habe solche im Lande getroffen — als Vertriebene, Flüchtlinge oder frühere Aussiedler zu uns gekommen sind und denen die Aufnahme im Bundesgebiet neiden, die jetzt kommen, nur weil sie vielleicht ein bißchen mit ihnen teilen müssen. Wir haben leider solche Fälle. Deswegen habe ich sie angesprochen.Zweitens. Der andere Grundsatz — er gilt gleichwertig — ist der, daß wir alles tun wollen und tun müssen, daß den deutschstämmigen Bürgern in den osteuropäischen Staaten, insbesondere in der UdSSR und in Polen, mehr Möglichkeiten, ja, ich sage: wesentlich mehr Möglichkeiten eröffnet werden, ihre eigene kulturelle Identität zu wahren. Wenn wir dazu beitragen können, die Lebensverhältnisse so zu erleichtern, daß die Deutschstämmigen als Deutsche in ihrer Heimat leben können, werden sie nicht als Aussiedler zu uns kommen wollen.
Wer sich jemals mit dem Thema beschäftigt hat, warum Aussiedler etwa aus der UdSSR zu uns kommen, der weiß, daß es nicht um materielle Verbesserungen geht, sondern um die Wahrung der Möglichkeit, in ihrer deutschen Identität zu leben. Ich füge hinzu: Nicht der nationale Aspekt, sondern der kulturelle Aspekt ist dabei der für mich wichtige.Deswegen ziehe ich von hier den Bogen zu dem, was wir heute abend als letzten Tagesordnungspunkt besprechen wollen. Das gehört zusammen. Wir müssen dafür sorgen, daß mehr Möglichkeiten gegeben werden, daß die Deutschstämmigen ihre kulturelle Identität wahren.
Seit dem letzten Jahr hat sich die Zahl der Aussiedler stark erhöht. Das darf für uns kein Anlaß zum Jammern sein. Der wirtschaftlich stärkste Staat der EG kann in seinem Wohlstand nicht dadurch bedroht sein, daß einige hunderttausend Deutschstämmige zu uns kommen.
Aber wir sehen auch — damit komme ich zu dem vorliegenden Gesetzentwurf — , daß wir insbesondere die erste Phase der Aufnahme bei uns mit den bisherigen gesetzlichen Instrumenten sozialverantwortlich nicht lösen können. Insbesondere die Bundesländer haben uns gesagt, daß wir hier mehr tun müssen. In diesem Jahr müssen wir sehen, daß so viele deutschstämmige Aussiedler zu uns kommen wollen, daß wir die uneingeschränkte Freiheit der Wohnortwahl und damit praktisch die Wahl der Sozialbehörde nicht mehr hinnehmen können.Wir Freien Demokraten haben deswegen schweren Herzens der Regelung zugestimmt, wie sie in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen ist, daß den Ländern die Möglichkeit eröffnet wird, Wohnortzuweisungen an die Aussiedler vorzunehmen, die zu uns kommen und die auf die Hilfe der Kommunen angewiesen sind. Wir legen Wert darauf, daß dies nur in den eng umgrenzten Fällen möglich ist, in denen der Aussiedler oder der Übersiedler keine eigene Wohnung, keinen Ausbildungsplatz oder keinen Arbeitsplatz findet. Wenn die Betreuung durch die Arbeitsämter oder Sozialdienststellen der Kommune erfolgt, muß die Stadt wenigstens für eine kurze Zeit das Recht haben, Wohnortzuweisungen vorzunehmen.Wir wissen um die besonderen Probleme der Länder Nordrhein-Westfalen und Berlin. Wir haben mit dem Bericht des Innenausschusses — den ich hier ausdrücklich noch einmal erwähnen will — , darauf hingewirkt, daß Nordrhein-Westfalen, aber vor allem Berlin, von einem zu großen Zustrom an Aussiedlern entlastet wird.
Ich darf Ihnen, Herr Minister Schäuble, dafür danken, daß ich von der Berliner Bürgermeisterin Stahmer erfahren konnte, daß sich Berlin und der Bund geeinigt haben, hier zu einer Regelung zu kommen, die für Berlin das ganze Problem erträglicher macht, herzlichen Dank.
— Wenn die Bürgermeisterin und zuständige Senatorin dankt, dann ist da ja wohl etwas dran.Wenn die Bundesländer, verehrter Herr Kollege, sich auf einen Verteilerschlüssel nicht einigen konn-
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Lüderten, dann können wir ihnen das in einem zustimmungsbedürftigen Gesetz doch nicht vorschreiben.
Das, was Sie mit Ihrem Antrag wollen, führt doch nur dazu, daß das Gesetz später und uneingeschränkt in Kraft tritt. Wir wissen doch, daß die verschiedenen Ministerpräsidenten — ob das nun Lafontaine oder Rau ist — unterschiedliche Interessen haben, die ausgetragen werden. Wir werden nachher in der wortreichen Rede des Herrn Heinemann hören — ich kenne sie noch nicht, aber ich kann sie ungefähr einschätzen — , wie er für das Land Nordrhein-Westfalen klagen wird.
Wir sagen: Wir wollen praktisch helfen. Wir wollen durch Gesetzesverzögerung, dadurch, daß wir hier noch einen Antrag nachschieben, nicht zu einer Nichthilfe kommen. Wir wollen praktische Hilfe leisten; das ist unser Ansatz. Deswegen sagen wir, daß wir mit diesem Gesetz etwas Konstruktives und etwas Positives leisten wollen, und zwar schnell. Wenn schon heute nachmittag im Innenausschuß des Bundesrates die Beratungen darüber anfangen,
so zeigt dies, daß wir auf dem richtigen Wege sind, eine schnelle und kurzfristige Beratung zu machen.Frau Kollegin Hämmerle, es wird Sie nicht überraschen, daß wir dem Antrag der SPD hinsichtlich der Finanzierungsverteilung nicht zustimmen können.
Wenn Sie uns einen Tag vor der Beratung einen Antrag über eine neue Finanzierung auf den Tisch legen, der noch dazu Art. 120 des Grundgesetzes tangiert, dann verlassen wir den Boden dessen, was ein Koalitionspartner verantworten kann.Ich bitte um Zustimmung zur Beschlußempfehlung des Innenausschusses und zum Gesetz.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Meneses Vogl.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aussiedler, Asylbewerber, Übersiedler, „Zumutung", „Überlastung", „Überfremdung" — heute höre ich „echte Aussiedler" — , alles in einem Atemzug.Platzangst macht sich breit, eine gezüchtete Angst gegenüber allem Fremden, die objektiv nicht erklärbar ist. Interessant sind die Parallelen, wie in diesem Land erst mit den Asylbewerbern und jetzt mit den Einwanderern aus Osteuropa umgegangen wird.Als sich die jährliche Zahl der Asylbewerber etwa bei 10 000 Menschen bewegte, wurde das Grundrecht auf Asyl als Menschenrecht betont. Die Flüchtlinge waren bei uns willkommen, um vor Verfolgung und Unterdrückung bei uns Schutz zu finden. Als sich die Anzahl der Flüchtlinge in den 80er Jahren erhöhte und gar die 100 000-Grenze überschritt, wurden sie zur „Belastung". Von „Asylmißbrauch", „Überfremdung" und „durchraßter Gesellschaft" war die Rede.
An die Stelle des Kriteriums der Menschenrechte trat das staatliche Definitionsmonopol über die sogenannte Zumutbarkeitsgrenze.Es folgten Gesetze: Abschreckende Maßnahmen wie das Arbeitsverbot oder die Unterbringung in menschenunwürdigen Sammellagern, strengere Einreisebestimmungen, die auf die Herkunftsländer der Flüchtlinge angewendet wurden, Anerkennungskriterien für Asylbewerber, die sich nach den hiesigen nationalen Interessen und nicht nach den Menschenrechtssituationen in den Fluchtländern richteten.So lag die Anerkennungsquote für tamilische Flüchtlinge einst bei über 80 %, heute bei etwa 15 %, ohne daß sich die Menschenrechtssituation auch nur um einen Deut gebessert hätte. Den Aussiedlern, meine Damen und Herren, die eigentlich Einwanderer sind, da sie nicht unter Zwang, sondern freiwillig gekommen sind, droht ein ähnliches Schicksal.Vor drei Jahren kamen etwa 40 000; im letzten Jahr war es eine runde Viertelmillion. Aussiedler waren und sind bei uns herzlich willkommen, da sie als Einwanderer deutscher Abstammung gelten. Der Staat reagierte aber ähnlich: wiederum neue technokratische Gesetze und Leistungskürzungen. Mit dem vorliegenden Gesetz soll die Freizügigkeit eingeschränkt werden.Hilfe, meine Damen und Herren, sollte sich eigentlich an den Ohnmächtigen und nicht an den Mächtigen orientieren. Die Mächtigen jedenfalls sind wir, die Ohnmächtigen die Aussiedler und die Flüchtlinge.Bis heute hat die Bundesregierung außer ihrem höchst bescheidenen Eingliederungsprogramm vom 31. August 1988 keine politische Gesamtkonzeption zur Eingliederung der Einwanderer vorgelegt, sondern bastelt lieber an Quoten und rein quantitativen Umverteilungen. Der deutsche Städtetag hat ein 13-Milliarden-DM-Programm für die Einwanderung gefordert. Statt dessen werden die ohnehin hochverschuldeten Gemeinden im Stich gelassen und sind zweifellos überfordert.An guten Worten, meine Damen und Herren, fehlt es Ihnen nicht. Aber wo sind Ihre Antworten auf das Einwanderungsproblem,
eine Einwanderung, die Sie immer begrüßt und politisch gewollt haben? Mit kurzatmigen und pragmatischen Gesetzen wie diesem heute vorgelegten bleibt diese Bundesregierung eine Antwort auf ein uns noch über mehrere Jahre hinaus beschäftigendes Problem vollkommen schuldig, denn bis Anfang der 90er Jahre werden weitere Hunderttausende von Einwanderern zu uns kommen.Meine Damen und Herren, der neue Bundesinnenminister bringt mit der Vorlage des Gesetzes zur Festlegung eines vorläufigen Wohnortes ein hohes Maß an Hektik, Übereifer und Nervosität zum Ausdruck.
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11448 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Meneses VoglDer Gesetzentwurf ist mit heißer Nadel gestrickt — das wissen Sie auch — und mußte mehrfach verändert werden, weil er sich außerhalb der grundgesetzlich garantierten Freizügigkeit bewegte, wobei bis heute noch nicht alle Bedenken ausgeräumt sind.Das Gesetz sieht vor, die Freizügigkeit für Einwanderer für die Dauer von zwei Jahren einzuschränken, sofern die Einwanderer keinen Wohnraum, Arbeitsoder Ausbildungsplatz nachweisen können. Die Länder werden ermächtigt, die Einwanderer nach einem eigenen Verteilungsschlüssel den Gemeinden zuzuweisen. Schon immanent ist das Gesetz bloße Makulatur: Auf der einen Seite sind die Gemeinden, die keine Einwanderer zugewiesen bekamen, nicht verpflichtet, die Einwanderer zu betreuen, auf der anderen Seite wird den Einwanderern ihr Rechtsanspruch auf alle gesetzlichen Leistungsansprüche nicht bestritten. Mit anderen Worten: Die Gemeinden verfügen — da kann man nur sagen: Gott sei Dank — über keine Sanktionsmaßnahmen gegenüber den Einwanderern.Außerdem beinhaltet der Gesetzentwurf im Kern nur eine bloße Umverteilung von stärker belasteten Gemeinden zugunsten von weniger stark belasteten Gemeinden, ohne damit das eigentliche Dilemma zu lösen, daß den hohen Einwanderungszahlen nur sehr bescheidene Eingliederungshilfen des Bundes gegenüberstehen. Unserer Ansicht nach kann das Problem nur durch erhebliche finanzielle Anstrengungen des Bundes zugunsten der Gemeinden gelöst werden. Denn sonst machen sie sich mitschuldig, daß sich die Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt zwischen den Einheimischen und den Einwanderern in ausländerfeindlichen Aggressionen entlädt.Gerade wegen seines befristeten Charakters und seiner völligen Untauglichkeit, weil er nämlich die Eingliederungsfrage zur bloßen Umverteilungsfrage reduziert, wird dieser Gesetzentwurf zu nichts führen. Im Gegenteil, es ist eher zu befürchten, daß die Befristung dann aufgehoben und die Freizügigkeit noch weiter eingeschränkt wird, wenn die jetzt beabsichtigten Maßnahmen nicht greifen. Der beabsichtigte Sinn des Gesetzes, die Gemeinden zu entlasten, wird nicht erfüllt. Im Gegenteil — das meine ich wirklich ernst — , Sie schaffen dadurch mehr „Republikaner"-Wähler.Meine Damen und Herren, wir können und werden diesem Entwurf daher nicht zustimmen.Die Fraktion der SPD und die Länder Nordrhein-Westfalen und Berlin, auf die sich die Einwanderung besonders konzentriert, haben eine Änderung der Länderquoten erreichen können. Dabei ist die Haltung des Saarlandes und des saarländischen Ministerpräsidenten bemerkenswert; das Saarland ist augenscheinlich nicht einmal bereit, der Länderquote von 1,8 % zuzustimmen. Ich kann mich ohnehin des Eindrucks nicht erwehren, daß zwar alle Parteien die Aussiedler als „unsere Landsleute" begrüßen, die Folgen der Aufnahme und Integration jedoch dem jeweils anderen zuschieben möchten.Wir werden dem neuen Quotenschlüssel, der in früheren Jahren unter ganz anderen Voraussetzungen und Bedingungen festgelegt wurde, daher ebenso zustimmen wie dem Entschließungsantrag der SPD, der eine stärkere Beteiligung des Bundes an den Kosten für Übergangswohnheimplätze vorsieht.Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland tragen Verantwortung für alle Deutschen, wo immer sie leben, weil wir im einzigen freien Teil unseres Vaterlandes leben, weil unseren Landsleuten das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten ist und weil sie unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs unendlich länger und schwerer gelitten haben als wir. Ziel unserer Politik ist nicht, daß alle Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland kommen, Ziel unserer Politik ist vielmehr, die Lebensverhältnisse für alle Deutschen so verbessern zu helfen, daß nicht Hunderttausende sich so bedrängt fühlen, daß sie ihre angestammte Heimat verlassen wollen.
Diese Bundesregierung hat 1987 mit einem Abkommen mit Ungarn einen Durchbruch erzielt, in dem die Rechte einer deutschen Minderheit erstmals von einem Staat des Warschauer Paktes anerkannt worden sind. Die Gespräche über substantielle Verbesserungen für Deutsche in der Sowjetunion und in Polen kommen gut voran. Ich will allerdings auch meine Zweifel nicht verhehlen, daß kurzfristig durch noch so gute Gesprächsergebnisse die Zahl der Ausreisewilligen stark beeinflußt werden kann. Das Gefälle zwischen den Lebensumständen hier und in den Staaten des Warschauer Paktes ist dafür wohl zu groß und der Wunsch vieler unserer Landsleute, endlich mit uns in Freiheit zu leben, zu stark und oft schon Jahrzehnte alt.
Wie auch immer: Die, die kommen, bleiben willkommen. Sie haben unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs so viel länger und so viel schwerer als wir gelitten. Ich füge auch hinzu: Es tut unserem Land nicht nur wegen der dramatisch gesunkenen Geburtenrate gut, wenn Menschen mit einem Durchschnittsalter von 35 Jahren, wenn Familien mit durchschnittlich drei bis vier Kindern zu uns kommen, Menschen, die dieses Land bejahen, die hier leben wollen, die hier arbeiten und anpacken können und wollen.
Natürlich ist die Aufnahme und Eingliederung so vieler Landsleute in verhältnismäßig kurzer Zeit mit Schwierigkeiten verbunden, vor allem übrigens für die Betroffenen selbst.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11449
Bundesminister Dr. Schäuble— Man kann offensichtlich unterschiedlicher Meinung sein.
— Das ist sehr differenziert, aber Ihre Zwischenrufe sind so stereotyp, daß Sie nicht für Differenzierung plädieren können.
— Vielleicht können Sie mal einen Moment wieder zuhören. Ich finde, die Diskussion lebt davon, daß man sich gegenseitig zuhört. Ich höre allen immer sehr aufmerksam zu, aber man hört besser zu, wenn man nicht dauernd dazwischenredet.Ich möchte gern darauf aufmerksam machen: Wir reden von den Schwierigkeiten, die mit der Eingliederung vieler Deutscher, die zu uns kommen, in kurzer Zeit verbunden sind. Ich glaube, die Schwierigkeiten sind vor allem für die Betroffenen selbst am größten, und wir sollten dies in dieser Debatte auch nicht übersehen. Ich denke, daß wir diese Schwierigkeiten am besten meistern können, wenn Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam ihre Verantwortung wahrnehmen und wenn im übrigen viele Bürger und Gruppen in Wirtschaft und Gesellschaft tatkräftig mithelfen.Wir haben die Mittel für Sprachförderung, für berufliche Eingliederung, für Wohnungsbau, auch für die Betreuung durch Kirchen und Wohlfahrtsverbände erhöht, und wir werden sie weiter erhöhen. Mit dem Gesetz zur Anpassung von Eingliederungsleistungen sollen die Aussiedler vor dem Mißverständnis bewahrt werden, sie erhielten mehr Leistungen als vergleichbare, schon lange hier lebende Deutsche. Sie sollen, soweit überhaupt vergleichbar, weder mehr noch weniger erhalten.
Auch das heute zur Verabschiedung anstehende Gesetz soll die Eingliederung der Aussiedler erleichtern. Aus verständlichen Gründen lassen sich viele Neubürger gern an Orten nieder, wo schon Verwandte oder Bekannte leben. Die daraus folgende Konzentration auf verhältnismäßig wenige Gemeinden erschwert aber die Versorgung mit Wohnungen und Arbeitsplätzen. Deshalb sollen mit diesem Gesetz die Bundesländer ermächtigt werden, die Zuständigkeit von Gemeinden für die Versorgung derjenigen Aussiedler zu regeln, die nicht auf andere Weise Wohnung oder Arbeitsplatz gefunden haben und die deshalb auf öffentliche Hilfe angewiesen sind.Es geht also, meine Damen und Herren, in Wahrheit gar nicht darum, die Freizügigkeit von Aussiedlern einzuschränken.
Nur weil auch schon die bloße Zuständigkeitsregelung für Gemeinden den Art. 11 Abs. 1 unseres Grundgesetzes berühren könnte, deswegen muß wegen der Vorschrift des Art. 19 Abs. 1 die — mögliche — Einschränkung des Freizügigkeitsrechts ausdrücklich erwähnt werden. Jeder Aussiedler kannsich auch in Zukunft ganz selbstverständlich innerhalb des Bundesgebiets frei bewegen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir haben gute Voraussetzungen dafür, den nun zu uns kommenden Deutschen ein gutes Zuhause zu bieten. Wir haben unter viel schlechteren Umständen in der Nachkriegszeit die Aufnahme und Eingliederung von 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen geschafft, und wir verdanken ihnen viel beim Wiederaufbau unseres Landes. Ohne sie wäre unsere Bundesrepublik nicht geworden, was sie heute ist.Deshalb sollten wir heute unter unvergleichlich besseren wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen nicht wegen ein paar hunderttausend Aussiedlern verzagen. Wir werden diese Aufgabe um so besser meistern, je weniger darüber Streit unter den politischen und gesellschaftlichen Kräften entsteht, vor allem wenn zwischen Bund, Ländern und Gemeinden nicht gegenseitig Verantwortung und Zuständigkeiten hin und her geschoben werden.Ich mache deswegen, Frau Kollegin Hämmerle, zu den beiden Anträgen der SPD einige wenige Bemerkungen aus meiner Sicht.Zunächst fällt mir bei den Anträgen auf, daß Sie in dem einen Fall die Länder zu etwas zwingen wollen, worüber sich selber zu einigen die Länder eigentlich aufgefordert sind. Ich bin der Meinung: Wir sollten die Länder bitten, sich zu einigen. Das gehört zur gesamtstaatlichen Verantwortung der Bundesländer. Sie müssen in Fragen, für die sie zuständig sind, in der Lage sein, sich unter elf Bundesländern zu einigen. Deswegen halte ich die Form des Antrags der Koalitionsfraktionen für die richtige.Es fällt auf: In der anderen Frage, wenn es darum geht, unter Änderung bestehender Gesetze gemeinsame Forderungen an den Bund zu stellen, sind sich alle einig, und die SPD-Fraktion macht sich zum Sprecher. Ich finde, wir müssen auch da zwischen Bund und Ländern fair miteinander umgehen.
Wir sollten auch die Gespräche miteinander führen. Ich führe sie und bin weiterhin bereit, sie zu führen, auch mit dem Ziel, Lösungen zu finden.Aber ich füge hinzu: Der Staat kann nicht alles. Gerade in einer freiheitlichen Lebensordnung müssen die Bürger und die gesellschaftlichen Gruppen das Ihre tun. Ich bin zuversichtlich, daß viele Mitbürger bereit sind, mitzuhelfen. Die Kirchen, die Sozialpartner, die Wohlfahrtsverbände, die Vermieter, aber beispielsweise auch der Sport: alle können helfen, und viele haben schon gute Beiträge geleistet.Ich habe deshalb zur Fortsetzung der vom Herrn Bundeskanzler im Herbst 1988 durchgeführten Konferenz mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen über die Eingliederung von Aussiedlern für die kommende Woche in das Innenministerium eingeladen.Je besser wir als politisch Verantwortliche in allen Parteien, in Bund, Ländern und Gemeinden unsere gemeinsame Verantwortung wahrnehmen, um so
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11450 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Bundesminister Dr. Schäublemehr werden wir auch die Bereitschaft unserer Mitbürger zum Mittun gewinnen.
Ich erteile das Wort dem Herrn Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Heinemann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Aufnahme der Aussiedler hat in nur eineinhalb Jahren ein Ausmaß erreicht, das wir uns nicht vorgestellt hatten: 200 000 im Jahr 1988, 400 000 — vermutlich mehr — im Jahr 1989.Lassen Sie mich vorweg sagen: Wir können es nur begrüßen, daß heute in der Sowjetunion und auch in der Volksrepublik Polen viele tausend Deutsche die Freiheit haben, das Land zu wählen, in dem sie leben wollen.
Dies darf aber nicht den Blick für die Probleme verstellen, die durch die gewaltige Aussiedlerzahl bei uns entstehen. Das gilt im besonderen Maße für Nordrhein-Westfalen: 84 000 im Jahr 1988; 44 % bei einem Bevölkerungsanteil von nur 28 %. Aber nach den Zahlen der ersten vier Monate des Jahres kommen immer noch rund 40 To der Aussiedler nach Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie, Kollege Waffenschmidt, mir andere Zahlen sagen, dann ist das eine Momentaufnahme. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn diese Zahlen sich langfristig einstellten. Ich stelle mich aber darauf ein, daß, auf das Jahr hochgerechnet, für Nordrhein-Westfalen 160 000 Menschen zu uns kommen. Das sind so viele Menschen, wie in Solingen wohnen, und das sind zehnmal so viele Menschen, wie in Bergneustadt wohnen. Kollege Waffenschmidt, lassen Sie mich Ihnen dazu sagen, daß es mich sehr befremdet, daß Sie mich brieflich aufgefordert haben und jetzt noch öffentlich auffordern, wegen der hohen Aufnahmezahl in Bergneustadt — das gilt für Nordrhein-Westfalen insgesamt — keine Aussiedler mehr dorthin zu schicken und Ihren Wahlkreis zu verschonen.Ich sage für mich selbst: Es ist ein Stück fürs Tollhaus, daß der Aussiedlerbeauftragte mich in dieser Form auffordert. Herr Schäuble, ich frage Sie: Was würden Sie sagen, wenn ich Sie aufforderte, dafür zu sorgen, daß keine Aussiedler mehr nach Nordrhein-Westfalen kommen? Das ist das, was der Kollege Waffenschmidt will. — Er will eine bessere Verteilung. Dafür setzt er sich ein. Das will auch ich. Deshalb spreche ich hier. Darauf komme ich noch.
Die Zahlen zeigen, in welchem Maße Nordrhein-Westfalen überlastet ist. Hier muß zunächst der Hebel angesetzt werden. Wir fordern, daß die Aussiedler, dem Bevölkerungsanteil angemessen, auf alle Länder verteilt werden. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht auf diesen wesentlichen Punkt überhaupt nicht ein. Die Bundesregierung muß endlich ihre Untätigkeit bei der Verteilung und Zuweisung der Aussiedler auf die Länder aufgeben.
Wenn verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht werden, kann ich nur sagen: Das kann nun wirklich nicht überzeugen.
— Hören Sie zu. Das können Sie allerdings nur schlecht. Das stelle ich auch immer im Fernsehen fest, wenn Sie dazwischenschreien.
Deshalb haben Sie bei der Wahl am Sonntag auch so hoch verloren.
— Doch, gucken Sie sich das bei uns in Nordrhein-Westfalen an.Es ist doch inkonsequent, Aussiedlern innerhalb eines Landes den Zuzug in eine Wunschgemeinde verwehren zu wollen und die Freizügigkeit einzuschränken, dasselbe aber beim Zuzug in ein anderes Bundesland nicht mehr für zulässig zu halten. Worin besteht denn der Unterschied, wenn ich einen Aussiedler statt nach Bonn nach Euskirchen schicken kann— was dann Rechtens ist — und einen anderen statt nach Bonn nicht nach Koblenz schicken kann, weil es angeblich nicht Rechtens ist? Hier versteckt man sich hinter der Verfassung, statt das Problem anzupakken.
Immer wieder wird von der Bundesregierung und der Koalition auf die Verteilungsverordnung von 1952 verwiesen. Die Aufnahmezahlen beweisen jedoch, daß die Quote von 31,7 % für Nordrhein-Westfalen nicht eingehalten wird. Diese Quote liegt immer noch um 4 % über dem, was dem Bevölkerungsanteil entspricht. Es ist auch nicht möglich, diese Quote einzuhalten, da eine Verpflichtung der Aussiedler nicht besteht. Die Erfahrungen zeigen ganz deutlich, daß die bestehende Regelung das Problem nicht löst.
Aber nicht einmal eine Regelung über die Verteilung in den Ländern enthält dieser Gesetzentwurf. Dafür enthält er wirklich keine wirksame Regelung, Herr Schäuble.
Es muß sichergestellt sein, daß die Maßnahmen auch wirklich greifen; sonst erhalten die besonders betroffenen Hauptaufnahmegemeinden Steine statt Brot.So, wie der Entwurf jetzt ausgestaltet ist, kann sich fast jeder der Zuweisung folgenlos entziehen. In dem Gesetzentwurf heißt es nur, daß keine andere Gemeinde verpflichtet ist, ihn als Aussiedler zu betreuen. Was heißt das denn, wenn man berücksichtigt, daß der Satz aus dem Referentenentwurf gestrichen worden ist — ich zitiere — : „Der Aufgenommene ist ver-
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Minister Heinemannpflichtet, den ihm zugewiesenen Wohnsitz zu nehmen."?Die Aussiedler werden sehr schnell wissen, daß eine Mißachtung der Zuweisungsentscheidung keine Konsequenzen hat. Sie werden weiter versuchen, in die Hauptaufnahmegemeinden zu gehen, wo sie Verwandte oder Bekannte haben. Das kann man ihnen ja nicht einmal verdenken.
Die Situation wird dann auch in Bergneustadt, Kollege Waffenschmidt, chaotisch.Der Bundeskanzler sollte sich einmal ansehen, was die Menschen vor Ort erwartet
— öfter als Sie; wüßten Sie das, würden Sie nicht so dumm reden —,
die eingeladen wurden, als Deutsche unter Deutschen zu leben. Turnhallen und Sitzungssäle als Unterkunft, mehrere Großfamilien in einer Wohnung, und ich sage Ihnen: bald können — nein, ich befürchte, bald werden — Zeltstädte in den Städten entstehen
wie für die Flüchtlinge aus Bulgarien in der Türkei. Das ist nicht mehr Eingliederung, Kollege Schäuble, das ist Ausgliederung der Menschen.
Nordrhein-Westfalen wendet 1989 1,1 Milliarden DM für Aussiedler auf. Unsere Gemeinden sind in ihren finanziellen Möglichkeiten ebenfalls erschöpft. Nordrhein-Westfalen und seine Gemeinden tragen doch sowieso schon große Lasten: die gewaltigen Kosten des Strukturwandels einer Region, die mit ihrer Industrie den anderen Bundesländern erst zum Wiederaufbau verholfen hat. Ist denn vergessen, daß es die Bergleute und Stahlarbeiter an Rhein und Ruhr waren, die dafür gesorgt haben, daß manche saure Wiese in anderen Bundesländern heute hochwertiges Industrieansiedlungsgebiet ist?Oder die Folgen der 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz, die uns weh tun. Und jetzt noch die Folgen eines 48-Milliarden-DM-Geschenkes, das die Bundesregierung mit der Steuerreform hauptsächlich den Reichen gemacht hat.
Die Politik der Bundesregierung raubt uns den finanziellen Spielraum für andere dringende Aufgaben der Sozialpolitik.
Das trifft die ansässige Bevölkerung. Wer wundertsich dann noch, daß selbst in der freiheitsliebendenund toleranten Bevölkerung an Rhein und Ruhr Ablehnung gegenüber den Neuankömmlingen laut wird?Ich habe eine Umfrage in Auftrag gegeben, die mich in vielen Punkten sehr erschrocken gemacht hat. Wir können froh sein — das ist ein Verdienst der Landesregierung Nordhrein-Westfalen — , daß die Rechtsradikalen bei uns nicht die Stärke wie in Bayern und Baden-Württemberg erreicht haben.
— Jawohl, von Nordrhein-Westfalen. — Aber über 5 % DVU und Republikaner sind mir auch in diesem Land zuviel.
Wir können uns also nicht mit einem Gesetz zufriedengeben, das für die Bundesregierung ein Alibi ist und das in Wirklichkeit Nordrhein-Westfalen mit seinen Problemen allein läßt.
Wenn der Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung von der Koalition verabschiedet wird, dann wird Nordrhein-Westfalen im Bundesrat einen Antrag auf Einberufung des Vermittlungsausschusses stellen.Dieses Verhalten der Bundesregierung haben wir in den letzten Jahren immer wieder erlebt: Der Bundeskanzler spricht von einer „nationalen Aufgabe", läßt aber bei der Lösung dieser Aufgabe Länder und Gemeinden im Regen stehen.
Einstimmig haben Bundesrat und alle Ministerpräsidenten, auch Ihre, ein massiv verstärktes finanzielles Engagement des Bundes bei der Eingliederungshilfe, beim Wohnungsbau und bei der Schaffung von Übergangseinrichtungen gefordert. Eine auch nur annähernd befriedigende Antwort ist bisher nicht erfolgt. Der Bundeskanzler läßt Nordrhein-Westfalen im Stich.
Der Bundesarbeitsminister, der doch durch sein Parteiamt mit unserem Lande verbunden sein sollte, ist auf Tauchstation. Es gab nur schöne Worte, aber keine Taten; statt dessen jetzt ein Alibigesetz.
und in Kürze ein Eingliederungsanpassungsgesetz, das den Bund finanziell entlastet und die Gemeinden bei der Sozialhilfe zusätzlich belastet.
Das Sankt-Florians-Prinzip ist wohl oberstes Prinzip der Politik der Bundesregierung geworden. Aber Nichtstun und Augen verschließen helfen nicht weiter.
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11452 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Minister HeinemannDie Leidtragenden sind auch Menschen, die bei uns eine Heimat und keine Zeltstätten suchen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zeitlmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe bei der Vorbereitung auf diese Diskussion zum Thema Eingliederung von Aussiedlern an sich den Termin dieser Gesprächsrunde im Parlament begrüßt, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Wahlen der letzten Tage und deren Ergebnisse, weil ich der Meinung war: Es ist ganz couragiert, wenn sich das Parlament hier zu einem Zeitpunkt, da die Stimmung an den Stammtischen eher gegen die ganzen Fragen spricht, damit befaßt und Flagge zeigt. Wenn ich jetzt aber auf die Diskussion zurückblicke, die hier stattgefunden hat, dann muß ich eigentlich sagen: Teile des Hauses haben nichts gelernt aus den Wahlergebnissen.
Es gilt doch, die grundsätzlichen Probleme in größtmöglicher Gemeinsamkeit zu behandeln, anstatt hier um die Kosten herumzuschachern und sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben.
Frau Kollegin Hämmerle, ich kenne Sie als sehr sachbezogen. Ich habe es nicht verstanden, daß Sie sich hier hinstellen und sagen, die Wohnungsbaupolitik des Bundes sei gescheitert.
— Sie wissen doch ganz genau, daß der Bund selbst ja nicht baut. Wer von uns hat denn mehr Beziehungen zu großen Baugenossenschaften? Das sind Sie doch und nicht wir.
— Aber, meine Damen und Herren, wir erreichen doch in der Materie nichts, wenn wir uns jetzt hier gegenseitig die Schuldscheine zuschieben
und wenn wir uns hier gegenseitig die Verantwortung zuschieben. — Entschuldigung, Herr Sielaff, lassen Sie einen doch ausreden. Sie sind Pfarrer oder Diakon und haben es nicht gelernt, zuzuhören. Lassen Sie einen doch ausreden!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bei den Pfarrern ist es ja immer umgekehrt.
Nein, wir sind alle unter Zeitdruck. Entschuldigung, bitte nicht.
Meine Damen und Herren, ich will doch nur eines klarmachen: Wir kommen nur weiter, wenn wir diese Herausforderung für unsere Gemeinschaft gemeinsam angehen und wenn wir hier miteinander eine Lösung für diese Aussiedler suchen. Da sind doch so manche Zwischentöne falsch. Es ist falsch, so zu tun, als ob die Quotierung, die Aufteilung, der Schlüssel von diesem Parlament gemacht werden könne. Es widerspricht doch auch dem Selbstverständnis der Länder, hier zu sagen: Bund, regele du das.
Die Länder können doch in Eigenverantwortung eine Änderung vornehmen. Dazu brauchen sie doch normalerweise den Bund nicht. Sie müssen doch sehen, daß Sie dieses Gesetz nur überfrachten und in der Konsequenz nur das Inkrafttreten hinausschieben, wenn Sie jetzt die Behandlung im Bundesrat mit dieser Regelung überfordern. So ist doch die Situation.Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, wir sollten jetzt ganz sachlich an dieses Thema herangehen. Es hilft uns doch gar nichts, so zu tun, als ob wir hier mit einer Konfrontation irgendeinen Vorteil erreichen. Tatsache ist, daß die Regierung heuer ihre Wohnungsbaumittel erhöht hat, daß sie zweitens, um mehr Akzeptanz auch draußen zu finden, eine Gesetzesänderung vorbereitet, um dort, wo vielleicht Bevorteilungen der Aussiedler vorhanden sind, Unebenheiten zu beseitigen.Meine Damen und Herren, ich bin auch der Meinung, daß die Bemühungen, in den Ländern des Ostens bessere Bedingungen für diese Menschen zu schaffen, damit sie ihre Heimat nicht aufgeben müssen, unterstützt und gefördert werden müssen. Ich kann nur inständig bitten, daß der Bundeskanzler bei einem Besuch in Polen dieser Frage ein besonderes Augenmerk widmet.
— Es bringt doch nichts, wenn Sie hier wieder „zu spät" dazwischenrufen.Meine Damen und Herren, das Grundprinzip unserer Aussiedlerpolitik ist doch ganz eindeutig, daß wir niemanden auffordern, seine Heimat zu verlassen, daß wir aber in Solidarität diejenigen aufnehmen, die hier herkommen, weil sie nicht länger in diesem menschenrechtsverachtenden System des Ostens leben wollen.Wenn wir nach dem Krieg 13 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aufnehmen konnten, dann kann es doch jetzt in diesem Wohlfahrtsstaat und dieser Wohlstandsgesellschaft kein Problem sein, einige hunderttausend Aussiedler aufzunehmen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11453
Zeitlmann— Herr Kollege Bernrath, Sie wissen doch ganz genau, daß der Innenminister in den letzten Wochen,
gerade was Berlin anbelangt, ein Entgegenkommen vereinbart hat. Es ist ja auch unbestritten, und wir haben es gestern im Innenausschuß auch gehört, daß die Quote auch in Nordrhein-Westfalen zurückgefahren wurde. Aber über eines sind wir uns doch auch klar: Mit einer vollen Freizügigkeit wie bisher ist doch eine Quotierung einfach begrifflich nicht vereinbar.
— Sie haben ja gerade von Ihrem Kollegen aus der grünen Fraktion gehört, daß Ihr saarländischer Ministerpräsident nicht bereit ist, die Quote einzuhalten.
— Das war seine Behauptung.Fest steht doch, daß wir dieses Gesetz brauchen. Frau Hämmerle bestreitet das ja im Grunde auch nicht. Der Bund hat jetzt auch Wesentliches getan, was die Erstaufnahme anbelangt. Er hat die Plätze in den Erstaufnahmelagern in einem Jahr praktisch verdoppelt, zumindest bis zum Jahresende. Ich will nur bitten und deswegen noch einmal an die Gemeinsamkeit appellieren, meine Damen und Herren, daß wir doch um Gottes willen jetzt nicht in einen Streit über die richtigen Formen und Finanzierungsmöglichkeiten in der Aussiedlerpolitik verfallen. Lassen Sie uns an alle Kräfte des Staates appellieren, damit wir gemeinsam diese Aufgabe meistern.
— Herr Kollege Bernrath, Sie sind ja sonst auch nicht so giftig, wie Sie sich hier geben. — Deswegen meine ich: Laßt uns zusammenhalten, und laßt uns gemeinsam an einer Lösung arbeiten. Ich meine, das Gesetz ist ein guter Weg, und der Beschluß, den die Regierungsfraktionen vorschlagen, ist, so meine ich, auch der richtige Weg. Die Gemeinsamkeit ist die erste Aufgabe, die wir jetzt haben. Wenn wir den Gesetzentwurf nicht aus dem Streit heraushalten, erledigen wir doch nur die Arbeit der radikalen Gruppierungen.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf über die Festlegung eines vorläufigen Wohnsitzes für Aussiedler und Übersiedler — Drucksachen 11/4615, 11/4689 und 11/4859 —.Ich rufe § 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/4861 unter Nr. 1 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag?— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.Wer für § 1 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um Zustimmung. — Gegenprobe! — Die Fraktion DIE GRÜNEN. Enthaltungen? — Die Fraktion der SPD. Damit ist § 1 in der Ausschußfassung angenommen.Ich rufe den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4861 Nr. 2 auf. Es wird beantragt, nach § 1 einen neuen § 1 a einzufügen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit abgelehnt.Ich rufe die §§ 2 bis 7, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer dem zustimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN. Enthaltungen? — Die Fraktion der SPD. Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Die Fraktion DIE GRÜNEN. Enthaltungen? — Die Fraktion der SPD. Damit ist dieser Gesetzentwurf mit der Mehrheit der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion angenommen.Es ist noch über eine Entschließung des Innenausschusses abzustimmen, deren Annahme der Ausschuß auf Drucksache 11/4859 unter Buchstabe b) empfiehlt. Wer dafür ist, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenstimmen? — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Enthaltungen der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN. Die Entschließung ist mit Mehrheit angenommen.Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4862 ab. Wer stimmt für diese Entschließung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/4701. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a) die Annahme einer Entschließung. Wer dafür stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Fraktion DIE GRÜNEN. Enthaltungen? — Fraktion der SPD. Damit ist diese Entschließung angenommen.Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 11/4701 unter Buchstabe b), den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3178 abzulehnen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Antrag des Ausschusses ist mit Mehrheit so beschlossen.Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNENZur politischen Entwicklung in Ungarn — Drucksache 11/4840 —Der Ältestenrat hat für diesen Tagesordnungspunkt 45 Minuten vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
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11454 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Vizepräsident StücklenWortmeldungen liegen in einem Umfang von 30 Minuten vor. Es ist doch nichts dagegen einzuwenden, wenn kürzer gesprochen wird. Es ist doch nur menschlicher, wenn die Mittagspause wenigstens noch 15 Minuten dauert.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wulff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr, daß wir heute eine Debatte führen, die mit der politischen Entwicklung in Ungarn zu tun hat und bei der alle Fraktionen des Hauses einer Entschließung zugestimmt haben.
Lassen Sie mich eine ganz persönliche Bemerkung anschließen, wenn wir heute über Ungarn diskutieren. Anfang November 1956 war ich als junger Student, der gerade sein erstes Examen bestanden hatte, in der Kreuzkirche in Bonn, in der der Ordinarius für Evangelische Theologie Helmut Gollwitzer einen Bittgottesdienst für das gedemütigte Volk der Ungarn damals nach dem Aufstand abhielt.
Ich erinnere mich genau daran, wie bewegt die Menschen in Deutschland waren, wie bewegt man in der Kirche war, die bis auf den letzten Platz besetzt war.
Ich erinnere mich jetzt, nach 33 Jahren, an die bewegenden Bilder in Budapest, als Hunderttausende von patriotischen Ungarn vor den Särgen von Nagy, Maléter und ihrer Gefährten standen. Ein großes Kulturvolk Mitteleuropas hatte zu seiner Geschichte, zu seiner Identität, zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Demokratie zurückgefunden.
Ich erinnere mich auch an das Jahr 1962 — das möchte ich hier einmal erwähnen — , als ich das erste Mal in Ungarn war, auf der Straße stand und die geschlossenen Jalousien der amerikanischen Botschaft sah, in der sich der damalige Kardinal Mindszenty befand.
Auch das sind Erinnerungen, die mich heute an dieser Stelle als frei gewählter deutscher Abgeordneter bewegen, wenn ich an Ungarn, an dieses große, uns verbundene Volk erinnere und die Ehre habe, hier über Ungarn zu sprechen.
Meine Damen und Herren, wir sind glücklich darüber, daß Ungarn den Weg zur Freiheit und zur Demokratie gewählt hat. Wir begleiten Ungarn dabei; indem wir ihm helfen, die parlamentarische Demokratie aufzubauen, die Menschenrechte zu sichern, zur Gewaltenteilung zurückzufinden und die Geschicke des Landes so zu bestimmen, wie allein das ungarische Volk es will und niemand sonst.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, im Bereich der Wirtschaft Ungarn dadurch zu unterstützen, daß die Handelsbeschränkungen zwischen Ungarn und der EG abgebaut werden, daß die Volksrepublik Ungarn sehr frühzeitig informiert wird, wenn es um EG-Normen geht, und daß man einmal überprüft, inwieweit die Europäische Investitionsbank Finanzierungen in Ungarn ermöglichen kann. Außerdem wünschen wir, so es die Ungarn wünschen, daß sich dieses Land an einzelnen Eureka-Projekten beteiligt.
Wir fordern an dieser Stelle alle deutschen Unternehmen — die großen und die kleinen sowie die mittelständischen Betriebe — auf, sich die Liberalisierung in Ungarn zunutze zu machen und sich an Joint-ventures, d. h. sich am wirtschaftlichen Aufschwung Ungarns zu beteiligen. Ich hoffe sehr, daß die Europäische Gemeinschaft Ungarn bald aus der EG-Liste der Staatshandelsländer herausnimmt.
Meine Damen und Herren, wenn ich hier als deutscher Abgeordnete spreche, so tue ich das nicht nur als Sprecher der CDU/CSU-Fraktion in dieser Ungarn-Debatte, nein, hier steht ein Abgeordneter, der über das normale Maß an Zuneigung und Wertschätzung für Ungarn hinaus das Wort ergriffen hat.
Gerade deshalb möchte ich hier im Deutschen Bundestag bekennen: Das große Kulturvolk der Ungarn, jene Nation, die Europa so viel gegeben hat, findet zu Europa zurück. Wir sind stolz, Ungarn bald als Beobachter im Europarat zu wissen. Das sage ich für meine CDU/CSU-Fraktion: Ungarn kann sich auf seine Freunde in Deutschland verlassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Verheugen.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befassen uns mit der Lage in Ungarn wenige Tage nach einem Ereignis, das einmal einen besonderen Platz in der europäischen Nachkriegsgeschichte einnehmen wird.Ich habe am vergangenen Freitag an der Trauerfeier für den 1958 ermordeten Ministerpräsidenten Imre Nagy und seine Weggefährten und Schicksalsgenossen teilnehmen können. Es war nicht der Staat, der die mit dieser Trauerfeier verbundene faktische Rehabilitierung der Führer und Opfer des Volksaufstandes von 1956 bewirkt hat, es war das ungarische Volk selber. Die Staatsmacht konnte und wollte sich dieser historischen Stunde nicht widersetzen; sie war durch führende Repräsentanten beteiligt.Ich glaube nicht, daß man von einer Neubewertung der Ereignisse von 1956 sprechen kann. Die überwältigende Mehrheit der Ungarn wird den Aufstand in den seither vergangenen 30 Jahren niemals anders bewertet haben.
Die ungeheure symbolische und faktische Bedeutung dieses Vorgangs liegt an einer anderen Stelle: Daß Ungarn heute in der Lage ist, seine Nachkriegsgeschichte aufzuarbeiten, kennzeichnet einen Prozeß innerer Reformen, der weiter fortgeschritten ist als in irgendeinem anderen Land des östlichen Europas.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11455
VerheugenDie Trauerfeier selber lief ohne jeden äußeren Pomp ab. Sie beeindruckte gerade durch ihre Schlichtheit und den tiefen Ernst vieler Zehntausender, die stundenlang auf dem Heldenplatz ausharrten, kaum sehen konnten, was vor den aufgebahrten Särgen geschah, aber ein ungeheuer starkes Gefühl von gemeinsamer Trauer und gemeinsamer Versöhnungsbereitschaft ausgestrahlt haben.Man hat in Ungarn dieser vom Komitee für historische Gerechtigkeit durchgesetzten und organisierten Veranstaltung durchaus auch mit Sorge entgegengesehen. Eine zu politische Demonstration und Unruhen waren befürchtet worden. Ich habe Zwischenfälle dieser Art nicht beobachten können, auch die nicht, auf die sich der Protest der Regierungen in Bukarest und Prag bezogen hat. Gewiß, es sind nicht nur besinnliche Worte gesprochen worden, sondern auch Worte des Zorns, vor allem aber auch Worte der Hoffnung, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte.Es ist nicht mit den Schuldigen von damals im engeren Sinne des Wortes abgerechnet worden. Aber die mit Kränzen und Blumen übersäten Särge einschließlich eines leeren Sarges für die Opfer, deren Gräber nicht bekannt sind, die Tausenden und Abertausenden von Menschen, die still an diesen Särgen vorbeizogen, die ungarischen Fahnen, aus denen das kommunistische Staatswappen herausgeschnitten oder mit schwarzem Tuch bedeckt war, das alles war eine so eindringliche Manifestation des Volkswillens, daß die davon ausgehende moralische Wirkung sicher viel stärker war, als es die Wirkung wilder Anklagen hätte sein können.Was war also geschehen? Ich denke, es war ein später Triumph der Moral über die Gewalt, ein später Sieg der Gerechtigkeit über die Macht. Es kommt ja nicht oft vor, daß ein Volk seine offizielle Geschichte auf diese Weise selber umschreibt. Gewöhnlich sind es die Sieger, die die Geschichte bestimmen. Hier war es umgekehrt. Die Geschichte hat den wirklichen Sieger bestimmt.Ich habe mich über den Protest aus Prag und Bukarest nicht gewundert. Es war ja ganz unvermeidlich, daß die Gedanken der Menschen auf dem Heldenplatz in andere Länder wanderten und daß man sich andere große Plätze in Europa vorstellen mußte, wo eines Tages etwas Ähnliches geschehen könnte und, so möchte ich hinzufügen, wo es geschehen muß und geschehen wird. Regierungen, die vor ihren Völkern Angst haben müssen, müssen diesen Tag als Katastrophe empfunden haben.
Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die Wirkungen weit über Ungarn hinausgehen werden.Verzeihen Sie mir, wenn ich meine Empfindungen an diesem Tag hier etwas ausführlicher geschildert habe. Aber Sie werden sich leicht vorstellen können, meine Kolleginnen und Kollegen, daß ein Deutscher nicht auf diesem Platz stehen konnte, ohne sich schmerzlich der Geschichte unseres eigenen Volkes und der Aufarbeitung, die wir noch zu leisten haben, bewußt zu sein.Wir sollten in der Würdigung dieses Tages in Budapest auf jedes Gefühl des Triumphes verzichten. Nicht wir haben es soweit gebracht, daß Ungarn an einen Wendepunkt seiner Geschichte gelangt ist. Wir sollten auch den weiteren Gang der Dinge mit Behutsamkeit und mit Sensibilität verfolgen. Wir sollten helfen und raten, wo unsere Hilfe und unser Rat gefragt sind. Aber wir dürfen uns nicht hineindrängen und die schwierige Gratwanderung der ungarischen Politik nicht dadurch erschweren, daß wir den Reformprozeß in Ungarn für uns vereinnahmen.
Ich glaube, daß den Ungarn sehr wohl bewußt ist, wo die Grenzen und die Möglichkeiten ihres neuen Weges liegen. Mir scheint, daß ein unausgesprochener Konsens zwischen den Reformern in der kommunistischen Partei und in der sich formierenden Opposition darüber besteht, daß die Frage der Blockzugehörigkeit Ungarns nicht aufgeworfen werden soll. Hier sitzt die Erfahrung von 1956 natürlich sehr tief. Die Ungarn wissen wie wir, daß das allmähliche Verschwinden der Blockgegensätze die entscheidende Voraussetzung für die Lösung der großen nationalen Fragen ist. Wir müssen also den Reformprozeß in Ungarn im größeren Zusammenhang mit der Entwicklung in der Sowjetunion und in ihrem gesamten Machtbereich sehen.Während wir in den letzten Jahren mit Recht fasziniert die Ereignisse vor allem in der Sowjetunion selber und in Polen verfolgt haben, die auch die volle Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen haben, sind die Ungarn ein gutes Stück weitergekommen. Ich freue mich, das in der Gegenwart eines Mannes sagen zu können, der zu denjenigen gehört, die das bewirkt haben. Ich meine Herrn Staatsminister Nyers aus Budapest, der bei uns auf der Tribüne sitzt.
Die Ungarn haben etwas früher mit Reformen angefangen, vor allem im Bereich der Wirtschaft; aber erst das von Gorbatschow begründete neue Denken und der Abschied von der Breschnew-Doktrin, wie er in der Gemeinsamen Erklärung der vergangenen Woche noch einmal ausdrücklich bestätigt worden ist, haben Ungarn in die Lage versetzt, umfassende Reformen in Gang zu setzen und eine Umgestaltung des staatlichen und gesellschaftlichen Systems von unglaublich weitreichender Art voranzutreiben.Wir können zur Zeit in den kommunistischen Staaten sehr unterschiedliche Ansätze beobachten. Die beiden Extreme sind China und Ungarn. In China hat man versucht, wirtschaftliche Reformen ohne Veränderungen der politischen Strukturen durchzusetzen. In Ungarn wie wohl auch in der Sowjetunion hat man begriffen, daß das eine ohne das andere nicht geht. Politische Reformen ohne Veränderungen der wirtschaftlichen Basis müssen ebenso scheitern wie umgekehrt Wirtschaftsreformen ohne politische Strukturveränderungen. Die chinesische Führung liefert dafür den grauenvollen Beweis.Wenn wir den Prozeß in Ungarn fördern wollen, dann können und müssen wir das auf zwei Wegen tun: Wir müssen zunächst einmal dazu beitragen, daß sich die außenpolitischen Rahmenbedingungen für
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11456 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Verheugendas ungarische Experiment nicht verschlechtern, sondern verbessern. Gorbatschows Besuch in der Bundesrepublik war ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, daß dieser Weg begehbar ist. Wenn wir aus der Blockkonfrontation herauskommen und zur blockübergreifenden Zusammenarbeit gelangen, dann erreichen wir die Stabilität, die notwendig ist, damit auch Ungarn auf seinem Weg Erfolg hat.Ich will an dieser Stelle hinzufügen: Wir reden über Ungarn, aber wir denken auch an andere, und wir denken ganz besonders an Deutschland. Wir haben also ein sehr breites Interesse daran, das neue Denken zu fördern und die Veränderungen in der Sowjetunion nicht vom Standpunkt westlicher Überlegenheit zu betrachten, sondern als eine gemeinsame Chance zu begreifen. Wir werden uns noch sehr viele Gedanken über die Architektur des „gemeinsamen europäischen Hauses" machen müssen. Um im Bilde zu bleiben: Während wir noch über den Bauplan nachdenken, wird anderswo schon kräftig gebaut.Was die außenpolitischen Rahmenbedingungen angeht, so liegt das größte Problem für Ungarn im Auseinanderdriften der Staaten des Warschauer Paktes und des RGW. Wie weit diese gegensätzliche Entwicklung schon fortgeschritten ist, erhellt schlaglichtartig die Tatsache, daß Rumänien dabei ist, an der Grenze zu Ungarn einen neuen Eisernen Vorhang zu errichten. An der ungarischen Grenze nach Westen ist er weitgehend gefallen. Jetzt schottet sich ein osteuropäisches Land gegen ein anderes ab. Die Sorge dabei ist natürlich: Wird es bei dem einen Land bleiben?Wir sind hier mit einer außerordentlich schwierigen Situation konfrontiert. Ich finde, daß es bei aller Zurückhaltung, die wir uns auferlegen, ohne irgendeine Sympathie zu verschweigen, notwendig ist, klar Position zu beziehen. Es darf nicht verschwiegen werden, daß wir denjenigen unserer östlichen Nachbarn, die wie Ungarn einen entschlossenen Reformkurs einschlagen wollen, helfen werden, so gut wir es können. Diejenigen aber, die sich hinter Stacheldraht verschanzen, sollen nicht glauben, daß sie damit durchkommen können.
Die Zeit der Diktaturen in Europa geht zu Ende. Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, über den wird die Zeit hinweggehen.Was die bilaterale Seite angeht, so beschreibt der vorliegende Antrag eine Reihe von Möglichkeiten, wie wir und unsere Partner in der EG zum Gelingen des ungarischen Experiments, das man wohl auch eine Revolution nennen könnte, beitragen können. Politische und kulturelle Beziehungen spielen eine große Rolle. Menschliche Begegnungen sollten wir fördern, wo immer es geht.Ich muß es deshalb bedauern, daß die Regierungsparteien unserer Initiative nicht zugestimmt haben, dem ungarischen Wunsch folgend die Visumpflicht im Verkehr zwischen Ungarn und der Bundesrepublik aufzuheben. Es wirkt nicht sehr überzeugend, wenn wir immer wieder Freizügigkeit und menschliche Erleichterungen fordern und dann Hindernisse aufrechterhalten, die es nicht mehr geben müßte.
Die zentrale Frage für die nächste Zukunft lautet, ob Ungarn seine wirtschaftlichen Probleme lösen kann. Noch haben die Reformen dem kleinen Mann, der kleinen Frau im Hinblick auf Lebensstandard und bessere Konsummöglichkeiten nichts gebracht. Es scheint im Gegenteil so zu sein, daß für breite Schichten des ungarischen Volkes die Lebensbedingungen eher schlechter geworden sind.Wir wissen natürlich, daß ein so tiefgreifender Reformprozeß nicht von heute auf morgen meßbare Ergebnisse bringen kann. Aber wieviel Geduld kann ein Volk aufbringen? Muß nicht die Glaubwürdigkeit der politischen Reformen leiden, wenn es den Menschen trotzdem nicht besser geht?Was können wir also tun? Unser gemeinsamer Antrag sagt: Wir wollen Handelsbeschränkungen abbauen, die Zusammenarbeit der EG mit Ungarn ausbauen, Ungarn einen besseren Zugang zu den Märkten der Europäischen Gemeinschaft eröffnen und Investitionen fördern. Das alles kann nur funktionieren, wenn unsere eigene Wirtschaft auch mitmacht und sich nicht verschließt.Wir wollen heute einen gemeinsamen Appell an die deutsche Wirtschaft richten, sich in Ungarn noch stärker zu engagieren. Ich halte das für den zentralen Punkt. Marktwirtschaft kann sich hier über die eigenen Grenzen hinaus bewähren. Ich hoffe sehr, daß es nicht beim Appell bleibt und daß unsere Wirtschaft auch auf dem Gebiet der technologischen Zusammenarbeit neue, weitreichende Initiativen ergreifen wird.Meine Damen und Herren, Ungarn ist im Prozeß des Wandels in Osteuropa am weitesten fortgeschritten. Die ungarische Politik orientiert sich heute an Werten, die auch die unseren sind. Dieses Land gewährt heute Freiheiten, die man vor wenigen Jahren noch nicht für erreichbar gehalten hätte. Darüber dürfen wir Befriedigung empfinden, aber nicht Selbstzufriedenheit. Wir wollen helfen, uns aber nicht als Vormund aufspielen. Wenn es richtig ist, daß wir Ungarn als ein Beispiel dafür betrachten, wie Reformprozesse in Osteuropa in Gang kommen können, dann ist es auch richtig, daß unsere Reaktion darauf beispielhaft sein muß. Das Beispiel, das wir geben oder nicht geben, wird die Völker Osteuropas ermutigen oder entmutigen. Wir haben die Wahl.Die SPD-Fraktion stimmt dem gemeinsamen Antrag aus den genannten Gründen zu.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Völker in Ost- und Westeuropa haben heute die historische Chance, die Folgen des Zweiten
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HoppeWeltkriegs, d. h. die Trennung Europas, zu überwinden. Ungarn hat die Zeichen und die Chancen der Zeit erkannt. Es leistet einen herausragenden Beitrag für die Intensivierung des Dialogs zwischen West und Ost.Der Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen des Deutschen Bundestages hatte vor zwei Wochen Gelegenheit, mit ungarischen Parlamentariern und mit Vertretern der ungarischen Regierung über die Entwicklung in Ungarn und über den aktuellen Stand der Ost-West-Beziehungen zu sprechen. Der Zeitpunkt unseres Besuches hätte nicht besser gewählt werden können, weil der Wille zu demokratischen Reformen in Ungarn unübersehbar ist.
Bei diesem Besuch hatte ich die Freude, eine Einladung der Frau Bundestagspräsidentin Süssmuth an den Präsidenten der ungarischen Nationalversammlung zu einem Besuch im Oktober hier in Bonn überreichen zu können.
Im Gespräch mit der Vizepräsidentin der Nationalversammlung wurde dabei das große Interesse an diesem Besuch überdeutlich.Meine Damen und Herren, Ungarn hat mit besonderer Klarheit erkannt, daß sein politisches und wirtschaftliches System reformiert werden muß, wenn die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte gemeistert werden sollen, und daß die Reformen in der Wirtschaft Hand in Hand mit den politischen Reformen gehen müssen.
Andernfalls führt dies nämlich zu Spannungen, die den gesamten Reformprozeß gefährden. Es war Staatsminister Pozsgay, der die bedrückenden Ereignisse in China als Beweis für den unverzichtbaren Gleichschritt der Reformprozesse angeführt hat.Die Ungarn sind hoffnungsvoll, weil sich auch die Sowjetunion zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bekannt hat. Anders als Gorbatschows Kritiker im Ostblock — der Rumäne Ceausescu nennt ihn ja sogar einen russischen Hasardeur — gehen die Ungarn zu Glasnost und Perestroika nicht auf Distanz. Wir haben deshalb allen Anlaß, Ungarn bei seinen Bemühungen, das wirtschaftliche und politische System zu reformieren, zu unterstützen. Dies bedeutet in erster Linie, daß sich die Bundesrepublik Deutschland dafür einsetzt, die Kooperation Ungarns mit der Europäischen Gemeinschaft so rasch und so intensiv wie möglich auszubauen. Dies wird nach der langjährigen Abschottung nicht einfach sein.Eine beispielhafte Rolle hat Ungarn auch in den Verhandlungen der Wiener Folgekonferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit gespielt.
Meine Damen und Herren, auch die Minderheitenpolitik Ungarns kann als richtungweisend für andere Staaten des Warschauer Paktes gelten. Die Rechte der nationalen Minderheiten sollen in Zukunft auch imParlament durch einen Nationalitätenbeirat wahrgenommen und geschützt werden.
Am 12. Juni 1989 ist der Beitritt Ungarns zu den Flüchtlingskonventionen rechtlich in Kraft getreten. Auch dies ist ein Beweis für die Bereitschaft Ungarns, die Menschenrechte umfassend zu respektieren.Die inneren Reformen Ungarns und seine außenpolitische Öffnung stellen einen wichtigen Beitrag zur Vertrauensbildung zwischen Ost und West dar. Die Parteien in Ungarn haben ein großes Informations-und Dialogbedürfnis, wie wir es selbst dort haben spüren können. Sie erwarten Rat und Unterstützung von den demokratischen Parteien des Westens.
Deshalb sind die Parteien des Deutschen Bundestages und die ihnen nahestehenden Stiftungen aufgerufen, ihren Beitrag für einen erfolgreichen Start der Demokratie in Ungarn zu leisten.
Meine Damen und Herren, die Geschichte, so sagte Bundespräsident von Weizsäcker anläßlich des 40. Jahrestages unseres Grundgesetzes, pflegt ihr Angebot nicht zu wiederholen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich begrüße es sehr entschieden, daß wir im Blick auf die Reformen in Ungarn hier eine gemeinsame Entschließung verabschieden werden. Ich denke, das ungarische Volk hat für den Weg, den es jetzt geht, unser aller Hochachtung und Bewunderung verdient. Die Einmütigkeit, die wir in dieser Resolution zu erkennen geben, drückt sich natürlich auch darin aus, daß sich in den Begründungen, die heute vorgetragen werden, einiges ähnelt.Genauso, wie der hochgeschätzte Kollege Wulff es hier eben vorgetragen hat, mußte auch ich bei der Vorbereitung meines kurzen Beitrags in die Geschichte zurückdenken, an das Jahr 1956, als wir als Studenten gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn demonstriert haben, als wir am Radio die Hilferufe von Imre Nagy und von General Maleter verfolgt haben.Natürlich berührt es uns tief, daß es nach Jahrzehnten gelungen ist, die historische Wahrheit in Ungarn durchzusetzen. Ich unterstreiche aber einen Satz von Günter Verheugen, der uns geraten hat, einen solchen Vorgang ohne Herablassung, ohne schulterklopfende Hochmütigkeit zu verfolgen. Wir haben immerhin 40 Jahre gebraucht, bis ein konservativer Bundespräsident bestimmte historische Wahrheiten vor dem Bundestag aussprechen konnte. Wir haben also keinerlei Anlaß, uns hier auf eine höhere Position zu stellen.
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SchilyIch denke, was den Vorgang in Ungarn so beachtlich macht, ist die Tatsache — wie es auch schon Günter Verheugen gesagt hat — , daß ein Volk die von ihm längst erkannte historische Wahrheit durchsetzt. Das mindert nicht den Respekt für die politische Führung Ungarns, die dem Raum gegeben hat. Aber ich glaube, es sollte uns auch ein Hinweis darauf sein, daß historische Wahrheit niemals staatlich verwaltet oder verordnet werden darf.
Das ist eine Frage, die wir nicht dem Staat als Befugnis zuerkennen dürfen. Eine Demokratie braucht als Fundament die historische Wahrheit. Ich glaube, daß eine Demokratie so gut oder so schlecht ist, wie es ihr gelingt, zu ihrer Wahrheit zu finden.Das kluge, tapfere, Bedanken- und gefühlsreiche ungarische Volk gehört in das europäische Konzert. Ich denke, wenn hier von allen Seiten des Hauses erklärt worden ist, daß wir die Ungarn in dem europäischen Dialog willkommen heißen, ist das etwas, was zur Ermutigung Anlaß gibt. Nur: Damit das, was wir heute hier sprechen und was wir in der gemeinsamen Entschließung niedergelegt haben, nicht bloße Worte bleiben, ist es notwendig, die guten Absichten mit Substanz zu füllen. Nicht um die Einmütigkeit zu trüben, möchte ich auch hervorheben: Gerade wenn wir es feiern, daß der Eiserne Vorhang an der ungarisch-österreichischen Grenze beseitigt wird, dann sollten wir so entschieden sein können, auch den visafreien Verkehr zwischen Ungarn und der Europäischen Gemeinschaft, zumindest mit der Bundesrepublik, zustande zu bringen.Sie werden sicherlich verstehen, wenn ich einen Punkt der gemeinsamen Entschließung besonders hervorhebe. Das ist die Tatsache, daß wir gemeinsam den Stopp des Donaukraftwerks Nagymaros begrüßen.
Ich glaube, das ist ein Erfolg der globalen Umweltbewegung. Ich will das gar nicht für irgendeine Partei vereinnahmen. Aber ich würde es auch begrüßen, wenn wir diesen wirtschaftlich-finanziell schwierigen Schritt wenigstens dadurch unterstützten — wenn wir uns schon staatlich nicht in der Lage sehen, Entlastungsmöglichkeiten zu nutzen — , daß wir uns an der Stiftung beteiligen, die eingerichtet worden ist, um die finanziellen Erschwernisse zu erleichtern. Ich möchte von dieser Stelle dazu aufrufen, sich an dieser Stiftung in großzügiger Weise zu beteiligen.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Petöfi schließen, mit einem Satz, auf den alle, die bei der Feier zu Ehren von Imre Nagy und anderen anwesend waren, geschworen haben und in den, wie ich glaube, wir alle einstimmen können. Die Menschen in Budapest haben geschworen:Wir wollen nie mehr Sklaven sein. Das ist eine Verheißung für das zukünftige gemeinsame europäische Haus.
Das Wort hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In einigen Staaten Mittel- und Osteuropas vollziehen sich atemberaubende Reformentwicklungen. Neben dem in Polen ist der Reformprozeß in Ungarn am weitesten vorangeschritten. Mit großer Entschlossenheit und weitgesteckter Perspektive hat die ungarische Führung begonnen, neue Denkansätze, Methoden und Strukturen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an die Stelle der alten, für untauglich befundenen zu setzen. Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und parlamentarische Mitgestaltung, Transparenz und Freizügigkeit, marktwirtschaftliche Ausrichtung der Volkswirtschaft und differenzierte Neubewertung des außenpolitischen Standortes des Landes sind die Ziele dieses Reformprozesses. Nur wer das alles aus der Nähe miterlebt hat, nur wer den Vergleich mit Zeiten vor zehn oder zwanzig Jahren direkt ziehen kann, der kann ermessen, was an Mut, Weitsicht und Führungskraft erforderlich ist, wenn die Führung eines Staates entschlossen ist, diese Entwicklungen voranzutreiben.
Die politischen Entscheidungen für die Einführung eines Mehrparteiensystems sind gefallen. Die Repräsentanten der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei und der neuen alternativen Parteien und Gruppierungen haben sich in gemeinsamer Verantwortung am runden Tisch zusammengefunden, um einen geordneten Übergang zum Mehrparteiensystem in die Wege zu leiten und die nächsten Parlamentswahlen vorzubereiten. Es sollen freie und demokratische Wahlen sein.Zugleich wird an einer neuen Verfassung gearbeitet, deren Grundzüge aber bereits umrissen sind: eine freiheitliche und demokratische Ordnung sozialistischer Grundorientierung, eine pluralistische Parteienstruktur und eine Struktur, meine Damen und Herren, in der eine Partei auf ihre bisher garantierte Führungsrolle und Machtposition aus eigenen Stücken verzichtet. Vorgesehen sind strikte Gewaltenteilung und die Einrichtung eines mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Staatspräsidentenamtes.Zu diesem Reformprozeß gehört auch die Aufarbeitung der Vergangenheit. Es ist hier bereits auf die bewegende Art der Wiederbestattung des früheren Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner Weggefährten und auf ihre vor den Augen der Weltöffentlichkeit vollzogene Rehabilitierung Bezug genommen worden. Dies sind sichtbare Zeichen neuen Denkens in Ungarn.Zu diesen sichtbaren Zeichen neuen Denkens gehört auch die seit Jahresbeginn gewährte Freizügig-
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Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzerkeit, der im Mai 1989 begonnene Abbau der Befestigungen an der Grenze zu Österreich und der soeben wirksam gewordene Beitritt Ungarns zur Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist uns allen klar, daß die Zukunft der Reformbemühungen in Ungarn auch davon abhängig ist, wie schnell und wie durchgreifend die Wirtschaftsreformen durchgeführt werden können. Es bleibt zu hoffen, daß Ungarn trotz ungünstiger Rahmenbedingungen den eingeschlagenen Kurs zu mehr Marktwirtschaft konsequent fortsetzt.Um den Erfolg dieser Entwicklung abzusichern — dabei geht es nicht darum, Herr Verheugen, zu vereinnahmen, sondern darum, wirklich abzusichern —, unterstützt die Bundesregierung auch die Bemühungen Ungarns um eine intensivere Kooperation mit europäischen Institutionen. Ich nenne hier die Europäische Gemeinschaft und den Europarat.
Die Bundesregierung hat sich nachhaltig für das Zustandekommen des Handels- und Kooperationsabkommens Ungarns mit der EG eingesetzt. Es ist unter unserer Präsidentschaft im vergangenen Jahr paraphiert worden, und es ist im September 1988 unterzeichnet worden. Es sieht vor, daß bis 1998 der Abbau aller mengenmäßigen Beschränkungen im Handel mit Ungarn vorgenommen wird. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die Reformbemühungen in Richtung auf mehr Marktwirtschaft von uns mit allen Konsequenzen unterstützt werden. Die Aufnahme des politischen Dialogs Ungarns mit der Europäischen Politischen Zusammenarbeit wird von uns gewünscht und gefördert.Ein weiterer wichtiger Fortschritt ist die Tatsache, daß Ungarn und andere Staaten Mittel- und Osteuropas inzwischen einen Sondergaststatus in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eingeräumt bekommen haben. Das, meine Damen und Herren, zeigt, daß die guten Absichten, die hier niedergelegt worden sind, mit Substanz erfüllt werden.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung begrüßt und unterstützt die vorliegende, von allen Fraktionen einmütig zu verabschiedende Resolution. Die Reformen eröffnen neue Perspektiven und Chancen des Dialogs und der Zusammenarbeit über die Grenzen von Bündnissystemen und Gesellschaftsordnungen hinweg. Sie tragen damit dazu bei, den Frieden auf unserem Kontinent sicherer zu machen. Der Erfolg liegt in unser aller Interesse.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Ich bitte um Aufmerksamkeit, denn wir kommen zur Abstimmung, und zwar über den interfraktionellen Antrag zur politischen Entwicklung in Ungarn auf Drucksache 11/4840.
Wer für diesen Antrag stimmt, bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit kann ich feststellen, daß der Antrag einstimmig angenommen worden ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Wahl der vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieder der Rundfunkräte der Anstalten des öffentlichen Rechts „Deutsche Welle" und „Deutschlandfunk"
— Drucksachen 11/4853, 11/4854 —
Zur Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats der Deutschen Welle schlagen die Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/4853 Herrn Dr. Hupka und den Abgeordneten Verheugen vor. Von der Fraktion DIE GRÜNEN wird auf Drucksache 11/4854 die Abgeordnete Frau Schoppe vorgeschlagen. Für die Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats des Deutschlandfunks schlagen die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf der Drucksache 11/4853 die Abgeordneten Dr. Czaja, Graf Huyn, Reddemann, Dr. Nöbel, Dr. Schmude und Herrn Mischnick vor. Von der Fraktion DIE GRÜNEN wird auf Drucksache 11/4854 die Abgeordnete Frau Schoppe vorgeschlagen.
Ich unterbreche hier — ich muß Ihnen nachher noch einige Informationen zum Wahlverfahren geben —, da sich der Abgeordnete Becker wohl in Übereinstimmung mit allen Fraktionen gemeldet hat, um etwas zu erläutern. — Bitte schön, Herr Becker.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie alle wissen, daß sich eine Novelle zum Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts in der Beratung befindet. Wir haben uns im Vorfeld dieser Wahl darüber unterhalten, wie wir uns nach Verabschiedung dieses Gesetzes verhalten, und sind übereingekommen, daß in das Gesetz eine Übergangsregelung eingefügt werden soll, die besagt, daß die Amtszeit der jetzt zu benennenden Mitglieder des Rundfunkrates einige Monate nach Inkrafttreten der Novelle endet, um die Bildung des dann neu zu bestimmenden Rundfunkrates zu erleichtern.
Ich bedanke mich.
Zwischendurch habe ich noch eine Mitteilung zu machen, die nichts mit dem jetzigen Wahlgang zu tun hat, aber für Sie alle interessant ist. In der um 14.00 Uhr zu eröffnenden Fragestunde sind nur noch zwei Fragen aufzurufen; sie sind an das Auswärtige Amt gerichtet. Danach beginnt dann sofort die Debatte über China. Ich sage dies, damit die Redner und die Kollegen, die an der Debatte teilzunehmen wünschen, Bescheid wissen.Wir kommen nun zu der Abstimmung, zu der ich Ihnen einiges mitzuteilen habe.Zunächst darf ich Ihnen mitteilen, daß der Abgeordnete Jäger eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur politischen Entwicklung in Ungarn abgegeben hat, die ins Protokoll kommen wird *).*) Anlage 2
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Vizepräsident WestphalZum Wahlverfahren. In den Rundfunkrat des Deutschlandsfunks können nach § 7 des Gesetzes über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts sechs Mitglieder gewählt werden. Sie können daher auf der Stimmkarte höchstens sechs Namensvorschläge ankreuzen. Gewählt sind die sechs Mitglieder mit den meisten Stimmen. In den Rundfunkrat der Deutschen Welle können nach § 3 des Gesetzes über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts zwei Mitglieder gewählt werden. Sie können daher auf der entsprechenden Stimmkarte höchstens zwei Namensvorschläge ankreuzen. Gewählt sind die zwei Mitglieder mit den meisten Stimmen. Ungültig sind Stimmkarten, die mehr als sechs bzw. zwei Kreuze, andere Namen oder Zusätze enthalten. Wer sich der Stimme enthalten will, macht keine Eintragung auf der Stimmkarte.Für diese Wahl benötigen Sie ihren Wahlausweis, der sich in den Schließfächern in der Eingangshalle des Ersatzplenarsaals befindet. Bitte vergewissern Sie sich, daß Sie Ihren eigenen Wahlausweis verwenden. Die Stimmkarten sind auf den Sitzen ausgelegt. Außerdem werden am Eingang des Saals Stimmkarten verteilt.Eine geheime Wahl ist nicht vorgeschrieben. Beide Wahlen sollen zusammen durchgeführt werden. Bitte werfen Sie also beide Stimmkarten in die Urne. Die Abgabe Ihres Wahlausweises gilt als Nachweis der Teilnahme an beiden Wahlen.Ich bitte jetzt die Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich eröffne die Wahl. —Meine Damen und Herren, haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführer, ihre Stimmkarten abgegeben? — Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird nach der Mittagspause bekanntgegeben.*)Wir treten nun in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt. Ich teile noch mit, daß der Ältestenrat gleich anschließend mit der Sitzung beginnt.Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung wird wieder eröffnet.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2: Fragestunde
— Drucksache 11/4811 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht uns Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 18 des Abgeordneten Schulhoff auf:
') Siehe Seite 11470A
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die indische Regierung den Handelsverkehr Nepals mit Indien und dritten Staaten wesentlich eingeschränkt hat mit dem Ergebnis, daß die Versorgungslage Nepals, einem der schon ärmsten Länder der Welt, sich noch weiter verschlechtert haben soll?
Frau Staatsminister, Sie haben das Wort.
Herr Abgeordneter, der Bundesregierung ist bekannt, daß sich die Versorgungslage in Nepal seit dem im März erfolgten Auslaufen von zwei Verträgen über Handel und Transithandel zwischen Nepal und Indien verschlechtert hat. Beide Staaten haben die Handelsvorteile, die sie bisher dem jeweils anderen eingeräumt hatten, beendet. Derzeit laufen Bemühungen um Verhandlungen zur Beilegung der Krise.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter?
Ich warte erst die Antwort auf meine zweite Frage ab.
Dann rufe ich jetzt auch die Frage 19 des Abgeordneten Schulhoff auf:
Was beabsichtigt die Bundesregierung zu tun, um diesem Land auf diplomatischem oder direktem Wege zu helfen, damit zumindest der tägliche Bedarf an Babynahrung, Salz, Brennmaterial und Medikamenten gedeckt werden kann?
Bitte.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, auf Ihre zweite Frage antworte ich Ihnen: Die Bundesregierung ist über die Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Indien und Nepal besorgt. Sie hofft auf eine baldige einvernehmliche Konfliktlösung. Sie hat sich in diesem Sinn auch mit ihren Partnern konsultiert.
Hinsichtlich der angesprochenen Versorgungsengpässe sind nach jetzt vorliegenden Erkenntnissen die Mängel an Babynahrung, Salz und Medikamenten behoben worden, auch wenn wegen der Knappheit Preiserhöhungen eingetreten sind. Die größte Knappheit besteht nach wie vor bei Treibstoff und bei Kerosin, welches von der Bevölkerung zum Kochen benutzt wird. Im Zusammenhang damit ist das Ausweichen auf Brennholz ökologisch besorgniserregend.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß baldige bilaterale Verhandlungen zwischen Indien und Nepal der beste und schnellste Weg zur Behebung der Engpässe sind.
Vielen Dank, Frau Staatsminister. Sie haben gesagt: Die Bundesregierung bemüht sich. Kann man vielleicht konkret sagen, welche Schritte sie unternommen hat?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wir haben mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft diese Fragen erörtert, und wir sind bemüht, gemeinsam und auch auf bilateraler Ebene den Prozeß zu fördern, soweit das möglich ist.
Sie werden verstehen: Das ist mir etwas zu ungenau. Hier handelt es sich ja um
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Schulhofferhebliche Probleme, wie eine Delegation noch vor kurzem selber sehen konnte. Wäre es nicht besser, wenn wir uns hier direkt einschalten und vielleicht mit Indien Gespräche führen würden, um den Konflikt so schnell wie möglich beizulegen?Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß es sich hier um eine Frage handelt, die in der Tat die beiden benachbarten Staaten miteinander regeln müssen. Wir wollen, wenn das möglich ist, unseren Beitrag dazu leisten. Wir haben mit unseren Partnern in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit in der Sitzung am 7. Juni in Madrid beschlossen, daß die EG-Botschafter in Katmandu und Neu-Delhi mit der Abfassung eines gemeinsamen Berichts beauftragt werden. Dieser Bericht müßte in den nächsten Tagen vorliegen.
Entschuldigen Sie bitte. Darf ich noch einmal fragen?
Sie haben vier Zusatzfragen, Herr Abgeordneter. Ich bin nicht böse, wenn Sie diese vier Zusatzfragen ausnutzen, weil persönlich an der Angelegenheit interessiert.
Mir ist das etwas zuwenig, was hier läuft. Ich habe den Eindruck, daß hier viel zu sehr auf diplomatischem Weg versucht wird, aus der eigenen Verantwortung, die auch wir als Bundesrepublik einem derartigen Land gegenüber haben, herauszukommen. Teilen Sie diese Meinung?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich muß noch einmal darauf hinweisen, daß die Verträge, die geschlossen waren, ausgelaufen sind und daß es eine Aufgabe der beiden Nachbarstaaten ist, für eine Anschlußregelung zu sorgen. Natürlich beobachtet auch die Bundesregierung mit größter Aufmerksamkeit die Politik Indiens in der Region. Wir haben im Rahmen unserer Beziehungen zur indischen Regierung diese Fragen durchaus angesprochen, wie das üblich und wie es auch notwendig ist.
Darüber hinaus — darauf möchte ich noch einmal hinweisen — bemühen wir uns gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, Wege zu finden, wie wir den Prozeß des Ausgleichs, des Gesprächs zwischen diesen beiden Nachbarstaaten fördern können.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Gab es denn ganz konkrete Schritte des Auswärtigen Amtes, diesen Fall gegenüber der indischen Regierung vorzutragen?
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister: Unser Botschafter in Indien hat diese Fragen ebenfalls angesprochen.
Damit sind die Fragen beantwortet. —
Die Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Würtz werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Das trifft ebenfalls für folgende Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr zu: 46 und 47 des Abgeordneten Weiss , 48 und 49 des Abgeordneten Dr. Sperling, 50 des Abgeordneten Stiegler sowie 51 und 52 des Abgeordneten Linsmeier. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit ist die Fragestunde beendet.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, erteile ich dem Abgeordneten Wüppesahl das Wort zur Geschäftsordnung.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie nach Studium der Tagesordnung sicherlich festgestellt haben, sind in ihr eine Fülle von Sachgebieten enthalten — das galt auch für gestern — , zu denen ich gewöhnlich das Wort zu ergreifen trachte. Ich möchte Ihnen mit diesem Geschäftsordnungsbeitrag die Begründung dafür liefern, weshalb sich mein Verhalten seit dem 13. Juni dieses Jahres sehr wesentlich ändern wird.Die „Geschäftsordnungskriege", die wir teilweise erlebt haben — nicht unmaßgeblich durch meine Person ausgelöst — , sind ab sofort beendet.Im Zusammenhang mit meiner Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hielt ich jede einzelne Auseinandersetzung, die ich hier führte, für sinnvoll und notwendig. Ich habe das nicht getan, um Sie zu ärgern oder Sie gegen mich aufzubringen. Dies ausdrücklich festzustellen ist mir wichtig.Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: Es gibt Abgeordnete unterschiedlicher Klasse, unterschiedlichen Gewichtes. Es gibt also solche höheren und minderen Gewichtes. Ich gehöre eindeutig zu den letzteren.Ich zähle an dieser Stelle nicht alles auf, was ich nicht darf und was Sie alles können. Vielmehr stelle ich das einfach als Faktum fest. Sie können das im Urteil nachlesen. Wir haben es hiermit also amtlich, was viele für sich schon so praktiziert hatten, vor allen Dingen meine fraktionslosen Vorgänger, ob Hansen, Coppik, Gruhl oder wie sie auch hießen.Dabei hat das Bundesverfassungsgericht Art. 38 des Grundgesetzes nicht interpretiert, sondern neu geschrieben. Unter anderem sagt es: Die Repräsentation erfolgt nicht durch den Bundestagsabgeordneten — wie es im Grundgesetz steht — , sondern durch den ganzen Deutschen Bundestag. Das ist neu. Deswegen halte ich mich jetzt auch zurück, und zwar nicht nur heute, sondern in den verbleibenden 18 Monaten dieser Legislaturperiode, was uns allen wohl sehr viel Zeit sparen wird. Ich wäre deswegen auch dankbar, wenn Sie diese Erklärung in Ruhe bis zum Ende anhören könnten.Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Leitsätzen ferner gesagt, daß sich die Gewissensfreiheit und Unabhängigkeit nach Art. 38 des Grundgesetzes darauf reduziere, daß ein Abgeordneter zu Beginn einer Legislaturperiode gewissensfrei und unabhän-
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Wüppesahlgig entscheide, ob er in eine Fraktion gehe und in welche. Mehr nicht.Es gibt in diesem Urteil eine ganze Reihe von Widersprüchlichkeiten. Eine ist zum Teil sogar süffisant von dem Vorsitzenden des Zweiten Senats, dem Richter Mahrenholz, sehr deutlich in seinem Minderheitenvotum beschrieben worden. Eine ganze Reihe von Widersprüchlichkeiten werde ich Ihnen in Kürze ebenfalls schriftlich zukommen lassen.Es ging weniger um die für mich verbleibenden 18 Monate und darum, daß ich effektiver und günstiger arbeiten kann, auch wenn ich es natürlich gerne getan hätte, sondern es ging bei dieser Klage vor allen Dingen darum, daß Sie alle auch in den Fraktionen einen größeren Freiraum gegenüber Ihren Fraktionsführungen und den Parteien haben. Dieses Urteil schreibt genau das Gegenteil fest. Das ist die eigentliche politische Dimension dieses Urteils. Dies bedaure ich am meisten.Die Konsequenzen für mich sind folgende: Der Warnstreik, den ich kurz vor dem Urteilsspruch angefangen hatte, ist natürlich beendet. Er macht keinen Sinn mehr.Die Überführung in einen regulären Streik ist unsinnig, weil ich keinerlei Druckpotential mehr hinter mir habe oder mit meinem Mandat verbinden kann, was ein solches Vorgehen sinnvoller machen würde.Ich betrachte die Parlamentsveranstaltungen — ob Anhörungen, Plenumssitzungen, Ausschußsitzungen, Enquete-Kommissionen — für mich jetzt nur noch als gehobene Weiterbildungsveranstaltungen. Den Schwerpunkt meiner politischen Arbeit, Herr Kollege, lege ich in den Wahlkreis, in die Landespolitik und z. B. in die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten.Hier in Bonn — das hat das Verfassungsgericht eindeutig gesagt — habe ich als fraktionsloser Abgeordneter wenig bis gar nichts zu melden. Deswegen werde ich diese gehobenen Weiterbildungsveranstaltungen nach dem Bock-Prinzip wahrnehmen, also wenn ich Lust habe, mache ich mit. Gelegentlich mache ich auch hier im Plenum einen Auftritt, aber es wird sich eben erheblich reduzieren. Ich glaube, das ist genau das, was das Bundesverfassungsgericht jetzt als höchstrichterliche Rechtsprechung formuliert hat. Als Repräsentant des ganzen deutschen Volkes jedenfalls bin ich von meiner Rechtsausstattung her nicht gewollt.So vorzugehen, empfehle ich gleichzeitig sämtlichen Fraktionslosen. Ich empfehle darüber hinaus den fraktionsabhängigen Kollegen und Kolleginnen im Hause, wenn es darauf ankommt, nicht ihrem Gewissen zu folgen, denn sonst werden sie als Unabhängige genauso wie ich kaltgestellt. Das will die Verfassung — sagt das Bundesverfassungsgericht.Abschließend werde ich zu diesem sehr heftig geführten Streit nacharbeiten. Ich denke, es ist jetzt meine Pflicht, sehr deutlich herauszuarbeiten, was an Parlamentskritik in der Bundesrepublik sowieso schon sehr ausgeprägt vorhanden ist und jetzt auf eine verfassungsrechtliche Ebene gehoben wurde.
Herr Abgeordneter — —
Ich komme zum Schluß.
Ja, darauf lege ich jetzt schon Wert. Ich habe ohnehin noch einiges dazu zu sagen.
Es ist wirklich der letzte Satz, Herr Cronenberg.
Ich befürchte, daß die Politikorganisation nach diesem Leitspruch aus Karlsruhe den ohnehin schon viel zu ausgeprägt vorhandenen stromlinienförmigen Technokraten und Opportunisten fördert, der an einem Tag Mineralwasser und am nächsten Tag Spirituosen verkaufen kann, auch hier im Parlament. Ich denke, mit diesem Spruch aus Karlsruhe ist der Rechtsfrieden wiederhergestellt. Ob auch der politische Friede hergestellt sein wird, werden wir in den nächsten Monaten und Jahren sehen.
Ich bedanke mich ausdrücklich auch beim Präsidium, daß es mir die Möglichkeit gegeben hat, solch einen Beitrag loszuwerden. Der Bezug zur Tagesordnung ist ganz einfach: Ich melde mich heute aus diesen Gründen nicht zu einem einzigen weiteren Sachpunkt.
Herr Abgeordneter, auch der letzte Satz macht ja deutlich, daß Sie das Problem erkannt haben, daß es natürlich keine Erklärung zur Tagesordnung war, wie Sie das wünschten, sondern mehr eine Erklärung außerhalb der Tagesordnung. Verständigen wir uns dahin gehend, daß die Begründung dafür, warum Sie sich im Laufe der Debatte nicht mehr melden, den einzigen Bezug zur Tagesordnung darstellt und diese Erklärung dann ermöglichte. Ich wäre aber dankbar, wenn die Debatte damit auch beendet würde und keine weiteren Wortmeldungen zu diesem Punkt erbeten werden. — Das ist offensichtlich der Fall. — Herr Abgeordneter Ronneburger, legen Sie großen Wert darauf?
— Bitte sehr, Sie haben das Wort zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte es nicht für angebracht, daß unter dem Vorwand einer Wortmeldung zur Geschäftsordnung hier Gerichtsschelte über das Bundesverfassungsgericht gehalten wird. Nur einen zweiten Satz füge ich noch hinzu: Ich halte es auch nicht für denkbar, daß jemand, der aus einer Fraktion austritt und damit fraktionslos wird, damit für sich persönlich mehr Rechte erhält als irgendein Mitglied einer der anderen Fraktionen.
Auch dies bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.
Danke schön.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11463
Vizepräsident CronenbergHerr Abgeordneter Gansel zur Gechäftsordnung. Aber die Sache wird jetzt etwas problematisch, auch von der Geschäftsordnungslage her.
Ich will auch nicht zur Sache sprechen, .. .
Das ist noch schlimmer.
... weder zu dem Urteil noch zu den Konsequenzen. Ich will nur darauf hinweisen, daß der Kollege Wüppesahl eben auch ein Friedensangebot an das Plenum gemacht hat, und wir tun gut daran, es anzunehmen.
Herr Abgeordneter Gansel, das war mit ein Grund, warum ich den Abgeordneten Wüppesahl nicht unterbrochen habe.
Nun, meine Damen und Herren, rufe ich den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Todesurteile in der Volksrepublik China — Drucksache 11/4857 —
Es ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu fünf Minuten von jeder Fraktion vereinbart worden. Ich frage, ob sich Widerspruch gegen diesen Vorschlag erhebt. — Das ist nicht der Fall.
Dann erteile ich dem Abgeordneten Pohlmeier das Wort. Bitte, Herr Abgeordneter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen mit Erschütterung und Fassungslosigkeit vor dem, was sich am 3. Juni in China ereignet hat. Wir haben hier im deutschen Bundestag am vorigen Donnerstag, dem 15. Juni, debattiert und mit allem Nachdruck die chinesische Führung aufgefordert, auf den Weg der Menschlichkeit und des Dialogs zurückzukehren. Die gestrige Vollstreckung von drei Todesurteilen an jungen Menschen ist ein Schlag ins Gesicht der Weltöffentlichkeit. Ich kann die diesen jungen Leuten vorgeworfenen Straftaten nicht im einzelnen beurteilen. Das, was sie getan haben mögen, steht in keinerlei Verhältnis zu der brutalen Vergeltung, die das Regime an ihnen übt.Wir appellieren heute erneut und mit noch größerem Ernst an die chinesische Führung, auf ihrem unheilvollen Weg einzuhalten und umzukehren. Die öffentlichen Erklärungen der chinesischen Politiker, die jetzt die Macht haben, man wolle mit größter Härte durchgreifen, sollen offensichtlich eine Herrschaft des Schreckens über das eigene Volk ausbreiten. Das deutsche Volk, alle politischen Parteien und die breite Meinung in allen freiheitlichen Nationen der Welt werden das nicht mit Schweigen übergehen.
Gewiß ist zu fragen, ob der Ruf nach Menschlichkeit das Ohr der Herrschenden in Peking noch erreicht, der Herrschenden, die sich augenscheinlich entschlossen haben, das Freiheitsverlangen des chinesischen Volkes niederzuknüppeln. Ich möchte allerdings die Hoffnung noch nicht aufgeben, daß sich Einsicht, Gerechtigkeitssinn und Weisheit in China doch noch durchsetzen mögen.In der Bundesrepublik Deutschland hat China in den letzten Jahren große Sympathien erworben. Wir waren alle fasziniert von dem Weg dieses größten Volkes der Welt aus Diktatur und Unfreiheit heraus. Öffnung zur Welt hin und freie wirtschaftliche Betätigung schufen eine Aufbruchstimmung im Reich der Mitte, die unsere Bewunderung fand. Ich hatte mit einigen Kollegen etwa vor Jahresfrist Gelegenheit, in den großen chinesischen Städten den Lebens- und Aufstiegswillen der chinesischen Menschen ebenso wie den intelligenten Freimut führender Leute in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zu erleben. Ich kann es wirklich nicht fassen, und fast möchte man sich weigern, es zu glauben, daß das alles nun vorbei sein soll. Alle Gesprächspartner haben uns damals versichert: Das, was sich in der Kulturrevolution in China ereignet hat, wird nie mehr passieren. Und jetzt greifen verantwortliche Führer in Peking zu vergleichbaren Methoden wie damals.Hochgeachtet und bewundert haben wir vor allem den Mut und die Konsequenz von Deng Xiaoping, der sein Volk aus der Barbarei der Kulturrevolution herausgeführt hat und die Hoffnung nähren konnte, daß man ihn unter die größten Staatsmänner dieses Jahrhunderts einreihen würde. Gerade dieser Mann trägt aber nun die Verantwortung für die Bluttaten des 3. und 4. Juni und das, was jetzt folgt.Man kann nach Ursachen forschen. Eine Erklärung für den schockierenden Bruch der politischen Linie von Deng liegt in der Auffassung, er wollte wirtschaftliche, aber keine politische Freiheit für die Chinesen. Vielleicht ist das der große, tragische Irrtum dieses alten Mannes. In einer Zeit, da in der ganzen kommunistischen Welt das Verlangen nach Freiheit und Mitbestimmung elementar aufbricht und ungeahnte Erfolge zeitigt, soll das größte Volk dieser Erde wieder unter die kommunistische Knute gezwungen werden.Die Entscheidung, die zur Blutnacht des 3. und 4. Juni und jetzt zu den Erschießungskommandos in Schanghai führte, ist eine Entscheidung gegen die Geschichte. Es ist eine Entscheidung auch gegen das große chinesische Volk, gegen seine reiche Kultur und große Tradition und gegen seine Humanität.
Gewiß, die mehrtausendjährige Geschichte Chinas hat immer wieder Diktatoren und Unterdrückung gesehen. Wenn ein Kaiser im alten China das Mandat des Himmels verloren hatte, dann erhob sich das Volk gegen ihn und begründete oft in langen Kämpfen eine neue, gerechtere Herrschaftsordnung. Deng Xiaoping hat in der Pekinger Blutnacht und mit den Urteilen von Schanghai das Mandat des Himmels verloren.
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11464 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Dr. PohlmeierUnser Mitgefühl, aber auch unsere Mitverantwortung gilt dem chinesischen Volk. Wie unsere künftige Politik gegenüber dem chinesischen Volk aussehen kann, das ist heute noch nicht klar zu sagen. Wir werden alles tun, was diesem Volk in den dunklen Stunden und vielleicht Jahren, die ihm jetzt bevorstehen, zu helfen in der Lage ist.Gespräche, die ich in diesen Tagen hier in Deutschland mit Chinesen führen konnte, bestärken mich in der Überzeugung, daß das, was jetzt in ihrem Lande geschieht, sie nicht von dem Willen abbringen wird, eine neue, freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu schaffen. Diese Menschen, sie können überzeugt sein, daß der ganze Deutsche Bundestag als frei gewählte Vertretung des deutschen Volkes auf diesem vielleicht noch langen Wege an der Seite des chinesischen Volkes steht.
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands — nicht nur ihre Bundestagsfraktion — empfindet Trauer für die Toten, mit denen das chinesische Volk seine Sehnsucht nach mehr Freiheit und Mitbestimmung, nach weniger Zwang und Korruption bezahlen muß. Wir empfinden Abscheu gegenüber einer Führungsclique, die ihre Macht und ihre Privilegien mit einem barbarischen Staatsterror zu erhalten versucht. Wir empfinden Zorn, daß sich die amtierende Regierung der Volksrepublik China in der Illusion wähnen kann, sie könnte in ihren außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Beziehungen zum „business as usual" zurückkehren, wenn der demokratische Protest in ihrem Lande erst einmal erstickt und aus dem Leichentuch ein Mantel des Vergessens geworden ist. Zu diesem Zorn gehört auch Zorn über uns selbst, daß wir in dieser gemeinsamen Welt dem Wüten des Terrors nicht Einhalt zu gebieten vermögen.
Wir haben auch Grund zur Befürchtung: Das Blutbad in Peking und der jetzt begonnene Terror gegen das eigene Volk müssen als Beweis dafür verstanden werden, daß die Unterstützung des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha durch die chinesische Führung nicht nur ein diplomatisches Manöver, sondern Ausdruck einer gleichen brutalen Menschenverachtung war.
Die Unterdrückung von Menschenrechten in Tibet durch die chinesische Besatzungsmacht kann von niemandem länger als eine innerchinesische Angelegenheit abgetan werden.
Die chinesische Führungsclique, die nicht nur über die militärische Kommandogewalt über eine riesige Armee verfügt, sondern auch über Nuklearwaffen, ist eine Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Deshalb ist spätestens jetzt auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgefordert, die Regierung der Volksrepublik China auf die Anklagebank zu setzen.
Wir haben den Appell des Bundeskanzlers vom 16. Juni 1989 an den amtierenden Ministerpräsidenten der Volksrepublik China unterstützt, in dem um Gnade für die in Shanghai zum Tode verurteilten chinesischen Bürger gebeten worden ist. Die chinesische Regierung hat sie durch Genickschuß ermorden lassen. Wo unsere Bitte um Gnade nicht gehört wird, darf nun nicht länger mit wirtschaftlicher Unterstützung aus der Bundesrepublik kalkuliert werden.
Ich wiederhole deshalb aus der Bundestagssitzung vom 15. Juni 1989 die Forderung unseres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden an die Bundesregierung, folgende weitere Maßnahmen zu prüfen und den Auswärtigen Ausschuß über das Ergebnis dieser Prüfung — ich füge hinzu: über die getroffenen Maßnahmen — zu berichten: 1. den deutschen Botschafter bis auf weiteres zur Berichterstattung nach Bonn zurückzurufen; 2. keine neuen Ausfuhrbürgschaften und Hermes-Kredite zu bewilligen; 3. die technologische Zusammenarbeit einzustellen; 4. eine Debatte über die Vorgänge in China im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu beantragen.
Für uns alle hier ist klar: Wenn wir auf die Entwicklung in China Einfluß nehmen können, stehen wir der Bundesregierung für Beratung und Beschlußfassung auch in der Sommerpause zur Verfügung.
Unser Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel hat für die SPD Ende Mai die Machthaber in Peking davor gewarnt, mit Gewalt gegen die Anhänger der demokratischen Reformbewegung vorzugehen. Nach dem Massaker auf dem TiananmenPlatz hat er ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik zu umfassenden wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber der Volksrepublik China gezwungen sein könnte.Die brutalen Zwangsmaßnahmen der amtierenden chinesischen Regierung gegen ihr Volk bringen jetzt auch unsere Regierung in Zugzwang. Der Bundestag kann moralisch verurteilen; die Bundesregierung muß politisch handeln.
Die SPD-Bundestagsfraktion verurteilt zusammen mit allen Fraktionen des Bundestags die Todesurteile — nein: Mordbefehle, denn dort werden keine Urteile in einem rechtsstaatlichen Verfahren gesprochen —,
die die chinesische Regierung gegen Arbeiter und Studenten verhängt und jetzt auch exekutiert. Wir wissen, daß diese öffentlichen und abscheulichen Gerichtsinszenierungen und Erschießungen nur die
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GanselSpitze eines Eisbergs sind. Wir leiden auch mit den Namen- und Gesichtslosen, deren Leiden uns nicht am Fernsehschirm vorgeführt wird. Wir kennen sie nicht, aber wir werden sie nicht vergessen. Wir kennen einige der Verantwortlichen in Peking und in Shanghai, und wir werden sie nicht vergessen.Das chinesische Volk soll wissen, daß wir denen, die ihre Hände in Blut baden, nie die Hand reichen werden.
Interfraktionelle Beschlüsse des Bundestages sind selten und haben großes Gewicht. Bedeutung erhalten sie dadurch, wie sie bekanntgemacht und umgesetzt werden. Ich bitte deshalb das Präsidium des Bundestages, dafür Sorge zu tragen, daß die Beschlüsse und Beiträge dieser Debatte dem chinesischen Volk wie der amtierenden chinesischen Regierung übermittelt werden. Das kann unser Botschafter in Peking vor seiner Rückkehr in die Bundesrepublik tun. Und das muß vor allem durch die Sendungen der Deutschen Welle geschehen, die intensiviert werden sollen, damit das chinesische Volk erfährt, daß wir sein Leiden und seine Sehnsucht nach mehr Freiheit kennen und daß wir sie auch teilen.
Wir Sozialdemokraten — und wir alle im Deutschen Bundestag — hoffen auf ein freies China, auf Menschenrechte für mehr als 1 Milliarde Chinesen. Diese Freiheit und diese Rechte wollen wir nicht als Begleitumstände wirtschaftlicher Reformen und wirtschaftlicher Öffnungen nach Westen. Wir sind für Freiheit und Menschenrechte um ihrer selbst willen, um der Menschen willen.
Daß das große chinesische Volk diesen Willen demonstriert hat, bleibt unsere Hoffnung. Es wird nicht 30 Jahre dauern wie in Ungarn, daß sich diese Hoffnung erfüllt. Die Führungsclique, die jetzt in China die Bewegung für Demokratie niederzuschlagen versucht, wird sich weniger als drei Jahre an der Macht halten können.Helfen wir nach unseren Kräften, dazu beizutragen, daß die Dauer dieses Schreckensregimes verkürzt werden kann!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feldmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich zum zweitenmal innerhalb einer Woche mit den Ereignissen in China. Dies ist leider auch bitter nötig. Das Regime in China hat unsere dringenden Appelle zu Humanität und Menschlichkeit, zur Wiederaufnahme des Dialogs mit der eigenen Bevölkerung ignoriert. Statt dessen wurden Todesurteile, Willkürurteile, kaltblütig und brutal vollstreckt. Dieses Regime will offensichtlich durch Terror abschrecken und unterdrücken. Dies ist ein Rückfall in brutale Barbarei. Für eine Partei und für Parteiführer, die ihr Volk von Willkürherrschaft befreien wollten, ist dies ein trauriges Armutszeugnis. Eine Regierung, die die eigene Bevölkerung morden läßt, zuerst durch das Militär und jetzt durch die Justiz, ist politisch und moralisch am Ende.
Eine Justiz, die nach eigenen Aussagen mit Unruhestiftern kurzen Prozeß machen will, ist keine unabhängige Rechtsinstanz, sondern ein willkürliches Instrument des mörderischen Terrors. Diese Justiz versucht aus Terror Recht zu machen. Sie verdreht die Wahrheit, um friedliche Demonstrationen in einen konterrevolutionären Aufstand umzulügen. Wir werden nicht zulassen, daß jetzt die Wahrheit verfälscht, Lügen verbreitet und die Geschichte umgeschrieben wird. Damit kann das Regime weder die eigene Bevölkerung noch uns überzeugen. Dieses Regime hat vor aller Welt das Gesicht verloren.Wir stehen an der Seite des reformwilligen Chinas. Mit diesem augenblicklichen Terrorregime kann es keine normalen Beziehungen geben, und es gibt sie auch bereits heute nicht mehr. Die chinesische Führung spricht davon, daß Todesurteile und öffentliche Hinrichtungen zur chinesischen Normalität gehören. Wir haben Todesurteile immer verurteilt. Für Todesurteile und erst recht für politischen Mord und für Willkürurteile kann es keine Rechtfertigung geben.Wenn die von Amnesty International genannten Zahlen von fast 30 000 Hinrichtungen zwischen 1983 und 1987 auch nur annähernd stimmen, dann zeigt dies, daß wir in der Vergangenheit gegenüber China nicht klar genug auf die Einhaltung der elementarsten Menschenrechte gedrängt haben.
Menschenrechte gelten überall. Wo sie verletzt werden, müssen wir sie verteidigen. Der Beginn der wirtschaftlichen Reformen hat China Sympathie und auch Hilfsbereitschaft im Westen eingetragen. Wirtschaftliche Reformen sind aber kein Ersatz für Demokratie und die Geltung der Menschenrechte. China kann nicht die Vorteile der Zusammenarbeit mit der zivilisierten Welt für sich in Anspruch nehmen und gleichzeitig im Innern wie die Barbaren wüten. Chinas Führung will mit einem neuen Lippenbekenntnis zur Fortsetzung einer Politik der Öffnung und wirtschaftlicher Reformen zur außenpolitischen Normalität übergehen. Diese Rechnung darf nicht aufgehen —
nicht mit uns und nicht mit unserer Hilfe. Dieses Regime hat jeden Kredit verspielt und darf auch keinen neuen bekommen.
Wer nach außen lächelt, aber das eigene Volk terrorisiert und mordet, verdient kein Vertrauen und erst recht keine Unterstützung.Um auf eine Weltmacht wie China Einfluß zu nehmen, ist breite internationale Solidarität gefordert. Das Fundament hierzu gaben die Außenminister der Zwölf mit ihrem Beschluß in der vergangenen Woche. Wir begrüßen, daß die Vereinigten Staaten von Amerika den gleichen Kurs verfolgen. Wir begrüßen auch
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Dr. Feldmanndie Entscheidung der Weltbank, die bereits von China beantragten Kredite nicht freizugeben, und wir begrüßen weiter, daß auch Japan sein Entwicklungshilfeprogramm für China einstellt. Dies entspricht unserer Politik. Auch wir werden, wie bereits in der letzten Woche festgestellt, keine neuen Projekte in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China bewilligen, solange dieses Regime nicht wieder den Dialog und den Weg der Menschlichkeit sucht.Die erste Reaktion des Deutschen Bundestages am vergangenen Donnerstag war bewußt maßvoll, weil wir weiterhin versuchen wollten, Einfluß auszuüben und zu verhindern, daß die Todesurteile vollstreckt wurden. Die chinesische Führung hat alle bisherigen Mahnungen in den Wind geschlagen. Wir sind dennoch nicht ohne Hoffnung, daß unsere Appelle und die bereits beschlossenen und weitere Maßnahmen letztlich doch Wirkung zeigen werden. Das Verlangen eines Volkes nach Demokratie und Freiheit läßt sich weder unterdrücken noch erschießen. Unsere heutige Debatte ist ein Beitrag zur Ermutigung des reformwilligen chinesischen Volkes, ein Zeichen internationaler Solidarität. Diese Zeichen haben auch anderen Völkern in ähnlichen Situationen immer wieder Kraft zum Weitermachen gegeben. Ich hoffe, daß dieses Signal, das wir heute geben, auch beim chinesischen Volk ankommt und appelliere daher an alle Medien, die nach China strahlen, über diese Debatten und über die Beschlüsse als ein Signal der Verbundenheit mit dem chinesischen Volk zu berichten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kelly.
Liebe Kollegen und Kolleginnen! In China sind gestern Menschen der Demokratiebewegung, die zum Tode verurteilt worden waren, öffentlich hingerichtet worden, hingerichtet durch einen Genickschuß. Das chinesische Regierungssystem entlarvt sich mit der Verhängung und Vollstreckung der Todesurteile gegen Angehörige der chinesischen Demokratiebewegung vollends als zynisch-brutales Mörderregime. Ich habe es in der letzten Woche gesagt: 200 000 Menschen — so Deng Xiaoping — kann er für 20 Jahre Stabilität ruhig opfern. Welcher Zynismus! Die Studentenprozesse haben noch nicht einmal begonnen, und alle Hoffnungen auf Milde dieses Regimes der Menschenverächter sind kaputt.Die weltweiten Begnadigungsappelle, Appelle des US-Kongresses und des Bundestages haben die chinesischen Machthaber nicht davon abhalten können, alle Hoffnungen in einem Meer von Blut zu ertränken. Mehr Hinrichtungen werden folgen. Wir werden zuschauen müssen und stehen als Parlamentarier ohnmächtig da, mit Trauer und Zorn, beim Versuch, unabdingbare Menschenrechte in China einzuklagen und ein brutales Regime zu entlarven.Wir stehen aber auch ohnmächtig da, weil unser gemeinsamer Antrag — gerade zu Norbert Gansel möchte ich es sagen — nur appelliert, aber keine konkreten wirtschaftlichen Sanktionen fordert und auch keine Delegation von Amnesty International beschlossen hat.
Wir wissen, daß Solidarität mit den unterdrückten und entrechteten Menschen ein Wort ist, das auch die brutalsten Diktaturen niemals ganz auslöschen konnten. Aber wie sollen wir anfangen, Solidarität zu üben, Solidarität, die gehört und gespürt werden soll von denjenigen, die sie so dringend brauchen, wenn wir weiterhin nur moralisch appellieren?
Ist es eine Illusion, zu glauben, daß eine weltweite moralische Verurteilung des chinesischen Regimes etwas verändern kann? Ja, ich denke, es ist eine Illusion, wenn weiterhin geduldet wird, daß z. B. Siemens weiterhin Geschäfte dort macht.Der chinesische Staatsanwalt und Sprecher des Regimes erklärten gestern abend, sie werden keine Einmischung in innere Angelegenheiten ihres Landes dulden. Wie oft haben wir das gehört, und wie oft mußten wir uns z. B. im Falle Tibets, auch von Herrn Genscher, sagen lassen, daß öffentliche Verurteilungen im Falle Chinas niemals weiterhelfen können! Doch was kann jetzt überhaupt noch weiterhelfen?Doch das Sich-bitte-nicht-einmischen hört man ja auch von westlichen Geschäftsleuten, von deutschen Geschäftsleuten.
Das macht um so mehr traurig und zornig. Die Wirtschaftsbeziehungen deutscher Industrieunternehmen mit China kehren trotz Schock und Entsetzen in das Gleis der Normalität zurück. Und was heißt Normalität? Fast alle engagierten Menschen in Peking waren an dem Prozeß der Demokratisierung in irgendeiner Weise beteiligt. Doch auf die schwarze Nacht folgt nun der weiße Terror. Nichts erinnert mehr an die bunte Zeltstadt. Nun herrscht Totenstille; Militärposten sichern den Platz des Himmlischen Friedens weiterhin mit Maschinengewehren; Zäune aus Stacheldrahtrollen ziehen sich durch ganz China. Menschen werden liquidiert, verhaftet oder bleiben verschwunden. Nachfragen ist tödlich; die Verfolgungsmaschinerie arbeitet mit gnadenloser Perfektion. Die Definition der Schuldigen ist so breit angelegt, daß fast jeder in China Angst haben muß: Angst vor Nachbarn, Angst vor Kollegen, Angst vor Kontakten mit Ausländern. Das Kriegsrecht in Tibet ist soeben verschärft worden.Chinesische Studenten im Ausland werden massiv eingeschüchtert und, wie ich gehört habe, auch hier bei uns in der Bundesrepublik durch Telefonanrufe.Deutsche Unternehmen haben in dieser Situation ihre zeitweilig abgezogenen Mitarbeiter nach China zurückgeschickt. Wenn die geknüpften Wirtschaftsfäden und die Joint-Venture-Vereinbarungen nicht jetzt abgebrochen werden, wann denn eigentlich?
Genau dies müssen wir aber über den Antrag hinaus fordern. Es ist unglaublich, mit welcher Kaltschnäuzigkeit gegenüber diesen Tatsachen die deut-
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Frau Kellysche Wirtschaft nichts anderes im Sinn hat, als so schnell wie möglich zum profitträchtigen Geschäft mit den bluttriefenden Mördern zurückzukehren.Ebenso bedrückend ist für mich die Nachricht, daß sich die UNO-Botschafter der USA und der Sowjetunion gegen die Einberufung einer Sitzung des Weltsicherheitsrats über die Lage in China ausgesprochen haben. Überraschend ist auch die Unwissenheit derjenigen Medien bei uns, die sich heute mit Recht über die Brutalität in China entrüstet zeigen, aber allzu lange über Vorgänge in bezug auf Minderheiten anderswo in China und auch über Vorgänge in Tibet lange geschwiegen hatten.Ich komme zum Schluß. Über diesen gemeinsamen Antrag hinaus möchte ich im Namen der Fraktion DIE GRÜNEN — ich hoffe, auch anderer Kollegen in diesem Haus — zu einem internationalen unabhängigen China-Tribunal im Geiste der Bertrand-Russell-Tribunale auffordern. Auch Herr Wickert hat dies gestern gefordert. Ich denke, dazu sollte man hier ebenfalls Stellung beziehen.
Ich möchte auch die EG-Minister auffordern, sich sehr wohl in die Angelegenheiten der Menschenrechte in China konkret einzumischen, und zwar mit klaren Aussagen. Es kann kein Einmischungsverbot geben, wenn es um die Einhaltung der Menschenrechte geht.
Zuletzt: Ich glaube, es wäre angebracht, wenn der Deutsche Bundestag am Ende dieser Debatte eine Schweigeminute für die Opfer in China einräumen würde.Danke.
Das Wort hat Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsministerin im Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Abscheu, Verbitterung und tiefer Trauer haben wir erfahren, daß die chinesische Führung die Proteste aus aller Welt und einen dringenden Appell des Bundeskanzlers an den chinesischen Ministerpräsidenten ignoriert hat. Wir verurteilen die Brutalität, die in den ausgesprochenen Todesurteilen an chinesischen Bürgern und in ihrer Vollstreckung zum Ausdruck gekommen ist, aufs schärfste.Aber wir müssen damit rechnen, daß die Unterdrükkung Andersdenkender, daß die blutige Repression weitergehen wird. Weitere Todesurteile können jederzeit folgen, und deshalb dürfen wir nicht schweigen.Wir empfinden tiefe Sorge um die weitere Entwicklung in der Volksrepublik China. Das Vertrauen, das in den letzten Jahren zwischen der chinesischen Regierung und der westlichen Welt geknüpft worden ist, ist zerstört.Wir wiederholen unseren dringenden Appell, nicht eine Politik der Repression und Abschreckung, sondern der Versöhnung mit den gesellschaftlichen Kräften zu verfolgen.Was dort abläuft, summarische Verfahren, politische Prozesse und Verhängung von Todesurteilen wegen der Äußerung individueller Meinungen, all dies widerspricht den elementaren Menschenrechten. All das muß zu einem schweren Ansehensverlust der Volksrepublik China in der Welt führen und hat schon dazu geführt.Wenn wir uns überlegen, was wir tun können, um über Appelle hinaus die Entwicklung in China zu beeinflussen, dürfen wir, denke ich, nicht übersehen, daß gerade in dem Kulturkreis, zu dem China gehört und der von China maßgeblich mitbestimmt wird, Isolation eine besonders scharfe Form der Antwort auf Schwierigkeiten ist und daß Anerkennung, Gesicht, etwas besonders Erstrebenswertes ist, was auch ein Staat für sich selber braucht.Aber diese Entwicklung, die dort jetzt abläuft, nämlich die Unterdrückung mit Hilfe der Armee, kann und konnte von uns nicht hingenommen werden.Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland wie auch der anderen EG-Staaten zu China sind praktisch eingefroren. Es gibt keine Regierungskontakte auf hoher Ebene, und dies wird auf absehbare Zeit so bleiben.Die Entwicklungshilfe ist praktisch eingestellt. Entwicklungshelfer sind aus China ausgereist; neue Entwicklungshilfeabkommen werden nicht unterschrieben. Hermes-Kredite werden nicht ausgesprochen. Es muß allerdings dazu gesagt werden, daß derzeit auch keine beantragt sind.Die Aufforderung des chinesischen Vizeregierungschefs an die Weltbank, die Kreditverhandlungen, die unterbrochen waren, wieder aufzunehmen, kann nicht unbeantwortet bleiben. Ich gehe davon aus, daß es mit deutscher Unterstützung keine Wiederaufnahme von Kreditverhandlungen mit der Weltbank geben wird.
Wenn der chinesische Vizeregierungschef zur Begründung dazu sagt — ich zitiere —: „Die Situation in China ist nun stabil" , dann können wir nur sagen: Eine solche Stabilität, die auf der Unterdrückung der Bevölkerung durch die eigene Armee beruht, ist zynisch. Eine Ruhe, die so wiederhergestellt wird, ist eine Grabesruhe. Alles dieses entspricht nicht dem, was wir als Grundlage für normale Beziehungen brauchen.Bundesaußenminister Genscher hat bei seinem gestrigen Besuch in den Vereinigten Staaten diese Fragen auch mit der amerikanischen Regierung erörtert. Die Haltung der Vereinigten Staaten in all diesen Fragen entspricht der unsrigen.Die Einschätzung der möglichen weiteren Entwicklung in China ist derzeit unzureichend. Wir müssen die Entwicklung der Situation aufmerksam beobachten und bewerten. Wir werden dies auch mit unseren Partnern auf dem Europäischen Rat in Madrid Anfang
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11468 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Staatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzernächster Woche tun. Weitere Maßnahmen können nicht ausgeschlossen werden.
Meine Damen und Herren, es genügt nicht zu erklären, man wolle die Reform- und Öffnungspolitik fortsetzen, und es genügt eben auch nicht, diese Politik auf eine bloße Modernisierung der Wirtschaft zu reduzieren. Ohne politische Öffnung, ohne Reformen, ohne Menschenrechte kann es keine wirkliche Reform geben. Dies war nach unserem Verständnis der Wille der Demonstranten in Peking und in anderen Städten Chinas. Deshalb appellieren wir an die Führung der Volksrepublik China: Setzen Sie der Unterdrückung ein Ende! Begnadigen Sie die zum Tode Verurteilten! Nehmen Sie den politischen Dialog mit den Andersdenkenden wieder auf! Wir werden, soweit es in unseren Kräften steht, unseren Beitrag dazu leisten.Ich danke Ihnen.
Der Abgeordnete Kleinert hat darum gebeten, eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgeben zu können. Ich erteile dem Abgeordneten das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde diesem Antrag meine Zustimmung geben, obwohl ich diesen Antrag, der interfraktionell vereinbart worden ist, in wesentlichen Bereichen für unzureichend halte.
Ich werde diesem Antrag meine Zustimmung geben, obwohl ich der Meinung bin, daß in ihm ganz wesentliche Forderungen nicht enthalten sind,
die wir hier heute dringend erheben müßten und die wir hier heute auch erheben könnten, wenn wir wollten.
Ich werde ihm deshalb zustimmen, weil ein gemeinsamer Antrag des ganzen Bundestages wesentlich mehr Chancen hat.
Druck auf jene Machthaber auszuüben, die für diese schrecklichen Massaker eines chinesischen Staatsterrors die Verantwortung tragen, mehr Chancen jedenfalls als ein Papier der GRÜNEN allein. Ich will hier aber auch deutlich machen, daß in diesem Papier ganz elementare Dinge fehlen, daß nicht einmal die Forderung aufgenommen ist, eine Amnesty-Delegation nach China einreisen zu lassen, daß die Aufforderung an die Bundesregierung fehlt, die chinesischen Vorgänge im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Sprache zu bringen, und daß das Wichtigste fehlt,
nämlich die Forderung nach einem sofortigen Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu China.
Es kann doch wohl nicht sein, daß von der Bundesrepublik aus die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dieser gerontokratischen Machtclique fortgesetzt werden soll, als wäre nichts geschehen. Es kann doch wohl nicht sein, daß eine Zusammenarbeit mit dieser Clique fortgesetzt werden soll, während sie mit menschenverachtender Brutalität nach dem Gemetzel an der Demokratiebewegung nun zu brutalen Rachefeldzügen übergegangen ist. Es darf nicht sein, daß Interessen bundesdeutscher Firmen am Ende höher bewertet werden als das Eintreten für elementare Menschenrechte.
Ich denke, daß es hier und heute eigentlich hätte möglich sein müssen, dieses wenigstens im Angesicht dessen, was sich dort in Peking in diesen Tagen vollzieht, von allen Seiten dieses Hauses gemeinsam zum Ausdruck zu bringen.
Danke schön.
Ich erteile dem Abgeordneten Schily nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Ich werde der gemeinsamen Entschließung ebenfalls zustimmen, aber auch ich habe die Vorbehalte, die mein Kollege Kleinert soeben sehr eindrucksvoll, wie ich glaube, vorgetragen hat.
Ich habe während der Debatte beobachtet, daß viele, und zwar aus allen Fraktionen, Beifall zu der Feststellung geäußert haben, daß Menschenrechte den Vorrang vor Joint-ventures und ähnlichen wirtschaftlichen Beziehungen haben, daß wir es nicht hinnehmen können, was jetzt in China als Brutalität und Terror ausgeübt wird, und daß wir das auch zum Ausdruck bringen müssen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn einmal in einer solchen ernsten Stunde, wie wir sie heute hier im Bundestag haben, auch die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen die Möglichkeit wahrnähmen, wenigstens für sich persönlich diese Haltung hier zu dokumentieren. Wenn das schon in anderen Fraktionen nicht möglich war — wir als Fraktion DIE GRÜNEN hätten diese Haltung, die mein Kollege Kleinert soeben vorgetragen hat, als gemeinsame Entschließung selbstverständlich mitgetragen — , dann würde ich es sehr begrüßen, wenn sich wenigstens einzelne Kollegen hier an das Pult stellten und ihre persönliche Auffassung dazu vortrügen.
Danke schön.
Das Wort nach § 31 unserer Geschäftsordnung erteile ich Frau Dr. Hamm-Brücher.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mich gemeldet, bevor Sie, Herr Schily, an uns appelliert haben, weil ich mich seit gestern darum bemühe, zumindest die Forderung, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit dieser Sache befaßt werden muß, in die Entschließung hineinzubekommen. Ich habe es sehr bedauert, daß dies nicht gelungen ist. Wir sind ein freies Parlament. Was die Regierung mit unseren Entschließungen nachher macht, das ist Sache der Regierung.
Aber wenn wir wissen, womit der Sicherheitsrat alles befaßt wird,
dann muß ich sagen: Wenn er in dieser grausamen Sache nicht befaßt wird, dann hat er eigentlich abgedankt.
Deshalb erkläre ich jetzt hier ganz nachdrücklich, daß ich der Meinung bin, daß wir das tun sollten. Das kann man unter Umständen sogar noch nachschieben. Ich glaube, das sind wir nach allem, was hier gesagt worden ist, uns selbst schuldig.
Vielen Dank.
Das Wort nach § 31, d. h. zur Abstimmung, hat der Abgeordnete Voigt .
Ich stimme ebenso wie andere Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion diesem Antrag zu, weil mehr gemeinsam zwischen den Fraktionen nicht zu vereinbaren war. Aber ich bedauere ebenfalls — wie es bereits einige Vorredner getan haben und wie es übrigens auch aus dem Redebeitrag von Norbert Gansel ersichtlich geworden ist — , daß nicht mehr und nicht schärfere Formulierungen und deutlichere Sanktionen im Antrag enthalten sind.
Nachdem wir in den letzten Wochen eine Reihe von gemeinsamen Entschließungen haben fassen können, was ich sehr begrüße, und heute morgen auch einen positiven Antrag zur Demokratisierung in Ungarn gemeinsam verabschiedet haben, bedauere ich, daß nicht nur in diesem Fall, sondern auch in anderen Fällen in den letzten Wochen und Monaten Versuche des Auswärtigen Amtes, über Kontakte zu Fraktionen schärfere Formulierungen zu verhindern, zu blockieren oder auf jeden Fall zu vermeiden, zumindest zum Teil Erfolg gehabt haben.
Ich stimme der Kollegin Hamm-Brücher nachdrücklich darin zu, daß in dieser Entschließung nicht nur die Formulierungen hätten enthalten sein sollen, die jetzt darin enthalten sind. Aber ich möchte hinzufügen: Auch schon die Formulierungen, die darin enthalten sind, sind zum Teil auf Oberbedenkenträger gestoßen, und einige waren für wesentlich sanftere Formulierungen und für wesentlich vagere Formulierungen. Daß schärfere Formulierungen nicht enthalten sind, hängt auch damit zusammen, liebe Kollegin Frau Hamm-Brücher, daß nicht zuletzt auch in Ihrer Fraktion die Ausflüsse des Auswärtigen Amtes nicht zu übersehen sind,
soweit es um die Formulierung von Fraktionspositionen geht.
Ich bejahe also nachdrücklich, daß wir diesem Antrag zustimmen. Ich bedauere, daß nicht mehr möglich ist. Ich begrüße, daß einzelne Kollegen jetzt sagen, es solle mehr möglich sein.
Wir alle sind uns in der Schärfe der Verurteilung einig. Wir sollten während der Sommerpause zusätzliche Sanktionen überprüfen. Mein Appell noch mal ans Auswärtige Amt, jede Gelegenheit zu nutzen, auch während der Sommerpause den Auswärtigen Ausschuß zu informieren. Wir sind bereit, uns nicht nur informieren zu lassen, sondern auch neue und zusätzliche Maßnahmen mit Ihnen gemeinsam zu erörtern und zu beschließen.
Vielen Dank.
Das Wort nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Vogel .
— Das ist ohnehin zur Geschäftsordnung. Wenn Sie darüber hinaus zur Abstimmung sprechen wollen, werde ich keine Einwendungen dagegen erheben, Herr Vogel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe vorhin gehört, daß nach den drei Hinrichtungen, über die wir in diesem Antrag sprechen, heute morgen in Peking sechs weitere Hinrichtungen stattgefunden haben. Allein das sollte uns veranlassen, eine erneute interfraktionelle Überlegung anzustellen. Wir müssen nicht jetzt über diesen Antrag entscheiden. Wir können das auch morgen früh tun. Wir sollten die Zwischenzeit nutzen, zwischen den Fraktionen zu einer Anreicherung dieses Entschließungsentwurfs zu kommen.
Wir sollten das in dem Bemühen tun, Wichtigeres, als hier ausgesagt ist, noch hineinzubringen.
Wir sollten es allerdings auch in dem Bemühen tun, uns dabei gegenseitig nicht zu überfordern. Ich glaube, dann können wir morgen zu einer guten Beschlußfassung kommen.
Herr Abgeordneter Lowack, halten Sie vor diesem Hintergrund Ihre Wortmeldung aufrecht?
— Danke schön.
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11470 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Vizepräsident CronenbergDann frage ich formal: Ergeben sich Einwendungen dagegen, daß ich entgegen unserer Geschäftsordnung über die Drucksache 11/4857 abstimmen lasse? — Einwendungen ergeben sich nicht.Meine Damen und Herren, ich möchte im Sinne der Worte der Präsidentin zu diesem Thema heute morgen der Anregung aus dem Hause nachkommen und eine Gedenkminute für die Terroropfer einlegen. Ich bitte Sie, sich in diesem Sinne von den Plätzen zu erheben.
Ich danke Ihnen, daß Sie sich zu Ehren der Opfer von den Plätzen erhoben haben.Wir werden, wenn das Ergebnis der neuen interfraktionellen Gespräche vorliegt, dieses zur Abstimmung stellen.Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, darf ich Ihnen das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats des Deutschlandfunks bekanntgeben. Abgegebene Stimmausweise — die waren verständlicherweise gültig — : 404, Enthaltungen, d. h. ohne jedes Kreuz abgegeben: 4. Ungültige Stimmen gab es keine. Von den gültigen Stimmen entfielen auf den Abgeordneten Dr. Czaja 235 Stimmen, auf den Abgeordneten Graf Huyn 232, auf den Abgeordneten Reddemann 294 Stimmen, auf den Abgeordneten Dr. Nöbel 331 Stimmen, auf den Abgeordneten Dr. Schmude 324 Stimmen, auf die Abgeordnete Frau Schoppe 83 Stimmen und auf den Abgeordneten Mischnick 343 Stimmen. Damit sind die Abgeordneten Dr. Czaja, Graf Huyn, Reddemann, Dr. Nöbel, Dr. Schmude und Mischnick gewählt.*)Protokoll über das Ergebnis der Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats der Deutschen Welle. Hier sind ebenfalls 404 Stimmausweise abgegeben worden. Enthaltungen, d. h. ohne ein Kreuz abgegeben: 21. Von den gültigen Stimmen entfielen auf Dr. Hupka 236, auf Verheugen 302 und Frau Schoppe 85 Stimmen. Damit sind der Abgeordnete Verheugen sowie Dr. Hupka als Mitglieder des Rundfunkrats der Deutschen Welle gewählt.*)Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf:Aktuelle StundeSie ist von der Fraktion der GRÜNEN gemäß unserer Geschäftsordnung beantragt worden. Thema dieser Aktuellen Stunde ist:Die Zwangsumsiedlung der irakischen Kurden und die Notwendigkeit bundesdeutscher HilfeIch eröffne die Aussprache.Ich glaube, ich muß das Haus über die Redezeiten informieren, damit keine Mißverständnisse auftreten. Es ist in Abänderung der Geschäftsordnung für diese, jetzt sage ich einmal: außerordentliche Aktuelle Stunde, vereinbart worden, daß die Fraktion DIE GRÜNEN ihren Zeitanteil in einem Vortrag, d. h sieben Minuten, einsetzen kann. Die übrigen Fraktionen') Verzeichnis der Wahlteilnehmer Anlage 3haben sich mit Rücksicht auf die schwierige Zeitlage in ihren Redezeiten außerordentlich beschränkt.Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, darauf aufmerksam zu machen, daß wir auch heute nacht sehr lange tagen werden und daß die Bediensteten des Hauses mehr als überbeansprucht sind. Denjenigen, die bereit waren, auf ihre Redezeiten im Zusammenhang mit dieser Aktuellen Stunde zu verzichten, möchte ich im Namen der Verwaltung des Hauses ausdrücklich meinen herzlichen Dank übermitteln.Frau Abgeordnete Beer, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Montag dieser Woche hat die irakische Regierung durch eine Zeitung zum erstenmal bestätigen lassen, daß sie in ihrem Land ein Programm der Umsiedlung der kurdischen Bevölkerung aus ihrer im Norden gelegenen Heimat in südliche Landesteile betreibt. Schon vorher hatte die in Frankfurt ansässige Hilfsorganisation „Medico international" davon berichtet und Details bekanntgegeben. Es sind schätzungsweise 200 000 irakische Kurden betroffen, vielleicht eine Viertelmillion. Mit einer Mischung aus materiellem Anreiz und direktem Zwang wird die Umsiedlung aus strategischen Gründen durchgeführt. Nicht selten werden die Dörfer entweder zerstört oder — wie nach dem C-Waffen-Angriff — unbewohnbar gemacht und verseucht; eine Rückkehr ist unmöglich.Die Kurden im Irak, im Iran und in der Türkei sind seit langem die machtpolitische Manövriermasse ihrer jeweiligen Regierungen: Jeweils hart unterdrückt, wurden sie lange als Druckmittel gegen die Nachbarregierungen mißbraucht. Auch im Golfkrieg wurden sie zu Bauern im machtpolitischen Schachspiel. In der Schlußphase und nach Ende des Krieges glaubte die irakische Regierung offensichtlich, das Problem des kurdischen Autonomiestrebens ein für allemal lösen und zugleich eine Strafexpedition gegen Zivilisten durchführen zu können: Wenn die Weltöffentlichkeit den Einsatz von Giftgas an der Front zum Iran schon schweigend toleriert hatte, warum dann nicht mit aller Macht gegen die kurdische Minderheit vorgehen?Bei den Massenvertreibungen der letzten Zeit dürfen wir nicht vergessen, daß die irakischen Kurden nicht erst seit kurzem das Ziel brutalster und barbarischer Angriffe sind. Beispielsweise wurden im letzten Sommer Tausende von ihnen mit Giftgas umgebracht. Wer sich retten konnte, floh über die Grenze in die Türkei und in den Iran. In der Türkei leben heute etwa 36 000 irakisch-kurdische Flüchtlinge unter teilweise wirklich unerträglichen Bedingungen.Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, mit den Menschen dort zu sprechen. Sie werden wie Quasi-Gefangene gehalten, von Stacheldraht umgeben und von Soldaten der türkischen Armee bewacht. Im Zeltlager südlich von Mardin sind die Lebensbedingungen völlig katastrophal und menschenunwürdig. Jeden Moment kann es zum Ausbruch offener Seuchen kommen.Es liegt außerdem seit letzter Woche die Information vor, daß bis zu 5 000 Menschen in Mardin durch mit
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Frau BeerThallium vergiftetes Brot erkrankt sind; mehrere hundert sind auch heute noch in sehr kritischem Zustand. Der verantwortliche Großbäcker hat jetzt gestanden. Eine medizinische Versorgung im dortigen Lager ist jedoch kaum gewährleistet.Dieses Leiden, meine Damen und Herren, ist kein Zufall. Es enthält neben dem humanitären Aspekt auch einen politischen Skandal: die grenzübergreifende Kriegsführung und Repression gegen das Volk der Kurden auf beiden Seiten der türkisch-irakischen Grenze, um jede Form von Autonomie oder Selbstbestimmung der Kurden zu verhindern.Vergessen wir nicht, daß diese Kurden heute in einem Lager gefangengehalten werden und um ihr Leben bangen, das in dem ehemaligen Kurdistan liegt, das heute von offizieller Seite nicht als existent oder ehemals existent anerkannt wird.Es stellt sich die Frage nach Möglichkeiten der Bundesrepublik, hier eine politisch und humanitär konstruktive Rolle zu übernehmen. Ich möchte die besondere Verantwortung der Bundesrepublik nur am Rande erwähnen; denn wir werden morgen über die Strafverfolgung der beteiligten deutschen Firmen debattieren, die den C-Waffen-Angriff gegen diese Kurden ermöglicht haben.Zuerst einmal ist die Bundesregierung aufgefordert, den Irak unmißverständlich zum Abbruch und der Rückgängigmachung der Zwangsvertreibung aufzufordern. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion hat die Bundesregierung vor kurzem allgemeine Besorgnis geäußert. Heute ist es nun tatsächlich allerhöchste Zeit, offensiv an die irakische Regierung heranzutreten und die Einhaltung elementarer Menschenrechte anzumahnen.Zweitens sollte die Bundesregierung ernsthafte Bemühungen unternehmen, den in die Türkei geflohenen Kurden humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Den Menschen in den Lagern mangelt es an Nahrung, Trinkwasser und allem anderen, was man zum Leben braucht. Eine humanitäre Hilfe der Bundesrepublik sollte hier zwei Bedingungen erfüllen: Erstens soll sie sehr schnell erfolgen, sofort, und zweitens muß sie direkt an die Betroffenen — über deren Selbsthilfeorganisationen — gehen, denn ansonsten ist ein Versikkern nicht zu verhindern.Drittens sollte die Bundesregierung bei der türkischen Regierung nachdrücklich dafür eintreten, den irakischen Kurden den Status von Flüchtlingen einzuräumen. Sie sind jetzt als vorübergehende „Gäste" dort, und kein Mensch kann gewährleisten, was mit ihnen passiert. Nur die Anerkennung als politische Flüchtlinge ermöglicht, daß die Lager unter Aufsicht des UNO-Hochkommissariats gestellt werden können.Viertens. Es wäre auch gerade eine selbstverständliche humanitäre Pflicht eines so wohlhabenden Landes wie der Bundesrepublik, den Flüchtlingen in möglichst großem Ausmaß Asyl zu gewähren. Wir wissen, daß die irakisch-kurdischen Flüchtlinge in den Lagern dies nicht nur wollen, sondern auf Dauer kaum eine andere Überlebenschance haben.Schließlich wäre die Bundesregierung gut beraten, eine politische Initiative vorzubereiten, die auf eine politische Lösung der Diskriminierung und Unterdrückung der Kurden insgesamt zielt. Solange den Kurden im Irak, im Iran und in der Türkei die elementarsten Bürger- und Menschenrechte vorenthalten und eine selbstbestimmte Lebensweise nicht zugestanden wird, so lange wird es immer wieder zu Massakern und anderen Verbrechen an ihnen kommen, zu Verbrechen, wie es die Zwangsumsiedlung irakischer Kurden im nördlichen Irak in den Süden auch heute darstellt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Vogel .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Frau Kollegin Beer sind mehrere Themen angesprochen worden, Themen, zu denen wir auch unterschiedlich Stellung nehmen müssen. Sie haben auf Berichte über Zwangsumsiedlungen innerhalb des Iraks hingewiesen. Ich bin der Auffassung, daß hier etwas vorliegt, worüber wir noch zuwenig Informationen haben, worum wir uns aber kümmern müssen. Ich nehme an, daß eine Reihe von Kollegen Gelegenheit gehabt haben, mit dem Kurdenführer Barachni, der kürzlich in Bonn war, zu sprechen. Wir haben dessen Information über die Situation gehört. Ich bin der Auffassung, wir müssen uns darum kümmern.Ich glaube, völlig anders müssen wir uns gegenüber der diskutierten Situation der irakischen Flüchtlinge in der Türkei einlassen. Ich will jetzt nicht auf die völkerrechtliche Situation dieser Flüchtlinge eingehen. Wir alle wissen, daß das Rotkreuz-Abkommen von der Türkei mit einem regionalen Vorbehalt ratifiziert worden ist. Die augenblickliche Situation in der Türkei ist Ausfluß der völkerrechtlichen Lage in diesem Gebiet. Einen völkerrechtlichen Vorwurf können wir insoweit gegenüber der Türkei nicht erheben.Aber eines ist völlig richtig: daß die Anwesenheit von 36 000 irakischen Flüchtlingen in der Türkei ein humanitäres Problem ersten Ranges ist. Ich möchte hier auch einmal sagen: Die Türkei hat mit der Aufnahme dieser Flüchtlinge eine große Last auf sich genommen, sie hat große Leistungen auch bei der Betreuung dieser Flüchtlinge erbracht. Dafür gebührt ihr Dank, nicht Tadel.
Wir wissen, daß die Türkei gleichzeitig das Problem von Zwangsumgesiedelten aus Bulgarien in die Türkei hat. Ich will das jetzt nur erwähnen.Wir haben gestern im Unterausschuß für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe über die Situation gesprochen. Wir haben dort Berichte sowohl vom Auswärtigen Amt über das, was die Deutsche Botschaft berichtet hat, als auch vom deutschen Roten Kreuz bekommen. Diese Berichte waren so, daß wir Vorwürfe nicht erheben können. Ich kann es wegen der Kürze der Zeit nicht näher ausführen. Das gilt insbesondere auch für die Behauptung, daß dort mit vergiftetem Brot gearbeitet worden sei. Dafür gibt es jeden-
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Vogel
falls nach dem Bericht des Roten Kreuzes keinen wirklich greifbaren Anhalt. Ich bin sehr erstaunt, daß Sie heute berichten, der Großbäcker habe gestanden, vergiftetes Brot dort verabreicht zu haben. Das ist neu. Wir werden dem auch nachgehen, wie wir dem nachgegangen sind, was Sie gestern vorgetragen haben.Ein letzter Punkt. Es wird über die Notwendigkeit der Aufnahme von kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak in der Bundesrepublik Deutschland diskutiert, und in dem Zusammenhang spielt der § 22 des Ausländergesetzes eine Rolle. Die Liste umfaßt inzwischen nach der Mitteilung unserer Botschaft 4 000 Personen, und was immerhin unser Interesse verdienen sollte, ist, daß alle bislang vorliegenden Namenslisten auf dieselben drei Kontaktpersonen zurückgehen. Ich glaube, daß wir uns sehr viel sorgfältiger mit dieser Frage auseinandersetzen müssen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bindig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erneut müssen wir uns heute mit dem Leiden, mit der Unterdrückung, der Verfolgung, der Vertreibung von Kurden beschäftigen. Knapp ein Jahr ist es her, daß wir hier über den Rachefeldzug gesprochen haben, den die Iraker gegen die irakischen Kurden durchgeführt haben. Am Montag haben wir bei einer ganztägigen Anhörung zur Menschenrechtssituation in der Türkei gehört, wie die mehr als acht Millionen Kurden in der Türkei drangsaliert, ihrer kulturellen Identität beraubt werden. Am Mittwoch in der Unterausschußsitzung haben wir uns über das harte Los der ca. 36 000 Kurden irakischer Staatszugehörigkeit unterhalten, die vor einem Jahr vor den bewaffneten Angriffen und den Giftgaseinsätzen aus dem Irak geflohen sind.
Über die wohl mehr als 100 000 Kurden irakischer Nation, die in den Iran geflüchtet sind, und die dort lebenden rund sechs Millionen Kurden iranischer Staatsangehörigkeit ist angesichts der schwierigen Lage im Iran wenig bekannt.
Heute geht es also wieder um Massenvertreibungen, Deportationen der Kurden im Irak. Erneut wird im Irak massiv gegen die Kurden vorgegangen: Es gibt Zwangsumsiedlungen, es gibt Plattwalzen der restlichen Dörfer, es gibt Internierung in Militärlager, Zerstörung des Siedlungsgebietes und Wiederansiedlung nach Verschleppung in Gebieten nahe der Grenze zu Kuwait und zu Saudi-Arabien.
Hinter den Zwangsumsiedlungen steckt offensichtlich die Absicht, die letzten intakten kurdischen Siedlungen im Grenzgebiet, deren Bewohner die Giftgasangriffe der irakischen Armee im September letzten Jahres unbeschadet überstanden hatten, auszuräumen. Statt der Kurden sollen dort Araber angesiedelt werden. Rund 250 000 Kurden sollen von dieser erneuten Verschleppungswelle betroffen sein. Im ganzen sollen bereits rund 500 000 in den letzten Jahren umgesiedelt sein, und 4 000 Dörfer sind entvölkert und zerstört worden.
Wir sind hier einmal wieder einig in der Empörung über dieses Geschehen. Allmählich ist es wohl für uns alle frustrierend, wie wenig Einflußmöglichkeiten wir auf die Ereignisse dort haben, wie wenig Einfluß wir zur Milderung des Leidensweges des kurdischen Volkes haben. Wir sind empört; auch die Bundesregierung bemüht sich sehr um eine EG-Koordination, damit dort interveniert wird. Es wird dort der Protest vorgetragen werden, und die irakische Regierung wird sich — fälschlich — gegen die angebliche Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten wehren.
Kann denn das wirklich im Jahre 1989 in der Welt alles gewesen sein, daß man nur diese knappen Instrumente des Protestes hat? Da werden Menschen seit Jahren drangsaliert, da wird ein Volk von 20 Millionen in verschiedenen Staaten so behandelt, und die Weltorganisation guckt immer mal drauf, wenn es ganz besonders schlimm ist. Die Staaten der Welt leuchten kurz wie mit einem Scheinwerfer darauf, dann wird die Not der Kurden in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gezogen, und dann versinkt das wieder aus der Aufmerksamkeit.
Wir brauchen dringend auf der Ebene der UN ein Instrument, um in solchen Fragen wirksamer eingreifen zu können.
Die kurdische Frage gehört in die europäischen Parlamente, gehört in das Europaparlament, in den Europarat, gehört in die UN. Dort muß man darüber nachdenken, ob man nicht ein zusätzliches Instrument zu den bestehenden schaffen kann, damit solchen Menschen geholfen werden kann.
Aber wir müssen natürlich auch fragen, ob auf dem geringen Sektor, auf dem wir etwas tun können, schon genug getan wird. Da leben 36 000 Kurden irakischer Nationalität in den Flüchtlingslagern in der Türkei. Gestern konnten wir erfahren: Die Bundesregierung hat 2 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Das Geld ist aufgebraucht. Es gibt im Moment keine Möglichkeit, mehr Geld zu mobilisieren. Wenn man das will, verfängt sich das Anliegen im Gestrüpp haushaltstechnischer Probleme mit Haushaltssperre und überplanmäßigen Ausgaben.
Ich glaube, daß wir für den schmalen Sektor, wo wir etwas tun könnten, doch noch einmal intensiv überlegen müßten. Ich bitte auch darum, Herr Staatsminister, daß Sie und auch der Außenminister sich einmal ganz persönlich um dieses Haushaltsgestrüpp kümmern, damit wir noch etwas mehr Geld zur Versorgung der irakischen Kurden, die in der Türkei leben, mobilisieren können. Denn gemeinsamer Protest über die Behandlung der Kurden ist gut; noch mehr wäre es, wenn es uns gelänge, direkt praktisch-humanitäre Hilfe über das Geschehene hinaus zu leisten.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Mahnung des
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Frau Dr. Hamm-BrücherHerrn Präsidenten aufnehmen und versuchen, mit meinem Beitrag nicht das zu wiederholen, was meine Kolleginnen und Kollegen zutreffend über die weitere Entwicklung seit unserer letzten Debatte im September vorigen Jahres gesagt haben. Ich meine immer, daß Aktuelle Stunden ja auch den Sinn haben sollen, daß man aufeinander zu diskutiert, damit am Schluß nicht nur jeder seinen Redebeitrag abgeliefert hat, den er vorbereitet hat.
In diesem Sinn möchte ich jetzt noch einmal auf zwei oder drei Probleme hinweisen, die mir besonders deutlich geworden sind, als ich die Kurden-Debatte vom September noch einmal nachgelesen habe und als ich mich bemühte, Informationen zu bekommen, wie es sich seither entwickelt hat.Es war in der Tat außerordentlich dürftig, was aus deutschen Zeitungen und Zeitschriften zu entnehmen war. Es ist eigentlich nur die „London Times", die immer wieder sehr ausführlich und sehr detalliert darüber schreibt. Das Auswärtige Amt könnte solche Zeitungsberichte ja auch einmal zur Grundlage machen, um eigene Recherchen anzustellen. Vielleicht machen sie das ja sogar. Aber ich habe erst bei der Lektüre gemerkt, wieviel besser die „London Times" offenbar informiert ist, als es die Unterlagen sind, die ich vom Auswärtigen Amt zu diesem Thema erhalten habe.
— Das war auch Ihre Informationsquelle.Also ich meine, schon das Interesse unserer diplomatischen Vertretung an dem Ausmaß dieser Zwangsumsiedlungen und der dortigen Menschenrechtsverletzungen und erst recht der Umstand, daß alle EG-Botschafter alle paar Wochen in Bagdad demarchieren und nachfragen würden, wie etwas weitergegangen ist, würden auf Dauer vielleicht doch etwas bewirken. So etwas ist eben mühsam. Das weiß ja jeder, der sich schon mit Menschenrechtsproblemen beschäftigt und dafür eingesetzt hat.Das zweite, was ich sagen möchte: Dieser Rachefeldzug der Iraker gegen die Kurden nach allem, was im Golf-Krieg passiert ist, artet wirklich offenkundig in einen Völkermord aus. Das kann man nicht mehr anders bezeichnen. Denn wenn man das liest, stellt man fest: Das ist eine systematische Ausrottung der Männer, Verschleppung der Frauen und Kinder, Ansiedlung irgendwo in der Wüste.Wir können ja nicht abwarten, bis das alles so durchgesetzt ist, wie dort offenbar vorgesehen. In der letzten Debatte hat mich sehr beeindruckt, daß Kollegen uns deutlich gemacht haben, wie grausam das Schicksal dieses zerrissenen Volkes der Kurden in diesem Lebensraum als Folge des Ersten Weltkriegs ist. Sie sind ja in vier Staaten zerrissen worden. Daß sie den Wunsch haben, wieder zusammenzufinden und sich zumindest eine kulturelle Autonomie wieder zu schaffen, ihre Sprache und Kultur zu pflegen, ist doch etwas, was wir Deutschen ganz besonders ernst nehmen und ganz besonders unterstützen müssen.Deshalb bin ich Ihnen, Frau Kollegin Beer, dankbar, daß Sie am Schluß noch einmal darauf hingewiesen und gesagt haben, langfristig muß eine Form gefunden werden, wie diesem zerstreuten, zersplitterten, geschundenen Volk auf Dauer ein Lebensrecht und auch die Selbstbestimmung in Form ihrer kulturellen Bedürfnisse und ihrer Autonomie zu gewährleisten sind. Das muß immer im Blick behalten werden.
Das allerdings muß immer im Blick behalten werden. Bis dahin kann man ja auch eine Menge machen.Ich habe zum erstenmal gehört, daß die Mittel für humanitäre Hilfe offenbar nicht erhöht worden sind. Ich bitte Herrn Staatsminister Schäfer, uns zu sagen, was wir tun können, was das Amt tun kann.Mir scheint dringend erforderlich zu sein, daß eine interntionale Hilfskommission, ein Komitee oder eine Delegation, dort nach dem Rechten sieht. In der Londoner „Times" steht auch, daß das britische Unterhaus eine Menschenrechtskommission entsenden wollte, die nicht einreisen durfte. Man muß also immer wieder fragen. Die Vereinten Nationen — der Vorschlag kam von Herrn Bindig — brauchen ein Instrument, das es ihnen ermöglicht, in solchen Fällen ohne Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates Untersuchungen vorzunehmen.Abschließend: Es ist eigentlich makaber, wenn man an einem Tag kurz hintereinander zweimal über solche Themen debattieren muß, bei denen es einem das Herz abschnürt. Angesichts dessen, was in dieser Welt alles Schreckliches geschieht, ohne daß wir daran etwas Wesentliches ändern können, findet man kaum noch Worte. Aber ein bißchen können wir doch ändern, indem wir nämlich nicht Ruhe geben und immer wieder auch hier über diese Themen debattieren. Für die Möglichkeit, das heute zu tun, danken wir den Initiatoren dieser Aktuellen Stunde.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung ist zutiefst besorgt über die Berichte in den letzten Tagen, denen zufolge die irakische Regierung erneut Teile der kurdischen Bevölkerung umsiedelt und — wie ja auch schon ausgeführt worden ist — schon vor längerem eingeleitete Umsiedlungsmaßnahmen immer noch andauern. Es verdichtet sich der Eindruck, daß diese Maßnahmen mit großer Härte durchgeführt werden.Die Bevölkerung ganzer Städte und Dörfer wird deportiert und die Orte anschließend dem Erdboden gleichgemacht. Zwar gibt es keine Hinweise dafür, daß im Zuge dieser Umsiedlungen Männer hingerichtet worden sind, doch ist anzunehmen, daß der größte Teil der männlichen Bevölkerung aus Angst geflohen ist und sich zum Teil über die benachbarten Grenzen abgesetzt hat.
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Staatsminister SchäferBeobachtet wurde, daß Frauen und Mädchen mit ihrer Habe abtransportiert, Vieh in diesen Gegenden abgeschlachtet und Felder brachgelegt wurden. Verschiedenen Informationen zufolge sollen viele Frauen und Kinder in Lager gebracht worden sein.Die Maßnahmen konzentrieren sich jetzt offenbar auf die Grenzregion zum Iran, also den Osten Kurdistans. Allerdings scheinen nicht mehr nur Grenzstreifen von bis zu 30 km, sondern auch Teile des Hinterlandes geräumt zu werden. Wie viele Menschen tatsächlich betroffen sind, ist nach wie vor sehr schwer zu sagen. Die meisten Schätzungen liegen jetzt aber bei mindestens 100 000.Die irakische Regierung bestreitet die Zwangsumsiedlung von Kurden nicht, erklärt jedoch, diese Maßnahmen beträfen Kurden wie Araber und dienten der Sicherheit der bisher dort ansässigen Bevölkerung sowie der wirtschaftlichen Verbesserung ihrer Lage. Der neu gewählte irakische Parlamentspräsident hatte dagegen noch Anfang Mai entschieden Meldungen zurückgewiesen, denen zufolge es Umsiedlungsmaßnahmen größeren Ausmaßes gebe, u. a. im Raum Qala Diza und Raniya.Mit der Umsiedlungsaktion entwurzelt die irakische Regierung auch Menschen, die mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Iran und Irak nichts zu tun hatten. Sie entvölkert damit ganze Landstriche mit ertragreicher Landwirtschaft.Mit solchen Maßnahmen werden elementare Menschenrechte in Frage gestellt. Es darf keinen Zweifel geben: Die Satzung der Vereinten Nationen und der Internationale Menschenrechtspakt haben den Menschenrechten einen universalen Charakter verliehen. Der Irak ist Mitglied der Vereinten Nationen und muß sich wie alle anderen Staaten an diese Verpflichtungen halten. Es ist Recht und Pflicht aller Mitgliedstaaten, weltweit auf die Einhaltung der Menschenrechte zu drängen.
Die Bundesregierung hat sich wiederholt und nachdrücklich auch für die Wahrung der Menschenrechte der Kurden eingesetzt. So hat sie bereits am 19. September 1988 gemeinsam mit ihren EG-Partnern gegenüber der irakischen Regierung auf eine menschenwürdige Reintegration der Kurden in ihren angestammten Siedlungsgebieten gedrängt. Die Bundesregierung appelliert in diesem Sinn erneut an die irakische Regierung. Sie erwartet, daß die irakische Regierung menschliche Formen des Zusammenlebens mit den irakischen Kurden auf der Grundlage politischer Lösungen findet. Immerhin leben in Kurdistan mehr als 3,5 Millionen Menschen, die die größte ethnische Minderheit des Irak sind. Sie müssen solche Lösungen politisch auch akzeptieren können. Verfolgung und Vertreibung werden die Probleme nur verschärfen.Es ist der Bundesregierung bekannt, daß einzelne kurdische Gruppen Iraks während des irakisch-iranischen Krieges mit Iran zusammengearbeitet haben und daß die irakischen Maßnahmen hiermit zusammenhängen. Zwangsumsiedlungen ganzer Bevölkerungsgruppen und Lager sind aber eine für die Völkergemeinschaft gänzlich inakzeptable Form, mit solchen Fragen umzugehen.
Hinzu kommen über 50 000 Kurden, die, wie Sie in Ihren Debattenbeiträgen schon gesagt haben, in die Türkei und nach Iran geflüchtet sind. Die Bundesregierung hat sich nach Kräften um die praktische Linderung dieser aus dem Irak stammenden kurdischen Flüchtlinge bemüht. 1988 wurden erhebliche Mittel für humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt. Das Deutsche Rote Kreuz hat im Rahmen der humanitären Hilfe ebenfalls Mittel erhalten. Es arbeitet mit den in Frage kommenden Hilfsorganisationen bei der Betreuung der Flüchtlinge eng zusammen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat auch ihre Bereitschaft erklärt, kurdische Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen in die Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen. Zahlreiche irakische Exilkurden haben in der Bundesrepublik Deutschland bereits Aufnahme gefunden.Sie haben mich in Ihren Debattenbeiträgen gebeten, mich für eine engere Koordinierung unserer Bemühungen mit denen der Europäischen Gemeinschaft einzusetzen. Ich darf Ihnen sagen, daß ich noch vor wenigen Minuten die Gelegenheit hatte, in einem sehr ausführlichen Gespräch mit meinem britischen Kollegen, Staatsminister Waldegrave aus dem Foreign Office, genau diese Frage anzusprechen. Er hatte seinen Redetext für seinen Debattenbeitrag im britischen Unterhaus mit dabei, und er stimmte mit mir in der Beurteilung der Lage völlig überein.Natürlich müssen wir drängen. Nur, Frau Kollegin Hamm-Brücher, es ist leichter gesagt als getan. Wir stehen ja in dem Land vor der Schwierigkeit, daß Kommissionen, die dort nach dem Rechten sehen wollen, der Zugang verweigert wird. Das ist bereits im vergangenen Jahr geschehen, als wir uns — auch die UN-Menschenrechtskommission — vor Ort umsehen wollten, ob die Vorwürfe, es seien chemische Waffen eingesetzt worden, stimmen. Auch jetzt werden Erklärungen abgegeben, wie wir sie ja auch von anderen Staaten, die sagen, das alles sei im Interesse der dortigen Bevölkerung, gewohnt sind. Wir dürfen — darin stimme ich Ihnen allen hier zu — nicht hinnehmen, daß wir, gleichgültig welche Interessen vorliegen, Staaten erlauben, mit ethnischen Minderheiten so umzugehen, wie das der Irak tut.
Herr Kollege Bindig, ich bin auch sehr gerne bereit, zusammen mit dem Bundesaußenminister, aber vor allen Dingen zusammen mit dem Vorsitzenden des Unterausschusses, Herrn Vogel, in dem Gestrüpp der humanitären Hilfe, wie Sie sagen, zu wühlen, um zu sehen, wie viele Mittel noch da sind. Nur, Herr Bindig, Sie wissen, welche Forderungen allein gestern — um nur ein Beispiel hier aufzugreifen, Herr Kollege Stercken — im Auswärtigen Ausschuß auf gestellt worden sind, um ganz bestimmte wichtige Maßnahmen zu treffen. Ich kann an die Mitglieder dieses Hauses, die dem Haushaltsausschuß angehören, nur appellieren, daß sie all diese Forderungen, die uns ja
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11475
Staatsminister Schäfertäglich erreichen, bei den Beratungen unseres Bundeshaushalts auch umsetzen.Ich kann Ihnen für die Bundesregierung sagen: Wir werden auch weiterhin alles tun, um den betroffenen Kurden zu helfen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Luuk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß die Zusicherung des Staatsministers, sich dafür einzusetzen, daß wir mehr Mittel für die humanitäre Hilfe bekommen, sich auch umsetzen läßt, weil ich davon ausgehe, daß das, was hier über die Situation im Irak und die weitere Verfolgung und die jetzt noch intensiver durchgeführte Zwangsumsiedlung berichtet wurde, ganz sicherlich nicht dazu angetan ist, den Rückkehrwillen derer, die in den Lagern in der Türkei sitzen, irgendwie zu fördern.
Aber den 36 000 Menschen, die dort in den Lagern sitzen, muß geholfen werden, wenn wir das Problem zwar nicht wegschieben, aber auch nicht bereit sind, sie alle zu uns zu holen, was ja auch nicht Ziel sein kann. Das heißt: Wenn wir im Zusammenhang mit der Lösung von Flüchtlingsproblemen von Regionalisierung sprechen, dann müssen wir etwas tun, um den Menschen in der Region, in der sie sich jetzt befinden, zu helfen. In den drei Lagern Djarbarkir, Muş und Mardin leben die Menschen, genau wie die Kollegin Beer ausgeführt hat, unter katastrophalen Bedingungen. Aber noch mehr macht mir Sorge, daß sie keinen Schutz des Hohen Flüchtlingskommissars haben wegen der Ausklammerung der nichteuropäischen Flüchtlinge auf Grund der Vertragslage, wie die Türkei sie eingegangen ist. Das bedeutet, daß sie auch nicht geschützt würden, wenn sie in eine Rückführung einwilligten, und es bedeutet auch — und das, meine ich, muß man sich besonders vor Augen halten — , daß die Menschen in diesen Lagern tatenlos sitzen. Sie haben keine Möglichkeit zu arbeiten, die Kinder gehen nicht in die Schule, sie können die Lager nicht verlassen, sie haben überhaupt keine Perspektive, und sie können in der gegenwärtigen Situation auch nicht an eine Zukunft glauben. Wer Menschen in einer derartigen Passivität über mehr als zwei, drei oder vier Jahre hält, muß wissen, daß er diese Menschen kaputtmacht, selbst wenn er sie vor dem unmittelbaren Tod gerettet hat.
Ich bin der Auffassung, daß wir hier aufgefordert sind, der Türkei zu helfen, aber vor allen Dingen den Menschen in diesen Lagern zu helfen, eine Perspektive zu entwickeln, die ihnen zwischenzeitlich ein Leben in den Lagern möglich macht, oder auch eine Perspektive, daß sie in die Dörfer zurückkehren, aus denen sie gekommen sind. Denn die wenigen, die zurückgegangen sind, hatten keine Möglichkeit, dorthin zurückzugehen, woher sie stammten, sondern sie sind nur in neue Internierungslager gebracht worden.
Ich meine, daß man sich schon noch einmal das Grauen vor Augen führen muß, dem diese Menschen entflohen sind. Denn wenn man an Mesopotamien denkt, dann denkt man an die erste agrarische Hochkultur der Welt. Davon haben wir alle schon in der Bibel gehört. Aber wenn man heute durch diese Gegend fährt, findet man dort nur Dörfer für die zwangsevakuierten Kurden, Dörfer, die dort in diese Täler gebaut worden sind. Davor und dahinter sind die plattgewalzten traditionellen Siedlungen. So kann man es dem Bericht einer Gruppe entnehmen, die sich dort umgesehen hat. Die Provinzstadt Dukan ist genauso gnadenlos evakuiert worden wie über 5 000 andere Dörfer und Städte und mit ihnen eine ganze Million Menschen in Irakisch-Kurdistan — das Ergebnis der über zwölfjährigen strategischen Arabisierung des Landes, wo demographisch, geographisch, kulturell und politisch nichts mehr an Kurdistan erinnern soll.
Ein Militärbefehl hat darüber hinaus auch das systematische Abbrennen aller Berge angeordnet. Ich meine, daß uns besonders betroffen machen muß, daß dort uralte und ganz langsam wachsende Steineichen sowie Mandel- und Granatapfelbäume, die seit Generationen nur sehr mühselig in Terrassen angesiedelt werden können, nicht mehr vorhanden sind. In den Tälern sieht man heute nur noch das Glimmen der strohgedeckten Lehmhütten innerhalb der ausgelöschten Dörfer und der Schwärze der verbrannten Erde. Das alles soll geschehen sein, um die kurdische Guerilla zu verhindern; aber es ging darum, den Bauern, den Menschen, die dort lebten, dauerhaft jegliche Existenzgrundlage zu nehmen. Die ökologischen Folgen, die damit verbunden sind, wurden ebenfalls ignoriert. Allein die Machterhaltung in Bagdad hat dieses unmenschliche Handeln bestimmt.
Ich meine, daß der Einsatz von chemischen Kampfstoffen nicht mehr geleugnet werden kann, weil es genügend Beweise dafür gibt. Aber all das, was heute vorgetragen worden ist und was man eigentlich nur wiederholen kann — und damit wird es nicht weniger schrecklich, auch wenn man sich daran gewöhnt —, muß uns dazu aufrufen, daß wir wenigstens in dem kleinen, begrenzten Rahmen, in dem wir tätig werden können, denjenigen, die wir erreichen, Hilfe zukommen zu lassen.
Das Wort hat der Abgeordnete Lummer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will kurz sein, weil der Grad der Gemeinsamkeit hoch ist, weil man nichts Neues sagen kann und weil wir gemeinsam ein hohes Maß an Hilflosigkeit spüren. „Das ist leichter gesagt als getan", sagte der Staatsminister. Und das gibt eigentlich die Situation wieder, aber eben auch jenen unglaublichen Grad an innerem Unzufriedensein, wenn man den Leidensweg des kurdischen Volkes vor Augen hat: Der ist lang, der ist blutig und immer wieder von der Verletzung der Menschenwürde genau wie von der Ehrverletzung gekennzeichnet, was gerade für dieses Volk eine besondere Bedeutung hat.Insofern müssen wir — grundsätzlich und bezogen auf die aktuelle Lage — doch ins Auge fassen, bestimmte Vorstellungen zu realisieren. Das eine ist, so
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11476 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Lummermeine ich, die Frage des Rechtes, zumindest als Volksgruppe zu existieren: mit der Sprache und den kulturellen Traditionen. Denn die Chancen, daß es gelänge, aus Kurdistan einen Staat zu machen, sind so gut wie nicht vorhanden. Aber um so wichtiger ist es für uns auf den internationalen Ebenen, wo das ansteht, diese Volksgruppenrechte zu sichern. Für die Kurden ist das noch dringender als etwa für Deutsche in dem einen oder anderen Teil unseres Kontinents.Das zweite ist die humanitäre Hilfe. Sicher, es gibt immer wieder Forderungen, tagtäglich, und doch wird man Prioritäten sehen und setzen müssen. Ich meine, hier ist etwas, was an die erste Stelle gehört. Gerade wenn man jemand ist, der sich, wie Frau Luuk es gesagt hat, nicht dafür einsetzen kann, daß die Lösung aller Probleme darin besteht, daß sie hierher kommen, muß man um so mehr bereit sein — und ich bin es —, in der Region zu helfen, sowohl der Türkei als auch den betroffenen Menschen selbst. Und dann sollten wir uns Mühe machen, etwas zu finden.Aber vielleicht können wir dies, meine Damen und Herren, mit dem anderen Punkt verknüpfen, der mehrfach angeklungen ist, etwa mit dem C-WaffenEinsatz, nämlich mit der Fülle von Gerüchten, die jetzt über das vergiftete Brot umgehen. Da gibt es diese und da gibt es jene Aussage. Nur, Klarheit hat niemand. Aber ich meine, die Türkei darf sich doch weder zum Komplizen des Irak machen lassen, noch kann sie ein Interesse daran haben, das Licht zu scheuen. Das heißt: Sie sollte zulassen, daß eine internationale Kontrolle vor Ort stattfindet, um alles das zu prüfen. Dann werden auch die Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland — davon gehe ich aus — wie auch die anderer Länder größer sein, finanzielle Hilfen zu leisten.Dies ist das, was man in der gegenwärtigen Situation sagen kann. Es ist schmerzlich, daß an einem Tag — wir hatten das aber auch schon im vergangenen Jahr — mehrere Länder Gegenstand solcher Diskussionen sind, woran nur deutlich wird, wie weitgehend das Unheil auf dieser Welt ist und wie wenig wir in der Lage sind, das Heil zu bringen. Dennoch sollten und müssen wir unseren notwendigen Beitrag leisten. Ich denke, wir sollten ihn in diesem Fall auch gern leisten.
Herr Abgeordneter Vogel , wünschen Sie noch, das Wort zu ergreifen? — Dann erteile ich es Ihnen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ganz kurz drei Punkte:
Erstens. Wir übernehmen uns, wenn wir uns die Forderung nach einem unabhängigen Kurdistan zu eigen machen.
Zweitens. Das Schwergewicht unserer Bemühungen muß die Situation im Irak sein.
Drittens. Wir haben gestern im Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe die Notwendigkeit weiterer Hilfsmaßnahmen für die Lager in der Türkei erörtert. Wir haben das Deutsche Rote Kreuz gebeten, uns mitzuteilen, welcher Mittelbedarf für dieses Jahr noch vorhanden ist. Meine herzliche Bitte an alle Kolleginnen und Kollegen geht dahin, mitzuhelfen, daß uns die Mittel dann auch im Haushalt zur Verfügung gestellt werden.
Danke schön.
Danke sehr. — Dann sind wir am Ende unserer Aktuellen Stunde.Wir kommen nun zu einer Reihe von Vorlagen — Zusatztagesordnungspunkte 7 bis 11 —, über die ohne Aussprache abgestimmt werden kann.Ich rufe nun zunächst den Zusatztagesordnungspunkt 7 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 14. November 1988 über den Beitritt der Portugiesischen Republik und des Königreichs Spanien zur Westeuropäischen Union— Drucksache 11/4707 —Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 11/4837 —Berichterstatter:Abgeordnete Kittelmann Voigt
Dr. FeldmannDr. Lippelt
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen.— Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Ich wäre nicht böse, Frau Abgeordnete Schulte , wenn ich wissen könnte, wie die Fraktion der SPD abzustimmen gedenkt.
— Es handelt sich um die Drucksachen 11/4707 und 11/4837. Es geht um den Beitritt von Portugal und Spanien zur Westeuropäischen Union. Sie stimmen zu? — Dann darf ich feststellen, daß der Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden ist.Nun bitte ich diejenigen , die dem Gesetzentwurf in zweiter Beratung und Schlußabstimmung als Ganzem zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der GRÜNEN angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
— Sammelübersicht 118 zu Petitionen —— Drucksache 11/4855 —
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Vizepräsident CronenbergZP9 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
— Sammelübersicht 119 zu Petitionen —— Drucksache 11/4856 —Wer stimmt den Beschlußempfehlungen zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann sind die Beschlußempfehlungen bei Enthaltung der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Fortsetzung eines Strafverfahrens— Drucksache 11/4864 —Berichterstatter:Abgeordneter Wolfgramm
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen aus der SPD und bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser Beschlußempfehlung Folge geleistet worden.
Ich lasse dann über die Annahme der Entschließung in Nr. 2 auf Drucksache 11/4837 abstimmen. Wer dieser Entschließung des Auswärtigen Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? — Bei Enthaltung der Fraktion der SPD und der GRÜNEN ist diese Entschließung angenommen.
— Das können wir auch festhalten. Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDGedenktage zum Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkriegs— Drucksachen 11/2715, 11/4858 —Berichterstatter:Abgeordnete Neumann Schröer (Mülheim)LüderFrau Dr. VollmerWer der Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/4858 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das ist schwierig. Ich muß noch einmal abstimmen lassen, weil das Abstimmungsverhalten sehr unterschiedlich war.Wir stimmen jetzt noch einmal über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD „Gedenktage zum Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkriegs" auf Drucksache 11/4858 ab. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zusatzpunkt 12 auf:17. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNENPraxis und Perspektiven der Technologiefolgen-Abschätzung und -Bewertung— Drucksachen 11/3115, 11/4323 —b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Schreiner, Westphal, Bulmahn, Paterna, Vosen, Catenhusen, Fischer , Ganseforth, Grunenberg, Lohmann (Witten), Nagel, Seidenthal, Vahlberg, Bernrath, Dr. Klejdzinski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDTechnikfolgenabschätzung und -gestaltung beim Deutschen Bundestag— Drucksache 11/4377 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungHaushaltsausschußc) Beratung des Berichts und der Empfehlungen der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung"Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung einer ständigen Beratungskapazität für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag— Drucksache 11/4606 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungHaushaltsausschußd) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung"Zum gentechnologisch hergestellten Rinderwachstumshormon— Drucksache 11/4607 —
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11478 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Vizepräsident CronenbergÜberweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheite) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rüttgers, Dr. Kronenberg, Dr. Mahlo, Kraus, Lenzer und der Fraktion der CDU/ CSU sowie des Abgeordneten Dr. Hitschler und der Fraktion der FDPTechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag— Drucksache 11/4749 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschußZP12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Rust und der Fraktion DIE GRÜNENInstitutionalisierung von TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung beim Deutschen Bundestag— Drucksache 11/4832 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschußZu Tagesordnungspunkt 17 a liegt Ihnen ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4828 vor. Hierzu wird vom Ältestenrat eine Beratungszeit von 90 Minuten vorgeschlagen. Wer Widerspruch erheben will, möge sich melden. — Widerspruch erfolgt nicht. Dann sind diese 90 Minuten beschlossen.Zunächst einmal gebe ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Rüttgers.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Politik das Bohren von harten Brettern ist, dann ist die Technikfolgen-Abschätzung in der Bundesrepublik Deutschland sicherlich aus besonders widerspenstigem Holz geschnitzt. Dieses Haus diskutiert seit nunmehr 16 Jahren über Technikfolgen-Abschätzung. Ausschüsse und Enquetekommissionen haben sich geäußert, Gutachten sind vergeben worden, Anträge sind vorgelegt worden, und im Plenum sind mehrfach Argumente ausgetauscht worden. Ich glaube, der Grund für diese lange Debatte liegt in dem schwierigen, oft ungeklärten Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Jetzt ist endlich ein konkretes Ergebnis greifbar nahe.Die politische Auseinandersetzung mit neuen Technologien findet heute vor dem Hintergrund veränderter Rahmenbedingungen statt. Das technisch Machbare hat qualitativ neue Dimensionen erhalten. Wir sind zum Atomkern und zum Zellkern vorgestoßen. Die Zerstörung der Schöpfung ist ebenso möglich geworden wie der Mensch in der Rolle des Schöpfers. Damit werden vielfältige Fragen von Wissenschaft und Technik naturgemäß auch Fragen der Politik.Die zweite Veränderung liegt in dem immer höheren Tempo technischer Revolutionen. Früher konnten sich die Menschen langsam an Veränderungen gewöhnen. Heute erlebt jede Generation mehrere umwälzende Entwicklungen. Dies zwingt die Politik zu immer kürzeren Reaktionszeiten.Ich glaube, hier liegt auch einer der Gründe dafür, daß manche Menschen wieder empfänglich sind für die sogenannten einfachen Antworten radikaler Gruppierungen. Es ist die Angst vor unbekannten Entwicklungen, die zur Hochkonjunktur der Rattenfänger aus dem radikalen Spektrum führt. Die Menschen erwarten in diesem Spannungsfeld auch von uns, dem Parlament, Orientierung und Zukunftssicherung. Sie erwarten vor allem, daß neue Chancen genutzt werden und Risiken beherrschbar bleiben.Wir alle wissen, daß der Deutsche Bundestag in der Öffentlichkeit gerade auf diesem Gebiet oft schlechte Noten erhält. Es wird beklagt, daß das Parlament — so wie der Hase dem Igel — der technischen Entwicklung hinterherjage. Es wird beklagt, die Kontrolle der Regierung finde nur unzureichend statt. Der Bundestag vernachlässige seinen Gestaltungsauftrag.Ich meine, dieses Bild muß korrigiert werden. Im Forschungsausschuß und in anderen Ausschüssen, aber auch im Plenum finden technologiepolitische Diskussionen statt. Hier findet Kontrolle und Gestaltung statt. Natürlich kann man darüber streiten, ob der Umfang angemessen ist oder ob er ausgeweitet werden muß.Aber bei aller Kritik sollte eines nicht in Frage stehen: Der Bundestag als Ganzes — ob Regierungsfraktionen oder Opposition — lebt nicht vom Gnadenbrot der Regierung. Wenn wir als Abgeordnete selbst immer wieder diesen Eindruck erwecken, dann sollten wir uns auch nicht darüber wundern, daß unsere Arbeit nicht zur Kenntnis genommen, ja, nicht ernstgenommen wird.
Ein Zweites: Es ist das gute Recht der Opposition, vermutete Fehlentwicklungen und Mißstände zur Sprache zu bringen. Aber wer aus jedem Mißbrauch von Technik und aus jedem Störfall politisches Kapital schlagen will, der entzieht sich selbst den Boden, auf dem er steht. Die unmittelbare Folge ist auch dann fast zwangsläufig, daß der Bürger dem Parlament und den Parlamentariern nichts mehr zutraut.
— Natürlich ist Parlamentsarbeit nicht immer spektakulär. Natürlich ist Parlamentsarbeit nicht immer schlagzeilenträchtig. Dennoch ertönt bei jeder sich bietenden Gelegenheit der Ruf nach der Politik. Man
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Dr. Rüttgersverlangt vom Parlament, was man ihm gleichzeitig nicht zutraut.Ein weiteres kommt hinzu: Wir alle wissen aus unserer Arbeit, daß es dem Parlament keineswegs an wissenschaftlicher Hilfe, an Stellungnahmen und Kommentaren fehlt. Mit Informationsfragmenten wird jeder Abgeordnete wie die Öffentlichkeit geradezu überflutet. Aber dieser Gutachtendschungel führt zur Verwirrung, weil Politiker und Bürger zum Spielball des öffentlichen Expertenstreits werden und die Wissenschaft zum Steinbruch für die politische Argumentation. Das Ergebnis ist: Die Glaubwürdigkeit der Politik leidet ebenso wie das Vertrauen in die Wissenschaft.Technikfolgen-Abschätzung ist der Versuch einer rationalen Antwort auf diese diffuse Debatte. Technikfolgen-Abschätzung soll möglichst frühzeitig und umfassend informieren. Es geht um die direkten und indirekten, die erwünschten und unerwünschten, die wirtschaftlichen, die ökologischen und die sozialen Wirkungen neuer Technologien. Es sollen technische Alternativen und politische Handlungsmöglichkeiten deutlich werden, und nicht Technikverhinderung, sondern Technikverbesserung ist das Ziel von Technikfolgen-Abschätzung.
Technikfolgen-Abschätzung — auch das wissen wir aus den Debatten in der Enquete-Kommission und aus den langjährigen Diskussionen hier im Haus — ist kein wissenschaftlicher Selbstzweck. Das Arbeitswissen der Abgeordneten soll verbessert werden, nicht ihr Bildungswissen. Wir wissen auch, daß Technikfolgen-Abschätzung kein Entscheidungs-, sondern ein Beratungsinstrument ist. Ich glaube, daß komplexe und schwierige Fragen durch Technikfolgen-Abschätzung für uns transparent werden können. Die Begriffe Abschätzung und Bewertung drücken aus, daß es nicht um Gewißheit, sondern um eine Verringerung der Ungewißheit, daß es nicht um wissenschaftliche Wahrheit, sondern um wertbezogene Entscheidungen geht.Wir wollen im Bundestag kein Heiliges Officium des technischen Fortschritts. Eine freiheitliche Gesellschaft braucht nicht neue Dogmen, sondern sachgerechte Information. Insofern ist Technikfolgen-Abschätzung eine vertrauensbildende Maßnahme gegen Zukunftsangst und Technikfeindlichkeit. Wenn Sachzusammenhänge verständlicher, Alternativen deutlicher und Entscheidungsprozesse transparenter werden, werden auch Orientierung und Vertrauen erleichtert.Der Bundestag braucht eine kontinuierliche und qualifizierte Beratung über die Folgen neuer Technologien, ebenso wie über die Chancen und Risiken ihrer Anwendung. Das ist nun keine besonders neue Einsicht, und sie wird von allen Mitgliedern der Enquete-Kommission „Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" ausdrücklich geteilt.Lassen Sie mich an dieser Stelle den Mitgliedern und dem Sekretariat der Kommission für die sachbezogene und ergebnisorientierte Zusammenarbeit herzlich danken.
Sie alle wissen, daß die Kommission vor einigen Tagen ihren Bericht zur Organisation von Technikfolgen-Abschätzung beim Parlament der Präsidentin vorgelegt hat. Die Fraktionen haben auf dieser Grundlage ihre Anträge eingebracht.Ich bin zuversichtlich, dies wird nicht graue Theorie bleiben. Ich bin sehr hoffnungsvoll, daß wir noch in dieser Legislaturperiode den Einstieg in die Praxis schaffen können. Ich meine, es gibt für diesen Optimismus gute Gründe.Der Konsens über die Notwendigkeit der Technikfolgen-Abschätzung reicht weit über die Kommission und das Parlament hinaus. Unternehmen und Verbände engagieren sich zunehmend in diesem Bereich. Die Europäische Gemeinschaft, die Bundesregierung und Landesregierungen bauen entsprechende Kapazitäten auf. Warum sollte gerade der Deutsche Bundestag auf dieses Instrument verzichten?Frühere Vorbehalte sind einer nüchternen Betrachtung gewichen. Es hat sich ja inzwischen herumgesprochen, daß eine bessere Beratung ohne mehr Bürokratie in der Politik organisierbar ist. Es hat sich ebenfalls herumgesprochen, daß ein gut und sachverständig informiertes Parlament für den rationalen Umgang der Gesellschaft mit Chancen und Risiken der Technik wichtig ist.Parlamentsfremde Vorstellungen über Technikfolgen-Abschätzung haben sich nicht durchsetzen können. Die Kommission teilt die Bedenken gegen Gremien aus Abgeordneten und Sachverständigen, die eine Sonderstellung innerhalb des parlamentarischen Entscheidungsprozesses einnehmen.Klare Alternativen — dies war Gegenstand einer öffentlichen Diskussion — zur Organisation von Technikfolgen-Abschätzung liegen heute auf dem Tisch. Ich meine, das ist keineswegs ein Geburtsfehler des Kommissionsberichts. Im Gegenteil: TechnikfolgenAbschätzung gehört in das Zentrum der parlamentarischen Debatte. Man kann dem Parlament keine Beratungseinrichtungen verordnen, ohne vorher die Fraktionen zu beteiligen. Auch eine Enquete-Kommission arbeitet ja nicht im politischen Vakuum. Technikfolgen-Abschätzung ist eben keine unpolitische Domäne kleiner Expertenzirkel.In den 70er Jahren hat die damalige Oppositionsfraktion mehrere Anläufe für eine Stärkung der technologiepolitischen Kompetenz des Bundestages unternommen. Die damaligen Regierungsfraktionen haben diese Vorschläge abgelehnt; umgekehrte Schlachtordnungen hat es ebenfalls gegeben.
Ich will hier gar nicht über Motive spekulieren; mir geht es auch nicht um Rechthaberei. Wichtig ist: Hier hat es auf allen Seiten Lernprozesse gegeben.Eines steht fest: Die Schlachtordnungen von gestern gehören endgültig der Vergangenheit an.
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11480 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Dr. RüttgersMit dem heutigen Antrag haben die Koalitionsfraktionen einen konstruktiven Vorschlag eingebracht. Unsere Konzeption hat drei entscheidende Vorteile:Erstens. Das wissenschaftliche Niveau der Technikfolgen-Abschätzung wird gesichert. Es gibt keine neue Verwaltungsstelle, die nach Bundesangestelltentarif und parteipolitischem Proporz besetzt ist. Vielmehr sichert der wissenschaftliche Diskurs zwischen den besten Köpfen die Qualität der Beratung.Zweitens. Die Aufgabe wird auf viele Schultern verteilt. Das sichert die wissenschaftliche Vielfalt und Objektivität. Gleichzeitig behält die Wissenschaft Eigenständigkeit und Eigenverantwortung.Drittens. Wir haben uns an den Erfordernissen der parlamentarischen Beratung orientiert. Eine systemfremde Änderung der Geschäftsordnung wird vermieden. Die Technikfolgen-Abschätzung wird in die übrigen Entscheidungsabläufe integriert. Das Ergebnis — das ist ganz wichtig — wird mehr Entscheidungsrelevanz der Parlamentsberatung sein und nicht eine höhere Papierproduktion.
Der Ruf nach Technikfolgen-Abschätzung ist heute Gemeingut in Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Hinter diesem Konsens verbergen sich aber oft tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über Sinn und Aufgabe dieses Instruments. Sie sind Symptome eines weitergehenden Konflikts über die Zukunft der Industriegesellschaft.Dabei spielen folgenreiche Irrtümer — ausgesprochen oder verdeckt — eine wichtige Rolle. Wenn es nicht gelingt, diese Irrtümer zu beseitigen und ein neues Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik zu definieren, wird das Ansehen des Parlaments trotz Technikfolgen-Abschätzung weiter abnehmen.Der erste Irrtum: Der Ausstieg aus Wissenschaft und Technologie ist machbar. Wahr ist: Ohne die Dynamik von Wissenschaft und Technik ist unsere Welt nicht überlebensfähig. Nicht nur, weil vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abhängt, nicht nur, weil soziale Stabilität damit eng verknüpft ist.Vor allem die globalen Probleme einer wachsenden Erdbevölkerung sind ohne neue Technologien nicht lösbar. Dies gilt für den Schutz der Umwelt, die Ernährung der Menschen und die Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten.Wer den Erhalt der tropischen Regenwälder fordert, ohne den Staaten, an die sich diese Forderung richtet, das Wissen und die Technik an die Hand zu geben, um die Menschen zu ernähren, der fordert Irreales und belügt letztlich die Menschen.Ich glaube, eine defensive Ethik des Unterlassens ist keine Antwort auf die Probleme der Menschheit. Wir brauchen eine offensive Ethik des Handelns. Wir müssen auch fragen: Können wir eigentlich alles, was wir können müßten?Jedenfalls können wir es uns nicht leisten, das Irrationale und die Apokalypse zum Maßstab des Handelns zu machen oder alten und neuen Mythen zu huldigen. In unserer Realität gibt es keine Alternative zur mühsamen Problemlösung im Einzelfall. Oder, um mit Hans Jonas zu sprechen: „Das technologische Abenteuer muß weitergehen. "Der zweite Irrtum: Die Gestaltungsfähigkeit der Politik ist unbegrenzt. Wahr ist: Die Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten lassen sich erweitern. Aufheben lassen sie sich nicht.Politiker neigen dazu, den Eindruck zu verbreiten, sie könnten alle Probleme lösen. Die Gesellschaft hat aber keine Vollkaskoversicherung für alle Lebensrisiken beim Staat abgeschlossen. Die Prämie wäre auch zu hoch dafür, nämlich eine erhebliche Einbuße an Freiheit.Gebote und Verbote, Schutzmaßnahmen und Strafandrohungen des Staates sind nur eine Möglichkeit, häufig eine schlechte. Positive Technikgestaltung ist eine bessere.Wissenschaft und Wirtschaft, gesellschaftliche Gruppen und die einzelnen Bürger müssen ihre Freiheit im Umgang mit neuen Technologien selber verantworten. Eine Öko-Diktatur ist keine Lösung.
Staat und Gesellschaft können die Probleme nur gemeinsam und freiheitlich lösen oder gar nicht.Ich füge hinzu, auch bei umfassender Analyse und bei verantwortungsbewußtem Handeln aller Beteiligten werden Risiken, auch schwerwiegende Risiken bleiben. Das gilt für das Handeln genauso wie für das Nichthandeln. Der Verzicht auf Technik ist oft ebenso riskant wie ihre Anwendung. Um es mit einem Beispiel zu sagen: Wer jetzt aus der Kernenergie aussteigen will, gefährdet das Weltklima.
Eine Lösung des globalen Klimaproblems ohne Kernenergie ist heute nicht möglich, weil eine andere CO2-freie Alternative eben erst noch entwickelt werden muß.
Der dritte Irrtum: Eine politisch gelenkte Wissenschaft kann die Probleme lösen. — Wahr ist: Eine freie Auswahl von Methoden und Gegenstand der Forschung ist der Kern der verfassungsmäßig garantierten Wissenschaftsfreiheit. Wer hier nur Verbote ausspricht, höhlt dieses Grundrecht aus. Wie soll denn Forschung, also Beschäftigung mit Unbekanntem, funktionieren, wenn das Verbot adäquater Methoden bereits Forschung lenkt und Ergebnisse vorbestimmt? Wer gentechnische Forschung verbietet, verhindert die Produktion lebenserhaltender Medikamente. Wer Freilandversuche generell untersagt, verhindert, daß langfristig unser Grundwasser nicht mehr durch Nitrate und Pflanzenschutzmittel verunreinigt wird.
Jeder Forschungsprozeß ist offen. Auch der Staat hat kein exklusives Wissen über Sinn und Ziel wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Auch der Staat kann sich nicht zum Entscheider über den gesellschaftlichen Nutzen und Schaden der Forschung auf-
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Dr. Rüttgersschwingen. Politkommissare für die Wissenschaft lösen keine Probleme; sie verwalten sie nur.Der wertbezogene Streit um die Zukunft unserer Gesellschaft ist eine der zentralen Aufgaben des Parlaments. Diesem Ziel dient Technikfolgen-Abschätzung. Wir sind keine modernen Propheten, und wir sollten uns davor hüten, mit Hilfe wissenschaftlicher Parlamentsberatung Glaubenswahrheiten verkünden zu wollen. Nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden ist unser Auftrag, und dazu leistet Technikfolgen-Abschätzung einen Beitrag. Der Deutsche Bundestag — dies ist Konsens in diesem Hause — braucht bessere Informationen und mehr Beratung in Sachen neue Technologien. Wenn Technikfolgen-Abschätzung dazu beiträgt,
den parlamentarischen Teil unserer gemeinsamen politischen Verantwortung zu stärken, haben wir heute einen wichtigen Schritt getan.Vielen Dank.
Herr Bundesminister, wir freuen uns — ich nehme an, die Fraktionen des Hauses tun das auch — , Sie auf der Regierungsbank begrüßen zu können. Aber ich möchte Ihnen nicht verhehlen: Wenn dies nicht die letzte Sitzungswoche wäre und wenn wir nicht eine außerordentlich komplizierte Geschäftslage hätten, hätte ich diesen Tagesordnungspunkt nicht aufgerufen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rust.
Nach 15jähriger Debatte wird nun endlich die Beschlußfassung über eine parlamentarische Beratungseinrichtung für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung eingeleitet. Darüber bin ich froh, aber ich befürchte, daß wir eine Einrichtung installieren, die zwar vor 15 Jahren ein entscheidender Fortschritt gewesen wäre, den heutigen Anforderungen aber hinterherhinkt; denn sowohl in der wissenschaftlichen TA-Diskussion als auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Technologiepolitik gibt es neue Entwicklungen, die bei der parlamentarischen Beratungseinrichtung, über die wir hier heute reden, zu berücksichtigen sind. Diese Entwicklungen sind:Erstens. Der außerparlamentarische Dialog über Technikfolgen gewinnt stetig an Selbstbewußtsein. Politische Großorganisationen sind in diesem Dialog nicht mehr die Trägerinnen der innovativen Technologiediskussion. Diese Diskussion wird getragen nicht nur von unabhängigen Instituten, Bürgerinitiativen, Gruppen innerhalb von Kirchen, DGB usw. usf. So mancher Abgeordnete oder so manche Kollegin in diesem Hause würde sich wundern, wenn er oder sie einmal mit alteingesessenen Wissenschaftlern aus Großforschungseinrichtungen redete; über deren Vorstellungen würden einige hier vielleicht sogar erschrecken. Das Parlament muß also nicht nur Kompetenzverlust gegenüber der Regierung aufholen, sondern auch seine zunehmende Abkoppelung vom gesellschaftlichen Dialog zu überwinden versuchen.Zweitens. Analog zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung gibt es auch eine Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Diskussion über TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung. Dort wird die Forderung aufgestellt, TA solle nicht darauf beschränkt sein, ein technobürokratisches Frühwarnsystem zu sein, sondern solle mehr und mehr die Funktion einer Organisatorin des gesellschaftlichen Dialogs über technische Entwicklung und ihre Folgen übernehmen. Dies erfordert Bereitschaft zum demokratischen Experiment und zur Öffnung der Parteien gegenüber dem gestiegenen Selbstbewußtsein der außerparlamentarischen Diskussion. Zukünftige Technologiepolitik soll, soweit möglich, den Charakter bewußter gesellschaftlicher Weichenstellung haben; technische Entwicklung kann nicht weiterhin allein dem Markt unterworfen werden; technische Entwicklung kann nicht von abgeschotteten Kreisen aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft entschieden werden; denn technische Entwicklung greift so tief und so langfristig in das Leben einer jeden Person ein, daß es bei technologiepolitischen Entscheidungen neuer demokratischer Mechanismen bedarf. Dies setzt das Bemühen um vorausschauende Information über die Folgewirkungen von Technik und die Kenntnis von Alternativen voraus.In Erwägung dieser Argumente machen wir folgenden Vorschlag für eine Beratungseinrichtung beim Parlament. Wir schlagen vor, als Institutionsform eine Stiftung zu wählen und die Möglichkeit zu eröffnen, daß Mitglied dieser Stiftung jede juristische Person werden kann. Des weiteren schlagen wir vor, daß diese Stiftung von einem Gremium geleitet wird, das sowohl aus Abgeordneten des Deutschen Bundestages als auch aus Personen besteht, die von der Mitgliederversammlung der Stiftung gewählt werden.Diese Zusammensetzung, die wir vorschlagen, ist ein demokratisches Experiment. Aber wir denken, daß wir um demokratische Experimente nicht herumkommen, wenn wir die auseinander driftenden Dialoge über Wissenschaft und Technik wieder zusammenbringen wollen und uns auch die Möglichkeit geben wollen, an dieser Diskussion zu partizipieren und Gewinn daraus zu ziehen.Jetzt noch zur Großen Anfrage zur TechnikfolgenAbschätzung der Regierung, die ja heute hier in verbundener Debatte mitberaten wird. Die Anfrage hatte den Zweck, Informationen für das Parlament zu erlangen über die Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung durch die Regierung. Dazu ist folgendes zu sagen:Erstens. Der Informationsgehalt vieler Antworten der Bundesregierung läßt sehr zu wünschen übrig.
Zweitens. Die Beteiligung der Öffentlichkeit in TA-Prozessen, die die Regierung initiiert, orientiert sich an alten Partizipationsmodellen, die sich darauf beschränken, alteingesessene und abgestandene Groß-
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Frau Rustorganisationen wie DGB, Kirchen, BDI usw. an der Diskussion zu beteiligen.Drittens. Wir begrüßen ganz besonders die Ankündigung der Regierung, ein Förderkonzept für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung nun endlich zu erstellen. Wir möchten aber hinzufügen: Es wird zwar darauf verwiesen, daß gesellschaftliche Gruppen an dieser Diskussion beteiligt werden sollen, wir haben dem Papier aber keine Informationen darüber entnehmen können, daß auch das Parlament, Herr Minister, an den Diskussionen beteiligt wird, bevor Ihr Vorschlag der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Dies würden wir aber sehr begrüßen.Was wir brauchen, ist nämlich eine neue Kultur der Auseinandersetzung mit Technik. Der alte Konsens, der technischen Fortschritt mit gesellschaftlichem Fortschritt gleichsetzt, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Ein neuer Umgang mit Technik setzt die Öffnung des demokratischen Dialogs voraus. Ich hoffe, daß die parlamentarischen Beratungen ein Ergebnis haben werden, das einen deutlichen Schritt in diese Richtung ermöglicht.Der Kollege Rüttgers hat in seiner Rede die Meinung vertreten, die alten Schlachtordnungen existierten nicht mehr. Es gebe nicht mehr hier die Regierung, die unabhängig von der parteipolitischen Couleur versuche, Technikfolgen-Abschätzung zu verhindern, und es gebe nicht mehr dort auf der anderen Seite die Opposition, die TA unbedingt wolle. Herr Rüttgers, ich möchte das sehr bezweifeln; denn wenn Sie hier einen Vorschlag vorlegen, der noch nicht einmal ein Minderheitenrecht im Parlament beinhaltet, dann geben Sie sich damit der Gefahr preis, daß wir hier eine regierungsamtlich beeinflußte, und zwar entscheidend beeinflußte, Technikfolgen-Abschätzung bekommen werden, die der Idee, der Grundidee der Technikfolgen-Abschätzung völlig zuwiderläuft.
Ich möchte meiner Hoffnung darauf Ausdruck geben, daß es uns in den parlamentarischen Beratungen gelingt, einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen, nämlich einen Schritt hin auf die Öffnung des Dialogs über Technik und ihre Folgen, und hier vom Parlament her einen Beitrag dazu zu leisten. Wir diskutieren hier ja nicht über irgendeinen Gesetzentwurf X, Y oder Z dieser Regierung, sondern wir diskutieren über eine Beratungseinrichtung, die wir, dieses Parlament, wie es hier sitzt, inklusive aller Fraktionen, uns selbst schaffen. Wenn wir es uns gefallen lassen, daß uns die Regierung diktiert, in welchen Punkten wir uns beraten lassen dürfen und in welchen nicht, dann sind wir schlecht beraten.
Wir sollten alle gemeinsam in den parlamentarischenBeratungen, die auf uns zukommen, dafür Sorge tragen, daß dies nicht passieren kann. — Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will dem Kollegen Rüttgers in einem zustimmen: Es gibt kein anderes Thema, das den Deutschen Bundestag so lange beschäftigt hat wie die Frage, ob das Parlament angesichts von Tempo und Komplexität der technischen Entwicklung einer eigenen und eigenständigen wissenschaftlichen Beratung bedarf.Seit 1973 hält diese Debatte an, die nicht frei von Merkwürdigkeiten und einem Übermaß an taktischen Überlegungen auf allen Seiten des Hauses war und in einigen Punkten noch ist. Merkwürdig ist, daß sich seit den frühen 70er Jahren alle Fraktionen im Deutschen Bundestag im Grunde noch einig waren, daß das Parlament ohne eine angemessene Einrichtung zur wissenschaftlichen Beratung Gefahr läuft, jeglichen qualifizierten Einfluß auf die Gesellschaft, die gesellschaftliche Entwicklung immer stärker prägende wissenschaftlich-technische Entwicklungen zu verlieren. Damit einher ging die Erkenntnis, daß die wachsende Ohnmacht des Parlaments zu einem gleichermaßen wachsenden Glaubwürdigkeits- und Legitimationsverlust der parlamentarischen Demokratie führen muß. Ein Parlament, das sich — wie am Beispiel der atomaren Großtechniken gezeigt werden kann — erst zu einem Zeitpunkt in die Thematik einschaltete, als alle Grundsatzentscheidungen längst gefallen waren und immer mehr Bürgerinnen und Bürger an der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Techniken rüttelten, provoziert allerdings die Frage nach seiner Bedeutung und bei manchen sogar nach seiner Berechtigung.Wenn der parlamentarische Grundkonsens über die prinzipielle Notwendigkeit einer soliden Beratungskapazität bis zum heutigen Tag zu keiner positiven Entscheidung geführt hat, so lag der wesentliche Grund darin, daß sich die jeweiligen Regierungsfraktionen näher bei der Regierung und ihrem Herrschaftswissen fühlten denn als Teil des Gesamtparlaments. Parlamentarische Technikberatung wurde bejaht, im gleichen Atemzug aber befürchtet, dies könne ein Instrument zur Verstärkung der Opposition sein. Die übermäßige Abhängigkeit der jeweiligen parlamentarischen Regierungsfraktionen von der Exekutive hängt auch mit dieser Grundeinstellung zusammen und entspricht jedenfalls nicht meinen Vorstellungen von Gewaltenteilung.In den letzten Jahren hat sich in der hier anstehenden Thematik auch ein öffentlicher Meinungskonsens entwickelt. Weder in der Wissenschaft noch bei den Technikern und ihren Verbänden gibt es Stimmen, die dem Parlament, die dem Deutschen Bundestag von einer eigenen Beratungsinstitution abraten. Die Gewerkschaften haben dem Parlament nachdrücklich zugeraten. Das gilt auch für viele Stimmen aus beiden großen Kirchen. Erfreulich ist auch der Meinungswandel der deutschen Wirtschaft. Wurde vor einiger Zeit noch geargwöhnt, eine parlamentarische Technikberatung könne zu einem geheimnisvollen Instrument gesamtgesellschaftlicher Mitbestimmung werden, so hat sich inzwischen die nüchterne Erkenntnis durchgesetzt, daß auf längere Sicht nur solche Produkte oder Produktionsverfahren eine Chance haben, die sozial- und umweltverträgliche Standards berücksichtigen. Der gesellschaftliche Meinungskonsens ist
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11483
Schreinernicht zuletzt ein Verdienst der Bundestags-EnqueteKommission „Technikfolgenabschätzung" aus der vergangenen Legislaturperiode, die mit ihrem damaligen Vorschlag ganz erhebliche Diskussionsanstöße für die Öffentlichkeit gegeben hatte.Es ist nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, an uns selbst, am Parlament selbst, unsere Aufgabe zu bestimmen. Nicht Weniges steht auf dem Spiel. Es geht letztlich um die entscheidende Frage, ob das Parlament bereit ist, nicht nur — wie in der Vergangenheit — die sozialen Folgen der technischen Entwicklung nachträglich zu regulieren, sondern die ökonomisch-technische Entwicklung selbst mitzugestalten. Welchen Rang hat das Primat der Politik, insbesondere aber das Primat des frei gewählten Parlaments in einer Zeit, in der die technische Entwicklung zu einer Überlebensfrage im Guten wie im Schlechten geworden ist? Oder in den Worten der katholischen Bischofskonferenz in einem Aufruf aus dem Jahre 1984:Der Mensch darf nicht alles, was er kann. Je mehr er kann, desto größer wird seine Verantwortung. Mit den Möglichkeiten, Leben zu mehren und zu fördern, wachsen die Möglichkeiten, Leben zu schädigen und zu zerstören.Wir wissen, daß die technische Entwicklung im wesentlichen interessengeleitet, also gestaltbar ist. Dann aber muß sich eine verantwortungsorientierte Politik ihrer auch annehmen. Die Debatten über Nukleartechnik, Ökologie, Bioethik und Gentechnologie unseres Jahrzehnts sind auch ein unaufhörlicher und oft stummer Appell an das Parlament, sich seiner eigenen Verantwortung zu erinnern und zu stellen. Angesichts der realen Gefahr, daß Modernisierung auch in Barbarei umschlagen kann, schreibt Ulrich Beck im Vorwort zu seinem Buch „Die organisierte Unverantwortlichkeit" :Es handelt von dem Alptraum meiner Generation — den Kindern der Täter und Dulder des nazistischen Terrors — , daß aus ihren Handlungen und Unterlassungen in anderen Formen und auf anderen Wegen wieder ein Wahn Normalität wird.In der Tat, der Gedanke bedrückt mich seit längerem außerordentlich, wie wir antworten werden, wenn wir später von unseren Kindern gefragt werden, ob wir denn gewußt hätten, was wir über sie gebracht haben. Technikabschätzung und Technikberatung beim Parlament wäre ein Stück institutioneller Verantwortung. Es wäre ein Beweis dafür, daß wir bereit sind, die Verantwortung anzunehmen.Der Vorschlag der sozialdemokratischen Fraktion ist sicher nicht der ganz große Wurf; aber er ist eine gut vertretbare und gut begründbare Einstiegslösung. Wir wollen einen „Ausschuß für parlamentarische Technikberatung". Damit soll dreierlei erreicht werden:Erstens. Abgeordnete aus allen Fachausschüssen, in denen technische Fragen zunehmend an Gewicht und an Bedeutung gewinnen, sollen ihr Erfahrungswissen zusammenbringen.Zweitens. Die strukturelle Verbindung mit den Fachausschüssen soll erleichtern, daß TechnikfolgenAbschätzung auf ein breites parlamentarisches Interesse stößt und nicht irgendwo in der Dunkelkammer ein Mauerblümchendasein fristet.Drittens. Es soll im Gegensatz zu den Fachausschüssen, die ja eher durch legitimen Schlagabtausch der jeweiligen Fraktionspositionen gekennzeichnet sind, ein offenes Diskussionsklima erreicht werden, in dem zur Erreichung eines bestimmten gesellschaftlichen Zieles verschiedene zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten erarbeitet und erörtert werden.Mit anderen Worten: Aufgabe des Ausschusses wäre es, demokratische Verständigungsprozesse zu kontroversen technikpolitischen Auffassungen zu organisieren. Dies ist der Leitgedanke.Es liegt auf der Hand, daß eine solche Konzeption ohne einen Ausschuß mit offenem Meinungsklima und mit der Bereitschaft zu offenen und fairen Diskussionen überhaupt nicht denkbar ist. Es liegt ebenfalls auf der Hand , daß ein klarer Minderheitenschutz in einem solchen Ausschuß unerläßlich ist. Wenn es richtig ist, daß es sich bei den neuen Techniken um Chancen, aber auch um gewaltige Gefährdungspotentiale handelt, dann reicht für eine seriöse Entscheidungsfindung in diesen manche Überlebensfragen anbelangenden Bereichen der bloße Rückgriff auf formale Mehrheitsverhältnisse zukünftig weniger denn je aus. Es waren — das wird niemand bestreiten wollen — in der Vergangenheit Minderheiten oder einzelne, die gemeinschaftliche Versäumnisse, Irrtümer und Versehen zu allererst aufgedeckt und aufgegriffen haben. In Zukunft ist es notwendig und im Allgemeininteresse, alternative Vorschläge fair und vorurteilsfrei zu prüfen.Technikfolgen-Abschätzung beim Parlament wird uns nicht vom Risiko des Irrtums befreien. Es wäre aber ein Beitrag, das Risiko zu verringern. Es wäre schließlich eine Chance, unser Parlament auch zu einer Tribüne zukunftsorientierter und zukunftsbesorgter Diskussionen zu machen, stärker denn je. Wir hätten dies im Interesse des Ansehens unseres Parlamentes auch nötiger denn je.Ich will zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Möglichkeit nutzen, dem anwesenden Bundesforschungsminister eine Frage zu stellen. Da ich davon ausgehe, daß der Kollege Riesenhuber hier das Wort ergreifen wird, möchte ich ihn fragen, ob seine Rede aus dem Jahre 1977 zum gleichen Thema, aus der ich — das räume ich gerne ein — eine ganze Menge gelernt habe,
für ihn heute noch gilt. Ich will Ihnen insbesondere ein Zitat vor Augen führen. Sie haben damals hier im deutschen Parlament gesagt:Die Kontrolle der Regierung findet im Bereich der Technik nicht statt. Das bedeutet zugleich, daß das Parlament nicht aus eigener Erkenntnis imstande ist, Position zu beziehen. Das bedeutet, daß das Parlament die Bundesregierung, daß das Parlament die Exekutive im Meinungsstreit notgedrungen im Stich läßt. Die Exekutive allein ist offensichtlich überfordert. Das Vertrauen, das
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Schreinergrundlegend ist, ist in dem umfassend erforderlichen Maß nicht geschaffen.Sie haben zudem ausgeführt:Die andere wesentliche Ursache aber ist, daß das Parlament und sein Ausschuß für Forschung und Technologie dem Herrschaftswissen der Exekutive nahezu waffenlos ausgeliefert sind und daß der Bürger dies weiß oder zumindest verspürt.Sie haben zudem auf folgendes hingewiesen — ein letztes Zitat —, indem Sie gesagt haben:Meine Damen und Herren, selbst vorausgesetzt, dieser Sachverstand— der Sachverstand der Exekutive — stünde uns— dem Parlament —in umfassendem Maße zur Verfügung und wäre umfassend neutral, unsere kleine Gruppe von Parlamentariern wäre hoffnungslos überfordert, in jeweils einzelnen Problemen diesen Sachverstand abzufragen und ihn in konkrete politische Aktion umzusetzen.Das ist präzise das Problem des Parlamentes, auf das wir hingewiesen werden. In der Bundesregierung wird Technikfolgen-Abschätzung ja in wachsendem Maße betrieben. Sie haben hier präzise genau das Gegenargument formuliert. Meine Frage an Sie ist: Halten Sie Ihre Auffassung, die Sie 1977 dem Deutschen Bundestag, damals aus der Opposition heraus, mitgeteilt haben, aufrecht? Gilt dies in dem soeben geäußerten klaren Sinne für Sie auch heute noch?Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Hitschler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Gutachten der Abteilung für Angewandte Systemanalyse des Kernforschungszentrums Karlsruhe wird die Aufgabe von Technikfolgen-Abschätzung dergestalt formuliert: Sie solle das verfügbare Wissen unter Nachweis der Wissenslücken über die Realisierungsbedingungen und Folgen des Einsatzes von Technologien möglichst antizipativ, d. h. vor der Einführung bzw. der verstärkten und modifizierten Anwendung einer Technologie, in einer tendenziell umfassenden Gesamtbilanz und entscheidungsorientiert darstellen.Aus dem interdisziplinären Ansatz der Betrachtungsweise von Technikfolgen ergibt sich in der Tat der besondere Erkenntniswert, den man Technologiefolgen-Abschätzungen zumessen darf. Auf diesem Gebiet wurden von verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen in den zurückliegenden Jahren Fortschritte in der Konzeption, bei den Analyseverfahren und Methoden von Technikfolgen-Abschätzung gemacht. Der Technikfolgen-Einschätzung bedienen sich heute bereits verschiedene Parlamente, und auch die Bundesregierung steht der TA durchaus positiv gegenüber, wie der Antwort auf die Große Anfrage zu entnehmen ist. Auch die anfängliche Skepsis von Teilen der Industrie hat sich mit der wissenschaftlichen Verfeinerung der TA inzwischen zu einer zustimmenden Haltung gewandelt.Die FDP-Fraktion näherte sich diesem Thema ebenfalls mit vorsichtigem Bedacht. Sie ist heute noch der Auffassung, daß man sich von TA-Prozessen nicht die Vorab-Lösung von ungewissen Zukunftsproblemen versprechen darf, Euphorie deshalb keineswegs angebracht ist. Untersuchungen zur TA können nichtsdestoweniger wertvolle Erkenntnisse für den politischen Entscheidungsprozeß liefern, weshalb wir den gemeinsam vorgelegten Antrag unterstützen.Wir möchten aber andererseits von vornherein klarstellen, daß TechnikfolgenAbschätzung nicht alle denkbaren Entwicklungen, die in Zukunft möglich sind, voraussehen kann und von daher Skepsis gegenüber dem Prognosewert durchaus angebracht ist, da das Unvorgesehene schwerlich kalkulierbar ist. Es spricht deshalb einiges dafür, mit den Augen der TA nicht allzu weit in zukünftige Zeiträume hineinsehen zu wollen, sondern sich auf mittelfristige Perspektiven zu beschränken.Dennoch: Der große Vorteil von Technikfolgen-Abschätzung liegt darin, die Folgen von Technik- und Technologieentwicklungen von den verschiedensten Aspekten her möglichst umfassend zu bedenken und die Erkenntnisse, die bei dieser interdisziplinären Betrachtungsweise gewonnen werden, in die gegenwärtige politische Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Technikentwicklung einfließen zu lassen.Die politische Abwägung unterschiedlicher Entscheidungsmöglichkeiten kann die Wissenschaft der politischen Seite dabei nicht abnehmen, aber sie kann helfen, diesen Abwägungsprozeß zu erleichtern, so daß die Politiker mit mehr Überzeugung als bisher sagen können, sie hätten sich nach „bestem Wissen und Gewissen" entschieden. Das Instrument der Technikfolgen-Abschätzung sollte daher dem Deutschen Bundestag als Möglichkeit zur Verfügung stehen, das Arbeitswissen der Abgeordneten zu verbessern. Sie soll neben die anderen Möglichkeiten, welche der Wissenschafliche Dienst, die Gutachtenvergabe, die Anhörungen oder die Einrichtung von Enquete-Kommissionen bieten, treten.Bei der Frage, in welcher Form die Schaffung einer Beratungskapazität für TA beim Deutschen Bundestag gestaltet werden soll, haben wir uns u. a. von folgenden, für uns wesentlichen Überlegungen leiten lassen.Erstens. Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß an TA-Studien qualitativ hohe wissenschaftliche Standards angelegt werden müssen, um seriöse, mit wertfreier Methodik ermittelte Ergebnisse zu erhalten.
Dies kann nur gewährleistet werden, wenn die Forschungskapazität der Universitäten, Großforschungseinrichtungen und sonstigen öffentlichen und privaten wissenschaftlichen Institutionen, die sich nachgewiesenermaßen in entsprechenden Untersuchungsfeldern als befähigt ausgewiesen haben, in Anspruch
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Dr. Hitschlergenommen wird. Gottlob verfügen wir in der Bundesrepublik Deutschland bereits über eine entsprechende TA-Infrastruktur.Eine bei der Bundestagsverwaltung selbst angesiedelte eigene Beratungskapazität von Wissenschaftlern, wie sie von der SPD vorgeschlagen wird, konnte daher für die FDP nicht in Frage kommen, weil vor allem der interdisziplinäre Ansatz nicht hätte gewährleistet werden können, denn in der erforderlichen Breite, wie dies dann notwendig gewesen wäre, wären Personalbereitstellungen nicht möglich gewesen. Aber wir sagen auch ganz offen, daß uns der dann praktizierte Einstellungsproporz mit all seinen nachteiligen Konsequenzen nicht gepaßt hätte und nebenbei sicherlich auch die teuerste Lösung gewesen wäre. Der Aufbau eines weiteren bürokratischen Apparates hätte seine Eigengesetzlichkeit dergestalt entwickelt, daß uns die dann aus dieser Verwaltung angeregten und für unumgänglich gehaltenen TA-Studien aus Nasen und Ohren gequollen wären.Zweitens. Die Institution, die einen Auftrag zur Erstellung einer TA-Studie erhält, darf kein Dauermonopol erhalten.
Durch die Ausschreibung und zeitliche Begrenzung wird ein Wechsel ermöglicht, der auch von der Sache her notwendig erscheinen kann. Die beauftragte Institution muß auch personell in der Lage sein, ständig den Kontakt zum Ausschuß zu halten, dem wir die Aufgabe übertragen wollen. Sie muß auch in der Lage sein, die wissenschaftliche Studie in eine für die Abgeordneten, aber auch für die Öffentlichkeit verständliche Sprachform zu bringen.
Ein Wettbewerb um interessante Beauftragungen durch den Deutschen Bundestag wird seinerseits die Technikfolgen-Abschätzung als wissenschaftliche Disziplin fördern. Der von der Enquete-Kommission vorgelegte Bericht zum gentechnologisch hergestellten Rinderwachstumshormon ist ein Beispiel dafür, wie eine solche TA-Studie konkret aussehen könnte.Drittens. Es wird allenthalben betont — Frau Kollegin Rust hat das heute auch wieder getan — , wie wichtig die Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen sei. Von der Partizipation am gesellschaftlichen Diskurs ist hier die Rede. Den GRÜNEN gelang dabei sogar eine bezeichnende Wortschöpfung: Sie sprechen in ihrem Antrag von den „Laienexperten und Laienexpertinnen" ,
wobei den seriösen Wissenschaftlern — sie werden begrifflich in ein Elitenkartell verwandelt — Betriebsblindheit unterstellt wird, während die Laienexperten den kreativen Part übernehmen. Das Ganze nennt man dann „demokratische Öffnung eines wissenschaftlichen Prozesses" und einen „Beitrag zur Verbesserung der politischen Kultur".Allein, die Absicht ist zu durchsichtig, Frau Rust, daß hier einer Laienspielschar eine Bühne geboten werden soll, auf der die wissenschaftliche Diskussion in gehobenes Friseurschwengelniveau austariert werden soll,
und ein Instrument geschaffen wird, mit dem es gelingt, TA-Untersuchungen bereits während des Erarbeitungsprozesses mit einem entsprechenden medienbegleitenden Spektaculum zu beeinflussen.
Genau das wollen wir nicht. Auch die negativen Erfahrungen, die man mit der autonomen Pressepolitik des OTA in den Vereinigten Staaten gemacht hat, möchten wir bei uns vermeiden. Wir halten die Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen in der Tat für erforderlich, aber ihre Meinungen und Urteile sollten der durchführenden wissenschaftlichen Institution gegenüber geäußert werden und so in die Bearbeitung der Studie eingehen und in deren Rahmen erscheinen. Wir sollten es aber tunlichst vermeiden, wie dies der SPD-Antrag vorsieht, Beiräte zu bilden und damit Laien eine Autorität anzudichten, die ihnen nicht zukommt. Es läßt sich wohl leicht vorstellen, daß einem Gewerkschaftssekretär in der Öffentlichkeit eine andere Bedeutung zugemessen wird, wenn er sich als Beirat des TA-Ausschusses des Deutschen Bundestages beispielsweise zur Frage der Wirkungen technischen Fortschritts auf die Arbeitsmarktverhältnisse äußert. Nein, wir setzen hier nicht auf verliehene Kompetenz, wir bauen auf erworbene Kompetenz. Wir möchten keinesfalls einer Laienspieldarbietung für die Boulevardpresse hier den Weg ebnen. Dazu ist uns die Thematik zu ernst.Viertens. Die Konstruktion der TA-Institutionalisierung, wie wir sie vorschlagen, vermeidet, daß es zu einer Flut von TA-Prozessen kommt, wie dies zu erwarten wäre, wenn wir den Vorschlägen der GRÜNEN folgen wollten. Die wollen eine Stiftung haben, in deren Mitgliederversammlung u. a. Ökoinstitute, Bürgerinitiativen und schwer organisierbare Bürgergruppen sitzen sollen. Die Mitgliederversammlung hat das Themenvorschlagsrecht.
Jetzt wird es kurios: Bei Wissenschaftsdiffusion, also wenn ein Ökoinstitut und die Max-Planck-Gesellschaft unterschiedlicher Auffassung sind, entscheidet dann ein „Bürgergutachten". Schwejk läßt grüßen! Nein, so nicht mit uns! Dem wöchentlichen Umweltschadstoff würde damit eine monatliche Weltuntergangsapotheose zur Seite gestellt, um grüner Ideologie einen möglichst breiten Teppich auszulegen. Das wollen wir hier bei uns vermeiden.Nun ist gelegentlich Kritik an unserem Modell in der Form geäußert worden — auch heute hier wieder — , daß bei Mehrheitsentscheidungen im Ausschuß der Minderheit nicht die Möglichkeit eingeräumt sei, TA-Prozesse ihrerseits in Gang zu setzen. Dies scheint mir eher ein theoretisches Argument zu sein denn eines von praktischer Bedeutung. Denn auch in dieser Enquete-Kommission — das wissen Sie — mußten wir uns und haben wir uns einvernehmlich auf die Themenfestlegung geeinigt, und ich neige
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Dr. Hitschlerheute sogar mehr dazu, zu sagen: Es sollten eigentlich Themen mit Zweidrittelmehrheit oder gar mit Einstimmigkeit ausgewählt werden. In der Praxis wird es wohl meistens so sein. Denn Grundlage eines Beschlusses muß ja wohl eine sich zumindest abzeichnende Entwicklung sein, die weder geleugnet noch herbeigezaubert werden kann, sondern real ist.Unterschiedliche Auffassungen kann es dann nur über die Frage der Gewichtung und der Priorität bei mehreren gleichzeitig anstehenden Themenvorschlägen geben. Bei der Abwägung dieser Fragen kann man sich auf Usancen einigen, die einer Minderheit entgegenkommen, wie sie im parlamentarischen Raum auch andernorts gepflegt werden.
Wir meinen, mit diesem Antrag eine gute Lösung der Institutionalisierungsprobleme von Technikfolgen-Abschätzung vorgelegt zu haben.Wir bitten Sie, der Ausschußüberweisung zuzustimmen und den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN abzulehnen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie, Herr Dr. Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich möchte sehr gern als erstes das aufgreifen, was Kollege Schreiner hier als Frage gestellt hat: Ist das, was er aus meiner Rede von vor zwölf Jahren zitiert hat, heute noch meine Auffassung? Kollege Schreiner, ich möchte es einmal auf zwei Ebenen angehen.Das erste ist die Frage: Wie behandeln wir die Sache? Das zweite ist die Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament in einer solchen Frage? Beide Fragen stehen an.Bei der Behandlung der Sache ist es so, daß ich in diesen Jahren versucht habe, aus dem Amt, das ich jetzt zu verantworten habe, Fragen aufzuarbeiten, die wir erkennen, die ich für wichtig halte, die ich zur Diskussion stelle, und in einer Weise aufzuarbeiten, daß sie Prozesse gestalten helfen, die Ergebnisse öffentlich machen und in die Arbeit einführen. Ich werde im Zusammenhang mit der Sache einige Beispiele hierzu vortragen.Zum Verhältnis zwischen Regierung und Parlament bin ich in der Tat ebenfalls auch heute noch der Auffassung, die ich damals vertreten habe. Ich bin der Auffassung, daß ein Parlament ein solches Instrument braucht. Ich bin glücklich, daß das Parlament sich heute ein solches Instrument schafft. Ich halte es für notwendig, daß das Parlament hier Partner der Regierung bei dem bestmöglichen erreichbaren Wissen ist. Ich halte es für wünschenswert, daß sich das Parlament insgesamt in wachsendem Maß mit solchen grundsätzlichen Fragen befaßt, die vielleicht des aktuellen Glamours einer glänzenden Diskussion mit großartigen Ereignissen entbehren, die aber doch das, was wir in diesen Jahren gemeinsam gestalten, in sehr grundlegender Weise prägen. Ich sehe die Gefahr unserer gemeinsamen Arbeit auch im Parlament — wenn Sie mir das erlauben; ich bin auch noch Parlamentarier — darin, daß wir vor lauter Beschäftigung mit dem Aktuellen, mit dem Dringlichen nicht zu einer hinreichenden Befassung mit dem Wichtigen kommen und daß daraus eine Scheinwelt entsteht, in der in den Köpfen der Menschen Vordergründigkeiten das Denken zudecken, aber daß das, was die Wirklichkeit prägt, was die Bedingungen unseres Lebens formt, was das, was wir in Zukunft zu verantworten haben, eigentlich ausmacht, nicht mehr in hinreichendem Maß Gegenstand der politischen Auseinandersetzung wird — im Streit oder im Konsens; aber in der Auseinandersetzung.Insofern stehe ich durchaus zu dem, was ich damals gesagt habe. Ich habe versucht, aus den jeweiligen Verantwortungen, die ich hatte, meinen Beitrag zu leisten, und ich begrüße es außerordentlich, daß in der Weise, wie dies ja grundsätzlich von allen Fraktionen begrüßt worden ist, heute ein solches Instrument geschaffen wird.Dabei brauchen wir hier über die Notwendigkeit im einzelnen und ihre Begründung nicht zu sprechen. Kollege Rüttgers hat es hier in seiner sehr grundsätzlichen, eingehenden Rede an mehreren Punkten festgemacht. Es sind sehr einfache Sachverhalte; und sie kommen zusammen. Da ist einerseits ein rapides Wachstum neuer Techniken in die Wirklichkeit, in die Märkte, in die Prägung von Gesellschaften, in die Veränderung von Umwelt. Und es ist andererseits eine wachsende Menschheit, eine Menschheit, die rapid weiter wächst. Sie wird hier in den nächsten 20 Jahren stärker als in den letzten 40 Jahren wachsen. In 20 Jahren werden wir 21/2 Milliarden Menschen mehr als heute haben. Das sind etwa so viele Menschen, wie in den 50er Jahren auf der ganzen Erde gelebt haben. Das bedeutet, daß wir hier eine wachsende Entwicklung von Techniken haben, die wir brauchen — Rüttgers wies darauf hin —, um mit dem Problem einer wachsenden Menschheit fertigzuwerden; daß diese Techniken exponentiell durch eine wachsende Zahl von Menschen aufgegriffen werden und daß damit die Probleme erheblich wachsen.Die Art der Risiken ist ganz verschieden. Es sind die Risiken einer nicht richtigen, nicht verantwortlichen Anwendung von Technik. Es sind die Risiken unvorhersehbarer Veränderungen. Es sind die Risiken der schieren Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, die in sich vielleicht nicht gut und nicht schlecht ist, die wir aber nicht mehr bewältigen können, weil sie zu schnell vonstatten geht und weil die Menschen sie nicht mehr verstehen, weil sie nicht mehr ihre Identität in der Wirklichkeit finden. Deshalb finden sie dann nicht mehr die Kraft, ihr eigenes Leben selbst mitzugestalten, so daß es in einer gewissen Weise uneigentlich werden könnte.Hier ist Technikfolgen-Abschätzung kein Patentrezept. Ich warne vor dem Glauben, wir könnten durch irgendwelche simplen Methoden einen sehr grundsätzlichen Prozeß, der uns bis an die äußersten Gren-
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Bundesminister Dr. Riesenhuberzen unserer Leistungsfähigkeit fordert, administrativ einfach abhaken. So wird es nicht sein.
— Ich robbe mich an ein Thema heran, verehrte Frau Kollegin. Ich denke hier ein bißchen diskursiv um ein Thema. Ich bin gerne bereit, das auch sehr zentral zu machen. Ich knalle Ihnen auch gerne Thesen hin.
— Nein. Liebe gnädige Frau, wir können jetzt eine Debatte führen, in der ich gerne meine Erfahrungen aus den Jahren 1977 bis 1979 beitrage. Aber ich halte die Aussagen, die von beiden Seiten des Hauses gemacht worden sind, für nobel und richtig, nämlich daß es zu nichts führt, wenn man die Rollenverständnisse früherer Regierungen und früherer Oppositionen gegeneinanderhält.Erforderlich ist, daß TechnikfolgenAbschätzung mit ihren Möglichkeiten eingesetzt wird. Ich habe nicht über das Parlament zu sprechen und zu entscheiden — das verantworten Sie — , sondern über das, was ich von der Regierung her angelegt habe und was in der Antwort auf die Große Anfrage angegangen worden ist.
— Es ist eine außerordentlich substantielle Antwort. Die Zahl der Seiten, die wir vollschreiben, ist nicht immer proportional zu dem Inhalt. Das gilt auch für vieles andere.In der Antwort auf die Große Anfrage ist ein Überblick über eine Zahl von TA-Projekten enthalten, wie sie es vorher noch niemals gab. Unter keiner Regierung wurde so umfassend in verschiedensten Bereichen an TA-Projekten gearbeitet. Unter keiner Regierung wurde so umfassend das, was an institutionellem Wissen vorhanden ist, einbezogen und gefordert. Unter keiner früheren Regierung haben wir so umfassend den Verbund zwischen der Wissenschaft aus den unterschiedlichen Bereichen auf Ziele hin organisiert, auch den Verbund zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften.Wir werden bei den technikzentrierten Bereichen weitergehen. Wenn wir Fertigungstechnik als neue Technik entwickeln, haben wir TA-Begleitung. TA gibt es bei Projekten im Bereich Arbeit und Technik. TA gibt es bei Projekten zur Biotechnologie und zur Gentechnologie. Das ist ein Bereich, den wir weiter zu gestalten haben werden. Beispiele hierfür haben wir gebracht.Das andere ist eine umfassende TechnikfolgenAbschätzung. Das steht dem gegenüber. Beides muß sein. Ein Teil der glänzenden Studien vom Office for Technology Assessment bezieht sich auf solche punktuellen Fragen. Aber es geht auch um Querschnittsfragen, etwa um die Frage: Wie ändert Mikroelektronik, Informationstechnik unsere Arbeitswelt, unsere Ausbildung? Was bedeutet der demographische Wandel für die Bewältigung gesellschaftlicher Fragen?Was bedeutet die Bewältigung des Alters in einer Bevölkerung, in der immer mehr Menschen nicht nur alt werden, sondern in eigener Kompetenz alt werden können, wofür wir die Voraussetzungen schaffen können? Was bedeuten die Prozesse des Klimas — Herr Rüttgers hat darauf hingewiesen — , die Veränderung des Klimas durch Entscheidungen oder durch unterlassene Korrekturen von Menschen?Es geht um die Frage der Auswirkungen der Veränderungen auf die Menschen. Die Fragen stellen sich in großer Breite. Ich weise nur mit einem Stichwort auf das Problem hin, das wir in einer früheren Debatte ausführlich behandelt haben: Was bedeutet das, was wir technisch ändern können, was wir ethisch verantworten können?Die Art und Weise, wie wir die Frage des Umgangs mit menschlichem Erbgut seit 1982/83 in einem umfassenden Dialog aufgearbeitet haben, war, glaube ich, ein exemplarischer und grundsätzlicher Prozeß, der zeigt, was wir vom Dialog halten.Dabei halte ich es für einen grundsätzlich verfehlten Ansatz, von den Kirchen und von den Gewerkschaften als — ich weiß nicht mehr, wie Sie sagten — „abständigen Großstrukturen" zu sprechen. Das sind Organisationen, die jeweils von Grundsätzen, von Interessen, von Zielen her als Gesprächspartner aus ihrer Verantwortung die Gesellschaft prägen. Natürlich sind sie für uns Partner, und wir haben sie in die Prozesse einbezogen.Es kann nicht so sein, als ob hier fachliche Qualität und wissenschaftliche Kompetenz durch Gesinnung ersetzt werden könnten. Es gibt keinen Ersatz für Qualität. Nur wenn wir eine hohe Qualität in Technikfolgen-Abschätzung erreichen, erhalten wir die Grundlage, die wir brauchen, denn TechnikfolgenAbschätzung wird hier sicher kein Ersatz für Politik sein. Technikfolgen-Abschätzung wird Politik durch das Aufzeigen von Wenn-Dann-Alternativen ermöglichen. Technikfolgen-Abschätzung wird auch keine Verhinderung von Technik sein, wie manche befürchtet haben; sie wird Technik erst ermöglichen.Ich frage: warum? Weil uns mit neuen Techniken neue Chancen zuwachsen, weil mit neuen Chancen neue Freiheit entsteht. Aus neuer Freiheit muß neue Verantwortung wachsen, wenn wir gestalten wollen, was wir gestalten können. Nur wenn dies geschieht, wenn die Verantwortung gleichzeitig zuwächst, wenn wir das Wissen haben, das sie begründet, wenn wir die Fragen an die Wissenschaft zu stellen lernen, die die Wissenschaft beantworten kann, wenn der Wissenschaftler eine Sprache spricht, die ein normaler Mensch zu begreifen und zu interpretieren vermag, dann haben wir die Grundlage, aus einem umfassenden Dialog heraus die Wirklichkeit in Verantwortung zu gestalten. Dem versuchen wir zu dienen, jeder an seinem Platz. Ich freue mich, daß wir hier im Parlament einen starken Partner gewinnen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Die Bewältigung der
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Frau Bulmahnnicht beabsichtigten Folgen des wissenschaftlichen und technischen Wandels ist zu einer zentralen politischen Frage geworden. Wenn einmal getroffene Entscheidungen und Weichenstellungen nicht mehr zu überblickende und zu kontrollierende globale Auswirkungen haben und unser Leben, aber auch das unserer Kinder und Kindeskinder beeinträchtigen und gefährden können, wenn eine Korrektur, eine Rücknahme einmal getroffener Entscheidungen nur noch unter größten Schwierigkeiten oder gar nicht mehr möglich sind, dann muß die Frage nach der Legitimität bestimmter technologischer Entwicklungen und nach der Verantwortung sowie der Verantwortbarkeit technologischer Entwicklungen und Entscheidungen neu gestellt und beantwortet werden.Grundsätzliche Fragen der sozialen und politischen Gestaltung sind und müssen, meine Damen und Herren — das ist richtig bemerkt worden —, dem demokratisch legitimierten Parlament vorbehalten bleiben. In unserem Alltag zeigt sich jedoch ein anderes Bild, ob es um die Schadstoffbelastung der Gewässer, die milliardenschweren Programme der Weltraumfahrt, um den Transrapid oder um die Humanisierung der Arbeitswelt geht; die eigentlichen Entscheidungen werden nicht im Deutschen Bundestag gefällt.
Die Technologiepolitik, Herr Riesenhuber, wird nach wie vor in erster Linie durch Regierungshandeln geprägt. Technologiepolitische Entscheidungen werden und sind weitgehend in ein vorpolitisches Feld abgedrängt und erfolgen unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit in Absprache zwischen Ministerialbürokratien und den interessierten Kreisen von Wirtschaft und Wissenschaft.
Es freut mich ja, Herr Riesenhuber, wenn Sie sich hier ausdrücklich zur TA bekennen, aber warum, Herr Riesenhuber, handeln Sie dann anders?
Wo ist denn die Technikfolgen-Abschätzung zu Transrapid, wo ist denn die Technikfolgen-Abschätzung zu Ihrem Weltraumabenteuer, wo ist denn eine umfassende Technikfolgen-Abschätzung zur Anwendung der Gentechnologie? Nur ein Bruchteil von dem, dem Sie das Etikett „TA" umhängen, genügt dem, was in einem TA-Prozeß tatsächlich untersucht werden sollte. Sie haben auf die von Ihnen durchgeführten zahlreichen Technikfolgen-Abschätzungsprozesse verwiesen. Ich habe, um Ihnen nicht Unrecht zu tun, in der Vergangenheit danach gefragt, welche Technikfolgen-Abschätzungsprozesse Sie im Rahmen des Programms Fertigungstechnik in dem Zeitraum von 1984 bis 1988 durchgeführt haben. Die Antwort war sehr spärlich: Ganze fünf TechnikfolgenAbschätzungsprozesse sind durchgeführt worden. Ich nenne Ihnen zwei, um Ihnen ein Beispiel zu geben. Der eine bezog sich auf die Auswirkung von Produktionsplanung und Steuerungssystemen in kleinen und mittleren Betrieben; das wird als Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung bezeichnet. Ein anderer ist eine Wirkungsanalyse der indirekt spezifischenFörderung zur betrieblichen Anwendung von CAD-und CAM-Systemen. Ich will nicht abstreiten, daß es wichtige Untersuchungen sind. Nur, dies als Technikfolgen-Abschätzung zu bezeichnen, ist ein glatter Hohn, Herr Riesenhuber.
In diesen Analysen werden nur Teilaspekte untersucht. TA-Prozesse müssen aber neben den ökonomischen Auswirkungen in gleichem Maße soziale, ökologische, politische, rechtliche und kulturelle Auswirkungen untersuchen.
In den genannten Beispielen geschieht weder dies noch sind sie interdisziplinär angelegt, von einer aktiven Beteiligung der Betroffenen überhaupt nicht zu reden.Bei einem derartig inflationären Gebrauch des Technikfolgen-Abschätzungsbegriffes, Herr Riesenhuber, wundert es mich auch nicht, wenn Sie in grundlegenden technologiepolitischen Entscheidungen keine TA durchführen, oder würden Sie es etwa als TA bezeichnen, wenn der Bundesforschungsminister und der Bundesverkehrsminister die Firma Thyssen beauftragen, eine Anschubgruppe für Transrapid einzusetzen, um danach dann die Entscheidung als Regierung zu fällen.Der weitgehende Verzicht, meine Damen und Herren, auf die Kontrolle der Regierung, der Verzicht auf die Entfaltung eigenständiger technologiepolitischer Initiativen — das richtet sich an uns — schadet dem Ansehen des Parlaments und unterhöhlt tendenziell das System der parlamentarischen Demokratie. Wenn Umfragen zufolge immer mehr Bundesbürgerinnen und -bürger eine stärkere Überwachung und Kontrolle der Technik fordern, zugleich aber uns, den Politikerinnen und Politikern, und dem Parlament immer weniger zutrauen, vorausschauende, gesellschaftlich und ökologisch vernünftige Entscheidungen zu treffen, dann ist das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Parlament nachhaltig gestört.
Diesen Verlust des Vertrauens in die Handlungsfähigkeit des Parlaments in technologiepolitischen Fragen müssen wir ernst nehmen und endlich den in uns gesetzten Erwartungen und unserer Verantwortung gerecht werden.
Meine Damen und Herren, Verantwortung kann aber nur übernehmen, wer frei entscheiden kann, wer die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten hat, wem Alternativen zur Verfügung stehen, wer sich nicht angeblichen oder vermeintlichen Sachzwängen zu beugen hat. Dies gilt auch für Entscheidungen über technische Entwicklungen, über deren Einsatz und Anwendung.Wissenschaft und Technik sind keine autonomen Größen, die sich in einem wertfreien Raum entfalten, die einer naturwüchsigen Gesetzlichkeit unterworfen sind. Technik wird von Menschen gemacht. Entscheidungen über Technikentwicklung und -anwendung
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Frau Bulmahnsind daher auch immer Wertentscheidungen, Entscheidungen über die Qualität von Leben, Arbeit und Wohnen, Entscheidungen über unseren Umgang mit der Natur, Entscheidungen über die Lebenschancen der kommenden Generationen.Unsere Pflicht zur Kontrolle der Regierung, zur Schadensvorsorge, zur sozial- und umweltverträglichen Gestaltung der technologischen Entwicklung können wir nur gerecht werden, wenn wir auch im Parlament die technische Entwicklung ständig beobachten, eigene Initiativen entfalten und die Rahmenbedingungen setzen. Verantwortungsbewußte Entscheidungen sind nur auf einem gesicherten Fundament von Kenntnissen möglich. Verantworten kann ich nur etwas, wenn ich die Folgen meiner Entscheidung abschätzen kann.Mit dem Instrument der Technikfolgen-Abschätzung ließe sich die Kompetenz des Deutschen Bundestages durch frühzeitige Bereitstellung von Folge- und Gestaltungswissen erheblich stärken. Technikfolgen-Abschätzung ist mehr als reaktive Technikbewertung und mehr als die Minimierung von Risiken. Sie eröffnet erst die Chancen für eine humane Gestaltung des technologischen Wandels, und sie kann wesentlich zur frühzeitigen Identifizierung zukunftsträchtiger, ressourcenschonender Technologien, zur Eröffnung von Humanisierungspotentialen, zur Erkenntnis von Markt- und Wachstumschancen beitragen.Für die Durchführung und Begleitung entsprechender Technikfolgen-Abschätzungsprozesse benötigt der Bundestag aber eigenen, von der Exekutive unabhängigen Sachverstand, eine auf die spezifischen Bedürfnisse des parlamentarischen Beratungsprozesses zugeschnittene wissenschaftliche Einheit für TechnikfolgenAbschätzung und -Bewertung. Dies hat sich in der Druchführung der Technikfolgen-Abschätzung für das Rinderwachstumshormon immer wieder gezeigt.Der Verzicht auf eine solche Einrichtung oder die Übertragung ihrer Aufgaben auf eine Institution außerhalb des Deutschen Bundestages — wie von den Koalitionsparteien vorgeschlagen — stellt die notwendige praxisorientierte, auf parlamentarische Entscheidungsprozesse bezogene Begleitung der Technikfolgen-Abschätzungsprozesse in Frage. Nötig wird bei diesem Modell zudem eine Vielzahl von zusätzlichen bürokratischen Abläufen, nur um die Kommunikation und Abstimmung zwischen Bundestagsgremien, Abgeordneten, externer Einheit und beauftragten Institutionen sicherzustellen. Fundierte Politikberatung, die wir benötigen, bleibt dabei auf der Strecke. Sie erstickt im Bürokratiedschungel.Der ausdrückliche Verzicht auf eine angemessene Beteiligung von parlamentarischen Minderheiten ist ein Verrat am Gedanken der Technikfolgen-Abschätzung. Die Kompetenz des gesamten Parlaments kann nur dann gestärkt werden, wenn ein qualifizierter Minderheitenschutz gewährleistet ist.
Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, instrumentalisieren die Technikfolgen-Abschätzung mit Ihrem Vorschlag zur bloßen Absicherung der Regierungspolitik.
Wie, meine Damen und Herren — so frage ich Sie — , kann Technikfolgen-Abschätzung ihre eigentliche Funktion, etwa die Bereitstellung von Handlungsalternativen, noch erfüllen, wenn die Mehrheitsparteien jedes mißliebige oder konfliktträchtige Thema abschmettern können, wenn sie alle Personalentscheidungen, alle Themen, alle mit der Untersuchung zu beauftragenden Institutionen bestimmen können? Unter solchen Voraussetzungen kann das Parlament nicht zu einem Forum vorausdenkender Technikgestaltung werden. Und besonders erschrekkend finde ich, daß sich ausgerechnet eine liberale Partei dafür hergibt.
Eine derart rigide Handhabung des Mehrheitsprinzips verschüttet zugleich die in dem Instrument der Technikfolgen-Abschätzung liegende Chance, einen öffentlichen Dialog über die Chancen, Risiken und Alternativen, über den konsensfähigen Weg der technologischen Entwicklung einzuleiten. Forscher und Politiker haben geirrt, und Sie, Herr Hitschler, müssen das eigentlich wissen. Meine Damen und Herren, wir brauchen, gerade weil wir geirrt haben, die offene Diskussion um die Ziele, um die Sinnhaftigkeit dieser Ziele, um die Alternativen der technischen Entwicklung, wenn wir wieder zu einem Konsens in den wesentlichen technologiepolitischen und gesellschaftlichen Fragen kommen wollen.Konsens muß aber erarbeitet werden. Er läßt sich nur dann herstellen, wenn gerade die strittigen Punkte nicht ausgeklammert, sondern zum Gegenstand der Kontroverse und des Dialogs gemacht werden.
Den politischen Willen hierzu, den Willen zu einem neuen Politikstil vermisse ich in Ihrem Vorschlag.Meine Damen und Herren, ein besonderes Gewicht ist auch auf die Einrichtung und Förderung von TA-Institutionen in der Bundesrepublik zu legen. Es hat sich gezeigt, daß wir hier nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen. Besonderes Gewicht ist weiter auf die Einrichtung und Förderung unabhängiger Institutionen zu legen. Die Defizite, die hier bestehen, hat das von der Enquete-Kommission in Auftrag gegebene Gutachten zur Abschätzung der mit einer Einführung des Rinderwachstumshormons rBST verbundenen Folgen mehr als deutlich gemacht. Bereits bei der Suche nach scheinbar so selbstverständlichen Frage wie nach den Folgen eines Mißbrauchs von rBST für die Umwelt, den Auswirkungen auf die Tierzucht, den wirtschaftlichen Konsequenzen des rBST-Einsatzes oder den Möglichkeiten zur Kontrolle des Einsatzes von rBST stießen die Göttinger Agrarwissenschaftler ins Leere. Ausmachen konnten sie allen-
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Frau Bulmahnfalls den wiederholten Nachweis, daß rBST die Milchleistung der Kühe erhöhe.
Die Ursachen für diese Informationslücken und einseifige Forschungsausrichtung sehen die Forscher in der allzu großen Abhängigkeit der Hochschulforschung von industriellen Aufträgen. Um einen ordnungsgemäßen Forschungs- und Lehrbetrieb sicherzustellen, sind die Institute zur Zeit darauf angewiesen, Drittmittel einzuwerben. Wer sich von den etablierten Forscherinnen und Forschern, die sich in der rBST-Forschung einen Namen gemacht haben, kritisch zum Thema äußert, verliert Geld und Renommee. Sie sägen sich sozusagen den Ast selber ab, auf dem sie sitzen.
Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir die unabhängige Forschung stärken, die öffentlichen Forschungseinrichtungen von der Konkurrenz mit privaten Instituten befreien und uns für die Förderung von Parallelforschung und solchen Bereichen verstärkt einsetzen, die von der Privatwirtschaft wegen mangelnder Rentabilität und mangeldem Eigeninteresse ausgeklammert werden. Nur dann können wir eine umfassende Technikfolgen-Abschätzung überhaupt durchführen.Meine Damen und Herren, geben Sie der Technikfolgen-Abschätzung eine Chance! Zeigen Sie genügend Weitsicht; denn die Regierungsmehrheit von heute, meine Damen und Herren, ist die Parlamentsminderheit von morgen. Handeln Sie als verantwortungsvolle Parlamentarierinnen und Parlamentarier
und stärken Sie die Rechte des gesamten Parlaments. Unterstützen Sie deshalb unseren Antrag!
Herr Kollege Jäger, ich muß mich entschuldigen. Ich dachte, die Zeit wäre abgelaufen. Sonst hätte ich natürlich gefragt, ob eine Zwischenfrage zugelassen wird.
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Kronenberg.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Bulmahn, Sie haben, wenn ich das richtig verstanden habe, gerade gesagt, es habe nur drei oder vier Technikfolgen-Abschätzungen gegeben. Nun weiß ich ja, daß man sich über den Charakter solcher Studien unterhalten kann. Aber wenn Sie einmal in die Drucksache schauen, die uns heute zur Beratung vorliegt, nämlich die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage, dann wird doch deutlich — ich habe es in der Kürze der Zeit gar nicht ganz durchzählen können — , daß es erheblich mehr sind; wahrscheinlich sind es mehr als 50, vielleicht sogar 60. Eines ist also jedenfalls richtig: So notwendig Technikfolgen-Abschätzung beim Parlament ist — und da sind wir ja einig — , sollten wir uns doch darüber freuen, daß die Regierung ihre Aktivität in den letzten Jahren hier gewaltig gesteigert hat.
Meine Kolleginnen und Kollegen, die Enquete-Kommission, über deren Empfehlungen wir hier heute beraten, konnte Gott sei Dank an Arbeitsergebnisse anknüpfen, die ihre Vorgängerin in der 10. Legislaturperiode bereits vorgelegt hat. Zwar hat sich die jetzige Kommission in erster Linie mit den Bedenken auseinanderzusetzen gehabt, die gegen den damaligen Vorschlag geltend gemacht worden sind. Dabei wurde freilich klar, daß sich diese Bedenken beinahe ausschließlich gegen die spezielle Form der damals vorgeschlagenen Institutionalisierung richteten und nicht gegen die Institutionalisierung als solche. Folgerichtig haben wir die Forderung von damals bekräftigt, eine ständige Beratungskapazität hier einzurichten. In der Begründung dieser Forderung greifen wir weiterhin auf die Argumentation der Kommission von damals zurück. Ich denke, das ist ein legitimer Anlaß, heute auch denen zu danken, die damals in der Kommission, aber auch im Sekretariat an der Erarbeitung dieses Berichts mitgewirkt haben.
— Ich möchte ausdrücklich auch dem früheren Kollegen Bugl für seine vorbildliche Arbeit von damals danken.
Die Enquete-Kommission hat sich nicht darauf beschränkt, nur die Frage der Institutionalisierung von Technikfolgen-Abschätzung beim Parlament zu beraten, sondern wir haben uns auch der Abschätzung und Bewertung konkreter Technikfolgen zugewandt. Wir haben inzwischen einen ersten Bericht vorgelegt, und zwar zum gentechnologisch hergestellten Rinderwachstumshormon. Es handelt sich hierbei um eine exemplarische Technologie, für die — wie Sie wissen — im Deutschen Bundestag aktueller Beratungs- und auch Entscheidungsbedarf besteht.Das rekombinierte Bovine Somatotropin stößt auf Bedenken, die vom Parlament gründlich geprüft werden müssen. Die Tatsache, daß wir nur Handlungsoptionen aufgezeigt und keine konkreten Handlungsempfehlungen gegeben haben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in allen angestellten Überlegungen, Abwägungen und Bewertungen die Bedenken deutlich im Blick sind.
In dem Bericht sind über die Kriterien für die arzneimittelrechtliche Zulassung von rBST hinaus möglichst alle Folgendimensionen betrachtet worden. Das gilt insbesondere für die produktionstechnischen, ökonomischen, agrarstrukturellen, sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Wirkungen von rBST.Ich möchte hier besonders auf die Tatsache hinweisen, daß mit dem der Kuh eingespritzten rBST der
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Dr. KronenbergBereich der physiologischen Schwankungen des natürlichen BST verlassen wird, so daß möglicherweise auf Dauer die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im hormonalen Regulationssystem gefährdet ist. Ich finde es eine bedrückende Vision: die „Turbo-Kuh", die künftig täglich 251 Milch statt 15 1 gibt, die aber am Dauertropf des gentechnisch hergestellten Rinderwachstumshormons hängt, weil sonst der Hormonhaushalt nicht mehr zu regulieren ist.
Wir müssen auch ernsthaft prüfen, ob rBST wirklich als Arzneimittel eingeordnet werden soll. Das Rinderwachstumshormon ist schließlich primär ein leistungsfördernder Stoff und kein Heilmittel. Während wir bereit sind, bei Heilmitteln negative Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, haben wir bei leistungsfördernden Stoffen dazu weiß Gott keinen Anlaß.
Ich bin sicher, wenn die fünf Handlungsoptionen, die wir aufgezeigt haben, in den Ausschüssen beraten werden, wird dem besonderen leistungsfördernden Charakter dieses Stoffes Rechnung getragen.Noch ein Wort zu den fünf Handlungsoptionen. Ich meine, das Parlament sollte nach gründlichen Beratungen seine Entscheidung in dem Feld ansiedeln, das durch die Option „Verbot von rBST" sowie durch die Optionen „Zulassung von rBST mit bestimmten Auflagen" einerseits und „Ergreifen von politischen Begleitmaßnahmen beim Zulassen von rBST" andererseits abgesteckt ist.
Dabei kann die vierte Option „Änderung der Zulassungsbestimmungen" ein Weg, vielleicht ein zusätzlicher Weg sein, die richtige Entscheidung zu treffen.Die fünfte Option schließlich, die kein „Eingreifen von rBST-spezifischen politischen Maßnahmen" vorsieht, kommt wohl nur dann in Betracht, wenn sich herausstellen sollte, daß die vorhandenen Instrumente ausreichen, um unerwünschte Folgen von rBST abzuwenden.Wir haben uns, wie dem Bericht zu entnehmen ist, auch mit Fragen der Forschungsorganisation befaßt. Dieses war ein besonders heikler Versuch, weil wir uns natürlich vor unzulässigen Verallgemeinerungen hüten wollten. Ich denke aber, daß wir uns bei den weiteren Beratungen mit den dort getroffenen Feststellungen gründlich beschäftigen sollten, denn auch zukünftig wird die Qualität von Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung für das Parlament entscheidend davon abhängen, auf welche Forschungseinrichtungen zurückgegriffen werden kann und in welcher Weise dieser Rückgriff geschieht. Aus diesem Grunde wollten wir dem Parlament nicht die Beobachtungen vorenthalten, die wir gemacht haben.Ich möchte abschließend noch einmal auf den exemplarischen Charakter der Abschätzung und Bewertung der rBST-Folgen zurückkommen. Die konkreten Erfahrungen in diesem Prozeß beim Parlament zeigen, daß die fünf Anforderungen, die wir als Enquete-Kommission an TA-Prozesse richten, wohl begründet sind.Zwar haben wir aus Gründen, die im Bericht ausdrücklich genannt werden, auch selbst nicht allen Anforderungen — jedenfalls nicht voll — entsprechen können, aber die erste Anforderung, nämlich die der Frühwarnung, ist erfüllt, denn noch ist rechtzeitiges politisches Handeln möglich.
Auch um Vollständigkeit — das ist die zweite Anforderung — haben wir uns in diesem TA-Prozeß redlich bemüht. Wir haben jedoch auch die Grenzen angesichts begrenzter Mittel und kurz bemessener Fristen deutlich erfahren.Der dritten Anforderung, der Entscheidungsorientierung, wird in dem Bericht, wie ich finde, gut entsprochen, denn die Zuspitzung des gesamten Abschätzungs- und Bewertungsprozesses auf die fünf Handlungsoptionen ist Ausdruck hierfür.Auch der Partizipation — das ist die vierte Anforderung — , also der Beteiligung interessierter und betroffener Gruppen, wurde begrenzt Rechnung getragen. Die grundsätzliche Richtigkeit einer solchen Einbeziehung wurde deutlich.Die Gefahr einer Auflösung des TA-Prozesses in einem ausufernden Partizipationsbetrieb blieb uns schon deswegen erspart, weil die Fristen kurz gesetzt waren, Gott sei Dank.Die letzte Anforderung, die Transparenz, ist dadurch erfüllt, daß die umfangreichen, dem Bericht zugrundeliegenden Unterlagen in einem eigenen Materialband vorgelegt werden.Meine Damen und Herren, zusammenfassend möchte ich daher feststellen, daß der Bericht zum Rinderwachstumshormon nicht nur eine wichtige Entscheidungshilfe für den Bundestag darstellt, sondern er ist auch ein Beispiel dafür, was wir zukünftig von einer ständigen Einrichtung von Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung erwarten dürfen. Dies ist ein Grund mehr, über die Einrichtung nun zügig zu beraten und auch zu entscheiden.
Wir wollen die Technikfolgen-Abschätzung nicht als rückwärts gerichtete Vergangenheitsbewältigung betreiben, sondern zu einer in die Zukunft gerichteten Gestaltung der Technik entwickeln, indem wir die Folgewirkungen antizipieren und so potentielle negative Folgewirkungen durch entsprechende Technikgestaltung bzw. durch Modifizierung des Technikeinsatzes vermeiden.Ich wünsche den anstehenden Beratungen in den Ausschüssen einen guten Erfolg.
Das Wort hat der Abgeordnete Paterna.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden über Technologiefolgen-Abschätzung beim Parlament. Wir reden also nicht nur allgemein über die Notwendigkeit von TechnologiefolgenAbschätzung, sondern auch darüber, warum wir sie beim Parlament brauchen. Deshalb scheint es mir sinnvoll zu sein, mich nicht nur mit den Technologie-
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Paternafolgen, sondern auch einmal mit dem Parlament etwas genauer zu beschäftigen. Wir haben es ja so an uns, über die Glaubwürdigkeit der Politik immer an Wahlabenden, vielleicht noch einen Tag später, zu reden. Aber kaum hat der Alltag uns wieder,
veranstalten wir das übliche Theater und heucheln etwas vor, was in diesem Parlament in Wirklichkeit gar nicht stattfindet. Beispielsweise betätigt sich der Kollege Hitschler als Experte für Minderheiten. Da kann man sich doch nur kaputtlachen. Er hat eine Erfahrung als Minderheit in Regierungsfraktionen. Aber was es bedeutet, mit einer Fraktion als Minderheit in diesem Parlament zu sitzen und damit zum Beispiel von bestimmten Ausschüssen vollkommen ausgeschlossen zu sein oder aber sonst mit noch so fundierten Anträgen von Mehrheiten abgebügelt zu werden, ohne Ansehen der Argumente, wie es tagtäglich in diesem Haus in x-Ausschüssen passiert, davon hat er weniger Ahnung als der Frisörschwengel, von dem er geredet hat.
— Ja, so ist das. Was es mit der Gewaltenteilung — in jedem Politiklehrbuch als Fundamentales Prinzip parlamentarischer Demokratie beschrieben — in diesem unserem Hause tatsächlich auf sich hat, darüber sollten wir einmal etwas ehrlicher miteinander zu reden lernen. Ich lasse jetzt einmal die dritte Gewalt außer Betracht, und ich lasse auch einmal die Frage weg, inwieweit Oppositionsfraktionen in der Lage sind, über die Medien eine Gegenöffentlichkeit herzustellen und auf diesem Wege die Regierung zu kontrollieren.Im Parlament selbst findet jedenfalls eine solche erfolgreiche Kontrolle so gut wie nicht statt.
In den Ausschüssen und im Plenum wird die Opposition in der Regel geschlossen niedergestimmt, auch wenn einzelne Abgeordnete — Sie wissen das doch alle; dann geben Sie es doch bitte auch einmal zu — oder gar die Mehrheit einer Koalitionsfraktion einer Position der Opposition zuneigen.Kollege Rüttgers, gestehen Sie mir doch einmal zu, daß ich im Gegensatz zu Ihnen eine etwa sechsjährige Regierungsfraktionsmitgliedserfahrung und eine sechsjährige Oppositionsfraktionserfahrung habe.
— Fühlen Sie sich doch bitte nicht angegriffen. Ich kritisiere das nämlich genauso gut an unsere Adresse. Das, was ich hier kritisch über Parlamentsarbeit sage, das gilt zu gleichen Teilen für die Zeiten unserer sozialliberalen Koalition. Also, bitte nicht gleich einigeln, sondern doch einmal Argumente aufnehmen, und gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Denn die Leidensgeschichte der TA rührt doch in erster Linie daher, daß die guten Einsichten über politische Notwendigkeiten in der Opposition wachsen und in der Regierungszeit abhanden kommen.
Deswegen wäre es jetzt für Sie eine außerordentlich günstige Gelegenheit gewesen, einmal wirklich einen qualifizierten Institutionsvorschlag zu machen,
indem Sie nämlich sozusagen Oppositionsvorsorgepolitik betreiben. Einen gescheiten Antrag kann man eigentlich nur dann einbringen, wenn einem die Oppositionszeit unmittelbar bevorsteht. Da das hier so ist, sind wir von der Qualität Ihres Antrages außerordentlich enttäuscht.
Ich sehe die Fraktion DIE GRÜNEN bei meiner Parlamentskritik hier so freudig lächeln. Ich kann diese Freude verstehen. Sie sind diesem Leidensdruck in Koalitionen, jedenfalls in diesem Hause, noch nicht ausgesetzt gewesen.
Aber ich kann Ihnen mit Morgenstern sagen: „Warte nur, balde kängurst auch du! " Für die übrigen Fraktionen gilt dieser Mißstand jedenfalls mehr oder weniger gleichermaßen.Meine Damen und Herren, überlegen Sie doch nur einmal den Sprachgebrauch. Wir reden hier z. B., ohne daß wir uns noch etwas dabei denken, von „die Regierung tragenden Fraktionen". Überlegen Sie einmal, was das für eine Wortwahl ist. Das zeigt ein sehr seltsames Parlamentsverständnis. Wir reden ferner von „Regierungsfraktionen". Was ist denn das, bitte schön, für ein Parlamentsverständnis?In Wirklichkeit ist es doch so — ich habe das vor 1982 erlebt; ich sage das hier einmal öffentlich in aller Bitterkeit; auch Sie sollten darüber gelegentlich ein Wort verlieren — : Diese sogenannten Koalitionsfraktionen werden häufig als Wurmfortsatz der Regierung behandelt, und die wichtigen Politikentscheidungen— das weiß doch jeder hier im Haus; dann sollte man es unter dem Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit der Politik auch einmal sagen — werden noch nicht einmal im Kabinett, sondern in Koalitionszirkeln entschieden; sie werden in der Regel nicht sachgerecht und sachorientiert entschieden, sondern in Paketform.Das simpelste Paket — ich wähle einmal ein Beispiel, das zwar so nicht stattgefunden hat, das aber durchaus Bonner Lebensnähe beweist — wäre etwa: Tausche Schnellen Brüter gegen Vermummungsverbot. So etwa werden hier Regierungsentscheidungen getroffen. Meist sind diese Pakete noch erheblich komplizierter.
— Das war früher so, und das ist heute auch so.
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Paterna— Dann haben Sie von dem, was sich hier wirklich abspielt, keine Ahnung; das muß ich Ihnen nun einmal in aller Freundschaft sagen.
— Gut, dann sage ich einmal ganz kurz, damit Sie wieder zur Ruhe kommen, nur: Quellensteuer, Flugbenzin oder Wehrdienstzeit. Dann wissen Sie, wie Fraktionen hier wie der Tanzbär mit dem Ring an der Nase durch das Parlament geführt werden; so sieht das aus.
Da können Sie doch nun wirklich nicht davon reden, daß die Verfassungstheorie mit der Verfassungswirklichkeit übereinstimmt, meine Damen und Herren.Meine Damen und Herren, es geht darum — ich will Ihnen weitere leidvolle Beispiele ersparen — , daß sich das Parlament von der Regierung emanzipiert, damit es wirklich zu einer eigenständigen Kraft, zu einer Kraft mit Kontrollfunktion kommt. Deshalb brauchen wir eine Institution, die imstande ist, die Regierung nicht nur zu tragen, zu schützen, sondern sie auch wirklich zu kontrollieren und ihr da, wo es notwendig ist, Beine zu machen.Ganz abgesehen davon, will ich noch ein selbstkritisches Wort genauso auch an unsere Adresse richten— die Geschäftsführerin ist ja gerade draußen — : Wenn das zwischen Regierung und Regierungsfraktionen nicht funktioniert, dann greifen die regierungsinternen Mechanismen. Wir alle haben uns doch zu kleinen Spezialisten entwickelt, und dieses Spezialistentum ist natürlich TA-feindlich; das ist doch völlig klar. All die kleinen Obleute, Sprecher, Arbeitsgruppenleiter usw.
— Ausschußvorsitzenden — verteidigen natürlich argwöhnisch ihre kleinen Pöstchen und mühsam erkämpften Zuständigkeiten und haben folglich gegen Querschnittsfunktionen, gegen Querschnittsdenken, etwas einzuwenden.
— Das gilt für uns gleichermaßen. — Insofern müßten wir ein Interesse daran haben, uns für solche Querschnittsfunktionen, die in der TA geleistet werden müssen, die richtigen Handlungskonzepte zu schaffen. Das Regierungskonzept ist dafür völlig ungenügend.Den SPD-Vorschlag — auch das sage ich in der Offenheit, die mir hier heute eigen ist — halte ich ebenfalls für eher dürftig.Hoffen wir, daß wir die in dieser Legislaturperiode so oder so zu gründende Institution so qualifiziert besetzen, daß sie die notwendige Eigendynamik entwikkeln und unsere Denkblockaden ein bißchen durchbrechen kann.Schönen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Rust.
Ich möchte den Rest meiner Redezeit dazu benutzen, noch einmal auf die Geschichte mit dem Minderheitenrecht einzugehen. Der Kollege Paterna hat eben sehr schön dargelegt, unter welchem Leidensdruck gerade eine kleine Fraktion in diesem Hause stehen kann. Ich möchte jetzt einen anderen Aspekt ansprechen, den ich Sie ebenfalls zu berücksichtigen bitte. Dabei wende ich mich natürlich in erster Linie an die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen:Ist es denn nicht so, daß in Minderheitenmeinungen von heute Entwicklungstendenzen von morgen zum Ausdruck kommen?
Sind wir denn nicht gut beraten, dies zu berücksichtigen?Ich spreche jetzt einmal auch in eigener Sache und erinnere an die Wirkungen der Fraktion DIE GRÜNEN in diesem Hohen Hause. Ich habe mir erzählen lassen, daß bei den ersten Reden in diesem Hause über Umweltpolitik und über die ökologischen Gefahren, die uns ins Haus stehen, sich hier verschiedene Leute totgelacht haben und von Panikmache die Rede war.
Ich kann mich an viele Podiumsdiskussionen und sonstige Diskussionen erinnern, in denen ich mich genau mit diesem Argument auseinandersetzen mußte. Das passiert mir heute nicht mehr.Ein ähnliches Schicksal hat hier in diesem Hause die Frauenpolitik erfahren. Die Herren fanden es am Anfang sehr witzig, wenn von Frauenpolitik die Rede war. Heute lacht niemand mehr darüber.
Der SPD hat diese Entwicklung die Quote beschert.Dies sind Beispiele dafür, daß Minderheitenmeinungen innerhalb der Gesellschaft tatsächlich dieses Moment in sich tragen, nämlich ein Stück Zukunft der Gesellschaft repräsentieren zu können — nicht immer zu repräsentieren, Herr Mahlo, das ist völlig richtig, das weiß ich natürlich auch.Nur, wenn wir von vornherein davon ausgehen, daß wir dies nicht berücksichtigen, dann vergeben wir auch die Chance, tatsächlich zu so etwas wie einer prognostischen Beurteilung der Folgen einer Technologie zu kommen. Daß diese Prognostik im Hinblick auf die Richtigkeit immer wieder beurteilt werden muß und an der realen Entwicklung gemessen werden muß, darüber könnten wir uns ebenfalls einigen. Nur, wenn wir uns diese Chancen von vornherein wegstreichen, dann haben wir auch nicht die Möglichkeit, das im Prozeß weiter zu beurteilen und mit
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Frau Rusttatsächlich tragfähigen TA-Prozessen, die wir dringend brauchen, weiterzukommen.Ich komme in diesem Zusammenhang auf die vom Minister ausgesprochene Kritik an meiner vorhin gemachten Bemerkung zu sprechen, er reduziere sich bei seinen TA-Studien — einmal abgesehen davon, ob ich das alles als TA-Studien akzeptieren würde — darauf, alteingesessene und abgestandene Organisationen wie den DGB, BDI, Kirchen usw. einzubeziehen: Herr Minister, ich habe natürlich überhaupt nichts dagegen, daß diese Organisationen auch weiterhin einbezogen werden — ich halte das sogar für außerordentlich wichtig — , nur: Auch in diesen Organisationen haben wir natürlich genau das gleiche Problem, von dem ich vorher gesprochen habe, daß nämlich die innovativen Diskussionen oft in Gruppen außerhalb des Mainstreams dieser Großorganisationen stattfinden und oft auch schon in Gruppen, die es überhaupt ablehnen, sich solchen Organisationen anzuschließen.Dies gilt auch für Parteien. Wir alle — auch wir in den kleinen Parteien, und auch wir bei den GRÜNEN — haben ja doch schon die Erfahrung gemacht, was es heißt, sich mit einer guten Idee in die Mühlen einer Partei zu begeben in der Hoffnung, sie da durchsetzen zu können. Ich kann gut verstehen, daß es heute viele Leute gibt, die sich dieser Mühe nicht mehr unterziehen wollen und die nach anderen eigenständigen selbstbewußten demokratischen Möglichkeiten suchen, um ihre Meinungen in den demokratischen Diskussionsprozeß über Technologiepolitik einzubringen. Dem müssen wir Rechnung tragen. Wenn Sie aber nicht einmal Minderheiten im Parlament bei der Beantragung von TA-Prozessen berücksichtigen wollen, beeinträchtigen Sie alle diese Möglichkeiten und schließen sie sogar aus.Ich bitte Sie dringend, Ihre Meinung im parlamentarischen Beratungsprozeß noch einmal zu überprüfen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Timm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal zum Wurm. Herr Kollege Paterna, wer sich lange genug als Wurm darstellt, darf sich nicht wundern, wenn er eines Tages an der Angel hängt.
Wir haben ein sehr deutliches parlamentarisches Thema zu beraten, aus dem die Regierung eigentlich ziemlich ausgeklammert ist, was nicht bedeutet, daß sie sich daran nicht beteiligen darf. Das müssen wir feststellen.TA, Technikfolgen-Abschätzung, ist ein schwieriges Kapitel; das weiß jeder, der daran mitgearbeitet hat. Viele ideelle Gedanken sollen untergebracht werden. Jeder hat seine eigenen, jeder natürlich die besten, und trotzdem müssen wir nach einem Verfahren, nach einer praktikablen Lösung dafür suchen, wie wir TechnikfolgenAbschätzung im parlamentarischen Bereich verankern können.Wenn es denn kein eigener Ausschuß sein soll, sondern der Forschungsausschuß die Zuständigkeit dafür erhalten soll, dann stelle ich durchaus die Frage, ob es der richtige Einstieg ist, wenn man diesen Ausschuß auch noch mit einem entsprechenden neuen Namen versieht; denn Technikfolgen-Abschätzung, meine Damen und Herren, ist ein weites Feld, das alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft tangiert. Technikfolgen-Abschätzung erfordert systematische Analyse und Voraussage, um zu einer integrierten Bewertung der wesentlichen Auswirkungen zu kommen. Technikfolgen-Abschätzung ist also eine politische Querschnittaufgabe.Wir müssen deshalb im weiteren Verfahren der Beratung erstens zwingend Klarheit darüber schaffen, wie wir der Versuchung widerstehen wollen, die notwendige Einbindung der anderen Bundestagsausschüsse, die ja auch daran beteiligt sind, durch einfache Suche nach einer organisatorischen Lösung zu ersetzen.Die weitere Beratung muß zweitens darüber Aufschluß geben, wie Minderheiteninitiativen zur Einbringung von Technikfolgen-Abschätzungsverfahren festgehalten werden können.
Es ist wichtig, daß Technikfolgen-Abschätzungsverfahren nicht zur vollständigen Blockierung der Arbeit führen; vielmehr muß sichergestellt werden, daß Technikfolgen-Abschätzungen schon im vorhinein aus guter Erkenntnis einen Weg nehmen, der auch tatsächlich eine Beratung ermöglicht. Wenn wir uns selbst blockieren, haben wir alle nichts davon. Technikfolgen-Abschätzung darf auch nicht zu einem Vehikel verkommen, mit dem man aus opportunistisch-politischen Gründen jede technologische Veränderung verhindern will; das geht auch nicht.
Drittens ist im weiteren Verfahren zu überdenken, wie eine Monopolisierung der Aufgaben der Technikfolgen-Abschätzung bei einer einzigen Wissenschaftsinstitution vermieden werden kann.
— Ich sage ja, daß im weiteren Verfahren — wir stehen ja erst am Anfang dieses Verfahrens — hierüber nachgedacht werden muß.
— Insoweit stimme ich ja mit Ihnen durchaus überein.Technikfolgen-Abschätzung ist eine permanente interdisziplinäre Aufgabe in Politik und Gesellschaft. Unsere Großforschungseinrichtungen, der VDI und andere Institutionen, nicht nur wissenschaftliche Insti-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11495
Timmtutionen, arbeiten in den unterschiedlichsten Feldern der Technikfolgen-Abschätzung.
Hier gilt es, die Berücksichtigung des jeweils vorhandenen Fachwissens zu sichern.Nicht zuletzt muß über die organisatorische Abwicklung solcher Verfahren im Rahmen der Bundestagsverwaltung nachgedacht werden. Welche Möglichkeiten soll z. B. das Ausschußsekretariat bekommen, und wie kann schon im Organisationsstadium wissenschaftliches Know-how etwa aus dem Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages sinnvoll eingebracht werden?Meine Damen und Herren, wir brauchen qualifizierte Hilfen von außen. Ich glaube, das ist unstrittig; darum kommen wir nicht herum. Das erhöht letztlich auch die Pluralität im Verfahren. Aber wir alle können auch nicht Forschungsergebnisse vorhersehen.Wir meinen also in unserer Fraktion, daß das Parlament, d. h. wir Abgeordnete, Antwort auf diese von mir genannten Fragen finden muß, will es sich nicht auf eine ausschließlich formale Behandlung von Technikfolgen-Abschätzung zurückziehen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/4606, 11/4607, 11/4749 und 11/4832 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4828 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie die Vorlage auf Drucksache 11/4832, d. h. an die in der Tagesordnung ausgedruckten Ausschüsse.
Was ich jetzt gesagt habe, bezieht sich auf den Zusatztagesordnungspunkt 12. — Außerdem soll die Vorlage zu Tagesordnungspunkt 17 b — Drucksache 11/4377 — , anders als in der Tagesordnung vorgesehen, zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Forschung und Technologie und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Danke schön. Das ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Auslegung des Wartime Host Nation Support-Abkommens
— Drucksachen 11/2550, 11/4722 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Lowack Voigt
Dr. Feldmann
Dr. Lippelt
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/4850 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? — So beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 22. Juni des vergangenen Jahres hat die SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag zur Auslegung des sogenannten Wartime Host Nation Support-Abkommens eingebracht. In diesem Antrag fordert die SPD einen Beschluß des Bundestages, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird — ich zitiere — :1. das im WHNS-Abkommen vom 15. April 1982 ... vorgesehene Konsultationsverfahren für die gemeinsame Feststellung einer Krise ... zu formalisieren;2. hinsichtlich der Anwendung des WHNS-Abkommens vor dem Deutschen Bundestag verbindlich zu erklären,a) daß sie vor Feststellung einer „Krise" den Deutschen Bundestag so rechtzeitig unterrichten wird, daß seine Befugnis, den „Spannungsfall" festzustellen , in keiner Weise präjudiziert oder eingeengt wird,b) daß die Feststellung eines Krieges nach dem WHNS-Abkommen die Feststellung des „Verteidigungsfalls" nach Artikel 115a GG voraussetzt:3. nachprüfbar sicherzustellen, daß deutsche Unterstützungsleistungen gemäß dem Vertragszweck des WHNS-Abkommens nur für amerikanische Streitkräfte erfolgen, die der Verstärkung der Vorneverteidigung in der Bundesrepublik Deutschland dienen.Diesem Anliegen der SPD-Fraktion wird durch die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu diesem Antrag, die heute dem Bundestag zur endgültigen Entscheidung vorliegt, Rechnung getragen, da auf unseren Wunsch hin ein Brief des Bundesministers der Verteidigung an den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses den vollen Wortlaut in diese Beschlußempfehlung aufgenommen wurde. Für die SPD sind insbesondere die folgenden drei Punkte in diesem Brief von Bedeutung.Erstens die Gewährleistung eines formalisierten Konsultationsverfahrens im Bündnis und eines ebenfalls im Rahmen der Geschäftsordnung der Bundesregierung formalisierten Beschlußverfahrens der Bundesregierung bei der Feststellung einer Krise.
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Voigt
Zweitens die rechtzeitige Unterrichtung des Bundestages. Hierzu heißt es im Brief des Bundesverteidigungsministers:Um dem Deutschen Bundestag die rechtzeitige Wahrnehmung seiner Rechte aus Artikel 80 a GG und des Artikels 115 a GG (Feststellung des Verteidigungsfalles) zu ermöglichen, wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag von einer beabsichtigten Kabinettentscheidung der vorgenannten Art, rechtzeitig vorab informieren.Drittens die Beschränkung von deutschen Unterstützungsleistungen für die Aufgaben der US-Streitkräfte innerhalb der Bundesrepublik. Hierzu heißt es in dem bereits zitierten Brief:a) ... Durch die bestehenden und die in Bearbeitung befindlichen Verfahren über die Inanspruchnahme von zivilen Leistungen ist sichergestellt, daß zivile Unterstützungsleistungen nach dem Abkommen nur den in der Bundesrepublik Deutschland stationierten und dorthin verlegten US-Streitkräften und deren zivilem Gefolge gewährt werden.Für die Anmeldung und die Deckung des Unterstützungsbedarfs gelten Verfahrensbestimmungen, die auf der Grundlage deutschen Rechts ergehen und die in einem noch herauszugebenden „Handbuch zivile Unterstützung" enthalten sein werden... .b) ... In einer Krise werden deutsche Verbände mit WHNS-Auftrag ausschließlich zur Unterstützung der verstärkten US-Streitkräfte im Rahmen der NATO-Verstärkungspläne mobilgemacht. Sie verbleiben ohne Ausnahme unter deutschem Kommando und werden nach deutschen Führungs- und Einsatzgrundsätzen eingesetzt.... Unter den dargelegten Umständen ist ein Einsatz deutscher Verbände mit WHNS-Auftrag zur Unterstützung von out-of-area-Einsätzen der US-Streitkräfte schlechterdings unmöglich.Auf Grund dieser Information und der entsprechenden Festlegung der Bundesregierung können und werden wir der Beschlußvorlage des Auswärtigen Ausschusses zustimmen. Die Aufforderung an die Bundesregierung zur Klarstellung ihrer Haltung und der Verfahren hinsichtlich der Anwendung und Begrenzung des WHNS-Abkommens durch eine verbindliche Erklärung, d. h. der Antrag der SPD in der Drucksache 11/2550, war berechtigt. Eine Klarstellung war verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch ebenso geboten wie unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten.Wir freuen uns, daß die Bundesregierung, die sie tragende Koalition und die Opposition, zumindest die SPD-Opposition — die GRÜNEN sind anderer Meinung — , in der wichtigen Frage einer verfassungskonformen Anwendung und Begrenzung dieses Abkommens schließlich doch noch zu einer gemeinsamen Haltung gefunden haben. Zwar bedurfte es erheblicher Anstrengungen und auch Ausdauer der Opposition, doch bin ich froh, daß wir hier zu der gebotenen verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gemeinsamkeit gefunden haben.In der Debatte vom 14. Oktober 1988 hatten Horst Ehmke und Walter Kolbow — der heute noch reden wird — ebenso wie schon vorher mein Kollege Norbert Gansel in der Debatte am 30. Januar 1986 die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte des Deutschen Bundestages bei der Anwendung dieses Abkommens zum Kern ihrer Argumentation gemacht. Wichtigste Absicht der Regelung des Spannungsfalls im Grundgesetz ist es, auszuschließen, daß Krisenzeiten zur Stunde der Exekutive bei Ausschaltung des Parlaments werden können.Die für die heutige Beschlußfassung zugrunde liegende schriftliche Erklärung der Bundesregierung enthält die von uns gewünschte Selbstbindung der Bundesregierung gegenüber dem Parlament und dem Ausschluß der Umgehung gültiger deutscher Rechtsgrundlagen einschließlich des De-jure- und De-factoAusschlusses nationaler Aktivitäten der amerikanischen Streitkräfte, soweit diese mit WHNS-Unterstützung vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland den geographischen Geltungsbereich von WHNS-Abkommen und NATO-Vertrag überschreiten sollten. Es ist also eine Überschreitung von Tätigkeiten über den NATO-Vertrag hinaus auf Grund des WHNS-Abkommens nicht möglich.Damit ist im Einklang mit dem Friedensstaatlichkeitsgebot des Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes und der unbestrittenen politischen Forderung, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, die verfassungskonforme Auslegung des WHNS-Vertrags mit den Vereinigten Staaten jetzt gewährleistet.
Wir beglückwünschen Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, und uns als SPD-Fraktion zu diesem gemeinsamen Erfolg.Nachdem diese unabdingbaren Klarstellungen erfolgt sind, können wir uns wieder auf den sicherheitspolitischen Zweck derartiger Regelungen konzentrieren. Dieser besteht darin, eine ausreichende Verteidigungsfähigkeit durch das westliche Bündnis bereitzustellen. Deutsche WHNS-Leistungen sind ein wesentlicher und zugleich in unserem eigenen sicherheitspolitischen Interesse liegender Beitrag zur Lastenteilung im Bündnis.
Man muß das WHNS-Abkommen auch im Lichte der Wiener Verhandlungen über die Verringerung der konventionellen Streitkräfte in Europa sehen, deren allseits erklärtes Ziel militärische Stabilität bei möglichst niedrigem Streitkräfteniveau ist. Bei einem erfolgreichen Abschluß der Wiener Verhandlungen kann und wird es auch zum Abzug von Truppen der
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Voigt
Vereinigten Staaten aus der Bundesrepublik Deutschland kommen.In diesem Zusammenhang kann das WHNS-Abkommen eine neue und zusätzliche Bedeutung erlangen. Es kann nämlich den sicherheitspolitischen Spielraum für Vereinbarungen über den Abzug amerikanischer Truppen heute dadurch vergrößern, daß die Möglichkeit zu einer Verstärkung in Krisen- und Kriegszeiten erleichtert wird. Damit kann das WHNS-Abkommen in Zukunft zusätzlich zu seiner heutigen verteidigungspolitischen auch eine zunehmende abrüstungspolitische Bedeutung erhalten.Wir Sozialdemokraten würden das begrüßen. Wir Sozialdemokraten sehen in dem WHNS-Abkommen die Möglichkeit dazu. Nach der Klarstellung ist deutlich, daß es nicht zu anderen Zwecken mißbraucht werden kann. Alles andere wären nach den Klarstellungen unberechtigte Unterstellungen und Verdächtigungen, die wir zurückweisen und die wir nach der gegenwärtigen Klarstellung für durch nichts mehr fundiert halten.Danke.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Wimmer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Voigt, ich darf mich zunächst einmal für die Bundesregierung bei der Opposition, bei Ihnen und dem Kollegen Kolbow, dafür bedanken, daß der Dialog in den jeweiligen Ausschüssen wirklich von hohem Sachverstand und von der Bereitschaft zur Kooperation geprägt war; denn wir haben ja ein gemeinsames Interesse, daß wir diese Dinge klären konnten und klären können. Ich glaube, daß es eine mehr als bemerkenswert gute Präsentation gewesen ist, wie wir alle dort zusammenarbeiten konnten.Deswegen verstehen Sie, daß ich auch bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam mache, daß wir, als Sie Ihren Antrag präsentiert haben, schon in der ersten hier im Deutschen Bundestag geführten Debatte dazu klare Festlegungen getroffen haben. Der damalige Verteidigungsminister Professor Scholz hat be- reits in dieser ersten Debatte am 14. Oktober 1988 betont, daß durch das Wartime Host Nation Support-Abkommen die Rechte des Bundestages zur Feststellung des Spannungsfalles und des Verteidigungsfalles nicht berührt werden. Ich glaube, daß wir von daher sehr früh deutlich gemacht haben, wie wir diese Dinge sehen.In diesem Zusammenhang hat der damalige Verteidigungsminister auch ausgeführt, daß durch die in diesem Abkommen befindlichen Vereinbarungen über militärische und zivile Unterstützung sichergestellt ist, daß sämtliche Unterstützungsleistungen nur denjenigen US-Streitkräften gewährt werden, die für die Vorneverteidigung in der Bundesrepublik Deutschland vorgesehen sind. Dabei hat der Verteidigungsminister auch ausführlich begründet, warum dies so ist. Ich will das hier nicht wiederholen, weil Sie in ihrem Sachbeitrag bereits darauf aufmerksam gemacht haben, wie die verbindende Sicht der Dinge ist.All dies ist nochmals in dem Schreiben von Verteidigungsminister Scholz vom 20. April 1989 zusammengefaßt. Dieses Schreiben ist Bestandteil der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses. Wir alle haben mit Freude und Genugtuung dieser Empfehlung entnommen, daß die zunächst Ihrem Antrag zugrunde liegenden Bedenken wohl endgültig erledigt worden sind.Die heutige Debatte zu diesem Themenschwerpunkt gibt mir allerdings Gelegenheit, den Inhalt und die grundsätzliche Bedeutung des Wartime Host Nation Support-Abkommens mit den Vereinigten Staaten herauszustellen:Dieses Abkommen sieht vor, daß die Vereinigten Staaten ihre in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Streitkräfte in Krise und Krieg durch weitere Verbände so nachhaltig verstärken, daß eine weitere Grundlage für eine erfolgreiche Vorneverteidigung der Bundesrepublik Deutschland gegeben ist. Der militärpolitische Zweck und das Ziel dieses Abkommens liegen unverändert gerade im Interesse unseres Landes. Gerade die grenznahe, integrierte und zusammenhängende Vorneverteidigung ist für uns von vitalem Interesse. Die Zuführung kampfstarker amerikanischer Verstärkungskräfte in einer Krise stellt außerdem ein wichtiges Instrumentarium zur Krisenbewältigung und Abschreckung mit konventionellen Kräften dar. Die Aufstellung der deutschen, für die Unterstützung der US-Streitkräfte vorgesehenen Wartime Host Nation Support-Verbände ist im Bündnis stets auch als besonders gelungenes Beispiel praktizierter Aufgabenteilung hervorgehoben worden.In einer Zeit, in der die Frage der Aufgabenteilung zu einem wichtigen Thema im Bündnis geworden ist und auf absehbare Zeit auch bleiben wird, ist das Wartime Host Nation Support-Abkommen mit den Vereinigten Staaten für uns — und offensichtlich für uns alle — von besonderer Bedeutung. Dieses Abkommen dokumentiert außerdem unsere besondere Verbundenheit mit unserem amerikanischen Partner. Daß die Bundesrepublik Deutschland ihre äußere Sicherheit nicht allein, sondern nur gemeinsam mit ihren europäischen und transatlantischen Verbündeten gewährleisten kann, liegt für uns alle auf der Hand; dies gilt nicht nur in der Frage der Verteidigung, sondern auch in der Frage der Abrüstung, wie wir sie sowohl in Wien als auch in den Vereinten Nationen betreiben.Dabei kommt der Zusammenarbeit mit unseren amerikanischen Verbündeten insgesamt naturgemäß eine Bedeutung ganz besonderer Art zu. Die Präsenz der Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Europa ist als Garant für unsere gemeinsame Sicherheit für uns durch nichts zu ersetzen. Die deutsch-amerikanische Partnerschaft und Freundschaft ist mehr als nur ein Zweckbündnis zur Verteidigung unserer Sicherheit. Ich will in diesem Zusammenhang nicht noch einmal betonen, daß wir hier eine Bündnissituation haben, die auf gleichen politischen Grundwerten beruht.
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11498 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Parl. Staatssekretär WimmerWenn wir die Diskussion im Zusammenhang mit dem Wartime Host Nation Support-Abkommen und Ihre Anmerkungen, Herr Kollege Voigt, betrachten — ich bin sicher, daß der Kollege Kolbow das nicht anders sehen wird —, so haben wir, glaube ich, auch durch die Diskussion, die wir zu diesem Thema im Deutschen Bundestag geführt haben, für unsere gemeinsamen Interessen etwas sehr Gutes geleistet.Ich bedanke mich.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der ursprüngliche SPD-Antrag zum Wartime Host Nation Support-Abkommen, der eben auch eine Rolle gespielt hat, und die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses beziehen sich auf Fragen einer Interpretation bestimmter Vertragsformulierungen. Es ist in der Tat irritierend, ich würde fast sagen: erschreckend, daß die Bundesregierung im April 1982 Formulierungen zugestimmt hat, die von ihrer Wirkung her grundsätzlich festgeschriebene Mechanismen untergraben könnten. Statt der sehr genau definierten Begriffe „Spannungsfall" und „Verteidigungsfall" im Grundgesetz sprach der Vertrag der Bundesregierung von „Krise" und „Krieg". Diese Formulierungsfrage ist keine bloße juristische Fingerübung, sie ist nicht nur von akademischem Interesse. Sie trägt ein Element zusätzlicher Destabilisierung in eine möglicherweise ohnehin schwierige Konfliktlage hinein.Der Bundesverteidigungsminister hat sich in seinem Schreiben in gewissem Maße auf einige der von der SPD-Fraktion vorgetragenen Bedenken eingestellt und sich bemüht, die offensichtlichen Probleme hinwegzuinterpretieren. Dadurch allerdings werden die Probleme des WHNS-Abkommens selbst nicht gelöst. Eine bloße Versicherung der Bundesregierung, sich der Interpretation der SPD zu nähern, mag auf ein gestiegenes Problembewußtsein auch innerhalb der Regierung hinweisen; das ist richtig. Das allein ist aber unseres Erachtens keine Lösung.Wir wissen, daß die US-Streitkräfte die militärische Infrastruktur und das Territorium der Bundesrepublik zur Vorbereitung und Durchführung von militärischen Einsätzen außerhalb des Bündnisgebietes der NATO genutzt haben und nutzen werden.
Dies geschieht zum Teil mit, zum Teil ohne Abstimmung mit der Bundesregierung,
unabhängig von deren Rechtsauffassung, daß jeder solche Einsatz von ihr genehmigt werden müsse. Das WHNS-Abkommen stellt den USA zusätzliche militärische Infrastruktur zur Verfügung. Es ist inzwischen bekannt, daß die US-Regierung bereits zumindesteinmal offiziell darauf gedrängt hat, diese Infrastruktur für „Out of area"-Maßnahmen zu nutzen,
nämlich im Juli 1987 im Zusammenhang mit dem Golfkrieg.
Woher wollen Sie von der Bundesregierung und auch Sie von der SPD-Fraktion eigentlich wissen, woher beziehen Sie Ihre angebliche Sicherheit, daß die US-Streitkräfte nicht erneut die Bundesrepublik als Ausgangspunkt und logistische Basis für militärische Angriffe im Nahen und Mittleren Osten benutzen werden?
Woher nehmen Sie den fast überschäumenden Optimismus, daß ein bloßer Brief
— Herr Kollege, Sie können gern eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie möchten, aber vielleicht sind Sie jetzt etwas ruhiger — eines inzwischen aus dem Amt entfernten Bundesverteidigungsministers erreichen konnte,
was seit den 70er Jahren in zahllosen Gesprächen und Kontakten mit der US-Regierung eben nicht erreicht werden konnte,
nämlich die Verpflichtung der USA, eine militärische Nutzung der Infrastruktur der BRD
ohne deren Einwilligung zu unterlassen?
Die SPD-Fraktion hat die Bundesregierung zu etwas aufgefordert, was sie in der Realität gar nicht kann, nämlich zu garantieren, daß die US-Streitkräfte das WHNS-Abkommen nicht im eigenen Sinne großzügig interpretieren, ausnutzen und notfalls ganz darüber hinausgehen.Der Bundesverteidigungsminister hat bei dieser Fiktion, möchte ich sagen, mitgespielt. Er bescheinigt das Unmögliche und erklärt die Sache für erledigt. Ich erinnere hier auch noch einmal daran, wie schon bei der letzten Debatte, daß es noch nicht so lange her ist, daß selbst der SPD-Bundesparteitag die Kündigung dieses Abkommens gefordert hat.
Ich denke, man sollte klarmachen, daß diese juristische Fingerübung Ihnen vielleicht helfen wird, dieRegierung mit Stimmen aus dem rechten kalten Lager
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Frau Beerzu übernehmen, die weiter die Angriffsstrategie führen,
daß das aber sicherlich nicht im Interesse der Friedensbewegung
und im Sinne der Friedensbewahrung ist. Ich frage auch: Wie ernst ist eigentlich Ihre Begrüßung von Bushs Ankündigung, Truppen abzuziehen, wenn Sie die Infrastruktur für Kampfhandlungen der US-Truppen aufrechterhalten? Dies ist keine überzeugende Antwort auf die Abrüstungsmaßnahmen der Warschauer-Pakt-Staaten.
Die GRÜNEN sind mit diesem Verfahren in der Tat nicht einverstanden. Das Problem des WHNS-Abkommens ist schließlich nicht allein dessen abenteuerliche Interpretationsfähigkeit, nun nicht nur durch die Bundesregierung, sondern auch durch die SPD, sondern seine Existenz selber. Für eine Politik aktiver Friedenssicherung in Europa ist es nicht nur überflüssig, sondern schädlich. Es ist schädlich bei dem Versuch, ein tatsächliches gemeinsames Haus Europa aufzubauen, und es ist schädlich, weil die Kriegs- und Angriffsfähigkeit durch dieses Abkommen erhalten bleibt, abgesehen davon, daß weitere Verträge mit Kanada, Großbritannien geplant oder vorhanden sind.Für eine Politik aktiver Friedenssicherung in Europa wollen wir es kündigen, und dementsprechend liegt Ihnen ein Änderungsantrag unserer Fraktion vor. Wir fordern diese Kündigung erneut, werden bei dieser Position bleiben, die Rückgängigmachung sämtlicher Absprachen in dieser Form und vor allen Dingen auch das Zurückziehen der materiellen Umsetzung und die Depotauflösung hier in der Bundesrepublik fordern. Denn die Bundesregierung ist nicht einmal in der Lage, wie sie uns in der Antwort auf eine Kleine Anfrage bestätigt hat, anzugeben, was in diesen Depots gelagert wird. Also: ohne WHNS und ohne Depots auf den Weg in den Frieden und Kündigung des Abkommens!Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Lowack.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst darf ich als Berichterstatter eine Anmerkung machen: Es muß unter dem Punkt „A. Problem" heißen: „Am 15. April 1982" statt „am 15. Mai 1982".
Nun zur Debatte. Wer das Glück oder — besser — das Pech oder — vielleicht am besten — die Gelegenheit hatte, die Sozialdemokraten noch in der Regierungsverantwortung zu erleben,
ist immer wieder erstaunt, wie stark sich die Verteidigungspolitik der SPD geändert hat und wie sich das eine, das unter einem Mann wie Helmut Schmidt gerade noch Gültigkeit hatte, innerhalb kürzester Zeit gewandelt hat und nicht mehr Gegenstand sozialdemokratischer Politik war.
Dieses Abkommen, über das wir heute diskutieren, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist ein typisches Beispiel. Wenn man sich den Antrag der Sozialdemokraten durchliest, könnte man ja meinen, diese Bundesregierung sollte wegen einer falschen Entscheidung, die sie getroffen hat, angegriffen werden. Tatsächlich stammt dieses Abkommen, von dem wir sprechen, über das wir debattieren, vom 15. April 1982, aus einer Zeit, in der Sozialdemokraten an der Regierung waren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn die Sozialdemokraten mit ihrem Antrag vom 22. Juli 1988 auf einmal dieses Abkommen in Frage stellen, dann ist das ein Eingeständnis dessen, daß man offenbar vorher etwas falsch gemacht hat. Wenn die Bundesregierung aufgefordert wird, lieber Kollege Voigt, daß auf einmal die Frage der Feststellung einer Krise formalisiert werden soll und daß auf einmal in einem völkerrechtlichen Vertrag festgelegt werden soll, was ein Spannungsfall ist, wenn es darum geht, notfalls dieses Abkommen, dessen Bedeutung der Kollege Wimmer herausgestellt hat, zu kündigen, dann ist das sicher ein Eingeständnis, daß man damals in der Regierungsverantwortung einen Fehler gemacht hat oder — ich kann es auch anders ausdrücken — daß Sie, sehr verehrte Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion, damals schlichtweg geschlafen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voigt?
Vom Kollegen Voigt immer! Bitte schön.
Herr Kollege Voigt, bitte schön.
Herr Kollege Lowack, ist Ihnen vielleicht ein Gutachten vom 12. Dezember 1988 bekannt, in dem die Begriffe Spannungsfall, Verteidigungsfall und Bündnisfall vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages analysiert werden und in dem — zu dem genannten Zeitpunkt, also nach der Einbringung des Antrags — sehr genau dargestellt wird, welche Probleme mit dem innerstaatlichen deutschen Entscheidungsprozeß und der Garantie der Mitsprache des Parlaments und der anderen Verfassungsorgane des Bundes bestehen?
Sehr verehrter Herr Kollege Voigt, Sie haben ja völlig recht. Das bestätigt aber doch nur meinen Vorwurf, daß man damals die Formulierungen Krise und Krieg im Abkommen nicht
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11500 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Lowackmit den im Grundgesetz befindlichen Formulierungen in Einklang gebracht hat.
— Aber natürlich!Vielleicht darf ich darauf hinweisen, daß das eine ein international verbindlicher Vertrag, eine Regierungsvereinbarung, ist und das andere eine Frage ist, wie ich das im innerstaatlichen Recht umsetze und durchsetze.
— Darauf kommen wir gleich.Es gibt natürlich genügend Fragen — das stellen wir gar nicht in Zweifel — : Wie weit ist der Spannungsfall oder der Verteidigungsfall des Grundgesetzes in Übereinstimmung mit Krise oder Kriegsfall? Natürlich! Dieses prinzipielle Aufklärungsinteresse aber, das der Deutsche Bundestag — auch wir, auch unsere Fraktion — hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, lieber Kollege Voigt, daß der Antrag so, wie er formuliert wurde, in erster Linie geeignet war und offenbar auch geeignet sein sollte, Mißtrauen zu säen— nicht nur im Verhältnis zur eigenen Bundesregierung, die ja diese Vereinbarung gar nicht abgeschlossen hat, sondern in erster Linie gegenüber dem wichtigsten Bündnispartner, den Vereinigten Staaten von Amerika. Gegen diese Tendenz müssen wir uns mit allem Nachdruck wenden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem Brief von Professor Scholz an Professor Ehmke — Professoren unter sich — ist offenbar das Aufklärungsbedürfnis der Sozialdemokraten damals erledigt worden, so daß im Endergebnis die Sozialdemokratie sehr schnell darum gebeten hat, daß die Hauptsache ihres Antrages für erledigt erklärt wurde, um es im juristischen Sprachgebrauch auszudrücken. Diese Erklärung ist dann gegenüber dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses abgegeben worden. Damit scheint dieses Problem zwischen uns, zwischen den Fraktionen, aber natürlich auch zwischen dem Parlament und der Regierung erledigt zu sein.
— Lieber Professor Ehmke, ich frage Sie, denn Sie waren ja damals in der Regierungsverantwortung: Warum haben Sie denn damals nicht darauf geachtet, daß von vornherein eine Vereinbarung mit den Amerikanern abgeschlossen wurde, die irgendwelche Zweifel ausschließt? Warum haben Sie nicht darauf geachtet,
daß diese Vereinbarung in Einklang mit dem Grundgesetz stand, dem wir verpflichtet sind? Diese Frage sollten Sie sich stellen, nicht uns, die wir uns bemüht haben, diesem Aufklärungsbedürfnis nachzukommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf feststellen: Mit diesem Beschluß, den der Auswärtige Ausschuß gefaßt hat, und mit dieser Erklärung, die der Verteidigungsminister dem Parlament damit gegeben hat, sind die Rechte des Parlaments gewahrt.
Wenn ein Fehler vorlag — Ihr Fehler, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Sozialdemokratie — , dann ist dieser Fehler wiedergutgemacht.An die Fraktion DIE GRÜNEN habe ich die herzliche Bitte: Lassen Sie endlich einmal Ihren schon fast krankhaften Antiamerikanismus! Entkrampfen Sie sich ein kleines bißchen! Dann können wir eine gemeinsame Politik tragen, die die Bürgerinnen und Bürger draußen verstehen.
Wir haben von unserer Seite dazu beigetragen, daß dieses Mißverständnis, soweit es vorhanden war, aufgeklärt und befriedigend gelöst werden konnte.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Feldmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Wartime Host Nation Support-Abkommen ist in den letzten Jahren mehrmals Thema der Beratung dieses Hauses, vor allem in den Ausschüssen, geworden.Lieber Horst Ehmke, trotz des professoralen Briefwechsels heißt es immer noch „Host Nation Support", nicht „Horst Nation Support" .
Es gibt vieles, worüber man mit Recht streiten kann, vor allem, wenn es um juristischen Formulierungen geht. Eines ist und bleibt klar — ich glaube, darüber sind wir uns einig — : Dieses Abkommen ist ein Grundstein der Bündnissolidarität. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Kollegin Beer, will ich das deutlich wiederholen. Dieses Abkommen ist ein Bindeglied zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik.
Der politisch-militärische Zweck dieses Abkommens von 1982 ist ja nie bestritten worden und war auch nie umstritten.Dieses Abkommen, das von einem sozialdemokratischen Verteidigungsminister ausgehandelt wurde, ist ein wichtiges und gutes Abkommen. Ohne die zivilen und militärischen Unterstützungsmaßnahmen, zu denen sich die Bundesrepublik verpflichtet hat, wären amerikanische Einheiten, die für den Spannungs- und den Verteidigungsfall über den Atlantik hierher gebracht werden, nicht einsatzfähig. Wenn die Einsatzfähigkeit der amerikanischen Verstärkungseinheiten aber nicht sichergestellt ist, ist dieses Bündnis nicht
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Dr. Feldmannverteidigungsfähig und — das möchte ich für Sie ausdrücklich feststellen — auch nicht abrüstungsfähig.
In Wien verhandeln wir derzeit über den Abbau der konventionellen Streitkräfte in Europa. Wir haben dabei die berechtigte Hoffnung, daß es zu deutlichen Truppenreduzierungen auf beiden Seiten kommt. Wir sind uns darüber im klaren, daß dadurch der geographische Nachteil des westlichen Bündnisses nicht an Bedeutung verliert.Wenn wir uns über „Wartime Host Nation Support" gestritten haben, dann immer nur um Formulierungen, und das vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Denn es darf nicht der Eindruck entstehen, durch dieses Abkommen könnten die verfassungsmäßigen Rechte des Parlaments, über den Spannungs- und den Verteidigungsfall zu entscheiden, umgangen werden. Gerade jetzt, wo unsere Bevölkerung große Sensibilität für die verteidigungspolitischen Fragen entwickelt hat, darf für Mißverständnisse und Zweifel kein Raum bleiben. Auch das ist Aufgabe dieses Parlaments.
— Nein, durch diesen Briefwechsel haben wir alle ausgeräumt!
Ich sage das in aller Deutlichkeit.
— Na gut, Sie können ja weiterhin darauf herumreiten. Es wird Ihnen wenig Erfolg bringen.Dieses Thema, Frau Kollegin Beer, ist kein parteipolitisches Thema, sondern ein staatspolitisches Thema. Auch das hat der Staatsrechtler Professor Ehmke bereits in seiner Rede von 1988 — wenn ich es richtig in Erinnerung habe — ausgeführt.Aber wer nicht Völkerrechtler ist, wird zugeben müssen, daß wir im vorausgegangenen Streit einiges voneinander und miteinander gelernt haben.
Denn der Unterschied zwischen den Begriffen Krise und Spannungsfall sowie zwischen den Begriffen Krieg und Verteidigungsfall ist erheblich.
— Ja. Passen Sie nur auf! Das wissen wir. Also, wir können das Grundgesetz genauso gut lesen und tragen es immer unter dem Arm — im Gegensatz zu Ihnen.
Der Unterschied zwischen den Begriffen Krise und Spannungsfall sowie den Begriffen Krieg und Verteidigungsfall ist erheblich. Das habe ich Ihnen gesagt, und Sie stimmen mir zu. Das Begriffspaar Spannungsfall und Verteidigungsfall — falls Sie dieses gemeint haben — ist in unserer Verfassung verankert und gibt dem Parlament, also uns, genau definierte Rechte.Bei dem anderen Begriffspaar Krise und Krieg ist dies nicht der Fall. Maßnahmen nach dem Wartime Host Nation Support-Abkommen sind aber — das war ja der Grund des Streits — an die Begriffe Krise und Krieg geknüpft, über die dann NATO-Gremien zu entscheiden haben. Diese Gremien sind jedoch — bei allem Respekt — keine Parlamente. Unsere Verfassung hat indes das Recht, über Mobilmachung, Spannungsfall und Verteidigungsfall zu entscheiden, aus gutem Grund dem Parlament übertragen. Dort — also hier — soll es auch bleiben.Die Bundesregierung hat sich um Aufklärung bemüht. Sie hat in ihren Antworten auf verschiedene Anfragen, vor allem von der Opposition, klargestellt, daß im Rahmen des Wartime Host Nation Support-Abkommens die Rechte des Parlaments geachtet werden. Nach Feststellung einer Krise durch die NATO — sie erfolgt im Rahmen eines formalisierten Konsultationsverfahrens — soll durch Verstärkung der Bündniskräfte in Europa ein Beitrag zur friedlichen Konfliktbewältigung geleistet werden. Das Bündnis zeigt somit, daß es nicht überrascht werden kann. Das kann in einer Krise natürlich viel wert sein.Durch den Brief von Ex-Verteidigungsminister Scholz, der in der vorliegenden Beschlußempfehlung enthalten ist — nicht als ein Brief an Herrn Professor Ehmke, sondern als ein Brief an den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, wie es sich gehört; die Form ist gewahrt, der Inhalt —
— so ist es —, sagt die Bundesregierung zu, den Deutschen Bundestag rechtzeitig vor einer beabsichtigten Kabinettsentscheidung über Krise und Krieg im Rahmen der Bündniskonsultationen zu informieren.
— Frau Beer, Kollege Voigt hat das vorhin ganz genau zitiert. Ich will das nicht wiederholen.Das Parlament hat dann alle Möglichkeiten, seine Rechte aus Art. 80 a und 115 a des Grundgesetzes ungeschmälert wahrzunehmen.Diese Klarstellung ist gut. Damit ist jedem Mißbrauch der Boden entzogen. Zu Mißtrauen besteht auch gar kein Anlaß. Das möchte ich im Gegensatz zu Ihren Unterstellungen von vorhin, Frau Kollegin, ausdrücklich feststellen.
— Nein, das sind keine Tatsachen.
Die Bundesregierung hat immer wieder zu verstehen gegeben, daß sie Maßnahmen nach dem Wartime Host Nation Support-Abkommen nur für den Zweck der Vorneverteidigung des Bündnisses zustimmen wird. Ohne Zustimmung der Bundesregierung gibt es keine Maßnahmen nach dem WHNS-Abkommen.
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11502 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Dr. Feldmann— Nein. Diese Bundesregierung, Frau Kollegin, hat durch ihre Antwort auf amerikanisches Ersuchen gezeigt, daß sie für Out-of-area-Einsätze der amerikanischen WHNS-Verbände und Ausrüstungen keine Zustimmung gibt. Das hat die Bundesregierung gezeigt.
Es ist gut, daß die Bedenken der SPD — das ist damit auch ein Blumenstrauß für Sie — durch den Brief von Ex-Verteidigungsminister Scholz ausgeräumt sind. Ich meine, das war ein positiver Streit. Ich bestätige der Opposition gerne, daß sie durch ihre Anfrage wesentlich dazu beigetragen hat, daß diese Dinge klargestellt wurden. Das war also hilfreich. Das Ganze hat letztendlich auch zur Glaubwürdigkeit unserer parlamentarischen Arbeit beigetragen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kolbow.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gut Ding will Weile haben, möchte man sagen, wenn man den fast dreijährigen parlamentarischen Weg der Initiativen der SPD-Bundestagsfraktion zur Auslegung des WHNS-Abkommens bis zum heutigen Tag verfolgt. Es war in der Tat nicht einfach, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen davon zu überzeugen — ein Nachklang war die Rede des Kollegen Lowack heute — , die gebotenen verfassungsrechtlichen, verfassungs- und sicherheitspolitischen Festlegungen bei der Auslegung des Vertrages zur militärischen und zivilen Unterstützung der Bundesrepublik für amerikanische Streitkräfte vorzunehmen und eine entsprechende Selbstbindung der Bundesregierung gegenüber dem Parlament zu erreichen, wie sie jetzt in der Beschlußempfehlung vorliegt.
Die für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unabdingbare Klärung einer verfassungskonformen Auslegung des WHNS-Vertrages mit den USA ist somit gegeben. Mein Kollege Voigt hat dargelegt, daß wir die nun gefundene gemeinsame Haltung — zumindest der Koalition und der SPD — begrüßen. Ich möchte das unterstreichen. Denn alle unsere förmlichen parlamentarischen Initiativen konnten die Problematik bis zum 14. Oktober 1988, bis zur letzten Wartime Host Nation Support-Debatte in diesem Haus, nicht klären; nicht unser Antrag vom 5. November 1988, nicht mündliche und schriftliche Fragen im Dezember 1986, im März und April 1987, vor allem vom Kollegen Ehmke gestellt.
Zum einen verweigerte sich die Mehrheit des Hauses schon beim ersten Antrag; zum anderen gingen die Antworten der Bundesregierung stets ins Leere. Auch der Kleinen Anfrage der Fraktion der SPD mit der Antwort der Bundesregierung vom 26. August 1987 war das gleiche Schicksal beschieden. So erging es auch unseren Fragen im Verteidigungsausschuß undim Auswärtigen Ausschuß, zuletzt im April 1988, was dann zu der Antragsinitiative vom 22. Juni 1988 und dann zu der schon erwähnten und doch sehr wichtigen Debatte am 14. Oktober 1988 führte.In dieser Debatte, meine Damen und Herren, hatten die Abgeordneten Ronneburger und Franke immer noch nicht verstanden, um was es der SPD ging.
Es muß daher dankbar anerkannt werden
— Sie kommen noch dran — , daß sich der damalige Bundesminister der Verteidigung, Professor Scholz, bemühte, immerhin eine Erklärung zu den Problemen, die die SPD in ihrem Antrag angesprochen und aufgeworfen hatte, abzugeben. Letztlich führten dann— ich möchte das ausdrücklich festhalten — die Antworten von Professor Scholz in dieser Rede, aufgenommen durch den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Professor Ehmke, im Auswärtigen Ausschuß, im Rechts- und Verteidigungsausschuß behandelt, zur Klärung des Problems.
Denn mit der jetzt vorliegenden Erklärung hat die gegenwärtige Bundesregierung nach einem umfassenden Verfahrensgang zu erkennen gegeben, daß es eben nicht angeht, von den Möglichkeiten des WHNS-Abkommens für irgendeinen anderen Zweck als den der Verstärkung der Zentralfront Gebrauch zu machen und den Kriegszustand zu erklären, ohne daß ihn der Bundestag hätte beschließen können. Allein darum ging es uns, denn es gibt keine Kriegserklärung der Bundesregierung, sondern nur — in jenem schlimmsten Fall — die des Parlaments.Jetzt hat die Bundesregierung mit der Erklärung nachprüfbr klargestellt, daß die Nutzung von WHNS- Einrichtungen durch den Vertragspartner außerhalb des Vertragszwecks ihrer Konsultation oder/und ihrer Zustimmung bedarf. Außerdem hat sie nunmehr Antwort darauf gegeben, wie sichergestellt ist, daß solche Nutzungen verhindert werden. Eine einseitige Inanspruchnahme ziviler Leistungen durch die US-Streitkräfte ohne Mitwirkung deutscher Dienststellen oder Behörden ist erklärtermaßen nicht möglich, so daß der ursprünglich befürchtete Mißbrauch von Depotinhalten wie Waffen, Treibstoff und Munition, die in der Regel amerikanisches Eigentum sind, ausgeschlossen ist. Für militärische Unterstützungsleistungen ist gemäß der vorliegenden Beschlußempfehlung ein Einsatz deutscher Verbände mit WHNS-Auftrag zur Unterstützung von Out-of-area-Einsätzen der US-Streitkräfte schlechterdings unmöglich.Meine Damen und Herren, die Geschichte des WHNS-Vertrages bis heute ist auch ein Lehrstück parteipolitischer Willensbildung, denn Ausgangspunkt für die Initiativen der SPD-Bundestagsfraktion waren die Parteitagsbeschlüsse der SPD in Nürnberg und Münster aus den Jahren 1986 und 1988. Darin wurden sowohl die Wahrung der Rechte des Bundestages als auch die Einhaltung des Zwecks des Abkom-
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Kolbowmens begehrt, und dies wurde in voller Kenntnis des Tatbestands getan, daß eine sozialdemokratisch geführte Regierung diesen Vertrag verhandelt und gezeichnet hatte.In den Ausschußdebatten und auch hier — auch heute wieder durch Sie, Herr Kollege Lowack — wurde dieser Tatbestand häufig als Schwäche in der Argumentation der SPD-Bundestagsfraktion bezeichnet.
— Ich möchte das im Zusammenhang ausführen. — Ich meine, genau das Gegenteil ist der Fall. Die jetzige Opposition weiß sich z. B. im Einklang mit der Opposition von 1968, der FDP, die in der 5. Wahlperiode des Deutschen Bundestages bei der Notstandsgesetzgebung ein Gesetz zur Sicherung der rechtsstaatlichen Ordnung im Verteidigungsfall einbrachte. Damals wandte sich der FDP-Abgeordnete Dr. Rutschke am 15. Mai 1968 u. a. grundsätzlich gegen den Begriff des Spannungsfalles. Er befürchtete, daß damit zwangsläufig im Falle des Art. 80 a Abs. 3 des Grundgesetzes eine völlige Umgehung des Parlaments möglich werde. Er meinte, daß das Parlament überhaupt nicht gefragt werde. Gültig sei dann allein der Beschluß der NATO-Behörde oder wer immer es sein möge. Für mich ist geradezu spannend, daß er dann im Zusammenhang mit der damaligen Verfassungsänderung — Art. 80 a und 115 a — in Richtung aller Regierungen der Zukunft sagte: „Der Sinn einer Verfassung ist auch der, daß sie das kodifizierte Mißtrauen gegen die Inhaber der Macht darstellt. " Die Ausstrahlung der Verfassung auf internationale Verträge, die mit ihr in Einklang stehen müssen, stellt an diese Verträge die gleichen Anforderungen. Was die parlamentarische Opposition von 1968 beschäftigte, das bewegte auch die Opposition von heute,
als sie die Implementierung des WHNS-Vertrages im Zusammenhang mit Krieg und Krise und möglichen Out-of-area-Einsätzen betrachtete. Daher beschloß die SPD auf ihrem Parteitag in Münster ihre Essentials, die nun Eingang gefunden haben in die Erklärung und die Beschlußempfehlung, um die es heute geht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, für den objektiven Betrachter war immer erkennbar, daß die Bedenken der SPD sich nie gegen Zweck und Ziel des WHNS-Abkommens richteten,
obwohl dies immer wieder behauptet worden ist,
sondern eben gegen einzelne Punkte seiner Ausgestaltung. Die Behandlung dieser Auslegung, hier bei einem nicht ratifizierten Bündnisvertrag, ist ein Beispiel für die Gefahr, daß diejenigen Fraktionen des Hauses, die gerade die Regierung bilden, unabhängig von ihre Couleur zumindest im ersten Reflex genausohandeln und argumentieren, als seien sie die Exekutive.
Das stellt ein Defizit — das ist selbstkritisch an all diejenigen gesagt, die hier im Hause sind — bei der Kontrollfunktion des Parlaments dar, welchem gegenüber dem unangefochtenen Intitiativrecht der Regierung die letztinstanzliche Beschlußfassung zusteht. Besonders problematisch wird es, wenn die Exekutive— und das war hier so — selbst mehr Sensibilität für die Kontrollfunktion des Parlaments entwickelt als eine Mehrheit, die ihre Aufgabe anscheinend mehr darin sieht, die Regierung zu tragen, als sie zu kontrollieren.
So ist das WHNS-Abkommen eine lehrreiche Lektion— darin schließe ich mich Ihnen an, Herr Kollege Feldmann — für uns
und hoffentlich für uns alle. Heute haben wir im wesentlichen das Ziel verfassungskonformer Auslegung und Begrenzung des WHNS-Abkommens erreicht, und, meine Damen und Herren, wir haben dieses Ziel fast gemeinsam erreicht. Wir haben in der Tat viel gelernt, in der Sache und in der politischen Praxis der Gewaltenteilung. Wichtig ist, daß am Ende eine bessere Verfassungswirklichkeit entsteht und die Bundesrepublik Deutschland gestärkt auch als gleichberechtigter Partner im Bündnis aus dieser Debatte hervorgeht.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4850. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/4722. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden.
— Herr Lowack, zur Geschäftsordnung?
Nein. Sie haben vorhin noch nicht präsidiert, als ich die Anmerkung als Berichterstatter gemacht habe, daß es vorn im Bericht „April" statt „Mai" heißen muß. Ich wollte nur sichergestellt haben, daß das festgehalten wird, weil das für den historischen Moment einer gemeinsamen Entschließung entscheidend ist.
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11504 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Das ist im Protokoll festgehalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Umweltschadenrechts
— Drucksache 11/4247 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung insgesamt 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Mit dem heute von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf zur Regelung des Umweltschadensrechts ist es uns gelungen, in diesem Parlament noch vor der Sommerpause einen Meilenstein für eine ökologische Politik des Umbaus der Industriegesellschaft zu setzen.
Mit drei großen Reformvorhaben wollen wir das ökologische Gesamtprogramm für diese Wahlperiode abrunden. Nach dem Akteneinsichts- und dem Verbandsklagerecht wird heute der Gesetzentwurf zum Umweltschadensrecht in die Ausschüsse überwiesen. In den nächsten Wochen wird meine Fraktion einen Gesetzentwurf über Umweltbeauftragte in Unternehmen einbringen. Und noch vor Ende der Sommerpause werden wir Lösungsansätze für ein Gesamtsystem von Umweltsteuern und -abgaben vorstellen.Mit diesen Vorhaben machen wir deutlich, daß wir uns von einer rein technokratischen Umweltpolitik konsequent abwenden, einer Umweltpolitik, die die apokalyptische Zuspitzung der ökologischen Krise nicht zur Kenntnis nimmt und sie immer noch nur für eine Randerscheinung der heutigen Wirtschaftsweise hält. Die GRÜNEN waren die erste Partei, die die ökologischen Fragen aufgegriffen hat. Sie sind auch nach wie vor die einzige Partei, die konsequente Antworten liefert.Mit dem heute vorliegenden Entwurf gehen wir erneut in die umweltpolitische Offensive. Denn die Bundesregierung hat — dies haben nicht zuletzt die von Ihnen vorgestellten sogenannten Eckwerte deutlich gemacht — endgültig abgewirtschaftet. Verstehen Sie deshalb das Gebäude der verschiedenen in dieser Legislaturperiode von uns eingebrachten Gesetzentwürfe ruhig auch als eine umweltpolitische Abrechnung mit dieser in jeder Hinsicht gescheiterten und zunehmend handlungsunfähigen Bundesregierung.
— Verstehen Sie, Herr Kleinert, diese Entwürfe der— nicht nur in umweltpolitischer Hinsicht — gegenwärtig vielleicht kompetentesten Fraktion so, wie sie gemeint sind,
nämlich als Beitrag zu einem ökologischen Regierungsprogramm.Meine Damen und Herren, eine ökologische Reformpolitik, die diesen Namen verdient, beruht auf vielen Bausteinen, von denen hier nur die wesentlichen genannt werden sollen: Wir benötigen zunächst einmal ordnungspolitische Instrumente, Ge- und Verbote, ohne die wir nicht auskommen. Es müssen in Zukunft bestimmte Stoffe, Handlungen und Produktionsweisen schlicht verboten werden. Es müssen vor allen Dingen auch Verbesserungen im Vollzug durchgesetzt werden.Wesentlich wichtiger noch ist aber eine Demokratisierung der Umweltpolitik. Dazu gehört vor allem eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung, die gegenwärtig überhaupt nicht in ausreichendem Maße gegeben ist. Öffentlichkeitsbeteiligung setzt Informationsrechte z. B. Akteneinsichtsrechte voraus. Öffentlichkeitsbeteiligung setzt aber auch reale Mitwirkungsrechte voraus, ohne die Öffentlichkeitsbeteiligung immer nur zur Farce oder zur Makulatur verkommt.
Wenn also beispielsweise beim Erörterungstermin für die WAA 880 000 Einwendungen vorgelegt worden sind, so ist dies auch ein Beweis und ein Beispiel dafür, wie sehr sich die Bürgerinnen und Bürger in den sie selbst und ihre Zukunft betreffenden Fragen engagieren und einmischen und daß sie solche Anlagen nicht hinnehmen wollen. Die Tatsache, daß die WAA in Wackersdorf wegen der Intervention der deutschen Wirtschaft gescheitert ist und nicht auf Grund einer demokratischen Entscheidung oder des Protestes der Menschen, wirft ein bezeichnendes Licht auf den demokratischen Zustand dieser Republik.Ich habe vorhin von drei Bausteinen gesprochen. Der dritte und aus unserer Sicht elementare ist der der ökonomischen Instrumente. Hierzu gehören Abgaben und Steuern, mit denen man im ökologischen Bereich tatsächlich sehr gut steuern kann — eine Chance übrigens, die Sie im Rahmen der sogenannten Steuerreform endgültig vergeben haben — , sowie ein konsequentes Umweltschadensrecht, das wir heute vorlegen und das ich nun im einzelnen vorstellen möchte.Wir wissen, daß sich die Umweltschäden in der Bundesrepublik Deutschland nach Schätzungen von Experten heute auf etwa 160 Milliarden DM jährlich belaufen. Es ist schon absurd: Wenn ein Kind im Vorbeilaufen einen Kratzer an einem Auto verursacht,
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Häfnerdann muß es — bzw. seine Eltern — den Schaden natürlich ersetzen;
das kann oft ganz schön teuer werden. Wenn aber ein Industrieunternehmen, Herr Hüsch, viel Wichtigeres, Unwiederbringliches vergiftet und zerstört — unser Wasser, unsere Luft, unseren Wald z. B. —,
dann macht es dabei häufig sogar noch Gewinn auf Kosten der Allgemeinheit. Die Kosten und die Schäden aber werden der Nachwelt, werden der Allgemeinheit, dem Steuerzahler überlassen.
Dies kann nicht gerecht sein, nicht nur im Sinne einer Ökologiepolitik, sondern auch im Sinne einer gerechten Wirtschaftspolitik.
— Herr Hüsch, ich will Ihnen das hier aus Zeitgründen nicht auflisten. Sie wissen, welche Kosten z. B. allein durch Atemwegserkrankungen entstehen, welche Gebäudeschäden durch Umwelt- und Luftverschmutzung entstehen. Wir kennen die Verursacher auch im Falle Sandoz, aber diese Verursacher tragen zur Begleichung der Schäden nichts bei.Dies soll unser Gesetzentwurf ändern. Unser Gesetzentwurf verwirklicht — ich meine: erstmalig — das A und O der Ökologiepolitik, das von Herrn Bundesminister Töpfer und anderen z. B. in Akademievorträgen immer wieder beschworen, aber niemals wirklich umgesetzt wird, nämlich das Verursacherprinzip. Wir sind der Meinung, daß die Verursacher ökologischer Schäden für diese Schäden auch aufkommen müssen. Wir haben dafür ein Gesetz vorgelegt, das die schwierigen juristischen Probleme, die dabei durchaus auftreten, durch eine zweigleisige Lösung in den Griff bekommt.In unserem Umwelthaftungsgesetz werden die Grundsätze des Schadensausgleichs gegenüber identifizierbaren Verursachern festgelegt, und in unserem Umweltschadensfondsgesetz werden die Regularien der Entschädigung im Falle der summierten Immissionen bestimmt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, daß diese summierten Immissionen den vielleicht größten Teil der heutigen Umweltschäden darstellen. Sie wissen auch, daß bei diesen summierten Immissionen genau das, was bisherige Grundlage unseres Haftungs- und Schadensrechts ist, nicht greift, denn Sie können nicht einen einzelnen und bestimmten Verursacher festmachen. Daran scheitert die haftungsrechtliche Lösung und damit der Schadenersatzanspruch der meisten Bürgerinnen und Bürger wie Allgemeinheit in diesem Bereich.An all diesem wird durch die sogenannten Eckwerte, die die Bundesregierung auf unseren Entwurf hin vor wenigen Wochen noch schnell über die Presse verkündet und vorgestellt hat, überhaupt nichts geändert. Sie regeln gerade den wesentlichen Bereich der Umweltschäden und damit auch den Bereich, bei dem der Bundesgerichtshof von Ihnen eine Regelung verlangt, nämlich den Bereich der Distanzschäden und der summierten Immissionen, nicht.Bei unserem Gesetzentwurf wird — auch dies ist ein Novum — die Ersatzfähigkeit ökologischer Schäden künftig nicht mehr davon abhängig gemacht, ob zugleich Eigentumsverletzungen vorliegen. Die Reduzierung des Schadenersatzanspruchs auf Vermögens- und Eigentumsschäden und auf Gesundheitsschäden scheint uns hier längst nicht mehr ausreichend.Die Haftung beschränkt sich auch nicht mehr allein auf die Kosten der Wiederherstellung zerstörter Naturteile, sondern — das ist ein wesentliches Novum — auch ökologische Schäden müssen ersetzt werden und ersetzt werden können. Dabei gehen wir von der Prämisse aus, daß in erster Linie versucht werden muß, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Nur dort, wo dies nicht möglich ist, müssen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen erfolgen. Wenn auch dies nicht möglich ist, sieht der Gesetzentwurf ein empfindliches „ökologisches Schmerzensgeld", wenn Sie mir diesen Ausdruck erlauben wollen, vor.
— Für Sie vielleicht nicht, Herr Kleinert, obwohl ich auch da nicht sicher bin, aber für viele schon. Das ist der Grund, warum wir hier bis heute offensichtlich gesetzgeberisch zu keiner Lösung gekommen sind, jedenfalls Ihre Parteien nicht. Es geht eben nicht, ohne daß man auch manchem wehtut.Lassen Sie mich an dieser Stelle übrigens auch sagen, daß ich meine, daß die präventive Wirkung eines solchen Gesetzes vielleicht sogar noch sehr viel größer sein wird als die unmittelbare Wirkung im Bereich der Abgeltung von Schäden.Wenn nämlich ein Unternehmer weiß, daß er für das, was er emittiert, und daß er für das, was dadurch an Schäden erzeugt wird — im Boden, im Wasser, in der Luft — auf Heller und Pfennig berappen muß, dann wird er sich das vorher gut überlegen — im Gegensatz zu heute — und wird seine umweltgefährdende Produktion tunlichst umstellen.Bei der bisher geltenden Rechtslage stellen die hohen Beweisanforderungen — gewollt oder ungewollt — ein oft unüberwindliches Problem dar, vor allem dann, wenn die Geschädigten der Übermacht großer Unternehmen gegenüberstehen. Sie haben auch nicht immer den technischen Sachverstand und das Wissen über naturwissenschaftliche Zusammenhänge, um zweifelsfreie Beweise erbringen zu können. In bestimmten Bereichen sind übrigens völlig zweifelsfreie Beweise trotz augenscheinlicher Zusammenhänge gar nicht möglich.Deshalb reduzieren wir das Beweiserfordernis auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit bis hin zur Beweislastumkehr in bestimmten besonders begründeten Fällen, wie sie seit langem von den einschlägigen Sachverständigen gefordert wird.Außerdem werden in unserem Gesetzentwurf die Auskunftsansprüche von Geschädigten normiert und
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Häfnerwesentlich erleichtert. Denn ausreichende Informationen sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß die komplexen Wirkungszusammenhänge überhaupt nachgewiesen werden können. Nur wenn die Bürger im Falle eines Schadens bei den Behörden Einblick nehmen, aber auch bei den Unternehmen Auskunft darüber verlangen können, welche Stoffe verwendet, welche emittiert wurden usw., nur dann ist es für die Bürger überhaupt möglich, solche Zusammenhänge festzustellen und aufzuzeigen.Ein ganz wesentlicher Regelungsbereich dieses Gesetzentwurfes, der im Umweltschadensfondsgesetz normiert wird, ist, wie ich schon gesagt habe, der Bereich der summierten Immissionen. Denken Sie an die berühmte Waldschadensklage vor dem Bundesgerichtshof. Der Bundesgerichtshof hat gesagt: Selbstverständlich gebührt den Waldbauern, den Waldbesitzern, ein Schadenersatz für die ihnen entstandenen Milliardenschäden. Aber der Bundesgesetzgeber hat es bis heute unterlassen, die rechtliche Regelung, die auch vom Bundesgerichtshof dringend angemahnt wurde, hierfür vorzulegen.Es ist eben heute sehr häufig so, daß, wie Ulrich Beck sagt, eine Art „Universalisierung der Vergiftung" vorliegt, d. h. daß wir bei vielen und gerade den größten Schäden, etwa bei der Zerstörung der Nordsee, bei der Vergiftung von Flüssen und Gewässern, bei den wachsenden Wald- und Gebäudeschäden nicht einen einzigen Verursacher festmachen können, sondern es mit einer Vielzahl von Emittenten zu tun haben, die gemeinsam zu diesen Schäden beigetragen haben. Diese Vielzahl der Verursacher kann und darf aber doch kein Argument sein, diese Schäden nicht abzugelten und auszugleichen.Deshalb haben wir ein Umweltschadensfondsgesetz vorgelegt, das ein detailliertes und praktikables Entschädigungsinstrumentarium zur Regelung solcher Umweltschäden vorsieht. Geschädigte Bürgerinnen und Bürger können künftig ihre Ersatzansprüche gegenüber dem Fonds geltend machen, wenn sie anderweitig keinen Ersatz verlangen können. Dies betrifft vor allem die summierten Immissionen. Der Entschädigungsfonds kommt dabei dadurch zustande, daß alle diejenigen, die zu diesen Schäden beigetragen haben, gemeinsam in den Fonds einzahlen. Dies wird in unserem Umweltabgabengesetz geregelt.Der Entschädigungsfonds ist dabei nicht nur für die Ansprüche Privater, sondern der Entschädigungsfonds ist etwa auch für die Ansprüche von Sozialversicherungsträgern und von Krankenkassen oder der öffentlichen Hand zuständig. Denn Sie wissen, daß die Krankenkassen seit langem — zu Recht — darüber Klage erheben, daß ein Großteil der erhöhten Kosten in unserem Gesundheitswesen umweltbedingt ist, durch Umweltschäden hervorgerufen wird. Die Krankenkassen sind nicht bereit, auf Dauer diese Kosten zu tragen, sondern meinen, daß auch diese Kosten — und nur das trägt ja zu den entsprechenden ökologischen Umbaumaßnahmen bei — von den Verursachern getragen werden müssen.Ich will zum Schluß kommen. Die Bundesregierung hat es für angebracht gehalten, obwohl sie nicht in der Lage gewesen ist, einen Gesetzentwurf vorzulegen, sogenannte Eckwerte für ein Umweltschadensgesetz vorzustellen. Dies gibt mir Gelegenheit bzw. verlangt von mir, wenigstens folgendes kurz dazu zu sagen: Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der gerade den wesentlichen Bereich der heutigen typischen Umweltschäden, die summierten Immissionen, nicht behandelt. Sie haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der z. B. die Beweislasterleichterung davon abhängig macht, daß der Schädiger gegen Vorschriften verstoßen hat, daß er nicht vorschriftsmäßig gehandelt hat. Sie wissen aber, daß es für einen Menschen, der etwa im Straßenverkehr angefahren wird, überhaupt keine Rolle spielt, ob der, der ihn angefahren hat, dies vorschriftsmäßig, also etwa im Rahmen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit getan hat oder ob er diese Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. Für den real entstandenen Schaden spielt es grundsätzlich keinerlei Rolle, ob der Verursacher gesetzeswidrig gehandelt hat oder nicht. Entscheidend ist, daß er den Schaden verursacht hat. Wenn dies mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden kann, hat er dafür geradezustehen.Nur wenn wir das Verursacherprinzip in diesem Sinne in der Umweltpolitik konsequent anwenden, werden wir erstens zu einer Abgeltung der Schäden und zweitens zu einer anderen Politik im Umweltbereich, vor allen Dingen zu einem anderen Umgang der Wirtschaft und der Industrie mit Umweltressourcen und mit unser aller gemeinsamer Zukunft kommen.Ich danke Ihnen und hoffe, daß sie aus höherer Einsicht unserem Entwurf Ihre Zustimmung nicht versagen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Hüsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was die GRÜNEN hier als Meilenstein, als Kern des Regierungsprogramms, als A und O ankündigen, scheint ja nicht so wichtig zu sein; sonst wären wenigstens mehr als neun GRÜNE bei der Debatte ihres Regierungsprogramms anwesend.
Da Sie die CDU/CSU-Abgeordneten zählen, sage ich Ihnen: Wir beraten ja nicht unser Gesetz, sondern Sie wollen etwas durchsetzen.Mir scheint das, Herr Häfner, was Sie vorgetragen haben, ein Meilenstein der Selbstüberschätzung zu sein. Es ist überhaupt nicht erkennbar, was dieser Entwurf an Wichtigem und Regelungsfähigem bringt. Es ist nach dem Stand der Diskussion wenig Neues und viel Altbekanntes. Man hat den Verdacht, daß Illoyalitäten von Mitarbeitern aus dem Ministerium genutzt worden sind und daß aus internen Papieren abgeschrieben wurde.
Alles ist relativ überflüssig, weil es die Eckwerte gibt, die das Bundeskabinett verabschiedet hat. Wohl noch im Laufe dieser Sommerpause wird im Kabinett ein Gesetzentwurf verabschiedet werden. Die Einbringung in den Bundestag erwarten wir in sehr kurzer
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Dr. HüschZeit. Sie sind indes ganz schnell noch auf einen Zug aufgesprungen, um dabeizusein,
so nach der Methode: Herr Lehrer, auch ich weiß was; auch ich bringe noch schnell einen Gesetzentwurf ein.Ich will einmal sagen, daß bei dieser Sache ein bißchen mehr Gründlichkeit, ein bißchen mehr Umsicht und sicherlich auch ein bißchen mehr Augenmaß gefordert wären.
Dann muß ich Ihnen sagen, Herr Häfner, da Sie gerade zu einer Zwischenfrage am Mikrophon stehen, die ich natürlich erlaube, wenn sie mir nicht zeitlich angerechnet wird: Sie müssen wenigstens das Gesetz kennen und zumindest die Inhalte richtig wiedergeben. Aber was ich in dieser Hinsicht von Ihnen gehört habe, das entbehrte jeder Kenntnis der bestehenden Gesetze und ihrer Anwendung.Bitte sehr.
Herr Häfner, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen. Bitte schön.
Geschätzter Kollege Hüsch, sind Sie bereit, wenn Sie schon so lichtvolle Ausführungen für angebracht halten, der Öffentlichkeit erstens mitzuteilen, wie viele Mitglieder Ihrer Fraktion im Raum sind, und zweitens, welche weiteren Gesetzentwürfe hier noch vorliegen, damit Ihre Behauptung, wir seien zum Schluß gerade noch auf einen fahrenden Zug aufgesprungen, irgendwo Futter enthält?
Die erste Frage will ich damit beantworten, daß es ja um Ihren Gesetzentwurf und um — das war Ihre anmaßende Bezeichnung — Ihr Regierungsprogramm geht. Ich denke, Ihr Regierungsprogramm wird durch Ihre Anwesenheit untermauert und nicht durch die Anwesenheit anderer Abgeordneter.Zweitens. Was die sonstigen Gesetzesdinge betrifft, will ich Ihnen im Laufe des Textes meiner Rede antworten. Sie dürfen sich gerne wieder setzen.Sie übersehen völlig, daß dem Bundestag die Novelle zum Chemikaliengesetz vorliegt. Sie beinhaltet die systematische Ermittlung gefährlicher Eigenschaften von chemischen Stoffen. Das wird weiter ausgebaut, insbesondere bezüglich der Umweltgefährdung. Sie haben doch kürzlich noch dazu beraten, Herr Häfner. Warum verschweigen Sie das hier?Es liegt eine novellierte Störfallverordnung aus dem Jahre 1988 mit den dazugehörigen Verwaltungsvorschriften vor. Eine verstärkte Vorsorge gegen Störfälle ist die Folge.Es gibt ein neues Bundes-Immissionsschutzgesetz. Die Sicherheitsanforderungen für Industrieanlagen werden verschärft, vor allem dort, wo mit gefährlichen Chemikalien gearbeitet wird. Das müßten Sie doch wissen, Herr Häfner. Warum streiten Sie das ab?Wir haben am gestrigen Tage im Rechtsausschuß das Gesetz über die Umweltverträglichketisprüfung unter Ihrer Beteiligung beraten. Warum verschweigen Sie das? Sehen Sie gar nicht, daß das Umweltauswirkungen erheblichen Umfanges haben wird? Es ist nicht etwa das Gesetz der GRÜNEN, sondern es ist eine Vorlage der Bundesregierung.
Zur Zeit wird die Technische Anleitung Abfall entwickelt. Das ist ein neuer Vorgang.Ich glaube schon, daß Herr Minister Töpfer zu Recht sagen kann, daß die Bundesregierung mit großem Erfolg daran arbeitet, eine neue Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft zu schaffen.
— Wenn Sie das nur mit Spott beantworten können, nun gut, dann zeigt das Ihren Mangel an wirklichen Kenntnissen.Nun kann man nicht bestreiten, daß ungeachtet des modernen Ordnungsrechtes, das die Umweltgefahren sicherlich senkt, ein Bestand bleibt, der bisher nicht geregelt ist. Darauf zielt — wenn ich Ihren Gesetzentwurf wenigstens insoweit positiv erwähnen darf — Ihre gesetzgeberische Absicht ab. Aber das, was Sie nun anstreben, hält in der Tat der Prüfung nicht stand.Wir unterscheiden uns in sehr wesentlichen Punkten der Grundauffassungen. Unser Umwelthaftungsrecht soll dazu dienen, die marktwirtschaftliche Effizienz zu fördern. Wir wollen Unternehmen zu Ersatzleistungen für umweltbedingte Schäden verpflichten, damit diese in die Kostenrechnung Eingang finden. Ähnlich wie bei den Umweltabgaben werden deshalb die umweltgefährdenden Produktionsprozesse marktwirtschaftlich zurückgedrängt.
Die besondere Anreizwirkung des Umwelthaftungsrechts besteht nach unserer Auffassung darin, die Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch die Geschädigten unabhängig vom Vollzug des Ordnungsrechtes zu gestalten. Das führt natürlich dazu, daß der Normalbetrieb von Anlagen in die Gefährdungshaftung einbezogen wird. Deshalb gibt es unsere Entscheidung für ein eigenständiges Umwelthaftungsrecht und dafür, daß schädliche Umwelteinwirkungen — nicht Handlungen, wie Sie es vorschlagen — das systembildende Begriffsmerkmal werden. Der Normalbetrieb wird der Gefährdungshaftung unterworfen.Eine gesetzliche Vermutungsregelung wird die Beweissituation der Geschädigten entscheidend verbessern. Aber das Kausalitätsprinzip, das bei Ihnen verletzt zu sein scheint, werden wir nicht verlassen.Die Auskunftsansprüche, die Sie erwähnen, stehen in den Eckwerten bereits drin. Sie haben gar nicht erwähnt, daß das von uns vorgesehene Umweltrecht gefährliche stillgelegte Anlagen erfassen soll.Zur Regelung der Pflichtversicherung will ich sagen, daß Sie zu diesem Punkt einige interessante zusätzliche Erwägungen in Ihrem Entwurf haben.
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Dr. HüschWas aber Ihren Gesetzentwurf insgesamt so wenig brauchbar macht: Wie immer bei Ihnen ist alles maßlos übertrieben. Alle Regelungsmöglichkeiten, alle Eingriffsvorgänge, alle Konsequenzen und alle Abwehrmaßnahmen sind maßlos in der Konstruktion und übertrieben in den Anforderungen und in den Konsequenzen.
Wenn Sie in Ihren Haftungsregelungen die vermutete Verursachung zugrunde legen, dann ist der Schritt zu dem Verdacht als Grundlage einer Haftung nur noch sehr, sehr klein. Ob ein Verdacht als Haftungsgrundlage gelten soll, darüber müssen Sie sicherlich nachdenken.
In Ihrem Vorsorgeumfang sind Sie wiederum maßlos. Nach der Auslegung des Gesetzes bleibt nur die Möglichkeit der Aufgabe des Betriebes oder der Abwanderung in ein anderes Land. Ihre Fondslösung ist staatlicher Zwang, Behörde, Strafe. Sie setzen nicht auf die Mitwirkung der Burger, sondern Sie setzen auf ein flächendeckendes staatliches Kontroll- und Ersatzsystem. Sie legen der Allgemeinheit eine Schadenersatzpflicht in einer Höhe auf, die unkontrollierbar wird. Sie vernachlässigen jede Erfahrung in den Ländern, in denen es — allerdings in unterschiedlicher Ausstattung — Fondslösungen gibt.Insgesamt: Es gelingt Ihnen nicht mit Ihrem Gesetzentwurf, das Wichtigste zu tun, was wir brauchen, nämlich den Bürger in die Verantwortung einzubeziehen, und zwar so, daß er das Gesetz richtig übernimmt und daß er es nicht als einen staatlichen Zwang, sondern als seine eigene Aufgabe sieht.Dazu kommt es, weil Sie eine Ihrer üblichen Eigenschaften auch hier wieder ausspielen: Sie sehen die Verantwortlichkeit nur bei den anderen, z. B. bei den Produzenten. Aber die Verantwortlichkeit bei sich selber sehen Sie nicht. Das ist keine ausreichende Grundlage.Herr Präsident, mit der Überweisung des Gesetzentwurfs der GRÜNEN in die Ausschüsse sind wir selbstverständlich einverstanden. Es mag dann ein parlamentarischer Wettstreit um die bessere Lösung eintreten. Dabei gilt nicht die Schnelligkeit, sondern dabei gelten die Gründlichkeit, die Umsicht und das Augenmaß, alles das, was in Ihrem Gesetzentwurf fehlt.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur: Die Behäbigkeit sollte auch nicht gerade zum ständigen Prinzip einer Regierung erklärt werden.
— Aha, Kleinert ist auch hier.In ihren öffentlichen Erklärungen sind sich schon lange alle einig. Unser derzeit geltendes Schadensersatzrecht ist in weiten Bereichen nicht mehr in der Lage, einen auch nur einigermaßen gerechten Ausgleich von Schäden zu gewährleisten, die unserer Um- und Mitwelt tagtäglich zugefügt werden. Eine tiefgreifende Reform des Umwelthaftungsrechts ist dringend geboten. Es ist ja wohl ein elementares Gebot der Gerechtigkeit, daß denjenigen, denen durch Umweltverschmutzung und Umweltvergiftung Schaden zugefügt wird, zumindest ein Ersatz für die erlittenen Schäden geleistet wird. Dazu zählen auch die sogenannten Ökoschäden, also Schädigungen des Naturhaushalts, die materiell allenfalls unzulänglich bewertet werden können, aber dennoch zu erheblichen Störungen des Naturhaushaltsgefüges führen.In ihren öffentlichen Bekundungen sind sich alle politischen Kräfte auch darüber einig, daß ein den spezifischen Schädigungen angemessenes Umwelthaftungsrecht eine heilsame Wirkung im Rahmen einer vorsorgenden Umweltpolitik entfalten würde. Potentielle Umweltschädiger nämlich, die damit rechnen müßten, daß sie für die Schäden, die sie Mensch und Natur zufügen, geradezustehen hätten, würden alles in ihren Kräften Stehende tun, um Schäden zu vermeiden.Die Instrumente, mit denen das geltende Haftungsrecht ausgestattet werden müßte, damit den Umweltschäden wirksam begegnet werden kann, sind bekannt und vielfältig diskutiert worden. Es gilt, die oft unerträgliche Beweisnot der Geschädigten beim Nachweis des Schadens zu beseitigen und Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zugunsten der Geschädigten einzuführen.
Die verschuldensunabhängige Haftung muß über den wasserrechtlichen Bereich hinaus auf das gesamte Umweltschadensersatzrecht, also auch auf Boden, Luft und Ökosysteme, ausgedehnt werden. Wer Schaden verursacht, hat für den Schaden einzustehen, unabhängig davon, ob Verschulden vorliegt oder nicht, unabhängig auch davon, ob öffentlichrechtliche Genehmigungen verletzt worden sind oder nicht.
Ich nehme jetzt nur einmal den Bereich, in dem wir uns einig sind. — Betreiber von umweltgefährdenden Anlagen müssen gesetzlich verpflichtet werden, das sich aus dem Betrieb ergebende Haftungsrisiko entweder durch eine Haftpflichtversicherung abzudekken oder eine anderweitige Deckungsvorsorge für Schadensersatzleistungen zu treffen. Für Fälle, in denen es sich — wie beim größten Teil der Waldschäden — um sogenannte Summations- und Distanzschäden handelt, müssen dann, wenn man keine Staatshaftung will, Schadensersatzfonds gebildet werden, die aus Abgaben der Schadstoffemittenten gespeist
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Bachmaierwerden und aus denen die Geschädigten Schadensersatz erlangen können.Jetzt, nachdem man über die Grundfragen Einigkeit hat, müssen doch endlich einmal die Konsequenzen aus den bisherigen Erkenntnissen gezogen werden.
Wir haben unsere Vorstellungen bereits vor einem Jahr in einem Entschließungsantrag vorgelegt. Heute behandeln wir in erster Lesung die Vorstellungen der GRÜNEN zur Reform des Umwelthaftungsrechts, in denen — Herr Hüsch hat dies auch am Rande erwähnt — bedenkenswerte und diskussionswürdige Anregungen zur Lösung der Probleme enthalten sind.
Nur die Regierung, die nach der Katastrophe von Sandoz und in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom März 1987 verbindlich versprochen hatte, das Umwelthaftungsrecht wirksam zu reformieren, versucht nach wie vor, sich mit allen erdenklichen Manövern um die von ihr selbst für notwendig erachtete Aufgabe herumzudrücken bzw. darum herumzureden.Jüngstes Beispiel sind die von den Ministern Engelhard und Töpfer vorgelegten sogenannten Eckwerte für ein Umwelthaftungsgesetz.
Dadurch, daß diese sogenannten Eckwerte, die in einem Diskussionsentwurf — so wird er bezeichnet — niedergelegt sind, vom Kabinett, wie es wörtlich heißt, zur Kenntnis genommen wurden, soll der Eindruck erweckt werden, es handele sich um einen Gesetzentwurf, der nach dem Willen der Bundesregierung baldmöglichst verbindliches Recht werden soll. In Wirklichkeit aber sind diese Eckwerte und ist dieser sogenannte Diskussionsentwurf von völliger Unverbindlichkeit; sie haben noch nicht einmal den Segen des Kabinetts, sind noch nicht einmal mit den Ressorts abgestimmt
und werden wohl auch in absehbarer Zeit die Organe, die in unserem Lande für die Gesetzgebung zuständig sind, nämlich Bundestag und Bundesrat, nicht beschäftigen.
Wir würden uns freuen, wenn Sie den Gegenbeweis anträten.
Bereits vor einem Jahr hat man absehen können, daß außer periodisch wiederkehrendem Wortgeklingel von dieser Regierung weder bei der Verankerung des Umweltschutzes in der Verfassung noch beim Umweltstrafrecht, schon gar nicht beim Umwelthaftungsrecht, substantielle Verbesserungen zu erwarten sind.
Schon vor einem Jahr war abzusehen, daß alle vorgetäuschten Aktivitäten auf diesem Feld lediglich die Aufgabe haben, wortreich den tatsächlich erfolgten Rückzug bei der Gestaltung des Umweltrechts zu verkleistern. Selbst dann, wenn dieser sogenannte Diskussionsentwurf vielleicht doch noch in der äußerst knapp bemessenen Zeit dieser Legislaturperiode die Gesetzgebungsorgane des Bundes beschäftigen sollte, was, wie gesagt, kaum zu erwarten ist, wird sich erweisen, daß dieser sogenannte Gesetzentwurf, den zu verabschieden das Bundeskabinett noch nicht einmal den Mut hatte, die substantiellen Mängel unseres Umwelthaftungsrechts nicht beseitigt, den Geschädigten vielmehr Steine statt Brot gibt.
Dies gilt selbst dann, wenn Sie dies in Gesetzesform gießen, um das mal klar zu sagen. Hierzu einige Beispiele:Erstens. Der Entwurf bietet keine Lösung für den Ersatz der sogenannten Summations- und Distanzschäden,
also für den Ersatz des größten Teils der Waldschäden und der Schäden an Bauwerken, obwohl der Bundesgerichtshof im Dezember 1987 — Herr Häfner hat darauf hingewiesen — den Gesetzgeber zum Handeln aufgefordert hat und Schadensersatzregelungen für diese Fälle für notwendig und geboten erachtete.Zweitens. Die ins Auge gefaßte Regelung der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung beim Betrieb umweltgefährdender Anlagen bleibt weit hinter der bereits in § 22 des Wasserhaushaltsgesetzes geregelten Gefährdungshaftung zurück.Drittens. Die Einführung der Gefährdungshaftung soll weiter dadurch eingeschränkt werden, daß beim genehmigten Normalbetrieb nur dann Schadensersatz zu leisten ist, wenn die Beeinträchtigungen nach den ortsüblichen Verhältnissen unzumutbar sind.
Was heißt das schon?
Viertens. Von Beweiserleichterung bei dem Kausalitätsnachweis ist im Entwurf nicht die Rede, wenn sich der Betreiber im Rahmen des Normalbetriebs gehalten hat. Sie soll nur dann greifen, wenn der Betreiber nicht nachweisen kann, daß er sich im Rahmen des Normalbetriebs gehalten hat. Auch dies ist letzlich etwas, was in der Praxis keine Veränderung schafft.Fünftens. Einen blanken Rückschritt im Bereich der Gefährdungshaftung stellt es dar, daß die gesamtschuldnerische Haftung bei Schäden, die durch den Normalbetrieb entstanden sind, ausgeschlossen sein soll.Sechstens. Wer gehofft hatte, daß der für die Geltendmachung von Umweltschäden zwingend erforderliche Auskunftsanspruch der Geschädigten gegenüber den Anlagenbetreibern gewährt werde, sieht sich ebenfalls enttäuscht. Die Geheimhaltung im Firmeninteresse oder im Interesse eines Dritten — wer dies auch immer sein soll — hat immer Vorrang. Von der Verpflichtung automatischer und fälschungssi-
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Bachmaiercherer Kontrollmessungen ist an keiner Stelle des Entwurfs die Rede.Siebentens. Eine obligatorische Umwelthaftpflichtversicherung bzw. eine entsprechende Deckungsvorsorge soll es nur für einen kleinen Kreis besonders gefährlicher Anlagen geben. Bei den übrigen Anlagen, die nicht selten von nur mit geringem Haftungskapital ausgestatteten GmbHs betrieben werden, wird der Geschädigte auch in Zukunft das Nachsehen haben, weil diese Betreiber wirtschaftlich nicht in der Lage sind, den von ihnen verursachten Schaden zu erstatten. Gerade aber auch bei diesen Anlagenbetreibern wäre es zwingend geboten, Deckungsvorsorge für das Schadensrisiko der betriebenen Anlagen zu verlangen und dieses Risiko nicht wie bisher auf die Geschädigten zu verlagern.Ich bleibe daher bei meiner Bewertung dieses unverbindlichen Diskussionsentwurfs. Was die eine Vorschrift dem Geschädigten gibt, kassiert die nächste bereits wieder ein. Außerdem würde dieser Entwurf, sollte er Gesetz werden, weitgehend nur den Umweltnachbarschaftsschaden regeln, während der weit überwiegende Teil der Umweltschäden dadurch nicht erfaßt würde.Wenn die Regierung ganz offensichtlich noch nicht einmal die Kraft hat, eine Mehrheit für diese äußerst dürftige Minimallösung im Bundestag und im Bundesrat sicherzustellen, weil die entsprechende Lobby dies einfach nicht will, dann weiß man endgültig: Von dieser Regierung sind substantielle Verbesserungen des umweltrechtlichen Handlungsinstrumentariums weder heute noch in Zukunft zu erwarten.Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Bachmaier hat sich ja sehr geschickt verhalten, indem er an Hand von Eckwerten, die die Bundesregierung vorgelegt hat — und zwar gar nicht mit so beachtlicher Verzögerung gegenüber dem Entwurf, über den wir hier zu sprechen haben — , eine Fülle von Kritik geäußert hat, ohne auch nur im geringsten darauf einzugehen, was denn seiner Ansicht nach nicht nur so allgemein, sondern konkret statt dessen stattfinden sollte. Sie haben es auch sehr sorgfältig vermieden, Herr Bachmaier, sich mit dem Entwurf auseinanderzusetzen, den die GRÜNEN hier vorgelegt haben. Das ist allerdings auch das wenigste, was wir von den GRÜNEN erwartet hatten: daß sie auf dem Gebiet, auf das sie sich punktuell, mit einer bewundernswerten Einseitigkeit und voller Ausnutzung der damit verbundenen Emotionsträchtigkeit konzentriert haben, nun auch einen Entwurf vorlegen.Aber dieser Entwurf zeigt gerade Ihren verfehlten Ansatz. Die Konzentration auf einen zugegebenermaßen sehr wichtigen Punkt, nämlich nicht nur den Schutz unserer Umwelt, sondern auch die Zurückdrängung der bisher schon eingetretenen Schäden, hindert Sie daran, Gesamtzusammenhänge unseres Rechtssystems und unserer Volkswirtschaft in IhreÜberlegungen einzubeziehen. Der letzte Geschädigte, die Fülle kleiner Arbeitnehmer und Bezieher kleiner Einkommen werden jeden Pfennig bezahlen, von dem Sie hier mit Ihrem Entwurf so tun, als wäre das Non-Geld, das man aus fernen, unerfindlichen Quellen schöpfen kann. Geld entsteht nicht durch geheimnisvolle Verdichtungsvorgänge in der oberen Stratosphäre, sondern durch die Arbeit aller am Wirtschaftsprozeß Beteiligten.
Deshalb ist es Spiegelfechterei, wenn Sie hergehen und sagen: Wir machen einen Fonds, und in den zahlen alle ein, die etwas näher — das will ich gern einräumen — an der Verursachung der Schäden dran sind, über die wir zu reden haben, und von da können dann alle bedient werden.Herr Hüsch hat Sie schon darauf hingewiesen: Es ist ein grundsätzlicher Fehler im Denkansatz, von einem Ziel, das ich wohl als ein gemeinsames bezeichnen darf,
nämlich dadurch, daß man Verantwortlichkeiten klarstellt, die Leute dazu zu zwingen, sich angemessen zu verhalten — —
— Zum Beispiel jeden, der in diesem Lande produziert und der sich dabei an die Regeln zu halten hat, die wir gemeinsam und in rasch zunehmender Fülle geschaffen haben; nebenbei bemerkt: in einer Regelungsdichte, mit der wir weltweit einmalig dastehen. Die von Ihnen so gescholtene Bundesregierung hat in den letzten Jahren eine Fülle von gesetzlichen Regelungen vorgesehen, die in anderen Ländern in dieser Form überhaupt nicht akzeptiert worden wären: wegen der enormen Belastungen, die wir damit unserer Wirtschaft — und das sind wir alle — auferlegt haben.
Das haben wir so gewollt. Das hat diese Bundesregierung, das hat diese Koalition so gewollt.
Deshalb ist es nicht redlich, wenn Sie hergehen und uns schelten, als wäre nichts geschehen. Das Gegenteil ist der Fall.Aber bei dem, was Sie erreichen wollen — wir können gemeinsam nur hoffen, daß das Ziel, das auch Sie von den GRÜNEN im Auge haben,
erreicht wird — , brauchen Sie Mechanismen, die vernünftig greifen. Sie brauchen nicht Verwischung von Verantwortung durch Gründung von Fonds, durch Abschieben auf Zwangsversicherungen oder dergleichen, sondern Sie müssen wissen: Der eine Teil der Schäden ist von denen zu bezahlen, denen sie auf tadel-
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Kleinert
lose, juristisch klare Weise zugeordnet werden können.
Das hat eine erhebliche restriktive Bedeutung gegenüber denen, die solche Schäden zu verursachen geneigt sein könnten oder die in Gefahr sein könnten, solche Schäden zu setzen. Der andere Teil dieser Schäden, das sind die Schäden der Zivilisation, in der wir alle leben, von der wir einen enormen Wohlstand ziehen, die dann, wenn sie im Rahmen geltender Gesetze dennoch entstanden sind, schließlich auch von uns allen, nämlich vom Staat, zu tragen sind.
Da hilft es nicht, über irgendwelche Fonds abzulenken, die nur Verantwortung verwischen, sondern bei diesem Teil muß man sagen: Auch in diesem Fall sind wir eine Solidargemeinschaft.Ich habe sehr wohl gehört, daß Herr Bachmaier gesagt hat: Wenn man keine Staatshaftung will, muß man dies oder jenes tun. Das ist einer der ganz zentralen Punkte, über die wir uns inklusive der dazugehörigen scharfen Abgrenzung zwischen dem verantwortbaren und deshalb auch zu verantwortenden Bereich und dem Bereich, in dem wir bei im Rahmen geltenden Rechts ausgeübter gewerblicher Tätigkeit niemand haftbar machen können, unterhalten müssen.
Herr Abgeordneter, achten Sie bitte auf die Zeichen, die ich Ihnen gebe.
Sehr geehrter Herr Präsident, darf ich diesen Satz noch zu Ende führen?
Ich versuche schon lange, Sie zum Ende zu bringen.
Für diesen Dienst an unserer Rechtsordnung im Sinne der Verantwortlichkeit aller Beteiligten wären wir Ihnen sehr dankbar, für die gemeinsame Diskussion über einen sauberen, juristisch klaren und verständlichen Weg.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, Herr Dr. Jahn.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte hat eines gezeigt — darin stimmen wir sicherlich überein — : Die Rechtsstellung der Geschädigten bei Umweltschäden muß nachhaltig verbessert werden.
Präventiv ist das Haftungsrecht aber auch als marktkonformes Mittel der Umweltvorsorge stärker als bisher einzusetzen.
Auf der Grundlage umfangreicher Vorarbeiten haben die Bundesminister Engelhard und Töpfer entsprechende Eckwerte für ein Umwelthaftungsgesetz und einen Diskussionsentwurf vorgelegt. Es wäre redlich, Herr Kollege Häfner, wenn Sie nicht nur auf die Eckdaten, sondern auch auf den Diskussionsentwurf eingegangen wären.Herr Kollege Bachmaier, Sie fragen: Wann kommt diese Regelung über die Probleme, um die es hier geht? Diese gab es auch schon zu Ihrer Regierungszeit, und Sie haben das Problem in diesen Jahren nicht angepackt.
Meine Damen und Herren, den Kern der Reform bildet die Neueinführung einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung zum Schutz von Boden und Luft neben der bereits bestehenden Gefährdungshaftung zum Schutz des Wassers. Der Kreis der Anlagen, für deren Betrieb die neue Gefährdungshaftung gilt, wird gesetzlich bestimmt, damit klar und eindeutig feststeht, wer dieser Haftung unterliegt. Diese Gefährdungshaftung erfaßt auch den sogenannten Normalbetrieb. Damit, Herr Kollege Häfner, fallen auch solche Schäden unter die Ersatzpflicht, die durch den störungsfreien, meist sogar behördlich genehmigten Betrieb der Anlage entstehen. Vorschnelle, das System unseres Haftungsrechts sprengende Lösungen, wie sie der Gesetzentwurf der GRÜNEN enthält, können wir in diesem sensiblen Bereich nicht brauchen.Herr Kollege Häfner, die GRÜNEN wollen für eine Haftung die bloße Verursachung ausreichend sein lassen. Eine solche Kausalhaftung bricht mit dem Grundprinzip unseres Haftungsrechts, daß nur für Verschulden oder — im Falle der Gefährdungshaftung — für bewußt eröffnetes Risiko gehaftet wird. Eine uferlose, an den reinen Erfolg anknüpfende Haftung wäre die Folge, wenn man Ihren Entwurf zugrunde legte.
Weiter wollen Sie Beweiserleichterungen. Die überwiegende Wahrscheinlichkeit soll genügen. Auch die Bundesregierung will, wie Sie wissen, die Beweisnot der Geschädigten lindern. Der Betreiber einer Anlage muß sich aber gegen eine unberechtigte Inanspruchnahme wehren können. Nach unseren Vorstellungen ist er entlastet, wenn er die ernsthafte Möglichkeit einer anderweitigen Verursachung darlegt. Ihr Vorschlag, der Vorschlag der GRÜNEN also, wird dagegen häufig in die von uns stets bekämpfte Verdachtshaftung einmünden.Auch der weitere Vorschlag, den Sie mit der Dekkungsvorsorge und der Pflichtversicherung ansprechen, erscheint unrealistisch.Noch einmal: Ausgehend von den Eckwerten und dem Diskussionsentwurf wird der Bundesminister der Justiz gemäß dem Kabinettsauftrag vom 24. Mai in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den beteiligten Bundesressorts den Entwurf für ein Um-
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Parl. Staatssekretär Dr. Jahnwelthaftungsgesetz nach der parlamentarischen Sommerpause, Herr Kollege Bachmaier, vorlegen.
Die geplanten Regelungen, die dort vorgesehen sind, bilden dabei erst den Anfang der gesetzgeberischen Maßnahmen zum Ausgleich der Umweltschäden. Wir müssen weiter daran arbeiten — das war soeben Diskussionsgegenstand — , Ersatz für jene Schäden zu finden, für die ein konkreter individueller Verursacher nicht festzustellen ist.Für alle Lösungsvorschläge sind wir selbstverständlich offen.
In jedem Fall aber muß die Berechenbarkeit und Systemgerechtigkeit unseres Haftungsrechts gewahrt bleiben.
Ich warne davor, die Diskussion vorschnell auf die Fondslösung zu verengen und andere Entschädigungsmodelle auszuschließen. Der Ausgleich solcher Schäden über ein Fondsmodell ist sicher eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit. Doch sind nach unseren Untersuchungen die internationalen Erfahrungen mit entsprechenden Lösungen keineswegs durchgängig ermutigend.Herr Kollege Häfner, da Sie etwas zum kollektiven Ausgleichssystem ausgeführt haben: Ihr Entwurf enthält in seinem zweiten Teil ein komplettes Organisationsgesetz für einen Umweltschadensfonds. Die Zeit dafür ist noch nicht reif; denn einerseits ist der Umfang der Schäden weiterhin unklar. Der Entwurf der GRÜNEN geht von jährlich ca. 100 Milliarden DM aus. Das erscheint zu hoch. Bei den Waldschäden waren bisher ca. 500 Millionen DM jährlich im Gespräch. Wenn die Summe wirklich so klein ist, schafft der Fonds möglicherweise überflüssige Bürokratie. Ist die Summe dagegen so groß, wie Sie, Herr Häfner, in dem Entwurf unterstellen, wächst der Fonds in enorme Dimensionen: etwa ein Drittel des gegenwärtigen Bundeshaushalts. In diesem Fall muß dann natürlich entschieden werden: Wer soll das bezahlen? Wer in der Opposition ist, kann natürlich gut Forderungen stellen, weil er weiß: Wir sind für das, was in dieser Form objektiv nicht möglich ist; weil wir uns ohnehin nicht durchsetzen, können wir hier solche Anträge stellen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat seit Abgabe der Regierungserklärung konsequent auf ein neues Umwelthaftungsrecht hingearbeitet und wird, wie angekündigt, die Vorschläge, die sie bisher erarbeitet hat, in den nächsten Monaten konkretisieren und, ich sagte es, den angekündigten Entwurf nach der Sommerpause vorlegen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Vahlberg, Dr. Schöfberger, Adler, Amling, Bachmaier, Bamberg, Bindig, Blunck, Büchler , Conradi, Fischer (Homburg), Dr. Glotz, Dr. Haack, Dr. Hartenstein, Dr. Hauff, Kiehm, Kißlinger, Kolbow, Lambinus, Leidinger, Lennartz, Lutz, Dr. Martiny, Matthäus-Maier, Menzel, Müller (Düsseldorf), Müller (Schweinfurt), Porzner, Reimann, Reuter, Schäfer (Offenburg), Schmidt (München), Schmidt (Nürnberg), Schütz, Sieler (Amberg), Dr. Skarpelis-Sperk, Stahl (Kempen), Stiegler, Verheugen, Waltemathe, Weiermann, Weiler, Dr. Wernitz, Wimmer (Neuötting), Dr. de With, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Forderung nach einer Konvention zum Schutz der Alpen
— Drucksache 11/3910 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Innenausschuß
Sportausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und Technologie
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Vahlberg.
— Ist der Abgeordnete Friedrich im Raum? — Dürfen wir mit Ihnen anfangen? — Es tut mir furchtbar leid, denn es ist eine Einbringung von sozialdemokratischer Seite. Wir müssen jetzt erst die Kritik und dann den Vorschlag hören. Bitte schön, Herr Friedrich.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin gerne bereit, zum Antrag der SPD als erster zu sprechen.Wir werden von der SPD eine Beschreibung des Zustands der Alpen bekommen. Wenn da etwas falsch ist — ich glaube nicht, daß es grundlegend falsch sein wird — , dann hat der Staatssekretär Gröbl, der über die Alpen nicht nur reden kann, sondern dort auch wohnt, die Möglichkeit, das richtigzustellen. Wir sind im Prinzip gemeinsam der Überzeugung, daß die Alpen nicht nur ein interessantes und herausragendes Ökosystem darstellen, sondern daß sie auch eine besondere Schönheit haben und daß das wiederum zu Problemen führt, nämlich einen Zivilisationsdruck.
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Dr. FriedrichIch habe ihn mir für die bayerischen Alpen einmal ein bißchen zahlenmäßig zusammengeschrieben. Wir haben seit 1970 in den bayerischen Alpen einen Bevölkerungszuwachs von 6,5 % bei einem bayerischen Landesdurchschnitt von 4 %. Mit den Instrumenten der bayerischen Landesplanung ist es uns zwar gelungen, daß die Anzahl der Wohnungen nicht im gleichen Maße zugenommen hat. Aber herausgekommen sind in 17 Jahren immer noch 55,9 % mehr Wohnungen. Woanders würden wir uns darüber freuen, bei den Alpen wissen wir, daß das mit Problemen verbunden ist. Hinzu kommen Menschen, die keine ganzen Wohnungen brauchen, die die Alpen nur als Touristen besuchen: 4 Millionen Urlaubsgäste in den bayerischen Alpen in letzter Zeit, 26 Millionen Übernachtungen, und dazu kommen dann noch einige andere, ich will einmal sagen: Süddeutsche, etwa 10 Millionen, die die bayerischen Alpen als Naherholungsgebiet nutzen.Die Völkerwanderung, die dadurch periodisch im Winter und im Sommer ausgelöst wird, sorgt einerseits bei den Ortsansässigen für materielle Lebensgrundlagen, sie gefährdet aber gleichzeitig — hier sind wir uns einig — die natürlichen Lebensgrundlagen. Schon immer war das Leben in diesem Gebiet mit besonderen Gefahren verbunden. Ich brauche sie nicht zu beschreiben. Das Hochgebirgsökosystem ist besonders empfindlich. Es ist besonders empfindlich gegen die schon beschriebenen menschlichen Einflüsse.Wir stimmen deshalb darin überein, daß der Schutz des gesamten Alpenraums eine gemeinsame Aufgabe der beteiligten Staaten sein muß. Wir akzeptieren die Forderung der SPD, eine internationale Alpenschutzkonferenz einzuberufen. Die Bundesregierung ist Ihnen sogar etwas vorausgeeilt und hat diese Einladung schon ausgesprochen. In Kürze findet eine Vorbereitungskonferenz statt.Wir sind mit der SPD der Meinung, daß sich das Ergebnis durchaus in einer Alpenschutzkonvention niederschlagen soll und kann. Es muß eine gemeinsame Zukunftsstrategie erarbeitet werden, wobei wir allerdings auf vielem aufbauen können, was schon an internationaler Zusammenarbeit jetzt speziell in der Region vorhanden ist, z. B. in der Arbeitsgemeinschaft der Alpenländer.Bei der Beratung der konkreten Vorschläge und Maßnahmen sind wir auch durchaus bereit, den Zusammenhang zwischen der allgemeinen Umweltproblematik und den besonderen Problemen der Alpen herauszustellen. Es ist sicher richtig, zu sagen, daß die Minimierung von Schadstoffen, speziell in der Luft, auch im Interesse der Alpen dringend erforderlich ist. Bei den Alpen geht es ja, was den Wald betrifft, nicht nur um die allgemeinen Funktionen des Waldes, sondern um eine besondere Funktion, nämlich die des Bergwaldes als Schutzwald.Trotzdem: Wenn wir zu gemeinsamen Beschlüssen kommen wollen, müssen wir bei der Zustandsbeschreibung schon bei der Wahrheit bleiben. Darin steht: Die Waldschäden haben zugenommen. Ich habe im bayerischen Waldschadensbericht 1988 noch einmal nachgelesen: Von einer Zunahme finde ich weder allgemein etwas noch speziell, bezogen auf die bayerischen Alpen.
Bei den bayerischen Alpen ist es so: Früher waren 50 % schwer geschädigt, jetzt sind 30 % schwer geschädigt. Da sollte man nicht aus politischen Nützlichkeitserwägungen heraus die Unwahrheit formulieren.
Wir akzeptieren auch nicht, daß es bei den Stickoxiden ein totales Versagen gibt. Ich nehme einen Punkt — es ist zugegebenermaßen der günstigste, es gibt ungünstigere, wie den Kraftfahrzeugbereich, was wir wissen — : Wir haben in Bayern so in den letzten Jahren etwa zwei Drittel mehr Strom erzeugt und 55 weniger Stickoxid aus den Heiz- und Stromkraftwerken in die Luft abgegeben. Das lassen wir unter dem Obersatz „gar keine Erfolge" nicht subsumieren.Daß es Handlungsbedarf gibt, mit der Formulierung sind wir einverstanden. Ich schlage allerdings vor, daß wir den Streit über Tempolimit und solche Dinge hier jetzt an diesem Punkt noch einmal grundsätzlich austragen. Gerade beim Tempolimit — ich habe das in dem Antrag gesehen — sehe ich vor allem einen Zusammenhang. Nur muß ich allerdings zu den Alpen und Geschwindigkeitsbegrenzungen sagen: Wenn man da — ich war dort erst vor ein paar Monaten wieder — so im Stau auf der Paßstraße steht, dann hat ein rotes Schild wirklich nur die Bedeutung, daß es auf die Landschaft Einfluß nimmt.Trotzdem ist das Thema Verkehr ein wichtiges Thema, wenn man sich über die Probleme der Alpen unterhält. Allerdings sollten wir uns da speziell mit einer Plage für Mensch und Land in dieser Region befassen, nämlich mit dem Transitverkehr und hier speziell mit dem Güterverkehr. Es ist selbstverständlich, daß es nicht so weitergehen kann, daß diese Blechlawinen durch enge Täler gedrängt werden. Da sind wir uns einig.
— Da brauche ich keinem Parteifreund etwas zu sagen.
Der bayerische Ministerpräsident hat in der Arbeitsgemeinschaft Alp mit beschlossen, daß es sich hier um eine existentielle Beeinträchtigung handelt, Herr Kollege Weiss. Selbstverständlich kann Straßenbau in dieser Region — wir Bayern praktizieren das — nicht im Anlegen neuer Trassen, sondern nur noch im Ausbau des vorhandenen Netzes bestehen, wobei ich die SPD-Kollegen noch einmal bitte, darüber nachzudenken, jeden Ausbau einer vorhandenen Straße zu verbieten.Ich war, wie gesagt, vor ein paar Monaten in der Situation: Ich fuhr, vom Fernpaß her kommend, ins Allgäu hinein; es ist unerträglich, was den Menschen in den Ortsdurchfahrten dort zugemutet wird. Es ist
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Dr. Friedrichfür uns nicht akzeptabel, hier durch eine Formulierung eine Ortsumgehung zu verhindern.
Die eigentliche Lösung — da sind wir uns sicher wieder einig — kann aber nur in einer Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene bestehen.
— Nicht nur verbal fordern? Herr Kollege Weiss, das können wir natürlich nicht allein machen. Dazu ist eine internationale Zusammenarbeit erforderlich. Heute habe ich ein neues Papier des bayerischen Wirtschaftsministeriums bekommen. Ich könnte ihnen genauer — aus Zeitgründen tue ich es natürlich nicht — schildern, woran das liegt. Die zuständigen Ministerpräsidenten und Landesobmänner der Alpenregionen — es waren auch Freunde meiner Partei dabei — haben gemeinsam bedauert, daß sehr viel geredet wird, daß sehr viele Studien erarbeitet werden, daß aber im Prinzip in der Praxis leider fast noch nichts passiert ist.
— Es ist doch eine international abzustimmende Politik.Wir haben gemeinsame Überzeugungen, auch nationale Kompetenzen. Es ist sinnvoll, wenn wir uns gemeinsam an die Bundesregierung wenden. Bei anderen Punkten werden wir uns nicht einigen, z. B. wenn es um den Stopp aller neuen Liftanlagen, Bergbahnen geht. Damit verhindern sie im Grunde genommen auch den Abbau einer touristischen Übernutzung sehr stark ausgebauter und touristisch genutzter Gebiete. Hier brauchen wir differenzierte Lösungen. Im Detail müssen wir uns im Umweltausschuß weiter unterhalten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Vahlberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal der Bundesregierung zu ihrem Entschluß gratulieren, sozusagen im vorauseilenden Gehorsam, in bezug auf unseren Antrag, eine Alpenschutzkonferenz einzuberufen.
Die Hauptforderung unseres Antrages ist damit erfüllt.
Ich beglückwünsche die Bundesregierung, Herr Baum, allerdings nicht mit Herzlichkeit, sondern mit einer gewissen Bitternis; denn diese Entscheidung hätte schon früher fallen können. Sie hätte auch früher fallen müssen.Meine Fraktion hat seit 1985 die Forderung erhoben, eine internationale Konferenz mit dem Ziel einzuberufen, eine Konvention im Sinne der Nordsee-Konvention zu verabschieden und alle Alpenanrainerstaaten zu dieser Konferenz auf nationaler Ebene einzuladen.Wie wichtig dies gewesen wäre, zeigt sich ja an den Diskussionen, die wir jetzt zum Alpentransitverkehr erlebt haben: im Grunde genommen ein Stück aus dem Tollhaus. Da donnern pro Tag 9 000 Lkw durch ein Alpental, belasten die Umwelt mit 17 Tonnen Stickoxyden, 27 Tonnen Kohlenmonoxyd, 26 Tonnen Ruß und 40 Kilo Blei. Wenn sich die Österreicher dagegen wehren, dann fällt dem zuständigen EG-Kommissar van Miert nur ein, es bestehe die Gefahr der Beeinträchtigung des Alpentransitverkehrs.Wenn ich abschweifen darf: Es zeigt sich, daß die Entscheidungen, die früher vor Ort getroffen wurden — die Entscheidungsstrukturen waren für die Bürger einsichtig; die Bürger kannten auch dienenigen, die die Entscheidungen trafen — , immer weiter weg verlagert werden, jetzt nach Brüssel, und daß für die betroffenen Bürger anonyme EG-Kommissare Entscheidungen treffen, die sie zutiefst betreffen und belasten. Wenn wir das nicht erkennen und dem nicht mit geeigneten Maßnahmen begegnen, so denke ich jedenfalls, dann müssen wir uns über Wahlergebnisse keine Gedanken mehr machen.Friedrich Zimmermann, der Verkehrsminister, ersetzt die fehlende verkehrspolitische Konzeption durch Drohungen an unsere Nachbarn und entwickelt sich — Pardon! — zum Erpressungsminister.
Der freie Warenverkehr steht im EG-Vertrag. In den Prognosen für den Binnenmarkt 1992, so etwa im Cecchini-Bericht, wird das wirtschaftliche Wachstum mit einer Ausweitung des Handels im EG-Raum geradezu euphorisch gefeiert. Wie der damit verbundene Verkehr bewältigt werden soll, ist und bleibt, jedenfalls bis heute, völlig unklar. Bis zum Jahr 2000 werde er sich verdoppeln, sagen Experten; natürlich mit ganz unerträglichen Folgen für das sensible Ökosystem im Hochgebirge. Für den Warenverkehr — aus der Sicht der Lemminge der Brüsseler EG-Kommission — stehen die Alpen offensichtlich einfach nur im Weg.Meine Forderung an die Bundesregierung ist deshalb: Am Tisch der Alpenschutzkonferenz sollten nicht nur die Alpenanrainerstaaten sitzen, dort sollte auch die EG vertreten sein, Herr Staatssekretär. Das ist angesichts der Tatsache unverzichtbar, daß die Skandinavier — ich weite das gleich auf die EFTA aus — , die Holländer, die Belgier an dem Transitverkehr durch die Alpen in starkem Maß beteiligt sind. Ich bitte Sie also, auch die EG, vielleicht auch die EFTA, dazu einzuladen.Die Österreicher und die Schweizer ermutige ich von dieser Stelle aus, hart zu bleiben. Sie stehen nicht allein. Auch wenn wir nicht in den betroffenen Alpentälern wohnen: viele von uns werden sie in ihren Forderungen unterstützen.Immerhin, der Bundesminister für Umwelt hat nun für den Oktober dieses Jahres zu einer Konferenz eingeladen oder ist gerade dabei einzuladen. Wir werden
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Vahlbergihn hier unterstützen. Wir hoffen, wir dürfen mit zuarbeiten.Das Ziel einer solchen Konferenz muß unseres Erachtens eine internationale Konvention sein. Auf der Basis dieser Konvention müßte ein Katalog mit konkreten Maßnahmen erarbeitet werden, den dann die einzelnen betroffenen Nationen umzusetzen haben.Lassen Sie mich ganz kurz auf die wichtigsten Forderungen unseres Antrags eingehen.Ohne eine drastische Minderung der Luftschadstoffe sind alle Mühen, den Wald zu sanieren, vergeblich. Die sogenannten neuartigen Waldschäden haben in einem bedrohlichen Ausmaß zugenommen. Über weite Flächen gibt es in den Alpen keinen gesunden Baum mehr — entgegen dem, was Sie, Herr Friedrich, vorhin gesagt haben.
— Das ist zu belegen. Ich habe vor kurzem im Raum Garmisch eine Waldbegehung mit Forstbiologen und Förstern gemacht, die nicht meiner Partei nahestehen und nicht ideologisch fixiert sind. Sie haben einmütig gesagt: Es gibt hier keinen gesunden Baum mehr, wenn man die gesamte Palette der Alpenbäume betrachtet.Der Waldschadensbericht der Bundesregierung bestätigt im Grund genommen diese Festellung. Insgesamt weist die Bilanz für Bayern 1988 aus, daß in den Schadensklassen 1 bis 4 55 % der Fichten, 60 To der Kiefern, 83 % der Tannen, 71 % der Buchen und 76 % der Eichen geschädigt sind. Das ist über die Fläche gesehen. Ich habe gesagt: In einzelnen Gebieten gibt es keinen gesunden Baum mehr.Erfolge bei der Verminderung der für den Hochwald besonders schädlichen Stickoxidemissionen gibt es nicht. Die Emissionen sind im Gegenteil 1988 mit 3,16 Millionen t um 7 % höher als im Jahr 1983.Vordringlich ist die Begrenzung der Umweltbelastung durch den Kraftfahrzeugverkehr. Hierzu ist eine konsequente Verringerung des Schadstoffausstoßes durch Tempolimit und Abgasbegrenzung erforderlich.Herr Friedrich, ich kenne das Argument, daß in den Alpentälern und auf den Alpenpässen 130, 150 oder 200 km/h nicht gefahren werden können. Das ist völlig klar. Aber im Alpenvorland auf den Autobahnen etwa nach Salzburg oder Kufstein kann ein solches Tempo gefahren werden, ebenso auf den Landstraßen. Das führt zu erhöhten Stickoxidbelastungen. Wir wissen ja, daß Stickoxide erst über den Transport in große Höhen und durch die Einwirkung des Sonnenlichts in Fotooxidantien umgewandelt werden, die dann schädlich auf die Bäume einwirken. Insofern ist dieses Tempolimit sehr wohl auch in bezug auf den Alpenwald gerechtfertigt.Der Transitverkehr, insbesondere der Schwerlastverkehr, muß auf die Schiene verlagert werden. Dafür sind die entsprechenden planerischen und investiven Vorkehrungen zu treffen. Die Verkehrslawine erstickt die Alpentäler. Die Hinnahme der prognostizierten jährlichen Wachstumsrate von 5 To im Güter- und Reisverkehr bedeutet den Tod der Alpen.Eine weitere Forderung lautet: Alle baulichen Maßnahmen, die erheblich in die Natur eingreifen, müssen vor ihrer Verwirklichung einer Umwelt-, Kultur- und Sozialverträglichkeitsprüfung unterzogen werden. Das gilt insbesondere auch für die touristische Erschließung des Alpenraums. Wir sind der Auffassung, daß jetzt Schluß sein muß mit dem Bau von Aufstiegshilfen — Lifte, Bergbahnen — , zusätzlichen Berggasthöfen.Ich beklage ganz besonders, daß der bayerische Ministerpräsident Streibl die Stepbergalm durch eine Straße erschließen lassen will. Das steht im Grunde genommen im Widerspruch zu den vollmundigen Erklärungen, Herr Staatssekretär, etwas für den Alpenschutz zu tun. Da, wo es konkret wird, da, wo örtliche Interessen einbezogen sind, nimmt man dann wieder Rücksicht auf die ökonomischen Belange zu Lasten der ökologischen Erfordernisse.Natürlich ist völlig klar: Es gibt touristisch erschlossene Bereiche mit den ökonomischen Vorzügen, die damit verbunden sind. Wenn wir fordern, daß es Ruheräume gibt, daß es Bereiche gibt, die touristisch nicht erschlossen werden sollen, dann muß es zwischen diesen Regionen einen finanziellen Ausgleich geben. Auch das müßte in einer solche Konvention geregelt werden.Die Berglandschaft dient der Erhaltung der alpinen Kulturlandschaft. Sie muß durch eine direkte, produktunabhängige Einkommenszahlung an die Bergbauern gefördert werden, d. h. eine standortgerechte, extensive Bewirtschaftung darf nicht zu Lasten der Bergbauern gehen, was ihre soziale Situation anlangt. — Wir sind uns da einig, entnehme ich Ihrem Kopfnikken.Großräumige Schutzgebiete, Nationalparks, Naturschutzgebiete müssen nach landschaftsökologischen Kriterien abgegrenzt und gegebenenfalls grenzüberschreitend ausgewiesen werden.Auch das ökologische Gefüge der Gewässersysteme im Alpenraum darf weder durch Wasserkraftnutzung noch durch uferbegleitende wasserbauliche Maßnahmen weiter gestört werden. Im Gegenteil: Wir sollten schauen, ob es hier nicht Möglichkeiten der Renaturierung gibt. Sie gibt es sicherlich. Das kann auch zu dem Ergebnis führen, daß Hochwasserspitzen abgefangen werden.Also auch hier ist ein weites Feld für Regelungen im Rahmen einer Konvention.Wir haben über unsere Forderungen — ich kann sie in der Kürze der Zeit nicht alle darlegen — mit österreichischen und schweizerischen Kollegen auf der Basis dieses Antrags diskutiert. Das hat dazu geführt, daß dieser Antrag fast wortgleich auch im österreichischen Nationalrat und wohl auch im Schweizer Parlament behandelt wird. Jedenfalls hat der schweizerische Bundesrat diese Punkte bereits positiv bewertet und wird sie weiterverfolgen. Das soll unsere gemeinsame Sache mit weiter Schubkraft versehen.Ich möchte in diesem Zusammenhang die Forderung erheben, Herr Staatssekretär, zu dieser Konferenz auch die Naturschutzverbände, vielleicht auch Vertreter der nationalen Parlamente mit einem Beratungsstatus zu laden. Natürlich können sie bei der
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VahlbergErarbeitung einer solchen Konvention nicht stimmberechtigt sein. Die Naturschutzverbände sollten aber zumindest beratend beteiligt werden; denn sie haben entscheidenden Anteil daran, daß dieses Thema jetzt bis zu diesem Punkt vorangetrieben werden konnte.Die Lage ist ernst. Bereits heute sind rund 15 % des bayerischen Schutzwaldes dringend sanierungsbedürftig, d. h. hier kann der Wald seine Rückhaltefunktion gegenüber Wasser, Lawinen, Muren nicht mehr in ausreichender Weise erfüllen. Es müssen technische Verbauungen vorgenommen werden.
— Richtig, es ist außerordentlich schwer, zu sanieren, wenn der Mutterboden erst einmal heruntergeschwemmt ist. Dann muß man wahrscheinlich bei der technischen Verbauung bleiben.Wem die ökologische Seite nicht unter die Haut geht — solche Mitbürger, solche Zeitgenossen gibt es ja immer noch — , dem mag vielleicht die ökonomische Seite unter die Haut gehen. Die Kosten solcher technischer Verbauungen werden für die bayerischen Alpen auf 10 Milliarden DM geschätzt. Allein für den Berchtesgadener Raum sind Kosten von 2,1 Milliarden DM für technische Verbauung errechnet worden.Es gibt, was die Katastrophen anlangt, ein Alpenszenario, das von der Gefährdung des Alpenraumes durch Hangrutschen, Steinschlag, Muren-, Lawinenabgänge bis hin zu Überschwemmungen ausgeht. Als besonders gefährdet gelten dabei u. a. die Ortschaften Garmisch-Partenkirchen, Mittenwald, Oberstdorf und die Siedlungen in den Tälern von Iller, Lech, Loisach, Isar und Inn. Rund 400 km Ortsverbindungsstraßen werden nach diesem Szenario unpassierbar, wenn nicht entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.Ich appelliere an die Kollegen der Regierungsparteien, jetzt nicht an einzelnen Halbsätzen dieses Antrags herumzumäkeln. Herr Friedrich, dies ist ja kein Konventionsentwurf, der dann sozusagen die Beratungsgrundlage in Berchtesgaden sein wird, sondern es ist nur ein Antrag, mit dem wir die Bundesregierung in ihrem Bemühen, eine solche Konferenz einzuberufen, unterstützen wollen.Deshalb bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses, unserem Antrag zuzustimmen.Schönen Dank.
Herr Kollege Vahlberg, das von Ihnen verwendete Wort „Erpressungsminister" wird auch dadurch nicht parlamentarisch erträglicher, daß Sie vorher „Pardon" gesagt haben.
Herr Baum ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag ist eine Diskussionsgrundlage, auch für uns. Wir haben sicherlich das gemeinsame Ziel, die Alpen zu schonen. Sie sind ein einzigartigesÖkosystem, so etwa wie das Wattenmeer. Dieses Ökosystem reicht in seiner Bedeutung weit über sein Kerngebiet hinaus.Wir haben dort Schäden, Waldschäden, Schäden in der Natur, Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie, die hier schon angesprochen worden sind. Diese Konflikte können nur grenzüberschreitend gelöst werden.Übrigens ist der Anteil der deutschen Alpen sehr gering. Er beträgt nur etwa 3 %. Aber wir haben ein besonderes Interesse an der Zusammenarbeit über die Staatengrenzen hinweg zur Erhaltung dieses einzigartigen Raumes.Teilweise einmalige dort lebende Arten von Tieren und Pflanzen sind ernsthaft bedroht. Die Alpen sind ein großer Wasserspeicher. Sie haben eine ziemlich große Bedeutung auch für unser Klima.Ich meine, wir können nicht von anderen etwa die Erhaltung der tropischen Regenwälder fordern, ohne selbst in unserem eigenen Bereich alles für die Schonung und auch die Wiederaufforstung der Wälder zu tun.
Die FDP setzt sich daher für eine Alpenschutzkonvention ein. Wir unterstützen den Plan, hierfür eine Konferenz durchzuführen. Wir erwarten von dieser eine Verständigung. Wir erwarten nicht, daß sich die Konferenz auf eine Darstellung getroffener oder ohnehin beabsichtigter Maßnahmen beschränkt, sondern daß tatsächlich Fortschritte erzielt werden können.Die Alpenschutzkonvention sollte aus unserer Sicht einige Punkte enthalten, die unbedingt geregelt werden müssen. Erstens müssen wir uns über die Grenzen hinweg weiter darum bemühen, eine Begrenzung der Luftschadstoffe zu erreichen. Wir haben eine, meine ich, doch erfolgreiche Politik in der Bundesrepublik Deutschland gemacht. Das können Sie nicht nur an den Investitionen ablesen. Die Daten zur Umwelt, die gerade vom Umweltbundesamt vorgelegt worden sind, zeigen das auf.Auch die jüngsten Brüsseler Beschlüsse zum Auto lassen die Hoffnung zu, daß die Stickoxidemissionen weiter verringert werden können. Die Stickoxidemissionen aus den stationären Anlagen sind ja bereits drastisch verringert worden. Sie werden mir zugeben, auch wenn Sie die Entwicklung in Brüssel möglicherweise anders als ich beurteilen: Ein Fortschritt ist es; es ist besser als das, was im November da war. Das sollten wir doch einmal feststellen. Das ist ein Erfolg der Bundesregierung.
Wir haben ein besonderes Problem mit der Verkehrsbelastung der Alpen: Transitkorridor, erhebliche Belastung durch Verkehr. Hier muß alles unternommen werden, um die Bahn attraktiver zu machen. Nötig ist ein Gesamtverkehrskonzept für den Alpenraum.Ein zentrales Problem ist die zum Teil sehr intensive Erschließung großer Bereiche der Alpen für Touris-
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Baummus und Sport. Hier gibt es das Konzept des sogenannten sanften Tourismus. Es bietet einen guten Ansatz, die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen.Ein weiterer Punkt ist die Erhaltung der Bergwälder. Der Bergwald ist in vielen Bereichen vergreist, und er hat einen relativ hohen Schalenwildbestand. Wir fordern: Schutzwaldausweisung, verstärkter Biotopschutz, Katastrophenzonenpläne, Reduzierung der Erschließungsmaßnahmen in Schutzwäldern, Einsatz von motorisierten Schneefahrzeugen nur noch auf bestimmten Wegen, Ablösung der Waldweiderechte und Reduzierung der Verbißschäden durch Schalenwild. Hier darf es keine Tabus geben.Wir werden in bezug auf die Berglandwirtschaft überprüfen müssen, ob die Förderungsmaßnahmen der EG für diese Bereiche angemessen sind und welche Auswirkungen möglicherweise auch negativer Art diese Förderungsmaßnahmen auf die Alpen haben. Von der in Kürze zu erwartenden dritten Fortschreibung des Aktionsprogramms zur Rettung des Waldes erwarten wir auch Maßnahmen zur Rettung des Bergwaldes.Ein weiteres zentrales Problem ist die Zunahme der Besiedlung, des Fremdenverkehrs, der Zweitwohnungen. Hierzu ist schon einiges gesagt worden. Die Raumordnung, die gesetzliche Einführung der UVP in der Bundesrepublik Deutschland wird auch in den Alpen eine Auswirkung haben.Die Alpen sind ein wichtiger Erholungsraum und ein wichtiges Ökosystem. Wir müssen dafür sorgen, daß die Bergbauern die Möglichkeit bekommen, naturverträglich zu wirtschaften. Auch in diesem Zusammenhang ist die Novellierung des Naturschutzgesetzes wichtig, eine Novellierung, die meine Fraktion mit großem Nachdruck fordert.Besonders hervorheben möchte ich schließlich noch das besondere Engagement der vielen privaten Organisationen zum Schutz der Alpen, der Umweltverbände, aber auch des Deutschen Alpenvereins. Hier gibt es sehr viele Aktivitäten, die wir begrüßen und unterstützen.Mit einer Alpenschutzkonvention müssen wir den Schutz der Alpen auf eine völkerrechtlich verbindliche Basis stellen. Bundesumweltminister Töpfer hat bei seinen Verhandlungen mit den Kollegen aus den anderen Alpenländern unsere volle Unterstützung, und wir wünschen ihm den besten Erfolg.
Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.
„Und sie sägten an den Ästen, auf denen sie saßen, und schrien sich zu ihre Erfahrungen, wie man besser sagen könne, und fuhren mit Krachen in die Tiefe, und die ihnen zusahen beim Sägen, schüttelten die Köpfe und sägten weiter. " Bertolt Brecht beschreibt sehr gut die Situation, die auch gerade hier im Parlament stattfindet.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Tatsache, daß die Berge nicht mehr rufen, sondern kommen, müssen wir alle nicht nur verbal, sondern radikal von der eben zitierten Haltung Abstand nehmen.Neben anderen drohen hauptsächlich zwei Gefahrenkomplexe, dem einzigartigen naturnahen Ökosystem Alpen den Garaus zu machen: Verkehr und Tourismus. Mittlerweile weisen 80 % aller Bergwälder mittlere bis starke Schäden auf. Die Schutzfunktion des Bergwaldes ist in hohem Maße gefährdet und teilweise schon zerstört. Sämtliche Notmaßnahmen, z. B. Neuaufforstungen, haben jedoch nur einen Sinn, wenn die Luftschadstoffe drastisch vermindert werden.Dies trifft nicht nur Industrie- und gewerbliche Anlagen. Der Verkehr im bzw. durch den Alpenraum ist hier besonders zu nennen. Der alpenüberquerende Güter- und Urlauberverkehr ist im wahrsten Sinne des Wortes mörderisch — und dies ist nicht nur für die Bergwälder. Den Brenner passiert alle 15 Sekunden ein Lkw. Das heißt: Täglich werden 50 t Schadstoffe auf nur 100 km in die Luft gepustet. Allein 62 534 Lkw-Ladungen mit Erzen und Metallabfällen — also Schrott —, d. h. mit eigentlich länger disponierbaren Ladungen, fuhren 1986 über die österreichische Transitstrecke, Ladungen, die auf die Bahn gehören. Doch diese ist durch die verfälschte Wettbewerbssituation zuungunsten der Bahn nicht ausgelastet.Der Bevölkerung und Umwelt kann das Fortbestehen der Belastungen durch den Transitverkehr nicht länger zugemutet werden. Daher hat die österreichische Regierung als Notwehrreaktion ein Nachtfahrverbot für Lkws und ein Paket weiterer Maßnahmen erlassen.
Wie reagiert die Bundesregierung? — Hysterisch, mit Pöbeleien, mit indirekten Blockadeaufrufen, mit der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sollte hinsichtlich Wirtschaftssanktionen gegenüber Österreich schon aus historischen Gründen sensibel sein. Die älteren Leute dort können sich noch sehr gut erinnern.Wer immer davon redet, er wolle Lkw-Verkehr auf die Schiene verlagern, muß Nachtfahrverbote erlassen. Wer immer davon redet, er wolle mehr Sicherheit auf den Straßen, muß Nachtfahrverbote erlassen. Wer immer davon redet, Lärm- und Schadstoffemissionen von Lkws zu reduzieren, muß Nachtfahrverbote erlassen. Alles das ist richtig, was den Lkw-Verkehr unattraktiver macht.Ich fordere die Bundesregierung und die EG auf, nicht nach Rücknahme zu schreien, sondern dem Beispiel Österreichs zu folgen und dadurch einen wirklichen Beitrag zur Verbesserung der Umweltsituation in ganz Europa zu leisten.
Das zweite Gefahrenpotential geht von Freizeitaktivitäten und Tourismus aus. Neben den endlosen Urlaubsblechlawinen sorgt der Skisport mit seiner Infrastruktur wie Aufstiegshilfen, Pistenplanierung, Schneekanonen usw., sorgen die neuen Sportarten — Mountainbikes, Paraglider, Ultraleichtflugzeuge — , das althergebrachte Bergwandern und -Met-
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Brauertern — mittlerweile Massenerscheinungen — sowie die Fülle von Zweit- und Ferienwohnungen für erhebliche Störungen und Schädigungen.Sportliche und touristische Aktivitäten müssen daher ebenfalls auf ein umwelt- und sozialverträgliches Maß zurückgeführt werden, d. h.: objekt-, programm- und regionenbezogene UVPs verbindlich festschreiben; striktes Verbot der Neuerschließung von Skigebieten; Förderung des Ab- und Rückbaus von Skipisten statt Ausbau für Snowboards und Skating; Verbot des Einsatzes von Schneekanonen und der Präparierung von Pisten; Verbot des Skibetriebs bei unzureichender Schneedecke — unter 30 cm; keine weitere Bebauung sensibler Bereiche; gegebenenfalls Start-und Überflugverbote für neue Sportarten usw.Meine Damen und Herren, den hier zu beratenden Antrag der SPD begrüßen wir nachdrücklich. Er wiederholt viele Forderungen der GRÜNEN, die schon im November 1985 einen entsprechenden Antrag zum Alpenschutz gestellt hatten.Der Schutz der Alpenregion ist sicherlich die Aufgabe aller Anrainerstaaten. Das Warten auf die anderen bringt allerdings nur eins: Die drohende Apokalypse im Alpenraum fällt vom Trab in den Galopp.Ich fordere die Bundesregierung auf, die Alpenzerstörung nicht auszusitzen, sondern sofort zu handeln. Folgen Sie dem Beispiel Österreichs und setzen Sie die dringend notwendigen Verkehrsmaßnahmen um!
Das Wort hat Herr Gröbl, der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Vahlberg, die Bundesregierung war wieder einmal schneller als Sie; nicht nur heute hier im Plenum bei der Debatte, sondern auch schneller als Ihr Antrag. Sie hat für den 9., 10. und 11. Oktober die Umweltminister sämtlicher Alpenstaaten und auch die EG-Kommission zu einer Alpenschutzkonferenz nach Berchtesgaden eingeladen. Wie von Ihnen gewünscht, werden die CIPRA und auch die IUCN einen Beobachterstatus erhalten.Die Bundesregierung hat diese Initiative auf Anregung des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Streibl hin ergriffen, wohlwissend, daß unser Alpenanteil weniger als 3 % des gesamten Alpenbereichs ausmacht. Trotzdem haben wir diese Initiative ergriffen, weil Handlungsbedarf besteht.Die Konferenz wird sich mit den drängenden Problemen beschäftigen: dem Verkehr, und zwar mit dem Ziel- und Quellverkehr und ganz besonders mit dem Transitverkehr; mit der Siedlungsentwicklung und dem Problem der Zersiedlung; mit dem Tourismus; mit der besonderen Rolle von Land- und Forstwirtschaft, Alm- und Alpwirtschaft; mit dem klassischen Naturschutz; mit der Luftreinhaltung, allerdings auch mit den alpenfernen Schadstoffquellen; mit der Wassernutzung und der Reinhaltung des Wassers, ja mit dem Wasserhaushalt der Alpen insgesamt; mit der alpinen Umweltforschung.Auf Grund der Vielzahl der Themen und der Vielfalt der Probleme wäre es falsch, schon von der ersten Konferenz endgültige Ergebnisse zu erwarten. Vielmehr wird die erste Konferenz der Schärfung des Bewußtseins, vor allem bei den nationalen Regierungen, der Einigung auf Arbeitsprogramme und der Festlegung von Schwerpunkten dienen. Und Sie soll Elemente für eine völkerrechtlich verbindliche Alpenschutzkonvention festlegen. Selbstverständlich werden wir weitere Konferenzen benötigen.Auf Grund unserer Erfahrungen mit der Internationalen Nordseeschutzkonferenz, die ja auch von der Bundesregierung, von Fritz Zimmermann, initiiert wurde, wissen wir, wie schwierig derartige Konferenzen sein können, aber auch, wie mit Fingerspitzengefühl, Ausdauer und Überzeugungskraft die dringend notwendigen positiven Ergebnisse Stück für Stück erreicht werden.Im Bereich der Alpen können wir auf hervorragende Erfahrungen und auch auf praktische und wissenschaftliche Zusammenarbeit verschiedenster Gremien zurückblicken. So hat das bayerische Umweltministerium schon 1972 einen Alpenplan vorgelegt, der durch die Festlegung von drei verschiedenen Erschließungs- bzw. Ruhezonen wesentliche Teile der bayerischen Alpen vor einer Übererschließung bewahrt hat. So konnte durch diesen Alpenplan eine Erschließung — oder besser gesagt: eine Zerschließung — des Rotwandgebiets im schönen Landkreis Miesbach mit 29 Liften und Seilbahnen verhindert werden.
Auf internationaler Ebene haben sich die ARGE-Alp und die ARGE-Alpenadria eingehend mit den Wirtschafts-, aber auch mit den Umweltproblemen befaßt. Neuerdings ist diesem Kreis auch die Arbeitsgemeinschaft Westalpen beigetreten. Auf ihrer jüngsten Sitzung haben die Regierungschefs der ARGE-Alp die Einladung zur Alpenschutzkonferenz durch die Bundesregierung nicht nur begrüßt, sondern ihre Mitarbeit angeboten. Dies ist um so wichtiger, als wir dann auf umfangreiches Daten- und Grundlagenmaterial der ARGE-Alp zurückgreifen können. Ebenfalls anzuführen sind natürlich der Beschluß des Europäischen Parlaments zur Konvention zum Schutz des Alpenraums und auch Initiativen des Europarats.Auch im Verbandsbereich sind länderübergreifende Initiativen zu verzeichnen. IUCN und Internationale Alpenschutzkommission, die CIPRA, haben wichtige Impulse gegeben. Innerhalb der CIPRA und auch selbständig hat sich der Deutsche Alpenverein sehr engagiert. Nebenbei darf ich bemerken, daß die Mitglieder des Alpenvereins nicht nur gute theoretische Vorschläge gemacht haben, sondern auch in der Praxis Hand anlegen, beispielsweise bei der Durchführung des Schutzwald- Sanierungsprogramms der Bayerischen Staatsforstverwaltung.Bei solchen Hinweisen darf natürlich auch die Bergwacht mit ihren ehenamtlichen Mitgliedern nicht feh-
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Parl. Staatssekretär Gröbllen; die Bergwacht, die im Jahre 1920 zum Schutz von Flora und Fauna der Berge gegründet wurde.Selbstverständlich sind Bauern und Forstleute, Jäger und Fischer zu nennen, die durch ihre Tätigkeit, oft schon durch ihre Anwesenheit in der Natur, Schäden verhindern und durch naturverträgliche Bewirtschaftung die von uns allen als schützenswert empfundene Kulturlandschaft Alpen erhalten haben.
Doch kein Zweifel: Die Alpen sind durch Luftschadstoffe und durch den sich ständig ausweitenden Verkehr bedroht. Wir sehen das, wenn wir uns nur, wie schon getan, den Straßengüterverkehr vor Augen halten, der vor allem im Transit durch Bayern und Osterreich sprunghaft zugenommen hat. Wir nehmen natürlich die neuartigen Waldschäden im Hochgebirge, Kollege Vahlberg, die sich im übrigen im wesentlichen in der sogenannten Inversionszone zwischen 1 200 und 1 400 Metern Höhe verdichten, ernst.Im übrigen: Wenn Sie behaupten, kein einziger gesunder Baum stünde mehr in den Alpen, dann würde ich Ihnen empfehlen, wir gehen zusammen in die Alpen, und Sie zahlen mir für jeden gesunden Baum, den ich Ihnen zeige, eine Maß Bier. Sie werden sehen, die Kapazität der bayerischen Brauereien reicht hierfür nicht mehr aus.
— Sehr gerne.Wir haben in der Luftreinhaltepolitik, wie Kollege Baum schon erwähnt hat, nationale Erfolge zu verzeichnen. Vor allem, und das ist wohl ein persönliches Verdienst von Professor Töpfer in Luxemburg, sind wir bei den Autos einen wichtigen, für viele Bäume vielleicht lebenswichtigen Schritt international vorangekommen.Natürlich gilt es, den Transitverkehr von der Straße auf die Schiene umzudirigieren, vorhandene Kapazitäten der Schiene auszunützen und neue Kapazitäten für den Transport auf der Schiene zu schaffen. Deshalb unterstützen wir den Bau eines Brenner-BasisTunnels und begrüßen, daß der Schweizer Bundesrat am 10. Mai 1989 dem Parlament in Bern den Bau eines Basistunnels unter dem Gotthard und den Bau des Lötschbergtunnels vorgeschlagen hat. Mit Sicherheit ist es keine Lösung, ein Gebiet für den Transitverkehr zu sperren und damit dem verbleibenden Alpenraum eine Zunahme des Verkehrs um das Volumen des Umleitungsverkehrs noch zusätzlich zuzumuten.
Aber auch der inneralpine Ziel- und Quellverkehr bedarf restriktiver Maßnahmen. So halten wir die für die Alm- und Forstwirtschaft erforderlichen Wirtschaftswege nicht für geeignet, Touristenverkehr aufzunehmen. Mehr Ruhe soll wieder in die Alpentäler einkehren, um den Menschen Erholung und auch der Natur die Chance zu geben, unter weniger Streß zu leben.Auch die Freizeitnutzung muß längst nicht alle Flächen einbeziehen. Hier denke ich in erster Linie an den Ski-Tourenlauf und die Drachensegler. Ich bin aber auch der Auffassung, daß das gerade Mode gewordene Grasskifahren erst einer strengen Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden muß, bevor diese Sportart weiter verbreitet oder gar öffentlich gefördert wird.
Selbstverständlich ist das, was wir im Nationalpark Berchtesgaden mit dem Programm Biomonitoring auch im Rahmen der UNEP erarbeitet haben, eine wichtige Grundlage für die Umweltbeobachtung und Umweltforschung im gesamten Alpenbereich. Wir können dies durch Forschungen ergänzen, vor allem durch Forschungen von Professor Seiler vom Fraunhofer Institut in Garmisch-Partenkirchen. Um jedoch zu Ergebnissen zu kommen, die für den gesamten Alpenraum Gültigkeit haben, ist es unerläßlich, Meßprogramme zu erstellen, die kompatibel sind, und die Forschungsarbeiten weiter zu koordinieren. Erfreulicherweise besteht jetzt schon eine gute Zusammenarbeit unter den verschiedenen wissenschaftlichen Instituten des Alpenraumes.Das gleiche gilt für die Land- und Forstwirtschaft. Ich bin dem Herrn Kollegen, Dr. Friederichs sehr dankbar, daß er auf die verdienstvolle Arbeit von Bundeslandwirtschaftsminister Kiechle hingewiesen hat, der das Bergbauernprogramm weiter ausgebaut und über die Gewährung einer erhöhten Flächenprämie für die Öffentlichkeit deutlich gemacht hat, daß auch die Pflege der Landschaft ihren Preis hat, der von der Öffentlichkeit zu zahlen ist. Wir bekennen uns jedenfalls zur besonderen Rolle der Land- und Forstwirtschaft im Alpenraum, freilich mit geringstmöglichem Einsatz von mineralischem Dünger und Schädlingsbekämpfungsmitteln.
Die Biotopkartierung für den ganzen Alpenraum muß ergänzt werden und unter vergleichbaren Gesichtspunkten durchgeführt werden. Nationalparks und Naturschutzgebiete sollen nicht dort aufhören, wo politische Grenzen verlaufen, sondern sie sollten nach den natürlichen Gegebenheiten eingerichtet werden.Schutz und Wiedereinbürgerung von Tierarten mit einem großen geographischen Lebensraum wie etwa des in den Alpen wieder häufig vorkommenden Steinadlers und des nur in wenigen Exemplaren freijagenden Luchses und des ganz selten einmal als Zuwanderer anzutreffenden Braunbären haben nur eine Chance, wenn sich die Alpenstaaten in ihren Schutzmaßnahmen abstimmen.
— Ich muß sagen, die Alpensozialisten sind doch recht erfolgreich.
Ich weiß nicht, ob es einen Unterschied zwischen Alpensozialisten und Flachlandsozialisten gibt.Ich will es bei diesen Beispielen belassen und gerne noch einmal darauf verweisen, daß wir das große Öko-
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Parl. Staatssekretär Gröblsystem Alpen als besondere Gabe der Natur pflegen und beschützen wollen, daß wir aber den Alpenraum auch als Wirtschafts- und Lebensraum, als unverzichtbares Gebiet auch für Tourismus mit zahlreichen Sport- und Freizeitaktivitäten und als Drehscheibe des zentraleuropäischen Verkehrs betrachten.Wir wissen, daß die Erhaltung des Ökosystems, die Erhaltung der Natur, die Voraussetzung für all diese menschlichen Nutzungsformen ist. Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, Anstöße zum Schutz der Alpen zu geben und unsere tatkräftige Mitarbeit anzubieten, damit von der ersten Alpenschutzkonferenz in Berchtesgaden Impulse ausgehen, die der Sicherung der Zukunft der Alpen dienlich sind.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der SPD auf Drucksache 11/3910 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 21 auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Schutz gegen Fluglärm
— Drucksache 11/2217 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hartenstein, Schäfer , Adler, Bachmaier, Blunck, Büchner (Speyer), Steinhauer, Bernrath, Schmidt (Nürnberg), Purps, Faße, Kretkowski, Ibrügger, Conradi, Fischer (Homburg), Dr. Hauff, Lennartz, Matthäus-Maier, Menzel, Müller (Düsseldorf), Müller (Pleisweiler), Reimann, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Stahl (Kempen), Waltemathe, Weiermann, Dr. Wernitz, Dr. Martiny, Dr. Böhme (Unna), Bamberg, Dr. Hauchler, Kolbow, Oesinghaus, Opel, Erler, Fuchs (Verl), Gerster (Worms), Heistermann, Horn, Dr. Klejdzinski, Koschnick, Leonhart, Steiner, Zumkley, Dr. von Bülow, Gansel, Dr. Götte, Kühbacher, Leidinger, Nagel, Dr. Scheer, Traupe, Voigt (Frankfurt), Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Novellierung des Fluglärmrechts
— Drucksache 11/4038
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes 90 Minuten vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der SPD-Fraktion verlangt eine Novellierung des Fluglärmgesetzes. Diese Novellierung ist überfällig. Seit langem wird sie auch von den Ländern, von den Kommunen und von den großen Umweltverbänden gefordert, allen voran von der Bundesvereinigung gegen Fluglärm. Und dies völlig zu Recht.Das Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm vom März 1971 war für die damalige Zeit gewiß ein mutiger Schritt, und zwar ein Schritt in Neuland, insbesondere durch die Festsetzung von Lärmschutzzonen und durch die Entschädigungsleistungen für die am stärksten vom Fluglärm Betroffenen.Inzwischen ist aber die Entwicklung weitergegangen. Der Flugverkehr platzt aus allen Nähten. Das sieht auch die Bundesregierung. Dennoch ist sie bisher völlig untätig geblieben, obwohl in den Koalitionsvereinbarungen steht, daß eine Verminderung der Belastung durch militärische Tiefflüge und — wörtlich — „eine Überprüfung des Fluglärmgesetzes" erfolgen sollten. Bisher ist nichts dergleichen geschehen; beide Versprechen sind nicht eingelöst worden. Wiederum gibt es also Worte statt Taten.
Dem steht eine unerfreuliche Realität gegenüber: Rund 10 Millionen Menschen leiden tagtäglich unter der Belastung durch Fluglärm. Der Fluglärm ist in den vergangenen Jahren enorm angestiegen, und er wird weiter ansteigen. An den Verkehrsflughäfen rechnet man mit einer Verdopplung der Starts und Landungen in den neunziger Jahren — Stichwort europäischer Binnenmarkt. Die Menschen sind außerdem gegen Umweltbelastungen sensibler geworden, und der Gesundheitsschutz hat heute einen höheren Stellenwert. Der technische Fortschritt, meine Damen und Herren, z. B. der Bau leiserer Triebwerke, kommt leider nicht den Menschen zugute, sondern er wird durch die höhere Zahl von Starts und Landungen wieder aufgefressen.Das geltende Fluglärmgesetz hat die Belastungen zwar gemildert, und es hat gleichzeitig verhindert, daß die Umgebung von Flughäfen immer mehr zugebaut wird. Aber inzwischen sind auch die Lärmmedizin und die Lärmwirkungsforschung vorangeschritten. Sie haben zweifelsfrei erwiesen, daß der eigentliche Streßfaktor nicht der Durchschnittslärmpegel ist, von dem das Fluglärmgesetz ausgeht, sondern die Spitzenpegel, also die Häufigkeit und die Höhe der Spitzenbelastungen, die die Menschen zu ertragen haben. Spitzenpegel über 80 bis 125 dB(A) — das ist übrigens achtmal so laut wie ein Preßlufthammer — führen unweigerlich zu Hörschäden, zu Bluthochdruck und zu anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
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Frau Dr. HartensteinLärm macht krank. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist keine theoretische Behauptung, sondern es ist eine belastende und bedrückende Tatsache. Das muß auch die Mehrheit dieses Hauses endlich zur Kenntnis nehmen und Konsequenzen daraus ziehen.
Keiner kann sich künftig mehr hinter der Streitfrage über die Zumutbarkeit verstecken. Denn inzwischen liegen höchstrichterliche Urteile vor, die klarstellen, daß die Lärmbelastung durch den äquivalenten Dauerschallpegel eben nicht adäquat erfaßt wird, sondern daß die konkreten Spitzenpegel herangezogen werden müssen. Die Richter stellen mit unüberhörbarer Deutlichkeit fest, insoweit greife das Fluglärmgesetz zu kurz.Der Antrag der SPD-Fraktion enthält drei Schwerpunktforderungen: erstens die Ausdehnung der Erstattung für Lärmschutzfenster auf die Schutzzone 2, d. h. ab einem Dauerschallpegel von über 67 dB(A) — diese Forderung entspricht auch dem Gesetzentwurf des Bundesrates vom April 1988, den die Bundesregierung mit Hinweis auf die entstehenden Kosten bisher leider abgelehnt hat —; zweitens die Einbeziehung der Tieffluggebiete und Hubschrauberlandeplätze sowie der Luft/Bodenschießplätze in den Geltungsbereich des Gesetzes, drittens ein neues Bewertungsverfahren, das den äquivalenten Dauerschallpegel als Bemessungsgrundlage durch einen mittleren Maximalpegel ersetzt.Meine Damen und Herren, die Einbeziehung der militärischen Tieffluggebiete ist ein Gebot der Gleichbehandlung. Denn Lärm ist Lärm, und für den Betroffenen ist es völlig gleichgültig, ob er durch Militärmaschinen oder durch Zivilflugzeuge verursacht wird.
Wer 152 Überflüge über 95 dB(A) pro Tag ertragen muß, wie sie in einem Tiefstfluggebiet registriert wurden, für den ist der Begriff „Lärmüberflutung" noch eine sehr, sehr milde Umschreibung. Jedenfalls ist ein menschenwürdiges Leben unter solchen Bedingungen einfach nicht mehr möglich. Nicht umsonst wird unter allen Umweltbelastungen Lärm als die gravierendste und bedrückendste empfunden. Er zerschneidet Lebenszusammenhänge, z. B. Gespräche; er stört die Konzentration, und er zerstört die Nachtruhe. Jeder zweite Bundesbürger leidet unter der Überlastung durch Straßenlärm. Jeder fünfte fühlt sich durch Fluglärm beeinträchtigt. Rund 10 % der Bevölkerung, also 6 Millionen Menschen, geben an, daß sie nicht einmal bei geschlossenen Fenstern Ruhe hätten. Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Kreislaufbeschwerden, Konzentrationsschwäche und schließlich Hörschäden sind die unvermeidlichen Folgen.Besonders schwerwiegend sind die Auswirkungen des Lärms auf Kinder, auf alte und kranke Menschen, also auf die sogenannten Risikogruppen, von denen wir viel zuviel reden und an die wir viel zuwenig denken, wenn es sich um tatsächliche Maßnahmen handelt.
Es scheint mir ohnehin, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein unmenschlicher Maßstab zu sein, wenn ständig nur mit der Belastbarkeit des gesunden Erwachsenen um die 30 operiert wird; an die anderen Menschen denkt man nämlich nicht.In Schulen wurden noch 30 Minuten nach einem Überflug mit Lärmspitzen über 100 dB(A) Konzentrationsmängel, mehr Fehler und langsameres Arbeiten bei Kindern beobachtet. Die Forderung nach Chancengleichheit bleibt hier auf der Strecke. Die Frage ist, ob die Chancengleichheit nicht in eklatanter Weise verletzt wird. Fachleute sind der Meinung, daß durch extreme Lärmbelastung der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt sein könnte.Im Gefolge des Fluglärmgesetzes wurden an den zehn deutschen Verkehrsflughäfen und an den 35 militärischen Flugplätzen von 1971 bis 1986, also in 15 Jahren, insgesamt 761 Millionen DM für Schallschutzmaßnahmen ausgegeben, davon 428 Millionen DM an militärischen Flughäfen und 333 Millionen DM an zivilen Flughäfen. Das sind rd. 50 Millionen DM pro Jahr. Das Gerede von der Kostenlawine greift also nicht, zumal bei den Zivilflughäfen die Betreiber kostenpflichtig sind und nicht der Staat. Im übrigen müßte, wenn man so rechnet, gleichzeitig auch die Gegenrechnung aufgemacht werden: Welches sind denn die Kosten für Gesundheitsschäden, für Einbußen an Lebensqualität, für Rückgänge im Fremdenverkehr usw.? Es würde sich schnell zeigen, daß die Umweltverschmutzung Lärm — dies ist eine Umweltverschmutzung wie jede andere — nicht nur höchst inhuman, sondern auch volkswirtschaftlich gesehen ein schlechtes Geschäft ist. Letztlich zahlen wir nämlich drauf.
Die Forderung nach mehr und besserem Schallschutz ist berechtigt, aber Schallschutz kann immer nur die zweitbeste Lösung sein. Die Menschen können und wollen nicht in ihren Wohnungen wie in einem Käfig eingesperrt leben. Sie wollen sich im Freien bewegen. Kinder wollen draußen spielen. Viele, z. B. Landwirte, müssen draußen arbeiten. Deshalb ist die Lärmbekämpfung an der Quelle noch wichtiger als passiver Lärmschutz. Auch hier ist die Bundesregierung gefordert, z. B. durch Verbot der alten Krachmacher im Zivilluftverkehr und durch strikte Zulassungsvorschriften für neue Flugzeuge, insbesondere aber durch drastische Einschränkung oder — noch besser — Einstellung der militärischen Tiefflüge.Wir werden jede Maßnahme begrüßen, die den Menschen hilft, liebe Kolleginnen und Kollegen. Was wir aber nicht akzeptieren, ist Untätigkeit.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Harries.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere Bevölkerung lebt mil ganz erheblichen Widersprüchen und mit Wunschvorstellungen. Einige Beispiele:
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HarriesErstes Beispiel: Die Zahl der Autos nimmt ständig zu.
Jeder ist motorisiert, aber erwartet, daß er in seinem Häuschen oder in seiner Wohnung in idyllischer Ruhe leben kann.Zweites Beispiel: Die Zahl derjenigen, die ihren Urlaub jenseits der Grenzen unserer Bundesrepublik verbringen können — ich finde das hervorragend —, nimmt ebenfalls ständig zu. Sie steuern ihre Urlaubsziele mit Flugzeugen an. Auf der anderen Seite wächst jedoch auch die Kritik an den lästigen und schädlichen Lärmauswirkungen des Flugverkehrs.Letztes Beispiel in diesem Vorspann: Unsere Bevölkerung will mit Recht den Frieden. Weite Teile der Bevölkerung übersehen dabei aber, daß glaubhafte Verteidigung schon in den letzten 40 Jahren mit Sicherheit weltweit einen Beitrag zur Friedenssicherung geleistet hat und weiterhin leisten muß, wenn wir auch künftig den Frieden erhalten wollen. Manöver, Panzerfahrten, Bewegungen militärischer Flugzeuge, Tiefflüge aber werden nicht nur kritisch beobachtet, sondern — das verkenne ich überhaupt nicht — von großen Teilen unserer Bevölkerung abgelehnt.
Diese Beispiele, meine Damen und Herren, machen deutlich, daß es Probleme gibt, die ich auch ganz nüchtern sehe, die aber nicht leicht zu lösen sind. Der Ruf nach dem verantwortlichen Verursacher, der. Änderungen vornehmen soll und etwas bewirken soll, wird immer sehr schnell dann erhoben, wenn man selbst nicht der Verursacher ist.Unsere in zunehmendem Maße technisch und zivilisatorisch geprägte Gesellschaft wird auch zukünftig — das sage ich hier ganz eindeutig — mit Lärmquellen und Lärmauswirkungen zu leben haben. Das ruhige Paradies, meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem immer wieder gerufen wird und das allenfalls noch laute Discos oder Walkmänner zulassen soll, wird es mit Sicherheit nicht geben.Das bedeutet aber nun keineswegs, daß ich resigniere, daß wir resignieren oder daß wir hier ein Bekenntnis zur Tatenlosigkeit abgeben. Mitnichten!
Diese Hinweise sollen nur bewirken und deutlich machen, daß wir bei der Lösung dieser Probleme nicht von einer realistischen Betrachtungsweise abgehen dürfen.Eines ist genauso eindeutig und klar: Lärmauswirkungen — Frau Dr. Hartenstein, da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu — sind nicht nur lästig, sondern sie bewirken in vielen Fällen, in zu vielen Fällen, auch Gesundheitsschäden. Man muß anerkennen, daß bei vielen Mitbürgern, bei einer steigenden Zahl von Mitbürgern, diese Schäden jetzt vorliegen. Ich erinnere an Hörschäden, aber auch an Kreislaufreaktionen, die nicht nur behauptet werden, sondern die inzwischen auch nachgewiesen werden können. Man muß allerdings sehen, daß gerade bezüglich der Auswirkungen der militärischen Tiefflüge in diesem Jahr Untersuchungsreihen durchgeführt werden, deren Ergebnisse abzuwarten sind. Ich sage aber nochmals: Ich bin bereits heute überzeugt, daß Handlungsbedarf besteht.
Was ist zu tun? Was ist konkret zu leisten? — Meine Damen und Herren, es geht in dieser Debatte heute um die Verbesserung des Schutzes gegen Fluglärm. Trotzdem erlaube ich mir den Hinweis, daß es neben Fluglärm aus der Nutzung ziviler und militärischer Flugzeuge Lärmquellen gibt, nämlich die der Pkws — ich habe dazu ein Beispiel genannt —, die der Lkws, die der Eisenbahn, die der Industrie und die der Wirtschaft, um die wichtigsten hier zu nennen. Aber auch in diesem Bereich, meine Damen und Herren, gibt es seit Jahren durch Maßnahmen der Bundesregierung und durch Gesetze dieses Parlaments erfolgreiche Ansätze mit dem Ziel, zu Lärmschutzmaßnahmen und zum Rückbau von Lärmquellen zu kommen.Ich erinnere an die Lärmschutzmaßnahmen an qualifizierten Straßen. Wir haben vor einigen Monaten über diesen Punkt diskutiert. Gerade dieser Punkt macht wieder deutlich, wie man das Problem nur angehen und lösen kann. Wir haben uns damals mehrheitlich zutreffend dafür ausgesprochen, nicht dem Antrag der Fraktion der GRÜNEN in der Weise zu folgen und die Bundesmittel ausschließlich bzw. überwiegend für Lärmschutzmaßnahmen an diesen qualifizierten Straßen zu investieren, sondern gerade als ein Gebot des Umweltschutzes Straßen auszubauen, neue Umgehungsstraßen zu bauen, um Wohngebiete ruhiger halten zu können. Das zeigt, daß man zu einem abgewogenen Verhältnis kommen muß. Auch wir sind dafür, daß in Wohngebieten mehr als bisher die Beschränkung auf 30 km/h eingeführt wird.
Das ist überhaupt keine Frage.Ein weiteres Beispiel zu dieser Lärmquelle Pkw bzw. Lkw. Die Geschwindigkeiten, die oft zu weitgehend ausgenutzten Geschwindigkeiten der Lkws bedürfen einer scharfen und besseren Kontrolle. Ich verweise insofern auch auf den Immissionsschutzbericht der Bundesregierung. Auch hier — das gilt für den Lärm genauso; Frau Dr. Hartenstein hat es mit Recht angesprochen — ist die Forschung aufgerufen, Innovationen zur Herabsetzung des Lärmpegels bei Pkws bzw. Lkws oder bei den Eisenbahnen zu fördern.Meine Damen und Herren, zum Fluglärm stellt das Gesetz aus dem Jahre 1971 — ich wiederhole ein Wort, das in der Debatte heute bereits gebraucht worden ist — auch aus unserer Sicht einen ganz wichtigen Meilenstein dar. Durch dieses Gesetz ist eine Schutzzone 1 geschaffen worden. Hier sind in den letzten Jahren einige hundert Millionen Mark investiert worden mit dem Ziel, Lärmschutzmaßnahmen, passiven Lärmschutz zu ermöglichen. Das war mit Sicherheit ein ganz wichtiger, ein unverzichtbarer Schritt in die richtige Richtung.
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HarriesWenn ich das hier als positiv herausstelle, so wäre die sehr schnell gedachte und vorgetragene logische Folge daraus womöglich, daß gesagt wird: Dann muß doch wohl der Gesetzentwurf des Bundesrates bzw. der Antrag der SPD-Fraktion in die richtige Richtung zeigen, weil er den zweiten Schritt vorsieht und zum Gesetz erheben will, nämlich die Ausdehnung der Schutzzone 2 mit dem Ziel, durch weitere Investitionen auch aus Bundesmitteln ganz erheblich zum Abbau von Lärmquellen und zum passiven Lärmschutz zu kommen. Das tue ich nicht. Ich halte beide Wege nicht für überzeugend und nehme hier einen absolut ablehnenden Standpunkt ein. Ich werde ihn begründen und sagen, worin wir in Anbetracht nicht zu leugnender Gesundheitsschäden die Lösung sehen.Meine Damen und Herren, die Ausweitung der Lärmschutzmaßnahmen auf die Zone 2 ist nicht zu finanzieren.
Es gibt überschlägige Rechnungen, die bei 700 bis 800/900 Millionen DM liegen. Wir sind verantwortlich dazu aufgerufen, politische, wirtschaftliche und finanzielle Prioritäten zu setzen. Die Priorität liegt aus unserer Sicht darin, die Verschuldung dieser Bundesrepublik nicht noch weiter zu erhöhen.
Das ist jetzt nicht der richtige Schritt.
— Wenn Sie etwas lauter sprechen, Frau Kollegin, würde ich Ihnen gerne antworten. Ich habe es aber nicht verstanden.
Wir sind der Überzeugung, daß ein Beitrag zur Inflationierung und zur Kostensteigerung nicht geleistet werden kann.Meine Damen und Herren, die völlige Reduzierung der militärischen Tiefflüge ist absolut irreal. Hierzu wird mein Kollege Francke gleich umfassend etwas sagen. Sie gestatten mir nur die Bemerkung, daß wir hier ein Bündel von Maßnahmen diskutieren, vorgesehen und eingeleitet haben. Sie können den militärischen Fluglärm ganz sicher nicht auf null reduzieren. Das gebietet eine glaubwürdige Verteidigungspolitik zur Bewahrung des Friedens.
Aber diese Maßnahmen sind schon wichtig.Worin sehe ich die erforderlichen Maßnahmen? Eine erste Maßnahme sehe ich darin, daß die Flugzeughersteller — wie bereits geschehen und wie bereits eingeleitet — national und international gedrängt, aufgefordert und veranlaßt werden, lärmarme Flugzeuge zu bauen und einzusetzen. Hier gibt es inzwischen international festgesetzte Grenzwerte für die Lärmzulassung. Neue Emissionsgrenzwerte gelten.Zweitens, meine ich, sollte hier einmal hervorgehoben werden, daß der Freistaat Bayern bei der Errichtung eines neuen Flughafens nicht mehr in MünchenRiem, sondern weiter im unbebauten Gelände eine richtige Entscheidung getroffen hat. Es gibt auch eine falsche. Ich denke nur an Hamburg.
Herr Abgeordneter Harries, darf ich Sie daran erinnern, daß das Haus — —
Im übrigen setze ich auf intensive administrative Entscheidungen.
Herr Abgeordneter Harries, darf ich Sie ernsthaft daran erinnern, daß Ihre Redezeit deutlich überschritten ist.
Ich bitte um Entschuldigung.
Die Verwaltung ist wirklich überstrapaziert. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit Rücksicht auch auf die Beschäftigten — —
Ich höre auf.
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiss .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesrat schlägt vor, das Fluglärmschutzgesetz so weit zu erweitern, daß auch in der Lärmschutzzone 2 Anspruch auf Errichtung von Schallschutzmaßnahmen besteht. Die Bundesregierung setzt dagegen, dafür sei kein Geld da, das sei alles viel zu teuer.Aber erinnern wir uns doch einmal. Gerade das, was den Fluglärm verursacht, wollten diese Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen noch vor einem Jahr weiter subventionieren, indem sie auf mögliche Einnahmen durch Besteuerung des Flugbenzins verzichteten.
Betrachten wir das im Zusammenhang. Auf der einen Seite versucht man, den Flugbetrieb zu subventionieren, und auf der anderen Seite wird gesagt: Es ist kein Geld da, um den Lärmschutz für die Betroffenen zu erhöhen. Das ist gegenüber den Menschen, die an einem Flughafen leben und die vom Lärm betroffen sind, mehr als menschenverachtend.
Wenn das Geld tatsächlich nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist, dann müssen wir eben dazu kommen, daß wir den gesamten binnendeutschen Luftverkehr besteuern. Es ist doch nicht einzusehen, warum der Flugverkehr immer noch in großem Maße subventioniert wird.
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Weiss
Meine Damen und Herren, inzwischen fühlen sich etwa 20 % der Bevölkerung durch Fluglärm belastet. Die gesundheitlichen Folgen einer erhöhten Lärmbelastung sind bekannt. Wenn die Bundesregierung nun sagt: Aus bestimmten Gründen wollen wir das Geld für Lärmschutz nicht ausgeben, dann findet sie die gesundheitlichen Folgekosten an anderer Stelle wieder. Sie müssen durch das Gesundheitssystem finanziert werden; denn Sie können die Schäden nicht wegdiskutieren, indem Sie sie nicht verhindern. Sie müssen die Kosten anderen aufhalsen, damit sie bezahlt werden, letztlich unserem Gesundheitssystem, das dann die gesamten Folgekosten zu tragen hat.Gerade in den letzten Jahren hat der Flugverkehr enorm zugenommen. Diese Zunahme war politisch gewollt. Durch Schritte der Liberalisierung im europäischen Rahmen, durch die bereits erfolgte Liberalisierung im Bereich des Regionalluftverkehrs, durch die zusätzliche Schaffung und Weiterentwicklung des Regionalluftverkehrs, für den eben nicht nur große Verkehrsflughäfen, sondern auch immer mehr Regionalflughäfen erschlossen werden, so daß der Flugverkehr in der Fläche zunimmt, durch diese Maßnahmen hatten wir eine gewaltige Ausweitung des Flugbetriebes. Mit diesem politisch gewollten Wachstum ist der Lärmschutz, den die Bürgerinnen und Bürger mit Recht erwarten dürfen, nicht einhergegangen.Wenn Sie schon mehr Flugverkehr wollen und alle EG-Schritte uneingeschränkt mittragen wollen, dann sollten Sie zumindest wie Herr Harries argumentieren — dann wäre das wenigstens konsequent — : Mit dem Wachstum des Luftverkehrs müßte der Lärmschutz mitwachsen. Das geschieht aber nicht: Der Luftverkehr wächst und der Lärmschutz stagniert. Im Endeffekt sind es immer mehr Leute, die in immer größerem Umfang belastet werden. Man darf sich nicht wundern, wenn dann die Unzufriedenheit immer größer wird.
Sie hätten jederzeit ohne weiteres die Möglichkeit, dem Gesetzentwurf des Bundesrates zu folgen und Lärmschutzmaßnahmen anzuordnen; denn letztlich müssen diese Maßnahmen nicht aus dem Bundeshaushalt finanziert werden, zumindest nicht was den zivilen Luftverkehr betrifft. Nach den bestehenden Lärmschutzvorschriften sind die Betreiber, die Flughafengesellschaften, dazu verpflichtet, die entsprechenden Aufwendungen für den Lärmschutz zu erbringen. Wenn die Anforderungen für Lärmschutzmaßnahmen höher werden, dann müssen sie eben durchgeführt werden. Das muß dem Verursacher, dem Flugverkehr, in Rechnung gestellt werden.Das Verursacherprinzip ist ja eines der Lieblingsworte des Bundesumweltministers Töpfer geworden. Warum soll das im Zusammenhang mit Lärm — nicht bloß Fluglärm, sondern Verkehrslärm insgesamt — nicht eine Rolle spielen? Man muß ja sagen: Wir brauchen allmählich eine lärmtechnische Sanierung der ganzen Republik;
denn allein vom Fluglärm fühlen sich etwa 20 % derLeute betroffen. Wenn wir aber alle verkehrsbedingten Lärmsektoren zusammennehmen, werden durchdie Auswirkungen des Verkehrslärms fast 80 % der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes belästigt. 80 %, das ist sozusagen eine flächendeckende Belästigung. Dem müßten wir eine flächendeckende Sanierung entgegensetzen. Man könnte beim Fluglärm ebenso wie beim Straßenverkehrslärm etwas machen. Aber auch da weigert sich die Bundesregierung konsequent, etwas zu tun.Es hat z. B. beim notwendigen Lärmschutz an Bundesfernstraßen zwei Ohrfeigen für die Bundesregierung gegeben, weil es dafür immer noch kein Lärmschutzgesetz gibt: Das war zum einen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Bodensee und zum anderen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Foncar-Straße.
— Es mag sein, daß sie in Vorbereitung ist; aber es ist doch schon ein trauriges Kapitel dieser Bundesregierung, daß sie es nicht geschafft hat, im Bereich Lärmschutz überhaupt etwas Sinnvolles auf die Beine zu bekommen, obwohl die Verfahren längst zu Ende sind.
Es ist ein trauriges Kapitel, daß bei uns das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht die Bundesregierung für die Fragen des Lärmschutzes sensibilisieren müssen, weil die nötige Sensibilität dort offensichtlich nicht vorhanden ist, nicht gewünscht wird oder blindlings ignoriert wird. So ist doch die Situation, Herr Kollege.
Ein Weiteres. Ins bisherige Lärmschutzgesetz nicht einbezogen ist der gesamte Tieffluglärm. Es ist, wie auch Frau Kollegin Hartenstein schon ausgeführt hat, für den Geschädigten wirklich keinerlei Unterschied, ob er seinen Hörschaden nun auf Grund dessen hat, daß er in der Zone 1 eines zivilen Flughafens wohnt, oder ob er ihn deshalb hat, weil ihm 150 Flieger täglich irgendwie über den Kopf fliegen. Wenn es gesundheitliche Gründe gibt — offensichtlich sind sie vorhanden, denn sonst wäre auch das bestehende Fluglärmschutzgesetz unsinnig, und dann bräuchte man sie auch in der Zone 1 nicht zu berücksichtigen — , dann ist es nur konsequent, wenn man nicht nur für den zivilen Flugverkehr in der Zone 1 die Konsequenzen zieht, sondern selbstverständlich auch für den gesamten Bereich des militärischen Flugverkehrs, und dazu gehören die Tiefflüge.Der Bundesverteidigungsminister soll für die gesundheitlichen Schäden, die er an der Bevölkerung anrichtet, ruhig bezahlen. Denn dann käme er vielleicht einmal dazu, eine effektive Kosten-NutzenRechnung zu machen, welche Schäden er einschließlich der gesundheitlichen Folgekosten mit seinen Tiefflügen in diesem Land tatsächlich verursacht. Eine verursachensgerechte Kostenanlastung schließt alle Folgekosten ein, die bei uns nicht ausgewiesen sind. Wir erwarten doch, daß wir auch im Verteidigungsbereich einmal die realen Kosten genannt bekommen. Vieles, was da eben wieder in anderen sozialen Kosten verschleiert ist, muß bei gerechter
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Weiss
Kostenerfassung letztlich dem Bundesverteidigungsministerium angelastet werden, aber es wird ihm nicht angelastet.Deshalb müßte die erste Konsequenz eigentlich lauten: Weg mit den militärischen Tiefflügen, Reduzierung des gesamten militärischen Flugverkehrs. Aber wir hören da immer nur die gleichen Begründungen, daß es angeblich nicht machbar sei, daß man es nicht anderswo machen könnte und alles mögliche. Tatsache ist aber, daß wir genauso wie andere Länder auf Tiefflüge durchaus verzichten könnten, wenn wir wollten. Tatsache ist, daß in der Regel nicht darüber nachgedacht wird, welche Möglichkeiten wir haben, um auch im militärischen Bereich Flugbewegungen zu reduzieren. Solange wir eine entsprechende Folgekostenregelung und die Einbeziehung der ökologischen sozialen Folgekosten nicht eingeführt haben, wird es immer zu solchen abenteuerlichen Argumentationen kommen, wie die Bundesregierung sie hier vorbringt. Sie rechnet die Kostengründe gegen die Gesundheit der Menschen auf und sagt: Das Geld haben wir, wenn es darum geht, die Menschen zu verlärmen, aber das Geld haben wir nicht, wenn es darum geht, ihre Gesundheit zu schützen. — Das ist ein Widerspruch, der für uns in dieser Form unerträglich ist.Danke.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hoyer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesratsinitiative zum Fluglärmgesetz liegt nun schon einige Zeit vor. Es ist an der Zeit, daß wir uns damit befassen und genau untersuchen, wie und in welcher Weise wir den lärmgeplagten Bürgern in der Umgebung unserer Flugplätze helfen können.Die Lärmbelastung und Lärmbelästigung hat in der Tat ein teilweise erschreckendes Ausmaß angenommen. Zweifellos hat — man mag das bedauern oder nicht — die Sensibilität, die Empfindlichkeit ebenfalls zugenommen; das müssen wir zur Kenntnis nehmen.Zugenommen hat darüber hinaus die Aktivität auf unseren Flughäfen, insbesondere auf den Zivilflughäfen. Die zu erwartenden Steigerungsraten im Luftverkehr tragen darüber hinaus zu einer weiteren Verschärfung des Problems bei, und da die großen Interkontinentalflughäfen, wie Frankfurt, trotz aller offenkundigen Expansionslust an die Grenzen ihrer Expansionsmöglichkeiten stoßen, erlangen nunmehr auch die bisher nicht so stark frequentierten Flughäfen größere Bedeutung.Viele Flughäfen, z. B. der von den Mitgliedern dieses Hauses so kräftig in Anspruch genommene Kölner Flughafen, erwachen aus ihrem Dornröschenschlaf. Genau das ist im übrigen jahrelang angemahnt worden, nicht zuletzt in der Kölner Kommunalpolitik, in der es jahrzehntelang ein Thema war, wie man den Flughafen endlich ausbauen und entsprechend nutzen könnte, und das nicht nur im Frachtbereich. Nunmehr wird offensichtlich dieses Ziel erreicht, und derKatzenjammer folgt auf dem Fuße, denkt man an den Lärm.Es gilt, auf eine weitere Inkonsequenz hinzuweisen. Wir alle tragen kräftig zu der Expansion des Flugverkehrs bei und werden es in einer Gesellschaft, in der zum einen Freizeitgestaltung und Urlaub, zum anderen die Internationalisierung der Märkte eine immer größere Rolle spielen, mit allen Konsequenzen für den Reiseverkehr, auch in Zukunft tun. Damit tragen wir alle auch zu einer Verschärfung des Lärmproblems bei.Problemlösungen müssen sich in erster Linie auf Maßnahmen des aktiven Lärmschutzes richten. Es ist ja — das ist bereits gesagt worden — überhaupt nicht einzusehen, daß angesichts des technologischen Fortschritts, insbesondere in der Triebwerksentwicklung, noch immer extrem laute „Mühlen" eingesetzt werden können. Das ist übrigens ein Gesichtspunkt, den wir auch bei der Frage der Ersatzbeschaffung für unsere 707 bei der Luftwaffe berücksichtigen müssen und werden.Die bisherige Regelung mit der Differenzierung in die Lärmschutzzonen 1 und 2 hat gewiß einige Mängel, und das nicht nur im Hinblick auf die sehr schwierige Abgrenzung und die dabei entstehenden, vom Bürger nicht unbedingt immer nachvollziehbaren Ergebnisse, so z. B. wenn die Grenze zwischen der Lärmschutzzone 1 und 2 genau entlang dem Mittelstreifen einer beidseitig befahrenen Straße verläuft und die Bürger auf der einen Seite Anspruch auf passiven Lärmschutz haben, während die Bürger auf der anderen Seite diesen Anspruch nicht haben. Wir werden den Gesetzentwurf des Bundesrates unter diesem Gesichtspunkt sehr genau prüfen müssen, ebenso wie mögliche Alternativen, die sich zur Ausgestaltung des Fluglärmschutzrechts ergeben oder ergeben könnten.Ich möchte den Beratungen in den Ausschüssen, die ich für durchaus schwierig und kompliziert halte, nicht vorgreifen. Ich denke im übrigen, daß wir gegebenenfalls zwischen den Ausschüssen erwägen sollten, ein gemeinsames Hearing zu dieser Frage zu veranstalten, um uns gemeinsam an eine sachgerechte Lösung des Problems heranzuarbeiten. Das ist aber eine ganz persönliche Meinung, die ich nicht abgestimmt habe.
Bei der Bewertung der Lösungsmöglichkeiten werden wir sicherlich irgendwann auch an die Grenzen des finanziell Machbaren stoßen, eine Dimension, die wir hier natürlich nicht übersehen dürfen. Es hilft uns ja überhaupt nichts, wenn wir in den beteiligten Fachausschüssen vermeintlich sachgerechte und auch möglicherweise populäre Lösungen empfehlen, dann aber vom Finanzminister oder bei uns im Parlament, im Haushaltsausschuß, mangels Masse alles gekippt wird. Derartige Erfahrungen macht man als Fachabgeordneter ohnehin schon zu häufig.
Ich finde es gut, daß mit der Initiative des Bundesrates der Flugplatzumgebungslärm wieder etwas stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit und der
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Dr. HoyerPolitik tritt. Die totale Fixierung auf die Probleme, die mit militärischem Tiefflug verbunden sind, haben nämlich die Sorgen und Lasten der Bürger, die in der unmittelbaren Nähe von zivilen oder militärischen Flugplätzen leben, etwas in den Hintergrund gedrängt, und ich finde, zu Unrecht. Ich bin Berichterstatter für einige NATO-Flugplätze in unserem Unterausschuß Fluglärm und habe auf Grund meiner persönlichen Erfahrungen vor Ort großes Verständnis dafür, daß die Bürger in der Umgebung dieser Flugplätze auf eine rasche Lösung ihrer Probleme drängen. Das sind Bürger, die in der allergrößten Zahl durchaus den Verteidigungsauftrag der beteiligten deutschen und alliierten Luftstreitkräfte einsehen, die aber auch umgekehrt den Anspruch erheben, daß ihrem Ruhebedürfnis so weit wie irgend möglich Rechnung getragen wird.Abzutrennen ist nach meiner Auffassung hiervon grundsätzlich die Frage der Konsequenzen aus dem sogenannten Ense-Urteil, bei dem es um Entschädigungsansprüche eines Bürgers in der Lärmschutzzone 1 geht, die sich auf einen enteignungsgleichen Eingriff stützen. Hier ist in erster Linie die Exekutive gefragt; in der anderen Frage, die wir heute diskutieren, ist der Gesetzgeber gefordert.
— Von der Rechtssystematik her nicht. Es handelt sich in beiden Fällen um Lärm in der Umgebung von Flugplätzen; das ist unumstritten. Rechtssystematisch sind das aber zwei verschiedene Dinge.
Was mir an dem SPD-Antrag mißfällt, ist, daß er versucht, das Problem des militärischen Tieffluges über das Fluglärmgesetz aus der Welt zu schaffen, gewissermaßen also auf kaltem Wege. Ich halte die Ausdehnung der für die Umgebung militärischer wie ziviler Flughäfen geltenden Vorschriften auf die Gebiete, in denen militärischer Tiefflug betrieben wird, für nicht sachgerecht, vor allem halte ich sie für absolut unfinanzierbar. Das müssen wir den Bürgern auch ehrlich sagen.
Das heißt nicht, daß das Tiefflugproblem keiner Lösung mehr bedarf. Im Gegenteil, die dringend erforderliche Lösung muß aber in erster Linie nicht im passiven Lärmschutz liegen, sondern bei einer Reduzierung und qualitativen Veränderung des Tiefflugbetriebes, wobei ich nebenbei davor warne, bei den verschiedenen Maßnahmen, die wir auch im Unterausschuß des Verteidigungsausschusses diskutieren, die Erwartungen an die zu entwickelnden Tiefflugsimulatoren überhöht anzusetzen. Ich glaube, wir werden dort bald auf dem Boden der Realitäten ankommen.
Der Verteidigungsausschuß und der Unterausschuß „Militärischer Fluglärm" hat im letzten Jahr einen Beschluß zustande gebracht, den es nun umzusetzen gilt. Prof. Scholz hat sich hierum nach Kräften bemüht und erste Ergebnisse vorgetragen. Sein Amtsnachfolger ist nun hier gefordert, konkret zu werden, das bedeutet vor allem: mit den Bundesländern und den Alliierten klar zu kommen.Wir Liberalen sind uns darüber im klaren, daß wir die alliierten Luftstreitkräfte in der Bundesrepublik brauchen und ihre Präsenz hier wollen. Das schließt angemessene Übungsmöglichkeiten ein. Dies kann aber nicht bedeuten, daß wir es akzeptieren könnten, wenn alliierte Luftstreitkräfte Möglichkeiten zur Reduzierung des militärischen Tieffluges blockieren oder unterlaufen sollten.
Schon jetzt sind Bundesluftwaffe und Bundesmarine nur zum kleineren Teil am Flugstundenaufkommen über der Bundesrepublik beteiligt. Luftwaffe und Marine haben in den letzten zehn Jahren Erhebliches geleistet, um das Flugstundenaufkommen weiter herunterzudrücken und — um es ganz einfach auszudrücken — rücksichtsvoller zu fliegen. Hier gibt es sicher immer noch einiges zu verbessern, im Grunde aber haben wir unseren Luftwaffensoldaten für ihre Bemühungen in dieser Richtung zu danken.
Der Großteil des Flugstundenaufkommens aber wird von unseren belgischen, niederländischen, kanadischen, französischen, britischen und amerikanischen Freunden erbracht — wie gesagt: notwendigerweise. Deshalb muß bei weiteren Reduzierungen hier der Löwenanteil liegen. Das bezieht sich nicht nur auf das Flugstundenvolumen, sondern auch und insbesondere auf die Frage der Flugprofile.Ich vermag überhaupt nicht einzusehen, warum Luftwaffe und Marine es schaffen, sich bei einem konkreten Tiefflugereignis im 75-Meter-Bereich, also in einer der sieben Areas, auf das Abfliegen der Strecke zwischen Initial Point und Target, also dem Ablaufpunkt und dem Ziel, zu beschränken, während immer wieder zu beobachten ist, daß ausländische Luftfahrzeuge eine Tiefflug-Area praktisch von Anfang bis Ende in 75 Meter Höhe durchfliegen. Das heißt, daß sich bei einem einzelnen Tiefflugereignis in 75 Meter Höhe deutsche Flugzeuge zwischen 60 und 90 Sekunden in dieser Höhe aufhalten, andere hingegen bis zu drei Minuten. Alle Erklärungsmuster, die ich bisher in diesem Zusammenhang gehört habe, überzeugen mich, ehrlich gesagt, nicht.
Rechnet man das einmal um, so bedeutet das, daß die alliierten Luftstreitkräfte nicht nur im Verhältnis von mehr als zwei zu eins am Flugstundenaufkommen beteiligt sind, sondern, wenn man die Zeit ermittelt, in der konkret in 75 Metern Höhe geflogen wird, mindestens im Verhältnis von fünf zu eins. Ich kann Ihnen leider keine präzisen Zahlen vortragen, weil sich die Hardthöhe weigert, mir präzise Zahlen zu geben.
Grobe Schätzungen kann man aber natürlich auch selber anstellen, wenn man mit Flugprofilen halbwegs vertraut ist und sich mit den Fachleuten in den Geschwadern, deutschen wie ausländischen, darüber unterhält.
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Dr. HoyerIch appelliere an unsere alliierten Freunde — ich sage ausdrücklich: Das betrifft in erster Linie unsere europäischen Partner —, gemeinsam mit dem Verteidigungsminister und unserer Luftwaffe den Weg zu einer sachgerechten Lösung zu weisen.
Schaffen wir das nämlich nicht, so wird sich die unselige Souveränitätsdebatte, die hier von manchem vom Zaune gebrochen und geschürt wird, noch verschärfen. Diese Diskussion hat bereits teilweise abenteuerliche Züge angenommen, z. B. wenn ich daran denke, daß wegen der Frage der Gerichtsbarkeit bei bestimmten Verstößen oder Verfehlungen ausländischer Soldaten in der Bundesrepublik polemisiert wird und damit die Vereinbarungen im NATO-Truppenstatut nicht sachgerecht beurteilt werden. Ich bin jedenfalls froh, daß deutsche Soldaten, die sich eines Vergehens schuldig machen, im Zweifel, wenn sie in den Vereinigten Staaten stationiert sein sollten, nicht der amerikanischen Androhung der Todesstrafe unterliegen. Manche Regelung, die auf Souveränitätsdefizite zu deuten scheint, hat ihren guten Sinn. Die Souveränitätsfrage sollten wir sehr viel ruhiger und gelassener, aber auch mit dem notwendigen Selbstbewußtsein führen. Souveränität ist nicht eine Frage der Papierform.
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Aber ich muß noch einmal auf die Geschäftslage aufmerksam machen. Ich wäre also dankbar . . .
Ich bin sofort fertig. — Souveränität ist nicht eine Frage der Papierform, sondern in erster Linie eine Frage der Fakten und des Umgangs miteinander.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Martin Grüner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Als das Fluglärmgesetz 1971 erlassen wurde — darauf ist hingewiesen worden — , war dies ein mutiger Schritt in Neuland. Anläßlich seiner Stellungnahme zum Fluglärmbericht der Bundesregierung konnte der Deutsche Bundestag 1980 in einer Entschließung feststellen, mit dem Fluglärmgesetz sei in der Bundesrepublik eine Regelung geschaffen worden, die in ihrer umfassenden Art international ohne Vergleich sei.Ich weiß nicht, ob wir das heute noch sagen können. Aber ich will doch daran erinnern, welche maßgeblichen Schritte hier unternommen worden sind und mit welchem Erfolg das geschehen ist, ohne daß man sich damit heute zufriedengeben kann. Heute sind für alle 10 zivilen und 35 militärischen Flugplätze, die unter den Geltungsbereich des Gesetzes fallen, Lärmschutzbereiche festgesetzt. Es sind erhebliche Verminderungen des Lärms erreicht worden. Die Lärmzonen haben sich verringert. Das war möglich durch Optimierung der Flugwege und bei den Verkehrsflughäfen durch den zunehmenden Einsatz moderner lärmarmer Flugzeuge. Von ziviler und militärischer Seite wurden insgesamt mehr als 840 Millionen DM für Maßnahmen zum Schutz gegen Fluglärm ausgegeben. Viele tausend Menschen in der Umgebung von Flughäfen haben davon profitiert.Aus dem Fluglärmgesetz resultieren weitere Maßnahmen zum Schutz gegen Fluglärm. Ich erwähne die Einrichtung und den Betrieb von Fluglärmüberwachungsanlagen an allen deutschen Flughäfen, die Errichtung von Lärmschutzhallen für Triebwerksprobeläufe, das Verbot ziviler Überschallflüge über unserem Land, die Einführung lärmarmer Start- und Landeverfahren, die Nachtflugbeschränkungen auf nahezu allen deutschen Flughäfen, die lärmabhängigen Landegebühren und die Einschränkung des Flugbetriebs mit Leichtflugzeugen und Motorseglern an Landeplätzen mit mehr als 20 000 Flugbewegungen im Jahr. All das sind Maßnahmen, deren Vertiefung und Intensivierung durchaus diskutiert werden können, wobei allerdings auch gesehen werden muß — hier findet das Verursacherprinzip in der politischen Realität seine großen Probleme — , wie das international und im Wettbewerb durchgesetzt werden kann.Es wurde erwähnt, daß das Lärmschutzgesetz die Erstattung für bauliche Schallschutzmaßnahmen auf die Schutzzone 1 beschränkt. Daß es hier Überschneidungen und Probleme gibt, ist ohne Zweifel festzustellen. Unter den Kostengesichtspunkten muß die Bundesregierung erklären, daß eine Ausdehnung der Erstattung auf die geringer belastete Zone 2 Kosten verursachen würde, die wir nicht für tragbar halten. Nach der Schätzung des Bundesrats würden diese Kosten 1,119 Milliarden DM betragen, wovon 920 Millionen DM vom Bund aufzubringen wären. Diese Summe liegt erheblich höher als alles, was bisher in diesem Bereich nach dem Fluglärmgesetz aufgebracht worden ist. Dabei sind die hier vorgelegten Schätzungen eher noch zurückhaltender Natur.Die SPD-Fraktion fordert mit ihrem Antrag eine wesentlich weiter gehende Novellierung des Fluglärmgesetzes als der Bundesrat.
— Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen. Ich bitte um Nachsicht.
— Nein; es geht mir einfach wirklich um die Zeit, da wir hier unter erheblichem Zeitdruck stehen, was jeder spürt.
Über den Entwurf des Bundesrats hinaus verlangt der Antrag der SPD-Fraktion ein ganzes Bündel weiterer aufwendiger und kostspieliger Maßnahmen. Ich erwähne: Die Ausdehnung des Geltungsbereichs und auch die Errichtung und der Betrieb von Fluglärmmeßanlagen an militärischen Flugplätzen und in Tieffluggebieten sind — wie die genannte Ausdehnung
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Parl. Staatssekretär Grünerder Erstattung auf die Schutzzone 2 — außerordentlich aufwendig und kostspielig. Besonders der mit den Fluglärmmeßanlagen erzielbare Nutzen steht in keinem Verhältnis zu den Kosten, die sie verursachen.Die Änderung der Schallbewertungsmethode ist wissenschaftlich umstritten und hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen in keiner Weise abzuschätzen. Der Antrag der Sozialdemokraten hätte also noch wesentlich höhere Kosten zur Folge als der Antrag des Bundesrates.Die Bundesregierung wird sich weiterhin intensiv darum bemühen, durch Maßnahmen im Rahmen des geltenden Rechts den Schutz der Bürger gegen Fluglärm so weit wie möglich zu verbessern.
So wird angestrebt, im Rahmen der nach dem Fluglärmgesetz erforderlichen Überprüfung von Lärmschutzbereichen die Flugverfahren und Flugstrecken unter Lärmgesichtspunkten weiter zu optimieren. Ich meine, daß es ein außerordentlich interessanter Hinweis war, den unser Kollege Dr. Hoyer in bezug auf den militärischen Tiefflug gegeben hat; denn hier wird deutlich, daß durch Veränderung des Flugverhaltens möglicherweise Einschränkungen der Belastungen erreicht werden könnten, die außerordentlich fühlbar wären.Wir setzen uns intensiv dafür ein, noch im Verkehr befindliche laute Verkehrsflugzeuge durch lärmarme Verkehrsflugzeuge zu ersetzen. Das geschieht sowohl durch Mitarbeit an entsprechenden EG-Richtlinien als auch durch Schaffung von Benutzervorteilen für lärmarme Flugzeuge an deutschen Flughäfen.Wir sind uns einig — das zeigt die Diskussion —, daß der passive Lärmschutz zwar notwendig ist, aber nicht der richtige, der entscheidende Weg ist. Vielmehr geht es um die aktive Lärmbekämpfung. Wir sind uns weiter darüber einig, daß der durch Zivilflugzeuge verursachte Lärm wirklich fühlbar durch aktiven Lärmschutz nur in internationaler Kooperation eingeschränkt werden kann. Wer hier das Verursacherprinzip fordert, muß internationale Vereinbarungen erreichen. Er muß schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen in Kauf nehmen, wenn er etwa durch gesetzliche Regelungen, die ja möglich wären, Fluggerät, das die Anforderungen nicht erfüllt, vom Verkehr ausschließt.Darüber müssen wir ernsthaft nachdenken. Nur durch solche Benutzervorteile, nur durch solche internationalen, zunächst auf EG-Ebene erreichbaren Schritte können wir in dem Bereich des aktiven Lärmschutzes tatsächlich vorankommen. Diese Regelungen sind angesichts des zunehmenden Verkehrs dringlich. Aber sie müssen in einem Abwägungsprozeß vollzogen werden, den wir nicht alleine entscheiden können.Die Diskussion über den Lastwagenverkehr in Europa und die dafür richtigen Maßnahmen macht es ja mehr als deutlich, wie notwendig es ist, auch in diesem Bereich durch internationale Abkommen zu Regelungen zu kommen, die den Menschen und sein Ruhebedürfnis in Abwägung mit gewichtigen wirtschaftlichen Erwägungen in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen in allen Bereichen der Lärmbekämpfung Maßnahmen treffen — nicht nur mit Tempo 30 km/h in unseren Innenstädten — , bei denen der Mensch mit seinem Ruhebedürfnis, mit seinem Erholungsbedürfnis in den Mittelpunkt gestellt wird. Das ist durch aktive Lärmschutzmaßnahmen zu erreichen.Wir sind ganz sicher, daß auf vielen Feldern — auch im Flugbetrieb — aktive Lärmschutzmaßnahmen möglich sind, die wir gemeinsam erarbeiten müssen. Dabei können zusätzliche finanzielle Mittel für den passiven Lärmschutz nicht von vornherein ausgeschlossen sein, aus der Sicht der Bundesregierung allerdings nicht in einer Größenordnung, wie sie in diesen beiden Anträgen gefordert wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiermann.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ein Kenner der Materie sagte mir vor wenigen Tagen: Der Lärm ist die größte Umweltbelastung. Nur, das ist nicht leicht verständlich zu machen. Beim Waldsterben kriegen die Leute Tränen in die Augen, und bei Lärm beklagt sich immer nur der, der betroffen ist.Da ist etwas dran. Lärm als Umweltbelastung ist nur den direkt Betroffenen vermittelbar. Aber die Zahl der Betroffenen — das müssen wir an dieser Stelle auch sagen — wird immer größer. Allerdings scheint die Bundesregierung niemals zu dem Kreis der Betroffenen gehört zu haben und auch heute nicht zu ihm zu gehören; denn für die Bundesregierung ist die Fluglärmbelastung offensichtlich eine mindere Größe.Allein beim Luftfrachtverkehr verzeichnen wir seit 1965 einen Anstieg um das Sechsfache, wobei wir uns hinsichtlich der Lärmbelastung vor Augen halten müssen, daß ein Großteil der Frachtflüge nachts abgewickelt wird. Prognosen, die durch die derzeitigen jährlichen Zuwachsraten bestätigt werden, sprechen von einer Verdoppelung der Zahl der Flugbewegungen in unserem Land bis zum Jahre 2000, und zwar nicht etwa im Hinblick auf die Zahlen von 1965, sondern hinsichtlich der Flugbewegungen von 1985.Zwar hat die Technik enorme Fortschritte gemacht und versorgt uns heute mit Fluggerät, das im Vergleich zu dem vor 20 Jahren um bis zu 70 dB(A) leiser geworden ist. Wir stellen fest, das ist schon eine beachtliche Leistung. Aber trotzdem erreichen die Spitzenpegel im Nahbereich von Verkehrsflughäfen zum Teil immer noch abenteuerliche Größen: In Düsseldorf wurden vor zwei Jahren noch Werte von 115 dB(A) gemessen. Werte von 105 dB(A) sind gegenwärtig die Regel, meine Damen und Herren. Wohlgemerkt, ich spreche hier von der zivilen Luftfahrt. Lärmimmissionen der militärischen Luftfahrt — vor allem im Tiefflugbereich — will ich zunächst einmal außen vor lassen.Immer mehr Menschen werden also immer stärker mit Lärmimmissionen des Flugverkehrs belastet. Nur die Bundesregierung merkt nichts von alledem. Anders kann ich es mir nicht erklären, daß der letzte Fluglärmbericht meines Wissens aus dem Jahre 1978
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Weiermanndatiert. Das heißt doch ganz offenkundig, daß die Bundesregierung so etwas wie Fluglärm nicht mehr wahrnimmt. Auch existiert die Projektgruppe Lärmbekämpfung, die zu Zeiten der sozialliberalen Koalition beim Bundesinnenministerium angesiedelt war, seit langem nicht mehr, und der Bundesumweltminister scheint an ihrer Wiederbelebung nicht sehr interessiert zu sein. Das dürfen wir heute feststellen.Meine Damen und Herren, das sind natürlich auch Lärmschutzmaßnahmen, nämlich solche, mit denen die Regierung sich selbst vor den Betroffenen und ihren Forderungen nach dem Motto schützt: Ohropax ist besser als Lärmminderung.
Die Zahl der Betroffenen wächst. Diese wehren sich immer häufiger gegen unzumutbare Zustände und rufen die Gerichte an. Mittlerweile liegt eine ganze Reihe von BGH-Entscheidungen in Sachen Schutz vor Fluglärm vor. Es ist an der Zeit, das Gesetz vom März 1971 zu novellieren und es den veränderten Realitäten anzupassen.Eine zentrale Forderung dieser Novellierung muß die Ausdehnung der Entschädigungsleistungen auf die Lärmschutzzone 2 sein. Diese Forderung wird im Entwurf meiner Fraktion ebenso wie in dem vom Lande Nordrhein-Westfalen eingebrachten und vom Bundesrat am 26. Februar 1988 beschlossenen Gesetzentwurf zur Änderung des Fluglärmgesetzes erhoben.Bauherren von Gebäuden, die in der Lärmschutzzone 2 errichtet werden, sind verpflichtet diese entsprechend den für die Zone 1 geltenden Vorschriften mit angemessenem Schallschutz zu versehen. Anders aber als Bauherren in der Zone 1 erhalten sie bislang keinerlei Entschädigung für diese Maßnahmen.Meine Damen und Herren, in einem Urteil vom November 1980 — November 1980! — hat der BGH dem Eigentümer eines in der Schutzzone 2 gelegenen Grundstücks einen entsprechenden Anspruch auf finanzielle Förderung von Schutzmaßnahmen wie in der Schutzzone 1 zugebilligt. Damit ist die entsprechende gesetzliche Neuregelung, wenn man das auf dieses Datum bezieht, nun seit zehn Jahren überfällig. Das ist ja abenteuerlich.Die Bundesregierung lehnt in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates aber genau dies ab. Sie begründet ihre Weigerung, einer Novellierung zuzustimmen, mit den zu erwartenden Kosten, die der Bundesrat hinsichtlich des Bundesanteils, wie soeben schon erwähnt, auf 920 Millionen DM beziffert hat. Bei derartig hohen Kostenauswirkungen könne die Bundesregierung eine solche Novellierung nicht befürworten, heißt es in der Stellungnahme.Darüber mag man ja noch streiten, aber was dann als weitere Argumentation folgt, meine Damen, meine Herren, muß man sich einmal sozusagen auf der Zunge zergehen lassen. Die Bundesregierung verweist dann nämlich auf ein weiteres Urteil des BGH vom 30. Januar 1986 zum Flugplatz Nörvenich, „wonach für ein Wohngrundstück in der Schutzzone 1 .. . ein Entschädigungsanspruch ... wegen militärischenFluglärms ... zuerkannt wird". Und nun argumentiert die Bundesregierung, daß sowieso viel mehr Leute Geld kriegen, als nach der Gesetzesinitiative vorgesehen sei, und da mache man dann lieber gar nichts. Also Punktum: Dies zeugt von wahrhaft großartiger Entschlußkraft, meine Damen und Herren.
Es bestätigt im Grunde genommen genau unseren Verdacht, daß die Bundesregierung eigentlich gar nichts tun will, weil sie sich vor den erforderlichen entschlossenen Maßnahmen in der Tat scheut.Bislang wird als Grundlage der Festsetzung der sogenannte äquivalente Dauerschallpegel herangezogen, eine rein rechnerisch ermittelte Größe. Demgegenüber kommt der Unterausschuß „Militärischer Fluglärm" in seinem Zwischenbericht im Jahre 1988 zu folgender Erkenntnis: „Fluglärm ist durch Einzelschallereignisse gekennzeichnet, die sich mehr oder weniger stark aus dem Umgebungsbereich hervorheben. " Das heißt, wenn man praktische Lärmbekämpfung betreiben will, muß man sich statt an den Dauerschallpegeln an den Einzelschallpegeln orientieren, und zwar an den Spitzenpegeln, meine Damen und Herren.Der bereits erwähnte Zwischenbericht verweist auf eine Reihe von Untersuchungen zu den gesundheitlichen Folgen der Fluglärmbelastung. Die Münchener Fluglärmstudien von 1974, eine Schweizer Untersuchung von 1975 sowie die Amsterdamer Fluglärmstudie von 1977 ließen zwar keine quantitative Abschätzung über die Bedeutung des Fluglärms als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu, bestätigten aber den Verdacht des negativen Einflusses, und zwar nicht durch den Dauerschallpegel, sondern durch Einzelpegel. Darüber hinaus wird auf Laboruntersuchungen zu Schlafstörungen verwiesen, wonach bei Pegeln von 55 dB(A) an verstärkt mit Änderungen der Schlaftiefe bis hin zum Aufwachen zu rechnen sei. Dementsprechend haben Schlafforscher in ihren Gutachten zu gerichtlichen Auseinandersetzungen über die Flughäfen Hamburg, München II und Köln die Grenze für mehrmals in der Nacht auftretende Einzelschallpegel bei 55 dB(A) gezogen. Eine häufigere Störung der Schlaftiefe, wie sie ab dieser Grenze auftrete, sei gesundheitlich, so sagen diese Forscher, nicht mehr vertretbar.Ein Wert von 55 dB(A) innen bedeutet bei gekipptem Fenster einen Außenpegel von 70 dB(A). Dieser Wert wird im Nahbereich von Flughäfen in der Regel weit überschritten. Folglich sind, grob geschätzt, etwa zwei Millionen Menschen in unserem Land gesundheitlich auf Grund des Fluglärms erheblich gefährdet.Ich verweise in diesem Zusammenhang auf unseren Antrag, wobei ich persönlich durchaus dafür plädiere, den Spitzenpegel noch stärker, als das bisher geschehen ist und gefordert wird, zu berücksichtigen.Die Fluglärmbelastung der Bevölkerung ist keine Angelegenheit, die man leichthin mit der linken Hand abtun kann. Er trifft immer mehr Personen — nicht nur im Bereich der zehn großen Verkehrsflughäfen in der Bundesrepublik. Das Fluglärmgesetz von 1971 ist überholt. Es ist daher hohe Zeit, daß wir endlich zu
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Weiermanneiner zeitgemäßen und den Bedürfnissen der Bürger angemessenen Novellierung gelangen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Francke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fluglärm, die Beeinträchtigung der Bevölkerung durch ihn, seine Reduzierung darf nicht nur eine Diskussion über militärischen Fluglärm sein. Eine derartige Verengung des Themas ist unzulässig.
Trotzdem befaßt sich mein Beitrag, zumal der Kollege Harries den anderen Bereich bereits dargestellt hat, auschließlich mit den militärischen Aspekten des Problems.Ich wiederhole meine früher hier schon geäußerte Überzeugung: Es gilt einen Kompromiß zu finden zwischen individueller Lebensqualität und dem Auftrag des Staates zum kollektiven Schutz seiner Bevölkerung durch den Unterhalt einer Verteidigungsarmee, die in unserem Fall eine Präsenz- und eine Ausbildungsarmee ist und auch bleiben muß.Es stellt, meine Damen und Herren, schon eine bemerkenswerte Niveaulosigkeit dar, wenn ein ehemaliger Luftwaffengeneral und heutiger SPD-Abgeordneter kürzlich erklärte: Weil wir alle weniger Truppen und Flugzeuge wollen, soll keine Ausbildung mehr stattfinden, sollen Tiefflugübungen völlig eingestellt werden. Eine derartige Forderung ist schon im Hinblick auf das Leben unserer Piloten und ihren politischen Auftrag, uns im Ernstfall verteidigen zu können, verantwortungslos.Aufgabe unserer Politik muß es sein, den Preis für unsere Sicherheit so niedrig wie möglich zu halten. Hier haben diese Bundesregierung und ihre Vorgängerregierung Beispielhaftes geleistet. Wir unterstützen sie in der Fortführung ihrer Bemühungen, einen tragfähigen Kompromiß zwischen Auftragserfüllung und Flugsicherheit einerseits und größtmöglicher Entlastung der Bevölkerung andererseits zu erreichen.Die Koalitionsfraktionen haben im Jahre 1988 einen Forderungskatalog vorgelegt und beschlossen, den wir auch heute noch in vollem Umfange für richtig halten. Teile dieser Forderungen sind von der Bundesregierung erfüllt worden bzw. befinden sich in der Umsetzung. Ich nenne: erstens Verbesserung der Simulatortechnik, insbesondere bei Tornado, einschließlich der Entwicklung einer Musteranlage, um Anfang der 90er Jahre mit der Anwendung zu beginnen; zweitens Vergabe von Studienaufträgen bereits in 1988 für leisere Triebwerke — wir bedauern allerdings in diesem Zusammenhang, daß unsere Anregung innerhalb der NATO, sich diesem Vorgehen anzuschließen, bislang keine Resonanz gefunden hat —; drittens Fortsetzung der Arbeiten zur Errichtung eines Tiefflugerfassungs- und -auswertungssystems, einschließlich der Errichtung eines EDV-gestützten Luftlagezentrums.Mein Bedauern muß ich jedoch aussprechen im Hinblick auf bislang nicht erzielte Ergebnisse in folgenden Bereichen:Erstens. Wir erwarten mit Nachdruck ein positives Ergebnis der Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Wir wissen, wie sich gerade Sie, Herr Bundesminister Dr. Stoltenberg, persönlich intensiv in mehreren Gesprächen um eine Reduzierung der Flugtätigkeit dieser beiden Länder bemüht haben. Meine Damen und Herren, Zonen gleicher Sicherheit erfordern gleichen Ausbildungsstand. Aber wir fordern unsere NATO-Partner erneut auf, den Umfang ihrer Übungstätigkeit den deutschen Gegebenheiten — sicherlich bei Wahrung der Sicherheit auch ihrer Piloten — anzupassen. Wir erwarten in diesem Zusammenhang ein Ergebnis im Laufe dieses Jahres.Zweitens. Die Bundeswehr, unsere Verbündeten schützen das Gesamtgebiet der Bundesrepublik. Die Belastungen tragen aber nur wenige Teile, und dies ist nicht vertretbar. Die Länder haben nach meiner Auffassung auch auf diesem Gebiet eine gesamtstaatliche Verantwortung.
Wir hoffen, daß dies in den weiteren Gesprächen zwischen dem Bundesminister der Verteidigung und den Ministerpräsidenten stärker zum Ausdruck kommt, als das bisher der Fall ist.Eine abschließende Bemerkung: Diese Bundesregierung hat mit der Verlagerung von Tiefflugübungen ins Ausland bislang bereits erhebliche Erfolge erzielt. Wir halten diesen Weg nach wie vor für einen wesentlichen Lösungsweg.Eine Delegation des Verteidigungsausschusses ist vor wenigen Tagen in Konja in der Türkei gewesen. Dort haben wir uns eine exzellente Präsentation der türkischen Regierung und der türkischen Kommunalverwaltung ansehen können. Ich hoffe, daß sich die beiden sozialdemokratischen Vertreter dieser Delegation, die in der Delegation selber ein positives Votum abgegeben haben, mit ihrer Meinung auch durchsetzen. Wir jedenfalls würden es begrüßen, wenn die Bundesregierung im Rahmen der NATO-Arbeitsgruppe im Zusammenwirken mit den anderen Partnern der NATO ein positives Ergebnis hinsichtlich des Angebotes der Türkei erzielen würde.Von Ihnen, meine Damen und Herren der Opposition, erwarten wir, daß Sie nicht nur nette Sonntagsreden für die Bundeswehr und für einen aktiven Verteidigungsbeitrag halten, sondern daß Sie gemeinsam mit uns und der Bundesregierung die sicherlich schwierige Findung eines notwendigen Kompromisses in dem von mir aufgezeigten Rahmen mit erarbeiten und ihn auch gegenüber der Öffentlichkeit mittragen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11531
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine der wichtigsten Forderungen der Novellierung des Fluglärmrechts, über das wir uns hier unterhalten, ist die Einbeziehung der Tieffluggebiete, der Hubschrauberlandeplätze sowie der Bombenabwurf- und Luft-/Bodenschießplätze in den Geltungsbereich des Gesetzes. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, daß Bürger, die Fluglärm durch militärische Flugübungen und andere Übungen ausgesetzt sind, für Schallschutzmaßnahmen wenigstens Ersatz und für das, was sie erdulden müssen, Entschädigung erhalten.
Von der Sache her gibt es nämlich überhaupt keine Gründe, Belastung aus militärischem und zivilem Fluglärm nicht gleichzustellen.
Fluglärm aus militärischem Tiefflug ist nicht etwa weniger belastend, sondern eher heimtückischer. Der Lärm trifft völlig unvorbereitet auf ein Ohr, das sich auf den herannahenden Lärm gar nicht einstellen kann. Wir wissen, welche Auswirkungen das auf Körper, Seele und Gemüt der Betroffenen hat. Das ist schlimmer als bei den anderen Lärmquellen.Seit einiger Zeit kommt eine ganz andere Problematik noch hinzu, nämlich daß die Leute, die dem militärischen Tiefflug und dem Lärm ausgesetzt sind, wissen, daß dies auch mit einer Gefährdung verbunden ist. Die Serie von Flugzeugabstürzen im letzten Jahr — Stichworte Ramstein und Remscheid und andere — , fortgesetzt in diesen Tagen durch einen erneuten Absturz eines militärischen Flugzeugs, hat gezeigt, daß jeder, der militärischem Fluglärm ausgesetzt ist, auch um seine eigene Sicherheit besorgt sein muß.Der dritte Punkt ist die Herausforderung durch die Sinnfrage. Wir muten den vom militärischen Tiefflug Betroffenen wirklich eine ganze Menge zu. Wir muten ihnen zu, daß sie in den Medien immer sehen, wie die Politiker Abrüstungserfolge feiern, wie sie sich im Widerschein des Gesichts von Gorbatschow spiegeln möchten und dort hineilen, wie sie in Wien Hoffnungen auf weniger Waffen, weniger Soldaten — seit dem Zugeständnis von Bush auch weniger Flugzeuge — wecken. Aber die Bürger der Bundesrepublik haben nichts davon.
Weiter donnern die Maschinen über sie hinweg, in den sieben Areas in 75 m Höhe, in zwei Drittel der Bundesrepublik in 150 bis 450 m Höhe, 68 000 Stunden lang im Jahr, und das bei etwa 900 000 Flugbewegungen. Sie donnern nicht nur über Wohngebiete und Eigenheime hinweg, sondern auch über Kliniken und Krankenhäuser, über Pflegeheime und Sanatorien, über Schulen und Universitäten. Wir haben eine interessante Broschüre über Tiefflug von Ihnen zugestellt bekommen, Herr Minster, in der steht:Der Grund für solche Überflüge ist aber keineswegs Rücksichtslosigkeit oder Boshaftigkeit derFlugbesatzungen. Ein Strahlflugzeug ist nicht in der Lage, einen kurvenreichen Flug um einzelne Gebäude herum zu führen. Dazu ist es einfach zu schnell. Jede Beeinflussung der Flugrichtung bedeutet einen Streckenbedarf von mehreren Kilometern.Im Klartext heißt das: Bürger in Tieffluggebieten sind dem schlicht ausgesetzt. An den Segnungen der schrittweisen Entmilitarisierung des Ost-West-Konflikts sind sie nicht beteiligt. Und das, meine Damen und Herren, geht so nicht weiter!
Das nehmen diese Bürger seit einiger Zeit auch nicht mehr hin. Wir haben in diesen Tagen 150 000 Unterschriften der sogenannten Remscheider Mahnung der Hardthöhe übergeben, die die Abschaffung des Tiefflugs fordert. Wir haben in dem Unterausschuß, der hier schon erwähnt worden ist, bisher 80 Petitionen zu bearbeiten, hinter denen auch wieder Tausende von Unterschriften stehen. Wir haben in der Bundesrepublik in der Zwischenzeit annähernd 300 Bürgerinitiativen. Man kann sagen: Möglicherweise ist die Bürgerbewegung gegen Tiefflug zur Zeit die größte Bürgerbewegung in der Bundesrepublik.Das hat sich sogar schon bis zu CSU-Abgeordneten des Bayerischen Landtags herumgesprochen, die in den letzten Tagen — man höre und staune — die Einbeziehung des Themas Tiefflug in die Wiener Verhandlungen gefordert haben.Sie haben recht: Jawohl, Tiefflug ist kein Naturgesetz, sondern die Frage einer verabredeten Strategie. Deswegen lautet die Forderung der SPD auch: Aufhören mit dem Tiefflug in der Bundesrepublik und über allen bewohnten Gebieten, Herausarbeitung einer Strategie, die auf militärischen Tiefflug verzichtet — das ist möglich — , Verhandlungen mit den Alliierten, damit auch sie ihren Tiefflug über der Bundesrepublik einstellen.
Bisher hat diese Forderung keine parlamentarische Mehrheit. Leider können Sie, Herr Minister, auch wenig Hoffnung verbreiten, daß die Belastung auf andere Weise vermindert wird. Ich zitiere noch einmal Ihre Broschüre. Da heißt es ausdrücklich:Eine völlige Beseitigung des Tiefflugs über dem Bundesgebiet ist ausgeschlossen, solange die Bundesrepublik Mitglied im westlichen Bündnis ist, über eigene Streitkräfte verfügt und gewillt ist, ihre politische Unabhängigkeit zu behaupten.Herr Minister, das stimmt nicht. Der tatsächliche Grund für den Tiefflug ist eine militärische Angriffskonzeption. Das ist der Hintergrund.Da können Sie auch in Ihre neue Broschüre über Fluglärm — Unterschrift: Bürgerinformation der Bundeswehr — , wobei ich sagen muß, Sie scheinen sich in der letzten Zeit hauptsächlich mit Broschüren zu befassen, schreiben:Im Verteidigungsfall müssen unsere Luftstreitkräfte der Bedrohung durch die gegnerische Flugabwehr Rechnung tragen.
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11532 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
ErlerDas ist ein interessanter Begriff: Bedrohung durch die gegnerische Flugabwehr.
Überprüfen Sie doch bitte diesen Satz noch einmal, Herr Minister.Dann heißt es weiter: Nur im Tiefstflug in circa 30 Metern Höhe besteht Aussicht, deren Erfassungs- und Bekämpfungsmöglichkeiten zu mindern. Dafür und zu dem präzisen Waffeneinsatz aus niedriger Höhe ist eine exakte Tiefflugnavigation unabdingbare Voraussetzung.
Herr Bundesminister der Verteidigung, versuchen Sie doch einmal weniger militärischen Tiefflug und statt dessen geistigen Höhenflug,
um endlich einmal den Einstieg in eine militärische Strategie zu finden, die auf diese Angriffskonzeptionen verzichtet. Dann brauchen wir uns auch nicht mehr über militärischen Tiefflug zu unterhalten.Meine Damen und Herren, es ist wirklich unzumutbar, was passiert. Den Tieffluggeschädigten wird auch noch durch solche Broschüren vorgenebelt, Tiefflug sei ein Naturgesetz. Die wahren Gründe werden umschrieben. Bei all dem sollen sie nicht einmal staatliche Hilfe bei solchen Maßnahmen wie Schallschutz und Entschädigung erhalten. Der vorliegende Gesetzentwurf würde diesen Unrechtszustand beenden.Mit welcher Begründung wird das nun abgelehnt? Der Kollege Weiermann hat das hier schon gesagt. Da heißt es, es sei zu kostenintensiv.
Dann wird weiter argumentiert, es gebe Risiken durch eine bestimmte Rechtsprechung. Herr Hoyer hat dankenswerterweise schon dieses Ense-Urteil erwähnt.Meine Damen und Herren, in der Tat gibt es ein Urteil vom 30. Januar 1986, das grundsätzlich einem Bürger einen Entschädigungsanspruch zuspricht, der mit seinem Grundstück in einer solchen Lärmschutzzone I liegt und von militärischem Fluglärm betroffen ist.
Es ist der Fall eines Bauern, der 12 Jahre lang für dieses Recht geklagt hat und schließlich in einem Vergleich 180 000 DM Entschädigung bekommen hat. Bei ihm sind nämlich 76,5 Dezibel Dauerschallpegel gemessen worden und plötzliche, fast knallartige Spitzenschallpegel von 100 bis 112 Dezibel. Es gibt aber eine ganze Menge von Bürgern in dieser Republik, die ähnlichen Belastungen ausgesetzt sind.Deswegen heißt es in der Ablehnungsbegründung:Es ist damit zu rechnen, daß aufgrund dieser Entscheidung erhebliche Belastungen auf den Bundeshaushalt zukommen werden.
Das ist wohl wahr, vor allem aber erst dann, wenn auch noch — was juristisch kaum abwendbar ist — die Bewohner der Tiefstfluggebiete ähnliche Entschädigungsansprüche geltend machen wie dieser Bauer Ense, der hier schon erwähnt worden ist.Was ist das, und damit möchte ich abschließen, eigentlich für eine Argumentation? Was ist das für eine Argumentation, zu sagen: Das Gesetz ist uns zu teuer; wir haben dafür nicht das Geld, weil wir die juristisch in langen Prozessen erstrittenen Entschädigungsansprüche von Bürgern ausgleichen müssen und das Geld dafür brauchen. Wir schaffen also keine Rechtssicherheit, sondern wir verweisen den einzelnen darauf, daß er sich ja, wenn er will, dann in zwölf Jahren Prozeß sein Geld erstreiten kann.
Das ist unzumutbar.
Die Ablehnung dieses Gesetzes würde exakt darauf hinauslaufen. Nein, das ist unzumutbar. Dieses Gesetz könnte, sozusagen als Zwischenlösung bis zu der notwendigen — das betone ich noch einmal — Abschaffung des Tiefflugs überhaupt, wenigstens denen, die die Hauptlast der Verteidigung in diesem Bereich zu tragen haben, im Augenblick einen kleinen Ausgleich für ihre Belastungen im Alltagsleben geben. Ich plädiere dafür, daß Sie dem zustimmen. Es wäre für dieses Haus ein Gebot der Anständigkeit, diesem Gesetz zuzustimmen.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Stoltenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die über der Bundesrepublik Deutschland stattfindende militärische Flugausbildung und -übung ist für die stärker betroffenen Bürger zweifellos eine besondere Belastung. Das gilt nun, wie zu Recht bereits in der Diskussion hervorgehoben wurde, auch für Bürger, die in der Nähe der zivilen Flughäfen einen ungewöhnlichen Fluglärm hinnehmen müssen. Lärm belastet aber auch Millionen Bürger an stark befahrenen Fernstraßen oder an Knotenpunkten im innerstädtischen Verkehr. Wer hier so großzügig auf Kosten des Bundes Entschädigungen in einem Bereich verspricht, der muß sich einmal mit der Frage auseinandersetzen, die den Bundestag und den Bundesrat im Jahre 1980 intensiv beschäftigt hat, nämlich ob es im Blick auf eine teilweise noch stärkere Belastung aus den Brennpunkten des Straßenverkehrs vertretbar ist oder nicht, zu gewaltigen Enschädigungsansprüchen zu kommen. Im Jahre 1980 hat der Gesetzgeber diese Frage letzten Endes verneint.Wir können das nur in der Breite und Komplexität dieser Themen behandeln, aber nicht, indem man ein sehr ernstes Thema, zu dem ich einiges sagen möchte,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11533
Bundesminister Dr. Stoltenbergdoch — wie es der letzte Redner der SPD tat —, na ja, mehr zum Aufbau von Feindbildern verwendet.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, Zwischenfragen zuzulassen?
Wenn mir das nicht angerechnet wird, ja, Herr Präsident.
Ich rechne es Ihnen natürlich nicht an. Aber ich erinnere alle Beteiligten noch einmal im Interesse der Verwaltung an die Geschäftslage.
Frau Dr. Hartenstein, Sie haben das Wort.
Herr Minister, darf ich Ihnen zwei Dinge in Erinnerung rufen, einmal, daß sowohl der Bundesrat als auch die Mehrheit dieses Hauses im Jahre 1980 das Verkehrslärmschutzgesetz verabschiedet hatten und daß es im letzten Augenblick am Ausscheren der FDP gescheitert ist, und zum anderen, daß die beschlossenen Lärmwerte niedriger lagen als heute im Fluglärmgesetz?
Frau Kollegin, ich wollte, ohne zu tief in die Vergangenheit hineinzugehen, daran erinnen, daß sich damals nach Abwägung aller Gründe letzten Ende keine Mehrheit gefunden hat, auch unter anderen Mehrheitsverhältnissen in diesem Hause nicht.Meine Damen und Herren, wir müssen den Anspruch der Bürger auf eine Minimierung der Lärmlasten aus den verschiedensten Bereichen, die ich genannt habe, ernst nehmen. Wir müssen ihn allerdings auch mit anderen wichtigen staatlichen und öffentlichen Zielen in einen Ausgleich bringen. Dazu gehört für den besonders angesprochenen Bereich die Tatsache, daß wir auf ein bestimmtes Maß an Übung und Ausbildung unserer und der alliierten Luftwaffe angewiesen sind, wenn wir, wie in den vergangenen Jahrzehnten, Sicherheit für die Bundesrepublik Deutschland gewährleisten wollen.Man muß die Dinge auch sorgfältig trennen. Es ist einfach nicht in Ordnung, Herr Erler, wenn Sie mit der Tiefflugdiskussion, um die es jetzt konkret geht, was die Luftwaffe und die alliierten Streitkräfte betrifft, das schreckliche Unglück in Ramstein in Verbindung bringen. Sie wissen, daß hier die Tatbestände vollkommen anders waren.
Es ist wirklich ein Appell an Ängste und Emotionen, wenn Sie die Sachverhalte in dieser Form verfälschen.
Es sind ja in den vergangenen Jahren bereits erhebliche Anstrengungen mit dem Ziel einer Entlastung der Menschen bei gleichzeitiger Gewährleistung des notwendigen Ausbildungs- und Sicherheitsstandards unternommen worden. Diese sind auch mehrfach in diesem Hohen Hause von meinen Amtsvorgängern dargelegt worden.Ich will nur daran erinnern, daß die Tiefflugausbildung der Luftwaffe über der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1980 und 1986 um nahezu die Hälfte verringert wurde. Gegenüber der Zeit, in der Herr Apel Verteidigungsminister war, ist es eine Reduzierung um etwa 50 %.
— Doch natürlich, schon. Es gibt hier eine Relation, die nicht statistisch ist, aber real besteht.Die gesamte fliegerische Ausbildung zum Strahlflugzeugführer und zwei Drittel der Waffenausbildung der Flugzeugbesatzungen der Luftwaffe sind ins Ausland verlegt worden. Darüber hinaus ist eine große Zahl sehr unterschiedlicher Beschränkungen für den Flugverkehr angeordnet worden.Es ist erforderlich, daß wir weitere Anstrengungen unternehmen, um zu noch nachhaltigeren Entlastungen zu kommen. Grenzen dafür gibt es in der Auftragserfüllung der Streitkräfte, aber auch in der Frage der Flugsicherheit.Ich habe mich nach Gesprächen mit vielen Fachleuten, nicht nur unserer Luftwaffe, davon überzeugt, daß es auch eines bestimmten Maßes an Ausbildung nicht ausschließlich in Ländern mit vollkommen anderen Bedingungen wie Kanada, Italien oder Portugal bedarf, wenn wir neben dem militärischen Standard auch für unsere Piloten, die unter extremen Bedingungen üben wollen, das erforderliche erreichbare Maß an Sicherheit gewährleisten wollen.
Auch das muß in die Güterabwägung hineingenommen werden, meine Damen und Herren.
Natürlich müssen wir bei dieser enormen Verlagerung unseres Ausbildungs- und Übungsbetriebes in andere Länder die sozialen Konsequenzen für die betroffenen Menschen und ihre Familien bedenken. Auch dies ist in die Güterabwägung einzubeziehen.
— Ich weise zu dieser späten Stunde mit der kurzen Redezeit nur auf einige Probleme hin.
— Es kommen auch noch andere Punkte der Tagesordnung dran; auch darauf wollen wir Rücksicht nehmen.Meine Damen und Herren, mein Vorgänger im Amt, Professor Scholz, hat hierzu im Januar 1989 einen Handlungsrahmen skizziert. Er beinhaltet ein Bündel von kurz-, mittel- und langfristigen Planungen, die im einzelnen Gegenstand intensiver Gespräche waren und noch sind.Ich habe im Mai festgestellt, daß es in den intensiven Diskussionen mit unseren Alliierten konkrete, be-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergstimmte Fortschritte gibt; das ist zu begrüßen. Ich bin allerdings ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, daß wir die Anstrengungen weiterführen müssen.Deswegen habe ich in der Tat — wie schon erwähnt wurde — in den letzten Wochen mit allen Kollegen aus den alliierten Ländern, die hier Stationierungsstreitkräfte der Luftwaffe haben und hier üben, intensiv geredet, mit einigen sogar zweimal. Ich werde diese Gespräche fortsetzen, um jede Möglichkeit, durch Vereinbarungen noch weitergehende Entlastungen zu erzielen, auszuschöpfen.
— Noch weitergehende! Ich habe eingangs gesagt, Herr Erler — wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, sparen Sie sich Ihre Zwischenrufe —,
daß wir erhebliche Entlastungen vor allem im Bereich der Luftwaffe herbeigeführt haben und daß es auch Entlastungen durch die Alliierten gibt.
— Nein, ich wende mich nur gegen eine bestimmte Art unsachlicher Zwischenrufe; das werde ich auch weiterhin tun, Herr Kollege. Ich bin eigentlich mehr dafür, daß wir heute abend in Ruhe diskutieren. Aber dann erlauben Sie mir auch, hier meine Anmerkungen in Ruhe zu machen.
— Nein, aber es kommt doch auf die Art des Zwischenrufs an, wie man reagiert.
— Ich reagiere so, wie ich es für richtig halte. Ich finde, daß Sie zeigen, daß Sie hier heute abend in einer Sache Streit suchen, wo wir uns einmal ernsthaft zusammenfinden sollten.Meine Damen und Herren, es geht um die Reduzierung der Belastung auf das unerläßliche Minimum durch Verringerung, durch Verlagerung und durch Substituierung. Es geht auch um die Frage, ob wir eine ausgewogenere Verteilung des verbleibenden Bedarfs an Tiefflugübungen erzielen können.
— Da geht es um die Areas mit 75 m Höhe. — Darüber ist schon früher mit den Bundesländern gesprochen worden.Im vergangenen Dezember haben alle Ministerpräsidenten der betroffenen Länder ihr Interesse an einer Wiederaufnahme dieser Gespräche und an einer Erörterung mit dem Bundeskanzler bekundet. Mein Amtsvorgänger, Professor Scholz, hatte es übernommen, darüber im einzelnen mit Ländervertretern zu diskutieren.Ich habe dann im Mai zu meiner Überraschung festgestellt, daß die Mehrzahl der Ländervertreter gesagt hat, man wolle erst dann diskutieren, wenn die Gespräche mit den Alliierten abgeschlossen seien. Insofern sind auf Wunsch der Länder die von ihnen gewünschten Gespräche ausgesetzt. Wir können diese Gespräche über diese wichtige Frage nach ihrem Wunsch erst dann wieder aufnehmen, wenn die Erörterungen mit den Alliierten zu einem Ergebnis geführt haben.Natürlich ist die Einbeziehung der Alliierten entscheidend; das ist schon zu Recht gesagt worden. Aber ich will hier gegenüber gewissen Tönen auch sagen: Sie sind in unserem Interesse hier: Wir begrüßen es, daß sie hier sind — damit daran überhaupt kein Zweifel besteht.
— Sie sind hier auch in unserem Interesse.
— Ja, vor allem auch. Wir können uns über die Nuancen unterhalten, Herr Kollege Becker. Sie sind auch in ihrem eigenen Interesse hier, aber in ganz besonderer Weise in unserem Interesse. Wir möchten — unabhängig davon, daß wir eine Reduzierung des Umfangs der Streitkräfte bei Rüstungskontrollverhandlungen anstreben — im Prinzip, daß sie hierbleiben. Das hat sich für den Frieden unseres Landes in den vergangenen 40 Jahren bewährt.Die Alliierten haben vertraglich zugesicherte Übungsmöglichkeiten — das ist kein Besatzungsrecht, sondern ein Vertragsrecht, von dem wir hier reden; es ist allerdings nicht beliebig verfügbar, für niemanden in der Bundesrepublik Deutschland —, und wir haben vertraglich zugesicherte erhebliche Übungsmöglichkeiten bei den Alliierten — was immer wieder unterschlagen wird. Die Zeit reicht nicht, das hier im einzelnen darzustellen. Das ist durchaus ein zweiseitiger Vorgang — um das hier knapp zu bemerken.Schließlich muß man natürlich auch sagen — ich möchte noch einmal das bestätigen, was von Herrn Kollegen Hoyer und anderen erwähnt wurde — , daß heute die Tiefflüge in der Tat in der Mehrzahl von den Alliierten durchgeführt werden. Man muß fairerweise aber hinzufügen, daß z. B. die hier in der Bundesrepublik stationierte Royal Air Force Germany zu 51 % in Großbritannien fliegt. Ich lerne bei diesen Gesprächen mit meinen Kollegen natürlich auch einiges dazu, was Tiefflugdiskussionen in anderen Ländern betrifft.
— Nein, die freuen sich gar nicht darüber. Die haben auch eine schwierige Debatte; denn die Zivilisationsprobleme innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik sind mittlerweile ja miteinander vergleichbar. Lärmbelästigung im zivilen Bereich durch Straßenverkehr ist heute in Großbritannien ein vergleichbares Thema wie hier. Das gilt natürlich auch für den Tiefflug.
Nur sagen die Verantwortlichen dort: Wir brauchendas in einem gewissen Umfang. Sie nehmen sogar in
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11535
Bundesminister Dr. StoltenbergKauf — ich sagte es schon — , daß die hier stationierten Verbände der Royal Air Force zu mehr als 50 % bei ihnen üben. Der britische Kollege hat mir einmal erzählt, wieviel hundert Anfragen es dazu im Unterhaus in den letzten drei, vier Jahren gab. Dies kann absolut mit dem Schritt halten, was wir hier diskutieren; man muß das nur wissen.Wir bemühen uns. Wir hoffen auf weitergehende Ergebnisse. Ich hoffe unverändert, meine Damen und Herren, daß ich Ihnen den konkreten Bericht im Sommer vorlegen kann. Das ist das Ziel. Ich möchte mich aber nicht auf eine ganz kurze Zeitspanne festlegen, weil wir hierbei eine Verständigung mit den Alliierten brauchen. Das ist jetzt der entscheidende Punkt, der noch aussteht. Ich werde mich bemühen, und ich glaube, daß wir im Ergebnis eine spürbare Entlastung erreichen.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieser Debatte.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/2217 und 11/4038 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Widerspruch dagegen erhebt sich nicht. Somit darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit über gesetzliche Regelungen zur Gentechnik
— Drucksache 11/3908 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Hierzu ist Ihnen, meine Damen und Herren, vom Ältestenrat der Vorschlag gemacht worden, 30 Minuten Debattenzeit vorzusehen. Widerspruch dagegen erhebt sich nicht. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich erteile dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Pfeifer das Wort. Der Ruf aus dem Plenum ist ihm ja schon entgegengeschallt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorgelegte Bericht über gesetzliche Regelungen zur Gentechnik enthält die Grundkonzeption der Bundesregierung für ein Gentechnikgesetz, welches noch in dieser Legislaturperiode des Bundestages verabschiedet werden soll. Die Bundesregierung kündigt darin die Vorlage eines Gentechnikgesetzes an, welches durch präventive Kontrolle unter maßgeblicher Beteiligung des Bundes zur Sicherstellung eines einheitlichen Gesetzesvollzugs für die notwendige Sicherheit von Mensch und Umwelt beim Umgang mit der Gentechnik Sorge trägt und zugleich die Chancen wahrt, welche die Gentechnik in vielen Bereichen eröffnet.Von der Gentechnik sind — um nur zwei Beispiele zu nennen — im Gesundheitsbereich Hilfen und Fortschritte bei der Erforschung von Krankheitsursachen und bei der Entwicklung neuer und besserer Arzneimittel zu erwarten. Von der Gentechnik sind auch Hilfen zu erwarten, die zur Lösung der Ernährungsprobleme bei einer dramatisch wachsenden Weltbevölkerung beitragen können.
Es wäre unverantwortlich, wenn wir diese Möglichkeiten moderner Technologie nicht nutzten, wo immer dies unter Wahrung hoher Sicherheitsstandards für Mensch und Umwelt verantwortet werden kann.Auf der Grundlage dieses Berichts haben wir im April einen Referentenentwurf für ein Gentechnikgesetz vorgelegt und zur Diskussion gestellt. Dieser Entwurf ist sowohl von seiten der Industrie als auch von seiten der zuständigen Industriegewerkschaft im Grundsatz positiv aufgenommen worden.
Wir haben zum Referentenentwurf eine Vielzahl bedenkenswerter kritischer Einwendungen und Änderungsvorschläge erhalten, die wir in die Überlegungen bei der Formulierung des Regierungsentwurfs sorgfältig einbeziehen werden.Ich lege in diesem Zusammenhang ausdrücklich Wert auf die Feststellung, daß ein Referentenentwurf im Gesetzgebungsverfahren der erste Schritt auf dem Weg zum Bundesgesetzblatt ist, nicht das letzte Wort. Deshalb begrüße ich es, daß der Referentenentwurf eine lebhafte und engagierte Diskussion ausgelöst hat, und zwar auch unter den Interessierten in der Bevölkerung.Die in dem vorliegenden Bericht enthaltenen Grundpositionen sind für die Bundesregierung darüber hinaus auch Leitlinie für ihre Position bei den Beratungen im Umweltministerrat der EG. Dieser hat vor 14 Tagen einen Beschluß über eine EG-Richtlinie zum Umgang mit der Gentechnik im geschlossenen System gefaßt. Die hierzu ursprünglich von der EG-Kommission unterbreiteten Vorschläge hab en unseren Vorstellungen von einem hohen Sicherheitsstandard beim Umgang mit der Gentechnik nicht entsprochen. Es ist das Verdienst von Bundesminister Töpfer, daß nach schwierigen und zähen Verhandlungen die Richtlinie mit einem Inhalt beschlossen wurde, der für uns akzeptabel ist.Auch diese Beschlüsse werden wir der Erarbeitung des Regierungsentwurfs für das Gentechnikgesetz zugrunde zu legen haben. Dabei geht es letztlich immer um das Grundanliegen, mit den richtigen Maßnah-
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Parl. Staatssekretär Pfeifermen die erforderliche Sicherheit beim Umgang mit der Gentechnik zu erreichen. Ausgehend von diesem Grundsatz sind einzelne Fragen zu beantworten, z. B.: Wo ist ein formelles Genehmigungsverfahren unverzichtbar? Soll die präventive Kontrolle bei der Genehmigung der Anlage oder bei der Genehmigung der Tätigkeit ansetzen? Welche Argumente sprechen bei welchem Verfahren für Bundesvollzug, welche für Landesvollzug? In welchem Umfang ist die Beteiligung der Öffentlichkeit an der präventiven Kontrolle erforderlich? Dabei soll der Grundsatz gelten, daß die Öffentlichkeit immer dann zu beteiligen ist, wenn sie konkret betroffen ist.
Meine Damen und Herren, der Bericht des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, den wir heute debattieren, ist eigentlich ein Dokument dafür, wie schwer sich die Bundesregierung seit der Vorlage des Berichts der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" getan hat, dieses länger überfällige Vorhaben eines Gentechnologiestammgesetzes zu konkretisieren.
Ich bin sehr froh, daß ich heute feststellen kann, daß der Grad an Unverbindlichkeit und Allgemeinheit, der diesen Bericht kennzeichnet,
Gott sei Dank durch weitere Vorarbeiten der Bundesregierung für ein Gentechnikgesetz als überholt zu gelten hat. Es ist im Rückblick aber doch bestürzend, daß sich noch etwa bei einer Ressortbesprechung Anfang 1988 der Vertreter des Wirtschaftsministeriums gegen ein Gentechnologiegesetz ausgesprochen hat, weil — so sagte man damals — dadurch die Gentechnik unangemessen der öffentlichen Diskussion ausgesetzt würde.
Das Arbeitsministerium ließ damals durch seinen Vertreter erklären, daß man befürchte, daß die Diskussion um Gentechnik bei einem eigenen Gentechnologiegesetz nur noch schwer beherrschbar wäre. Man stelle sich vor, daß das Bundesfinanzministerium dazu nur zu bemerken hatte, daß man grundsätzliche Einwände gegen ein solches Gesetz habe, weil es bei der
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CatenhusenDurchführung des Gesetzes zu einigen neuen Planstellen kommen könnte.
Ich kann mir vorstellen, daß man es sich, wenn die Diskussion innerhalb der Beamtenschaft der Bundesregierung so gelaufen ist, tatsächlich sehr schwer gemacht hat, wirklich zu einem konkreten Gesetzentwurf vorzustoßen.
— Herr Probst, es erstaunt mich allerdings, daß Sie als Staatssekretär dieser Regierung noch nicht gemerkt haben, auf welcher Basis manche Beschlüsse Ihrer Regierung vorbereitet werden.
Aber, meine Damen und Herren, wir sind jetzt unmittelbar davor, über ein solches Gesetz zu beraten. Deshalb möchte ich aus meiner Sicht einige Erwartungen— das sind auch die der SPD — an ein solches Gesetz formulieren.
Erstens. Ein Gentechnologiegesetz sollte und muß ein reines Schutzgesetz sein. Ziel eines solchen Gesetzes muß es sein, die Gesundheit der Menschen und den Schutz der Umwelt, von Pflanzen und Tieren sowie des Naturhaushaltes insgesamt, vor möglichen Gefahren und Risiken der Gentechologie zu sichern.
Dabei sollte das Gesetz nicht nur der Abwehr unmittelbarer Gefahren, sondern auch der allgemeinen Vorsorge gegen denkbare Risiken dienen.
Ein Gesetz, das die Förderung der Gentechnologie als Ziel gesetzlich festschreibt, ist für uns nicht akzeptabel. Wir wollen kein zweites Atomgesetz.
Das Gesetz sollte, meine Damen und Herren, primär und ganz deutlich die Bevölkerung vor Risiken und Gefahren der Gentechnik schützen, nicht aber die Gentechnologie vor der Bevölkerung.
Zweitens. Ein Gentechnologiegesetz muß eine rasche Anpassung der Sicherheitsstandards an den Fortschritt von Wissenschaft und Technik ermöglichen. Das wissen wir auch. Unser Wissen über Fragen der biologischen Sicherheit ist nur sehr vorläufig. Sehr schnell können sich heute geäußerte Befürchtungen oder auch heute eingeschätzte Sicherheiten als falsch erweisen.
Deshalb müssen Rechtsverordnungen eine flexible Anpassung der Sicherheitsnormen an den Stand von Wissenschaft und Technik ermöglichen.
Aber, meine Damen und Herren, in diesen Rechtsverordnungen wird auch festgelegt, welches Ausmaß an Risiken unsere Gesellschaft im Umgang mit der Gentechnologie im Einzelfall zu akzeptieren bereit ist. Das ist eine eminent politische Frage. Deshalb sollten wir gemeinsam überlegen, wie an diesem Prozeß auch in Zukunft das Parlament in geeigneter Weise beteiligt werden kann.Drittens. Der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit wird im Rahmen eines solchen Gesetzes eine wachsende Bedeutung zukommen. Dem muß auch in der Zusammensetzung und der Arbeitsweise einer solchen Kommission Rechnung getragen werden. Wir erwarten, daß im Zusammenhang mit den Beratungen über ein solches Gesetz sichergestellt wird, daß die Arbeit dieser Kommission für die Öffentlichkeit endlich transparent wird. Warum kann eine bundesdeutsche ZKBS nicht ebenso wie die vergleichbare Genehmigungsbehörde in den Vereinigten Staaten grundsätzlich öffentlich tagen? Das ist keine Forderung aus der grün-alternativen Bewegung, sondern seit über zehn Jahren Praxis in den Vereinigten Staaten.In der ZKBS sollte auch verstärkt Sachverstand aus den Bereichen Ökologie und Arbeitsschutz sowie eine Vertretung gesellschaftlicher Gruppen über den Bereich der Tarifpartner hinaus ermöglicht werden. Das mindeste wäre doch die Beteiligung von Vertretern von Umweltverbänden. Außerdem sollten wir überlegen, ob nicht die Aufgabe, Genehmigungsverfahren durchzuführen, von den Aufgaben der Beratung der Bundesregierung getrennt werden sollte. Ich denke, bei der Beratung über die Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens für den Umgang mit der Gentechnik brauchen wir einen weiter gefaßten Sachverstand als den, der in einer solchen Genehmigungsbehörde vertreten ist.
Viertens. Wir legen großen Wert darauf, daß das geplante Gentechnologiegesetz nicht zum Abbau heute gültiger Regelungen für die Öffentlichkeitsbeteiligung bei Genehmigungsverfahren im Bereich der Gentechnik führt. Wir wollen die Öffentlichkeitsbeteiligung bei Verfahren zur Genehmigung von Produktionsanlagen und für jede Art von Freisetzungsvorhaben gesichert wissen. Es sollte nicht der Eindruck erweckt werden, daß Öffentlichkeitsbeteiligung sozusagen in Gegensatz zum Sachverstand steht; denn es ist immerhin schon bemerkenswert, daß der Sachverstand von Einwendern bei ersten dieser Genehmigungsverfahren dazu geführt hat, daß Anträge als unzureichend und unvollständig zurückgewiesen werden mußten und daß die Antragsteller aufgefordert wurden, erweiterte Unterlagen vorzulegen.Ich meine, meine Damen und Herren, die Öffentlichkeitsbeteiligung zwingt die Genehmigungsbehörden und den Antragsteller, sehr sorgfältig zu arbeiten.
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CatenhusenDaher sollte man der Öffentlichkeitsbeteiligung eigentlich eine durchaus positive Seite abgewinnen.Fünftens. Wir brauchen eine klare Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Diese Frage ist in dem Bericht des Bundesministers noch nicht geklärt. Auch wir in der SPD haben die Diskussion über diese Frage noch nicht abgeschlossen. Ich persönlich hielte es für zweckmäßig, wenn Forschungsvorhaben — wie bisher — bundesweit durch das Bundesgesundheitsamt genehmigt würden, die Genehmigung für Produktionsanlagen aber voll den Ländern übertragen würde. Ich meine, meine Damen und Herren, daß der Streit über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern auf diese Weise unter Berücksichtigung der Interessen beider Seiten gelöst werden könnte.Sechstens. Wir möchten gerne, daß in einem Gentechnologiegesetz auch die Ermächtigung zum grundsätzlichen oder befristeten Verbot bestimmter gentechnischer Forschungsvorhaben enthalten ist, um etwa die Forschung an bestimmten, als B-Waffen geeigneten Organismen im Einzelfall ausschließen zu können. Wir möchten auch, daß dies eine Rechtsgrundlage für das von uns geforderte Moratorium für nicht rückholbare Freisetzungsexperimente abgibt.Siebtens. Sie, Herr Pfeifer, haben vorhin die Entscheidung in Brüssel angesprochen, daß dort nämlich Richtlinien für den Umgang mit der Gentechnologie in geschlossenen Systemen verabschiedet worden sind. Für uns ist ganz wichtig, daß in diesen Richtlinien nur Mindeststandards festgeschrieben worden sind. Wir möchten Sie auffordern, diese Mindeststandards nicht voreilig als die Norm, die in der Bundesrepublik zu gelten hat, festzuschreiben. Wir versuchen in der Umweltpolitik aus guten Gründen, meine Damen und Herren, im Einzelfall Vorreiter im Umweltschutz zu sein und über EG-weit geltende Mindeststandards hinauszugehen. Lassen Sie uns auch europäischer Vorreiter eines sensiblen, problemorientierten und zurückhaltenden Umgangs mit der Gentechnologie sein. Das ist eine Erwartung großer Teile der Bevölkerung. Das heißt, wir brauchen klare, handhabbare, Rechtssicherheit — auch für die Industrie — schaffende Regelungen für den Umgang mit der Gentechnik.
Wir sollten aber auch den Mut haben, nicht von vornherein das schon heute in der Bundesrepublik geltende hohe Sicherheitsniveau an Mindeststandards der EG anzupassen. Wir sollten den Mut haben, in wichtigen und sensiblen Fragen, wie den Freisetzungsvorhaben, durchaus weitergehende Regelungen in der Bundesrepublik zu treffen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorgelegte Bericht nennt sogenannte Eckwerte für gesetzliche Regelungen zur Gentechnik. Ich bin der Auffassung, daß die Zeit für die Vorlage und Einbringung eines Gentechnikgesetzes reif, wenn nicht überreif ist. Ich bin deswegen auch sehr erfreut, zu hören, daß die Bundesregierung am 12. Juli 1989 einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen wird.Was sollen nun gesetzliche Regelungen im Bereich der Gentechnologie? Ich will versuchen, die vielfältigen Äußerungen und Hinweise in folgenden Punkten zusammenzufassen.Erstens. Nach meiner Auffassung muß ein Gentechnologiegesetz zunächst die ungehinderte Forschung im Bereich der Gentechnologie ermöglichen, wenn man es genau nimmt, sogar fördern.
Ich erwarte, daß der Entwurf des Gentechnikgesetzes in Anlehnung an die EG-Richtlinie „Verwendung von gentechnisch veränderten Mikroorganismen in abgeschlossenen Systemen" zwischen Forschung und Produktion differenziert. Ich fordere, daß in dem kommenden Gesetz den Forschungseinrichtungen die notwendige Bewegungsfreiheit gegeben wird.Das kann dadurch geschehen, daß für Anlagen, in denen Forschungsarbeiten der Sicherheitsstufe 1 stattfinden sollen — also für Bier, Hefe, Joghurt und ähnliches — eine Anmeldung beim Bundesgesundheitsamt erfolgt. Nachfolgende Arbeiten der Sicherheitsstufe 1 müßten dann, wie auch in der EG-Richtlinie vorgesehen, aufgezeichnet werden. Nachfolgende Arbeiten höherer Sicherheitsstufen bedürften einer Anmeldung beim Bundesgesundheitsamt. Ich bin allerdings auch der Auffassung, daß für Forschungsanlagen, in denen Arbeiten einer höheren Sicherheitsstufe als der Sicherheitsstufe 1 durchgeführt werden sollen, eine Anlagengenehmigung beim Bundesgesundheitsamt beantragt werden muß. Forschungsarbeiten der höheren Sicherheitsstufen als Stufe 1 müssen immer beim Bundesgesundheitsamt angemeldet werden.
— Angemeldet werden.Zweitens. Ein Gentechnikgesetz muß auch die Produktion mit Hilfe gentechnischer Verfahren ermöglichen. Der uns eigene Wille, alles und jedes rechtlich zu regeln, kann den Gesetzgeber in die Gefahr bringen, vor lauter Vorschriften die Entwicklung dieser zukunftsträchtigen Technologie zu verhindern. Deshalb bedarf es auch hier einer Regelung, die allen Bedürfnissen gerecht wird.
Ich sehe hier folgende Lösungsmöglichkeit. Für Produktionsverfahren ist bei erstmaligen Arbeiten der Stufe 1 Anmeldung und bei höheren Sicherheitsstufen eine Genehmigung der Anlage und des Betriebs erforderlich. Weitere Arbeitsgänge der Stufe 1 sind anzumelden. Für Arbeitsgänge der Stufen 2 bis 4 bedarf es im Einzelfall jeweils einer schriftlichen Genehmigung.Die Zuständigkeit der Länder im Anmelde- und Genehmigungsverfahren ist sowohl für Anlagen wie
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Seesingauch für gentechnische Arbeiten gegeben. Ich gehe aber davon aus, daß ein verfassungskonformes Verfahren gefunden wird, in dem die Sicherheitseinstufung einer Maßnahme durch das Bundesgesundheitsamt vorgegeben werden kann.Für wichtig halte ich allerdings die Konzentration der Öffentlichkeitsbeteiligung auf die Genehmigungsverfahren, die von besonderer Relevanz sind. So sollte sich eine Öffentlichkeitsbeteiligung auf die Genehmigung der Produktionsanlagen der Stufen 2 bis 4 und auf die Genehmigung von Produktionsverfahren der Stufen 3 und 4 beschränken.
Drittens. Das Gentechnikgesetz muß selbstverständlich nicht nur Fragen der Forschung und der Produktion regeln, sondern auch die Probleme der Freisetzung. Darüber haben wir in den letzten Monaten hier im Bundestag mehrfach debattiert; ich will das heute nicht weiter vertiefen.Viele Fragen — mein vierter Punkt —, die sich uns im Zusammenhang mit der Gentechnologie noch stellen, können nur vorläufig beantwortet werden. Wie schon die mehrmalige Veränderung der Richtlinien zum Schutz vor Gefahren durch in vitro kombinierte Nukleinsäuren zeigt, muß eine unkomplizierte Anpassung der Richtlinien, technischen Anweisungen oder gar Verordnungen immer möglich sein.Fünftens. Eine wichtige Frage muß aber auch noch von den Politikern beantwortet werden. Behindern wir vielleicht durch unsere Regelungsansprüche die Entfaltung der Gentechnologie in der Bundesrepublik Deutschland, und — ich frage ganz offen — , laden wir dadurch Schuld auf uns?
Nun hat der Abgeordnete Kreuzeder das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute wieder verspätet eine Debatte über grundsätzliche politische Weichenstellungen. Die zu beratenden Eckdaten für ein Gengesetz wurden bereits im November vorgelegt, und seit April gibt es einen Gesetzentwurf der Gesundheitsministerin. Doch offensichtlich besteht zwischen Regierung und Industrielobby so große Einigkeit über die zukünftige Gentechnologieentwicklung, daß auf Beratungen des Parlaments bei Grundsatzentscheidungen verzichtet werden kann. Die einschlägige Industrie hat sich in den letzten Jahren mit Drohungen gegen gesetzliche Regelungen gewehrt. Arbeitsplätze, Landwirtschaft, medizinischer Fortschritt und Wissenschaftsfreiheit sollten durch ein Gengesetz angeblich gefährdet sein. Doch plötzlich wollen sie sofort ein Gengesetz. Das Gespenst der Rechtsunsicherheit geht um, nachdem die Öffentlichkeit den Konzernen in Aachen, in Marburg und Ludwigshafen gezeigt hat, daß sie sich mit unvollständigen Anträgen für gentechnische Produktionsanlagen nicht über den Tisch ziehen läßt. Auch die netten Balkonpflanzen mit Modefarben aus Köln fanden trotz wissenschaftlicher Argumente in der Bevölkerung keine Gegenliebe.Warum soll die Bevölkerung, deren Steuergelder zur Finanzierung der Gentechnologie jahrelang gut genug waren, jetzt mundtot gemacht werden? Wo der Profit ins Haus steht, sollen wir uns heraushalten. Dabei machen wir eben nicht mit, denn schließlich soll das geplante Gesetz ja festlegen, welche Risiken und Gefahren uns zugemutet werden. Genmanipulierte Nahrungsmittel, Pflanzen und Tiere sollen massenhaft in Verkehr gebracht werden, und die zuständige Gesundheitsministerin ist nicht in der Lage, die damit verbundenen gesundheitlichen und ökologischen Gefahren abzuschätzen. Sie erklärt:Es bleibt aber ein letztlich nicht abschätzbares biologisches Risiko auch dann, wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik gebotenen Vorsichtsmaßregeln beachtet werden.Wohlgemerkt: wenn sie beachtet werden. Unsere Erfahrungen mit der chemischen Industrie, den Agrarkonzernen und den Ölmultis zeigen eindeutig, daß die Regelverletzung auch in der Gentechnik der Alltag sein wird. Das bedeutet in Zukunft alltägliche Freisetzung von genmanipulierten Lebewesen. Kein Wissenschaftler kann über die darauf folgenden Risiken eine Prognose abgeben, auch heute noch nicht.
— Herr Stoltenberg hat Ihnen eben gesagt: Auf den billigen Plätzen keine unqualifizierten Zwischenrufe! —Und das in einer Situation, die von umkippenden Flüssen und Meeren, von verseuchten Böden und Immunkrankheiten bei Mensch und Tier geprägt ist. Aber Frau Lehr will diese Risiken gar nicht ausschließen,
sie will sie nur in ausreichendem Maße begrenzen. Die dafür geeigneten Standards erhofft sie sich von einer völlig einseitig profitdenkenden Wissenschaft.
Wozu soll das führen? Schon jetzt wehren sich die Gentechnikbetreiber, wenn Sicherheitsstandards zu kostspielig sind. Seit Monaten tobt ein Streit über die Verwaltungsvorschrift für die Behandlung von Abwässern aus gentechnologischen Produktionsanlagen. Schon jetzt sind Ausnahmen von Genehmigungsverfahren vorgesehen. Damit soll wertvolle Vollzugskapazität freigesetzt werden. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Personalsituation bei Bund und Ländern für die Überwachung der Gentechnologie. Weder Personal noch Gelder für die Gewährung der Sicherheit sind vorhanden. Wie soll ein Gesetz zum Schutz der Bevölkerung funktionieren, wenn die wichtigsten Voraussetzungen fehlen? Ganz einfach, es wird gesetzlich erlaubt, die Bundesrepublik zum Experimentierfeld zu machen.Nach den ökologischen Langzeitbeobachtungen, die Frau Lehr dabei vorsieht, werden wir feststellen, daß Tschernobyl eine Lappalie gegenüber dem ist,
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Kreuzederwas der Menschheit durch die Gentechnologie bevorsteht.
— Keine Zwischenfragen.
Sie wird nicht die drängenden Probleme lösen, sondern die Gentechnologie wird das größte Problem der Menschheit werden. Ein Beispiel ist das BST. Dieses gentechnologisch produzierte Hormon wird allein der Agrarindustrie die Kassen füllen. Es wird nicht einen Menschen vor dem Hungertod bewahren, und es wird Tausende von bäuerlichen Existenzen das Leben kosten. Solange wir nicht abstellen, daß alle zwei Stunden eine Pflanze und jeden Tag eine Tierart ausstirbt, wird dieser überholte Wissenschafts- und Fortschrittsglaube zum Verbrechen.
Wir brauchen keine Gentechnologie. Wir, die GRÜNEN, lehnen die Gentechnologie aus tiefstem Herzen ab. Wir brauchen auch dieses Gesetz nicht. Wir brauchen eine große technologie-, umwelt- und sozialpolitische Neuorientierung, die Fleischberge, Müllgebirge und Ozonlöcher gar nicht erst entstehen läßt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich heute nicht zum erstenmal mit dem schwierigen Thema der Gentechnologie. Wir haben im Jahre 1984 eigens eine Enquete-Kommission eingesetzt und haben in einem dreieinhalbjährigen Prozeß eine intensive Diskussion geführt, und es hat auch Lernphasen für alle Beteiligten gegeben.
Dieses bedeutet, daß der Deutsche Bundestag hier ein Stück weit erfolgreich eine praktische TechnikfolgenAbschätzung vorgeführt hat, und zwar an einem konkreten Beispiel. Ich glaube, daß dies für die Auseinandersetzung mit anderen Themen der technologischen Entwicklung modellhaft sein kann, mit denen wir uns in Zukunft befassen werden.Auf der Grundlage des Berichts der Enquete-Kommission sind nach Auffassung der Liberalen eine ganze Reihe gesetzlicher Maßnahmen erforderlich. Ich will hier nur zwei Punkte ganz besonders hervorheben.Erstens. Zur Regelung der ethischen Probleme eines möglichen Mißbrauchs der Gentechnologie im Bereich der Humangenetik ist eine zügige parlamentarische Beratung des hoffentlich bald vorzulegenden Embryonenschutzgesetzes notwendig.
Hierbei geht es insbesondere darum, schon heuteSchranken gegen alles zu errichten, was eines Tagesin Richtung Manipulation am menschlichen Erbgut möglich werden könnte.
Zweitens. Was die Fragen der Sicherheit bei der Gentechnologie angeht, fordern wir die Bundesregierung auf, unverzüglich das Gentechnikgesetz vorzulegen.
Herr Catenhusen hat kritisiert, daß die Bundesregierung relativ lange gebraucht habe, bis sie diesen Gesetzentwurf nun beschließen werde.
Ich sage dazu: Auch ich hätte mir vorstellen können, daß dies ein bißchen zügiger hätte vorangehen können. Aber ich sage auch ganz klar: Ein sorgfältig und präzise erarbeiteter Gesetzentwurf als Vorlage für unsere parlamentarische Beratung ist mir wesentlich lieber als ein schludriger, hingeschlamperter Entwurf, der dann vom Parlament kassiert werden muß.
Dieses Gesetz zur Gentechnologie muß nach unserer Auffassung ein Stammgesetz sein, das alle sicherheitsrelevanten Aspekte für die Bereiche Forschung, Produktion und gezielte Freisetzung umfaßt. Dabei kommt es uns darauf an, die Sicherheitsanforderungen in diesem Gesetz im Hinblick auf Anzeigepflicht und Genehmigung nach dem tatsächlichen Gefährdungspotential zu differenzieren, das von den benutzten Mikroorganismen ausgehen kann.
Auch die Regelung der Öffentlichkeitsbeteiligung, Herr Kollege Reimann, die für uns Liberale besonders wichtig ist, muß sich an einer solchen sachgemäßen Differenzierung orientieren.Weiterhin treten wir dafür ein, daß mit Inkrafttreten dieses Gesetzes alle anderen einschlägigen, die Gentechnologie betreffenden gesetzlichen Vorschriften und darauf beruhenden Rechtsverordnungen kassiert werden. In diesem Sinne ist es nach unserer Überzeugung notwendig, die Chancen und Risiken der Gentechnologie sorgfältig abzuwägen und die weitere Entwicklung verantwortungsbewußt zu gestalten. Die Gentechnologie muß nach Auffassung der FDP in vollem Umfang den ethischen Maßstäben unterworfen bleiben, die sich aus der Wertordnung des Grundgesetzes ergeben.
Die Gentechnologie muß weiterhin strenge Sicherheitsanforderungen, so wie bisher, erfüllen, um eine mögliche Gefährdung von Umwelt und Menschen auszuschließen.
Die Gentechnologie muß sich ständig der Technikfolgenabschätzung auf ihre ethischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Konsequenzen hin stel-
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Kohnlen. In diesem Rahmen, meine sehr verehrten Damen und Herren, treten wir Liberalen
für die Förderung der Gentechnologie ein und sagen: Dieses ist moralisch geboten.Meine Damen und Herren, wir haben gestern im federführenden Bundestagsausschuß für Forschung und Technologie die Beratung des Berichts der Enquete -Kommission zur Gentechnologie abgeschlossen. Wir werden somit nach der Sommerpause die Gelegenheit haben, in einer groß angelegten breiten Debatte die öffentliche Diskussion über alle relevanten Fragen der Gentechnologie engagiert weiterzuführen. Ich hoffe, daß dies auf einem anderen Niveau geschehen wird, als es mein Vorredner hier geboten hat.Vielen Dank.
Da mir keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, kann ich die Aussprache schließen.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Bericht des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, der Ihnen auf der Drucksache 11/3908 vorliegt, an die in der Tagesordnung ausgewiesenen Ausschüsse zu überweisen. — Weitere Vorschläge aus dem Haus werden nicht gemacht. Sie sind also damit einverstanden. Dann kann ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Zusatzabkommen vom 2. März 1989 zum Abkommen vom 25. Februar 1964 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Soziale Sicherheit und der Zusatzvereinbarung vom 2. März 1989 zur Vereinbarung vom 25. August 1978 zur Durchführung des Abkommens
— Drucksache 11/4579 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 11/4772 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kirschner
Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. — Offensichtlich ist das Haus damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem deutsch-schweizerischen Abkommen über soziale Sicherheit ist in der letzten Woche vom federführenden Ausschuß beraten, einstimmig beschlossen und dem Bundestag in unveränderter Form zur Annahme empfohlen worden. Ich möchte für diesen nicht alltäglichen Vorgang im Parlamentarischen Verfahren — für diesen Beschluß — dem Ausschuß und allen Fraktionen danken und hoffe, daß es auch heute bei dieser Einstimmigkeit bleibt.Die krankenversicherungsrechtlichen Regelungen, die das Kernstück des Abkommens bilden, und die ergänzenden Regelungen des Zustimmungsgesetzes werden folgenden Personengruppen zugute kommen: ca. 70 000 deutschen Arbeitnehmern in der Schweiz, davon über 20 000 deutschen Grenzgängern in der Schweiz und deren Familienangehörigen sowie mit Zustimmung ihrer Krankenkasse auch den übrigen Versicherten im Grenzgebiet, deutschen Rentnern, die in der Schweiz ihren Lebensabend verbringen, und schließlich — darüber freuen ich mich besonders — auch Versicherten, die einer Dialysebehandlung, einer Behandlung als Bluter oder einer Strahlenbehandlung wegen Krebs in der Schweiz bedürfen.Für alle diese Personen gab es bisher keine gesicherte Rechtsgrundlage, um medizinische Behandlung in der Schweiz auf Kosten ihrer Krankenkasse in Anspruch nehmen zu können. Künftig werden sie grundsätzlich wie Schweizer Bürger Krankenbehandlung in der Schweiz erhalten. Besonders wichtig ist dies für jene Deutsche, die im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet wohnen und auf Grund der örtlichen Verhältnisse auf Krankenbehandlung in der Schweiz angewiesen sind.Urlauber werden zwar auch künftig ambulante ärztliche Behandlung in der Schweiz nur als Privatpatienten erhalten, aber sie können die Kosten in Höhe der schweizerischen Kostensätze von ihrer Krankenkasse zurückverlangen.Sobald das Abkommen in Kraft tritt, d. h. nach Austausch der Ratifikationsurkunden, gilt dies uneingeschränkt.
Bis zum Inkrafttreten des Abkommens wird der Krankenversicherungsschutz durch die Regelungen des Zustimmungsgesetzes erbracht.
— Herr Kollege Heyenn, ich komme gleich darauf zu sprechen.Die Versicherten werden also medizinische Versorgung in der Schweiz als Privatpatienten in Anspruch nehmen und erhalten; die Kosten bis zur Höhe der vergleichbaren deutschen Sätze werden erstattet. Dank der im Zustimmungsgesetz vorgesehenen Rückwirkung kommt den Versicherten dieser Schutz jetzt schon zu.
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Parl. Staatssekretar Seehof erZahlreiche Zuschriften bestätigen uns im Hause, daß bei unseren Bürgern großes Interesse an diesem Abkommen besteht.
Ich bin deshalb froh, daß mit dem Abkommen und dem Zustimmungsgesetz der Krankenversicherungsschutz in der Schweiz auf eine sichere Grundlage gestellt werden wird.
Nun ist es ja ungewöhnlich, daß bei einer einstimmigen Beschlußempfehlung des Ausschusses dennoch eine Debatte hier im Plenum stattfindet. Das hängt wohl damit zusammen, daß die Opposition offensichtlich auch heute beabsichtigt, das Gesundheits-Reformgesetz bei der Debatte über diesen Punkt in das Zentrum zu stellen. Einer der sattsam bekannten Vorwürfe betrifft ja die vom Gesundheits-Reformgesetz vorgesehene Regelung bezüglich des Ruhens der Leistungen im Rahmen des Krankenversicherungsschutzes bei Auslandsaufenthalt.Mit dieser Regelung, meine Damen und Herren von der Opposition, ist das geltende Recht präzisiert worden.Wir überfordern niemanden. Wir haben erstens festzustellen, daß neun von zehn Auslandsreisen in EG-Länder oder in die Länder gehen, mit denen wir Sozialversicherungsabkommen geschlossen haben. In den EG-Ländern und in weiteren sieben Vertragsländern ist auf Grund über- oder zwischenstaatlichen Rechts der Schutz im Krankheitsfall sichergestellt.Daran hat die Gesundheitsreform nichts geändert. Das Zusatzabkommen mit der Schweiz, das wir heute beraten und das laut Zustimmungsgesetz für die Versicherten der deutschen Krankenkassen rückwirkend zum 1. Januar 1989 in Kraft treten soll, vervollständigt diesen Schutz. Wir werden weitere Abkommen anstreben.Auch im Verhältnis zur DDR ist die Versorgung im Krankheitsfall sichergestellt; für die Transitstrecken von und nach Berlin gilt die Ruhensregelung des GRG nicht.Wer beruflich im Ausland tätig sein muß oder nur dort medizinisch behandelt werden kann, ist ebenfalls durch die gesetzliche Krankenversicherung geschützt. In den wenigen verbleibenden Fällen bieten sich preiswerte private Auslandsreise-Krankenversicherungen an.Die private Krankenversicherung hat in diesen Tagen ganz deutlich erklärt, daß bisher bestehende Lükken inzwischen zu tragbaren Versicherungsbedingungen geschlossen worden sind.
— Sie bietet jetzt, Herr Kollege Heyenn, Versicherungsschutz auch in den Fällen, in denen im Urlaub eine Vorerkrankung akut zum Ausbruch kommt oder in denen der Urlauber Staatsangehöriger des Landes ist, in dem Urlaub verbracht werden soll.Sie gibt Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf das Alter des Urlaubers, und sie bietet Versicherungsschutz, wenn die Behandlungsnotwendigkeit schon vor Reiseantritt feststeht. Damit bestehen also auch für die Dialyse wegen Nierenschäden und vergleichbare chronische Erkrankungen Versicherungsmöglichkeiten. So wird z. B. die Deutsche Krankenversicherung, der größte deutsche Krankenversicherer, einen solchen Tarif anbieten.Diese Initiativen der privaten Krankenversicherung verdienen unseren Beifall.
Sie zeigen, daß die PKV bereit ist, die Verantwortung zu übernehmen, die wir ihr durch das GRG übertragen haben.
Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung, daß nämlich auf der einen Seite durch das GRG, auf der anderen Seite durch Sozialversicherungsabkommen und drittens durch die private Krankenversicherung ein lückenloser Krankenversicherungsschutz im Ausland besteht — das ist im Hinblick auf die nahende Urlaubszeit besonders wichtig —,
ist Ihrer Kritik, meine Damen und Herren von der Opposition, jetzt jeder Boden entzogen.
Ich meine, Sie müßten Ihr Beschwerdebuch, das ohnehin in jedem Punkt unbegründet war, jetzt endgültig dem Abfall übergeben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Haack .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was der Parlamentarische Staatssekretär, Herr Seehofer, vorgetragen hat,
offenbart die „Logik" des Gesundheits-Reformgesetzes in eklatanter Weise. Herr Seehofer, Sie haben gesagt, es würden Lücken geschlossen. Tatsächlich werden die Lücken geschlossen, die das GRG durch § 16 aufgerissen hat. In § 16 ist nämlich substantiell festgehalten, daß der Krankenversicherungsschutz, wie er zuvor bestanden hat, entfällt, wenn jemand allein oder mit seiner Familie ins Ausland fährt.Das Ziel dieser Vorschrift war — das ist bei den Beratungen sehr deutlich geworden — , Geld einzusparen. Sie haben also gewissermaßen das Risiko, das bisher durch die Solidargemeinschaft abgedeckt gewesen ist, privatisiert. Sie setzen nun noch einen darauf, indem Sie die privaten Krankenversicherer loben. Insofern sagen wir: Wenn heute dieser Gesetzentwurf einstimmig verabschiedet wird — das wollen wir ja gar nicht bestreiten; ich begründe noch, warum wir ihm zustimmen werden — , heißt das nichts anderes,
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Haack
als daß das erste Reparaturgesetz zum Gesundheits-Reformgesetz, das am 1. Januar 1989 in Kraft getreten ist, verabschiedet wird.In § 16 heißt es — ich darf zitieren — :Der Anspruch auf Leistungen ruht, solange Versicherte sich außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzbuchs aufhalten, und zwar auch dann, wenn sie dort während eines vorübergehenden Aufenthalts erkranken, soweit in diesem Gesetzbuch nichts Abweichendes bestimmt ist.Mit der Zielsetzung, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zu bremsen, hat die Regierung mit diesem Paragraphen Tausende von deutschen Urlaubern und ihre Angehörigen verunsichert. Wenn Sie sagen, Herr Seehofer, Sie hätten viele Briefe auf den Tisch bekommen, dann sind das sicherlich die gleichen Briefe, die wir auch bekommen haben.
Versicherte fragen, wie das langfristig geregelt werden soll.Am Beispiel der Schweiz sieht das so aus: Es gibt allein 20 000 deutsche Staatsangehörige, die als Grenzgänger in der Schweiz arbeiten. Haben Sie darüber hinaus vergessen, daß nach der Statistik 3 Millionen Menschen Urlaub in der Schweiz machen? Das heißt, bis heute, bis zur Verabschiedung dieses Gesetzes, waren diese Menschen alle ohne jeglichen Versicherungsschutz.In aller Eile haben Sie dann dieses Gesetz mit heißer Nadel gestrickt, das eben nichts anderes als ein Reparaturgesetz ist. Es ist im Grunde ebenso überstürzt gemacht wie das Gesundheits-Reformgesetz. Zwar haben Sie für die in der Schweiz erkrankten Deutschen gerade zur Urlaubszeit noch eine erträgliche Regelung geschaffen. Was aber ist eigentlich mit den Urlaubern, die in Nicht-EG-Länder fahren oder in Länder, mit denen kein Sozialversicherungsabkommen besteht, wie das z. B. bei den USA, bei osteuropäischen Staaten und Staaten der Dritten Welt der Fall ist? Sie müssen eben auch in die Touristikstatistik sehen. Ein Großteil Bundesrepublikaner fährt in Staaten der Dritten Welt, um dort Urlaub zu machen.
Diese Koalition zwingt die Urlauber dazu, auf Grund des durch § 16 des Gesundheits-Reformgesetzes bewirkten Ausfalls des Risikoschutzes eine private Auslandsreise-Krankenversicherung abzuschließen.
Die Beitragszahler halten diese Regelung zu Recht für unverständlich; denn schließlich sind diese Menschen im guten Glauben, sich durch ihre Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung in der Bundesrepublik auch für einen Auslandsaufenthalt ausreichend versichert zu haben.Es ist nicht einzusehen, daß jemand, der in der Bundesrepublik 12 Monate Beiträge zahlt, im Grunde nur für 11 Monate versichert ist, was nämlich der Fall ist, wenn man die Urlaubszeit abzieht,
die man z. B. in der Schweiz verbringt. Die Regierung hat durch das Gesundheits-Reformgesetz der privaten Versicherungswirtschaft im Grunde einen neuen Markt eröffnet. Das schließt lückenlos an die Privatisierung sozialer Risiken an, die bisher durch die Solidargemeinschaft abgedeckt gewesen sind.Tatsache ist: Die privaten Versicherungen haben sich bisher geweigert, bei zu erwartenden Krankheitszeichen, Behinderten, chronisch Kranken und anderen Menschen mit Vorerkrankungen diesen Auslandsreise-Krankenversicherungsschutz zu gewähren. Wenn Sie nun hier verkünden, daß die PKV bereit ist, spezielle Risiken, wie z. B. die Risiken der Dialysepatienten zu versichern, so darf das ja nicht darüber hinwegtäuschen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß hier im Grunde ein großer sozialer Mißstand durch das GRG geschaffen worden ist.
Dennoch stimmen wir diesem Gesetz zu, da wir uns demjenigen Bevölkerungsteil verpflichtet fühlen, der durch das Gesundheits-Reformgesetz, hier durch § 16, zu Betroffenen gemacht worden ist und der sich in einer Zwangslage befindet. Insofern denken wir, daß wir dem Gesetz, weil es nicht anders möglich ist, zustimmen müssen. Im Prinzip aber lehnen wir den Weg der Privatisierung von Risiken, den wir bei der Beratung des Gesundheits-Reformgesetzes schon ab - gelehnt haben, grundsätzlich ab. Dem Gesetz werden wir aber aus den vorgenannten Gründen zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Fuchtel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn hier irgend etwas mit heißer Nadel gestrickt wurde, dann war es ganz sicher Ihre Rede, lieber Herr Kollege Haack, und nicht das deutsch-schweizerische Abkommen.
— Ich muß Ihnen das ja einmal erklären.Unser Gesundheits-Reformgesetz ist kein Reparaturgesetz
und steht in keinem direkten Zusammenhang mit diesem deutsch-schweizerischen Abkommen. Über dieses Abkommen wird nämlich schon seit acht Jahren verhandelt, und seit acht Jahren behandeln wir die Gesundheitsreform ganz sicher noch nicht. Deswegen gibt es die Zusammenhänge, die Sie hier zu konstruieren versucht haben, schon gar nicht.
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FuchtelWarum muß man ein solches Abkommen schließen? Man muß ein solches Abkommen schließen, weil seit langer Zeit die Notwendigkeit besteht, einen Zustand, der bisher durch keine Rechtsnormen umschrieben war, auf die Grundlage einer eindeutigen Rechtsnorm zu stellen. Dies tun wir im übrigen auch in vielen, vielen anderen Fällen, indem wir entsprechende Abkommen mit anderen Staaten schließen. Nur mit der Schweiz war es eben bis dato noch nicht soweit. Zusammen mit dem jetzt vorgelegten Gesetz zum Zweiten Zusatzabkommen wird erstmals eine solche sichere Rechtsnorm geschaffen, die die Behandlung der Bürger beider Staaten jeweils im Gastland sicherstellt. Sie bringt Klarheit bezüglich der juristischen Grauzone, die es vor dem Gesundheits-Reformgesetz gab und die durch eine klare Abgrenzung zwischen Sachleistungs- und Kostenerstattungsprinzip nunmehr sichtbar wurde.Der materielle Gehalt des Gesetzes zum Abkommen stellt die Absicherung der Bürger bereits vor Abschluß des Gesamtverfahrens sicher. — Sie müssen mir schon einmal etwas zuhören, damit Sie den wahren Gehalt jetzt einmal kennenlernen, wenn Sie das schon nicht richtig gelesen haben. —
Denn mit dem Inkrafttreten des Abkommens selbst kann voraussichtlich erst im Frühjahr nächsten Jahres gerechnet werden.Bei der CDU/CSU haben sich vor allem die Kollegen Hans-Peter Repnik und Werner Dörflinger für eine Anwendung der Vorschriften bereits ab Jahresbeginn 1989 verwendet. Dieses Ziel ist durch die Rückwirkungsklausel auch erreicht worden. Soweit nicht schon jetzt nach den vorgesehenen Vorschriften verfahren wird, können eventuell bezahlte Rechnungen nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Kostenerstattung eingereicht werden.Es ist geradezu lächerlich, wenn Sie hier darstellen, der Versicherte müsse zwölf Monate zahlen, genieße aber nur elf Monate Versicherungsschutz. Dann müßten Sie ja auch sagen, daß es ungerecht ist, wenn jemand, der zwölf Monate Miete zu zahlen hat und einen Monat in Urlaub fährt, trotzdem die Miete weiterzahlen muß. Das liegt doch auf der gleichen Wellenlänge. Deswegen ist dies doch überhaupt kein Argument.Ich möchte Ihnen auch noch etwas dazu sagen. Niemand ist gezwungen, im Ausland Urlaub zu machen. Ich empfehle z. B. die Landkreise Calw und Freudenstadt im Schwarzwald. Auch dort kann man ganz gut Urlaub machen.
Meine Damen und Herren, zwischen den Deutschen und den Schweizern herrscht entlang des Rheins und im Dreiländereck eine enge Bindung, die nicht durch Kirchturmsdenken, sondern durch Weltoffenheit geprägt ist. Ausdruck dieser guten nachbarschaftlichen Verbindungen ist auch, daß unsere Bürger in das näherliegende Krankenhaus nach Basel gehen, daß sie zur ambulanten Behandlung die Schweizer Ärzte aufsuchen und daß z. B. der Schweizer Unfallrettungsdienst natürlich den gesamten südlichen Schwarzwald bedient. Deswegen ist es für dieBürger sehr wichtig, daß es die spezielle Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 b des Gesetzes gibt, der diejenigen Bürger schützt, die nicht zu den deutschen Arbeitnehmern in der Schweiz, nicht zu den Grenzgängern und auch nicht zu den Urlaubern gehören. Voraussetzung ist allerdings die vorherige Zustimmung der jeweiligen Krankenkasse, die in bestimmten Fällen auch nachträglich erteilt werden kann.Insgesamt — darauf sind Sie in Ihrer Rede überhaupt nicht eingegangen — hebt das Abkommen die Sachleistungsaushilfe für unsere Bürger auf das Niveau der EG-Richtlinie 1408, die bereits seit 1971 gilt und die ganz selbstverständlich internationaler Standard in diesen Fragen ist, so daß ich einfach nicht begreife, daß Sie hier für die Schweiz eine Sonderregelung möchten.Für die CDU/CSU bedanke ich mich bei der Bundesregierung, daß durch dieses Abkommen der gutnachbarschaftliche Kontakt auch auf dem Gebiet der sozialen Sicherung gefestigt wird.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Thomae.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Einbeziehung der Krankenversicherung in das Sozialversicherungsabkommen mit der Schweiz bringt für die Bewohner der grenznahen Orte in Baden-Württemberg und für die Urlauber mehr Sicherheit. Um dieses Abkommen hat sich die Bundesrepublik viele Jahre bemüht. Dieses Mehr an sozialer Sicherheit, das wir schaffen, wird unverständlicherweise von der SPD kritisiert.
— Sie, wenn man Ihre Argumente hört. — Dafür haben sicherlich die Bürger in diesen grenznahen Regionen und die Urlauber wenig Verständnis.Durch dieses Abkommen wird für die Übernahme von Behandlungskosten in der Schweiz eine klare Grundlage geschaffen. Natürlich wäre es uns lieber gewesen, wir hätten dieses Abkommen schon zum 1. Januar 1989 geschaffen. Aber zu internationalen Vereinbarungen gehören nun einmal zwei Partner. Das hat im Grunde genommen mit dem Gesundheits-Reformgesetz zunächst gar nichts zu tun. Hier geht es um wichtige soziale Belange für den grenznahen Bereich. Die SPD, meine ich, sollte aufhören, mit den sozialen Belangen der Bürger ihre Verleumdungskampagne gegen das Gesundheits-Reformgesetz zu schüren.
Daß die Leistungen der Krankenversicherung mit dem Gesundheits-Reformgesetz auf das Bundesgebiet und auf die Länder mit dem Sozialabkommen im Grundsatz begrenzt wurden, war notwendig, um die Solidargemeinschaft vor der Ausbeutung zu schützen. Wir haben gemeinsam mit Millionen von Beitragszahlern jedenfalls kein Verständnis dafür, wenn die gesetzliche Krankenversicherung teilweise für dubiose
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Dr. ThomaeRechnungen, wie beispielsweise aus Fernost oder sonst woher, weiter in Anspruch genommen wird.
— Wenn die SPD das anders sieht, dann muß ich Ihnen sagen, daß Sie sehr leichtfertig mit den Beiträgen umgehen.
Wer sich außerhalb des Bundesgebiets bzw. außerhalb der Länder begibt, mit denen Sozialabkommen bestehen, dem muß und kann auch zugemutet werden, selbst für ausreichenden Krankenversicherungsschutz zu sorgen. Es ist nicht einzusehen, daß die Solidargemeinschaft für Risiken aufkommt, die jeder zumutbar und eigenverantwortlich durch private Versicherungen abdecken kann.
Die privaten Krankenversicherer haben auf diese Klarstellung im Gesundheits-Reformgesetz reagiert und haben neue Tarife angeboten. Vorerkrankungen, meine Damen und Herren, wurden dabei weitestgehend einbezogen. In Fällen, wo es ein nicht versicherbares Restrisiko gibt, wird auch in Zukunft die gesetzliche Krankenversicherung aufkommen. Jedermann kann sich damit vor Risiken schützen
natürlich — und ins Ausland reisen, auch der Dialyse-patient.Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, den Begleittext dieses Zusatzabkommens nachzulesen, dann werden Sie feststellen müssen, daß die Schweizer wie viele Bürger in der Europäischen Gemeinschaft bei weitem keinen so umfassenden Krankenversicherungsschutz genießen wie unsere Bürger.
Wir werden jedenfalls mit unserer Politik der Konsolidierung und der Stabilisierung und dem wirtschaftlichen Aufschwung gerade im sozialen Bereich
die entscheidenden Grundlagen für die Zukunft des deutschen Krankenversicherungssystems legen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich komme nun zur Abstimmung und rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Zur Verbesserung der kulturellen Lage der Deutschen in der Sowjetunion
— Drucksache 11/4755 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. — Das Haus ist einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Sielaff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundestag hat sich wiederholt über die Situation der Deutschen in Ost- und Südosteuropa unterhalten und darüber diskutiert. Wir Sozialdemokraten pflegen die Kontakte zu diesen Menschen, insbesondere zu den Menschen in der Sowjetunion, seit längerem.Wir freuen uns deshalb, daß durch den heutigen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen, der durch eine Initiative der SPD-Fraktion zustande kam, konkrete Schritte zur weiteren Verbesserung der Situation der Deutschen in der Sowjetunion eingeleitet werden könnten.Im Oktober 1987 haben die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Ungarischen Volksrepublik ein Abkommen zur Förderung der deutschen Nationalität und der deutschen Sprache in Ungarn abgeschlossen. In ähnlicher Weise hoffen wir auf Vereinbarungen mit der Sowjetunion. Denn, meine Damen und Herren, bis zum Jahre 1964 waren die Deutschen in der UdSSR als Nationalität ohne Rechte und größtenteils diskriminiert. Sie lebten viele Jahre im Status der Verbannten. Eine ganze Generation Deutscher in der Sowjetunion lebte ohne Möglichkeit, die deutsche Sprache und Kultur zu pflegen. Das hat Auswirkungen bis in unsere Tage hinein.
Erst seit 1964 hat sich die offizielle Einstellung zu den Deutschen in der Sowjetunion geändert. Vor nunmehr 25 Jahren erklärte und bekannte die Regierung, daß das Vorgehen gegen die deutsche Minderheit falsch gewesen war. Die Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen in der UdSSR ist heute glücklicherweise in vollem Gange.Zunächst zögerlich setzten sich der Wille und auch der Mut der Deutschstämmigen durch, die eigene Kultur zu retten, zu bewahren und auch zu beleben. Aber in den letzten Jahren hat sich die Situation der Deutschen in der Sowjetunion wesentlich verbessert. Die Menschen sind unter Gorbatschow selbstbewußter geworden. Heute wird in den Regionen, in denen viele Deutsche leben, die deutsche Sprache in den Schulen vermehrt unterrichtet; sogar im Kindergarten werden deutschsprachige Gruppen gebildet. Aber: Es fehlt an didaktischem Material für diesen deutschsprachigen Unterricht. Für die Kulturgruppen, Schulen- und Kindergartengruppen fehlen Schallplatten und Bänder mit deutschen Volksliedern, Folklore und anderem. Der Austausch von Literatur und die Verbesserung des Zugangs zu deutscher Literatur aus der
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11546 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
SielaffBundesrepublik Deutschland werden von vielen Deutschen in der Sowjetunion erhofft. Im Religionsunterricht benötigen die christlichen Gruppen insbesondere zweisprachige — in Russisch und Deutsch — Katechismen und Gesangbücher.Es gibt inzwischen die Gründungen von „Clubs der Deutschen" und die Einrichtung deutscher Cafés als Treffpunkte. Auch dort werden Deutschkurse für Erwachsene, die nicht auf die Deutschen beschränkt bleiben, vermehrt angeboten. Aber auch dort fehlen dringend benötigte Unterrichtsmaterialien.Die Vorbereitung eines neuen Gesetzes zur Gewissensfreiheit, eines Religionsgesetzes, und die Diskussion darum haben schon jetzt viele neue Möglichkeiten für die religiösen Gemeinschaften gebracht. Da gerade die religiöse Gemeinschaft vielfach das Bindeglied zwischen den Deutschen in der Sowjetunion war und dort noch die deutsche Sprache gepflegt wurde, kommt der Verabschiedung dieses neuen Gesetzes große Bedeutung auch für die Deutschen zu.
Religiöse Kindererziehung, seelsorgerische Tätigkeit — auch in staatlichen Einrichtungen — , Ausbildung von Pfarrern und Predigern, auch in deutscher Sprache, der Muttersprache, sind jetzt möglich und werden bereits praktiziert. Im Einvernehmen mit den ökumenischen und kirchlichen Einrichtungen sollten wir auch hier überlegen, wie Hilfestellung zur Weiterentwicklung dieser Möglichkeiten geleistet werden kann, zumal es jetzt auch einen Bischof für die Lutherische Gemeinde der Deutschen mit Sitz in Riga gibt.Besuche von Verwandten, aber auch von Freunden aus der Sowjetunion zu uns sind neuerdings sogar als Gruppenreisen möglich. Schulpartnerschaften entstehen und brauchen stärkere — auch finanzielle — Unterstützung. Da die deutschen Gemeinden nicht in Rußland oder im europäischen Teil der Sowjetunion liegen, sondern vorwiegend im asiatischen Teil, fast 6 000 km von hier entfernt, sind diese Besuchs- und Austauschreisen mit wesentlich höheren Kosten verbunden als Reisen nach Moskau, Leningrad oder Kiew. Besondere Mittel zur Förderung dieser Fahrten wären dringend notwendig. Dies sollte einheitlich und nicht allein auf Länderebene geregelt werden.
Aber diese notwendigen Maßnahmen reichen nicht aus; denn wir müssen von einer differenzierten Situation der Deutschen in der UdSSR ausgehen. Wer in Alma Ata oder in einigen Dörfern Kasachstans oder Kirgisiens lebt, findet mehr Möglichkeiten als derjenige, der in einer Stadt oder einem Dorf mit wenigen verstreuten Deutschen lebt. Deshalb ist die Schaffung einer autonomen Republik oder Region von so großer Wichtigkeit für viele Deutsche. Wir können nur an die Verantwortlichen in der Sowjetunion appellieren, die Hoffnung vieler Deutscher auf diese autonome Republik nicht zu enttäuschen, sondern nach Möglichkeit zu erfüllen.
Auch bei der Schaffung einer eigenen Republik oder Region werden viele Deutsche in ihren jetzigen Wohngebieten bleiben, gerade dort, wo sie als geschlossene Gruppen leben. Aber für die anderen, für die Zerstreuten, würden gleiche Möglichkeiten zur Pflege der deutschen Kultur geschaffen werden. Es wäre die Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands für die Deutschen und ein Stück Wiedergutmachung an der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion.Hilfen von uns, meine Damen und Herren, dürfen und sollen sich gegen niemanden richten. Hilfen dürfen sich auch nicht auf Deutsche beschränken; andere Nationalitäten müssen mit einbezogen sein. Wir müssen mithelfen, daß das friedliche Nebeneinander von Kirgisen, Kasachen, Usbeken, Russen und Deutschen nicht gestört, sondern gestärkt wird. Aber unsere Hilfen sollten schnell in Gang gesetzt werden. Ich habe den Eindruck: Die sowjetischen Behörden werden derartige Bemühungen unterstützen.Mit unseren Hilfen wird der Aussiedlerstrom sicherlich nicht gebremst werden. Wir haben die individuelle Entscheidung auch nicht zu bewerten, aber eines stimmt auch: Jede neue Aussiedlung verschlechtert in vielen Regionen die Situation der zurückbleibenden Deutschen.Meine Damen und Herren, ich möchte mit einem Erlebnis vom Donnerstag vergangener Woche enden. Da kommt plötzlich mein christlicher Freund aus Kirgisien, Dekan einer Gemeinde, die sich aus Russen, Kirgisen, Deutschen und anderen zusammensetzt, in die Bundesrepublik Deutschland zu Besuch. Er schildert mir, wie schwierig es zur Zeit ist, aus dem fernen Kirgisien bei der deutschen Botschaft in Moskau ein Visum zu erhalten, wie unwürdig die Schlange der Anstehenden sei und wie die Botschaft mit der Arbeit fast überfordert sei.Ich meine: Wenn wir die Besuchsmöglichkeiten erweitern wollen, dann müssen wir die deutsche Botschaft auch in die Lage versetzen, die Visaanträge in angemessener Zeit zu bearbeiten.
Er schildert aber auch seine Eindrücke — er ist zum erstenmal im Westen — : Ich hatte Angst vor diesem Besuch. Ich hatte gehört und geglaubt, die Deutschen hier seien gegen die Russen, gegen Fremde, gegen Aussiedler. Jetzt merke ich: Das ist nicht der Fall, alle sind freundlich und helfen mir, wo ich Hilfe benötige. Ich sehe auch, daß meine Landsleute, die in die Bundesrepublik ausgesiedelt sind, viel Hilfe erhalten. Das will ich meiner Gemeinde berichten, davon will ich erzählen.Auch dieses sagte mein Freund aus Kirgisien: Mir fiel auf, wie überall in der Bundesrepublik versucht wird, Bäume zu erhalten und neu anzupflanzen. Grünanlagen werden gepflegt, Abfall wirft man nicht einfach in die Gegend. Das müssen meine Landsleute auch wissen. Für sie ist der Umweltschutz noch nicht so im Bewußtsein. Die Besuche bei euch sind wichtig, sie bauen Vorurteile ab und dienen dem Frieden.Der Besucher zitierte ein kirgisisches Sprichwort, um die Wichtigkeit der gegenseitigen Besuche und
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SielaffKontakte herauszustellen. Er sagte: Lieber einmal sehen als hundertmal hören.Ich hoffe, daß dieser Antrag dazu beiträgt, daß wir uns häufiger sehen und nicht nur hören.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Czaja.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Initiative, noch mehr kulturelle Hilfen für die Rußlanddeutschen in der Heimat auch im Bundestag zu fordern und zur Diskussion zu stellen, ist lobenswert. Im Auswärtigen Ausschuß müssen wir mit unserer Regierung darüber sprechen, was schon geschieht und was praktisch geschehen kann. Dort müssen auch noch einige Hinweise aus der Begründung korrigiert werden.
Meine Damen und Herren, wir können uns bei den Bemühungen auf die Rechtsverpflichtungen des Politischen UN-Menschenrechtspaktes, insbesondere auf seinen Art. 27, berufen, der seit 1976 auch zwischen der Sowjetunion und uns geltendes Recht ist. Danach kann in Umfang und Inhalt abgesprochene Hilfe nie Einmischung sein. Nach der KSZE-Schlußakte sind auch Minderheiten in die gegenseitigen, bereits bestehenden Kulturbeziehungen einzubeziehen.
Es geht vorerst um einfachstes kulturelles Schriftgut, um Fibeln, um Gesangbücher, um Bibeln, die sehr gefragt sind, auch um Märchen und um leichte belletristische Literatur. Natürlich gilt es auch, die Rußlanddeutschen in den Studentenaustausch, in die Managementausbildung und in die Besuche von Wissenschaftlern und Journalisten einzubeziehen.
Die sowjetische Volkszählung hat 2 Millionen Deutsche ausgewiesen. Meine Damen und Herren, jahrzehntelang haben diese Schwerstes erduldet. Im 18. Jahrhundert als Bauern und Handwerker ins Land gerufen; später dem Entzug von Privilegien unterworfen; 1924 dennoch eine Autonome Wolgadeutsche Republik; 3 000 zuerst blühende Gemeinden dort, aber auch auf der Krim, im Kaukasus und am östlichen Dnjepr; dann schreckliche Hungerjahre; völlig abgeschottet gegen die braune Verführung; dennoch im August/September 1941 in Massen deportiert in kürzester Zeit; in äußersten Ostprovinzen 15 Jahre interniert auf engstem Raum; Männer, Frauen und Halbwüchsige in schwerster Zwangsarbeit. 1945/46 kamen noch eine Viertelmillion Rußlanddeutsche aus dem Westen hinzu, die 1941 von der Wehrmacht überrollt und später nach dem Westen gekommen waren. 1956 Teilrehabilitierung; 1964 Rücknahme der Beschuldigungen durch den Obersten Sowjet, daß man Landesverrat versucht habe oder dies gedroht habe; aber keine Möglichkeiten der Rückkehr in die alten Wohnsitze; bis vor kurzem kaum muttersprachlicher Unterricht, jahrzehntelang keine freie Religionsausübung, wenig Zeitungen und Theater; also Isolierung der Deutschen. Viele Großmütter haben ihren Enkeln deutsche Dialekte vermittelt. Zum Wandel, der Perestroika gehört es auch, überall die Wahrheit kundzutun, auch in bezug auf diese Deutschen.
Viele drängten angesichts dieser Situation heraus. Unter Adenauer gab es das Repatriierungsabkommen, in das auch einige Rußlanddeutsche hineinrutschten. Von 1960 bis 1970 waren die Aussiedlerzahlen gering; 1971 stiegen sie an. Der Höhepunkt war 1976/77 mit 9 200 Aussiedlern. Dann ging es bis auf 460 Aussiedler im Jahre 1985 zurück. 1988 aber waren es 47 000. 1989 steigt diese Zahl.
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanzler hat sich sehr bemüht, für diese Deutschen in der Heimat mehr Entfaltung ihrer Eigenart zu erreichen, beim ersten Besuch in Moskau, aber auch jetzt gegenüber Gorbatschow.
Die Sowjetunion sieht immer mehr, daß es nicht gut ist, zu viele von diesen leistungswilligen und -fähigen Menschen, die noch in Großfamilien zusammenhalten, zu verlieren. Ob es wieder ein kulturelles Zentrum an der Wolga oder nationale Rayons oder etwas anderes gibt, ist von vielem abhängig, auch von den nationalen Spannungen dort, wo die Deutschen leben.
Bei der Hilfe wird es auf die Praxis ankommen. Über sie sollten wir im Auswärtigen Ausschuß eingehend reden. Ich bitte, den Antrag dahin zu überweisen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir GRÜNEN unterstützen den interfraktionellen Antrag zur Verbesserung der kulturellen Lage der deutschen Minderheit in der Sowjetunion. Wir waren und sind immer der Meinung, daß die Angehörigen dieser von hartem Schicksal getroffenen Minderheit, wenn sie denn auswandern wollen, zu uns kommen und hier als gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen leben sollen.Wer sich an den Beginn der Debatte, die wir jetzt führen, vor zwei Jahren erinnert, wird auch zugestehen müssen, daß wir schon damals gegenüber der ganz auf Rückkehr dieser Minderheit fixierten Regierung sagten, daß es trotz allem für die zu uns Kommenden in jedem einzelnen Falle eine bittere Entscheidung ist; denn zunächst verlieren sie Heimat, und ob sie hier eine neue finden, ist noch nicht sicher.Gerade deshalb unterstützen wir diesen Antrag, weil er Wünsche derjenigen Deutschen aufnimmt, die in der Sowjetunion bleiben wollen und dort die Möglichkeiten, die sich mit der Reformpolitik eröffnen, nutzen wollen.Wir alle wissen, daß die Frage der Nationalitäten in der Sowjetunion eine der schwierigsten Fragen ist, vor denen die Reformpolitik dort steht.
Angesichts der Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan, zwischen den Minderheiten in Usbekistan und in Georgien ist deutlich, daß es kein Patentrezept zur Lösung der Probleme gibt. Die Wunden, die Stalins verbrecherische Politik den verschiedenen Nationalitäten in der Sowjetunion geschlagen
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11548 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Dr. Lippelt
hat, zu heilen wird eine Aufgabe für mindestens eine Generation sein.Mit großem Interesse verfolgen wir deshalb die Frage, wie das Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalität durch mehr Demokratie, durch Dezentralisierung, durch mehr Rechte für einzelne Republiken neu zu regeln versucht wird, wie dies von vielen Delegierten auf dem Kongreß der Volksdeputierten vorgeschlagen wurde.Es ist nicht unsere Sache, denke ich, zu entscheiden, ob die Wiederherstellung einer autonomen Republik der Deutschen der richtige Weg ist, wo eine solche liegen sollte oder ob ein solcher Weg nicht übergroße neue Probleme mit sich bringen würde.Aber die Pflege der kulturellen Beziehungen, die Pflege der Identität ist gewiß ein Weg der Lösung, der nicht neue Verletzungen bei anderen hervorrufen wird. Hilfe mit Büchern und Kulturaustausch ist sicher eine der unproblematischsten Hilfen, die überhaupt gegeben werden können und deshalb auch gegeben werden müssen.Am Schluß noch zwei Überlegungen.Erstens. Auch für Deutsche in der Sowjetunion, die jetzt mehr Möglichkeiten haben, ihre kulturelle Identität zu pflegen, muß es das Recht geben, in unser Land zu kommen, sich hier eine Zeitlang umzuschauen und dann auch selber zu entscheiden, ob sie nicht sogar wieder zurück wollen. Es wäre deshalb sehr sinnvoll, die Möglichkeit zur Erwerbung einer doppelten Staatsangehörigkeit zu eröffnen. Wir wollen mit der Zustimmung zu diesem Antrag nicht einer Politik Vorschub leisten, die dann in zwei Jahren so aussehen könnte, wie wir es jetzt gegenüber den Polen erleben, mit Visumsbeschränkungen und anderen Formen der Reisehindernisse, die von unserer Seite aufgebaut werden. Gerade heute morgen haben wir hier ja zu unserem großen Bedauern einen ersten Schritt in eine solche Richtung erlebt.Zweitens. Die deutsche Minderheit in der Sowjetunion war unter Stalin sehr schweren Verfolgungen ausgesetzt. Wir unterstützen alles, was die Schicksale dieser Minderheit verbessert. Diese Minderheit hat immer Fürsprecher in der Bundesrepublik. Es gibt viele Minderheiten in der Sowjetunion und viele bedrohte Völker in der ganzen Welt, die solche Anwälte eines Mutterlandes nicht haben. Wir wünschen uns, daß im Geiste der Universalität der Menschenrechte auch diese Menschen, seien es Kurden im Irak oder in der Türkei, Aborigines in Australien oder Indianer in Süd- oder Nordamerika, immer zuverlässige Fürsprecher in diesem Deutschen Bundestag finden mögen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nach dem bisher schon Gesagten möchte ich mich in dieser späten Stunde auf sechs Anmerkungen beschränken. Es handelt sich hier ja um einen gemeinsamen Antrag, den wir noch im einzelnen beraten werden. Ich denke, auch dieseGemeinsamkeit dokumentiert, daß es hier um eine Aufgabe geht, die uns allen sehr am Herzen liegt.Erste Bemerkung: Wir möchten Ihnen, Herr Kollege Sielaff, und Ihrer Fraktion für diese Initiative herzlich danken. Ich glaube, Sie waren der erste aus unserer Runde, der uns durch intensive Besuche anschaulich gemacht hat, wie die Lage der Deutschen, die in Rußland leben, tatsächlich aussieht, welche wunderbaren menschlichen Erfahrungen Sie dort gemacht haben, und der uns alle angespornt hat, ebenfalls solche Erfahrungen zu machen, zumindest das zu unterstützen, was Sie uns vorschlagen. Vielen Dank.Zweitens. Wir unterstützen die Anregungen, die in dem Entwurf zur Zusammenarbeit, zum Austausch, zur Förderung der deutschen Sprache, zur Religionsausübung und zur kulturellen Betätigung konkret gemacht werden.Dritte Bemerkung: Wir hoffen, daß es alsbald zu bilateralen Verhandlungen und auch zu Ergebnissen kommt. Wir unterstützen den Gedanken vom Modell Ungarn, wie wir dort die Zusammenarbeit und Förderung geregelt haben. In den Tischreden anläßlich des Gorbatschow-Besuches ist das Thema immer wieder angesprochen worden. Ich denke, daß es damit vorangehen wird. Wir jedenfalls werden darauf dringen.Der Entwurf für ein Nationalitätengesetz der Sowjetunion läßt hoffen, daß auch von der rechtlichen Seite hier die deutsche Minderheit, die nur an 14. Stelle unter den etwa 100 Minderheiten liegt — wenn ich mir das richtig gemerkt habe, Herr Kollege Sielaff — , ihren legalen Status erhalten kann, daß das Gesetz für Gewissensfreiheit die Religionsausübung endlich auch absichern wird, daß auch diese beiden innersowjetischen Gesetze dazu beitragen werden, daß sich die ethnische Problematik bald entschärft.Die vierte Bemerkung, die ich machen will, bezieht sich auf die Überlegungen der Deutschen, die Gründung von Klubs und das Ziel einer autonomen Region oder gar eines autonomen Staates. Man wird sehen, wie sich das weiterentwickelt.Ich glaube nicht, daß der weit verbreitete Wunsch, in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, dadurch ganz gestillt werden kann. Aber es könnte mit unserer Hilfe ein wichtiger Beitrag sein, daß möglichst viele in ihrer angestammten Heimat bleiben und durch Reisen, Besuche und Begegnungen dennoch das Gefühl bekommen, daß sie hier willkommen sind und wir uns ihnen zugehörig fühlen.
Die fünfte Bemerkung bezieht sich auf die Kulturbeziehungen zur Sowjetunion, die in den letzten zwei Jahren einen sehr erfreulichen Aufschwung genommen haben. Man sollte alsbald solche besonderen Programme mit einbeziehen.Wir müssen uns darüber klar sein — das ist die sechste Bemerkung —, daß wir über die Finanzierung unseres stattlichen Wunschzettels, den wir mit dem Antrag vorlegen, auch im Ausschuß reden müssen. Hier liegen nämlich meine Hauptbesorgnisse, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben heute im Unteraus-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989 11549
Frau Dr. Hamm-Brücherschuß für auswärtige Kulturpolitik festgestellt, Herr Staatsminister, daß die vorgesehene Steigerungsrate im gesamten Kulturhaushalt für 1990 nur 1,9 % beträgt und daß die Schere zwischen den außenpolitischen Ankündigungen bei Staatsbesuchen und den finanziellen Möglichkeiten bei der Verwirklichung solcher Ankündigungen offenkundig leider immer weiter öffnet. Wenn wir ein Programm für die Kulturbeziehungen zu unseren deutschen Landsleuten in der Sowjetunion machen wollen, dann, so meine ich, wird es entscheidend darauf ankommen, daß wir es auch finanzieren können. Hierbei möchten wir Sie, Herr Staatsminister, bei den bevorstehenden Haushaltsberatungen ausdrücklich unterstützen.
Vielleicht können Sie nachher noch ein paar Worte zu dieser sehr wichtigen Thematik sagen.Vielen Dank.
Herr Staatsminister Schäfer, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt jede parlamentarische Initiative, die ihre Bemühungen um Bewahrung kultureller Traditionen von deutschen Minderheiten stützt.So hat die interfraktionelle Übereinstimmung bezüglich der Nützlichkeit von Förderungsmaßnahmen zugunsten der Ungarndeutschen dazu beigetragen, daß ein großzügiges und erfolgreiches Programm für diese Minderheitengruppe aufgelegt werden konnte.Mit der Sowjetunion sind wir leider noch nicht so weit. Zwar haben der Bundeskanzler sowohl im Oktober letzten Jahres in Moskau als auch letzte Woche in Bonn gegenüber Generalsekretär Gorbatschow und der Bundesminister des Auswärtigen bei mehrfachen Treffen mit Außenminister Schewardnadse auf die Notwendigkeit der Bewahrung kultureller Traditionen der Sowjetdeutschen hingewiesen und Zusammenarbeit angeboten. Es hat daraufhin auch erste Gespräche auf Arbeitsebene gegeben, nämlich in der deutsch-sowjetischen Arbeitsgruppe für humanitäre Fragen und in der gemischten Kulturkommission. Wir haben dabei konkrete Vorschläge gemacht, die sich an unserem Ungarnprogramm orientierten und bei denen Maßnahmen der sprachlichen Aus- und Fortbildung im Vordergrund standen.Die sowjetische Seite hat diese Vorschläge entgegengenommen, uns jedoch unmißverständlich wissen lassen, und zwar auf allen Ebenen, meine Damen und Herren, daß es für offizielle Verhandlungen oder förmliche Vereinbarungen über Förderungsmaßnahmen durch uns zu früh sei. Sie müsse jede Einflußnahme von außen so lange vermeiden, wie die gesamte Minderheitenproblematik — nicht nur die Zukunft der deutschen Minderheit — innenpolitisch ungelöst und sogar heftig umstritten ist. Man erwartet eine erste Klärung frühestens von einem Sonderplenum des Zentralkomitees, das voraussichtlich im Juli stattfinden wird.In der Zwischenzeit, Frau Kollegin Hamm-Brücher, sind wir darauf angewiesen, durch pragmatisches Vorgehen dort zu helfen, wo es keiner förmlichen Zustimmung der Sowjetregierung bedarf
bzw. wo sie unsere Unterstützung stillschweigend toleriert. Wir versuchen, diese Marge so weit wie möglich auszunutzen. So haben wir in den letzten beiden Jahren z. B. einige Aus- und Fortbildungsmaßnahmen, diverse Buch-, Kassetten- und Gerätespenden sowie die eine oder andere Begegnungsveranstaltung ermöglichen können.Ich darf in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß ich in einem Gespräch, das ich vor einigen Monaten mit dem Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche und dem zuständigen Vertreter der evangelischen Kirche geführt habe, habe erfahren können, daß die orthodoxe Kirche im Augenblick dabei ist, ein Projekt der evangelischen Kirche, der EKD, zu unterstützen, nämlich deutsche Bibeln über die orthodoxe Kirche in die Sowjetunion zu bringen.Um auf unser vordringliches Anliegen, nämlich die Förderung der Sprachausbildung für Deutsch als Muttersprache, vorbereitet zu sein, veranstalten wir im Auswärtigen Amt im nächsten Monat eine Arbeitstagung mit Wissenschaftlern und Praktikern zur Erarbeitung einer auf die Situation in der Sowjetunion zugeschnittenen Projektplanung. In der zweiten Jahreshälfte 1989 unterstützen wir drei größere Vorhaben, so die erstmalige Entsendung eines Lektors nach Alma Ata, der Hauptstadt von Kasachstan, in der noch vor Herrn Sielaff — das muß ich hier sagen und damit Sie, Frau Kollegin Hamm-Brücher, verbessern — die deutschsowjetische Parlamentariergruppe unter meiner Führung war; das war einige Jahre vorher.
Ich sage das, damit hier auch die Verdienste einer früheren Gesellschaft nicht zu kurz kommen. Es waren ja Vertreter aller Fraktionen dabei. Der einzige, der uns verließ, bevor wir die Deutschen erreichten, nämlich in Leningrad, war der Vertreter der GRÜNEN-Fraktion, Herr Lippelt, das waren aber nicht Sie.
Er fuhr nicht weiter. Er wurde in die DDR zurückgerufen und hat uns damals im Stich gelassen.
Ich möchte das sagen, damit die Diskussion hier um 22.40 Uhr etwas belebt wird.Meine Damen und Herren, wir sind natürlich sehr froh, daß inzwischen die SPD eine weitere Reise gemacht hat
und daß darüber hinaus Staatssekretär Waffenschmidt schon in Kürze eine solche Reise machen
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11550 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 152. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Juni 1989
Staatsminister Schäferwird, und zwar sogar auf Einladung der Sowjetunion. Wir hatten damals große Schwierigkeiten, Deutsche überhaupt zu treffen. Uns wurden drei Funktionäre vorgeführt. Inzwischen darf man auch weitere Gebiete dieses großen Landes besuchen.Diese drei Vorhaben haben wir für die zweite Jahreshälfte in Aussicht genommen. Bei diesen Vorhaben handelt es sich erstens um die Entsendung eines Lektors nach Alma Ata. Zweitens wollen wir eine deutsche Filmwoche in der Sowjetunion durchführen, von der einige Veranstaltungen auch in Kasachstan stattfinden sollen. Drittens ist ein vierwöchiger Studienaufenthalt des einzigen deutschsprachigen Theaters der Sowjetunion an einer schauspielerischen Lehranstalt in der Bundesrepublik, nämlich in Ulm, vorgesehen.Die Bundesregierung wird in den geschilderten Bemühungen nicht nachlassen und hofft, daß der mit dem Entschließungsantrag zum Ausdruck gekommenen moralischen Unterstützung durch den Deutschen Bundestag die notwendige materielle Hilfe folgt. Das ist nicht immer nur Sache der Bundesregierung. Frau Hamm-Brücher, Sie kennen den Ansatz im Haushalt und das, was daraus geworden ist; wir haben darüber gesprochen.Es liegt an uns allen, solche Ansätze zu verstärken. Ich bin sehr gern bereit, mit Ihnen gemeinsam hier nicht nur Anträge zu beschließen und sie zu begrüßen, sondern auch mitzuhelfen, daß im Haushaltsausschuß die deutsche Kultur vielleicht etwas mehr, als es gelegentlich geschieht, unterstützt wird; denn ich glaube, hier ist doch noch der eine oder andere Nachholbedarf zu befriedigen.Danke schön.
Herr Staatssekretär Dr. Waffenschmidt hat noch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur wenige Bemerkungen.
Ich werde am 3. Juli in die Gebiete reisen, die hier gerade angesprochen worden sind. Ich erachte es für sehr gut, daß mir gerade heute die sowjetische Regierung über unsere Botschaft mitgeteilt hat, daß sie diese Reise in ganz besonderer Weise unterstützen will. Die Schwerpunkte meiner Reise in die UdSSR lagen zunächst in anderen Bereichen unseres Ministeriums; aber die sowjetische Regierung hat gerade diesen Part in den letzten Tagen als besonders wichtig erachtet und mir dies heute noch mitgeteilt. Sie möchte die Kontaktnahme mit den Deutschen in der UdSSR hier besonders unterstützen.
Ich finde es wichtig, daß ich diese Reise auch als der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung machen kann. Damit wird deutlich, daß es unser erstes Ziel ist, die Lage der Menschen, der Deutschen dort, zu verbessern.
Ich freue mich, daß wir gerade heute, d. h. wenige Tage vor meiner Fahrt, diese Debatte führen. Ich habe mir vorgenommen, von dem, was hier von allen Fraktionen in einer guten Übereinstimmung ausgesprochen wurde, den sowjetischen Stellen und auch unseren deutschen Landsleuten dort zu berichten. Ich denke, das ist eine gute Brückenfunktion zum Bau einer Friedensordnung in Europa.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist vorgeschlagen worden, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4755 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Schönen Dank. Das ist so beschlossen.
Wir sind am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. Juni 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.