Protokoll:
7010

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 7

  • date_rangeSitzungsnummer: 10

  • date_rangeDatum: 26. Januar 1973

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 13:42 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag lo. Sitzung Bonn, Freitag, den 26. Januar 1973 Inhalt: Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Wörner (CDU/CSU) 339 A Berkhan, Parl. Staatssekretär (BMVg) 344 D, 357 D Krall (FDP) 349 D Buchstaller (SPD) 351 D Dr. Zimmermann (CDU/CSU) . . 354 B Schmidt (Würgendorf) (SPD) . . 356 D Jung (FDP) 358 B Möllemann (FDP) 360 C Brandt, Bundeskanzler . . . . 361 C Dr. Barzel (CDU/CSU) 369 D Mischnick (FDP) 375 D Wehner (SPD) 379 C Antrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP betr. Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen (Drucksache 7/73) in Verbindung mit Antrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP betr. Einsetzung von Ausschüssen (Drucksache 7/74) und mit Antrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP betr. Einsetzung eines Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (Drucksache 7/75) 380 C Nächste Sitzung 380 D Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 381 A* Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Januar 1973 339 10. Sitzung Bonn, den 26. Januar 1973 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Dr. Achenbach 31. 1. Adams * 26. 1. Dr. Ahrens ** 27. 1. Dr. Aigner * 26. 1. Alber ** 27. 1. Amrehn ** 27. 1. Augstein (Hattingen) 26. 1. Behrendt * 26.1. Biehle 26. 1. Blumenfeld 31. 1. Dr. Burgbacher * 26. 1. Dr. Dollinger 10. 2. Eigen 26. 1. Dr. Enders ** 27. 1. Dr. Evers 26. 1. Flämig * 26. 1. Gerlach (Emsland) * 26. 1. Dr. Glotz 26. 1. Haase 26. 1. Handlos 26. 1. Hösl ** 27. 1. Frau Huber 26. 1. Dr. Jahn (Braunschweig) * 26. 1. Jung ** 27. 1. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Versammlung des Europarates Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete (r) beurlaubt bis einschließlich Kahn-Ackermann ** 27. 1. Dr. Kempfler 26. 1. Dr. h. c. Kiesinger 26. 1. Dr. Klepsch 31. 1. Dr. Kreile 26. 1. Freiherr von Kühlmann-Stumm 26. 1. Graf Lambsdorff 26. 1. Lemmrich ** 27. 1. Logemann 26. 1. Mattick 31. 1. Memmel * 26. 1. Dr. Miltner 2. 2. Dr. Müller (München) ** 27. 1. Pawelczyk ** 27. 1. Richter ** 27. 1. Roser ** 27. 1. Schmidt (Würgendorf) ** 27. 1. Dr. Schulz (Berlin) *1 27. 1. Schwabe * 26. 1. Sieglerschmidt ** 27. 1. Dr. Slotta 2. 2. Solke 26. 1. Spilker 31. 1. Springorum * 26. 1. Stücklen 26. 1. Dr. Todenhoefer 24. 2. Frau Dr. Walz ** 27. 1. Westphal 26. 1. Wienand 31. 1. Frau Will-Feld 24. 2. Wischnewski 31. 1. Wolfram* 26. 1.
Gesamtes Protokol
Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701000000
Die Sitzung ist eröffnet.
Wir kommen zu Punkt 1 der Tagesordnung:
Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat Dr. Wörner.

Dr. Manfred Wörner (CDU):
Rede ID: ID0701000100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch im sicherheitspolitischen Teil der Regierungserklärung sind eine Reihe von allgemeinen Zielsetzungen und politischen Absichtserklärungen enthalten, denen wir zustimmen, weil sie auch die unseren sind. So besteht, das darf ich noch einmal festhalten, Übereinstimmung zwischen Regierung und CDU/CSU in dem Willen, den Frieden zu sichern. Einig sind wir auch im Bekenntnis zur Atlantischen Allianz. Für die in der Regierungserklärung ausgedrückte Absicht, die Bundeswehr präsent und kampfkräftig zu halten, kann die Regierung jederzeit mit unserer Unterstützung rechnen.
Aber auch auf sicherheitspolitischem Gebiet krankt diese Regierungserklärung an zwei Schwächen. Zum einen ist sie auch auf diesem Gebiet bestrebt, ein Bild der Harmonie zu beschwören, aus dem alle die Stellen und unangenehmen Wirklichkeiten nahezu wegretuschiert sind, die in dieses Bild nicht so recht passen wollen. Zum anderen ist die Regierungserklärung auch auf verteidigungspolitischem Gebiet in vielen Punkten vage, unbestimmt und unverbindlich, so daß sie sich weder als Richtschnur noch als Maßstab eignet und im Grunde genommen mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Der Bundeskanzler hat uns in seiner Regierungserklärung Mitteleuropa als eine Landschaft der dauerhaften Entspannung und des gesicherten Friedens geschildert. Da ist die Rede vom gefestigten europäischen Frieden, von der Übereinstimmung mit den Nachbarn; gemeint sind wohl in erster Linie die des Ostens, mit denen die Übereinstimmung niemals vergleichbar gut gewesen sei. Da ist die Rede von der weltweiten Entspannung und vom ansteckenden Friedenswillen. Nur einmal wird dieses harmonische Bild getrübt, als der Kanzler
auf die verstärkte Rüstung im Warschauer Pakt hinweist, um allerdings sogleich sibyllinisch hinzuzufügen, die Bundesregierung ziehe daraus keine vorschnellen Schlüsse. Die Wirklichkeit — ich hoffe, mich diesmal der richtigen Terminologie zu bedienen — ist leider wesentlich schwieriger und für uns unangenehmer.

(Abg. Damm: Sehr wahr!)

Es hätte uns allen, auch unserem Volk, mehr genützt, wenn der Bundeskanzler die Lage auch in diesem Punkt ungeschminkt dargestellt hätte.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es gibt eben unübersehbare Anzeichen dafür, daß sich die Sicherheitslage des Westens, die Sicherheitslage Europas und damit auch die der Bundesrepublik Deutschland eher verschlechtert denn verbessert hat. Wenn man schon auf der einen Seite die Fortschritte der Entspannung darzustellen versucht — das ist legitim und das gute Recht der Regierung —, dann darf man auf der anderen Seite die bedrohlichen Anzeichen, die Alarmzeichen, nicht nahezu unterschlagen. Diese Anzeichen sind — ich muß sie hier aufführen —:
Erstens. Die Überlegenheit des Warschauer Paktes in Mitteleuropa auf konventionellem Gebiet hat sich weiter vergrößert. Die Bedrohung vor allen Dingen an der Nordflanke wird immer augenfälliger, und die Zahl der besorgten Äußerungen, vom englischen Premierminister Heath angefangen über den Generalsekretär der NATO, Luns, bis hin zu einem Fachmann wie General Steinhoff, ist Legion und ließe sich beliebig vermehren.
Zweitens. Die Verteidigungsbereitschaft läßt, auch das ist unverkennbar, in allen Staaten Westeuropas, auch in der Bundesrepublik Deutschland, nach.
Drittens. Die Aufwendungen für Verteidigung gehen in den Ländern Westeuropas, gemessen am Sozialprodukt, zurück, und zwar in einem ständigen Trend, wie uns erst die Wehrstrukturkommission noch einmal in Erinnerung gerufen hat. Daraus ergibt sich in allen Ländern der NATO der Zwang zur Strukturänderung und, sprechen wir es ruhig aus, auch zur Verringerung der Streitkräfte, wie sie einige unserer Nachbarländer vorbereitet oder schon durchgeführt haben. Das geschieht zur gleichen Zeit, in der der Warschauer Pakt und die Sowjetunion weiter, und zwar fortgesetzt weiter aufrüsten.



Dr. Wörner
Angesichts dieser auch Ihnen bekannten Tatsache war das einzige, was Sie dazu zu sagen hatten, daß die Bundesregierung daraus keine vorschnellen Schlüsse ziehen wolle. Mein Kollege Marx hat schon gefragt, welche Schlüsse Sie eigentlich ziehen wollten, wenn nicht vorschnelle Schlüsse. Er hat bis dato keine Antwort erhalten, auch vom Bundesaußenminister nicht. Herr Bundeskanzler, ich darf sie hier noch einmal wiederholen: Welche Schlüsse, wenn schon keine voreiligen, wird die Bundesregierung aus dieser ihr bekannten Tatsache ziehen?
Die NATO — um das zu zitieren — war hier sehr viel offener, als sie noch im Dezember vergangenen Jahres davon sprach, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten ihre militärische Schlagkraft steigerten, wörtlich: „die sowohl der Art als auch dem Umfang nach weit über den durch ausschließlich defensive Zwecke gerechtfertigten Rahmen hinausgeht". Dort ist eine klare Aussage enthalten. Eine ähnlich klare Sprache wäre auch in der Erklärung der Bundesregierung am Platze gewesen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Hier hätten Sie ein klares Wort sagen sollen — Sie hätten sich damit nichts vergeben und nichts verscherzt —, daß nämlich die forcierte Aufrüstung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts sich weder mit Sicherheit noch mit Frieden noch mit Entspannung verträgt

(Beifall bei der CDU/CSU)

und daß wir entschlossen sind, eine solche Art schleichender Kräfteverschiebung nicht hinzunehmen. Gerade wenn an unserem Friedenswillen kein Zweifel erlaubt ist, dann darf eben auch an unserer Entschlossenheit zur Abwehr jeglicher Art von Gewalt oder Drohung mit Gewalt kein Zweifel bestehen.
Sicher ist es unbequem, so etwas auszusprechen. Aber es ist doch ein Gebot der Selbsterhaltung. Denn welche Absicht kann hinter dieser forcierten Aufrüstung der Sowjetunion stecken? Gelten diese forcierten Rüstungsanstrengungen etwa dem Bestreben, den eigenen Machtbereich sicherer in den Griff zu bekommen? Das ist doch ausgeschlossen, denn die bereits dort stationierten Truppen reichen dazu bei weitem aus. Gelten die Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion, das fortlaufende Ausbauen ihres Rüstungspotentials der Verteidigung, der Abwehr einer Bedrohung aus dem Westen? Auch das ist doch ausgeschlossen. Denn offenkundig -- das weiß ja auch die Sowjetunion — gehen die Rüstungsanstrengungen der NATO eher zurück, und die Truppenstärke der NATO in Mitteleuropa ist heute nicht mehr so, wie sie noch vor einigen Jahren war. Wir stellen weder politisch noch militärisch — und das weiß die Sowjetunion — für sie eine Bedrohung dar. Was also bleibt dann als Motiv? Nun, da braucht man nur einmal auf Breschnew oder auf Honecker zu hören, die gerade in letzter Zeit immer wieder, man kann schon sagen, mit einer frappierenden Offenheit darauf hingewiesen haben, daß sich die Mächteverhältnisse, die Kraftverhältnisse in dieser Welt zugunsten des Sozialismus verschoben hätten. Man braucht nur auf diese Stimmen zu hören, um zu wissen, daß
dieser weitere Aufbau der Militärmaschinerie der Sowjetunion — eben nicht defensiven, sondern politisch offensiven Zielen dient.
Nun hat der Herr Bundesaußenminister gesagt, die Sowjetunion wolle den Frieden. Auch wir sind der Auffassung, daß die Sowjetunion und die sowjetischen Führer sicher keinen Krieg wollen. Aber es ist doch unverkennbar, daß hinter dieser Rüstung die Absicht steckt, die politischen Ziele der Sowjetunion mit Hilfe eindeutiger militärischer Überlegenheit durchzusetzen. Gelingt es der Sowjetunion, die Europäer in Sicherheit zu wiegen und gleichzeitig mit den eigenen militärischen Anstrengungen bis zu einem eindeutigen Übergewicht zu kommen, dann bleibt den Staaten Europas nichts anderes übrig, als klein beizugeben und sich den politischen Zielen der Sowjetunion zu beugen.
Diese Ziele sind unschwer zu erkennen. Sie sind — ich darf sie hier noch einmal aufführen —: die europäische Einigung soll unterlaufen werden; die Bande zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika sollen gelockert und Europa langfristig neutralisiert werden; eine europäische Sicherheitsordnung soll an die Stelle der atlantischen Sicherheitsordnung treten.
Warum — das ist unsere Frage —, Herr Bundeskanzler, sprechen Sie diese Ziele nicht mehr offen aus? — Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht sehen Sie sie nicht so wie wir; dann sollten Sie uns das sagen, obwohl uns der Bundesaußenminister in seiner Rede vor dem Parlament vor zwei Tagen bedeutet hat, daß er diese Ziele ähnlich sehe. Oder Sie nehmen diese Ziele nicht so ernst; dann sollten Sie uns sagen, worauf Sie Ihren Optimismus gründen. Wenn Sie sie aber ernst nehmen, warum schweigen Sie dann darüber? Warum überlassen Sie es der Opposition, die Schattenseiten in diesem Bild zu zeichnen, um uns hinterher der Schwarzmalerei zu zeihen?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sollten Sie etwa die Sowjetunion nicht verärgern wollen? Hoffen Sie für Ihre Zurückhaltung auf entsprechendes Entgegenkommen der Sowjetunion? Dann allerdings hätten Sie, wie wir meinen, aus der historischen Erfahrung nichts gelernt, die eben lehrt, daß totalitäre Staaten eine solche Rücksichtnahme eher als Nachgiebigkeit und Schwäche auszulegen pflegen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Lehrt nicht die Geschichte, daß totalitäre Staaten sehr wohl in der Lage und — manchmal sogar schneller als andere — auch bereit sind, ihre Ziele zu ändern, zurückzustecken, aber eben nur dann, wenn sie auf unveränderbare Wirklichkeiten stoßen, die dem entgegenstehen? Haben nicht die letzten drei Jahre deutscher Geschichte gelehrt, daß die Sowjetunion bei allem Entgegenkommen ihr gegenüber nicht ein einziges ihrer wesentlichen Ziele aufgegeben oder geändert hat?
Deswegen: Wir haben keine Angst, wie es Herr Mattick, der heute morgen leider nicht da ist, in der Debatte sagte. Wir sind auch keine Pessimisten, wie es uns der Herr Bundesaußenminister unter-



Dr. Wörner
stellt hat, und schon gar nicht wollen wir hier eine Verteufelung der Sowjetunion betreiben. Wenn Sie uns etwas vorwerfen können, dann doch nur, daß wir eine Weltmacht so zeichnen und so ernst nehmen, wie sie es auf Grund ihrer Macht und ihrer erklärten Absichten verdient.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir glauben, wir haben uns genügend Wirklichkeitssinn bewahrt, um zu wissen, daß eben nur offenes Aussprechen der unterschiedlichen Ziele und Interessen und eine unerschrockene Vertretung des eigenen Standpunkts Kompromisse ermöglicht, die diesen Namen verdienen.
Ganz abgesehen von den innenpolitischen Folgen! Ich frage: Wie will diese Regierung Einsicht und Bereitschaft in unserem Volk wecken, die nötigen Opfer für die Verteidigung zu erbringen, wenn sie nicht mehr von diesen Zielen und von diesen unangenehmen Dingen redet? Muß es uns denn wundern, wenn sich in unserem Volk immer mehr die Auffassung breitmacht, man könne nunmehr die Ausgaben für die äußere Sicherheit kürzen, da wir in eine Periode des Friedens und der Entspannung eingetreten seien? Herr Bundeskanzler, gibt es Ihnen nicht zu denken, daß in Ihrer eigenen Partei zunehmend — selbstverständlich noch nicht von der Mehrheit und selbstverständlich entgegen Ihrer hier in diesem Parlament erklärten Absicht — Anträge gestellt werden — denken Sie an Nordrhein-Westfalen —, die Rüstungsausgaben, wie es heißt, drastisch zu senken, nachdem die Ostpolitik der Bundesregierung nun Wirklichkeit geworden sei? Das muß Ihnen doch zu denken geben! Das zeigt doch, wohin es führt, wenn man das Bild nicht mehr so realistisch zeichnet, wie man das an sich tun müßte.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ist es denn nicht verständlich, wenn immer mehr junge Männer, die den Wehrdienst leisten wollen, fragen, warum und wogegen wir uns eigentlich noch zu verteidigen hätten, wenn Sie kein Wort mehr über die unverkennbaren und auch Ihnen bekannten Zielsetzungen der sowjetischen Politik verlieren? Noch einmal: Es geht gar nicht darum, die Sowjetunion als eine Macht darzustellen, die uns morgen mit Krieg überziehen will. Es geht nur darum, darzustellen, daß es für uns dann, wenn das Mächtegleichgewicht sich verschoben hat, wenn die Sowjetunion ihr Ziel militärischer Überlegenheit erreicht hat, keine Chance mehr gibt, unsere Politik der Entspannung, des Friedens und der Sicherheit weiterzuführen und unsere nationalen Interessen zu behaupten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich sage Ihnen, auch wir wissen, daß es schwierig ist, den Zusammenhang zwischen Entspannung und Verteidigung darzustellen. Das ist gar keine Frage. Niemand erwartet von Ihnen, daß Sie ins andere Extrem verfallen und alles schwarz in schwarz zeichnen. Das wäre sicher genauso falsch. Die Weltpolitik dieser Tage — das ist auch uns bekannt — hat nun einmal ein doppeltes Gesicht. Es gibt sicher echte Chancen für einen allmählichen Interessenausgleich zwischen Ost und West. Es gibt aber auch Risiken und Bedrohungen für den Westen, und diese resultieren — ich sage es noch einmal — aus einem etwaigen Verlust des Mächtegleichgewichts. Das gilt insbesondere, wenn der Westen sich vorschnell in Sicherheit wiegt. Wer der Lage gerecht werden will, muß deshalb beides ausgewogen und im rechten Verhältnis darstellen. Je nüchterner wir den Risiken ins Auge sehen, je entschiedener wir ihnen entgegentreten, desto eher werden wir die Chancen wirklicher Entspannung zu nutzen verstehen. Je mehr die Völker Westeuropas ihre Verteidigung vernachlässigen, desto unsicherer wird der Weg zur Entspannung. Dem eindeutig Unterlegenen bleibt nur noch eine Chance, nämlich die Unterwerfung unter den Machtanspruch des Überlegenen.

(Abg. Dr. Lenz [Bergstraße]: Sehr richtig!)

Darum ist die europäisch-atlantische Solidarität der Eckstein der europäischen Verteidigung, und sie wird dies auch bleiben. Ich will dem nichts hinzusetzen, was in den letzten Tagen — vor allen Dingen vom Kollegen Schröder — gesagt wurde. Ich will nur noch zwei Anmerkungen machen. Die Präsenz der USA darf, wenn sie ihre sicherheitspolitische Aufgabe erfüllen soll, aus politischen wie aus militärischen Gründen nicht auf symbolische Kontingente reduziert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Der strategische Atomschirm der Vereinigten Staaten deckt uns in Westeuropa nur so lange, wie nennenswerte Truppen der USA in unseren Ländern stationiert bleiben.

(Abg. Buchstaller: Nichts Neues! — Gegenruf des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Aber manche haben das inzwischen vergessen!)

— Herr Kollege, Sie müssen sich ein bißchen intelligentere Zwischenrufe einfallen lassen. Wenn ich die Regierungserklärung daran messe, was darin neu ist, so schneidet sie wahrscheinlich wesentlich schlechter ab als alles das, was von uns in diesen Tagen gesagt wurde.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Horn: Die Zwischenrufe passen wir den Reden an!)

Die Präsenz der Vereinigten Staaten — und das ist der zweite Gedanke, den ich hinzufügen will — muß den konventionellen wie den taktisch-nuklearen Bereich umfassen, wenn die Verklammerung mit der strategischen Abschreckung der USA wirksam bleiben soll.
Darauf gilt es — und der Herr Bundeskanzler hat mit Recht darauf hingewiesen — in der zweiten Phase der Abrüstungsgespräche zwischen den USA und der Sowjetunion und auch bei den bevorstehenden Verhandlungen über eine ausgewogene Truppenverminderung in Europa zu achten. Und es gilt, noch eines zu bedenken. Jede einseitige Ausdünnung der Truppenstärke, sei es der Vereinigten Staaten, sei es anderer NATO-Streitkräfte, müßte zur Senkung der atomaren Schwelle führen. Das ist etwas, was viele übersehen, und wäre damit nichts anderes als eine schrittweise Rückkehr zur soge-



Dr. Wörner
nannten massiven Vergeltung. Das aber können wir nicht wollen; das ist für unsere Interessen inakzeptabel, da völlig unglaubwürdig.
Zur Frage der Solidarität ist sehr vieles gesagt worden, auch im Blick auf die Vietnam-Diskussion. Ich will sie nicht aufgreifen, ich will nur auf ein Argument eingehen, das einer der Kollegen der FDP, der Herr Bangemann, gebracht hat, weil es mir entlarvend zu sein scheint und weil es so nicht stehenbleiben kann. Er hat gesagt: Gegen die USA protestieren wir deswegen einseitig, weil es sich hier um eine demokratische Macht handelt, deren Öffentlichkeit wir beeinflussen können, gegen den Vietcong aber deswegen nicht, weil es sich hier um eine Diktatur handelt, die sich nicht öffentlich präsentiert. — Da kann ich nur sagen, wenn das Schule machen sollte, dann bedeutet das, daß mit unserer Hilfe die Moral und das Recht zu einem Instrument der totalitären Staaten gegen demokratische Staaten wird. Das ist untragbar.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich glaube, ich stehe als einer, der lange Zeit eine Stiftung geleitet hat, die humanitäre Projekte in Vietnam jetzt schon durchführt, und zwar ungeachtet der politischen Zugehörigkeit derer, die wir zu betreuen haben, nicht im Verdacht, den Vietnam-Krieg beschönigen oder rechtfertigen oder entschuldigen zu wollen.
Wir warten immer noch auf die Antwort auf die Frage, die der Kollege Schröder gestellt hat, nämlich wie sich die Regierung konkret den weiteren Ausbau des europäischen Pfeilers und der EUROGROUP vorstellt.
Nicht nur die Sicherheitslage, auch die Lage der Bundeswehr ist weit schwieriger, als die Regierungserklärung des Kanzlers erkennen läßt. Dies gilt sicher nicht — ich sagte das bereits an anderer Stelle —, von der Leistungsbereitschaft der Berufs-und Zeitsoldaten und auch eines großen Teils der Wehrpflichtigen, deren Einsatzwille ungebrochen ist. Wir denken hier an die explosionsartig steigenden Kosten von Personal und Material. Wir denken an den anhaltenden Mangel an längerdienenden Zeitsoldaten, an die Verkürzung der Ausbildungszeit für Unteroffiziere und Offiziere, an die Überforderung der Vorgesetzten, an die Umstellung auf 15 Monate, die noch nicht verkraftet ist; wir denken an den veraltenden Kraftfahrzeugpark, an die steigenden Reparaturkosten, an die wachsende Zahl der unerlaubten Entfernungen von der Truppe.
Angesichts dieser Lage scheinen uns folgende Aufgaben vordringlich:
Erstens. Das wichtigste ist zweifelsohne eine Konsolidierung der Finanz- und der Rüstungsplanung. Der Rüstungs- oder, genauer gesagt, Ausrüstungsplan der Bundeswehr muß fortgeschrieben und mit der Finanzplanung in Übereinstimmung gebracht werden. Wir erwarten seine Vorlage im Verteidigungsausschuß zusammen mit der mittelfristigen Finanzplanung. Wir werden darauf achten, und das wird einer der Marksteine sein für die Verteidigungspolitik in dieser Legislaturperiode, daß
wie von der Wehrstrukturkommission zu Recht gefordert, der Investitionsanteil am Verteidigungsetat nicht unter 30 %o fällt, weil davon langfristig eben die auch vom Bundeskanzler angesprochene Kampfkraft der Bundeswehr abhängt.

(Sehr richtig! bei der CDU CSU.)

Zweitens. Wir erwarten die Vorlage der Vorstellungen der Bundesregierung zur Bildugsreform und zur Personalstruktur, die bis heute nicht in geschlossener Form vorliegen. Auch dazu hat der Kanzler nichts Konkretes gesagt. Wir wären dankbar, wenn wir etwas Konkreteres hier hören könnten. Ich sage allerdings, dieses Konzept hat überhaupt nur dann einen Sinn, wenn es finanziell gedeckt ist, und zwar nicht nur für das nächste Jahr, sondern über eine absehbare Zeitperiode, und wenn gleichzeitig damit die Realisierbarkeitsuntersuchungen vorgelegt werden. Das gilt besonders auch von den Bundeswehrhochschulen, wo wir darüber wachen werden, daß erstens das gesamte Ausbildungskonzept verwendungsbezogen bleibt, daß zweitens die Ausbildung der Offiziere und Unteroffiziere zu militärischen Führungspersönlichkeiten nicht zu kurz kommt, daß drittens die Hochschulen nach Lehrkörper, Struktur und Lehrinhalten nicht in Stätten der Systemüberwindung umfunktioniert werden können

(Beifall bei der CDU/CSU)

und daß viertens die Chancengleichheit aller Soldaten gewahrt bleibt, also keine Benachteiligung der Unteroffiziere und der nicht akademisch ausgebildeten Offiziere erfolgt.
Personal- und Bildungsstruktur stehen in engstem Zusammenhang mit der Frage der Wehrstruktur. Das langfristige Schicksal der Bundeswehr hängt von der rechtzeitigen, weil unabweisbar notwendig gewordenen Reform der Wehrstruktur ab. Der Kanzler hat nichts über den Zeitplan gesagt. Wir erhoffen im Laufe dieser Debatte darüber Aufschluß. Uns ist klar, daß es bei der Bedeutung dieser Angelegenheit hier keine unangemessene Hektik geben darf; die Arbeit muß gründlich vorgenommen werden. Dennoch: Wenn die Bundeswehr kampfkräftig bleiben soll, müssen nach unserer Auffassung — und nicht nur nach unserer, sondern auch nach Auffassung der Sachverständigen — die ersten Schritte zur Verwirklichung dieser neuen Wehrstruktur spätestens Ende 1975 getan werden. Das heißt aber, daß davon der Zeitplan für dieses Parlament mit abhängt und Sie eben doch mit einigem Nachdruck hier an die Arbeit gehen müssen. Wir fragen daher, wann wir mit der Vorlage der Stellungnahme der Regierung rechnen können.
Das nächste, was ich ansprechen möchte, ist die Attraktivität des Soldatenberufes. Sie hängt davon ab, wie die Lebensbedingungen des Soldaten sind. Zur Lage der Soldaten hat der Bundeskanzler, im Unterschied zum .Jahre 1969, in seiner Regierungserklärung diesmal nichts gesagt. Wir meinen, daß zur Verbesserung der Lage des Soldaten zunächst einmal die noch nicht eingelösten Versprechen des Weißbuchs eingelöst werden müssen. Dazu gehören die überfälligen Anpassungsmaßnahmen auf dem Besoldungssektor; darunter fällt — um ein weiteres Bei-



Dr. Wörner
spiel herauszugreifen — die Einführung des beruflichen Förderungsplans für alle Soldaten und die Verbesserung der Wohnungsfürsorge und des Kantinenwesens.
Klar ist, daß die Belastungen, die auf die Bundeswehr zukommen, von ihr nur verkraftet werden können, wenn die Bundeswehr in Disziplin und Auftreten überzeugend bleibt, wenn sie von der Gesellschaft anerkannt bleibt und wenn sie von allen demokratischen Parteien getragen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich sage noch einmal: die Bundeswehr ist sicher nicht die Armee einer Partei, sondern die Armee des Staates, und sie darf auch nicht die Armee einer Partei werden; ich sage das mehr als Merkposten. Wir werden vor allen Dingen auch im Bereich der Personalpolitik darauf achten, daß die Bundeswehr und die Soldaten eine Armee dieses Staates und nicht einer Partei bleiben.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Würtz und weiterer Abgeordneter der SPD.)

— Ich sagte das als Merkposten. Herr Würtz, stellen Sie sich einmal vor, Sie wären jetzt an meiner Stelle; Sie würden genau das gleiche sagen; das wissen Sie so gut wie ich. Wir haben alle, glaube ich, die Pflicht -- und das muß nachdrücklich gesagt werden —, die Bundeswehr gegen alle Versuche der Diffamierung in Schutz zu nehmen, und zwar auch — ich kann es auch der Sozialdemokratischen Partei und Teilen der Freien Demokratischen Partei in dieser Aussprache nicht ersparen, zu sagen — gegenüber Kräften in Ihren beiden Parteien. Ich habe ohnehin den Eindruck, daß das Kapitel Verteidigung nicht so sehr ein Problem zwischen Regierung und Opposition werden wird, sondern eher zu einem Problem in den Regierungsparteien selbst.

(Beifall bei .der CDU/CSU.)

Es ist eben unerträglich für uns, und ich glaube, auch fur Sie, wenn nicht wenige Mitglieder der SPD -- und nicht nur Jungsozialisten - draußen im Lande — ich sage das mit Absicht so deutlich — die Verteidigungsbereitschaft massiv untergraben, während Sie hier Worte finden, denen wir voll zustimmen können.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Was nützen allerdings diese Worte, Herr Bundeskanzler, wenn draußen an der Basis die Dinge ins Wanken kommen. Man kann es doch nicht allein der CDU/CSU überlassen,

(Zuruf von der SPD: Nein, Glas kann man wirklich nicht! — Weitere Zurufe von der SPD)

draußen den Kampf um die Bundeswehr und die Verteidigungsbereitschaft zu führen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Flach hat gesagt, es sei nun einmal die Aufgabe der Regierungsparteien — das ist sicher zum Teil richtig -, diese Kräfte der jungen Generation zu integrieren, wir sollten froh darüber sein. Das
gilt aber nur dann, wenn Sie sie nicht gewähren las- sen, sondern wenn Sie sich mit ihnen auseinandersetzen. Das ist es, auf was es ankommt. Deswegen genügen nicht Worte in diesem Parlament, sondern wir warten auf Taten draußen an der Basis und in ihren eigenen Parteien.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir alle wissen, daß letztlich entscheidend für die Frage, ob sich dieses Volk auf die Dauer selbst behaupten kann, der Wille zur Selbstbehauptung bei unseren Bürgern bleibt.
Der Journalist Fack hat recht, wenn er schreibt:
Gute Nachbarschaft nach innen wie nach außen, Zentralmotiv des Politikers Brandt und seines Regierungsprogramms, ist eine edle Sache. Aber der Selbstbehauptungswille nach innen wie nach außen muß dazukommen.
Was kann, was muß hier getan werden? Zunächst
einmal muß die Information über die Bundeswehr
auch an unseren Schulen verbessert werden. Dann
muß sichergestellt werden hier stimmen wir Ihnen
voll zu , daß jeder, der seinen Wehrdienst verweigert, unmittelbar anschließend seinen Ersatzdienst abzuleisten hat.

(Abg. Dr. Lenz [Bergstraße]: Sehr richtig!)

Nur so wird man erreichen können, daß nur der seinen Wehrdienst verweigert, der echte Gewissensgründe hat.

(Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Sie haben das Gesetz kaputtgemacht!)

— Jetzt komme ich auf Sie, Herr Schäfer. Das wollte ich jetzt sowieso ausführen. Ich will es Ihnen deshalb auch gerne noch einmal bestätigen. Sie werden — das wird die Erfahrung sehr schnell zeigen — nicht damit auskommen, nur Plätze im sozialen Bereich heranzuziehen. Das ist und bleibt der Grund, weswegen wir diesem Gesetzentwurf nicht zugestimmt haben.

(Zuruf von der SPD: Sie kennen die Vorlage nicht! Das steht in unserem Vorschlag doch gar nicht drin! — Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Den haben Sie sich gar nicht angeguckt!)

Wie gesagt, ich glaube, daß Sie langfristig nicht umhinkommen werden, auf unseren Vorschlag einer Zusammenfassung der Dienste nach Art. 12 a des Grundgesetzes zurückzugreifen.
Schließlich hängt die Bereitschaft, diesen Staat und seine Ordnung zu verteidigen, davon ab,

(Zuruf von der SPD: Wir kommen darauf zurück!)

ob der junge Wehrpflichtige die Ordnung dieses Staates als gerecht begreift. Wehrungerechtigkeit schafft immer auch Wehrunwilligkeit.
Fest steht allerdings, daß, wie immer die künftige Wehrstruktur aussehen wird, wir nicht — und zwar Jahr für Jahr weniger -- in der Lage sein werden, die volle Zahl der Wehrpflichtigen zur Bundeswehr einzuberufen. Das heißt, daß sich hier ein zunehmend größer werdendes Problem auftut, über das



Dr. Wörner
man eben nicht so leicht hinweggehen kann. Hier müssen wir uns, und zwar rechtzeitig, darüber klar werden, daß dieser Staat Lasten und Pflichten gleichmäßig auf die Schultern aller Bürger verteilen muß. Wir warten auf die Antwort auf die Frage: Wie wollen Sie den Ausgleich vornehmen?
Das auf die Dauer gefährlichste Motiv für den Rückgang des Selbstbehauptungswillens aber ist — mit diesem Gedanken möchte ich schließen —, wenn sich der junge Mensch mit diesem Staat und seiner Ordnung nicht mehr identifizieren will, wenn er die Ordnung dieses Staates nicht mehr als die seine begreift. Wenn diese Strömungen in der jungen Generation vorhanden sind — wir wollen sie nicht dramatisieren, aber wir wollen sie auch nicht verharmlosen und geringschätzen —, dann rührt das — das wollen wir nicht in Richtung auf nur eine Partei sagen — mit daher, daß die demokratischen Kräfte es unterlassen haben — sei es, weil sie die Vorzüge dieses Systems für augenscheinlich hielten, oder sei es, weil sie sich vorwiegend auf die Mängel des Systems oder der Ordnung konzentrierten —, die uns alle verbindenden Grundwerte, die dieses System tragenden Grundwerte sowohl in der Erziehung wie in der politischen Selbstdarstellung deutlich zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wir meinen, hier müßten wir alles daransetzen, um das — besonders in unserem Bildungssystem — zu ändern. Wir müssen alles daransetzen, die uns bei aller politischer Verschiedenheit einigenden Grundwerte sichtbar zu machen und unseren jungen Bürgern an den Schulen und anderswo die Vorzüge unseres Staates und unserer Gesellschaftsordnung nahezubringen, und sollten dort auch den Mut zur Selbstverständlichkeit haben. Das ist das, was uns gelegentlich fehlt.

(Abg. Damm: Sehr gut!)

Es geht nicht um ideologische Gleichschaltung — daß wir uns hier verstehen! Selbstverständlich geht es nur um die Vermittlung grundlegender und einverständlicher Normen unseres Zusammenlebens. Wertepluralismus, zu dem wir uns bekennen, darf nicht mit Wertorientierungslosigkeit oder mit Wertneutralismus verwechselt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das heißt aber, daß wir einem wertenden Vergleich der Gesellschaftssysteme in Ost und West nicht aus dem Weg gehen dürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Recht — ich hoffe, jetzt nicht mißverstanden zu werden, Herr Bundeskanzler — und Unrecht, Freiheit und Unfreiheit müssen beim Namen genannt werden, wenn sich diese elementaren Gegensätze nicht in eine einfache Verschiedenartigkeit der Systeme, womöglich noch unter der Überschrift der Gleichberechtigung, auflösen sollen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es geht auch hier nicht um Schwarzmalerei. Nie-
mand bestreitet, daß dort auch aufgebaut wurde;
und die Leistungen sollen objektiv dargestellt wer-
den. Aber was uns unterscheidet, ist eben nicht nur, daß wir hier soziale Marktwirtschaft und da drüben Sozialismus haben, sondern vor allen Dingen, daß wir hier Demokratie und dort drüben Diktatur haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Nur dann, wenn die jungen Menschen wissen und das nicht in Vergessenheit gerät, daß die freiheitlichere Ordnung und der menschlichere Staat auf dem Spiele stehen, werden unsere jungen Bürger bereit sein, die Pflichten auf sich zu nehmen, die ihnen dieser Staat auferlegt. Ob der Westen die Kraft und die Mittel zu seiner Verteidigung auch in den kommenden Jahren aufbringt, oder ob ihm Wohlleben und Konsum wichtiger sind, wird darüber entscheiden — und darüber müßten wir uns in diesem Haus im klaren sein —, ob Entspannung, Friedenssicherung, Abrüstung bloße Hoffnung und frommer Wunsch bleiben, oder ob ein echter Interessenausgleich mit der Sowjetunion möglich wird.
Darum werden die kommenden Jahre keine bequemen Jahre sein. Es werden Jahre des harten Ringens um Selbstbehauptung nach innen wie nach außen sein. Wenn die Regierung den Mut hat, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten die notwendigen Leistungen von unserem Volk zu fordern, kann sie auf unsere Unterstützung zählen.
Alles in allem läßt uns die Regierungserklärung hoffen, daß es uns gelingt, im Bereich der Verteidigung das Maß an Übereinstimmung zwischen Regierung und Opposition zu erhalten, das die Bundeswehr braucht und das unseren Bürgern ein Leben in Sicherheit möglich macht.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701000200
Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Berkhan.

Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701000300
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich zunächst meinen Minister entschuldigen, der natürlich in dieser Debatte sehr gern selbst zu Ihnen gesprochen hätte. Aber ich rechne auf Ihr Verständnis, daß er der Aufforderung Ihres Kollegen Schröder nachkommt, jede Freundschaft sorgfältig zu pflegen. Das ist auch notwendig in den Stunden, vor denen jetzt der amerikanische Verbündete steht. Sie werden also mit einem Parlamentarischen Staatssekretär vorlieb nehmen müssen.
Ich darf mich jetzt meinem Thema zuwenden.
Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung dient ausschließlich dem Frieden. So hat es der Bundeskanzler, Willy Brandt, in seiner Regierungserklärung vom 18. Januar erneut bekräftigt. Dabei bleibt die Atlantische Allianz Grundlage unserer Sicherheits- und Entspannungspolitik. Ich bin dankbar, daß Herr Schröder das in seiner Rede vermerkt hat, ich habe aber nicht den Eindruck, daß schon bis zu Herrn Wörner ganz durchgedrungen ist, was sein Kollege Schröder gesagt hat; bei ihm klangen zumindest die Untertöne etwas anders.



Parl. Staatssekretär Berkhan
Unsere Hauptaufgabe in der Sicherheitspolitik ist es, durch einen angemessenen Beitrag zum Bündnis die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts mit zu gewährleisten — gemeinsam mit unseren Verbündeten. Dabei können weder wir noch ein anderer Partner oder die anderen Partner gemeinsam die Funktion der Vereinigten Staaten von Amerika im Rahmen des Bündnisses ersetzen. — Dies ist schon ein Teil meiner Antwort auf die Frage, die Herr Marx gestellt hat; ich werde darauf noch einmal zurückkommen.
Amerikanische politische und militärische Präsenz ist für die Bewahrung eines ausgeglichenen Kräfteverhältnisses in Europa unerläßlich.

(Zustimmung bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Dieses Engagement der Vereinigten Staaten in Europa bedeutet schon seit geraumer Zeit nicht nur die Fortdauer und die Erfüllung der durch Kriegseintritt übernommenen Pflichten. Das amerikanische Engagement wird heute auch durch das Ziel, eine stabilere Friedensordnung und damit eine stabilere Friedensordnung in der Welt herzustellen, motiviert.
Die Zukunft des Atlantischen Bündnisses wird entscheidend von der Stärkung des europäischen Pfeilers abhängen. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht, daß die EUROGROUP dafür der realistische Ausgangspunkt ist. Ich weiß mich mit einigen Rednern der Opposition einig darin, daß die EUROGROUP ein erster Ansatz ist, den es weiter zu entwickeln gilt. In der Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der EUROGROUP ist Wichtiges und Wesentliches bereits erreicht worden. Das von den europäischen NATO-Partnern gemeinsam beschlossene Verstärkungsprogramm für die NATO-Verteidigung wie auch die verabschiedeten Grundsätze über Rüstungszusammenarbeit seien hier als Beispiel genannt. Nationale Rüstungsprojekte sollen künftig erst nach Abstimmung in der EUROGROUP in Angriff genommen werden. Die Entwicklung von Kampfpanzern, Kampfflugzeugen und Raketen wird zur Zeit gemeinsam geprüft. Ziel muß eine gemeinsame Entwicklung und eine gemeinsame Beschaffung gleicher Systeme sein.
Die Zusammenarbeit in der EUROGROUP dient aber nicht nur der Festigung des Bündnisses, sondern ermöglicht auch eine bessere Nutzung der ohnehin knappen nationalen Mittel für Zwecke der Sicherheit und Verteidigung. Das bisher Erreichte berechtigt uns nicht zu einer Europa-Euphorie; für die eitere Arbeit muß gelten, daß sich die europäische Verteidigungszusammenarbeit in zwei Richtungen zu vollziehen hat. Die erste Richtung: Der Rahmen der Atlantischen Allianz, der Rahmen des Atlantischen Bündnisses darf nicht aufgegeben werden. Und die zweite Richtung: Unsere Verteidigungszusammenarbeit muß stets Teil unserer Bemühungen bleiben, eine politische Union Westeuropas auf pragmatischem Wege immer weiter fortzuentwickeln.
Wir müssen uns darüber klar bleiben, daß die Bereitschaft Amerikas, sich für eine internationale Struktur des Friedens auch in Europa zu engagieren und zu binden, stets voraussetzt, daß wir bereit sind, das uns Mögliche für die Sicherheit und für die Verteidigung Europas zu tun — das uns Mögliche, Herr Wörner! Das Wünschbare wird immer über das Mögliche hinausgehen.
In der vor uns liegenden Phase der internationalen Beziehungen wird es auf das Zusammenwirken aller Bündnispartner ankommen. Herr Außenminister Scheel hat hier von dieser Stelle zu Ihnen darüber gesprochen, und ich kann mich auf einige wenige Bemerkungen beschränken.
KSZE und MBFR sind ernste Prüfsteine für die Funktionstüchtigkeit des westlichen Verteidigungsbündnisses und für die Bereitschaft, Entspannung auf der Grundlage von unverminderter Sicherheit weiter zu konkretisieren. Sowohl bei einer KSZE wie auch bei Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa gilt, daß der Westen nur dann befriedigende Ergebnisse erzielen kann, wenn die Solidarität der Bündnispartner gewahrt bleibt.
Für unsere Sicherheit könnte Gefahr entstehen, wenn die Notwendigkeit für diese Solidarität der westlichen Partner nicht gesehen würde. Mangelnde Solidarität schafft immer Platz für Einzelinteressen. Ein glaubwürdiges Bündnis gründet sich aber nicht allein auf die Parallelität von Einzelinteressen, sondern ein glaubwürdiges Bündnis verlangt eine gemeinsame Haltung, die sich aus der Zusammenfassung, aus der Bündelung, aus der Harmonisierung der Einzelinteressen aller Bündnispartner ergibt.
Wir müssen vermeiden, daß bei uns der Eindruck größerer Sicherheit entsteht, als durch die tatsächliche Entwicklung der Beziehungen mit unseren östlichen Nachbarn gerechtfertigt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das entspricht dem Interesse unseres Staates, aber auch dem Interesse unseres Bündnisses.
Der Bundeskanzler hat ganz deutlich gemacht, daß die stetige Rüstungsentwicklung im Warschauer Pakt das östliche Gesamtpotential vergrößert hat. Die Bundesregierung zieht daraus für ihre Entspannungsbereitschaft keine vorschnellen Schlüsse.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was für welche denn?)

Aus diesem Satz hat nun Herr Dr. Marx mit einem rethorischen Trick folgendes gemacht. Er hat gesagt: Lassen wir mal das „vorschnell" weg, und kommen wir zu den Entschlüssen! Ich meine, eine solche Manipulation ist nicht erlaubt. Aber er soll hier eine Antwort erhalten.
Die sowjetischen Rüstungsanstrengungen sind natürlich der Bundesregierung, sind natürlich dem Bündnis und den dafür zuständigen Instanzen im Bündnis bekannt. Sie werden von der Allianz weder unterschätzt, noch werden sie überbewertet. Aber sie werden ständig und sorgsam verfolgt und aktenkundig gemacht.



Parl. Staatssekretär Berkhan
Das gemeinsame Konzept der Mitgliedstaaten des nordatlantischen Bündnisses, Verteidigung und Entspannung, sieht eine gleichzeitig die eigene Sicherheit gewährleistende und die Chancen der Entspannung suchende Politik vor. Die Bundesregierung ist mit den Bündnispartnern darin einig, daß Entspannung ohne Sicherheit Leichtsinn wäre. Sie hält daher die Aufrechterhaltung unserer Verteidigungsanstrengungen so lange für erforderlich, wie noch keine befriedigenden sicherheitspolitischen Vereinbarungen in den Verhandlungen mit dem Osten getroffen worden sind. Die Bundesregierung geht bei ihren Überlegungen davon aus: Das militärische Gleichgewicht in Europa darf nicht gestört werden. Sie setzt sich folglich konsequent für die Koordinierung der europäischen Verteidigungsleistungen im Rahmen der EUROGROUP und für die Aufrechterhaltung der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa ein. — Das ist meine Antwort auf die Frage von Herrn Marx.
Es bleibt also zu fragen, ob es richtig ist, daß man ununterbrochen und in aller Öffentlichkeit und vor allem, meine Damen und Herren, immer in der Tonart, wie es hier zeitweise geschieht, über diese Fragen redet. Wir müssen auch dafür sorgen, daß wir uns im Bündnis nicht eines Tages allein finden, daß wir im Bündnis nicht isoliert werden.
Es kommt also darauf an, alles zu vermeiden, was zu Mißverständnissen über unsere Verteidigungsbereitschaft und über unsere Verteidigungsfähigkeit führen könnte. Es kommt aber ebenso darauf an, zu vermeiden, daß der Eindruck entsteht, in der Bundesrepublik werde der Versuch gemacht, auf die alten Schienen des Rollback, des Vorzeigens militärischer Gewalt zurückzukehren.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701000400
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701000500
Bitte schön!

Carl Damm (CDU):
Rede ID: ID0701000600
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich vorstellen, daß es ebenfalls Mißverständnisse hervorrufen kann, wenn die Bundesregierung auch jetzt in ihren Erläuterungen dessen, was der Kanzler wohl mit den vorschnellen Schlüssen gemeint haben könnte, nicht davon spricht, welche Ziele die Sowjetunion mit der übermäßigen Rüstung wohl verfolgen könnte?

(Sehr gut! bei der CDU/CSU. — Abg. van Delden: Insbesondere zur See!)


Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701000700
Herr Kollege Damm, wir sind auf dem Wege zu Verhandlungen, und wenn man auf dem Wege zu Verhandlungen ist, ist es auch notwendig und nützlich, daß man sich in seinen öffentlichen Äußerungen so lange beschränkt, als man nicht im Zugzwang ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Es bleibt abzuwarten, wo wir am Ende dieses Jahres stehen. Sie wissen genausogut wie ich — Sie sind lange genug im Verteidigungsausschuß —, daß wir nichts unterlassen haben, was im Rahmen unserer Finanzen und unserer personellen und industriellen Kraft möglich ist, um unsere Bundeswehr auf einen modernen Stand zu bringen. — Das ist meine Antwort auf Ihre Frage.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701000800
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701000900
Bitte!

Carl Damm (CDU):
Rede ID: ID0701001000
Herr Staatssekretär, würden Sie dann bitte jedenfalls auch öffentlich registrieren, daß die Sowjetunion, die auch mit uns in Verhandlungen steht — es ist ja eine Wechselseitigkeit —, diese Rücksichten nicht nimmt und ihrerseits uns sehr deutlich ungerechtfertigterweise gewisse Ziele unterstellt, auch dieser Bundesregierung, d. h. also, daß wir hier eine Rücksicht nehmen, die der Verhandlungspartner überhaupt nicht nimmt?

Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701001100
Es ist zwar richtig, was Sie jetzt sagen. Aber es bleibt der Tatbestand, Herr Damm, daß wir auch feststellen können, daß es auf der anderen Seite ruhiger wird. Nachdem sie dort in ihrer Öffentlichkeit über Jahre die Aggressivität des NATO-Bündnisses dargestellt haben, haben sie es jetzt schwerer, ihre Öffentlichkeit davon zu über- zeugen, daß es andere Wege der politischen Einigung gibt. Hier jedoch waren wir uns seit langen Jahren darüber im klaren, daß die NATO ausschließlich der Verteidigung dient.
Es wird also darauf ankommen, daß wir bei Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Truppen- und Rüstungsverminderung in Europa darauf achten, daß für beide Seiten Sicherheit auf einem niedrigeren, weniger kostspieligen Gleichgewichtsniveau erreicht wird. Für uns folgt daraus, daß die Glaubwürdigkeit der Abschreckung durch MBFRVereinbarungen nicht vermindert werden darf. Für uns folgt weiterhin, daß die Strategie der flexiblen Reaktion praktikabel bleibt und daß die Vorne-Verteidigung ein Element der NATO-Verteidigung bleiben muß, auf das die Bundesrepublik Deutschland nicht verzichten kann.
Funktionsfähigkeit des westlichen Bündnisses ist eine Voraussetzung für MBFR-Verhandlungen. Das hat der Kanzler, das hat sein Verteidigungsminister, das hat der Außenminister mehrere Male vor diesem Hause und auch sonst vor der Öffentlichkeit gesagt. Dementsprechend können Truppen- und Rüstungsverminderungen nur so erfolgen, daß stets ein die Abschreckung garantierendes Verhältnis zwischen einheimischen und stationierten verbündeten Streitkräften erhalten bleibt.
Darüber hinaus muß die Struktur unserer eigenen Streitkräfte auch nach MBFR-Verhandlungen flexibel genug sein, um sowohl weiterer Entspannung



Parl. Staatssekretär Berkhan
als auch einer möglichen Verschärfung der internationalen Lage gerecht werden zu können. Die vor uns liegenden Verhandlungen werden langwierig ud kompliziert sein. Sie werden zu keinen schnellen Ergebnissen führen. Es gilt, darauf zu achten, daß sich in dieser Zeit kein falsches Sicherheitsgefühl einschleicht. Wir brauchen weder Entspannungseuphorie noch Verteidigungshysterie. Was wir brauchen, ist Verteidigungsbereitschaft, gepaart mit Entspannungswillen.

(Zustimmung bei der SPD.)

Der Bundeskanzler hat von dieser Stelle aus deutlich gemacht, daß uns die Mitwirkung an Entspannung und Ausgleich nicht geschenkt wird. So heißt es in der Regierungserklärung:
Wehrpflicht, Verteidigungshaushalt und Zivilverteidigung betrachten wir nicht nur als Notwendigkeiten, sondern als sinnvollen Dienst für die freie Gemeinschaft unserer Burger; er hilft unserer Friedensarbeit.
Mir ist bewußt, daß es heute nicht immer leicht ist, Herr Kollege Wörner, den jungen Menschen, vor allem den wehrpflichtigen jungen Männern, diesen Zusammenhang deutlich zu machen. Wir verlangen von unseren Soldaten nicht nur Verständnis für die Notwendigkeit der Abschreckung; wir verlangen auch Verständnis für die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts. Wir fordern von ihnen, kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen. Dieser Zusammenhang ist ohnehin schwierig genug und mag also nicht für jeden jun- gen wehrpflichtigen Mann sofort eingängig sein.
Nun ist durch den Versuch einer aktiven Entspannungspolitik bei vielen eine weitere Schwierigkeit hinzugekommen. Der Zusammenhang zwischen Verteidigung und Entspannung ist halt nur schwer zu begreifen. Alle in diesem Hause vertretenen Parteien haben auch während des Wahlkampfes keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß Entspannungspolitik Sicherheit voraussetzt. Ich möchte das hier dankbar vermerken, insbesondere wegen der Mahnung des Kollegen Mikat — ich sehe ihn jetzt nicht; es kann sein, daß er nicht anwesend ist —, die Gemeinsamkeiten nicht untergehen zu lassen. Ich möchte das hier also dankbar unterstreichen.
Genauso müssen wir auch in Zukunft deutlich machen, daß jede Scheu vor eigenen Sicherheitsanstrengungen die Verhandlungsbasis gefährdet und daß ohne Verhandlungen die Aussicht, auf ein weniger kostspieliges Gleichgewicht zu kommen, gering ist. Kurzfristige Einsparungen auf dem Felde der Sicherheit haben häufig Mängel zur Folge, die langfristig erhebliche Kosten verursachen.
Vor diesem Hintergrund ist, wie mir scheint, auch ein Wort zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen angebracht. Die Bundesregierung hat den Verfassungsauftrag, für die äußere Sicherheit unseres Landes zu sorgen. Dazu unterhält unser Staat Streitkräfte. Damit die Streitkräfte Aufgabe und Aufträge erfüllen können, hat das Grundgesetz die allgemeine Wehrpflicht begründet. Der einzelne wehrpflichtige Bürger hat das Grundrecht, aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Zwischen den beiden Verfassungsgeboten besteht eine gewisse Spannung, mit der Bürger und Staat fertig werden müssen. Nur so können beide Normen der Verfassung im Sinne des Verfassunggebers verwirklicht werden. Ohne Wehrpflicht wäre nach meiner Überzeugung auf absehbare Zeit nicht gesichert, daß die Bundeswehr so viele Soldaten hat, wie sie für ihren Auftrag benötigt. Darüber hinaus ist die allgemeine Wehrpflicht eine Hilfe für den Bürger, die Notwendigkeit der Verteidigung ernst nehmen zu können. Wie lange wir dieser Notwendigkeit bedürfen, bleibt abzuwarten.
Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist natürlich quantitativ nicht begrenzbar. Wir müssen aber dafür sorgen, daß keiner Gewissensnot vortäuschen kann in der fast sicheren Erwartung, daß er nach Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu keinerlei Dienst herangezogen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Dies gebietet schon die Fürsorge für den Kriegsdienstverweigerer selbst, der ja nicht in einen falschen Verdacht geraten soll. Und, Herr Wörner, ich stehe unter dem Eindruck, daß Sie den Inhalt und den Zusammenhang des Zividienstgesetzes nicht mehr richtig in Erinnerung haben. Sonst hätten Sie die Bemerkung, die Sie zu diesem Gesetz hier soeben gemacht haben, nicht gemacht.

(Beifall bei der SPD.)

Aber es bleibt ja noch Zeit. Das Gesetz wird wieder eingebracht, und Sie werden die Möglichkeit haben, auf die Position zurückzugehen, die Ihre Vertreter aus den Ländern und aus diesem Hause im Vermittlungsausschuß schon damals bezogen haben.

(Abg. Romrnerskirchen: Oder auf die des Verteidigungsausschusses, Herr Staatssekretär!)

- Herr Rommerskirchen, Sie werden Gelegenheit haben, sich mit allen zu einigen.

(Abg. Rommerskirchen: Aber da waren wir einstimmig der Meinung!)

Die Frage des Zivildienstes ist ja keine Sache ausschließlich des Verteidigungsausschusses, sondern Sie wissen, daß dieser Dienst insbesondere beim Arbeitsministerium angesiedelt ist, und die anderen Ausschüsse haben das gleiche Recht wie der Verteidigungsausschuß; das ist kein bevorrechtigter Ausschuß. Es bleibt abzuwarten, ob Ihre Kompromißbereitschaft, die Sie uns hier zuletzt angeboten haben, sich auch dann zeigt.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Verhältnis zwischen der Bundeswehr und den übrigen Teilen unserer Gesellschaft sagen. Ich bin davon überzeugt, daß die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft eine vollzogene Tatsache ist. Wir brauchen nicht mehr viel darüber zu reden. Der Soldat ist Bürger unter Bürgern. Er erfüllt eine Aufgabe, die sich auf unser Grundgesetz berufen kann. Die Bundesregierung geht davon aus, daß wir eine neue Wehrstruktur zu finden haben. Hauptaufgabe dieser neuen Wehrstruktur wird es sein, unsere Streit-



Parl. Staatssekretär Berkhan
kräfte flexibel zu halten, um den Veränderungen in der Welt nachkommen zu können. Präsenz und Kampfkraft der Bundeswehr müssen erhalten bleiben.
Bei der Auswertung des Berichts der Wehrstruktur-Kommission werden unsere Bündnispartner konsultiert werden; wir werden mit ihnen darüber reden. Die Arbeiten für diese neue Wehrstruktur sind nach Übergabe des Berichts — jedenfalls im Verteidigungsministerium — unverzüglich angelaufen. Es ist wahrscheinlich — damit antworte ich auf Ihre Frage —, daß noch in diesem Jahr, und zwar voraussichtlich nach der Sommerpause, unsere Überlegungen für eine neue Wehrstruktur zum Abschluß kommen, und dann wird das Parlament selbst etwa ein Jahr, vielleicht noch etwas länger, Zeit haben, über diese Fragen zu reden. Im Rahmen der Wehrstruktur wird es dann auch darauf ankommen, über die anderen Fragen zu sprechen, die Sie in Ihrer Rede angeschnitten haben. Ich glaube nicht, daß eine Regierungserklärung dazu angetan ist, hier zu behaupten, daß auf einer Hochschule, die von jungen Bundeswehrsoldaten besucht wird, das System umfunktioniert werden soll.

(Zuruf des Abg. Dr. Wörner.)

Sie können unbesorgt sein, Ihre Wachsamkeit ist unsere Wachsamkeit. Dort werden Soldaten für ihren Auftrag, ihre Aufgaben und ihren Beruf ausgebildet, allerdings mit einer wissenschaftlichen Grundlage.
Glauben Sie vielleicht, daß wir eine solche Hochschule gründen wollen, weil wir Lehrer oder Philosophen oder Ärzte ausbilden wollen? Dafür sind andere Hochschulen da. Wir werden den Soldaten eine wissenschaftliche Grundlage vermitteln, und selbstverständlich wird die Ausbildung der Unteroffiziere und der bereits im Dienst befindlichen nicht akademisch vorgebildeten Offiziere dabei nicht zu kurz kommen. Das gebietet schon das Gesetz. Wir haben bei den Offizieren eine Einheitslaufbahn und können nicht von dem ausgehen, was jemand als Eingangsvoraussetzung mitbringt. Ihre Bemerkungen wären also überflüssig gewesen, und Sie wissen es auch. Wir haben häufig mit Ihnen darüber gesprochen, daß die Chancengleichheit gewahrt bleiben muß.
Ähnlich verhält es sich mit Ihren Bemerkungen zu den im Weißbuch angekündigten Maßnahmen. Sie wissen wie ich, daß von den insgesamt 159 Maßnahmen aus zwei Weißbüchern 131 positiv abgewickelt sind, bei drei Maßnahmen ist aus sachlichen und finanziellen Gründen, was ich nicht verschweigen will, negativ entschieden worden, und 25 Maßnahmen stehen noch aus. Davon rühren 11 unerledigte Maßnahmen aus dem Weißbuch 1970 her, darunter so bedeutungsvolle, ob die Kennzeichnung der Generalstabsoffiziere so bleiben soll. So gewaltig ist der Vorwurf nicht, den Sie erheben, daß nämlich die Weißbuchmaßnahmen noch nicht vollzogen seien.
Ganz davon abgesehen, haben unsere Soldaten immer am materiellen Fortschritt teilgenommen. Sie haben am 1. Januar 1970 durch das Siebente Gesetz
zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes 8 °/o mehr bekommen, haben ab 1. Januar 1971 7 %o und einen Sockelbetrag von 25 DM durch das Erste Gesetz zur Vereinheitlichung und Neuregelung des Besoldungsrechts zusätzlich bekommen und ab 1. Januar 1972 eine weitere Erhöhung von 4 % und einen Sockelbetrag von 30 DM erhalten. In diesem Jahr wird es, wenn ich richtig informiert bin, eine Steigerung von 6 0/0 und ein Sockelbetrag von 40 DM sein.
Es bleibt doch der Tatbestand, daß Sie einerseits hier auftreten und sagen, die Regierung solle sparen, der öffentliche Dienst weite sich zu sehr aus, es werde zuviel Geld für den öffentlichen Dienst ausgegeben, man müsse bei Tarifverhandlungen hart sein, und andererseits sagen, bei den Soldaten gelte das aber nicht. Der Soldat gehört zum öffentlichen Dienst wie andere Gruppen auch; er ist kein Benachteiligter, er ist aber auch kein Bevorrechtigter.
Ich darf hier noch einmal in Erinnerung rufen, daß die Erhöhung des Wehrsolds um 1 DM den Haushalt mit mehr als 80 Millionen DM im Jahr belastet. Das ist nur der Wehrsold der Wehrpflichtigen. Eine lineare Besoldungserhöhung um 1 % für Soldaten, Beamte, Angestellte, Arbeiter und Versorgungsempfänger im Bereich der Bundeswehr kostet schon nahezu 90 Millionen DM. Bei 6 % ergibt sich schon eine runde halbe Milliarde DM. Man kann hier sehr schnell Forderungen aufstellen, muß dann aber auch sagen, wie man das Geld für diese Maßnahmen aufbringen will.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir werden darüber zu reden haben und werden sehen, ob Ihre Bereitschaft nur rhetorisch gemeint war oder ob Sie dann bereit sind, Ihren Finger dafür zu erheben, daß die Einnahmemöglichkeiten des Staates so weit ausgebaut werden, daß er diesen Verpflichtungen nachkommen kann.
Die eingeleiteten Untersuchungen über die Wehrstruktur werden dazu führen, daß wir unvoreingenommen alle Fragen prüfen, auch die Frage nach der Dauer des Grundwehrdienstes. Nach dem derzeitigen Kenntnisstand ist allerdings auf absehbare Zeit ein Grundwehrdienst von 15 Monaten angemessen. Dies ist wahrscheinlich keine Regelung, die das Jahr 2000 überlebt. Wie in vielen politischen Fragen ist auch hier die Diskussion ein Mittel, um gute oder bessere Lösungen vorbereiten zu helfen.
Allerdings werden wir nur solche Vorschläge unterbreiten, die erstens keine Minderung unseres Bündnisbeitrages bedeuten und zweitens deutlich machen, daß es sich bei einer neuen Wehrstruktur nicht um eine kaschierte Vernachlässigung unserer Verteidigungsanstrengungen handelt. Daraus folgt, daß sich eine neue Wehrstruktur nur aus solchen Komponenten zusammensetzen kann, mit denen die Bundeswehr die gestellte Aufgabe im Rahmen des Bündnisses zu erfüllen vermag. Ich mache aber darauf aufmerksam, daß diese Vorhaben insgesamt nicht nur für unsere eigene Bundeswehr und für unser eigenes Land Bedeutung haben.



Parl. Staatssekretär Berkhan
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Herr Kollege Wörner, Sie haben mit Nachdruck — fast hätte ich eine Vokabel gewählt, die Sie geärgert hätte; aber ich wollte Sie ja heute morgen nicht ärgern —

(Abg. Dr. Wörner: Ich Sie auch nicht!)

über Recht und Unrecht gesprochen. Ich stimme Ihnen im wesentlichen zu. Aber ich möchte Sie ermuntern, mit dem gleichen Nachdruck über das Recht und Unrecht zu sprechen, das auch in unserer Gesellschaft noch vorhanden ist und das es manchem Wehrpflichtigen schwer macht, für diese Gesellschaft und für diesen Staat seinen Beitrag zu leisten. Auch bei uns ist nicht alles so in Ordnung, daß diese Gesellschaft ausschließlich verteidigungswürdig ist.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Wörner meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Wenn Sie mich diesen Satz bitte noch abschließen lassen Herr Kollege Wörner, bin ich gern bereit, auf Ihre Frage einzugehen. — Denken Sie einmal darüber nach, was beispielsweise ein junger Facharbeiter davon halten soll, daß er in diesem freiheitlichen Staat im Rahmen seiner Arbeit weniger mitbestimmen soll als beispielsweise andere, die an der Aufrechterhaltung dieser Gesellschaftsordnung teilhaben, dieser Gesellschaftsordnung, für die er einen Verteidigungsbeitrag leisten und 15 Monate dienen soll.
Sie sollten sich auch abgewöhnen, immer davon zu reden, daß drüben Sozialismus ist. Vielleicht verstehe ich Sie falsch, aber ich höre da immer unterschwellig diese Verdächtigungen: „Das sind ja Brüder mit ähnlichen Kappen". Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir Sozialdemokraten bei Sozialismus die freiheitliche Komponente nicht nur mitdenken, sondern sie mit praktizieren, auch in der übrigen Gesellschaft,

(Beifall bei der SPD)

und daß wir die Soldaten, soweit ihr Auftrag es erlaubt, an dieser freiheitlichen Komponente teilhaben lassen wollen.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701001200
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage, Herr Staatssekretär?

Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701001300
Ja, bitte schön, Frau Präsident.

Dr. Manfred Wörner (CDU):
Rede ID: ID0701001400
Ich glaube nicht, daß es auf Ihrer Seite so großen Nachdrucks bedurft hätte, um das zu sagen, was auch meine Feststellung war. Ich möchte Sie nur noch fragen, ob es Ihnen entgangen ist, daß ich beispielsweise beim Problem der Wehrgerechtigkeit gerade den Zusammenhang zwischen der Bereitschaft, für diesen Staat etwas zu leisten, und dem Empfinden, gerecht, also nach Recht behandelt zu sein, aufgezeigt habe.

Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701001500
Ja, das ist mir nicht entgangen. Ich rechne auf eine gute Zusammenarbeit im Verteidigungsausschuß. Ich bin ja lange genug in der Opposition gewesen, so daß ich die Rolle der Opposition gut einschätzen kann.

(Beifall bei der SPD.)

Aber Ihnen ist sicher nicht entgangen, was Ihr Kollege Kiep über die Entwicklungen in einem anderen Teil der Welt gesagt hat. Sie wissen, daß dort eine große Gruppe junger Menschen mit ihrem Protest von Herr Kiep bewußt sehr positiv bewertet wurde. Das ist doch die Schwierigkeit, vor der wir stehen. Krieg ist eine schreckliche Sache, und insbesondere moralisch engagierte junge Menschen werden mit dieser Frage nicht so leicht fertig.
Lassen Sie mich, um die Zeit nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen, eine kurze Zusammenfassung meiner Ausführungen versuchen. Diese Regierung geht davon aus, daß erstens das atlantische Bündnis Rahmen und Basis unserer Sicherheitspolitik bleibt, daß zweitens die Verteidigungszusammenarbeit der europäischen NATO-Partner fortgesetzt, aber auch noch intensiviert wird, daß drittens die Bundeswehr nach Qualität und Quantität diejenigen Mittel erhält, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt, daß viertens die Bundeswehr Teil einer dynamischen Gesellschaft und einer dynamischen Umwelt ist und ihre Struktur stets sorgfältig überdacht und in die jeweils angemessene Form gebracht werden muß. Fünftens. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik dient ausschließlich dem Frieden. Unsere ideellen und materiellen Leistungen für die Verteidigung müssen sich stets daran orientieren.
Vielleicht darf ich als meine Bitte dazu sagen: Man sollte, wenn man über Sicherheits- und Verteidigungspolitik spricht, der Sache wegen in mäßigem Ton sprechen, ohne daß man dabei die Klarheit der Sprache vernachlässigt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701001600
Das Wort hat der Abgeordnete Krall.

Lothar Krall (FDP):
Rede ID: ID0701001700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die freie demokratische Fraktion begrüßt das klare und unmißverständliche Bekenntnis des Herrn Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung zur Atlantischen Allianz. Auch wir sind der Meinung, daß die in dieses Bündnis integrierte Bundeswehr das Instrument unserer äußeren Sicherheit ist und damit zugleich der Friedenssicherung und Friedenserhaltung in Europa und auch der Welt dient.
Es ist mir daher ein besonderes Bedürfnis, von dieser Stelle aus ein Wort des Dankes an die Bundeswehr, an alle Soldaten, Zivilbediensteten und Helfer zu richten. Sie alle haben geholfen, den politischen Hauptauftrag der Bundeswehr, die Erhaltung des Friedens für unser Land und in Europa, zu gewährleisten. Die Bundestagsfraktion der FDP anerkennt diese Leistung dankbar. Dabei wissen



Krall
wir, daß weder unsere Gesellschaft als Ganzes noch die Bundeswehr als System und Teil dieser Gesellschaft heile Welten verkörpert. Unsere Sicherheitspolitik bildet die Grundlage der Verhandlungsposition unseres Staates in den jetzt bevorstehenden Konferenzen über KSZE und MBFR.
Lassen Sie mich jetzt, meine Damen und Herren, einige Bemerkungen zu den Ausführungen des Kollegen Wörner machen. Kollege Wörner hat auf der einen Seite eine weitgehende Übereinstimmung mit den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers und des Herrn Außenministers dargestellt. Andererseits hat er hier ein Bild der Schwäche der NATO aufgezeigt, das ganz sicher nicht dazu dient, die Verteidigungsbereitschaft der Menschen in diesem Staat zu erhöhen.
Ihm scheinen auch einige wesentliche neue Erkenntnisse entgangen zu sein. Die Beurteilung der Lage, die Kollege Wörner hier vorgenommen hat, orientiert sich im wesentlichen an überkommenen Vorstellungen. Er hat vielleicht nicht zur Kenntnis genommen, daß die Sowjetunion inzwischen die Existenz der Europäischen Gemeinschaft anerkannt hat. Er hat vielleicht auch nicht zur Kenntnis genommen, daß die Ausgaben für die militärische Rüstung in der Sowjetunion im laufenden Haushalt nicht erhöht worden sind. Herr Dr. Wörner, Sie haben anscheinend auch nicht die neue Position und die günstigere Ausgangslage der EUROGROUP in der NATO zur Kenntnis genommen, wie sie hier vom Vertreter des Verteidigungsministers dargestellt wurden.
Herr Dr. Wörner, Sie haben hier wiederum die mangelnde Bereitschaft der Jugend ausgesprochen, sich der Verteidigung dieses Staates zu stellen. Sie werden mit Ihren Anklagen gegenüber weiten Bereichen dieser Jugend aber ganz sicher nichts erreichen. Wie von dieser Stelle aus von vielen Sprechern der Regierungskoalition gesagt worden ist, Herr Dr. Wörner, stellen wir uns der Auseinandersetzung mit der Jugend. Wir reden mit ihr und bemühen uns, in ihr ein besseres Verständnis für diesen Staat zu wecken Sie dagegen haben — das hat die Debatte der letzten Tage gezeigt — in bezug auf unsere Jugend hier im wesentlichen nur Anklagen vorgetragen.

(Beifall bei der FDP. Abg. van Delden: Das stimmt ja gar nicht! — Abg. Rommerskirchen: Der Herr Oberst und die Pappkameraden!)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701001800
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Wörner (CDU, CSU) : Herr Krall, da ich auf Grund Ihrer Ausführungen fast nicht glaube, daß Sie mir zugehört haben, möchte ich fragen, ob es Ihnen entgangen ist, daß ich nirgendwo von d e r Jugend gesprochen habe, sondern ausdrücklich davor gewarnt habe zu dramatisieren. Ist Ihnen entgangen, daß ich betont habe, daß es sich noch um eine Minderheit handle, daß ich allerdings auf die wachsenden Anzeichen nachlassender Verteidigungsbereit-
schaft hingewiesen habe, was auch Sie nicht bestreiten können?

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Lothar Krall (FDP):
Rede ID: ID0701001900
Nein, sicher nicht. Herr Dr. Wörner, ich habe auch nicht von der gesamten Jugend gesprochen, sondern von den Teilen, die Sie gemeint haben, als Sie hier darüber sprachen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dann wählen Sie doch andere Worte!)

Herr Kollege Dr. Wörner, im übrigen ist es doch so, daß wir eine nationale Verteidigungspolitik im Sinne einer nationalstaatlichen Verteidigungspolitik, wie sie früher üblich war, nicht mehr kennen. Wir sind vielmehr voll in die NATO integriert. In ihr werden gemeinsam die verteidigungspolitischen Akzente gesetzt. Herr Kollege Berkhan hat das hier soeben deutlich angesprochen. Wenn Sie, Herr Kollege Wörner, hier ein Bild von der Schwäche der NATO gezeichnet haben — —

(Abg. Rommerskirchen: Das hat er doch gar nicht getan! Er hat ein Bild von der Stärke der Sowjetunion gezeichnet!)

— Er hat doch die große Sorge

(Abg. Damm: . . . die Herr Berkhan bestätigt hat!)

im Hinblick auf eine ausgewogene Balance zwischen der Sowjetunion einerseits und den Verbündeten andererseits zum Ausdruck gebracht. Sie vergessen bei dem Kräftevergleich, den Sie hier dargestellt haben, doch das große Potential der USA, das frei wird, wenn man berücksichtigt, daß die USA in Vietnam künftig den Rücken frei haben.

(Abg. van Delden: Ach, du lieber Gott!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt kurz auf die innere Situation der Bundeswehr eingehen. Wir sollten uns vor Augen halten, daß diese Bundeswehr, ohne daß vorher Fragen des geistigen Zuschnitts, der geschichtlichen Einordnung und der militärischen Tradition ausreichend geklärt worden wären, aus rein politischen Gründen quasi aus dem Boden gestampft wurde und ihr ein Anzug verpaßt wurde, der zunächst ganz sicher um einige Nummern zu groß war.
Vergessen wir Politiker bitte nie, daß wir für diese Entscheidung die volle Verantwortung tragen. Wenn sich heute Soldaten und militärische Führer mit Strukturmängeln, Organisationsproblemen und daraus resultierenden psychologischen Schwächen herumschlagen müssen, so sind wir einfach verpflichtet, sie gegen manches Unverständnis und manche — ich sage ausdrücklich nicht: jede — Kritik der Öffentlichkeit politisch abzudecken. Was wären wir — nämlich alle Funktionen des Hauses — für schlechte Demokraten, wollten wir uns hier einfach der politischen Verantwortung entziehen und die Bundeswehr allein im Regen der Kritik unbestimmter Strömungen des Zeitgeistes stehen lassen.

(Abg. van Delden: Wer von uns tut denn das? — Abg. Rommerskirchen: Sagen Sie das mal den Jungdemokraten!)




Krall
— Ich habe ja nicht gesagt, daß wir das tun. Ich habe gesagt, wir sollten uns vor die Armee stellen, wenn sie von draußen angegriffen wird. Ich wollte hier noch einmal betonen, daß das unser gemeinsamer Auftrag ist.

(Abg. Rommerskirchen: Sprechen Sie erst einmal mit Ihren eigenen Leuten!)

Wo ist aber nun der Hebel der praktischen Hilfe anzusetzen? Wenn wir die verschiedenen Reformüberlegungen, die Studien und die Studienberichte der letzten Jahre miteinander abgleichen, so schält sich ganz offenbar die Frage der künftigen Wehrstruktur als sicherheitspolitisches Schlüsselproblem besonders heraus. Als ehemaliger Angehöriger der Bundeswehr muß ich sagen, die Armee — speziell ist hier das Heer gemeint -- benötigt wieder einmal eine Verschnaufpause, eine Konsolidierungsphase, um die von ihr geforderten Umstellungen der letzten Zeit erst einmal verkraften zu können.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß die Neugliederung des Heeres in mechanisierte und Jägerverbände, die, wie wir alle wissen, eine wesentliche Verstärkung der konventionellen Komponente beinhaltet, noch nicht voll abgeschlossen ist. Weiterhin befindet sich die Bundeswehr in der Umstellung der Ausbildung im Zusammenhang mit der Verkürzung des Wehrdienstes auf 15 Monate. Darüber hinaus geht es um die praktische Ausfüllung des neuen Bildungskonzepts.
Als Politiker muß ich dem indessen entgegenhalten, daß Jahreszahlen, Jahrgangszahlen, finanzielle und psychologische Tatbestände sowie politische und internationale Entwicklungen nicht warten. Außerdem blieben alle Reformansätze wie Personalstruktur, Ausbildung, Bildung und Wehrgerechtigkeit stecken, wenn nicht Grundsatzentscheidungen darüber fallen, wie die Struktur der Bundeswehr künftig aussehen soll.
Das Atemschöpfen draußen in den Verbänden — von dem ich soeben sprach — kann also gerade so lange dauern, wie die politischen Gremien und die militärischen Führungsstäbe benötigen, um die wesentlichen Merkmale und Kriterien der Wehrstrukturreform zu erarbeiten. Diesen mächtigen Felsblock wegzurollen, mag seine Zeit dauern. Er muß sich aber bis zum Ende dieser Legislaturperiode bewegt haben.
Wir Freien Demokraten haben inzwischen die Optionen der Wehrstrukturkommission ausgewertet. Dabei zeigen sich manche Parallelen mit unseren eigenen Vorstellungen. Ich bin sicher, daß unsere Überlegungen, die mein Kollege Kurt Jung von dieser Stelle aus dem Hohen Hause bereits unterbreitet hat, in die Überlegungen der Bundesregierung und des Bundesverteidigungsministers einfließen werden.
Zur künftigen Wehrstruktur nur einige kurze Anmerkungen: Die Freien Demokraten treten weiterhin auf absehbare Zukunft für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht ein. Zielsetzung wäre eine freiwilligenintensive Wehrpflichtarmee mit zwei funktionsmäßig verschiedenen Verbandstypen.
Es soll Wehrgerechtigkeit bestehen. In die Überlegungen zur Wehrstrukturreform sind auch die Spitzengliederung der Landesverteidigung, die Rolle und Funktion aller Teilstreitkräfte, das Wehrerfassungs- und Ersatzwesen und die zivile Landesverteidigung mit einzubeziehen.
In diesem Zusammenhang werden wir dann auch die Frage einer Kürzung der Wehrdienstzeit prüfen und neu erörtern müssen. Denkbar ist in diesem Zusammenhang auch eine flexiblere Gestaltung der Wehrdienstzeit, wie es ja auch die Opposition in einem Antrag im Verteidigungsausschuß einmal dargestellt hat.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, abschließend noch eine Bemerkung zum Zivildienstgesetz machen. Die beschleunigte Verabschiedung dieses Gesetzes hat für meine Fraktion -- ich bin sicher: für die Regierungsfraktionen — besonderen Vorrang. Es soll die Zahl der Zivildienstplätze wesentlich erhöhen. Ziel aller Kräfte in diesem Hohen Hause muß es sein, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um möglichst allen anerkannten Wehrdienstverweigerern einen Zivildienstplatz zuweisen zu können. Das sollte in den bereits bestehenden Einrichtungen erfolgen. Mit Erreichung dieses Zieles — davon bin ich überzeugt — wird sich die Zahl der Antragsteller wesentlich verringern. Konsequenterweise würde dadurch das unbefriedigende Anerkennungsverfahren letztlich überflüssig werden.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701002000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Buchstaller.

Werner Buchstaller (SPD):
Rede ID: ID0701002100
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß es gut ist, die Debatte wieder auf das zurückzuführen, was sie sein soll, nämlich eine Auseinandersetzung mit der Regierungserklärung, und viele der von Herrn Dr. Wörner angeschnittenen Einzelfragen dorthin zu verlagern, wo sie hingehören: in eine demnächst stattfindende verteidigungspolitische Debatte. Hätten wir heute schon eine verteidigungspolitische Debatte, so hätte der Oppositionsführer in seinem Referat auf die Sicherheitsfragen sicher mehr als zwölf Protokollzeilen verwandt.
Wenn ich die Regierungserklärung zum Gegenstand dieser unserer Auseinandersetzung mache, dann frage ich mich wirklich, Herr Dr. Wörner: Worin unterscheidet sich nun die von der Regierung hier vorgetragene Konzeption von dem, was Sie wollen, oder von dem, was Sie vorgetragen haben? Ich habe die Kernpunkte der Regierungserklärung auf dein Gebiet der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik einmal zusammengefaßt und bei Ihrer halbstündigen Rede den Versuch unternommen, mir darüber klarzuwerden, was Sie nun anders haben wollen oder mit was Sie nicht einverstanden sind.
Wenn wir die Punkte einzeln durchgehen, glaube ich, kann man sie alle als übereinstimmend ab-



Buchstaller
haken, bis vielleicht auf einen, auf den ich dann besonders zu sprechen kommen will.
Erstens. Grundlage unserer Sicherheit bleibt die Atlantische Allianz. Sie gibt uns auch den Rückhalt für unsere Politik der Entspannung nach Osten. Darf ich das, Herr Dr. Wörner, als gemeinsame Linie abhaken?

(Abg. Dr. Wörner: Aber sicher dürfen Sie das, Herr Buchstaller!)

Zweitens. Die politische und militärische Präsenz der Vereinigten Staaten ist für die Bewahrung des ausgeglichenen Kräfteverhältnisses in Europa unerläßlich. Auch das kann von der Opposition nur unterstrichen werden.
Drittens. Die Bundesregierung wird gleichzeitig darauf hinwirken, daß der europäische Pfeiler des Bündnisses stärker wird.
Auf Punkt 4 gehe ich nachher noch gesondert ein.
Fünftens. Präsenz und Kampfkraft der Bundeswehr müssen erhalten bleiben.
Sechstens. Zur Erhaltung der Verteidigungskraft im Bündnis muß die Wehrpflicht beibehalten werden.
Siebtens. Unter Berücksichtigung des Berichts der Wehrstruktur-Kommission und nach Konsultationen mit unseren Bündnispartnern ist eine Wehrstruktur zu erarbeiten, mit der die Bundeswehr auch künftig ihre Aufgaben erfüllen kann.
Achtens. Die Verhandlungsergebnisse zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über die Begrenzung der strategischen Waffensysteme sind in jeder Phase auf ihre Auswirkungen für Europa zu prüfen.
Neuntens. Die Bundesregierung setzt sich für eine ausgewogene, beiderseitige Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa ein.
Zehntens. Auf der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kommt es der Bundesregierung darauf an, daß ein weiterer Schritt zur Entspannung möglich wird.
Ich habe also, Herr Dr. Wörner, den Punkt ausgeklammert, der in Ihrer Rede das Kernstück war und auf den Sie Ihre Rede aufgebaut haben, nämlich den, daß die Bundesregierung zwar nicht übersehe, daß die Rüstungsentwicklung im Warschauer Pakt das östliche Gesamtpotential erhöhe, sie aber nicht bereit sei, daraus andere als vorschnelle Schlüsse zu ziehen.
In meiner Antwort auf Ihre Rede habe ich mich darauf konzentriert — abgesehen von dem an die Bundesregierung gerichteten Vorwurf, sie ziehe aus der Rüstungsentwicklung der Warschauer-Pakt-Staaten nicht die entsprechenden Schlüsse —, nun zu untersuchen, welche Schlüsse der Sprecher der Opposition daraus gezogen hat. Für mich allerdings waren keine konkreten Schlüsse erkennbar. Ich weiß zwar aus dieser Ihrer Rede und aus vielen Ihrer Debattenreden, was Sie im Grunde genommen wollen: daß die Bundesrepublik noch stärker werden soll. Sie wollen alles tun, um eine ganz
starke militärische Position zu erreichen oder zumindest eine, die aus deutscher Sicht das Übergewicht Rußlands auszugleichen vermöchte.
In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Bemerkung anschließen, die der Herr Kollege Krall gemacht hat. Ich habe Sie schon einmal darauf hingewiesen, Herr Kollege Dr. Wörner, daß ich davon ausgehe, daß die Verteidigungsbereitschaft in unserem Lande nicht nur von zwei, sondern von drei Faktoren gestört und unterwandert wird. Das geschieht erstens durch die Kräfte, die diesen Staat und diese Gesellschaft ablehnen und ihn aus diesem Grunde nicht für verteidigungswürdig halten. Das geschieht zweitens — auch hier gebe ich Ihnen recht -- durch die Illusionisten, die bereits die ersten Schritte zu einer Entspannung als eine endgültige Friedensregelung ansehen und damit glauben, die Welt sei in bester Ordnung, und es sei doch sinnlos, Verteidigungsanstrengungen zu unternehmen, wenn alle den Frieden wollen. Und das geschieht meiner Meinung nach drittens durch die Gruppe — und da unterstreiche ich die Bemerkungen des Kollegen Krall —, die durch die Überzeichnung des militärischen Übergewichts des Gegners ständig die Frage aufwirft, ob Verteidigung notwendig bzw. ob sie überhaupt noch möglich ist. Denn wenn das Bewußtsein Eingang in die Menschen und die junge Generation fände, daß es doch sinnlos ist, bei allen Bekenntnissen zu dieser Gesellschaft und zu diesem Staat gegen einen übermächtigen Gegner anzutreten, ist das zumindest ein wesentlicher Grund dafür, daß die Verteidigungsbereitschaft gesenkt wird. Deswegen würde ich Sie sehr darum bitten, bei all Ihrer Kritik, Herr Dr. Wörner, nicht Gefahr zu laufen, ständig eine solche Überzeichnung dieses Übergewichts vorzunehmen bzw. die Unterstellung, man sei nicht bereit, für Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit im Militärischen einen entsprechenden Beitrag zu leisten, in den Vordergrund Ihrer Argumentation zu stellen.
Ich bin auch der Meinung, daß es legitim ist, in solche Debatten einzuführen, was außerhalb des Parlaments gesprochen wird. Manchmal allerdings muß ich mir die Frage stellen, Herr Dr. Wörner, was die Opposition wohl täte, wenn es die Jungsozialisten und die Jungdemokraten nicht gäbe. Ich habe manchmal den Eindruck: immer dann, wenn Ihnen der sachliche Stoff zur Auseinandersetzung, zu dem fehlt, was hier politisch an Argumenten vorgetragen wird, greifen Sie auf die Beiträge zurück, die außerhalb des Parlaments für Sie sozusagen Plattformen abgeben, um mit etwas zu polemisieren, was von der Regierung und der SPD-Bundestagsfraktion nie vorgetragen wurde.
Mir geht es auch darum — da unterstreiche ich das, was der Parlamentarische Staatssekretär ausgeführt hat —, daß, wenn es doch so eine breite Basis gleicher Vorstellungen gibt, wir aber doch dem Druck ausgesetzt sind, alternativ zu diskutieren, wir nichts vorbringen, was die enge Bereitschaft zur Kooperation in Verteidigungsfragen stören würde. Vor allen Dingen läßt sich in dieser Periode ja hoffen — nachdem sich kein Wahlkampf abzeichnet —,



Buchstaller
daß man nach den sachlichen Auseinandersetzungen auch zu sachlichen Entscheidungen kommt.
Nehmen wir einmal das Zivildienstgesetz. Herr Dr. Wörner, Sie haben doch völlig falsch argumentiert. Sie wissen doch ganz genau, daß in dieser Frage, die wir wie Sie als sehr dringend angesehen haben, Einstimmigkeit im Vermittlungsausschuß bestand. Sie wissen doch ganz genau, daß sich in Ihrer Fraktion Herr Höcherl für diesen Beschluß eingesetzt hat. Aber Sie haben ja nicht der Sache nach entschieden. Sie glaubten darin, noch dazu den Bundesrat einschaltend, etwas Wahlkampfmunition zu haben. Für was, weiß ich auch nicht; denn sicherlich hat sich dieser Gegenstand dazu nicht geeignet.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701002200
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Werner Buchstaller (SPD):
Rede ID: ID0701002300
Ja, gerne.

Dr. Manfred Wörner (CDU):
Rede ID: ID0701002400
Daß ausgerechnet Sie das sagen, verwundert mich etwas; denn, Herr Buchstaller, darf ich gegenfragen: Wissen Sie denn nicht mehr, daß Sie und wir, die Kollegen der SPD und die Kollegen der CDU/CSU und der FDP, im Verteidigungsausschuß völlig übereinstimmend der Meinung waren, wie diese Materie geregelt werden müßte, und daß Sie in Ihrer eigenen Fraktion untergegangen sind? So war es doch.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Werner Buchstaller (SPD):
Rede ID: ID0701002500
Wissen Sie, wer und wo untergegangen ist, ist eine völlig andere Frage.

(Lachen bei der CDU/CSU.)

— Aber entschuldigen Sie, so kann man doch das Ding nicht auf den Kopf stellen. Entscheidend ist doch, daß wir bereit waren, einen Kompromiß einzugehen, und daß Sie bereit waren, einen Kompromiß einzugehen. Das hat sich widergespiegelt in der Einstimmigkeit des Beschlusses im Vermittlungsausschuß, und Sie haben Ihre Leute dann in Ihrer Fraktion desavouiert. Ich frage mich heute noch: Warum? Denn die gemeinsame Operation, zu der wir uns im Verteidigungsausschuß angeschickt hatten, hätte der Sache genauso gedient. Dieser Kompromiß ist ein tragbarer, ein sauberer, ganz korrekter und konkreter Kompromiß. Ich bin ganz sicher, daß Sie den Kompromiß überdenken und zu Höcherl zurückkehren werden.

(Abg. Kiep: Zu wem zurückkehren?)

— Zu Höcherl, weil er den Kompromiß ja für die CDU/CSU im Vermittlungsausschuß vertreten hat. Ich meine, daß gerade die Rückschlüsse aus dem Wehrstrukturbericht und aus vielen anderen Berichten uns zur praktischen Arbeit führen werden.
In dieser praktischen Arbeit wird manches von dem zu beherzigen sein, was Sie hier vorgetragen haben. Aber es wird vor allen Dingen auch die Arbeit praktiziert werden müssen, von der man im Plenum lautstark spricht. Es ist ja nicht nur in der Frage der Vermittlungsausschusses und des Zivildienstgesetzes so gewesen; sondern es war so in
vielen Punkten. Wenn Sie immer davon sprechen ich will mir weder die Zeit nehmen, hier eingehend darauf zu antworten, noch sehe ich es für sehr sinnvoll an, eine Ausschußdebatte im Plenum zu führen —, daß nicht genug finanzielle Mittel eingesetzt seien, nicht genug Nachdruck in Verteidigungsfragen, nicht genug Stabilität angesichts der Notwendigkeit, die Sicherheit zu garantieren, vorhanden seien, dann frage ich mich: Wo spiegelt sich das in der praktischen Arbeit wider?
Darf ich die Kollegen des Verteidigungsausschusses einmal fragen, ob ein einziger konkreter Anstoß der Opposition im Verteidigungsausschuß stattgefunden hat, wo die Opposition gesagt hat: Wir brauchen nicht 20, wir brauchen 22, 23, 24, 25 Milliarden DM, wo die Opposition gesagt hat: Jawohl, wir müssen Personalkosten einsparen, und deswegen bekommen die Soldaten nicht mehr Geld; denn wir brauchen mehr Geld für die Rüstung.
Hier geht es doch ins Konkrete und ins Entscheidende. Sie können doch nicht Ausschußsitzungen und Haushaltsberatungen über sich hinwegrollen lassen. Das einzige, was Sie im Verteidigungsausschuß durchgesetzt haben, waren — wenn ich mich richtig erinnere — 50 000 DM mehr für die Flieger — Segelflieger usw. —, die vielleicht einmal besser und einfacher auf Militärflugzeuge umgeschult werden können. Aber das ist doch Ihr privates Fliegerhobby.

(Abg. van Delden: Aber Herr Buchstaller, erlauben Sie mal! — Abg. Dr. Wörner: Darf ich darauf hinweisen: Es war der Kollege Zimmermann!)

— Ich habe ja auch überhaupt nichts dagegen, Herr Dr. Wörner. Ich sage nur: das war der einzige Antrag.

(Abg. Dr. Wörner: Finden Sie?)

Hier wird laufend davon gesprochen, was alles mehr getan werden müßte, ohne zu sagen, wo, und ohne zu sagen, wie und mit welchen Mitteln.

(Abg. Dr. Wörner: Aber Sie haben doch überhaupt nicht zugehört! Nicht in einem einzigen Punkt!)

— Aber sicher! Immer, wenn Sie reden, höre ich aufmerksam zu.

(Heiterkeit.)

— Nein, allen Ernstes! Sie sind einer der wenigen Sprecher der Opposition, der wenigstens bemüht ist, nicht alle Brücken abzureißen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist.
Ich meine, wir müssen in diesen Fragen zurückfinden: 1. zu dem Punkt, daß Sie doch in den meisten Abschnitten — in den außenpolitischen, bündnispolitischen und auch in den Fragen der Bundeswehr — in Übereinstimmung mit der Regierungserklärung stehen; 2. darauf, daß Sie praktische Wege diskutieren wollen, wie alles noch besser und wie alles noch konkreter gemacht werden kann. Dazu ist die absolute Bereitschaft der Koalitionsfraktionen überall — hier im Hause wie im Ausschuß — gegeben. Nur: Wir müssen uns angewöhnen, im Plenum nicht anders zu operieren, als wir das im Ausschuß tun,



Buchstaller
sondern im Ausschuß das vortragen, was im Plenum ausgeweitet und entschieden werden kann. Aber im Verteidigungsausschuß dies alles Revue passieren zu lassen, hier eine große Rede zu halten und sich bei der Abstimmung über den Verteidigungshaushalt entweder der Stimme zu enthalten oder dagegen zu votieren — das, glaube ich, nutzt weder der Politik im Raum der Verteidigung und Sicherheit noch der Darstellung des Profils der Opposition.
Ich will, Herr Dr. Wörner, auf einen einzigen Punkt Ihrer Rede eingehen — damit unterstreiche ich, daß ich Ihre Rede selbst in kleinen Passagen mitverfolge — nämlich auf das, was Sie zur Personalpolitik gesagt haben: Sie wären ein großer Wächter, damit da auch nichts passiere. Nur: Sie verstehen das völlig falsch. Sie meinen, in der Personalpolitik dieser Bundesregierung dürfe nichts von dem verändert werden, was Sie auf der Hardthöhe seit 15 Jahre zementiert hatten.

(Beifall bei der SPD.)

So kann ich Personalpolitik nicht verstehen. Sie waren ja in Ihren personalpolitischen Vorstellungen nicht immer sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, allgemeinpolitische Überlegungen in die Betrachtung einzubeziehen. Übertreiben Sie das nicht! Aber Sie müssen doch Verständnis dafür haben, daß auch Personalpolitik u. a. Veranlassung geben muß, politische und auch fachliche Zielvorstellungen entsprechend durchzusetzen. Wir wissen, daß Sie auf diesem Gebiet ein sehr sorgsamer Wächter sind. Bis jetzt haben wir Ihr Wächteramt in dieser Frage noch nicht überstrapaziert.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701002600
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Zimmermann.

Dr. Friedrich Zimmermann (CSU):
Rede ID: ID0701002700
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nur noch ein paar Anmerkungen zu dieser Debatte, die nach meiner Meinung keine Ausschußdebatte gewesen ist, sondern eine Debatte, wie man sie über den Verteidigungshaushalt und über die Verteidigungspolitik am Beginn einer neuen Periode einfach führen muß, weil das nicht ganz ohne eine Ausschau, nicht ganz ohne einen Rückblick zu machen ist. Ich glaube, wir haben eine vertretbare Zeit dafür in Anspruch genommen und die Aussprache nicht etwa zu einer erweiterten Ausschußsitzung gemacht.
Die letzte Ausgabe des „Wehrdienstes" schreibt - ich zitiere —:
In aller Stille soll Verteidigungsminister Leber die von Helmut Schmidt in Reform-Ruinen sitzengelassene Bundeswehr sanieren.
Eben nicht in aller Stille! Deswegen wollen wir heute ein bißchen darüber debattieren.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Der „Wehrdienst" fährt fort:

Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind im
Originalmanuskript der Regierungserklärung
von 84 Seiten mit 40 Zeilen abgetan. Präsenz
und Kampfkraft der Bundeswehr, die sich längst selber auffrißt (vgl. Wehrdienst Nr. 396/73), sind nur 6 Zeilen gewidmet.
Warum zitiere ich das? Weil dieser „Wehrdienst", den alle im Verteidigungsbereich Tätigen sehr wohl kennen, das einzige völlig unabhängige Organ ist, weder von der Regierung noch von der Regierungskoalition noch von Opposition noch von einem Nahestehenden herausgegeben und deswegen, wie ich meine, auf Grund meistens sehr sorgfältiger und interessanter Informationen, die dieses Organ enthält, ein zitierfähiges Organ mit Aussagewert.

(Abg. Schmidt [Würgendorf] : Na!)

Damit das eben nicht in aller Stille geschieht, was der „Wehrdienst" vermutet, reden wir darüber.

(Erneuter Zuruf des Abg. Schmidt [Würgendorf].)

- Sie kennen den Herrn, verehrter Herr Kollege, genausogut wie ich, nicht besser und nicht schlechter, möchte ich annehmen.
Mitunter waren Sie früher der Meinung, daß er in dem was er schrieb, recht gehabt hat: es kommt nur immer auf den Standpunkt, auf die Seite an, auf der man gerade steht da verschieben sich die Aspekte manchmal ein bißchen!
In der Regierungserklärung wurden die Wehrstrukturkommission und ihr Bericht erwähnt; der Herr Bundeskanzler kam auf den Bericht ausdrücklich zu sprechen. Hier handelt es sich wieder um eine Kommission, von der Sie, nachdem die letzte Bundesregierung sie eingesetzt hat und der Verteidigungsminister über sie wacht, doch sicher nicht werden sagen können, das sei eine Position der Opposition; hier handelt es sich vielmehr um einen objektiven Kommissionsbericht.
Lassen Sie mich als zweite Quelle wiederum keine Oppositionsauffassung, sondern eine objektive Quelle zitieren. Dieser Bericht spricht zu den Finanz-
und Rüstungsfragen im analytischen Teil einige ganz harte Wahrheiten aus, die man in dem Satz zusammenfassen kann: So wie bisher darf es nicht weitergehen!

(Abg. Wörner: Sehr richtig!)

Die Bundeswehr darf in ihrem Anteil am Aufwuchs des Bundeshaushaltes nicht weiter zurückfallen — was geschehen ist . Der intensive Teil des Verteidigungshaushalts darf nicht mehr weiter sinken und bedenkenlos zur Finanzierung von Betriebsausgaben herangezogen werden, auch dann nicht, wenn die finanzierten Maßnahmen an sich wünschenswert sind. — So der Bericht der Wehrstrukturkommission.
Die Kommission spricht weiter ganz deutlich aus, daß die Bundeswehr in der Gefahr ist, von den Betriebskosten aufgefressen zu werden, wenn sich die derzeitige Entwicklung fortsetzt. Wir stehen heute bei über 70 % Betriebskosten. Die Endrechnung im Jahre 1972 wird 72 bis 73 %, so schätze ich, ergeben. Der vergangenen Regierung fällt das zweifelhafte Verdienst zu, diesen Anteil in den letzten drei Jahren von 60 %o auf 70% getrieben zu haben.



Dr. Zimmermann
Das Mißverhältnis zwischen investiven und Betriebsausgaben wird beim Anhalten dieser Entwicklung überhaupt ein unverantwortbares Ausmaß annehmen. Sie wissen, daß die Bundeswehr seit Jahren in puncto Bewaffnung und Ausrüstung von der Substanz lebt. Es wird nicht mehr erlaubt sein, wünschenswerte Maßnahmen auf dem Personal-und Sozialsektor durch Eingriffe in den Beschaffungshaushalt zu finanzieren, und es wird auch nicht mehr möglich sein, ständig von den Beschaffungsplanungen abzuweichen und Vorhaben zu streichen, zu kürzen, zu strecken, zu verschieben oder durch Entfeinerung zu verbilligen.
Die überdehnte und zu weit gestreckte In-DienstHaltung mancher Systeme — die Kraftfahrzeuggeneration wurde schon erwähnt; 104 G muß dazugesagt werden — hat zu Steigerungen der Materialerhaltungskosten geführt, die sich kein privater Betrieb leisten könnte. Solche Ausgaben sind à fonds perdu geleistet; denn sie sind begleitet vom sinkenden Klarstand der Waffensysteme und sie verringern zusätzlich den Spielraum für Investitionen, ohne die Investitionen zu ersetzen. Entsprechend sind die Auswirkungen auf den Einsatzwert der Streitkräfte.
Die Bundesregierung wird sich also entscheiden müssen, ob sie den Forderungen der Wehrstrukturkommission folgt und den Verteidigungshaushalt stärker als bisher am Aufwuchs des Gesamthaushaltes beteiligt und ob sie den Betriebsausgaben durch Verringerung der präsenten Truppenstärken — Stichwort: Verkaderung — zu Leibe rücken will. Allerdings — das muß hier gleich hinzugesetzt werden — würde auch eine solche Verkaderung den Bedarf an Bewaffnung und Ausrüstung nicht senken. Denn das Kadermodell geht gerade davon aus, daß Bewaffnung und Ausrüstung von Einzelverbänden bereitstehen, damit sie erforderlichenfalls rasch aufgefüllt werden können. Würde das vernachlässigt, so wären die Kader kaum mehr als eine Attrappe.
Niemand wird sich herausreden können, er habe das nicht gewußt; denn in den Verteidigungsdebatten der letzten drei Jahre haben wir von der Opposition ständig gerade auf diese Punkte hingewiesen. Aber wir waren damals vielleicht zu sehr mit Weißbuch-Maßnahmen, vor allem auf der Seite der Regierungskoalition, beschäftigt, als daß man das hat hören wollen, was wir unaufhörlich dazu gesagt haben. Die Feststellungen der Wehrstrukturkommission sind also keineswegs neu oder originell. Sie sind Wahrheiten, die jetzt auch statistisch von einer objektiven Kommission der Bundesregierung untermauert worden sind und sicher einen Beweiswert haben, der nicht so ohne weiteres wegdiskutiert werden kann.
Die Wehrstrukturkommission hat noch eine weitere Erkenntnis angefügt, was die Inflationsrate betrifft. Sie operiert mit einer Preisverfallrate von Professor Krelle, so daß man fast den Eindruck haben könnte, dieser Professor sei an der Inflation schuld. Die Inflationsrate ist jedenfalls in den vergangenen drei Jahren auf diesem Sektor durchschnittlich fast 9 % gewesen. Die Folge davon war,
daß die beachtlichen nominellen Steigerungen des Etats kaufkraftmäßig völlig verpufft sind. Der geplante Plafond für 1973 von 26 Milliarden DM hält real kaum den Stand des Vorjahres. Um 1,2 Millionen DM liegt er unter den Ressortanforderungen. Das bedeutet, daß die bestehenden Verpflichtungen des Jahres nicht abgedeckt sind.
Die Vorgaben für die mittelfristige Finanzplanung im Herbst 1972 zwingen zu weiteren Einschränkungen in Milliardenhöhe, und die bevorstehenden Großinvestitionen, vor allem im Luftwaffenbereich, hängen im Sinne des Wortes in der Luft.
Herr Kollege Buchstaller, nachdem Sie so lange im Verteidigungsausschuß sind — und auch so lange in der Opposition im Verteidigungsausschuß waren —, hätte ich eigentlich nicht Belaubt, daß Sie nicht wissen, was die Aufgabe der Opposition und was die Aufgabe der Regierung ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Aufgabe der Regierung ist es, den Rahmen, den Plafond hinzustellen und zu sagen: Das haben wir zur Verfügung. Die Aufgabe der Opposition ist es, die Gewichte und Akzente zu setzen und dann zu kontrollieren. Das muß man als Verteidigungspolitiker auch von der eigenen Regierung verlangen. Tun Sie es!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Wehrstrukturkommission — ich zitiere sie jetzt zum letztenmal — hat 2,5 Milliarden DM jährliche Steigerung, jährlichen Zuwachs des Verteidigungshaushalts empfohlen. Das würde bedeuten, daß der Zuwachs bis 1981 über 49 Milliarden DM als Nominalsumme betrüge. Unsere Frage an die Bundesregierung lautet eben, wie ernst sie diesen Bericht der Wehrstrukturkommission nimmt, ob sie sich in der Lage sieht, diese Leistungen zu beschließen.
Ministerpräsident Kühn — SPD, Nordrhein-Westfalen, Vorstandsmitglied Ihrer Partei hat gegenüber der spanischen Zeitung, die mein Kollege Marx schon in einem Punkt zitiert hat — und damit bringe ich das zweite Zitat —, folgendes gesagt:
Ich denke dabei allein an einen konkreten Aspekt positiver Folgen. Ich könnte Ihnen sagen, daß, wenn unsere Freundschaftsabsichten gegenüber den Oststaaten zu einem gegenseitigen Abkommen hin reifen, Deutschland einen Teil seiner erheblichen Verteidigungsausgaben vermindern könnte.
Der Reporter fragte ihn dann: „Was würde die NATO dazu sagen?" Kühn antwortete: „Ich weiß es nicht."
Die Regierung muß auch wissen, daß die Kommission die Aufstellung dreier zusätzlicher Kaderbrigaden fordert, deren materielle Ausstattung je 750 Millionen DM — für eine Kaderbrigade — kosten wird. Die Vollmechanisierung der sechs Jägerbrigaden wird weitere 3 Milliarden DM erfordern. Darüber hinaus bezweifeln wir, ob die Einsparungsmöglichkeit durch die Kaderung einer Brigade in Höhe von jährlich 130 Millionen DM als realistisch angenommen werden kann.



Dr. Zimmermann
Meine Damen und meine Herren! Wenn Sie diesen Rahmenplan der Strukturkommission auf die eine Seite, den Verteidigungshaushalt 1973 mit dem Verhältnis der Betriebsausgaben und der investiven Ausgaben auf die andere Seite nehmen, wenn Sie dazu jetzt wieder auf die Regierungserklärung und auf die Ausführungen des amerikanischen Präsidenten zurückgehen, der in seiner neuen Doktrin aber auch nicht den Schatten eines Zweifels daran läßt, daß die USA sich rund um die Welt nur mehr dort als Schutzmacht und in Schutzfunktion einsetzen werde, wo die zu Schützenden das ihrige tun,

(Abg. Dr. Wörner: Sehr richtig!)

dann ist die Bundesregierung bei diesem Haushalt und in der Verteidigungspolitik an einen ganz entscheidenden Punkt gefordert, wirklich gefordert, in unser aller Interesse.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Über die Aufrüstung des Warschauer Paktes haben mehrere Redner gesprochen. Mehrfach ist die unglückliche Bemerkung der vorschnellen Schlüsse zitiert worden. Denn das geht ja seit Jahren so, daß permanent die Aufrüstungskurve des Warschauer Paktes steigt, so daß man hier wirklich nicht mehr von vorschnellen Schlüssen reden kann. Wir verlangen keine vorschnellen Schlüsse von der Bundesregierung. Wir meinen nur, die Bundesregierung sollte überhaupt Schlüsse aus dieser Tatsache ziehen. Die Reaktionsfähigkeit der Bundesregierung darauf wird sich bei den Verhandlungen über Truppenreduzierung und Truppenrückzug zeigen.
Ein Wort noch zur Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr. Ich bin — und wir sind — mit der Bundesregierung der Meinung, daß Bundeswehrhochschulen eingerichtet werden sollen. Wenn ich aber in letzter Zeit wieder von einem prominenten Mitarbeiter, von Professor Eilwein, einen Artikel gelesen habe, der gesellschaftspolitisch interessant ist, dann frage ich mich manchmal, ob nicht manche dieser Planer im Sinn haben, über die Auflösung der Bundeswehr die Überwindung des gegenwärtigen Systems der Bundesrepublik Deutschland geistig vorzubereiten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich hoffe, wir sind einig, daß der akademisch gebildete Offizier nichts nützt, wenn er nur ein ziviles Berufsbild im Auge hat statt ein militärisches, und daß wir ihm das nicht vorgaukeln dürfen, niemandem, gerade nicht jemandem von den bildungspolitischen Mitarbeitern Professor Eilweins. Wir müssen den Soldaten ausgebildet sehen für seine bündnispolitische Funktion und dürfen ihm nicht erlauben, ein Studium auf Kosten der Allgemeinheit durchzuführen, das ihn die Streitkräfte nur als eine Übergangsfunktion betrachten läßt.

Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701002800
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Horn?

Dr. Friedrich Zimmermann (CSU):
Rede ID: ID0701002900
Frau Präsident, nachdem ich bereits am Ende bin, die rote Lampe
leuchtet und ich nur mehr ein paar Sätze zu sagen habe: Bitte nicht, im Interesse des Hauses.
Genauso ist es bei der Kriegsdienstverweigerung. Herr Kollege Buchstaller, nur noch eine Bemerkung: Sie wissen doch am besten, wie oft ich den Punkt „Zivildienstgesetz" von der Tagesordnung des Ausschusses absetzen mußte, weil Sie sich in Ihrer Fraktion nicht einig waren, wie Sie die Dinge handhaben wollten.

(Sehr gut! und Beifall bei der CDU/CSU.)

Und bitte, sind Sie doch so vernünftig, wenn das Ding wieder kommt: Lehnen Sie es nicht nur deshalb ab, weil die Opposition diese Vorschläge gebracht hat. Und ich hoffe, man lehnt sie in Ihrer Fraktion nicht nur deshalb ab, weil die Verteidigungspolitiker aus allen Fraktionen des Hauses einen gemeinsamen Vorschlag gemacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich wünsche also hier dem Bundesverteidigungsminister viel Durchsetzungsvermögen. Von seiner persönlichen Anlage her glaube ich, daß er alles versuchen wird, die Dinge zu meistern. Ich habe im Parteiorgan „Vorwärts" sehr wohl gesehen, wie hart man ihn nach seinem Amtsantritt da behandelt hat. Im Interesse der Sache, im Interesse der Bundesrepublik Deutschland wünsche ich ihm Durchsetzungsvermögen. Die Opposition wird nichts unversucht lassen, ihn dabei zu unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Annemarie Renger (SPD):
Rede ID: ID0701003000
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schmidt (Würgendorf).

Hermann Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0701003100
Frau Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Zimmermann, zu einigen Passagen Ihrer Rede möchte ich doch ganz kurz Stellung nehmen. Wenn Sie hier den Wehrdienst als Kronzeugen dafür aufführen, daß diese Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung der Verteidigung zuwenig Raum gegeben hätte, dann glaube ich sicher, daß Sie damit nicht gerade in einem besonderen Maße das gewürdigt haben, was hier in diesen Tagen von allen Kolleginnen und Kollegen immer wieder gesagt worden ist, nämlich daß sie auch ihre besonderen Anliegen auf dem Sozialgebiet, auf dem Wirtschaftsgebiet usw. nicht ausführlich genug in dieser Regierungserklärung gesehen haben. Nun ist aber eine Regierungserklärung nicht das, was etwa der Etat ist, wo wir uns in mehreren Lesungen dann damit auseinandersetzen können, sondern hier sollen ja die Linien für die Zukunft gezeigt werden. Ich meine, daß die 46 oder 48 Zeilen zur Verteidigungspolitik natürlich nicht das Gewicht im Gesamtkonzept auch nur entsprechend wiedergegeben haben.
Es hat sich heute morgen hier gezeigt, daß eine große Übereinstimmung auf den allermeisten Gebieten der Sicherheits- und Verteidigungspolitik festzustellen ist. Daß natürlich das, was Herr Dr. Zimmermann hier gesagt hat, uns allen Sorgen macht, nämlich die finanzielle Seite dieser Sicherheit, die



Schmidt (Würgendorf)

wir hier zu produzieren haben mit unserer Bundeswehr, das ist völlig klar. Aber wenn hier von Herrn Dr. Zimmermann darüber geklagt wird, daß die Instandsetzungskosten besonders hoch seien und uns allen sehr bedenklich erschienen, muß man allerdings auch sagen, daß dies auch von einer Reihe von Waffensystemen aus der Vergangenheit herrührt. Hier müssen Hypotheken dieser Vergangenheit von uns eingelöst werden.
Wir sind natürlich alle der Meinung, daß die Armee mit den besten und modernsten Waffen ausgestattet sein muß. Das ist auch in unserem Rahmen von uns allen durchgeführt worden. Ich meine, daß gerade die Diskussion im Verteidigungsausschuß, auch die Diskussionen, die hier nächstens wegen des Etats und vielleicht wegen Großer Anfragen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchzuführen sind, klarlegen werden, was machbar ist und was nicht machbar ist. Wir haben einen Spielraum, der vor allen Dingen von dieser Bundesregierung in den letzten Jahren sehr weitgehend ausgeschöpft worden ist. Ich erinnere nur an die Ausweitung des Verteidigungsetats im vergangenen Jahr. Niemand kann sagen, daß nicht alles getan worden ist in Abwägung all der wichtigen Fragen, die auf uns zukommen, die wir beantworten wollen und wo wir die Prioritäten setzen müssen, um diese Armee so auszustatten, wie es möglich ist. Gerade wenn hier gesagt wird, der Präsident der Vereinigten Staaten, Richard Nixon, habe ganz klar zum Ausdruck gebracht, daß in der Verteidigung der freien Welt jede Nation ihren Teil geben muß, dann ist doch das, was der frühere Verteidigungsminister in der NATO erreicht hat, nämlich die Bildung der Euro-Group, die sehr starke Inanspruchnahme auch der Bundesrepublik in dieser Euro-Group, schon vor Jahren ein Schritt in diese Richtung gewesen. Niemand wird sagen können, daß in diesem Punkte im Bündnis Kritik an der Bundesrepublik geübt worden wäre.

(Vors i t z: Vizepräsident Frau Funcke.)

Wir haben in der Woche nach der Wahl die Tagung des NATO-Parlaments hier in Bonn gehabt. Wir haben in diesem NATO-Parlament all die Fragen besprochen, die notwendigerweise zu besprechen waren, ob es die Bedrohung an der Nordflanke oder der Südflanke war, ob es die Lage in Zentraleuropa war. Insgesamt kann niemand abstreiten, daß die Loyalität und die Leistung der Bundesrepublik von allen Partnern gewürdigt worden ist. Das Bündnis hat uns bestätigt, daß die Leistungen, die die Bundesregierung, dieses Parlament und damit die Bundesrepublik erbringt, optimal dem entsprechen, was unsere Bündnispartner wünschen und von uns verlangen können, und zwar einfach deswegen, weil wir im Zentrum Europas liegen und in der Bedrohung an erster Stelle stehen.
Die Regierungserklärung sagt zu dieser Festlegung im Bündnis:
Grundlage unserer Sicherheit ist die Atlantische Allianz. Sie gibt uns auch den Rückhalt für die Politik der Entspannung nach Osten.
Gerade diese Mitgliedschaft und die Solidarität in
diesem Bündnis hat uns angespornt, immer wieder
auf ausgewogene Truppenreduzierung zu drängen. Wir werden in Zukunft bei diesen Verhandlungen dabei sein. Ich bin sicher, daß wir auf Grund der Leistung der Bundesrepublik und aus der Bereitschaft heraus, Sicherheit und Entspannung in einem zu sehen und als gemeinsame Komponenten vor der Bevölkerung zu vertreten — „keine Sicherheit, keine Entspannung; erst mit der von uns mitzuproduzierenden Sicherheit entsteht auch die Entspannung" —, ein gewichtiger Partner am Tische dieser Konferenz sein werden, ob sie nun in Wien oder in Genf stattfindet. Es ist sicher so, daß mit dieser Konferenz Hoffnungen verbunden sind, die an vielen Stellen über das hinausgehen, was zunächst einmal zu erwarten ist. Wir vertreten aber immer wieder den Standpunkt, daß Verhandlungen die Ausgangsbasis für Erfolge sein können und daß vor allen Dingen dann, wenn verhandelt wird, nicht geschossen wird.
Hier muß noch einmal festgehalten werden, diese Bundesrepublik ist in das Bündnis der NATO eingebettet und bejaht dieses Bündnis. Sie ist von sich aus bereit, Leistungen und darüber hinaus Opfer in Hinblick auf die Sicherheit aller zu erbringen, wobei sie vielleicht auch einen Ansporn für jene gibt, die in dieses Bündnis nicht mehr alle ihre Anstrengungen hineingeben. Aber diese von uns mit den anderen Staaten auch in diesem Jahr und in den kommenden Jahren produzierte Sicherheit berechtigt uns zu der Hoffnung, daß wir hieraus in Übereinstimmung im Bündnis und in Verhandlungen mit dem Warschauer Pakt auch zu einer ausgewogenen Truppenreduzierung für die Zukunft kommen werden. Es ist ein langer Weg. Aber dieser Weg wird bewußt von der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien gegangen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0701003200
Das Wort hat der Herr Staatssekretär Berkhan.

Karl Wilhelm Berkhan (SPD):
Rede ID: ID0701003300
Ich will das Haus nicht über Gebühr am Freitag aufhalten. Ich weiß, Sie warten auf wichtige Sitzungen, Herr Dr. Barzel.

(Abg. Dr. Barzel: Nein, morgen erst!)

Ich habe Verständnis dafür. Ich will daher nur kurz auf Herrn Dr. Zimmermann antworten. Daß Sie sich immer gleich so aufregen können, macht mir richtig Spaß.
Ich muß Ihnen also sagen, Herr Dr. Zimmermann: So einfach ist die Sache nicht. Sie können ja das Weißbuch nachlesen. Da haben wir Ihnen die Zahlen geliefert. Im Weißbuch 1971/72 finden Sie auf Seite 165 eine Grafik. Es tut mir leid, daß sich ein Druckfehler eingeschlichen hat, nicht in der Kurve, sondern zwei Zahlen sind vertauscht, die Zahlen zwischen 67 und 69 sind vertauscht. Aber da beginnt ja das Elend, das Sie beklagen, im Jahre 1963. Sie selber wissen besser als ich, wer damals Kanzler war. Das zieht sich hin bis zum Jahre 1969, und Sie wissen auch, wer in diesen Zeiten Kanzler war. Dann geht die Kurve wieder nach oben, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wer 1969 Kanzler geworden ist.



Parl. Staatssekretär Berkhan
Sie haben hier zwei Beispiele genannt, verehrter Herr Kollege Dr. Zimmermann, die wir beide sehr genau kennen. Denn ich bin ein paar Jahre Ihr Vertreter gewesen als Vorsitzender im Verteidigungsausschuß. Wir haben gemeinsam einige Dinge ganz gut über die Bühne gebracht. Aber ich darf Sie daran erinnern, daß die Radfahrzeuge, über die Sie sich beklagen, 15 Jahre alt sind und daß kein Mensch in der zivilen Wirtschaft auf die Idee käme, Radfahrzeuge 15 Jahre zu fahren. Nun dürfen Sie dreimal raten, wann man die wohl etwa ablöst. Fragen Sie mal in Bayern nach! Da haben Sie ein paar Sachverständige, die werden Ihnen das sagen. Prüfen Sie mal nach, wer da Verteidigungsminister gewesen ist und uns diese Erbmasse hinterlassen hat! Das müßte also in diesem Hause auch einmal festgestellt werden.

(Beifall bei den Regierungsparteien. Zuruf des Abg. Dr. Wörner.)

Wenn Sie hier MRCA beklagen, so kann ich Ihnen nur sagen: Sie sind ja im Verteidigungsausschuß darüber ausreichend unterrichtet worden, welche Schwierigkeiten aufgetaucht sind. Nur, wenn Sie die letzten Jahre einmal vergleichen, kommen Sie zu dem Ergebnis, daß im Jahre 1971 für das Heer 105 Brückenlegepanzer beschafft sind — am 11. November 1971 durch den Haushaltsausschuß gegangen —, 250 Kampfpanzer „Leopard", sechstes Los, am 22. Juni durch den Haushaltsausschuß gegangen. Dann für die Luftwaffe: Ankauf von 175 Flugzeugen des Typs F 4 F Phantom 2 — 24. Juni
I) 1971 —; die Vermessungsflugzeuge konnten wir nicht beschaffen, weil der Verteidigungsausschuß sich nicht mehr damit beschäftigt hat. Die Marine hat zum Beispiel 1970 das U-Boot-Ersatzbauprogramm für U 3 bis U 8 erhalten. Außerdem sind zum Beispiel zwanzig Schnellboote der Klasse 148 genehmigt worden. Wir sind also gerade auf diesem Felde vorangekommen wie kaum zuvor. Das werden Sie bei ruhiger Betrachtung auch selber zugeben müssen. Auf diesem Wege werden wir fortfahren. Wir werden versuchen, das zu tun, was notwendig ist. Wir werden uns aber alle gemeinsam im Rahmen des Möglichen halten müssen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0701003400
Das Wort hat der Abgeordnete Jung.

Kurt Jung (FDP):
Rede ID: ID0701003500
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem der Kollege Berkhan soeben auf die Ausführungen von Herrn Zimmermann eingegangen ist, kann ich mich kurz fassen. Ich möchte nur noch einmal das unterstreichen, was er hier herausgestellt hat: daß nämlich der Verteidigungshaushalt — die mittelfristige Finanzplanung — durch Fehlplanungen vorbelastet ist, die nicht diese Regierung zu verantworten hat, sondern die doch in der Vergangenheit liegen. Es ist sicher so, Herr Kollege Zimmermann, daß die Schere in der Zukunft auseinanderklafft, weil durch immer teurere Waffensysteme die Frage des finanziellen Aufkommens natürlich nicht leichter wird.
Deshalb möchte ich noch einmal ganz eindeutig unterstreichen, daß sich alle Fraktionen dieses Hauses Gedanken über eine künftige Wehrstruktur machen müssen, die dann natürlich auch ihren Niederschlag in der finanziellen Ausgewogenheit des Verteidigungshaushalts finden kann. Hier möchte ich auf eine Frage des Herrn Kollegen Wörner zurückkommen und ihm antworten, daß wir Freien Demokraten schon sehr früh Vorstellungen zur künftigen Wehrstruktur entwickelt haben und dankbar wären, wenn diese Vorstellungen zusammen mit den Ihrigen und denen der Sozialdemokraten zu einer vernünftigen Regelung führen würden.
Herr Kollege Wörner und Herr Kollege Zimmermann haben hier einen Punkt aufgegriffen und, wie ich meine, vor der Öffentlichkeit nicht deutlich gemacht, daß sie die eigentlich Schuldigen dabei waren: das Zivildienstgesetz.
Meine Damen und Herren, die Behauptung darf nicht so stehen bleiben, daß die Regierungskoalition nicht genügend Zivildienstplätze zur Verfügung gestellt hätte. Sie wissen ganz genau, daß Sie es waren, die Ihre Eintagsmehrheit dazu benutzt haben, diesen Gesetzentwurf abzuschmettern. Nunmehr stellen Sie sich vor die Öffentlichkeit und erwecken den Eindruck, als hätten Sie nichts damit zu tun. Hier möchte ich daran erinnern, daß gestern abend der Kollege Höcherl in der Appel-Runde frank und frei erklärt hat, daß dies ein bedauerlicher Betriebsunfall der CDU/CSU gewesen sei.
Herr Kollege Wörner hat im allgemeinen nichts Neues gesagt; es ist das Abspielen der alten Platte gewesen. Aber ich möchte eine Verdächtigung ausräumen, die er gegenüber der Regierung gehegt hat, daß diese Armee nämlich eine Armee einer Partei werden könne. Ausgerechnet Sie, Herr Kollege Wörner, ausgerechnet Sie, meine Kollegen von der CDU/CSU, sagen so etwas in dieser Situation! Wir können nachweisen — ich habe es an dieser Stelle früher schon einmal getan —, daß dieser Vorwurf, wenn er überhaupt erhoben werden könnte, eher in eine andere Richtung gehen müßte.
Nun noch einige Worte zu dem, was Herr Kollege Wörner zu Fragen der Einstellung der Jugend zu dieser Verteidigung, zur Sicherheit der Bundesrepublik gesagt hat.

(Abg. Dr. Wörner: Sagen sie nicht „d e r Jugend" ! Ich verwende diese Schablone nicht! Machen auch Sie sie sich nicht zu eigen!)

— Ja, gut. Sie haben in jedem Fall die Jugend gemeint, egal, ob Sie nun im einzelnen an Jungdemokraten oder Jungsozialisten oder vielleicht auch an die Leute von der Jungen Union gedacht haben. Wir wissen alle, was Sie gemeint haben.
Ich möchte hier nur grundsätzlich sagen, daß die äußere und die innere Sicherheit der Bundesrepublik nicht losgelöst voneinander betrachtet werden dürfen oder gar gegenübergestellt werden sollten. In einem Bereich zumindest sind sie deckungsgleich, nämlich in der Frage, mit welcher inneren Einstellung, mit welcher persönlichen Bereitschaft die Bürger dieses Landes ihren Anteil für die Sicherheit



Jung
leisten. Hier sind natürlich die Wehrpflichtigen angesprochen, aber, wie ich meine, nicht sie allein.
Herr Kollege Wörner, der an diese Regierung unterschwellig gerichtete Vorwurf muß zurückgewiesen werden. Es war ja der Bundeskanzler, der bereits im November 1970 — kein anderer Bundeskanzler hat es zuvor getan, keiner, der von Ihrer Partei gestellt wurde — in einem Brief an den damaligen Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz festgestellt hat, daß Fragen der Verteidigung im Rahmen der Friedenssicherung im Sozialkundeunterricht und in den Lehrbüchern in den einzelnen Ländern unterschiedlich und teilweise auch unzureichend behandelt werden. Schon am 26. März 1971 schilderte der Kanzler vor diesem Hohen Haus die Besorgnis der Bundesregierung über die innere Abwendung eines Teils der heranwachsenden Generation von den Pflichten, die ihr von Staat und Gesellschaft abverlangt werden. Durch diese Äußerungen des Regierungschefs der Bundesrepublik und einen damit zusammenhängenden Briefwechsel zwischen dem Bundesminister der Verteidigung und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft wurde eine Diskussion ausgelöst, die noch anhält und die, weil sie Grundforderungen und Grundfragen unseres politischen und demokratischen Selbstverständnisses berührt, wichtig und nützlich ist und deren Verlauf und Ausgang uns einige Klärungen bringen müssen.
Die FDP hat dem Bundeskanzler dafür gedankt, daß und wie er diese Kardinalfrage unserer Demokratie und unserer Sicherheit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt hat. Es war längst überfällig, daß die sicherheitspolitische Diskussion in unserem Lande von der fast hypnotischen Fixierung auf Kräfte, Vergleichszahlen und Bedrohungsstudien — Ausführungen in dieser Richtung haben wir andeutungsweise heute ja auch wieder gehört — weg und auf das innere Verhältnis dieser Gesellschaft zu ihren jungen Streitkräften hin gelenkt wurde. Von dieser Diskussion, die sicher auch manchen längst verdrängten Bewußtseinsrest wieder ans Tageslicht brachte, versprechen wir uns eine heilsame Wirkung, die letztlich dazu führt, historisch motivierte Verkrampfungen im Verhältnis der Gesellschaft zu den Streitkräften und der Streitkräfte in ihrer eigenen Tradition zu lösen.
Die Akzentverschiebung in der sicherheitspolitischen Diskussion in der Bundesrepublik ist nicht nur mit Willen und auf Initiative der sozialliberalen Regierung zustande gekommen; sie war überhaupt erst unter dieser Regierung möglich. Die heutige Opposition bietet in einer unreflektierten Fortschreibung dessen, was sie seit den Tagen von John Foster Dulles forderte, der heutigen Jugend den Ruf nach mehr Streitkräften, mehr Waffen, mehr Zucht und Ordnung und kürzeren Haaren und Bärten. Die Opposition kennt in ihrem Sendungsbewußtsein offenbar nur eine These — das ist auch vorhin in dem Beitrag von Herrn Zimmermann wieder deutlich geworden —: Je mehr Waffen und Soldaten, je moderner die Rüstung ist, die ich besitze, desto sicherer bin ich. — Aber dies ist, wenn überhaupt, höchstens die halbe Wahrheit. Gehen Sie doch einmal hinaus unter die Jugend, gehen Sie an die Schulen und Universitäten, und versuchen Sie in Erfahrung zu bringen, wieweit Sie dort mit dieser einseitigen Teilwahrheit kommen.

Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0701003600
Herr Kollege Jung, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Kurt Jung (FDP):
Rede ID: ID0701003700
Herr Kollege Damm, Sie wissen, daß ich Ihre Frage gern zuließe, aber die Zeit schreitet fort. Ich habe auch nur eine Redezeit von 15 Minuten, und Sie wissen, daß wir zu Ende kommen wollen. Aber bitte schön!

Carl Damm (CDU):
Rede ID: ID0701003800
Herr Jung, ich möchte Sie nur fragen, ob die Auswirkungen dieser modernen Haltung der Sozialdemokraten und der Freien Demokraten, wie Sie sagen, auch in der Tatsache zu sehen sind, daß zu dem Gespräch über die Probleme der Verteidigungsbereitschaft in der Jugend, zu dem der Verteidigungsminister Leber die Kultusminister der Länder eingeladen hatte, mit einer Ausnahme kein sozialdemokratischer Kultusminister — freidemokratische Kultusminister gibt es ja nicht — erschien.

Kurt Jung (FDP):
Rede ID: ID0701003900
Herr Kollege Damm, ich weiß die Gründe nicht.

(Abg. Kiep: Die ahnen Sie nur!)

Diese Frage hätten Sie an einen Kollegen der SPD richten müssen. Allein die Tatsache, daß die sozialdemokratischen Kultusminister der Aufforderung des Bundeskanzlers nachgekommen sind, beweist aber doch schon, daß in diesen Ländern — ebenso wie in den anderen Ländern, die Sie angeführt haben und die von der CDU bzw. CSU regiert werden — Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den Schulen Eingang gefunden haben.

(Abg. Kiep: Deshalb sind sie nicht gekommen?)

— Ich bedauere, daß ich die Frage, weshalb die Kultusminister mit Ausnahme des einen nicht gekommen sind, hier nicht beantworten kann. Diese Frage müßten Sie an die Kultusminister der betreffenden Länder richten.

(Abg. Damm: Sie haben völlig recht, danach müßte ein Sozialdemokrat gefragt werden!)

Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie überlassen es den Vertretern der Regierungsparteien, die grundsätzlichen Fragen der Jugend zu beantworten. Wir haben ja das Wahlalter der jungen Bürger herabgesetzt. Ich konzediere natürlich, daß Sie mitgemacht haben, aber die Initiative ging insbesondere von Liberalen aus.

(Abg. Seiters: Das stimmt doch nicht!)

Auch heute noch stehen wir bei den Fragen im Vordergrund, die den Auftrag und die Rolle der Streitkräfte in dieser Gesellschaft und die gesellschaftspolitischen und sozialen Zielsetzungen ihrer politischen Parteien betreffen. Sie von der CDU/ CSU rufen zwar nach mehr Waffen, nach mehr Geld für die Streitkräfte — wobei ich einmal ganz davon



Jung
absehe, daß andere Repräsentanten und andere Gremien der CDU/CSU ebenso laut eine Verringerung der Staatsausgaben fordern —, wenn Sie aber in den Versammlungen draußen die bohrenden und zum großen Teil berechtigten Fragen der Jugend beantworten sollen, dann kneifen Sie.
Wir von der FDP und der SPD haben gemeinsam in unseren Beziehungen zu den östlichen Nachbarn einen Wandel angebahnt. Dieser Wandel hat natürlich auch Rückwirkungen auf das Bewußtsein aller Bürger dieses Landes, darunter insbesondere auch auf die Soldaten und die Jugend, die der Wehrpflicht unterliegt. Wir werden natürlich gefragt, ob denn die Bundeswehr — jedenfalls eine so große Bundeswehr — noch notwendig sei, wenn zwischen Ost und West eine Entspannung eintritt und Gewaltverzichtsverträge abgeschlossen worden sind. Das steht nicht in Frage, Herr Wörner; das ist ganz natürlich. Wir müssen darauf antworten, und wir tun das, indem wir darauf hinweisen, daß Entspannung nicht Schwäche oder Schwächung heißt, daß Entspannung nicht Einseitigkeit oder Ungleichgewicht bedeuten kann, und wir unterstreichen, daß Sicherheit nach außen wie nach innen zuallererst eine politische Frage ist, das heißt vor allem eine qualitative Frage und danach erst eine quantitative.
Die Opposition weiß dies alles selbstverständlich auch. Sie stellt aber wider besseres Wissen die Sache so hin, als sei die Politik dieser Bundesregierung direkt ursächlich für abnehmende Wehrbereitschaft der Bevölkerung, für zunehmende Wehrdienstverweigerung bei Wehrpflichtigen und mithin für einen Sicherheitsverlust verantwortlich. Ja, es wird versucht, einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen regional unterschiedlichem Zuwachs der Zahl der Wehrdienstverweigerer einerseits und parteipolitischen Präferenzen — etwa bei Landtagswahlen — andererseits zu behaupten. Mit solchen Behauptungen sollen die demokratische und sicherheitspolitische Zuverlässigkeit der Regierung in Zweifel gezogen und mindestens der einen Regierungspartei pazifistische Tendenzen unterschoben werden. Man weiß nicht, was das Schlimmere an dieser Kampagne ist, das Nichtverstehenwollen oder das Nichtverstehenkönnen. Diese Regierung hat sich ja die Erbschaft, die ihr hinterlassen wurde, nicht aussuchen können, meine Damen und Herren. 20 Jahre lang wurde halt mit Furcht und Emotionen, mit nationalen Ängsten Politik gemacht, und im Grunde, so habe ich das heute früh auch wieder feststellen können, möchte die Opposition das auch noch heute. Die Chancen der von der Regierung Brandt/Scheel eingeleiteten Friedens- und Entspannungspolitik ignoriert die CDU. Die Fragen, die ehrlichen Kritiken und manche subjektive Angstlichkeit von Bürgern, die das politisch-psychologische Erbe der CDU-Ara nicht schlagartig abstreifen konnten, wurden umfunktioniert in angebliche Beweise gegen die Regierung und für die Opposition.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wahlkampfrede! — Abg. Rommerskirchen: Das ist eine Rede von gestern!)

Was glauben Sie denn, meine Damen und Herren von der Opposition und Sie, Herr Rommerskirchen,
was passiert wäre, wenn Sie die sterile und fossile Politik des Alles-oder-Nichts in Richtung Osten und die Politik des blinden law and order, wie wir es ja gestern wieder von Herrn Dregger gehört haben, nach innen fortgeführt hätten? Glauben Sie, mit solcher Politik hätten Sie den Deckel auf dem Topf halten und der kritischen Jugend den Maulkorb umhängen können?
Wir, die Liberalen und die Sozialdemokraten, haben doch für eine Entspannung auch im Inneren gesorgt durch die Reihe von Reformen und durch eine glaubwürdige Realisierung von Demokratie, so daß heute keine Barrikaden mehr gebaut werden. Wir werden uns darum bemühen, auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Reformvorhaben weiterzuführen, und wir wären dankbar, wenn wir diese unsere Vorstellungen künftig ohne Emotionen und frei und ernsthaft mit Ihnen diskutieren könnten.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0701004000
Das Wort hat Herr Abgeordneter Möllemann zu einer Erklärung nach § 36 der Geschäftsordnung.

Jürgen W. Möllemann (FDP):
Rede ID: ID0701004100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf einer Kundgebung zum Vietnam-Krieg in Dortmund habe ich am vergangenen Wochenende angekündigt, daß ich im Deutschen Bundestag eine persönliche Erklärung über Vietnam abgeben wolle. Dies ist deshalb notwendig, weil ich in der Beurteilung des Vietnam-Krieges eine Auffassung vertrete, die deutlich über das hinausgeht, was meine Fraktion und was auch der Bundeskanzler hier dargelegt haben. Deshalb habe ich die Form einer persönlichen Erklärung gewählt.
Die Erklärung enthielt folgenden Abschnitt:
Stellvertretend für viele Mitbürgerinnen und Mitbürger der Bundesrepublik protestiere ich gegen die Aggression der Vereinigten Staaten von Amerika gegen Vietnam. Ich unterstütze rückhaltlos die Forderung nach der sofortigen Einstellung des Bombardements in ganz Indochina sowie nach sofortiger Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens.
Ich bestreite dem Präsidenten der Vereinigten Staaten das Recht, zu behaupten, das mörderische Vernichtungsbombardement in der Weihnachtszeit habe letztlich sowohl den Interessen der freien Welt als auch unserer Freiheit gedient. Es schadet meines Erachtens vielmehr dem Ansehen des demokratischen Freiheitsbegriffes, wenn er als Tarnmantel wirtschaftlicher und machtpolitischer Interessen mißbraucht wird, wie das in Vietnam geschah.
Die empfindlichen Reaktionen des US-Präsidenten auf Kritik am Vietnam-Krieg erscheinen mir subjektiv zwar verständlich, sachlich aber nicht gerechtfertigt. Wer Demokratie und Völkerrecht als Handlungsmaximen quasi im Staatswappen führt, wird sich an ihren Kriterien messen lassen müssen,



Möllemann
Kritiker dieser Erklärung mögen einwenden, daß sie spät oder gar zu spät komme und daß sie darüber hinaus zu einseitig sei.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist es!)

Ich möchte zu diesen kritischen Anmerkungen hier folgendes klarstellen. Erstens. Ich hatte nicht früher Gelegenheit, an dieser Stelle zu diesem Thema zu sprechen. Zweitens. Die Ereignisse haben es glücklicherweise unnötig gemacht, die Forderung nach Einstellung des Bombardements in ganz Indochina noch. lange zu erheben. Ich hoffe mit allem Nachdruck, daß das Waffenstillstandsabkommen ratifiziert und ein dauerhafter Friede in ganz Indochina beginnen wird. Drittens. Unbeschadet der Tatsache, daß also ein solcher Waffenstillstand hoffentlich unmittelbar bevorsteht, sollten wir aber immer wieder deutlich machen, für wie verwerflich wir diesen Krieg halten, wie sehr wir darüber hinaus jene politische Haltung ablehnen, die zu solchen Kriegen führt. Diese Aufgabe haben wir auch und, wie ich meine, besonders gegenüber einem Bündnispartner. Meine kritische Haltung zum Vietnam-Krieg und zur Rolle der Vereinigten Staaten mag dem einen oder anderen einseitig erscheinen. Ich betone hier, daß ich weiß, daß auch von nordvietnamesischer und Vietkongseite Kriegsverbrechen begangen worden sind. Dieses verurteile ich natürlich ebenso wie jeder andere hier. Ich glaube aber, daß wir mit besonderem Nachdruck die Forderung nach Beendigung dieses schrecklichen Krieges an eine Nation richten konnten und mußten, die sich im politischen Bereich auf die gleichen demokratischen und völkerrechtlichen Handlungsmaximen bezieht, wie wir es tun. Ich glaube darüber hinaus, daß die Annahme nicht unberechtigt war, daß ein solcher Appell, an die Adresse der Vereinigten Staaten gerichtet, im Sinne des Friedens wirksam werden konnte.
Zu den Ausführungen des Kollegen Leisler Kiep, die mich persönlich betrafen, möchte ich hier noch eines bemerken.

(Abg. Baron v. Wrangel: Eine persönliche Erklärung!)

Herr Leisler Kiep, Sie haben die Gruppe der gegen den Vietnam-Krieg Protestierenden in drei Untergruppen aufgeteilt. Die erste nennen Sie die Gruppe derer, die aus einer grundsätzlichen Ablehnung jedes Krieges protestiert haben. Die zweite nennen Sie die Gruppe derer, die diese grundsätzliche Ablehnung ausnutzen und sich aus einer antiamerikanischen Haltung heraus diese Stimmung zunutze machen und zählen dazu jene Politiker und gegebenenfalls auch Abgeordneten — und damit müßten Sie dann wohl auch mich gemeint haben —, die zusammen mit den Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg auf die Straße gegangen sind und protestiert haben.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Lassen Sie mich Ihnen folgendes sagen. Ich rechne mich im Prinzip zu ersten Gruppe, glaube aber, daß da die kritische Frage hinzukommen muß, wie denn ein Krieg überhaupt entstehen kann, wie dieser Krieg entstanden ist und in welchen Dimensionen
er geführt worden ist. Hier ist es nach meiner Auffassung eben nicht Antiamerikanismus, wenn ich meine, daß eben die USA schuldhaft in den Ausbruch dieses Krieges verstrickt waren und daß sie darüber hinaus die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt haben.
Ich habe ebenfalls, und zwar vor einigen Jahren, gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei protestiert. Sie werden mir also keine Einseitigkeit vorwerfen können. Die Bilder und Berichte, die ich über Vietnam zur Kenntnis nehmen konnte und mußte, haben mich gezwungen, hier meinen Protest deutlich zu machen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0701004200
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0701004300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Debatte der letzten zweieinhalb Tage ist manches zur Sprache gekommen, das aus meiner Sicht, aus der Sicht der Regierung wesentlich war. Vieles ist zur Sprache gekommen, was weiter zu bedenken ist, einiges, was man aus unserer Sicht der Dinge lieber nicht gehört hätte.
Ich möchte für all das danken, was uns — teils durch Übereinstimmung und Ermutigung, teils auch im Messen der Argumente aneinander — in der Arbeit für unser Volk weiterhelfen kann.
Ich kann diejenigen verstehen — Mitglieder des Hauses und übrigens auch Mitglieder der Regierung —, die es gern gesehen hätten, wenn das sie jeweils besonders interessierende Thema oder Kapitel in der Regierungserklärung ausführlicher behandelt worden wäre. Nur, wenn ich allen Wünschen gefolgt wäre, die es dazu vorher gab, die schon vorher angemeldet waren und die hier zum Teil in, wie ich meine, übersteigerter Form vorgebracht worden sind, hätte ich am Donnerstag voriger Woche nicht anderthalb Stunden, sondern viele Stunden reden müssen.
Für die Aussprache standen nun viele Stunden zur Verfügung. Trotzdem haben — ohne daß ich irgendjemandem dunkle Motive unterstelle — wichtige Abschnitte der Regierungserklärung überhaupt noch nicht behandelt werden können. Das gilt beispielsweise für die Reform des Bodenrechts. Ich habe ja keinen Zweifel daran gelassen, daß ich das als eine Schwerpunktaufgabe dieser Legislaturperiode betrachte,

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das gilt für die Fragen der Raumordnung, der Verkehrspolitik, der Infrastruktur überhaupt. Das gilt auch für die Landwirtschaft. Das gilt für die allgemeine Rechtspolitik.

(Abg. Dr. Barzel: Auch für die Finanzpolitik!)

Nun ist das kein großes Malheur — Herr Kollege Barzel sagt zu Recht: Finanzen —, weil wir auf alle diese Fragen bald zurückkommen werden, sei es beim Haushalt 1973, sei es auf Grund besonderer Vorlagen oder Anfragen. Man sollte jedoch den Eindruck vermeiden oder nicht den Eindruck wek-



Bundeskanzler Brandt
ken, die Regierung habe diese oder jene Gruppe unseres Volkes zurücksetzen und geringachten wollen.
So ist gestern aus den Reihen der Opposition bemängelt worden, wir hätten die Kriegsversehrten und die Heimatvertriebenen nicht besonders erwähnt. Nun, ich habe es doch in der Regierungserklärung als einen Schwerpunkt der Arbeit dieser Jahre bezeichnet, daß wir uns — so wörtlich — der vielen Behinderten und Schwerbeschädigten und ihrer Eingliederung stärker annehmen wollen. In diesem Zusammenhang, bei dieser Gelegenheit der Regierungserklärung kam es nicht auf die Ursache, sondern auf die Tatsache der Beschädigung unserer Mitbürger an.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Außerdem wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen: Ich habe mich erfolgreich — zusammen mit anderen — in der vorletzten Regierung gegen die damals zur Diskussion stehende Senkung der Kriegsopfer-renten gewandt. Ich habe als eine der ersten Maßnahmen der vorigen Regierung — meiner Regierung — die Verbesserung und Dynamisierung der Kriegsopferrenten durchsetzen können. Ich kann mich also auf Leistungen berufen, auf Leistungen nicht nur verbaler Art. Das wissen die Opfer des Krieges und der Diktatur, wenn ich das in diesem Zusammenhang hinzufügen darf.
Was die Vertriebenen angeht: Ihnen ist nichts mit Verbalismen — um nicht zu sagen: faulem Zauber — geholfen. Ihnen und uns allen ist geholfen mit einer Politik, die den kalten Krieg überwinden hilft, einer Politik, die es zum Krieg mit allem Elend der Vertreibung nicht wieder kommen läßt. Ich denke, das ist in diesem Hause auch unumstritten.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Was nun die ins Grundsätzliche gehenden politischen Fragen angeht: Es haben mehrere Kollegen aus den Reihen der Opposition — ich deutete es einleitend schon an — mit bemerkenswerten Beiträgen in die Debatte eingegriffen. Aber das blieben doch Beiträge, von denen man nicht weiß, wieweit sie repräsentativ für die große Fraktion der CDU/ CSU sind.
Die Opposition hat insgesamt für meine Begriffe noch nicht deutlich gemacht, ob sie wieder weithin in steril anmutender Neinsagerei machen will, oder ob sie Ballast abwerfen wird.

(Zurufe von der CDU/CSU.)

Sie hat auch für meine Begriffe noch nicht jene Souveränität gewonnen, die es braucht, wenn man nach Gemeinsamkeit nicht nur rufen will, sondern wenn man die Gemeinsamkeit dort, wo sie tatsächlich vorhanden ist, als Opposition gegenüber der Regierung und der Mehrheit auch glaubhaft machen will.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Herr Kollege Barzel wird es nicht falsch verstehen, wenn ich mich zunächst nicht mit seiner Oppositionserklärung vom Donnerstag voriger Woche auseinandersetze, sondern zuerst etwas zu der vorgestrigen Rede von Herrn Kollegen Strauß sage. Er
— der Kollege Strauß —hat ein düsteres Bild von der bundesrepublikanischen Gesellschaft gezeichnet, als stünde der Untergang in einem roten Sturm kurz bevor. Uns, die angeblich auf verlorenem Posten stehen, bietet er seine Solidarität an — was er so nennt.
Nun, ich weise eine Solidarität der Vernunft niemals zurück; aber in eine Koalition der Unvernunft werden wir uns natürlich nicht einlassen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Seiters: Und was Vernunft ist, bestimmt der Kanzler?! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

Wir reiten — was Herrn Strauß angeht, dem ich das leider nicht selbst sagen kann — seinen Galopp der Irrationalität nicht mit. Das gilt gleichermaßen für die infantristische Version des Herrn Dregger, wie sie uns gestern geboten wurde.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

Wir brauchen uns auch nicht sagen zu lassen, wie man klare Distanz gegenüber allen extremistischen und totalitären Anfechtungen schafft. Der eine und andere von uns hat sich zweimal — nach 1933 und nach 1945 — mit solchen Gefahren auseinanderzusetzen gehabt, und zwar so, daß die persönliche Existenz in Frage stand. Deshalb verschonen Sie — das geht insbesondere an die Kollegen Dregger und Marx und auch Strauß — uns also bitte mit Belehrungen, deren wir nicht bedürfen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

Was den Begriff der Mitte angeht: Ich habe seit gestern abend ein gewisses Verständnis dafür, daß sich Herr Strauß im Verhältnis zu Herrn Dregger als weniger rechts empfindet;

(Beifall bei den Regierungsparteien)

aber die Mitte repräsentiert er doch gewiß nicht. Er ist gewiß auch kein Mitte-Vertriebener, sondern er hat doch auf seine Art — so weit liegt das nämlich nicht zurück, und alles kann nicht außen vor bleiben, was nicht gerade hier gesagt wird —, er hat doch durch einen spezifischen Wortextremismus nicht zur Stärkung der Mitte, sondern zum Gegeneinander der Kräfte in dieser unserer Bundesrepublik erheblich beigetragen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Holzen!)

Unser Begriff der „neuen Mitte", meine Damen und Herren, ist natürlich nicht in der Geometrie anzusiedeln, das weiß ich auch.

(Abg. Seiters: Er ist bivalent!)

Er handelt von politischen Gewichten, die sich aus politischen Entwicklungen, politischen Veränderungen ergeben haben. Die Sammlung aufgeklärter Bürger in der sozialen und liberalen Mitte bedeutet übrigens durchaus noch nicht, daß die Unionsparteien — wie es der „Chefmythologe" aus Hamburg vorausgesagt hatte — für eine Epoche aus der Mitte verdrängt würden. Nein, das könnten SPD und FDP



Bundeskanzler Brandt
allein gar nicht schaffen; das könnten, wenn es so käme, die Unionsparteien nur selber besorgen.

(Lebhafte Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Unserem Begriff der neuen Mitte hat Herr Strauß eine — wie ich es empfunden habe — im Schnellverfahren produzierte Lehre in zehn politischen Geboten gegenübergestellt. Manches erscheint dabei als ein recht kühner Sprung in eine Art von Konversion, die Eile z. B., mit der er — ich komme darauf gleich noch einmal zurück — Abstand vom Kapitalismus als Selbstzweck suchte.

(Zuruf von der CDU/CSU: Überhaupt nichts Neues!)

Im Punkt zwei war vom christlichen Sittengesetz in der weitesten Auslegung des Wortes die Rede. Herr Kollege Strauß hat es vorgestern wahrhaftig weit ausgelegt. Ich bin versucht zu fragen, ob seine häufig von ihm gewählte Technik der politischen Auseinandersetzung von dieser weiten Auslegung noch mit gedeckt ist.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP.)

Bei allem — es läßt mich mittlerweile kalt —, was ich selbst an Aggressionen von Herrn Strauß habe entgegennehmen müssen:

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

Ich bedauere, wie sich eine der großen Begabungen der deutschen Politik um seine Wirkung bringt und sich politisch immer wieder selbst zerstört!

(Lebhafte Zustimmung bei den Regierungsparteien. — Widerspruch bei der CDU/CSU. — Zuruf von der CDU/CSU: Was soll das?)

Aber, meine Damen und Herren, ich möchte jetzt etwas zu einer grundsätzlichen Frage sagen, nämlich zur Frage der Leistung — der Leistungen in einer modernen demokratischen Gesellschaft. Bei der Führung der Opposition begegnete ich vorgestern und gestern — ich denke an die Kollegen von Weizsäcker und Katzer — der Kritik aus entgegengesetzten Richtungen. Der eine meinte, ich sei nicht weit genug gegangen, nicht hart genug ge-gewesen — „hart" ist ja ein deutsches Modewort, auch bei Weichmachern übrigens; auch da muß es dann hart zugehen! —,

(Heiterkeit bei der SPD)

sondern ich hätte, statt hart genug zu sein, der Gleichmacherei Konzessionen gemacht. Und der andere dichtete mir — wie ich es empfunden habe — rückständiges Denken und außerdem Illusionen über eine konfliktfreie Gesellschaft an.
Ich habe aber, Herr Kollege Katzer, wie man sehr wohl nachlesen kann, von jenem gewandelten Bürgertypus gesprochen, der — so hieß es — seine Freiheit auch im Geflecht der sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten behaupten will. Ich habe dies einen Prozeß genannt, der in die Tiefen unserer sozialen Existenz reicht. Ich habe von den neuen Schnittlinien progressiver und bewahrender Interessen und davon gesprochen, daß unsere Bürger
trotz des Streites der Interessen eine Heimat in der Gesellschaft suchen, die allerdings nie mehr ein Idyll sein werde, wenn sie es je gewesen sein sollte. Und ich habe auch gesagt, daß der Wille zur guten Nachbarschaft in der Konkurrenz geistiger Kräfte und bei allen realen Konflikten spürbar bleiben müsse. Nichts von „konfliktfreier Gesellschaft"! Was soll also der Vorwurf, ich huldigte einem Biedermeier und redete nicht von sozialen, realen, anderen Konflikten in der Gesellschaft? Das geht an der Sache vorbei.
Was die Leistungsbegriffe angeht, so muß ich auch an das erinnern, was hier am vergangenen Donnerstag wirklich gesagt worden ist.
Erstens und ich wiederhole dies ausdrücklich,
auch wenn es mir, auch außerhalb des Hauses, einige Kritik eingebracht hat — soll wirklich niemand glauben, wir könnten mit selbstverständlicher Automatik mehr verdienen, wenn wir weniger leisten.

(Beifall bei der Regierungsparteien.)

Zweitens geht es tatsächlich um das Wo, Wie und Wofür des wirtschaftlichen Wachstums.
Und drittens: Der Bürgerstaat ist nicht bequem, und Demokratie braucht Leistung. Wer wird das ernsthaft bestreiten wollen?

( tun kannst! (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Die Notwendigkeit der Leistung kann ernsthaft nicht bestritten werden. Die Gesellschaft kann ihre Leistungen für den einzelnen, vor allem für den Schutzbedürftigen, nicht steigern, wenn nicht auch der leistungsfähige Bürger zu seinem angemessenen Beitrag zum Wohl des Ganzen bereit ist.
Aber ich habe bewußt nicht von der Leistungsgesellschaft gesprochen; denn darin sehe ich die Gefahr einer einseitigen Auslegung. Und die „humane Leistungsgesellschaft", Herr Kollege Barzel, wirkt auf viele von uns noch wie ein schwammiges Schlagwort, als ob die drei Begriffe wie mit einer Stahlfeder zusammengezwängt werden könnten oder sollten. Wir brauchen aus meiner Sicht eine Gesellschaft, die den natürlichen Willen zur Leistung versteht und auch die Freude an der Leistung honoriert. Aber wir wollen, denke ich, keine Gesellschaft, die für — zumal eine eng ausgelegte — Arbeitsleistung lebt; denn die könnte kaum human sein. Die Menschlichkeit der Gesellschaft hat aber Wert und Maß zu setzen.
Leistung ist im übrigen nicht nur das, was man vom anderen verlangt. Leistung ist auch nicht nur das, was sich in Arbeitsstunden niederschlägt oder was in Mark und Pfennig berechnet werden kann. Leistung ist natürlich auch vermehrte Erzeugung durch erhöhte Produktivität. Natürlich ist auch das



Bundeskanzler Brandt
Leistung. Leistung bedeutet für mich auch das selbstgewollte Engagement vieler Bürger für die demokratischen Institutionen und die gesellschaftlichen Verbände. Leistung heißt auch, sich darüber klarzuwerden, was vom Bürger als Beitrag für die Gemeinschaftseinrichtungen, für die öffentlichen Aufgaben erwartet werden muß, wenn seine Forderungen beispielsweise für das Bildungswesen, für das Gesundheitswesen und für soziale Infrastruktur nur annähernd erfüllt werden sollen. Daß dabei Gerechtigkeit und Belastbarkeit des einzelnen wesentliche Gesichtspunkte sind, das macht die Regierungserklärung, wenn auch, wie ich zugebe, in der gebotenen Kürze, gewiß deutlich.
Die Bedingungen, unter denen Arbeit geleistet wird, müssen weithin geändert werden. Deshalb arbeiten wir am Arbeitsrecht, an der Verbesserung der Arbeitsverhältnisse, an der Realisierung von mehr Mitbestimmung. Dies sind doch gerade die Stichworte, die signalisieren, daß sich Leistung in Zukunft in einer besseren sozialen Umwelt zu vollziehen hat.
Aber ebenso offen will ich sagen: Der Abbau von Fremdbestimmung in der Arbeit kann nicht Anlaß eines grundlegenden Mißverständnisses der Leistung des Menschen für sich und für die Gesellschaft sein. Die Existenz des Menschen und das Wesen der Gesellschaft sind auch in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung, aus der ich komme, niemals losgelöst worden von der Arbeit und niemals losgelöst von den Bedingungen dieser Arbeit behandelt worden.
Das Wort Leistung stellt in Wahrheit viele Fragen: ob ihre Erträge gerecht verteilt sind, ob sie — die Arbeit — jeweils die Anerkennung erfährt, die ihr gebührt. Dabei denke ich auch an viele, die für den Nächsten persönlich oder in karikativen Organisationen wie selbstverständlich Verantwortung übernehmen. Die Frage, ob Leistungen des Menschen zum nachzählbaren Gewinn beitragen, kann nicht der einzige Maßstab sein.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Und trotzdem: von nichts kommt nichts. Da wir uns viel vorgenommen haben, um das Reformprogramm der letzten drei Jahre weiterzuführen, habe ich es für richtig gehalten, folgendes zu sagen und ich wiederhole es hier noch einmal —: Erneuerung von Staat und Gesellschaft geschieht nicht von allein, sondern wir müssen uns alle für sie anstrengen. Darauf kam es an, und davon ist nichts abzustreichen. Über den Inhalt wird immer weiter zu sprechen sein.
Herr Kollege Barzel hat gerügt — und andere haben das in der Debatte wiederholt —, daß ich in der Regierungserklärung kein — wie man es nennt — Bekenntnis zu dem abgelegt habe, was soziale Marktwirtschaft genannt wird. Ich meine. man sollte mit den Worten „bekennen" und „Bekenntnis" vorsichtiger sein.

(Zustimmung bei der SPD.)

Die Bundesrepublik ist ja in den Jahren, die sie
auf dem Buckel hat — das sind gar nicht einmal so
furchtbar viele Jahre —, mit einer Inflation von Bekenntnissen überschwemmt worden. Solche Bekenntnisse ersetzen aber nicht die Politik.
Herr Kollege Friderichs hat das gestern aus seiner Sicht zu diesem wichtigen Abschnitt unserer Politik deutlich gemacht. Längst nicht alles, was sich im Laufe der Jahre als soziale Marktwirtschaft offerierte, ist marktwirtschaftlich gedacht, von sozial nicht zu reden. Im Gegenteil: der Begriff drohte bei manchen zu einer bloßen Tarnformel für ihr in Wahrheit antisoziales Handeln zu werden.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Der Begriff deckt oft genug den Rückzug auf das, was man den risikolosen Kapitalismus nennen könnte. Es handelt sich um jene doch auch hier und da immer wieder festzustellende nur begrenzt unternehmerische Handlungsweise, die sich alle Vorteile des bestehenden Wirtschaftssystems sichern, aber alles Risiko am liebsten auf den Staat, d. h. auf die Gemeinschaft der Bürger, abschieben möchte.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Gemeint ist manchmal wirklich nur die Privatisierung der Gewinne ud die Sozialisierung der Verluste.
Die soziale Verpflichtung der Wirtschaft ist im Grundgesetz verankert. Im übrigen ist die wirtschaftliche Ordnung nicht im Grundgesetz verankert,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

was für mich nichts daran ändert, daß ich der Marktwirtschaft auf Grund der Erfahrung, in unserem Lande und anderswo, eindeutig den Vorrang gegenüber anderen Formen der wirtschaftlichen Organisation gebe. Aber über die im Grundgesetz verankerte soziale Verpflichtung des Wirtschaftens brauchen wir uns nicht in einen Streit einzulassen. Sie ist für uns keine weltanschaulich aufgedonnerte Theorie, sollte es nicht sein.
Ich will Ihnen, werte Kollegen, im übrigen gern sagen, warum ich gegenwärtig diesem — wie man es nennt — Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft gegenüber noch etwas wortkarger bin, als ich es ohnehin geworden war. Denn da sitzt das doch noch ein bißchen in den Knochen, was unter diesem Schlagwort mit vielen Millionen für meine Begriffe zur Verwirrung der Bürger aufgewendet worden ist, wie wir uns erinnern, auch durch den im übrigen verehrten Professor Erhard und durch einen anderen Professor, um den es merkwürdig still geworden ist.

(Beifall bei der SPD.)

Im übrigen: Statt uns zu bekennen, wie man sagt oder fordert, statt uns zu bekennen, haben wir in der Regierungserklärung konkret von Kriterien der Marktwirtschaft gesprochen, auch von den Kriterien des geschützten Eigentums und der sozialen Sicherung. Unsere Vorschläge zur Kartellgesetzgebung — Vorstellungen, nicht nur Vorschläge — verstehen die Hellhörigen ganz richtig. Der Markt muß und soll nach unserem Willen durch Wettbewerb offener und damit die Wirtschaft sozialer werden, weil so wirtschaftliche Macht gebändigt wird. Dazu braucht



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es kein Bekenntnis. Wir unterwerfen hier die Vernunft nicht einer unverbindlichen Konfession.
Ein Blick zurück weist uns im übrigen c darauf hin, daß manche Leute unter sozialer Marktwirtschaft auch eine konsequente Nichteinmischung des Staates und der Bürger verstanden haben, also eine Art Neuauflage des Laisser-faire, die dem Staat nicht viel mehr läßt als die berühmte Nachtwächterrolle. Ja, man konnte in vergangenen Jahren sogar bei den gleichen Leuten, die besonders viel von sozialer Marktwirtschaft redeten, auch Dinge hören, die ich als Staatsfeindlichkeit, jedenfalls dem modernen demokratischen Staat gegenüber, aufgefaßt habe. Für die Menschen in diesem Land wird das zählen, was wir tun, um die marktwirtschaftliche Ordnung zu festigen und an die Bedürfnisse unserer Gesellschaft anzupassen. Ich glaube übrigens, es war völlig deplaciert, wenn gestern gesagt wurde, wir hätten nicht an die kleinen und mittleren Unternehmen gedacht. Ganz im Gegenteil. Es geht uns sehr darum, ihre — der mittleren und kleinen Unternehmen — Stellung zu festigen und natürlich vor allem auch die Stellung der Verbraucher zu stärken. Auch die Opposition wird sich daran messen lassen müssen, wie weit sie verbalen Bekenntnissen auf diesem Gebiet Taten folgen läßt. Wer die Regierungserklärung gehört und gelesen hat, der weiß, daß ich von der Sicherheit auch durch menschliche Solidarität gesprochen habe und von jenem Mehr an Gerechtigkeit, das mehr reale Freiheit schaffen soll.
Nun hat Herr Strauß vorgestern besonders verständnisvolle Worte für die Gewerkschaften gefunden.

(Heiterkeit bei der SPD.)

Ich bin ihm dafür sogar dankbar, denn das erleichtert mir die Arbeit, weil es zu begrüßenswerten nachdenklichen Reaktionen bei den so Angesprochenen geführt hat und ja auch nur führen kann. Im übrigen unterschätze niemand die bedeutendste Kapitalbildung, die nach meiner Meinung in den vergangenen Jahren bei uns in der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat: Damit meine ich das Kapital der Vernunft, das die breiten arbeitenden Schichten unseres Volkes haben walten lassen.

(Starker Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dieses Kapital der Vernunft trägt gute Zinsen, aber nicht auf dem Konto von Demagogen. Aber auch dies: Wer von den Arbeitnehmern erwartet, daß sie auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge Rücksicht nehmen und auch mal ein Jahr — oder sogar ein paar Jahre — ohne nennenswerten Zuwachs zum Lebensstandard durchkommen müssen, der muß mit gutem Beispiel vorangehen. Und manchen von denen — das sollten alle, die mit Herren aus den entsprechenden Schichten zu tun haben in diesem Hause, mit auf den Weg nehmen, wenn ich den Rat geben darf —, manchen von denen, die von anderen Opfer erwarten, würde hier etwas preußische Bescheidung durchaus bekommen.

(Beifall bei der SPD. — Abg. van Delden: Das gilt auch für die Regierung! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Strauß: Das war der Witz des Tages!)

Nun meinte Herr Barzel auch, daß er uns vorwerfen könne, wir hätten dazu beigetragen, „daß die fundamentalen Unterschiede verwischt werden" — damit meinte er jene gegenüber der kommunistischen Welt und vor allem der DDR — und daß „die Wertvorstellungen unserer freiheitlichen Ordnung im Bewußtsein vieler an Strahlkraft verlieren". Nun frage ich Sie, Herr Kollege Dr. Barzel: Braucht Ihre freiheitliche Ordnung immer notwendig das totalitäre Gegenbild, um ihre „Strahlkraft", wie Sie es nennen, zu gewinnen,

(Beifall bei cien Regierungsparteien)

damit deutlich wird, wie freiheitlich und ordentlich man eigentlich sei? Ich denke, unser Begriff von Freiheit lebt nicht von der Unfreiheit anderer.

(Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Er lebt -- wie könnte er anders frei sein? — aus sich selbst, nämlich in der Souveränität des Freiheitswillens unserer Bürger und in der demokratischen Ordnung selbst verankert.
Meine Damen. und Herren, was Europa angeht, so bedaure ich, feststellen zu müssen, daß die Opposition im wesentlichen noch nicht so weit ist, uns sonderlich hilfreiche Hinweise geben zu können. Herr Barzel meinte, uns ankreiden zu müssen, die Europäische Union in unserer Formulierung bedeutet "nur ein Geflecht und nicht eine Gemeinschaft". Aus Paris brachten wir erst im Oktober 1972 und jetzt im Januar vor wenigen Tagen andere Nachrichten mit. Deshalb muß ich bitten, vorweg für die Weiterführung dieses Meinungsaustausches, der uns in den kommenden Monaten noch beschäftigen wird, die Frage vorzumerken: Welches Europa will die Opposition, und mit wem will sie es begründen? Doch nicht mit ausgedachten Partnern!

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Mit wem will sie es begründen, mit den realen Europäern, die unsere Nachbarn und Zeitgenossen sind, oder mit Europäern, die sie sich erträumt?

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Auch wir wollen die vereinigten Staaten von Europa, wenn Zeit und Verhältnisse reif sind, aber wir wollen vor allem jetzt die Fortschritte, die gemeinsam mit den Partnern möglich sind; und es sind viele und wesentliche Fortschritte jetzt möglich. Wir wollen, mit anderen Worten, europäische Nägel mit europäischen Köpfen machen und nicht nur europäische Bekenntnisse ablegen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Was Europa in der anderen Dimension, nicht West-West, sondern West-Ost, angeht, so frage ich mich heute immer noch, ob Herr Marx wirklich für die große Fraktion der CDU/CSU verbindlich hat sprechen können; denn es wäre schade, wenn das gar nicht mehr unterschwellige, sondern offensichtliche Mißtrauen, das er gegenüber unseren Verbündeten zum Ausdruck bringt, wirklich der Opposition insgesamt angelastet würde. Gerechtfertigt ist dieses Mißtrauen gegenüber unseren Verbündeten nicht.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)




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Auch wenn wir in die andere Himmelsrichtung, also in die östliche, schauen, muß ich doch fragen, ob hier ernsthaft jemand glaubt, der besondere Umgang des Herrn Marx mit der osteuropäischen Landkarte — nachzulesen in der Niederschrift seiner gestrigen Rede — könnte einem Verhandlungsklima dienen, das uns Chancen gibt, Europa zwischen Ost und West offener werden zu lassen. Nein, in der von Herrn Marx aufgerissenen Kluft ist Raum für all die Illusionen, die von Teilen der Opposition immer noch im Überschuß produziert werden. Aber ich fürchte, die Wirklichkeitsferne wird draußen bedenklichere Nachwirkungen haben. Deshalb ist es gut, daß wir auch hier die Dinge weiter voranbringen, weiter klären und feststellen, ob wir wirklich so weit auseinander sind, wie wir es wären, wenn Herr Marx verbindlich für die ganze Fraktion der CDU/CSU gesprochen hätte.
Herr Barzel irrte übrigens vorige Woche, als er meinte, unser Vertreter in Helsinki sei in Fragen der Bewegung der Menschen, der Kommunikation in Europa lau gewesen. Das ist nicht so, Herr Barzel. Ich habe ja nicht ohne Grund am Donnerstag den einen Satz in die Regierungserklärung hineingeschrieben, dessen Hintergrund zu dem Zeitpunkt nur ein paar von uns hier — auch auf der Regierungsbank — kennen konnten, im wesentlichen der Außenminister und ich, den Satz, ich sei heute — das galt für vorige Woche, das gilt aber für diese Woche erst recht — davon überzeugt, daß, wenn ich europäische Sicherheit und Zusammenarbeit sage, dabei auch substantielle Fortschritte möglich sind. Das ist nicht das Ergebnis von Wunschdenken, sondern das ist eine Einschätzung, gestützt auf verantwortlichen Meinungsaustausch mit Verbündeten und anderen Partnern.
Herr Barzel hat dieser Bundesregierung vorgeworfen, sie enthalte dem Parlament pflichtwidrig den Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland vor. Es ist sogar — auch in dem Akkompagnement zu unseren Debatten — davon die Rede gewesen, die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien wollten künftig nicht mehr über die Lage der Menschen im anderen Teil Deutschlands sprechen oder sprechen lassen. Beides hat doch mit der Wahrheit nichts zu tun. Auch Herr Kollege Barzel sagt doch, daß ihm die Wahrheit am Herzen liege. Dann muß er aber doch bitte zur Kenntnis nehmen, daß folgendes richtig ist. Es darf nach unserer Auffassung nicht mehr über die Lage der Nation nur geredet werden — geredet auch, aber nicht mehr nur geredet werden —, sondern wir müssen handeln, so gut es uns möglich ist, um die Lage der Menschen in Deutschland zu verbessern. Diese Bundesregierung hat gehandelt. Sie wird nicht nachlassen in ihren Bemühungen, schrittweise weiter voranzukommen.
Viele in der Opposition begnügen sich immer noch mit der Klage, das alles sei ihnen nicht genug, und darum sei es schlecht. Aber dies wird nicht gedeckt durch den tatsächlichen Ablauf. Herr Kollege Franke hat neben den Argumenten, die er beizusteuern hatte, Zahlen genannt, die die Menschen verstehen und bei denen wir nicht stehenbleiben
werden. In Wirklichkeit ist es doch wohl immer noch so, daß ein nicht unwesentlicher Teil der Kollegen aus der Union weiterhin nicht von dem Standpunkt weg kann, man dürfe im Grunde keine Verträge mit, wie sie sagen, der sogenannten DDR schließen, man dürfe dies eigentlich aus moralischen, auch aus politischen Gründen nicht tun. Das führt dann aber zu der gedanklichen Einstellung, daß man sich selbst im politischen Denken zur Voraussetzung macht, daß die DDR nach unseren bzw. Ihren — auf die Opposition bezogenen — Vorschriften zu handeln habe.
An dieser Politik der Vorbedingungen sind aber alle Versuche früher gescheitert, die Lage für die Menschen in Deutschland zu bessern. Deshalb mußte die Politik geändert, weiterentwickelt werden. Wir haben 1969 die DDR einen Staat genannt, weil sie ein Staat geworden ist. Wir haben gleichberechtigte Verhandlungen begonnen, weil es keine anderen Verhandlungen geben konnte. Wir haben ein ausgewogenes Vertragswerk unterzeichnet, mit dem diese beiden Staaten anfangen können, friedlich nebeneinander zu leben und ein Miteinander zu versuchen. Ich sage Ihnen: Durch diese Politik, unzulänglich wie sie sein muß — gemessen an unseren gemeinsamen Zielen und dem, was uns die Verfassung vorschreibt, was wir nie aus dem Auge verlieren —, ist die deutsche Nation in diesen Jahren wieder lebendiger und wirksamer geworden.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir werden, meine Damen und Herren von der Opposition, Unrecht weiter Unrecht nennen und unsere Meinung über die Verhältnisse in der DDR ebenso deutlich sagen, wie man sie von dort drüben, von der Regierung und der Führung, tatsächlich über unsere Verhältnisse hört. Aber wir werden auch die Grenzen respektieren, die sich aus der Tatsache ergeben, daß wir künftig Beziehungen zur DDR unterhalten werden, wie sie zwischen Staaten üblich sind.
Ich füge dem, was ich dazu in der Regierungserklärung gesagt hatte, heute hinzu: Ich hoffe, daß die Debatten, denen wir entgegensehen, von der Verantwortung für das Schicksal des Volkes und nicht von parteitaktischen Überlegungen bestimmt sein werden.

(Abg. Frau Tübler: Das sollte aber für alle gelten!)

— Ja, ich sage das an unser aller Adresse, nicht nur an die Adresse einer Gruppe.
Die Frage ist: Was soll mit uns Deutschen jetzt in dieser unvollkommenen Welt werden, in der wir leben müssen? Die Bundesregierung kann mit dem, was Herr Kollege Barzel in einem reichlich kryptischen Satz so nannte, nichts anfangen: daß der DDR zugemutet werden müsse, der Realität der Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem wir der Realität ins Auge sehen, daß die staatliche Einheit Deutschlands zur Zeit nicht verwirklicht werden kann. Wenn man das zwei-, dreimal liest,

(Abg. Dr. Barzel: Weiter! Wenn Sie weiterlesen, haben Sie sofort die Erklärung!)




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kommt man darauf, daß hier in einer verschleierten Sprache der Versuch gemacht wird, die Politik nachzuformulieren, die wir eingeleitet haben. Dann wäre es richtiger, das zu sagen, statt Herrn Windelen sagen zu lassen, was er hier gesagt hat

(Abg. Wehner: Sehr wahr!)

und was ein schweres Hindernis in der Zusammenarbeit auf diesem Gebiet bleibt.

(Beifall bei der SPD.)

Die Bundesregierung vertritt natürlich die Interessen aller Bürger, auch die von Herrn Windelen, selbst wenn er Schwierigkeiten hat, zu erkennen, daß wir die wirklichen Interessen des Staates, der Nation zu vertreten bemüht sind.
Nun kreuzte in der Rede des Kollegen Barzel die undurchsichtige und zugleich doch allzu durchsichtige Bemerkung auf, irgendwann könnten mit Schalmeien-tönen Einheitskonföderationspläne lanciert werden. Aber, Herr Kollege Barzel, auch Sie könnten doch nicht, selbst wenn Sie es wollten — aber Sie wollen es doch nicht —, in wildesten Halluzinationen die Zwangsvereinigung der Kommunisten und der Sozialdemokraten nachträglich vollziehen, die Kurt Schumacher für seine, für meine Partei verweigerte. Das kann hier doch keiner. Hätten die Sozialdemokraten damals übrigens versagt, dann gäbe es dieses Parlament und diese Bundesrepublik Deutschland nicht.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP.)

Insoweit wurde die deutsche Freiheit 1946, 1947 und 1948 gerettet. Der unselige Verein, der von der Rettung der Freiheit handelte, hat sich sehr viel später betätigt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

In diesem Zusammenhang fragten Sie, ob hier eine Latte im Gartenzaun morsch geworden sei. Ich weiß nicht, was hier morsch und faul sein könnte. Es ist manches denkbar. Hier war von Zäunen die Rede. Aber der Führer der Opposition plädiert doch wohl nun nicht seinerseits für eine Strategie der Abgrenzung. Wir empfänden das als eine bedauernswerte Schwäche. Wir meinen, uns müßte miteinander eine Gartenzaunmentalität fremd sein.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Gestern hat sich dann an Herrn Windelens Berner-kung eine Diskussion angeknüpft, von der einige meinten, sie solle der Wahrheit dienen. Gestern wurde — übrigens auch von mir; man kommt nicht immer gleich auf alles — versäumt, auf die dreierlei Wahrheiten hinzuweisen, auf die sich der frühere Bundeskanzler Adenauer

(Abg. Wehner: Der Altmeister!)

bei Gelegenheit bezogen hat. Ich mache mir diese Dreiteilung der Wahrheit nicht zu eigen. Aber dies will ich gern sagen: Nur Heuchler können bestreiten, daß sie ihre Auffassung zu Fragen des konkreten politischen Verhaltens im Laufe der Jahre, vor und nach Wahlen entwickelt und damit verändert haben.
Ich habe in der Großen Koalition die Unterzeichnung des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen für richtig gehalten. Aber au: gesamtpolitischen Gründen habe ich es für falsch gehalten, diesen Konflikt zuzuspitzen, so daß er mi meinem Ausscheiden — und vermutlich auch den meiner Freunde — aus der Regierung Beende hätte. Ich habe damals gegen Schluß der Großer Koalition — er hängt genau mit dem Punkt vor Herrn Windelen zusammen — den Abbruch de: Beziehungen zu Kambodscha für Unsinn gehalten Aber ich bin deswegen nicht zurückgetreten. Was hier durch Vermengung der Begriffe „Wahrheit' und „Wirklichkeit" gestern verwirrt werden sollte veranlaßt mich heute zu der Feststellung, dai Schlauheit eben doch nicht Wahrheit ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Was ist nun mit dem Antiamerikanismus, vor dem hier die Rede war? Ich denke, ich kann es ab. lehnen, mich als Adressaten dieser Anwürfe zu be trachten. Antiamerikanismus — das gilt sicher für manche Gruppen draußen im Lande. Aber auch ir dem, was Herr Marx hier als Ablehnung der mi den Amerikanern und unseren anderen Verbünde. ten gemeinsamen Politik vorgetragen hat, steck eine gehörige Portion Antiamerikanismus.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Übrigens, Herr Kollege Wörner — ich weiß nicht ob er jetzt im Saale ist — hat gefragt — ich wil die Antwort geben; Staatssekretär Berkhan hat dazu schon etwas gesagt —, welche anderen als vor. schnelle Schlüsse die Bundesregierung aus der unterschiedlichen Rüstungsentwicklung im Osten und Westen unseres Kontinents zu ziehen gedenke. Die Antwort ist: Jene Schlüsse, zu denen wir als Teil des Bündnisses und gemeinsam mit ihm gelangen Genau das ist die Antwort.
Es fehlt mir im übrigen gewiß nicht an Erfahrungen in bezug auf Diskussionen über den Zusammen hang zwischen Entspannung und Sicherheit. Ich muß manche solcher Diskussionen führen, anderswo ah im Bundestag. Mit Schlagworten von gestern sind diese Diskussionen aber ganz gewiß nicht zu be stehen. Das wird auch derjenige merken, der die Erfahrung selbst noch nicht gemacht hat.
Herr Kollege Möllemann hat soeben, bevor id das Wort bekam, für sich eine Erklärung abgegeben die, wie wir festgestellt haben, auch den Empfindungen anderer Kollegen — zumal aus den Reiher der Koalitionsparteien — entsprach. Diese Kollegen
haben es jedenfalls zu erkennen gegeben. Es würde mich wundern, wenn manches von diesen Gedanken nicht auch Kollegen in den Unionsparteien bewegt Herr Kollege Möllemann, ich würde es für gut halten, wenn Sie einmal in Ruhe mit dem Bundesaußen minister über die Zusammenhänge redeten.

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

— Nein, ich sage das jetzt in vollem Ernst. Es gib gewisse Dinge, über die wir nicht haben sprechen können, die ich auch selbst hier nur angedeutet habe. Ich stehe übrigens auch für eine Unterhaltung



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zur Verfügung. Ich habe zugestimmt, nicht erst jetzt, wo die Bombardements im Grunde aufhörten, wo dieses schwierige Gezerre war, das grausame Gezerre, zum Waffenstillstand in Vietnam zu kommen, ich habe vor fünf Jahren — so lange ist es jetzt fast her — auf meinem Parteitag in Nürnberg mitgestimmt. Das war in einer Zeit, in der ich Bundesaußenminister war. Ich habe dafür gestimmt, zu sagen:
Das Lebensinteresse des vietnamesischen Volkes verlangt Waffenruhe und Frieden als Voraussetzung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Dazu gehört die Bereitschaft aller Beteiligten, auf eine militärische Lösung des Konflikts zu verzichten und eine politische Regelung anzustreben.
Das habe ich vor fünf Jahren mitbeschlossen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich habe mich im Sommer des vergangenen Jahres in Wien auf dem Kongreß der Sozialistischen Internationale zu Wort gemeldet, nicht auf einer Geheimtagung, sondern öffentlich, abgewogen, aber auch abgegrenzt gegenüber dem, was man zu Recht Antiamerikanismus nennen kann.
Die Ereignisse der letzten Wochen, die dieses schwer, dieses schrecklich geprüfte Volk auch in letzter Stunde noch immer wieder den Schrecken modernen Bombenkrieges ausgeliefert haben, gerade diese Ereignisse der letzten Wochen machen es uns allen unmißverständlich deutlich, daß die Anwendung von Gewalt kein Mittel zur Lösung politischer Konflikte mehr sein kann.

(Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Ich vergebe mir gar nichts, wenn ich hier etwas vorwegnehme, weil man insofern dann eben doch nicht nachher den Mantel des Bundeskanzlers ausziehen und den des Parteivorsitzenden anziehen kann; ich scheue mich gar nicht, hier hinzuzufügen, daß ich meinem Parteivorstand heute nachmittag vorschlagen werde, dem, was eben gesagt wurde, und einigem anderen hinzuzufügen, daß meine politischen Freunde und ich das Engagement zahlreicher Bürger unseres Landes anerkennen, durch Appelle die kriegführenden Gruppen in Vietnam zum Friedensschluß zu bewegen, aber sie auch zu bitten oder, wo es über die Bitte hinaus einer Aufforderung bedarf, sie aufzufordern, nicht zuzulassen, daß Friedensliebe und Proteste gegen den Bombenkrieg zu ganz anderen Zwecken politisch mißbraucht werden.

(Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

Was Herr Kollege Dregger hier als ein „Volksfront-Europa" vorzuführen versuchte, das halte ich für ein Gespenst, und ich widerstehe der Versuchung, ihn — den Kollegen Dregger —, der es selbst noch schwer genug haben wird, sich mit den antidemokratischen Regimen und Gruppierungen zu konfrontieren oder zu identifizieren, die sich als konservative Regime in Europa bezeichnen.

(Beifall bei der SPD.)

Aber keine Sorge!, würde ich dem Kollegen Dregger selbst sagen, wenn er hier wäre. Keine Sorge, Herr Dregger! Hier gibt es keine schleichende Revolution, die wird es nicht geben in dieser Bundesrepublik. Aber hier wird es geben und muß es geben die offene Reform gegen die getarnte und die ungetarnte Reaktion. Die muß es geben.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Verlassen Sie sich darauf, daß wir uns mit jenen jungen Sozialdemokraten, die nach unserer Meinung auf dem Holzweg sind — wer in allen einzelnen Fragen später recht bekommt, das kann man auch nicht immer so genau wissen; ich kann immer nur sagen, die nach meiner Überzeugung auf dem Holzweg sind —, und mit anderen, die man Linke nennt, auseinandersetzen, aber nicht solchen Auffassungen zuliebe, wie sie hier von Herrn Dregger vorgetragen wurden.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)

Mit primitivem Antikommunismus ist kein Staat zu machen, schon gar kein demokratischer Staat.

(Erneuter Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)

Wenn ich mir nun die Themen noch einmal anschaue, die wir hier behandelt haben, komme ich, ohne alle Punkte noch einmal aufgreifen zu können, zu folgendem Ergebnis.
Zunächst die Außen- und Deutschlandpolitik:
Erstens. Die entschlossene Verwirklichung der Europäischen Union, damit wir das in Paris gesetzte Ziel in der verabredeten Frist — womöglich früher — erreichen können. Ich habe nicht erkennen können, daß die Opposition dies wesentlich anders sieht.
Zweitens. Die Fundamentierung der europäischamerikanischen Allianz durch Prüfung und Ausgleich der gemeinsamen Interessen und Bewahrung der Sicherheit. Ich habe nicht sehen können, daß die Opposition dies wesentlich anders sieht.
Drittens. Abau der Spannungen von ihren Ursachen her. Das ist die Aufgabe, die wir uns durch die Teilnahme an den beiden Konferenzen setzen, die jetzt mühsam vorbereitet werden; darüber werden wir miteinander, so wie die Dinge voranschreiten, sehr ernsthaft reden müssen.
Viertens. Geduldige Arbeit für eine gute Nachbarschaft mit Osteuropa als Erfüllung und Ergänzung der Verträge, die wir geschlossen haben. Das sieht mancher bei Ihnen weiterhin anders, aber Herr Kollege Strauß hat vorgestern ausdrücklich gesagt, man müsse vom Boden der so geschaffenen demokratischen Tatsachen aus Politik machen.
Fünftens. Ratifizierung und Ausfüllung des Grundvertrages — ich hätte damit aber auch anfangen können — von zwei deutschen Staaten unter der konsequenten Forderung von uns — egal, wie lange



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es braucht, bis sie erfüllt ist —, daß auch an der Grenze zur DDR täglicher Friede einkehren kann

(Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und ein Höchstmaß an Freizügigkeit hinüber und herüber erreicht wird. Darüber werden wir in der Debatte zum Grundvertrag in gut zwei Wochen im einzelnen sprechen.
Was nun die Schwerpunkte im Inneren angeht, so stelle ich dazu folgendes fest.
Erstens. Die europäische und nationale Anstrengung für die Stabilität durch eine sorgsame Kreditpolitik, eine ausgewogene Haushaltspolitik und auch durch Verschärfung des Wettbewerbs. Hier können wir doch nur miteinander wetteifern, wenn ich das, was dazu gestern gesagt worden ist, recht sehe.

(Abg.. Dr. Barzel: Sehr gut!)

Zweitens. Die Steuerreform. Hier werden wir noch miteinander streiten; aber daß sie sein muß, stand ja schon in viele Jahre zurückliegenden Regierungserklärungen, als Sie die Regierung führten.

(Zuruf des Abg. Katzer.)

Drittens. Einfügung der Landwirtschaft als gleichberechtigter Partner in die Gesamtwirtschaft. Ich sehe es nicht so, daß dies — auch wenn wir zu der Debatte über den Agrarbericht kommen — als grundsätzliche Orientierung umstritten sein wird.
Viertens. Umweltschutz durch Vorausplanung und gesetzlich gesicherte Bestrafung der Umweltschädigung. Dem wird nicht widersprochen. Hier haben wir es allerdings mit dem Problem zu tun — es ist gestern behandelt worden —, ob Sie, da es hier der verfassungsändernden Mehrheit bedarf, dabei mithelfen wollen, rasch genug die entsprechenden Instrumente zur Verfügung zu stellen. Ich bitte Sie herzlich darum, und zwar nicht der Regierung wegen, sondern der Aufgabe wegen, die wir hier für unser Volk zu leisten haben.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Fünftens. Die Bekämpfung der Bodenspekulation und die Arbeit für lebensfähige Städte. Hier sehe ich voraus, daß wir zunächst wohl noch eine ganze Menge Streit haben werden. Aber unser Bestreben wird es doch sein — ich weiß es auch vom Kollegen Vogel —, uns, wenn es geht, auf möglichst breiter Basis zusammenzufinden.
Sechstens. Dies gilt auch für die Weiterarbeit an der Bildungsreform, einschließlich beruflicher Bildung. Bitte, helfen Sie durch Einwirken auf die Länder, in denen Sie Einfluß haben, mit, daß wir hier rascher vorankommen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Siebentens. Gewiß sind wir uns auch darin einig, was die Eingliederung der Behinderten und Schwerbeschädigten, also ausdrücklich auch der Kriegsbeschädigten, angeht.
Achtens. Doch wohl auch einig sind wir uns darin, was den Kampf um mehr Volksgesundheit und die Bekämpfung der Rauschgiftsucht angeht.
Neuntens. Beide — so habe ich es verstanden —, Mehrheit und Minderheit, sind sich über die Bedeutung der Frage, egal, welche Antwort man findet, einer weitschauenden Planung eines wirtschaftlich vernüftigen und gerechten Programms für das Gastarbeiterproblem als ein ökonomisches, soziales und menschliches Problem einig.
Zehntens. Bei der Reform des § 218 wird es wie bisher unterschiedliche Meinungen geben, nicht ganz genau nach Parteilinie — wie bisher. Es ist richtig, darauf hinzuweisen, daß die ohnehin im Grundgesetz vorgesehene Gewissensfreiheit der Abgeordneten hier einen besonderen Rang beanspruchen kann.
Ich sehe elftens nicht — bei aller Polemik des gestrigen Tages —, wie es in bezug auf den Kern der inneren Sicherheit, dessen, was der Bund tun kann — nein, was er in Wirklichkeit mit den Ländern zum Kampf gegen Kriminalität und Terror eingeleitet hat —, andere Meinungen geben kann. Jedenfalls habe ich nichts Praktikables gehört, was man an Stelle dessen, was wir eingeleitet haben, machen kann.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dann bleibt zwölftens wie gesagt, ich kann
keine vollständige Ubersicht geben — das gesellschaftspolitische Werk, das uns und weitere Bundesregierungen beschäftigen wird: die Mitbestimmung in den großen Betrieben und über die Betriebe hinaus, nicht überall mit gleichen Formen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft; Mitbestimmung des freien Bürgers durch Engagement und Initiative, durch gemeinsame Arbeit auch an den Gemeinschaftsaufgaben. Damit wird der Demokratie mehr Substanz verliehen, und darauf kommt es an.
Unser Programm ist nach vorn gerichtet. Es schwebt nicht in einer Wolkenwelt, in der die Lebenslügen gedeihen, die vielleicht die schlimmsten Gefahren für ein Volk sind, wenn sie lange genug kultiviert werden. Gegen die bequeme Neigung zu Lebenslügen setzen wir unseren Willen zur Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit. Um sie ging es auch in dieser Debatte.
Unser Volk will ehrlich vor sich selbst und vor der Welt sein. Nur so wird es die Schatten der Vergangenheit überwinden und in der Gegenwart bestehen und eine friedliche Zukunft gewinnen. Dafür werden wir, das kann ich hier versprechen, ehrlich arbeiten auf so breiter Basis wie jeweils möglich, und wir werden laufend Rechenschaft geben, damit unser Volk mitverfolgen kann, wie wir unser Programm auch diesmal Schritt für Schritt verwirklichen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Liselotte Funcke (FDP):
Rede ID: ID0701004400
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID0701004500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler hat sich eine ganze Weile, was wir begrüßen, auch mit der Opposition beschäftigt, und er hat eine Frage



Dr. Barzel
gestellt, die fundamental ist. Sie war direkt an mich gerichtet. Sie soll deshalb auch als erste beantwortet werden.
Der Herr Bundeskanzler fragte im Blick auf mich: Braucht „Ihre" freiheitliche Ordnung den Hinweis auf die Unfreiheit anderer? Das ist eine fundamentale Frage für den Bundestag, für uns alle miteinander, vor allen Dingen dann, wenn keiner versucht, einen Popanz aufzubauen.
Herr Bundeskanzler, hier glaube ich, muß der verantwortliche Politiker, bevor der diese Frage beantwortet, eine Sekunde daran denken, daß es nicht nur darauf ankommt, was er für sich braucht, sondern was er dem Volk, der Umwelt und den heranwachsenden Generationen, den jungen Menschen, schuldig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das, glaube ich, ist ein ganz wichtiger Punkt.
Mein Freiheitsbegriff, Herr Bundeskanzler, braucht nicht den Hinweis auf das, was wir einmal erlebt haben. Das ist mir unter den Knochen. Aber ich käme mir, da ich ein Politiker bin und jetzt z. B. in diesem Hause darauf angesprochen werde, wegen dieser meiner geschichtlichen Erfahrung unredlich vor mir selbst vor, wenn ich irgendwo, wo ich Unfreiheit feststelle, diese nicht beim Namen nennen würde.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Mein Freiheitsbegriff kann also ohne diese stetige Kenntnisnahme der Gegnerschaft leben. Ich habe sie unter den Knochen erleben müssen, wie die meisten hier Unfreiheit und Gewalt haben erleben müssen.
Aber meine politische Verantwortung erlaubt mir nicht, von den Gegnern der Freiheit etwa zu schweigen. Mein Begriff von der Nation, Herr Bundeskanzler, erlaubt mir auch nicht, von der Unfreiheit anderer zu schweigen. Mein Verständnis der Pflichten, die wir ja für Deutschland als Ganzes haben, meine Sorge um die Zukunft der Freiheit hier, gegründet auf geschichtliche Erfahrung und die Wirklichkeit in Europa jetzt, erlaubt mir gleichfalls nicht, weil ich es für mich nicht brauche, auch für andere dazu zu schweigen.
Ich kann doch, Herr Bundeskanzler, folgendes nicht übersehen. Sie übersehen es doch ganz sicher nicht, und ich nehme doch an, daß es Sie besorgt macht wie mich und wie hier alle; ich hoffe, wie hier alle!

(Zurufe von der CDU/CSU: Er hört gar nicht zu! — Er ist schon wieder visionär!)

Wenn Sie in eine Schule kommen, wenn Sie mit jungen Menschen diskutieren, finden Sie dort oftmals — nicht bei sehr vielen, aber bei einigen; und jeder von diesen einigen ist schon einer zuviel —

(Zuruf von der CDU/CSU: Er träumt wieder!)

eigentlich ein völlig unreflektiertes Bewußtsein hinsichtlich der Frage, ob nicht vielleicht die Wirklichkeit der DDR vorzuziehen sei.

(Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)

Sie können doch nicht übersehen, daß es das gibt, daß dies eine Realität ist, mit der auseinanderzusetzen wir die Pflicht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Warum sollen wir Ihnen das nicht sagen? Warum sollen wir unseren jungen Mitbürgern, denen wir etwa bei der Diskussion mit einer Schülermitverantwortung begegnen — und das muß natürlich auch in regierungsamtlichen Dokumentationen aufgearbeitet und den Lehrern und den Politikern zur Verfügung gestellt werden —,

(Abg. Katzer: Sehr wahr!)

nicht zunächst einmal sagen: Diese Schülermitverantwortung zum Beispiel gibt es dort in der DDR gar nicht!

(Abg. Katzer: Sehr gut!)

Das sind doch praktische Dinge. Freiheit — hier ist doch vor allem durch meine Kollegen Katzer und von Weizsäcker davon gesprochen worden — ist doch ein Punkt, der sich alltagswirksam bestätigen und bewähren muß. Herr Bundeskanzler, deshalb muß man davon sprechen.
Ich glaube, wenn man — wie dies hier durch Sie und durch Ihren Herrn Vorredner aus Sorge geschehen ist, die ich jedem abnehme; ob es klug ist, jede Sorge von hier so zu äußern, wie geschehen, ist eine zweite Frage — aus Sorge über die Verletzung unserer Prinzipien — hier des Prinzips der Unfreiheit und der Gewalt; beider Prinzipien — in einem anderen Teil der Welt spricht, dann gehört eben für mich dazu, von der Verletzung dieser Prinzipien zuerst hier zu sprechen, und nicht, zuerst hier dazu zu schweigen.
Herr Bundeskanzler, wir könnten uns sehr viel theoretische — ich will dem nicht ausweichen — Auseinandersetzungen über Mitte, ja oder nein, schenken, wenn man z. B. erkennen könnte, daß dies, was ich hier sagte — gleiche Prinzipien überall und immer —, eine Position der Mitte ist. Das ist Mitte; das ist ein ausgewogenes, gerechtes Urteil, weil die gleichen Prinzipien zu gleichen Tatbeständen angewandt werden, egal, von wem diese Wirklichkeiten gesetzt werden.
Wenn Sie Freiheit und Verantwortung und Solidarität begreifen, haben Sie wieder Mitte. Sie müssen doch die Verantwortung der politisch Verantwortlichen in einer parlamentarischen Demokratie für das Zustandekommen des öffentlichen Bewußtseins und der öffentlichen Meinung spüren. Diese öffentliche Meinung wird doch, Herr Bundeskanzler, Positionen von ganz links beziehen und keine von der Mitte — mit allen Konsequenzen für Wahlverhalten —, wenn sie nicht von dieser prinzipiellen — wenn ich so sagen darf -- moralisch-rigorosen Einstellung besetzt wird, indem man die Prinzipien überall in gleicher Weise beim Namen nennt, ob bequem oder nicht bequem. Ich freue mich, daß der Herr Bundeskanzler dieses Wort, was den Schluß meiner Rede am vorigen Donnerstag bildete, jetzt am Schluß positiv aufgenommen hat.
Mitte — das ist natürlich auch eine Frage des Stils, eine Frage der Politik, Mitte ist vor allen Dingen



Dr. Barzel
aber keine Frage für Sonntagsreden, sondern für Werktagsarbeit. Dies gilt von allem dann, wenn man ein Politiker ist; denn ein Politiker hat ja nicht nur Ziele zu setzen und Prinzipien zu verkünden. Dies ist der leichtere Teil unserer Arbeit. Wir haben vielmehr zu zeigen: Wie setzen wir dies, Schritt für Schritt, konkret im Alltag durch? Das ist doch unsere Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

So hoffe ich, daß nicht — Sie werden mir diese Bemerkung sicher erlauben — Ihr guter Vorsatz zur Mitte etwa einer jener Vorsätze ist, die — wie sich das mit Vorsätzen so verhält zum Gegenteil führen: Oft ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie Mitte wirklich meinen und Sie nun jetzt Regierung sind — und Regierung ist zum Regieren da --

(Abg. Katzer: Von der Regierung ist doch keiner da! Die haben das nicht nötig! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

— Das ist der Stil, den wir hier kennen.

(Erneuter Zuruf des Abg. Katzer.)

— Aber deshalb werden wir doch, Herr Kollege Katzer, die Regierung daran erinnern dürfen, daß sie zum Regieren da ist und sich Mitte in Wirklichkeiten des Alltags auszeichnen muß. Das ist die Aufgabe, die wir hier haben. Ich hoffe, daß niemand in diesem Hause — der Bundeskanzler eingeschlossen — etwa die Flucht — das soll der Inhalt dieser vier Jahre sein —

(Abg. Katzer: So wird das Parlament hier behandelt! Eine Unverschämtheit!)

antritt, indem er hier bei jeder Gelegenheit Reden hält, die bewußt über den Alltag hinausgehende emotionale, psychologisch von großen Stäben vorbereitete Dinge verkünden, um von den Wirklichkeiten abzulenken,

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

für die wir verantwortlich sind: in diesem Falle für das Regieren die Regierung, für das Opponieren wir.
Wenn dies also ernst gemeint ist, Herr Bundeskanzler, dann sind wir gern bereit, den Wettbewerb auch um die Mitte mit Ihnen und mit jedem, der sich dort tummeln will, aufzunehmen, den Wettbewerb freilich durch Taten und nicht durch Phrasen!

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Vielleicht, Herr Bundeskanzler, werden Sie sich an diese Rede irgendwann im Laufe Ihres politischen Lebens erinnern, in der Sie uns den Rat gegeben haben — in einer Frageform, also sehr indirekt —, doch möglicherweise „Ballast" abzuwerfen. Es ist ein Rat — wir werden darüber nachdenken! Aber Sie werden sich vielleicht eines Tages überlegen — hoffentlich nicht schon bei Ihrem nächsten Parteitag —, ob Sie sich jetzt mit der Rede der vergangenen Woche und von heute nicht etwas aufgeladen haben, was Sie möglichst bald wieder loswerden wollen. Dies wird man ja sehen, und dann, meine
Damen und Herren, werden wir ein Stück bessere Wirklichkeit haben.

(Zuruf des Abg. Wehner.)

Das wird ja noch, Herr Kollege Wehner, gesagt werden dürfen!

(Abg. Wehner: Das klingt etwas gequält — so mit dem Zahnstocher an einem Punkt!)

Meine Damen und Herren, ein anderer Punkt, den der Herr Bundeskanzler soeben aufgegriffen hat! Er hat einen Satz zitiert, den er „hypokryph" nannte, einen Satz aus unserem Programm, das wir den Wählern vorgelegt hatten. Ich rief ihm zu: Lesen Sie bitte weiter, dann wird es völlig klar, selbst dem, der den ersten Satz — obwohl er unmißverständlich ist — noch nicht verstanden haben sollte. — Ich möchte das ganze hier verlesen, nachdem Sie den Teil in die Debatte einbrachten; das ganze heißt:
Der DDR muß zugemutet werden, der Realität der Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem wir der Realität ins Auge sehen, daß die staatliche Einheit Deutschlands zur Zeit nicht verwirklicht werden kann. Wir sind bei allen grundsätzlichen Unterschieden, die wir nicht verwischen, im Interesse der Menschen in dem Maße zum Miteinander mit der DDR bereit, in dem diese Schritt um Schritt den Weg für die Freizügigkeit freigibt.
Wir verweisen dann auf unseren Stufenplan und sagen:
Wir bejahen Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands, die das Leben im geteilten Land erleichtern, die Fundamente der Einheit erhalten und den Weg zu einer friedlichen Ordnung in Europa ebnen.
Dies genau ist der Satz.
Ihre These von der lebendigen Nation, die wegen Unmöglichkeit der jetzigen Herstellung staatlicher Einheit dadurch erhalten wird, daß man Freizügigkeit für die Begegnung herstellt, ist genau dies, was dieser Satz meint: die Einheit des Volkes durch solche Maßnahmen sichern, gerade dann, wenn man sehen muß, daß die staatliche Einheit jetzt nicht herzustellen ist. Dies eben, die beiden Interessen miteinander zu verquicken, war der Sinn unseres Stufenplans. Dies nicht getan zu haben ist das Ergebnis Ihrer Ostpolitik, die demnächst hier bei einem neuen Vertrag — deshalb will ich das hier nicht weiter ausbauen — wieder zur Debatte stehen soll.
Dann hat der Bundeskanzler — das war interessant — noch einmal zur Leistung gesprochen. Ich glaube, das war notwendig, freilich nicht mit dem Blick auf die Opposition und auch nicht einmal mit dem Blick auf die Koalition, sondern mit dem Blick auf seine eigenen Freunde. Wir haben natürlich das Echo auf seinen Leistungsbegriff hier im Hause und draußen gehört und gelesen, und wir haben auch gemerkt, wie gestern eine Passage der Kollegin Frau Focke doch sehr große Begeisterungsstürme auf dieser Seite des Hauses

(Abg. Katzer: Sie ist nicht da!)




Dr. Barzel
— na, was soll sie im Parlament? — ausgelöst hat, große Begeisterungsstürme auf Ihrer Seite. Sie hat nämlich das, was der Kanzler Leistung nannte, gelobt, und das, was ich über Leistung sagte, war gleich inhuman.
Nun, meine Damen und Herren, dann möchte ich mich ein bißchen verdeutlichen. Wir haben, als wir in unserer Partei über Marktwirtschaft diskutierten
— das ist lange her —, gesagt: Marktwirtschaft allein genügt uns nicht; das kann zu harten Ergebnissen führen, die wir gesellschaftspolitisch nicht wollen. Deshalb sind wir zu sozialer Marktwirtschaft gekommen. Und als wir über Leistung diskutierten, war uns klar: Wenn dies das einzige Prinzip ist, nach dem unsere Gesellschaft orientiert sein soll, nach dem auch Verteilung erfolgen soll, kann das nicht gutgehen; das führt zu harten, inhumanen Formen. Deshalb sagen wir: humane Leistungsgesellschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sehen Sie, da kann man sich nun ruhig einen Popanz aufbauen. Wenn der Bundeskanzler sagt, er kenne den Begriff noch nicht genauer, dann bin ich gern bereit, ihm unsere Unterlagen dazu zuzustellen.

(Zuruf von der SPD: Uns auch!)

— Sie möchten sie auch haben? Sehr gern, sehr gern. Man sollte eigentlich doch auch lesen, was andere Parteien an programmatischen Erklärungen haben. Wenn dies noch nicht geschehen ist, konnten Sie bisher natürlich besonders leicht über die CDU reden, weil Sie von Kenntnis dann noch nicht getrübt waren.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich würde aber die Pflicht der Opposition versäumen, wenn ich diese Debatte weiterführte. Denn dann ginge ich ein auf den Versuch,

(Abg. Wehner: Dann gingen Sie ein, ja! Das ist wahr!)

abzulenken von der Wirklichkeit und abzulenken von den Pflichten, die wir hier haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Sehen Sie, Herr Bundeskanzler, eine Regierungserklärung sollte nicht nur Ziele nennen — das haben Sie getan —, sondern auch sagen, wie und wann sie zu erreichen sind. Nun werden Sie natürlich wieder sagen: die böse Opposition, die das hier kritisiert! Deshalb muß ich doch einmal ein bißchen dartun -- und das ist bei der Reaktion des Hauses hier ganz unübersehbar gewesen —, daß man weit in Ihre Reihen hinein draußen, aber auch hier drinnen doch nicht zufrieden war mit diesen etwas wolkigen Gebilden, die hier vorgetragen wurden.
Die „Welt der Arbeit" macht eine große Überschrift: „An wen hat der Kanzler bloß gedacht?", und dann sagt sie: „Zu zwei gesellschaftspolitischen Aufgaben ersten Ranges sind die Aussagen des Kanzlers aber mehrdeutig." Das Organ des Deutschen Gewerkschaftsbundes!
Wenn ich mir die „Zeit" ansehe, sicherlich ein für die Regierung sehr hilfreiches Wochenblatt gerade in den letzten Wochen und Monaten, lese ich:
In dem löblichen Bestreben, keine unerfüllbaren Hoffnungen zu wecken, mochte der Kanzler sich nun überhaupt nicht mehr festlegen. In der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik — also für den Bereich, auf den die Koalition in den kommenden Jahren ihre Aktivität konzentrieren will — steht die Regierungserklärung eigentlich noch aus. Am 18. Januar hat Willy Brandt dazu jedenfals so gut wie nichts gesagt.
Wenn ich mit Genehmigung der Frau Präsidentin noch ein anderes Zitat in die Debatte einführen darf, dann nenne ich folgendes:
Mit einer spürbaren Betretenheit wurde dagegen allgemein der Versuch des Bundeskanzlers aufgenommen, statt einer weltanschaulichen oder politischen Begründung seines Programms der neuen Mitte als staatsbürgerlicher Moralist aufzutreten. Das Unzulängliche dieser Bemühung, Bürgerromantik gegen Sozialromantik zu setzen, war zu deutlich und verriet auch die Handschrift anderer Autoren.
Autor dieser sicherlich mit eigener Handschrift geschriebenen Dinge: unser neuer Kollege Conrad Ahlers.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen, meine Herren! Wir werden also nun ausgerechnet zum Alltag kommen — ausgerechnet zum Alltag, dem Hauptpunkt der Regierungserklärung. Staatsgeschäfte und das sollte Demokratie auszeichnen, Herr Bundeskanzler — sollten durchsichtig sein. Die Durchsichtigkeit der Staatsgeschäfte erfordert es, daß die Opposition ihre Kontrollfunktion wahrnehmen kann. Dies aber können wir nur, wenn Sie uns etwas anbieten, das wir kontrollieren können. Es muß nämlich bestimmt und definiert sein. Diese wolkige Art setzt das Parlament in den Keller, weil ihm dadurch der Stoff vorenthalten wird, ohne den es Kontrollfunktion überhaupt nicht ausüben kann.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen, meine Herren! Man enthält uns konkrete Informationen vor und überhört ganz überwiegend die Fragen, die wir hier gestellt haben, während man dauernd Fragen an die Opposition richtet.

(Abg. Katzer: Es ist ja keiner mehr da!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren auf dieser Bank, Sie sollen nun regieren!

(Zurufe von der CDU/CSU.) — Schon unterwegs zum Regieren!


(Abg. Rawe: Ins Wochenende gefahren zum Regieren!)

Das ist natürlich ein Unterschied: Wir glauben, daß das Sich-Stellen hier im Parlament die erste Pflicht der Regierung ist nicht das Weggehen aus dem Parlament —, wenn über die Politik dieser Regierung gesprochen wird.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rawe: Das ist der neue Stil!)




Dr. Barzel
Wir dringen darauf, daß es möglich sein muß, die Pflicht der Kontrolle — das ist das, was die Wähler uns übertragen haben —, auch ausüben zu können.

(Bundesminister Dr. Maihofer nimmt in der ersten Reihe der Regierungsbank Platz. — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU: Maihofer nach vorn!)

— Das ist doch ganz erfreulich, nicht?

(Abg. Rawe: Die sind zwar immer mehr geworden, aber immer weniger sind hier! — Zuruf von der CDU/CSU: Ein Statist auf der Regierungsbank!)

Herr Bundeskanzler, nun haben Sie immer mehr Kolleginnen und Kollegen zu Mitgliedern der Regierung gemacht, aber hier sitzen immer weniger. Auch durch das Vorrücken des liebenswerten Kollegen Maihofer wird es natürlich auf der Regierungsbank nicht voll.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der CDU/CSU: Vor allem nicht gehaltvoller!)

Meine Damen und Herren, dieser zurückgehenden Informationsbereitschaft der Regierung steht eine wachsende Kritikempfindlichkeit gegenüber. Das, glaube ich, muß nach diesen zwei Tagen bereits festgehalten werden.
Ich möchte mit ein paar Sätzen auf die Rede des Kollegen Möller zurückkommen, der — wie soll ich sagen? — den Mut zur Ehrlichkeit hatte, um diese Formel nach der gestrigen Debatte hier einmal durchzuführen. Er hat immerhin freimütig gesagt: Ob wir einen Konjunkturzuschlag werden erheben müssen, das können wir noch nicht sagen; das wissen wir noch nicht — aus den Gründen, die er nannte.
Das hörte sich natürlich etwas anders an als die Erklärung des Kollegen Mischnick zu diesen Fragen der künftigen Steuerpolitik. Es hörte sich auch anders an als die Regierungserklärung, in der übrigens
— Herr Bundeskanzler, warum eigentlich? — mit keinem Wort darauf eingegangen worden ist, daß Ihre Regierung im September — Sie haben sie ja über die Wahlen fortsetzen können — alle möglichen Beschlüsse verkündet hat. Darin waren doch Steuererhöhungen zum 1. Juli 1973 enthalten. Wo ist ein konkreter Hinweis? Wie sollen unsere Steuerzahler, von denen Sie mit Recht Steuerehrlichkeit verlangen, nun eigentlich sich einrichten können?

(Abg. Strauß: Das ist nicht so wichtig; er erfährt es rechtzeitig!)

— Er erfährt es rechtzeitig, hinterher vielleicht, gut.
Aber ich möchte — und das ist der wesentliche Punkt an der Rede des Kollegen Möller — auf dieses zurückkommen: Alex Möller erklärte also mit diesem lobenswerten Mut zur Ehrlichkeit klar und ohne alle Umschweife, was die Regierung bis jetzt verschwieg. Er erklärte, daß sie nämlich weder die notwendige Bestandsaufnahme gemacht hat noch ihre Dringlichkeitsliste fertig hat noch die Übereinstimmung von Sachplanung und Finanzplanung hergestellt hat noch ein mittelfristiges Konzept hat, um Stabilität als die unerläßliche Basis der ebensc unerläßlichen Reform zu erreichen. Das war eine ehrliche Erklärung, und sie stimmt auch völlig. Hier ist damit doch eigentlich bewiesen, daß das, was die Regierung zu tun hat, nämlich ihre Worte in Taten umzusetzen, nun hier nicht passiert ist. Warum fängt eine Regierung, die ihr eigenes Erbe übernimmt, die den Wählern gesagt hat, es seien je eigentlich im Grunde gar keine riesigen Probleme de
— die Preise und Finanzen und Bahn und Post und so, dies alles sei eigentlich wunderbar in Ordnung —, nicht an dem Tag nach der Wahl mit dem Regieren an, wenn sie eine Mehrheit hat? Sie hat kein Konzept und ist sich selbst die Bestandsaufnahme bis zu dieser Stunde schuldig geblieben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Das ist, wie ich glaube, ein müder und auch ein enttäuschender Start für eine Fahrt ins Blaue.

(Zuruf des Abg. Wehner.)

— Herr Kollege Wehner, und Sie selbst haben je doch Ihr — wie soll ich sagen? — Unbefriedigtsein oder Ihre nicht vollständige Zufriedenheit mit dieser Regierung in der Ihnen eigenen Sprache sehr verschlüsselt zum Ausdruck gebracht,

(Zuruf Abg. Wehner: Damit Sie eine Rosine hatten!)

an dieser Stelle, nicht an anderer.

(Abg. Wehner: Damit Sie eine Rosine hatten!)

— Ich freue mich, daß Sie dies bestätigen.
Der Bundeskanzler hat die mittelfristige Finanzplanung angekündigt für den März, zusammen mit dem Haushalt. Es ist interessant zu hören und zu lesen, daß der Jahreswirtschaftsbericht eben diese Planung erst für den Lauf des Jahres ankündigen soll. Wenn das so ist, Herr Kollege Möller, dann wissen wir alle, was das bedeutet. Dann bedeutet das: Die Einordnung von Finanz- und Sachplanung ist vertagt auf Mai bis Juni. Dann geht das Parlament in die Sommerpause. Diese Leichthändigkeit bedeutet also sowohl für die Stabilität wie für die Reformpolitik ein vertanes Jahr. Das muß hier heute
festgestellt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich weiß nicht, wer davon gesprochen hat — ich glaube, es kam von dieser Seite —, daß man in der Politik das Notwendige möglich machen müsse Meine Damen und Herren, wenn man nicht einmal das Mögliche macht, dann wird man das Notwendige niemals möglich machen können, und dies ist dann ganz sicherlich überhaupt keine Staatskunst mehr.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Deshalb ist zu fragen, Herr Kollege Mischnick Wen haben Sie eigentlich gemeint, als Sie in Ihrem Beitrag zur Regierungserklärung goldene Worte sagten? Sie sagten — ich zitiere —:
Politik ist Verständigung über das Wirkliche und das Mögliche.



Dr. Barzel
Warum haben Sie das gesagt in Ihrer ersten Einlassung? Offensichtlich, weil auch Sie das Gefühl hatten: Dies war nicht zu sehr eine Verständigung über das Wirkliche und über das Mögliche. Und warum haben Sie vor denen gewarnt — ich zitiere Sie —, die mit dem Glauben an die Planbarkeit des Glücks herumlaufen? Ein interessanter Punkt,

(Abg. Wehner: Sie tun mir leid!)

den muß man zur Kenntnis nehmen, wie viele andere Dinge in dieser Debatte.
Wir haben trotz der polemischen Form nicht überhört, was die Kollegen Flach und Bangemann gesagt haben, die immerhin den größeren Teil ihrer Jungfernrede zu Fragen und Anregungen an die Opposition — das ist ihr gutes Recht — gebraucht haben. Es war sehr interessant zu hören: Mehr „C" rät uns Herr Flach; das „C" muß weg, rät uns Herr Eppler. Obwohl diese Ratschläge ganz verschiedene Ergebnisse haben, kommen sie aus demselben Motiv, und dies hat der Kollege Flach doch mit bemerkenswerter Deutlichkeit bezeichnet. Ich will zwei seiner Sätze hier festhalten, weil ich glaube, sie verdienen, hier festgehalten zu werden.
Er sagt:
Es könnte eines Tages zu einer derartigen Ungleichgewichtigkeit im deutschen Parteiengefüge kommen, die auch uns, selbst wenn wir weiter gewinnen würden, keine Freude bereiten würde.
Was dies bedeutet — der Vorsitzende der FDP, Herr Bundesaußenminister Scheel, nickt energisch: so ist es —, ist also klar: es ist die Sorge um die Zukunft des Parteiengleichgewichts wegen der Gefahr der Übergewichtigkeit einer Partei. Wer ist da wohl gemeint? Dann wird der Wunsch ausgesprochen, das deutsche Parteiengefüge müsse wieder freier und offener werden. Das sind sehr interessante Sätze. Wir haben sie gehört, wir halten sie fest, nicht aber — damit uns hier nicht jemand falsch versteht, auf keiner Seite des Hauses und schon gar nicht meine eigenen Freunde — in einer kurzfristigen oder kurzatmigen Absicht oder aus einer taktischen Überlegung, sondern wir halten sie als einen wichtigen Punkt fest, über den als eine Perspektive nachzudenken sein wird.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Jaeger)

Ich möchte in Erinnerung rufen, was wir dazu am 15. Dezember gesagt haben und was ja wohl, wie ich aus jenen Sätzen merke, auch nicht überhört worden ist. Ich will es kurz machen. Wir haben erklärt:
Uns wird jeder darauf ansprechen können, daß soziale Marktwirtschaft und soziale Partnerschaft die Grundlagen unserer freiheitlichen Ordnung sind, einer Ordnung, für die wir einstehen, die wir verbessern und entfalten, die wir aber nicht sprengen und nicht überwinden wollen. . . . Zu all diesen Grundfragen werden wir — ohne das übliche parlamentarische do ut des — jedermann beistehen, der sich hier im Hause weiterhin in dieser Ordnung wohlfühlen
und mit dieser Ordnung Entwicklung und Fortschritt bewirken will.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, ich habe im Rahmen dieser Schlußbemerkungen noch zwei grundsätzliche Bemerkungen zu machen. Ich hoffe, sie werden sich kurz abhandeln lassen. Sie ergeben sich aus dieser Debatte. Der Kollege Arndt hat in einem Beitrag, der sicher bemerkenswert war, gesagt, unsere gleichzeitigen Prioritäten für Europa und für Stabilität schlössen sich eigentlich aus. Dies seien eigentlich zwei Thesen, die nicht zugleich verkündet werden könnten. Diese Prioritäten könnten nicht nebeneinander oder ineinander bestehen. So ungefähr lautete seine Einlassung. Nun leugne ich nicht, vor allen Dingen nicht angesichts des zunehmenden Maßes wirtschaftlicher Integration, daß die Gefahr dieses Zielkonflikts besteht. Es ist aber eine Aufgabe einer Regierung, dafür zu sorgen, daß hier nichts entsteht, was eines dieser beiden Ziele etwa in den Hintergrund treten ließe.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Es ist doch eine Aufgabe der Regierungspolitik, das miteinander zu verzahnen und beide Ziele Hand in Hand gehen zu lassen. Ich weiß, daß es möglich ist, die Gestaltung Europas voranzutreiben und zugleich Preisstabilität zu haben. In den Jahren unserer Regierung war dies immer so.

(Lachen bei der SPD.)

— Das können Sie nicht bestreiten. (Zuruf von der SPD.)

— Aber verehrter Herr Kollege, wollen Sie bestreiten, daß wir in den 20 Jahren mit einer durchschnittlichen Preissteigerung von 2 % im Jahr ausgekommen sind?

(Zurufe von der SPD.)

— Herr Kollege, Sie haben undifferenziert reagiert.

(Abg. Rawe: Das Schreien macht doch deutlich, wie das trifft!)

Ich will es wiederholen. Sie sollten die Liebenswürdigkeit haben, zu erkennen, daß ich es sagte, als ich die Regierungspolitik nannte. Ich räume ein, daß dies mit dem zunehmenden Ausmaß der Integration schwieriger wird. Das sollten Sie gehört haben, bevor Sie hier undifferenziert reagieren.
Herr Bundeskanzler, wir möchten Ihnen gern den Vorschlag machen, z. B. auch über diese Frage, wenn Sie mögen, zu reden. Sie haben ja die Europapolitik angesprochen. Ich glaube, wir müssen uns bemühen, von der deutschen Seite aus nicht einfach zu sagen, wir importierten Inflation. Wir sind in dieser Gemeinschaft eine ganz starke Kraft, und wenn hier Inflation ist, strahlt das auf andere aus und umgekehrt. Diese Gemeinschaft kann und muß eine Stabilitätsgemeinschaft sein. Hier können Sie doch eine Initiative ergreifen, indem Sie verbindlich vereinbarte Normen für die Stabilitätspolitik der Gemeinschaft in den Mitgliedsländern ins Gespräch bringen, vortragen, vorschlagen und formulieren. Sie haben doch etwas in der Hand, um das wenigstens zum größeren Teil durchzusetzen. Da gibt es doch



Dr. Barzel
andere, die wollen gern aus einem Fonds für Währung etwas oder sie wollen aus einem Fonds für Strukturpolitik etwas. Ob Sie Geld in einen Inflationstopf der Gemeinschaft werfen, können Sie doch davon abhängig machen, daß verbindliche Normen als Voraussetzung für solche deutschen Leistungen vereinbart werden. Das sollte doch möglich sein.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Zum Zweiten. Der Bundeskanzler hat vorige Woche eine sehr verkürzte und knappe Formel gebraucht, indem er von „Frieden vor Nation" sprach. Dies ist eine Formel, die, wie wir alle sicher haben feststellen können in den Tagen seither, draußen in der Diskussion eine große Rolle spielt. Herr Bundeskanzler, ich möchte nun auf gar keinen Fall — vielleicht hören diesmal die Herren, die immer gleich, bevor der Satz zu Ende ist, etwas negativ finden, mir bis zum Ende zu — mißverstanden werden: Wir haben jahrelang in der Öffentlichkeit mit unseren europäischen Freunden und hier im Hause über die Rang- und Reihenfolge der Werte gestritten. Da gab es immer drei: Freiheit, Frieden, Einheit. Wir waren uns auf unserer Seite auch einig über diese Reihenfolge. Nun, Herr Bundeskanzler, ist daraus „Frieden vor Nation" geworden. Zunächst stellt sich die Frage: Ist der Begriff „Einheit" weg, oder ist das nur verbal ausgewechselt? Die zweite Frage, die sich stellt, ist: Aus welchen Gründen ist hier jetzt die fundamentale Kategorie der Freiheit nicht genannt? Herr Bundeskanzler, darüber werden wir uns sicherlich in künftigen Diskussionen hier im einzelnen unterhalten müssen.

(Unruhe bei der SPD.)

Dies deshalb — Sie machen doch wirklich diesen Fehler, meine sehr verehrten Kollegen auf der linken Seite dieses Hauses —, weil sich an dieses Wort „Frieden vor Nation" doch die Erklärung des Kanzlers zur Begründung anschließt, mit diesem Vorrang leiste das deutsche Volk den europäischen Völkern einen Dienst. Wenn hier das gemeint ist, was bisher unsere Wertvorstellung war, nämlich Frieden und Freiheit und Einheit — ich will dies nicht in Zweifel ziehen —, dann fragt man doch, warum bei Fortsetzung dieser traditionellen, von uns miteinander getragenen Wertordnung hier etwa ein Dienst für andere entstehen sollte. Wenn aber etwas anderes gemeint ist, muß man es sagen und erklären, worin denn dieser Dienst besteht, den Sie jetzt den anderen Völkern leisten. Das, Herr Bundeskanzler, wird in späteren Debatten wohl besser zu erörtern sein.
Man fragt uns — und damit komme ich zum Schluß — nach dem Wort, mit dem wir die Strategie, die Taktik und die Politik der Opposition etwa umschreiben. Da gibt es in der Öffntlichkeit drei Begriffe, und die sind uns immer so zum Aussuchen hingehalten worden. Das wird dann eingeengt: Wollt Ihr Konflikt? Wollt Ihr Konfrontation? Wollt Ihr Kooperation? — Was den Konflikt betrifft, so wollen wir ihn nicht, wir weichen ihm aber auch nicht aus. Das hat, glaube ich, der Kollege Bahr gestern gemerkt. Was die Konfrontation betrifft, gar noch die totale Konfrontation, so wollen wir die nicht, wir weichen ihr aber auch nicht aus. Was die Kooperation betrifft, so müßte das schon von der Regierung ausgehen.

(Unruhe bei der SPD. — Abg. Haeser: Jetzt können Sie im System bleiben!)

— Ja, ich bleibe darin, keine Sorge, gar keine Sorge! Also die Kooperation müßte schon von der Regierung ausgehen. Und ich hätte wenigstens doch noch eine Frage. Ich habe sehr konkret und mit aktuellem Anlaß gesagt: in Sachen Berlin sollte man wieder zusammenwirken. Nicht einmal das ist von der Regierung beantwortet worden.
Wenn Sie also nach unserer Marke fragen, dann sollten wir das eigentlich mit diesen Fremdworten jetzt bleibenlassen, sondern wir möchten sagen: miteinander wo möglich und gegeneinander wo nötig. Dies ist unsere Position, und an dieser Position werden wir unsere Politik in diesem 7. Deutschen Bundestag ausrichten. Wir wollen nie vergessen, daß wir hier nur Beauftragte, daß wir hier im Dienst der Wähler sind. Wir wollen hier im Hause nie vergessen, daß das Ganze nicht die Regierung ist und auch nicht die Opposition. Wir miteinander sind schon das Ganze. Jeder trägt hier seine Verantwortung. Beide Rollen, die der Regierung und die der Opposition, verlangen Verantwortung und sind ein Dienst, den wir dem Ganzen leisten.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0701004600
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID0701004700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie ernst die Fragen, die Sie an mich gestellt haben, Herr Kollege Barzel, in Ihren eigenen Reihen genommen werden, sehen Sie an dem Desinteresse Ihrer eigenen Kollegen.

(Abg. Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein: Von Ihnen ist doch niemand da! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)

— Keine Sorge! Meine Kollegen wissen, was ich auf Ihre Fragen antworte; denn sie kennen mich. Da gibt es gar kein Problem.

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

Bei Ihnen ist es doch offen. Sie wollen doch etwas dazu hören!

(Erneute Zurufe von der CDU/CSU.)

— Sie brauchen auch keine Sorge zu haben; die Kollegen werden in Kürze wieder hier sein.
Meine Damen und Herren, ich werde nicht in die Versuchung verfallen, hier noch einiges zur sozialen Marktwirtschaft als Nachlese zu sagen. Wir haben da keinen Nachholbedarf. Wir haben dazu immer gestanden. Unsere Position ist klar. Ich wundere mich nur immer wieder, daß aus den Reihen der Opposition so viele Fragen danach gestellt werden. Wenn es aber um die praktischen Entscheidungen geht, hören wir in den Beiträgen der Opposition — wie es auch gestern war, z. B. bezüglich der Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft —, kaum etwas. Wir werden denn ja sehen, inwieweit Sie wirklich dazu stehen.



Mischnick
Herr Kollege Barzel, Sie haben eine, wie ich meine, sehr wichtige Frage angesprochen, als Sie sagten: Wir müssen uns damit auseinandersetzen, daß beispielsweise in den Schulen viele Schüler — heute mehr als früher — das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR anders sehen und das gesellschaftliche System in der DDR anders als vor fünf und zehn Jahren sehen. Ich gebe Ihnen recht, daß wir uns damit auseinandersetzen müssen, aber doch nicht so, wie es zum Teil in dem alten Stil von vor fünf oder zehn Jahren geschieht, indem man einen Buhmann hinstellt, gegen den man nicht argumentiert, sondern den man nur verteufelt. Die argumentative Auseinandersetzung ist das, was wir gemeinsam brauchen, um die jungen Menschen zu überzeugen. Daran fehlt es doch oft.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Barzel, müssen Sie nicht nur das, was an Gewalt im geteilten Deutschland geschieht, sondern auch das, was darüber hinaus geschieht, sehen. Natürlich verurteilen wir genauso wie Sie alles, was durch Schießbefehl, durch Schieß-Automaten an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten geschieht. Aber glaubwürdig können wir unseren Protest hiergegen bei den jungen Menschen nur vorbringen, wenn Sie sich gleichzeitig gegen die Gewaltanwendung in anderen Teilen dieser Welt genauso scharf abgrenzen; beides gehört zusammen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Darum geht es doch bei den Überlegungen, die wir hierzu angestellt haben.
Herr Kollege Barzel, Sie sprachen davon, die Regierung habe nichts zu dem gemeinsamen Bemühen um Berlin gesagt. Ich darf Sie daran erinnern, daß es mein Kollege Wehner war, der davon sprach, daß die Fraktionsvorsitzenden bereit sind, sich sehr schnell darüber zu unterhalten. Wir sind bereit, Herr Kollege Barzel, mit Ihnen über diese Frage jederzeit zu sprechen. Es wäre sehr schon— nicht um unsert willen, sondern um des Hauses willen —, wenn das Gespräch zwischen den Fraktionsvorsitzenden, das früher selbstverständlich war, wieder in Gang kommen könnte, um damit manche Dinge zu klären, die auch das Haus betreffen, ohne das es zu Schwierigkeiten kommen muß.
Herr Kollege Barzel, Sie sprachen davon, daß die Regierungserklärung in ihrer wolkigen Art dem Parlament keine Gelegenheit gegeben habe, konkret Stellung zu nehmen, daß sie das Parlament praktisch in den Keller verbannt habe. Ich bin anderer Auffassung. — Herr Kollege Barzel, Sie wollen zu dem Vorhergehenden kurz noch eine Frage stellen. Bitte schön!

Dr. Rainer Barzel (CDU):
Rede ID: ID0701004800
Herr Kollege Mischnick, Sie erwecken den Eindruck, als habe es früher eine ständige Einrichtung von Gesprächen der Fraktionsvorsitzenden gegeben. Nun bin ich allerdings erst zehn Jahre hier im Amt. Während meiner Amtszeit hat es diese Einrichtung nicht gegeben; man sprach vielmehr, wann immer nötig, von Fall zu Fall.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID0701004900
Entschuldigen Sie, Herr Kollege Barzel, ich habe nicht von einer ständigen Einrichtung gesprochen,

(Zurufe von der CDU/CSU: Doch!)

sondern von der Selbstverständlichkeit, daß man zwischen den Fraktionsvorsitzenden die Gespräche führen sollte, die notwendig sind. Herr Kollege Barzel, ich wollte hier nicht ein anderes Thema vertiefen, aber Sie zwingen mich jetzt dazu. Es ist doch kaum verständlich, daß es in den letzten zwei Jahren kaum möglich war, daß beispielsweise die drei Fraktionsvorsitzenden gemeinsam in der Öffentlichkeit auftraten, weil Sie immer nur den Kanzler als Ihren Partner sahen. Das ist ein Stil, den wir in diesem Hause auch nicht für richtig halten.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf den Punkt zurückkommen, den ich hier schon angesprochen habe. Von Ihnen ist gesagt worden, das Parlament sei in den Keller verdammt worden, weil hier kein konkreter Stoff geboten worden sei. In dieser Regierungserklärung und in den Beiträgen der Koalitionsfraktionen sind so viele Sachprobleme im Detail dargelegt worden, daß Ihre Kollegen oder Sie selbst ausreichend Gelegenheit gehabt hätten, Stellung zu nehmen. Sie brauchen aber gar keine Sorge zu haben. In der nächsten Woche — das sage ich auch zum Kollegen Strauß — werden ja die ersten Gesetzentwürfe wieder eingebracht werden. Sie haben dann die Möglichkeit, konkret zu jedem einzelnen Punkt Stellung zu nehmen. Uns interessiert natürlich, wie es dann bei Ihnen aussieht.

(Abg. van Delden: Uns interessiert, wie es beim Kartellgesetz bei Ihnen aussieht!)

— Gar kein Problem. Sie werden erleben, daß wir auf Ihre Stellungnahmen warten müssen, nicht Sie auf unsere aus der Koalition. Die Koalition wird sich sehr schnell darüber einig sein, was hier zu geschehen hat.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. van Delden: Das ist ja ganz etwas Neues!)

Wir werden aber sehr bald erleben, ob Sie überhaupt in der Lage sind, zu einem Ja oder Nein zu kommen, oder ob die Stimmenthaltung Ihre Entscheidung ist. Wir haben in der Vergangenheit doch Letzteres erlebt. Ich fürchte, wir werden es nach der Debatte, die wir hier geführt haben, wieder erleben.

(Abg. Rawe: Sie hatten doch die Mehrheit in den Ausschüssen!)

— Aber lieber Herr Kollege, die Mehrheit in den Ausschüssen hat doch nichts mit der Frage zu tun, ob Sie fähig sind, zu einer Sache ja oder nein zu sagen, oder ob Sie sich in die Stimmenthaltung flüchten müssen. Darum geht es doch.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Aber die Kartellgesetzgebung haben Sie im Ausschuß liegenlassen! Bauen Sie doch nicht wieder einen Popanz auf!)




Mischnick
Mir ist es doch lieber, wenn Sie in der Lage sind, den Mut haben oder sich dazu bekennen, ja oder nein zu sagen, statt sich der Stimme zu enthalten.

(Abg. Rawe: Geben Sie es doch zu, daß Sie es im Ausschuß verhindert haben! Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Das ist das, was Sie für dieses Parlament übrig haben!)

— Das haben wir doch nicht verhindert. Ich denke an den Konjunkturzuschlag. Da hatten Sie nicht den Mut, ja oder nein zu sagen. Ich denke an die Verträge, wo Sie nicht den Mut hatten, ja oder nein zu sagen. Das ist doch der Punkt, um den es uns hier geht.

(Abg. Rawe: Sie lenken wieder ab! Sie haben zur Kartellgesetzgebung gesprochen!)

Sie müssen endlich einmal selbst Entscheidungen fällen und dürfen nicht immer auf andere verweisen.
Die Kollegen Marx und Windelen haben hier zur Deutschlandpolitik eine ganze Reihe von Punkten angeführt, auf die schon eingegangen worden ist. Ich will hier aber auf zwei zurückkommen.

(Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Aber Sie haben noch Vergangenheit zu bewältigen. Bitte!

Dr. Carl Otto Lenz (CDU):
Rede ID: ID0701005000
Herr Kollege Mischnick, stimmen Sie mir darin zu, daß es bei internationalen Verträgen nur ein Ja oder Nein, bei Kartellgesetzen z. B. aber auch andere Möglichkeiten gibt, seine eigene politische Meinung zu artikulieren, z. B. durch Änderungsanträge?

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID0701005100
Lieber Kollege Lenz, wenn Sie das so formulieren, stellen Sie natürlich Ihrer eigenen Stimmenthaltung bei der Abstimmung über die Verträge mit der Sowjetunion und Polen nachträglich ein sehr schlechtes Zeugnis aus. Sie sagten ja eben, bei Verträgen könne man nur ja oder nein sagen. Aber es lohnt sich nicht, darauf noch einmal einzugehen.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. van Delden: Da konnten wir keine Änderungsanträge stellen!)

Herr Kollege Marx hat davon gesprochen, daß die Regierungserklärung der Bundesregierung in der Deutschland- und Außenpolitik diesmal Grundsätze vermissen ließ, die in der Regierungserklärung von 1969 noch enthalten waren. Daß diese Feststellung schlicht falsch ist, will ich an einem Zitat aus der Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 beweisen. Da heißt es wörtlich:
Das Regierungsprogramm, das ich heute vorlege, ist die präzise Konsequenz dessen, was Sozialdemokraten und Freie Demokraten in der Regierungserklärung vom Oktober 1969 gemeinsam vertreten haben. Die politischen Ziele von damals gelten.
Damit ist ganz deutlich gemacht, daß die Behauptung des Kollegen Marx, hier habe man sich von früheren Auffassung entfernt, falsch ist und daß das ein sehr leichtfertiges Umgehen mit dem Text der Regierungserklärung war, wenn ich es vorsichtig ausdrücke.
Der Kollege Windelen hat doch mit seiner Behauptung der ungenügenden Vertretung der nationalen Interessen wieder einmal genau das versucht, was uns schon im vergangenen Bundestag daran gehindert hat, mehr gemeinsame Basis zu finden, nämlich zu unterscheiden zwischen den — ich nehme jetzt meine Worte — guten, nationalen Deutschen und den schlechten, nationalen Deutschen. Wer das so macht, darf sich natürlich nicht wundern, wenn wir hier sagen: Dann ist keine Basis für ein gemeinsame Arbeit gegeben. Ich bin sicher: von den meisten Kollegen der CDU/CSU wird diese Auffassung des Kollegen Windelen nicht geteilt. Es ist ja gerade, und der Herr Bundeskanzler hat mit Recht darauf hingewiesen, durch unsere Politik für die Nation mehr getan worden, als in der Vergangenheit geschah. Wenn Herr Windelen, Herr Strauß, Herr Schröder von der Nation sprechen, muß ich einem Kommentator recht geben, der sich vor kurzem mit dem Grundvertrag befaßt und gesagt hat: Eine Nation besteht aus der Summe der Menschen. Dann gibt es eben für diese deutsche Nation, nachdem diese Menschen mehr Möglichkeiten haben, zueinander zu kommen, eine aussichtsreichere Zukunftschance, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein paar kurze Worte zu dem sagen, was Frau Kollegin Dr. Wex gestern über die Gleichberechtigung, über die Emanzipation der Frauen ausführte. Ich bestreite ihr nicht den guten Willen, ich bestreite auch nicht das Bemühen darum, hier die wirklichen Notwendigkeiten unserer Zeit zu erkennen. Aber gerade auf diesem Gebiet werden wir wieder erleben, wie den Worten, die hier gesprochen worden sind, dann bei den Entscheidungen nicht die Taten folgen werden, die notwendig sind, um dem Grundgesetzauftrag wirklich gerecht zu werden. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich hier endlich auch in der Tat eines Besseren besinnen und nicht nur darüber reden würden.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren, leider ist nach unserem Empfinden in dieser Debatte all das, was mit der Gesellschaftspolitik, Sozialpolitik und Vermögenspolitik zusammenhängt, zu kurz gekommen. Manches ist dafür weiter ausgedehnt worden, als es unbedingt nötig war. Ich will jetzt nicht noch eine Reihe von Fragen aufwerfen, sondern nur dem Kollegen Katzer sagen: Herr Kollege Katzer, manchmal hatte ich den Eindruck, als hofften Sie darauf, daß eine Zerstrittenheit in der Koalition über die Fragen der Mitbestimmung eintreten würde. Diese Hoffnung — —

(Abg. Katzer: Dann haben Sie meine Ausführungen gestern nicht gehört!)




Mischnick
— Doch, doch!

(Abg. Katzer: Lesen Sie es noch einmal nach! — Abg. van Delden: Der Bundeskanzler hat gesagt, es werde noch mehrere Regierungen beschäftigen!)

— Natürlich hat er recht, wenn er sagt, daß die Frage der Mitbestimmung ja nicht allein durch eine Gesetzgebung über die Wirtschaft gelöst ist, sondern daß es hier viele, viele Bereiche gibt, die uns über mehrere Legislaturperioden beschäftigen werden.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen bei der CDU/CSU.)

Wir sind doch keine Statiker; das unterscheidet uns doch. Wir sehen die Politik dynamisch, im Gegensatz zu Ihnen; wir versuchen immer, weiterzuentwickeln, was entwicklungsfähig ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Herr Kollege Katzer, ich erinnere mich noch sehr genau an die Auseinandersetzungen über das Betriebsverfassungsgesetz. Da war es doch genauso. Da wollte man, da hoffte man, da hatte man mit unterschiedlichen Gesetzentwürfen geglaubt, man könnte vielleicht doch das eine oder andere mit wechselnden Mehrheiten zustande bringen.

(Abg. Katzer: Wir haben es insgesamt verbessert!)

Das ist nicht zustande gekommen. Wir haben gemeinsam manches verbessert.

(Abg. Katzer: Das ist eine ganze Menge! Oder?)

Aber ich will hier nicht erwähnen, wie viele Kollegen aus Ihren Reihen heilfroh waren, daß wir manches von Ihren Vorschlägen überhaupt nicht übernommen haben. Das war ja auch der Tatbestand, den es dabei zu verzeichnen galt.

(Abg. Katzer: Aber Sie bestätigen, daß wir es verbessert haben, und das war eine ganze Menge!)

Herr Kollege Arendt, ein Wort nur zu dem, was Sie sagten. Sie sprachen mit Recht davon, daß die Krankenversicherung ein wichtiges Gebiet ist. Ich möchte hier nur feststellen, daß für uns die Weiterentwicklung der Krankenversicherung im Rahmen unseres gegliederten Systems und unter Beibehaltung der freien Entscheidungsmöglichkeiten vollzogen werden sollte. Das festzuhalten war mir wichtig, weil es nicht möglich war, in der Debatte im einzelnen dazu Stellung zu nehmen.
Leider kann ich dem Kollegen Dregger — nicht weil es üblich ist, sondern weil wir uns sehr oft, in Hessen natürlich, miteinander auseinandergesetzt haben — hier nicht direkt noch etwas sagen. Ich fand die Formulierung, die gestern abend meine Kollegin Frau Schuchardt gebraucht hat, doch die beste und richtigste, daß nämlich durch Dregger Franz Josef Strauß die neue Mitte in der CDU/CSU ist. Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis. Ich bin mir bloß noch nicht ganz darüber im klaren, ob nun der Kollege Dregger für Franz Josef Strauß die Flankenabsicherung nach der Wählergruppierung hin übernimmt,

(Zuruf des Abg. Strauß)

die bisher Franz Josef Strauß übernommen hatte. Für möglich halte ich es; denn ich kenne das ja aus dem hessischen Bereich. Ich kann mir allerdings auch vorstellen, daß das ganze so schön eingerahmt wurde, weil morgen und übermorgen der Mann jenseits des Rheines — wenn ich von dem Land Hessen ausgehe —, der ja einen etwas anderen Standpunkt vertritt, mit im Spitzengespräch ist. Ich kann nach den Reden, ohne daß ich auf die Einzelheiten eingehen will, nur feststellen: Ich bin fast geneigt zu sagen, daß wir recht froh darüber sind, daß Herr Dregger hier ist, denn so werden die Unterschiede gerade über das Demokratieverständnis zwischen denjenigen, die behaupten, sie gäben den Liberalen eine neue Heimat, und denjenigen, die wirklich Liberale sind, um so deutlicher. Dafür sind wir dankbar.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. van Delden: Das ist die neue liberale Heimat! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU.)

Ich will am Ende dieser Debatte noch einmal einen Gedanken aufgreifen und in diesem Zusammenhang auch auf ein Wort des Herrn Kollegen Barzel zurückkommen, nämlich den Gedanken, daß die Gemeinsamkeit in prinzipiellen Fragen größer sein sollte, als das in der Vergangenheit war. Wenn man diese Aussprache betrachtet und sie nur oberflächlich wertet, könnte man manchmal auf die Idee kommen, daß mangels Masse nicht allzu viel an Gemeinsamkeiten vorhanden ist. Es gab wieder Unterstellungen, Anwürfe und, wie ich meine, auch gewollte und weidlich ausgeschlachtete Mißverständnisse. Es scheint mit zum Ritus zu gehören, ein Mißverständnis, wenn man es als solches erkannt hat, auch noch auszuschlachten.

(Abg. van Delden: Jung, der versteht das!)

Da spielte manches mit hinein, meine sehr verehrten Damen und Herren, das nach meiner Überzeugung zwar an die Bibel, aber nicht unbedingt an christliche Gedanken und Gestalten erinnerte, sondern eher an das, was die Evangelisten als die Pharisäer bezeichnet haben. Aber vergessen wir das.
Wir wollen nicht die Konfrontation um jeden Preis, und so bitte ich das zu verstehen, was ich sagte. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Wir sind doch vom Bürger beauftragt, hier gemeinsam — bei allen sachlichen Unterschieden in unseren politischen Grundauffassungen — zu Ergebnissen zu kommen, die insgesamt für unser Volk das beste sind. Ich habe das bereits in der ersten Runde erwähnt, und der Herr Kollege Barzel ist ja darauf eingegangen. Wenn ich es etwas süffisant ausdrükken wollte, dann müßte ich sagen: Es ist fast ein ganz neues FDP-Gefühl. Nach dem 19. November entdeckt die Union die Freien Demokraten wieder. Denn wenn ich an die letzten drei Jahre denke, so war doch hier deutlich auf seiten der CDU/CSU die Distanz zur FDP spürbar. Ich erinnere mich an einen Kollegen — er ist leider nicht mehr da;



Mischnick
er hat mit seiner Prophezeiung recht behalten —, der uns immer zugerufen hat: Wir sehen uns nicht wieder! — Es stimmt, er ist nicht mehr in diesem Parlament.

(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Nachdem dies nun einmal anders gelaufen ist, heißt das für meine Freunde und mich nicht, daß wir etwa nach dem Motto verfahren: Weil Ihr so bös wart, seid Ihr für uns nicht mehr vorhanden. Wir werden nicht so reagieren, wie man jahrelang, manchmal ein halbes Jahrzehnt lang, uns gegenüber reagiert hat.
Aber eins, Herr Kollege Barzel, habe ich dankbar begrüßt: Sie haben hinzugefügt, daß Sie nicht von taktischen Überlegungen kurzfristiger Art sprachen. Man kann in der Sache immer über alles reden. Daß meine Loyalität zum jeweiligen Koalitionspartner unantastbar ist, wissen Sie, und das wird so bleiben. Davon können Sie ausgehen, ganz gleich, in welcher sachlichen Auseinandersetzung wir uns verbinden.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir wissen sehr genau, daß es für diesen Staat — das sage ich auch wieder mit aller Deutlichkeit — notwendig ist, eine Partei zu haben, die — das muß ich nun wieder etwas vorsichtiger ausdrücken; nicht, weil ich mich nicht getraue, etwas zu sagen, sondern weil es bei Ihnen selbst nicht so ganz klar ist — Ihren Standpunkt etwa dort hat, wie das in dieser Debatte dargelegt worden ist; denn die Grenzen sind ja sehr schwimmend gewesen. Es kann weder das Interesse der Sozialdemokraten — wenn ich das sagen darf — noch das der Freien Demokraten sein, daß auf einer Seite des Hauses praktisch nichts ist, was durch sich selbst auch zur Stabilität der Bundesrepublik Deutschland beiträgt.
So wollen wir das verstanden wissen, was Karl-Hermann Flach, was ich sagte, immer unter dem Grundsatz, daß wir davon ausgehen, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Kräfte, die in diesem Hause tätig sind, alle untereinander koalitionsfähig sind. Die Sachentscheidungen werden von Fall zu Fall getroffen, und wir haben die Hoffnung nicht aufgeben, daß auch Sie eines Tages in der Sachpolitik den Fortschritt nicht nur verbal, sondern in der Praxis unterstützen werden. Dann wird in diesem Lande vielleicht manches anders aussehen.
Im Augenblick, fürchte ich, haben Sie noch einen sehr weiten Weg vor sich, auf dem wir Ihnen aus der Sache heraus Erfolg wünschen. Sie werden es schwer genug haben — nicht nur Sie persönlich, sondern Sie alle —, aus dieser Position wieder herauszukommen, in die Sie sich zum Teil selbst gebracht haben.
Wenn man die gesamten Beiträge der Opposition zur Regierungserklärung verfolgt, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, daß die Opposition die richtige Einstellung zu dieser Regierungserklärung noch nicht gefunden hat.

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Das liegt nicht zuletzt daran, daß sie die Gefangene ihrer eigenen Propanganda ist. Das ist der wahre Grund, weshalb sie hier nicht weiterkommt.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0701005200
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.

Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0701005300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entschuldigen Sie allseitig, daß ich zu so vorgerückter Stunde auch noch in die Bütt gehe. Aber natürlich hat man Pflichten. In Herrn Dr. Barzels Replik auf Bundeskanzler Brandts Rede will ich nicht hineingreifen; denn die abschließende Rede des Bundeskanzlers hat Fleischgewicht genug, sie braucht kein „Beihau", wie der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik zu sagen pflegte. Sie wissen das noch, Sie stehen ihm landsmännisch näher, so daß Sie das noch besser ausdrücken können.
Aber nun meine Pflicht. Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, deren Reihen ja auch schon recht gelichtet sind, will ich dem Bundeskanzler danken für das, was er abwägend und klärend zu dieser Debatte über die Regierungserklärung gesagt hat. Draußen wird es mancher so sagen: Das war 'ne Wucht. Hier denkt das auch mancher von Ihnen, aber er sagt das nicht.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die Debatte über die Regierungserklärung hat sich nun also, alles in allem, gelohnt, weil sie diese Pointe hervorgebracht hat. Das ist ja immerhin etwas.
Die Regierungserklärung schmerzt die CDU/CSU mehr, als sie zugeben kann, weil diese Regierungserklärung den Alltag zum Gegenstand hat und die CDU nötigt, sich den Fragen und Problemen des Alltags zu stellen oder von ihnen abzulenken. indem sie mit ihren eigenen Phantomen zu blenden und zu irritieren versucht. Aber es gibt ja noch eine Nachtischmöglichkeit zu dieser ganzen Debatte einschließlich der Pointe. Man möge einen ruhigen Vergleich der Programmreden etwa der Herren Dr. Barzel und Strauß vornehmen — je für sich; oder auch in Klausur, aber jedenfalls erst je für sich —, dann wird man manchen Aufschluß über das Ringen um diese Lage und ihre Lösung, die sich aus dem Sich-stellen-Müssen den Problemen des Alltags und aus dem Ablenken-Wollen durch die eigenen Phantome ergibt, finden.
Die ideologischen Büchsenspanner oder auch Lieferanten der CDU fiirchten die Verstrickung ihrer Partei in den parlamentarischen Alltag; denn sie meinen — und haben dazu wahrscheinlich ihre eigenen Erfahrungen —, die CDU werde sich darin verschleißen und es gebe dann weniger ideologisches Feuerwerk, um das man herumspringen kann.
Mein Eindruck, sehr verehrter Herr Kollege Barzel — um darauf noch etwas zu sagen —: Sie haben mit Ihrer Schlußpräambel, die Sie hier noch angebracht haben, danebengegriffen.

(Heiterkeit.)




Wehner
— Ja, lassen Sie bitte das Wort auf der Zunge zergehen: Schlußpräambel.

(Beifall und Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

In der Arbeit des politischen und parlamentarischen Alltags wird sich erweisen, was Bestand hat, womit die Menschen unseres Volkes zu rechnen haben und womit ihnen gedient ist. Es kommt darauf an, im Alltag die Schubkraft der unserer Regierungserklärung zugrunde liegenden und innewohnenden sozialen und freiheitlichen Gedanken und Absichten zur Wirkung zu bringen.
Daher eine letzte Bemerkung zu dieser Ihrer interessanten Schlüsselformel, Herr Dr. Barzel, „von Freiheit, Frieden, Einheit". Ob die Einheit weg sei
Sie werden sehen, wie sich das in der Praxis darstellt. Ihre Formeln tragen in dieser Praxis, die uns beiderseitig und allen aufgegeben ist, nicht mehr, weil es Formeln aus dem Parolenausverkauf der 50er Jahre sind.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die sind morsch. Heute wurde das Wort zitiert, von Ihnen selber aufgegriffen. Die sind nicht nur Zaunlatten, die sind morsch, jedenfalls mehr oder weniger.
Aber Sie haben eine interessante Bemerkung am Schluß gemacht — daß Sie sich dieser Notwendigkeit unterzogen, fand ich jedenfalls interessant — und haben auf Ihre Weise gesagt, wie Sie sich die Arbeit denken: miteinander, wo möglich, und gegeneinander, wo nötig. Das klingt so, wie es früher bei der Berliner Konfektion geklungen hat. Immerhin: ganz gut. Es ist wahrscheinlich eine späte Antwort auf jenes Angebot der ersten Regierungserklärung, die die Regierung Brandt/Scheel 1969 zur Arbeit gegeben hat, nämlich im „sachlichen Gegeneinander und nationalen Miteinander". Es ist für mich interessant, daß Sie das jetzt auf Ihre Weise zu beantworten versuchen. Das ist sowohl aus dem Anlaß heraus als auch in der Form, in der Sie das tun, interessant und läßt vielleicht hoffen, daß wir uns nach Ihrer Klausur in der praktischen Arbeit miteinander über dieses auseinandersetzen können.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0701005400
Die Rednerliste ist erschöpft. Die dreitägige Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung ist beendet.
Ich komme zu Punkt 2 mit der Ihnen vorliegenden Ergänzung der Tagesordnung und rufe auf:
2. a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP betr. Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen
— Drucksache 7/73
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP betr. Einsetzung von Ausschüssen
— Drucksache 7/74 —
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, FDP betr. Einsetzung eines Sonderausschusses für die Strafrechtsreform
— Drucksache 7/75 —
Wird zur Begründung eines der Anträge das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wünscht jemand zur Aussprache über einen der Anträge das Wort? — Das ist auch nicht der Fall.
Meine Damen und Herren, da wir uns offenbar in großer Einmütigkeit befinden, schlage ich Ihnen vor, über die drei Anträge gemeinsam abzustimmen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Wer diesen drei interfraktionellen Anträgen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Auch keine Enthaltungen. Die drei Anträge sind einstimmig angenommen.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der heutigen Beratungen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 31. Januar 1973, 14 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.