Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Am Montag dieser Woche ist unser ehemaliger Kol-lege Hans Engelhard im Alter von 73 Jahren nach lan-ger, geduldig ertragener Krankheit verstorben.Hans Engelhard wurde am 16. September 1934 inMünchen geboren und studierte nach seinem AbiturRechtswissenschaften an den Universitäten Erlangenund München. Nach der zweiten juristischen Staatsprü-fung begann er seine Berufslaufbahn als Anwalt in Mün-chen.Bereits 1954 war er der Freien Demokratischen Parteibeigetreten. 1970 wurde er Mitglied des Rats der StadtMünchen und bald auch Fraktionsvorsitzender sowieVorsitzender der Münchner FDP. 1972 zog HansEngelhard, der auch für das Amt des Münchner Ober-bürgermeisters kandidiert hatte, erneut in den Stadtratein, wurde aber bereits im November desselben Jahres inden Bundestag gewählt und verzichtete im Dezemberdes gleichen Jahres auf sein kommunales Mandat.RedeIm Deutschen Bundestag, dem Hans Engelhard biszum Ablauf der 12. Wahlperiode 1994 angehörte, war erMitglied des Rechtsausschusses, des Innenausschussesund der Parlamentarischen Kontrollkommission. Ab Ja-nuar 1977 war Hans Engelhard auch stellvertretenderVorsitzender der FDP-Fraktion, ein Amt, das er bis zuseiner Berufung zum Bundesminister 1982 innehatte.Hans Engelhard, der 14. Bundesminister der Justiz, übtesein Amt bis zu seinem Verzicht auf das Amt aus ge-sundheitlichen Gründen Ende 1990 aus und damit längerals alle bisherigen deutschen Justizminister.Engelhard, der sich eher als konservativer Liberalerverstand und stets darum bemüht war, einezwischen den Sicherheitsinteressen und drechten der Bürger herzustellen, hat sich bldienste um die Erforschung der Rolle derZeit des Nationalsozialismus erworben, unter anderemtzungn 14. März 2008.00 Uhrdurch die von ihm angeregte Ausstellung „Justiz undNationalsozialismus“.Hans Engelhard war als freundlich-zurückhaltender,bescheiden auftretender, aber äußerst sachkundiger Kol-lege über alle Fraktionsgrenzen hinweg anerkannt undgeschätzt. Bleibende Verdienste hat er sich durch seineRolle bei der verfassungsrechtlichen und justizpoliti-schen Bewältigung der deutschen Einheit erworben.Bei den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag mussteer aus gesundheitlichen Gründen auf eine erneute Kandi-datur verzichten; er schied mit Ablauf der Legislaturpe-riode aus dem Bundestag aus.Der Deutsche Bundestag wird sein Andenken in Eh-ren bewahren. Seiner Frau und seiner Familie sprechenwir unsere Anteilnahme aus.Sie haben sich zu Ehren des verstorbenen Kollegenvon Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der KollegeDr. Hans Georg Faust feiert heute seinen 60. Geburts-tag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich ihmherzlich und wünsche ihm alles Gute!
textNun rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 bsowie den Zusatzpunkt 6 auf:23 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur strukturellen Weiterentwick-
– Drucksachen 16/7439, 16/7486 –Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Gesundheit
– Drucksache 16/8525 –richterstattung:geordnete Willi Zylajewlde Mattheisn Ausgleichen Freiheits-eibende Ver-Justiz in derBeAbHiHeinz Lanfermann
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Präsident Dr. Norbert LammertDr. Ilja SeifertElisabeth Scharfenberg
– Drucksache 16/8522 –Berichterstattung:Abgeordnete Ewald SchurerNorbert BarthleDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschAnja Hajdukb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten ElisabethScharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt Bender,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFinanzielle Nachhaltigkeit und Stärkungder Verbraucher – Für eine konsequentnutzerorientierte Pflegeversicherung– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFür eine humane und solidarische Pflege-absicherung– zu dem Antrag der Abgeordneten HeinzLanfermann, Daniel Bahr , Dr. KonradSchily, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPFür eine zukunftsfest und generationenge-recht finanzierte, die Selbstbestimmungstärkende, transparente und unbürokrati-sche Pflege– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungVierter Bericht über die Entwicklung derPflegeversicherung– Drucksachen 16/7136, 16/7472, 16/7491, 16/7772,16/8525 –Berichterstattung:Abgeordnete Willi ZylajewHilde MattheisHeinz LanfermannDr. Ilja SeifertElisabeth ScharfenbergZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Lanfermann, Birgit Homburger, Daniel Bahr
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDPEntbürokratisierung der Pflege vorantreiben –Qualität und Transparenz der stationärenPflege erhöhen– Drucksachen 16/672, 16/6836 –Berichterstattung:Abgeordneter Willi ZylajewZu dem von der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurf eines Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes liegenjeweils ein Änderungsantrag und jeweils ein Entschlie-ßungsantrag der Fraktionen FDP, Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst derBundesministerin Ulla Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem heute anstehenden Beschluss dieses Gesetzes brin-gen wir eine Debatte zum Abschluss, die nicht immereinfach war, mit deren Ergebnis ich aber sehr zufriedenbin.
Wir stärken die Pflegeversicherung, die sich bewährtund die vieles geleistet hat. Vor Einführung der Pflege-versicherung fielen Hunderttausende Menschen, die aufPflege angewiesen waren, in die Sozialhilfe. Heute be-wahren die Leistungen der Pflegeversicherung viele vordiesem Schicksal.Seit 1995 sind über 300 000 neue Arbeitsplätze imBereich der Pflege entstanden. 2,1 Millionen Menschenerhalten Leistungen der Pflegeversicherung. Für mehr als400 000 Menschen – es sind vor allen Dingen Frauen –zahlt die Pflegeversicherung in die Rentenversicherungein. Trotzdem gibt es eine Reihe von Herausforderungen,auf die wir uns einstellen müssen.Wer sich entschließt, einen Angehörigen zu pflegen,braucht dazu seine ganze Kraft und hat keine Zeit, zuHinz und Kunz zu laufen, um die Papiere zusammenzu-bekommen. Er wendet viel Kraft und viel Zeit auf, nimmtEinschränkungen seines Lebens in Kauf. Lange Wege,bürokratische Anträge, Klärung der Zuständigkeit – dasmuss nicht sein. Hier werden wir die Menschen in Zu-kunft entlasten.
Mit den Pflegestützpunkten werden vernetzte, wohn-ortnahe Beratungsangebote entstehen. Fallmanager undFallmanagerinnen werden den Pflegebedürftigen und ih-ren Angehörigen als verlässliche Partner zur Seite ste-hen. Sie werden nicht nur beraten, sondern den Pflege-fall während des gesamten Verlaufs begleiten: von derEntlassung aus dem Krankenhaus über Rehabilitations-maßnahmen bis hin zur Pflege zu Hause oder in einerstationären Einrichtung. In den Pflegestützpunkten kön-
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Bundesministerin Ulla Schmidtnen auch diejenigen Rat und Unterstützung finden, diedie deutsche Sprache vielleicht nicht so gut beherrschen,die bei der Organisation der Pflege überfordert sind oderdie ihre Rechte und Ansprüche nicht kennen. Für uns istklar: Sprache, Herkunft und soziale Schicht dürfen keinHindernis sein, seine Rechte als Versicherter wahrzuneh-men.
Die Verantwortung für die Einführung der Pflegestütz-punkte liegt bei den Ländern. Nun können und müssendie Länder zeigen, wie wichtig ihnen eine modernePflege ist.Ich muss gestehen, dass mir bei der Diskussion überdie Pflegestützpunkte ein Zitat von Schopenhauer einge-fallen ist:Gute Ideen werden zuerst verlacht, dann bekämpftund schließlich kopiert.
Ich bin sicher, dass wir erleben werden, wie sich diegrößten Kritiker der Pflegestützpunkte, wenn sich dieseerst etabliert haben, zu Vätern und Müttern dieses Ge-dankens erklären werden.
Es ist ausdrücklich erwünscht, dass durch die Pflege-stützpunkte die vorhandenen Strukturen weiterentwi-ckelt werden, dass die ehrenamtlichen Mitarbeiter unddie Selbsthilfegruppen eingebunden werden. Ich binfroh, dass wir es gemeinsam erreichen konnten, dass dieFördermittel für niedrigschwellige Pflege- und Betreu-ungsangebote von jetzt 20 Millionen Euro auf 50 Millio-nen Euro erhöht werden. Dieses Geld soll eingesetztwerden, um das bürgerschaftliche Engagement und dasEngagement der Selbsthilfe im Bereich der Pflege zufördern und damit die Pflege zu stärken.
Nehmen Angehörige beruflich eine Auszeit, um zupflegen, werden für sechs Monate Sozialbeiträge über-nommen. Außerdem können sich Angehörige, wenn je-mand in ihrer Familie zum Pflegefall wird, für zehn Tagefreistellen lassen, um kurzfristig die nötigsten Dinge zuorganisieren. Damit stärken wir die Pflege in der Fami-lie.Die Leistungen der Pflegeversicherung werdenschrittweise erhöht und ab 2015 systematisch an die Preis-entwicklung angepasst. Ein Aspekt ist mir dabei beson-ders wichtig: Der Betreuungsbedarf von demenzkranken,psychisch kranken und geistig behinderten Menschenwird erstmals als Leistung anerkannt.
Demenziell erkrankte und psychisch kranke Pflegebe-dürftige erhalten künftig einen monatlichen Betrag von100 oder 200 Euro bei häuslicher Pflege – auch dann,wenn sie keine Pflegestufe haben –, um damit zusätzli-che Hilfen finanzieren zu können.Ich bin sehr froh, dass wir auch in der stationärenVersorgung dazu eine praktikable Lösung gefunden ha-ben. Eine Erhöhung der Leistungen alleine würde zwardie Sozialhilfe entlasten, aber sie hätte nicht bewirkt,dass mehr Pflegekräfte für die Betreuung zur Verfügungstehen. Deshalb gehen wir mit der Pflegereform einenvöllig neuen Weg: Erstmals werden durch die Pflegever-sicherung zusätzliche Betreuungsassistenten in den sta-tionären Einrichtungen für Menschen mit erhöhtem Be-treuungsaufwand finanziert. Das hilft diesen Menschendirekt, weil die Angebote ausgeweitet werden und siebesser aktiviert werden können. Es entlastet aber auchdie Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die tagtäglichunter sehr starker Verdichtung der Aufgaben ihre Arbeitin den Einrichtungen verrichten müssen, und gibt ihnenZeit, das zu tun, wofür sie diesen Beruf gewählt haben,nämlich den von ihnen betreuten Menschen Zuwendungzu geben.
Wir stärken die häusliche Pflege und fördern alterna-tive Wohnformen. Pflegebedürftige können in Zukunftin Wohn- und Lebensgemeinschaften und auch dann,wenn sie im selben Haus oder in der Nachbarschaft woh-nen, ihre Leistungen bündeln und Pflegeangebote gemein-sam nutzen. Das bedeutet Zeitgewinn, und Zeitgewinnbedeutet Zuwendung. Davon profitieren die Pflegebe-dürftigen und die Pflegenden gleichermaßen.Ich habe großen Respekt vor der Arbeit, die Frauenund Männer in Pflegeheimen leisten. Mehr als 90 Pro-zent von ihnen leisten gute und aufopferungsvolle Ar-beit. Wenn etwas schiefläuft, dann liegt das in der Regelnicht an den Personen selber, sondern daran, wie eineEinrichtung organisiert und geführt ist.Wir wollen die Missstände auf ein Minimum reduzie-ren. Niemand kann garantieren, dass es keine Missständegibt, aber wir wollen dagegen angehen. Die Qualitäts-prüfungen in den Pflegeeinrichtungen werden künftigjährlich und in der Regel unangemeldet stattfinden. Wasdabei zählt, ist die Qualität der Ergebnisse. Entscheidendfür die zukünftige Qualitätsentwicklung ist die Transpa-renz der Pflegeberichte. Pflegebedürftige und ihre Ange-hörigen können sich in Zukunft verlässlich darüber in-formieren, ob ein Heim etwas taugt, zum Beispiel durchdie Einführung eines Ampel- oder Sternesystems unddadurch, dass wir alle Einrichtungen – ob ambulant oderstationär – dazu verpflichten, die Prüfberichte in ver-ständlicher Form öffentlich zugänglich zu machen.
So können schwarze Schafe schneller gefunden werden.Die Menschen können dann schlechte Einrichtungenoder Pflegedienste meiden. Das ist, glaube ich, der besteWeg, um diejenigen zu unterstützen, die tagtäglich fürdie Verbesserung der Qualität kämpfen.Jedes schwarze Schaf ist eines zu viel. Dagegen müs-sen wir angehen. Aber wir sollten nicht vergessen, dassdie allermeisten Pflegerinnen und Pfleger in den Einrich-
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Bundesministerin Ulla Schmidttungen eine großartige und verantwortungsvolle Arbeitleisten.
Deshalb ist die Gesellschaft ihnen zu Dank und Aner-kennung verpflichtet. Ich glaube, ich spreche im Namendes gesamten Hauses, wenn ich diesen Menschen, dierund um die Uhr unermüdlich ihre Arbeit leisten, einenherzlichen Dank ausspreche.
Ich will nicht verschweigen, dass ich es gerne gese-hen hätte, wenn die private Pflegeversicherung ihrenBeitrag zur Finanzreform geleistet hätte.
Das bleibt für mich erst einmal unbefriedigend. Den-noch: Nennen Sie mir eine andere Reform in dieser Le-gislaturperiode, die so konkrete und spürbare Erleichte-rungen für die Menschen enthält, oder eine Reform, dieLeistungsverbesserungen von insgesamt mehr als15 Prozent mit sich bringt!
Das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist ein Er-folg für die Menschen in unserem Land, die Pflegebe-dürftigen, die Angehörigen und die Ehrenamtlichen so-wie für die Beschäftigten in den Pflegeeinrichtungen.Für uns ist wichtig, dass wir auch in der Pflegeversiche-rung auf dem Weg der solidarischen Absicherung dergroßen Lebensrisiken bleiben. Das tut der Gesellschaftund ihrem Zusammenhalt gut.Ich bedanke mich bei allen, die an den Diskussionenund Anhörungen in den Ausschüssen teilgenommen unddaran mitgewirkt haben: bei den Koalitionsfraktionen,den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie insbeson-dere beim Kollegen Seehofer und der Kollegin von derLeyen, die an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs betei-ligt waren.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Heinz Lanfermann
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Das Lob für alle, die in der Pflege tätig sind, könnenwir sehr wohl mittragen. Das sage ich für die FDP-Frak-tion ausdrücklich.
Gleichwohl steht heute nicht die grundlegende oder so-gar die große Pflegereform zur Abstimmung, die die Ko-alition vor zweieinhalb Jahren vollmundig angekündigthat, sondern nur die wenigen Punkte, auf die sich Unionund SPD als kleinster gemeinsamer Nenner mit Müheund Not einigen konnten.
Da mag sich die Gesundheitsministerin noch so vielMühe geben, jede Leistungsänderung großzureden undjede Beitragserhöhung kleinzureden, da mag sich gleicheine ganze Reihe von Koalitionsrednern bemühen, jedeskleinste Detail als weltbewegenden Fortschritt zu ver-künden, die schlichte Wahrheit, der unumstößliche Faktist: Die von der Großen Koalition versprochene Reformist in ihrem allerwichtigsten Punkt gescheitert. Die drin-gend notwendige Finanzreform findet nicht statt.
Die Koalition hat es nicht geschafft. Sie hat genau ge-nommen vor sich selbst kapituliert. Noch schlimmer: Siehat, die Kanzlerin vorneweg, ein Versprechen gebro-chen. Am 7. Juli 2006 versprach Frau Merkel in derBild-Zeitung:Wir werden die Pflegeversicherung im nächstenJahr reformieren, aber Beitragserhöhungen stehennicht auf der Tagessordnung.Das sieht heute anders aus. Wie sagt Frau Merkel immer:Versprochen, gebrochen.
Der Pflegeversicherungsbeitrag wird ab dem 1. Juli2008 von 1,7 auf 1,95 Prozent, für Kinderlose sogar von1,95 auf 2,2 Prozent erhöht. Beim durchschnittlichen Ar-beitnehmereinkommen in Deutschland von gut 27 000Euro sind das 34 Euro im Jahr. Von wegen, es koste im-mer nur so viel wie eine Tasse Kaffee, Frau Schmidt!
Auch die Arbeitgeber müssen 34 Euro drauflegen. Dasist nach dem „Kinderlosenstrafbeitrag“ und dem zusätz-lichen dreizehnten Beitrag im Jahre 2006 schon die dritteBeitragserhöhung innerhalb von drei Jahren.
Es gibt noch ein weiteres gebrochenes Versprechen.Die jungen Abgeordneten der Unionsfraktion haben ge-gen ihre Überzeugung der vermurksten Gesundheitsre-form nur zugestimmt, weil ihnen von ihrem Fraktions-vorsitzenden Herrn Kauder versprochen wurde, dieUnion werde nur dann eine Pflegereform mittragen,wenn zumindest ein Einstieg in eine Kapitaldeckungstattfindet. Heute aber soll ein Gesetz verabschiedet wer-den, mit dem das nicht stattfindet, mit dem sogar neue fi-nanzielle Lasten aufgebaut und zulasten der jüngerenGenerationen in die Zukunft verschoben werden. Nachdem Motto „Augen zu und durch“ und der sehr wackeli-gen Aussage, nun habe man Geld für die nächsten fünf,sechs Jahre, lässt man das Wichtigste liegen. So bleibt esbeim Umlageverfahren, und so werden in der Zukunftmassive Beitragssatzerhöhungen und/oder empfindlicheLeistungskürzungen – je nach Wahl, wahrscheinlich bei-des – schon aufgrund des demografischen Wandels un-vermeidbar sein.
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Heinz LanfermannWir alle wissen es, und die Bürger sprechen uns da-rauf an: Bis 2050 gibt es dreimal so viele Pflegebedürf-tige, und die Zahl der Beitragszahler geht um ein Drittelzurück. Man kann das hochrechnen: Das bedeutet min-destens eine Verdopplung des Beitragssatzes auf über4 Prozent, wahrscheinlich eher auf über 5 oder 6 Prozent.Das Forschungszentrum Generationenverträge der UniFreiburg hat ausgerechnet, was die junge Generation je-der Tag kostet,
der vergeht, ohne dass die notwendige Umstellung vor-genommen wird: 29 Millionen Euro pro Tag, also – dasist leicht nachzurechnen – über 10 Milliarden Euro proJahr. Wenn wir jetzt weitere zwei, drei Jahre brauchen,bis wir diese Umstellung mit einer neuen, besseren Re-gierung vornehmen können, dann sind es über 30 Mil-liarden Euro, Frau Schmidt, die in Ihrer Bilanz zulastender jungen Generation stehen.
Die FDP will einen Umstieg in eine kapitalgedeckteVersicherung, bei der die Jungen ansparen können, damitsie im Alter als Generation für ihre eigenen Kosten auf-kommen. Nur so entgeht man der demografischen Falle.
Meine Damen und Herren, die Regierung und die sietragenden Fraktionen haben sehr viel Redezeit, dieOpposition hat sehr wenig. Daher verweise ich auf denAntrag der FDP-Fraktion „Für eine zukunftsfest und ge-nerationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmungstärkende, transparente und unbürokratische Pflege“ aufDrucksache 16/7491, der alle unsere Vorschläge zur Zu-kunft der Pflege enthält. Ebenso sehr zur Lektüre zuempfehlen ist unser Antrag „Entbürokratisierung derPflege vorantreiben – Qualität und Transparenz der sta-tionären Pflege erhöhen“, Drucksache 16/672. Wennman diesem Antrag folgte, Frau Schmidt, behöbe manviele Missstände. Man würde mehr Transparenz schaf-fen, für weniger Bürokratie sorgen und den Pflegenden,die zum Teil 30 Prozent, oft sogar mehr ihrer Zeit fürBürokratie verbrauchen, die Gelegenheit geben, dieseZeit für die Zuwendung am Pflegebett einzusetzen.
Frau Schmidt hat wieder einmal viel zu den Pflege-stützpunkten gesprochen. Das ist ein etwas martiali-scher Begriff; ich glaube, es ist so eine Art Basislager fürdie Eroberung der Pflege von Staats wegen.
Sie sind überflüssig, schädlich und teuer. Was für dieGesundheitsreform der Gesundheitsfonds ist, sind fürdie Pflegereform die Pflegestützpunkte.
Besonders perfide ist, was Frau Schmidt mit den be-stehenden Angeboten vorhat. Unter den süßen Klängender Melodie „Allen wird geholfen, alles aus einer Hand,alle sind eingeladen, alle können mitmachen, bestehendeStrukturen werden einbezogen“ wird in Wirklichkeit mitberechnender Kälte allen, die schon in der Pflegebera-tung tätig sind, nach und nach nur die Alternative ange-boten:
Mach mit, und zwar unter unserer Aufsicht und Leitung,oder sieh zu, wo du bleibst, wenn wir hier eine eigene,alles abdeckende Struktur aufbauen.
Tatsache ist, dass die Pflegestützpunkte sehr umstrit-ten waren und dass die Unionsfraktion sie nie gewollthat. Es war nicht schön für Sie, dass Frau von der Leyenund Herr Seehofer dieser Sache erst einmal zugestimmthaben, auch wenn sie hinterher leichte Absetzbewegun-gen gemacht haben. Es gab eine Anhörung dazu hier imBundestag; die allermeisten Experten und Betroffenen,bis auf ganz wenige Ausnahmen, haben gesagt: Dastaugt nichts. Wir sind gegen die Pflegestützpunkte. Wirwollen sie nicht; sie sind wirklich schlecht. – Nur im Ge-sundheitsministerium und in der SPD-Fraktion haben eseinige mit bemerkenswerter Autosuggestion geschafft,das Ergebnis dieser Anhörung umzudeuten.
Herr Zöller hat diese Vorgehensweise in der Welt vom21. Januar 2008 – das muss ich heute hier zitieren – ge-schildert:Das, was Frau Schmidt macht, hat mit kollegialerZusammenarbeit nichts mehr zu tun. Sie trickst undtäuscht, was das Zeug hält. Beispiel Pflegereform:Frau Schmidt weiß, dass wir die Pflegestützpunkteablehnen, die ihr Gesetzentwurf vorsieht. Trotzdemschreibt sie in den Pflegebericht der Bundesregie-rung: Pflegestützpunkte werden begrüßt. Und dannveranlasst ihr Ministerium noch vor dem Kabinetts-entscheid eine Pressemeldung, in der steht, dass dasKabinett Pflegestützpunkte begrüßt.Vielleicht sollten Sie sich darüber noch einmal unterhal-ten.Ich meine, die Union hat sich hier über den Tisch zie-hen lassen. Sie glaubt, weil die Anschubfinanzierung di-vidiert durch die Summe pro Einheit 1 200 beträgt, esgäbe nur 1 200 Pflegestützpunkte. Sie waren in den Ver-handlungen schon einmal weiter und wollten nur einpaar Versuchsstützpunkte pro Land zugestehen; das istaber Vergangenheit. Nach einer Tickermeldung vom7. März 2008 sagt Frau Schmidt, es werden wohl 2 500bis 3 000.
Das ist ja auch ganz einfach. Die Anschubfinanzierungmacht sowieso nur Peanuts aus gegenüber den Folgekos-ten, die über die Jahre entstehen und von den Pflegekas-sen, also den Beitragszahlern, den Kommunen und den
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Heinz LanfermannLändern gezahlt werden. Was Sie da erreicht haben,bringt nicht viel.
Dass Sie die Flasche Salzsäure nicht trinken wollten,kann ich verstehen; aber eine halbe Flasche macht Sieauch nicht glücklich.
Es ist aber noch schlimmer. Niemand weiß, was kom-men soll. Was ist eigentlich ein Pflegestützpunkt? Wiesieht er aus? Wer und wie viele Personen sitzen da, undvon wem wird das Ganze bezahlt?
Ist das öffentlich-rechtliches Kaffeekochen? Was solldas sein? Nirgendwo steht etwas dazu, weder im Gesetz-entwurf noch in der Begründung. Auf welchen Struktu-ren in den Ländern soll aufgebaut werden? Hier soll ver-netzt, aufgebaut und koordiniert werden. Ich habe dieMinisterin zweimal angeschrieben und gefragt: WelcheInstitutionen gibt es in den Ländern, auf denen man auf-baut? Wann gibt man noch etwas hinzu? – Ich habezweimal eine höchst lapidare Antwort von Frau Caspers-Merk bekommen.
Darin steht nichts zu den Inhalten. Sie wissen es auchnicht.Natürlich wird es Länder geben, die Pflegestütz-punkte einrichten. Man muss nur ein anderes Schild aneiner Institution anbringen, um in den Genuss der An-schubfinanzierung zu kommen; das ist ganz einfach. Dasgibt das Gesetz her. Dadurch, dass Sie dies den Ländernübertragen, geben Sie sogar die Kontrolle aus der Hand.Das wird nicht zu Ihrem Vorteil, sondern zu Ihrem Nach-teil sein. Sie werden es erleben.
Sie haben gesagt, dass die Pflegestützpunkte800 Millionen Euro kosten. 290 Millionen Euro sind fürPflegeberater vorgesehen. Wo steht denn, dass es soviele Pflegeberater gibt? Außerdem ist zu lesen, dass fürje 25 Menschen in den Heimen eine Kraft bezahlt werde,die die aufwendige Betreuung von Altersverwirrten undpsychisch Kranken in die Hand nimmt.
Herr Kollege!
Das sind doch, wenn der Arbeitgeber brutto 57 000
Euro zahlt, bei 3 500 Stellen rund 200 Millionen Euro.
Das müssen Sie alles einrechnen.
Herr Kollege Lanfermann!
Danke, Herr Präsident, ich habe das Zeichen gese-
hen. – Ich will noch sagen: Dieses Gesetz ist auch tech-
nisch schlecht gemacht, weil jeder herauslesen kann,
was er will, und weil man auf jede Zahl, mit der man et-
was anfangen könnte, verzichtet hat.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Annette Widmann-Mauz ist die nächste Rednerin für
die Fraktion CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 1995 hatdie damalige unionsgeführte Bundesregierung die Pfle-geversicherung eingeführt. Das war ein Meilenstein inder Sozialversicherungsgeschichte der BundesrepublikDeutschland.
Heute, dreizehn Jahre später, wird diese Erfolgsge-schichte fortgeschrieben. Mit der Umsetzung des vorlie-genden Gesetzentwurfs werden erstmals seit Einführungder Pflegeversicherung Leistungen angehoben und neueLeistungen eingeführt. Außerdem wird eine regelmäßigeAnpassung der Leistungsbeträge verankert.Auch wenn sich die Lebenserwartung der Menschen,der Altersaufbau der Gesellschaft und die familiärenStrukturen ändern oder neue Krankheitsbilder entstehen:Das Leistungsversprechen, das die Pflegeversicherunggibt, hat auch in Zukunft Bestand; darauf können sichdie Menschen verlassen.
Für die junge Generation ist dies auf Dauer nur möglich,wenn wir ein Mehr an Kapitaldeckung in dieses Systemeinführen. Wir wissen, dass das mit dieser Koalitionnicht möglich ist. Aber, lieber Kollege Lanfermann, imGegensatz zu Ihnen verfahren wir nicht nach dem Motto,dass, wenn wir unser Ziel nicht erreichen können, dieMenschen, die pflegebedürftig sind, darunter leidenmüssen. Das ist mir uns nicht zu machen.
Dass wir heute in der abschließenden Lesung so weitgekommen sind, ist das Ergebnis intensiver, erfolgrei-cher parlamentarischer Beratungen; denn über denursprünglichen Gesetzentwurf hinaus ist es gelungen,zahlreiche Leistungsverbesserungen zugunsten derPflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflege-kräfte auf den Weg zu bringen. Im Zentrum dieser Ver-handlungen standen für die Unionsfraktion, CDU undCSU, drei Grundsätze: mehr Qualität und Leistungs-gerechtigkeit, so viel Transparenz wie möglich und sowenig Bürokratie wie nötig.
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Annette Widmann-Mauz
Warum? Bei dieser Reform geht es nämlich in allerersterLinie um die Menschen, um die Pflegebedürftigen, ihreAngehörigen, die Pflegekräfte und diejenigen Bürgerin-nen und Bürger, die ehrenamtlich in diesem Bereichganz Hervorragendes und Außergewöhnliches leisten.
Jeder Euro, der über höhere Beiträge von den Beitrags-zahlern aufgebracht wird, muss verantwortungsbewusstzu allererst genau bei diesen Menschen ankommen.Die Pflegeversicherung ist gut, aber sie stößt seit ge-raumer Zeit an ihre Grenzen, finanziell und bezogen aufihre Leistungen. Damit sie gut bleibt, handelt die GroßeKoalition. Sie schafft jetzt das, worüber Rot-Grün siebenlange Jahre nur diskutiert hat.
Alle wussten es, aber geschehen ist fast nichts: Ich denkean die Demenz als Altersrisiko, das ständig zunimmt.Denken wir zum Beispiel an eine ältere Frau, die auf ein-mal nicht mehr weiß, wie sie nach Hause kommt, dievergisst, dass der Herd noch angeschaltet ist, und dienahe Angehörige nicht mehr erkennt und damit nichtmehr von Fremden unterscheiden kann. Was will ich da-mit sagen? Demenzkranke brauchen weniger medizini-sche Pflege im engeren Sinn, sie brauchen vielmehr Be-treuung und Hilfe im Alltag – und diese häufig rund umdie Uhr. Das stellt insbesondere für die Angehörigeneine wahnsinnig große Belastung dar. Sie pflegen zumTeil unter kaum vorstellbaren körperlichen, aber auchseelischen Belastungen aufopferungsvoll ihre Angehöri-gen. Nicht selten muss ihr eigenes Leben auf die Bedürf-nisse der Angehörigen ausgerichtet werden, oft auchnoch nach oder neben der eigenen Erwerbstätigkeit undder Versorgung der Kinder. Das verdient unseren ganzenRespekt und unsere ganze Anerkennung. Genau diesenMenschen wollen wir mit dem vorgelegten Gesetzent-wurf helfen. Wir wollen sie weiter entlasten und unter-stützen.
Mit diesem Gesetzentwurf werden in Zukunft De-menzerkrankte, die noch nicht in der Pflegeversicherungeingestuft sind, zum ersten Mal Leistungen erhalten. Wirwerden die Leistungen für die Demenzkranken insge-samt aufstocken. Waren es bislang im ambulanten Be-reich maximal 460 Euro im Jahr, werden es in Zukunftbis zu 200 Euro im Monat und damit bis zu 2 400 Europro Jahr sein. 560 Millionen Euro mehr stehen allein imambulanten Bereich dafür zur Verfügung. Die Angehö-rigen erhalten damit die Möglichkeit, zusätzliche Hilfenzu sich ins Haus zu holen. Das ist wichtig; denn wir wis-sen doch: Pflege ist weiblich. Pflegekräfte, die ehren-amtlich Engagierten, die pflegenden Angehörigen – essind meist die Frauen, die diese Arbeit leisten. Geradefür sie, die häufig nebenbei so viel anderes zu leisten undzu meistern haben, ist dies ein wirklich wesentlicher undlängst überfälliger Schritt.
Demenz macht nicht an der eigenen Haustür halt.Nach Schätzung des Medizinischen Dienstes der Kran-kenkassen weisen 50 Prozent der Heimbewohner mitt-lerweile die Diagnose Demenz auf. Auch für sie mussteendlich etwas getan werden. Manchmal hört man zwar,die Heimbewohner seien rund um die Uhr untergebracht,sie seien versorgt und deshalb müsse man nichts mehrtun, doch „versorgt“ heißt eben nicht unbedingt „ange-messen betreut“. Wir als Union haben uns nicht damitzufrieden gegeben, dass die zusätzlichen Leistungen nurauf den ambulanten Bereich beschränkt bleiben. Wirwollten, dass auch Demenzerkrankte in den Heimenzusätzliche Betreuung erfahren können.
Deshalb sind wir sehr zufrieden, dass es in den Beratun-gen gelungen ist, auch noch zusätzliche Betreuungsan-gebote für Demenzkranke in den Heimen festzuschrei-ben. In Zukunft können zusätzliche Betreuungskräfte fürDemenzkranke in den Heimen eingestellt werden. Damitwird das bisherige Pflegepersonal von diesen Aufgabenentlastet, und neue sozialversicherungspflichtige Ar-beitsplätze können entstehen.Wir wollten, dass das Geld nicht einfach in höherenPflegesätzen versickert. Nein, wir wollten mit nachge-wiesenem zusätzlichem Personal auch zusätzliche Be-treuungsangebote schaffen. Dies ist wichtig. Jetzt kön-nen zum Beispiel Tätigkeiten wie das gemeinsameTischdecken oder das gemeinsame Kartoffelschälen mitBetreuung für Demenzkranke angeboten werden. Dashilft diesen Menschen, das ist sinnvoll und gut und trägtzur Steigerung der Lebensqualität in den Heimen bei.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Gang in einPflegeheim ist für jeden eine schwere Entscheidung. Na-türlich wollen alle in der Regel nur das Beste für ihreAngehörigen. Aber was tun, wenn die Kinder oder dieEnkel nicht mehr am Heimatort wohnen oder ihre Be-rufstätigkeit oder finanzielle Gründe es nicht erlauben,zu Hause zu pflegen, oder wenn es diese nahen Angehö-rigen nicht mehr gibt, die die Versorgung übernehmenkönnten? Wenn es aus welchen Gründen auch immer zueiner Entscheidung für einen Umzug in ein Heimkommt, dann sollte diese Entscheidung – sie fällt schwergenug – wenigstens gut informiert und guten Gewissensgetroffen werden können.Deshalb tragen wir Mitverantwortung dafür, dass diegrößtmögliche Transparenz nicht nur über die Lage unddie Ausstattung der Zimmer gewährleistet wird, sondernvor allen Dingen Informationen über die Pflegequalitätund die Angebote der Heime zur Verfügung stehen. Des-halb wollen wir, dass die Ergebnisse von Qualitätsprü-fungen zukünftig veröffentlicht werden und in verständ-licher Art und Weise für jedermann einsehbar sind. Daskann auch im Internet geschehen. Aber auch im Pflege-heim selbst sind zukünftig eine Zusammenfassung dieserPrüfberichte des Medizinischen Dienstes und die
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Annette Widmann-Mauzzugrunde liegende Bewertungssystematik transparentund verständlich zugänglich zu machen.
Das kann je nach Qualitätsstandard mit Sternchen wieim Hotel geschehen. Was für uns zur Orientierung bei je-der Hotelbuchung selbstverständlich ist, was wir erwar-ten, das sollte doch bei der Auswahl eines Pflegeheims,das ja immerhin der Lebensmittelpunkt werden soll, nurbillig sein. Deshalb wollen wir diese Transparenz. Es istnotwendig, dass sie umgesetzt wird.
Aber nur mit besserer Transparenz, die ohne Zweifelnötig ist, ist es nicht getan. Wir als Unionsfraktion konn-ten uns nicht damit abfinden, dass ein Pflegeheim nuralle fünf Jahre kontrolliert wird. Auch im Gesetzentwurfwaren nur dreijährige Prüfungen vorgesehen. Wir woll-ten, dass jedes Jahr unangemeldet Kontrollen in dieHeime kommen. Das ist wichtig und stärkt die Sicher-heit und die Transparenz.
Mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Entwurfsind die Heime transparenter geworden. Die Transparenzist nämlich der beste Schutz vor Missständen. Das sindwir den älteren Menschen in unserem Land schuldig.
Dieses Mehr an Transparenz darf umgekehrt nicht zunoch mehr Bürokratie für die Pflegekräfte vor Ort füh-ren. Die haben nämlich schon genug davon.
Im Vordergrund der Prüfung werden deshalb in Zukunftdie Pflegequalität und damit das Ergebnis der Pflege amMenschen stehen. Wichtig ist doch nicht in erster Liniedas, was in den Bergen von Aktenordnern an Struktur-und Prozessqualität dokumentiert ist. Wichtig sind dochdas körperliche und seelische Wohlbefinden und die Le-bensqualität, die durch die Pflege beim Pflegebedürfti-gen ankommen.
Schließlich soll die Pflegekraft in ihrer Arbeit doch zu-erst am Menschen und nicht am Schreibtisch tätig sein.
Der Umzug fürs Heim bringt häufig auch eine großeVeränderung bei der ärztlichen Versorgung mit sich.Natürlich wünscht sich fast jeder, dass der vertrautelangjährige Hausarzt, der so manchen ein Leben lang be-gleitet hat, nun auch in der neuen Umgebung die ärztli-che Versorgung übernimmt. Aber wir wissen auch: Dasist nicht immer möglich. Deshalb ist es so notwendig,dass die ärztliche und gerade auch die fachärztliche Ver-sorgung in Zukunft gewährleistet bleiben. Denn es istnotwendig, dass auch zum Beispiel ein Augenarzt oderein Hals-Nasen-Ohren-Arzt die Menschen im Alter, de-ren Sehkraft und Hörfähigkeit nachlassen, an der Ge-meinschaft teilhaben lassen können, die auch im Pflege-heim stattfindet.Uns als Union ist es sehr wichtig gewesen, dass dasArzt-Patienten-Verhältnis, welches ein besonderes Ver-trauensverhältnis ist, nicht gestört wird und die freieArztwahl im Pflegeheim weiterhin möglich ist. Deshalbsetzen wir auf Kooperationen mit niedergelassenen Ärz-ten oder Arztgruppen – ob selbstständig oder unterstütztdurch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Erst wennsolche Kooperationen, die gut und notwendig sind, nichtfunktionieren, kann auch ein angestellter Arzt im HeimMenschen versorgen. Eines muss aber ganz klar sein:Die freie Arztwahl muss erhalten bleiben. Kein Arzt darfzugewiesen werden. Darauf legen wir großen Wert unddies ist jetzt mit diesem Gesetz gesichert.
Die Pflegebedürftigkeit kann jeden jederzeit treffen –direkt oder indirekt. Die Angehörigen spielen dann einewirklich wichtige Rolle und leisten sehr viel. Deshalbhaben wir uns mit vielen Veränderungen in diesem Ge-setzentwurf ganz besonders für sie eingesetzt. Denkenwir an die sechsmonatige Pflegezeit und an den An-spruch, wieder in den Beruf einsteigen zu können. Den-ken wir an den Freistellungsanspruch, der jetzt gewährtwird.
Wir verkürzen darüber hinaus die Wartezeit auf dieKurzzeitpflege oder die Verhinderungspflege für diejeni-gen, die neu in eine solche Situation kommen. In derVerhinderungspflege besteht häufig kein Rentenan-spruch mehr, was den Angehörigen das Leben schwermacht. Wir wollen ihnen an dieser Stelle helfen, indemwir wichtige weitere Neuerungen für pflegende Angehö-rige schaffen.
Für die Pflegekräfte wollen wir die Attraktivität desBerufs steigern. Was von den professionellen Pflegekräf-ten geleistet wird, ist wirklich herausragend. Körperlichund psychisch ist dieser Beruf schwer. Wir wollen, dasser gerade für junge Menschen attraktiver wird. Deshalberöffnen wir die Möglichkeit, dass ausgewählte ärztlicheTätigkeiten nicht nur delegiert, sondern auch eigenver-antwortlich von Pflegekräften durchgeführt werden kön-nen. Das stärkt die Verantwortung und damit die Attrak-tivität des Berufs.Wir werden auch die Zukunftsperspektive für eineTätigkeit als Einzelpflegekraft stärken. Man kann dannsozusagen sein eigener Herr oder seine eigene Frau sein.Damit entstehen neue, flexible Einsatzfelder für Pflege-kräfte in der Praxis. Dies ist wichtig, um dem Beruf auchweitere Perspektiven zu eröffnen.
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Annette Widmann-Mauz
Der Gesetzentwurf hat im Parlament nochmals deutli-che Verbesserungen erfahren. Damit werden allen Betei-ligten – den Betroffenen, den Angehörigen und den Pfle-gekräften – neue Wege aufgezeigt. Deshalb geht meinDank an diesem Tag nicht nur an die Kolleginnen undKollegen der Fraktionen, insbesondere meiner Fraktion,sondern auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterder Fraktionen und des Ministeriums.
Frau Kollegin, Sie können jetzt nicht mehr vollstän-
dig vortragen, wem im Einzelnen Dank gebührt.
Den Dank habe ich jetzt schon allgemein zum Aus-
druck gebracht; personenbezogen würde es in der Tat
länger dauern. Aber es ist wichtig, diesen Dank zu sa-
gen; denn ohne die tatkräftige Unterstützung wäre das
Ergebnis nicht erreicht worden. Deshalb müssen wir uns
die Zeit dafür nehmen.
Es ist ein guter Gesetzentwurf, der den Menschen in
unserem Lande, denjenigen, die das Schicksal in die
Lage gebracht hat, pflegebedürftig zu sein, weiterhilft.
Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Ilja Seifert, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Obwohl der Grundansatzdieses Gesetzes zur „Weiterverwirrung“ der Pflegever-sicherung völlig verquast ist, konnte die Bundesregie-rung es nicht verhindern, wenigstens ein paar positivePünktchen einzubauen. Das liegt nicht zuletzt daran,dass sich Menschen, die wirklich auf diese Hilfe ange-wiesen sind, ordentlich gewehrt haben. Es liegt auch da-ran, dass die Opposition – insbesondere die linke Oppo-sition – immer wieder gesagt hat: Ihr müsst an dieMenschen denken und nicht an die Strukturen.Es lässt sich beispielsweise nicht leugnen, dass es ver-nünftig ist, dass die Menschen dann, wenn sie für einhalbes Jahr eine Pflegeauszeit nehmen, zumindest weitersozialversichert sind.
– Das ist ein positiver Aspekt, den ich gar nicht leugnenwill. Die Grundrichtung ist aber falsch.Jeder Mensch weiß: Wenn ich eine neue Sozialleis-tung ordentlich gestalten will, dann muss ich zuerst dasZiel definieren. Das Ziel zu definieren heißt, einen ver-nünftigen Begriff dessen in das Gesetz zu schreiben, waseigentlich gemacht werden soll. Gemacht werden sollnicht etwa „satt, sauber, trocken“. Gemacht werden sollvielmehr, dass Menschen auch dann, wenn sie inkonti-nent oder dement sind oder auch dann, wenn sie andereständige Hilfe brauchen, am Leben der Gemeinschaftteilhaben können müssen.
Ob Teilhabe an der Gemeinschaft heißt, mit der Fami-lie unterwegs zu sein, an großen Veranstaltungen teilzu-haben oder bei einer Sportveranstaltung dabei zu sein,sei dahingestellt. Sie haben aber nicht einmal den Ansatzeiner Teilhabeermöglichung eingebaut. Sie haben nichteinmal einen Ansatz für Selbstbestimmung eingebaut.Sie haben nicht einmal einen Ansatz für den würdevol-len Umgang mit Menschen in dieser schwierigen Situa-tion eingefügt. Sie haben keinen vernünftigen Pflege-begriff.
Den wollen Sie irgendwann am Sankt-Nimmerleins-Tagkurz vor Weihnachten präsentieren, dann, wenn das Ge-setz längst in Kraft ist. Das kann doch nicht vernünftigsein.
Sie wissen, dass man das Ziel erst einmal definierenmuss, bevor man die Wege festlegt. Danach kann manfragen, was es kostet und woher das Geld kommt. Siemachen es gerade umgekehrt. Sie überlegen eine Erhö-hung des Beitrags um 0,25 Prozentpunkte und wollendann sehen, wie weit sie damit kommen.Was haben Sie nun Tolles eingerichtet? Sie wollenjetzt Pflegestützpunkte einrichten. Sie haben uns hierein Theaterstück vorgespielt, das vom Feinsten war. Alswenn das der Knackpunkt einer vernünftigen Pflege-orientierung wäre! Der Knackpunkt einer vernünftigenPflegeorientierung ist nicht, dass ich mehr darüber bera-ten werde, was es alles nicht gibt. Der Knackpunkt einervernünftigen Pflegeversicherung ist, dass ich die Hilfedann bekomme, wenn ich sie brauche. Das ist ein Unter-schied.
Über was sollen die Beraterinnen und Berater die Men-schen denn beraten, wenn es vorn und hinten nichtreicht?
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Dr. Ilja Seifert– Das kann ich auch sagen, ohne ausgebildeter Beraterzu sein.Sie haben tolle Sachen in das Gesetz hineingeschrie-ben. Sie wollen eine Dynamisierung der Leistungeneinführen. Meine Damen und Herren, damit Sie wissen,wovon wir reden: Diese Dynamisierung soll in der über-nächsten Wahlperiode in Kraft treten. Bis dahin gibt esnoch so viele Möglichkeiten, das wieder zu verhindern,dass man gar nicht weiß, wie ernst man das nehmen soll.
Sie haben jetzt vorgeschlagen, eine kleine Erhöhungder Leistungen vorzunehmen. Diese gleicht nicht ein-mal die Inflationsverluste aus.
Sie wissen das so gut wie ich und reden daran vorbei.Die Leistungserhöhung reicht auf gar keinen Fall aus,um das immer wieder postulierte Motto „ambulant vorstationär“ umzusetzen. Was Sie stärken, sind wieder dieStrukturen in Einrichtungen, in denen die Menschenmehr oder weniger verwahrt werden, in denen sie jeden-falls nicht selbstbestimmt leben. Die Selbstbestimmunghat ihre Grenzen beim Dienstplan des Personals. ImZentrum stehen nicht die Bedürfnisse derjenigen, um diees eigentlich geht, die Pflegebedürftigen. Das Schlimmeist, dass Sie es ebenso gut wissen wie ich und es nichtrichtig ändern. Das ist das, was ich Ihnen wirklich vor-werfe.Hinter der Nebelwand dieser Riesendiskussion überdie Pflegestützpunkte haben Sie geschickt versteckt,dass es ein paar richtige Sauereien gibt. Jetzt gibt es nachdiesem Gesetz plötzlich Pflegekräfte; es gibt nicht Pfle-gefachkräfte, es gibt Pflegekräfte.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dasdas Einfallstor dafür sein wird, die sittenwidrigen Ar-beitsbedingungen, die polnische Frauen in Deutschlandschon jetzt haben, zu legalisieren,
dass es in Zukunft legal und geradezu vom Gesetz ge-stützt sein wird, dass Frauen für drei Monate hierherkommen und, getarnt als Haushaltshilfe, für 700 oder800 Euro im Monat
– das ist doch jetzt schon so! – tätig sind, 24 Stunden amTag, und zwar nicht als Haushaltshilfe, sondern als Pfle-gekraft par excellence. Ich weiß, dass es viele Menschengibt, die momentan keine andere Möglichkeit haben,ihre Pflegesituation zu verbessern. Aber das ist trotzdemsittenwidrig, und ich möchte, dass die Menschen, diediese Arbeit leisten, ordentlich bezahlt werden.
– Aber Sie machen es nicht.Dann legen Sie einen Entschließungsantrag dazu vor!Wenn wir dem zustimmten, hieße das nicht gleich, dasser gut wäre. Er machte aber zumindest deutlich, dass Siewissen, dass Ihr Gesetz nicht nur zu kurz gesprungen ist,sondern sogar in die falsche Richtung geht. Sie sagenimmerhin, dass Sie wissen, in welche Richtung manspringen müsste.Erlauben Sie mir bitte noch ein Wort zur Finanzie-rung. Herr Lanfermann möchte immer, dass die Pflege-versicherung kapitalgedeckt ist. Jeder weiß, dass diePflegeversicherung so etwas wie die kleine Schwesterder gesetzlichen Krankenversicherung ist. Deshalb hät-ten wir bei dieser kleinen Schwester der großen GKV diewunderbare Möglichkeit gehabt, über fünf Jahre einmalauszuprobieren, wie eine Bürgerinnen- und Bürgerver-sicherung funktionieren würde. Dann hätten wir hier alleFehler, die sich beim Übergang in ein solches Systemnatürlich einschleichen, testen und korrigieren können.Selbst Sie von der Union müssten eigentlich dafür sein.Denn wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass diesesSystem nicht funktioniert, dann hätten Sie das auf die-sem Wege bewiesen und es nicht nur aus ideologischenGründen behauptet. Lassen Sie uns diesen Weg dochwirklich einmal gehen! Dieser Weg ist nicht zulasten derBürgerinnen und Bürger, die Hilfe brauchen, nicht zulas-ten der Menschen, die Hilfe anbieten, und auch nicht zu-lasten derjenigen, die das bezahlen.Letzter Satz. Ich wundere mich, dass Sie sich eine Be-auftragte der Bundesregierung für die Belange behinder-ter Menschen leisten, dass Sie aber, wenn sie ein Kon-zept für einen teilhabeorientierten Pflegebegriff auf denTisch legt, dieses sofort in den Papierkorb werfen. Pfui!
Nun erhält die Kollegin Elisabeth Scharfenberg,Bündnis 90/Die Grünen, das Wort, der ich vor Beginnihrer Rede herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratu-lieren möchte, verbunden mit allen guten Wünschen desganzen Hauses.
Vorab vielen Dank für die guten Wünsche; die kannich heute gut gebrauchen.
Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende eineslangen Gesetzgebungsverfahrens zu einer kleinen Pfle-
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Elisabeth Scharfenberggereform. Die Große Koalition hat uns zu Beginn ihrergemeinsamen Leidenszeit weitreichende Versprechun-gen gemacht. Im Koalitionsvertrag von Union und SPDist die Rede von einem „Gesetz zur Sicherung einernachhaltigen und gerechten Finanzierung der Pflegever-sicherung“. Dieses Gesetz sollte bis zum Sommer 2006vorgelegt werden.Wir haben jetzt Mitte März 2008, also fast zwei Jahrespäter.
Wenn wir glauben, dass wir heute das uns angekündigtegroße Gesetz der Pflegereform verabschieden, dann täu-schen wir uns.
Denn das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz enthält we-der den versprochenen Finanzausgleich zwischen sozia-ler und privater Pflegeversicherung, noch macht es diePflegeversicherung auch nur ansatzweise nachhaltigeroder gerechter.
Beschämend für die Große Koalition ist es, dass auchin Ihrem Entschließungsantrag, der heute hier zur Ab-stimmung steht, jede Äußerung, wie es mit der Finanzie-rung der Pflegeversicherung weitergehen soll, fehlt –nichts, keine einzige Aussage.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union undSPD, welche Schlüsse sollen wir denn daraus ziehen?Ich denke, es gibt nur einen Schluss: Eine gemeinsamenachhaltige Finanzreform ist in dieser politischen Kon-stellation einfach unmöglich.
Nicht einmal für eine gemeinsame Willensbekundungreicht es aus. Diese nicht stattfindende Finanzreformwird die Abgeordneten der nächsten Legislaturperiodenoch schön beschäftigen, wissen wir doch alle, dass dieKolleginnen und Kollegen der Großen Koalition hier aufZeit und somit auf veränderte politische Mehrheitenspielen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verabschiedenheute das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, ein Gesetz,in das viele Menschen große Hoffnungen setzen. Auchwenn das, was wir als Reform nun in den Händen halten,weit hinter unseren Erwartungen zurückbleibt, ist für unsGrüne dennoch klar: Diese Reform enthält durchausauch gute Seiten und Ansätze.
So begrüßen wir es etwa ausdrücklich, dass Einrich-tungen künftig einmal pro Jahr und unangemeldet kon-trolliert werden sollen. Wir begrüßen es auch, dass diePrüfberichte künftig veröffentlicht werden sollen. Dassind wichtige und absolut notwendige Schritte hin zumehr Transparenz und Qualität für die Pflegebedürfti-gen und ihre Angehörigen. Für uns Grüne ist auch klar,dass die Pflegestützpunkte und Pflegeberater wie auchdie Pflegezeit im Grundsatz richtig sind. Ebenso ist aberauch klar, dass die Umsetzung dieser Punkte schlecht ge-macht und eben nicht im Sinne der Pflegebedürftigenund ihrer Angehörigen ist.
Leider wurde hier die Große Koalition zur großenKonfusion. Bei den Verhandlungen stand nämlich nichtetwa die Frage, was die Betroffenen brauchen, um einmöglichst selbstbestimmtes Leben auch bei Pflegebe-dürftigkeit führen zu können, im Vordergrund.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals in unser aller Ge-dächtnis rufen, dass dieses Gesetz für pflegebedürftigeMenschen gemacht wird. Das rückt bei dieser Reformetwas in die zweite Reihe.
Denn im Vordergrund stand wie so oft bei den Entschei-dungen der Großen Koalition, das jeweils eigene politi-sche Profil zu behalten und sich so schon jetzt für dienächsten Wahlen gut aufzustellen.Kompromisse weit und breit – auch bei den Pflege-stützpunkten. Hier wird es nun besonders spannend.Die Länder sollen nunmehr die Entscheidungshoheitdarüber haben, ob sie in ihrem Land solche Stützpunktehaben wollen oder ob sie sie nicht haben wollen, undwenn ja, dann sollen es die Kassen mal schön umsetzen.Es ist vom Grundsatz her gut, wenn die Länder bei denStützpunkten stärker eingebunden werden. Aber dasssich die Länder auf Kosten des Solidarsystems einenschlanken Fuß machen können, das ist nicht in Ordnung.
Außerdem laufen wir – wie schon beim Heimrecht – Ge-fahr, dass es hier zu einer föderalen Zersplitterung kom-men wird.Es ist richtig und wichtig, vorhandene Hilfsangebotezu bündeln und zu vernetzen, Bürokratie abzubauen unddoppelte Strukturen zu vermeiden. Aber – selbst FrauCaspers-Merk äußerte sich dazu schon kritisch – nurRheinland-Pfalz bietet derzeit eine ausreichende, flä-chendeckende und damit wohnortnahe Beratungsstruk-tur.
Im Flächenland Baden-Württemberg zum Beispiel gibtes lediglich 50 Beratungsstellen. Originalton Frau Caspers-Merk – da bin ich ganz an ihrer Seite –: Es darf nicht
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Elisabeth Scharfenbergsein, dass eine gute Pflegeberatung vom Wohnort abhän-gig ist.
Frau Ministerin, mit der heutigen Verabschiedung desGesetzes können wir uns auch gleich von diesem hehrenWunsch mit verabschieden. Es wird zukünftig vomWohnort abhängen, ob ich im Falle einer Pflegebedürf-tigkeit Zugang zu einem Stützpunkt habe oder nicht.
Auch beginnt schon jetzt das Hauen und Stechen. InNordrhein-Westfalen tun schon jetzt Ärzte kund, diePflegestützpunkte seien eine klare Deprofessionalisie-rung ärztlicher Tätigkeit.
Die Hausärzte dort sehen sich als Case- und Care-Managersowie Pflegestützpunkt in Personalunion. Ich kenne kei-nen Hausarzt, der zusätzlich als Pflegeberater diese um-fassende Aufgabe, wie sie im Gesetz zu Recht vorgese-hen ist, erfüllen könnte. Das bedingt allein schon derMangel an Zeit.
Mal schauen, was uns hier an Diskussionen noch insHaus stehen wird.Auf Bundesebene können wir nun nichts mehr än-dern, aber wir müssen alles daransetzen, auf Landes-ebene mitzugestalten.Noch schlimmer ist allerdings, dass die neue Leistungder Pflegeberatung weiterhin allein in der Hand der Kas-sen liegen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen derKoalition, Sie können es noch so oft beteuern: Fakt ist,diese Beratung wird nicht unabhängig sein. Unabhängig-keit aber wäre die wichtigste Voraussetzung, damit dieBetroffenen wirkliches Vertrauen zu denen aufbauenkönnen, die ihnen helfen sollen. Es handelt sich hier umeine Lebenssituation, in der die Betroffenen tiefe Einbli-cke in ihre Privatsphäre, ihr familiäres und auch finan-zielles Umfeld geben.Beim Thema Pflegezeit haben sich zwischen Unionund SPD tiefe Gräben aufgetan. Die Pflegezeit, die heutebeschlossen wird, wird ohne reale Bedeutung bleiben.Einen Lohnersatz wird es bei dieser Pflegezeit nicht ge-ben. Die Pflegezeit kann nur in Betrieben mit mehr als15 Mitarbeitern in Anspruch genommen werden, und siebleibt auf nahe Angehörige beschränkt. Ich frage mich:Wer bleibt da eigentlich noch übrig? – Das, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ist ein Feigenblattprogramm fürBesserverdienende.
Denn wer soll es sich leisten können, mal eben sechsMonate aus dem Beruf auszusteigen? – Ich prophezeieIhnen, bereits nach zwei Wochen liegt ein Berg vonRechnungen auf dem Küchentisch; denn das ganz nor-male Leben mit allen finanziellen Verpflichtungen, diedie Angehörigen haben, geht weiter. So geht es ebennicht. Ihr Modell der Pflegezeit geht an jeglichem realenLeben vorbei.
Lassen Sie mich noch einmal einen Blick in den Ent-schließungsantrag der Koalition werfen. Dort wird mitknappen Worten darauf verwiesen, dass die Überarbei-tung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs natürlich sehrwichtig sei, aber dass erst einmal unterschiedliche Mo-delle erprobt werden müssten. Im Klartext heißt das füruns: Darauf können wir lange warten.Weiter steht da, man würde gerne das PersönlicheBudget für Menschen mit Behinderungen so weiterent-wickeln, dass sie auch Pflegeleistungen als Budget er-halten können. Aber man müsste dazu erst dieses und je-nes prüfen und modellhaft erproben. Im Klartext: Auchdarauf können wir lange warten.Zu guter Letzt lese ich noch den Appell an alle Ak-teure in der Pflege, sie mögen doch die Neuregelungenzur Qualitätssicherung auch bitte umsetzen. Entschuldi-gung, aber haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre eigenenGesetze, dass Sie um deren Einhaltung bitten müssen?
Lassen Sie mich abschließend sagen: Diese Reformträgt den Titel „Weiterentwicklungsgesetz“. Inhalt undTitel passen aber nicht zusammen. Thema leider ver-fehlt! Es ist nun einmal so: Ohne Mut zur Veränderungkann es keine Weiterentwicklung geben. Der Mut hat dieKoalition aber auf halber Strecke verlassen. Es gibt vielegute Ansätze, aber die Umsetzung erfolgt leider sehr ent-täuschend. Deshalb verdient diese kleine und für die be-troffenen Menschen enttäuschende Reform diesen gro-ßen Namen nicht.Vielen Dank.
Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die Fraktion
der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ichmöchte zuallererst den vielen pflegenden Angehörigendanken, die unter wirklich schwierigen BedingungenTag und Nacht, häufig auch neben ihrem Beruf und derVerantwortung für die eigene Familie, für ihre pflegebe-dürftigen Angehörigen da sind.
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Elke FernerZwei Drittel der Pflegebedürftigen werden in der Häus-lichkeit gepflegt. Das zeigt, wie die Wünsche der Pflege-bedürftigen aussehen.Ich möchte aber auch dem Personal in den ambulan-ten und stationären Einrichtungen danken. Sie verrichtenihre Arbeit sehr verantwortungsvoll. In vielen Fällenwerden sie leider schlecht bezahlt, aber trotzdem arbei-ten sie mit viel Engagement, Einfühlungsvermögen, Mit-gefühl und Mitmenschlichkeit. Sie sind für die pflegebe-dürftigen Menschen da. Es gibt nicht sehr viele, die dazubereit sind, eine solche nicht nur körperlich, sondernauch psychisch anstrengende Arbeit zu leisten. Dafürsollten wir an dieser Stelle noch einmal Dankeschön sa-gen.
Die 13 Jahre Pflegeversicherung sind eine Erfolgsge-schichte. Ulla Schmidt hat zu Beginn ja schon einigesdazu gesagt. Ich möchte noch einmal deutlich machen,dass mehr als 2 Millionen Pflegebedürftige jeden Monatpünktlich ihre Leistungen erhalten und mittlerweile fast800 000 Menschen in der Pflege arbeiten und eine be-zahlte – wenn auch nicht immer gut bezahlte – Beschäf-tigung in diesem Bereich haben. Ich glaube, dass wirdarauf in Zukunft ein weiteres Augenmerk richten soll-ten.Wir werden mit dieser Pflegereform die häuslichePflege mit besseren Leistungen und besseren Möglich-keiten zur Entlastung der pflegenden Angehörigen stär-ken. Der besondere Betreuungsbedarf für Menschen miteingeschränkter Alltagskompetenz wird durch zusätzli-che Leistungen anerkannt.Bei der Rede von Frau Widmann-Mauz ist mir sofortdie Eingangsbemerkung von Ulla Schmidt eingefallen:Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Wer wollteetwas haben, und wer wollte das nicht? – Zum Schlussist es dann ja oft so, dass diejenigen, die etwas zuerstnicht haben wollten, in erster Reihe stehen, wenn es da-rum geht, das Lob dafür einzuheimsen. Frau Reimannwird nachher noch näher darauf eingehen.
Wir stärken das Prinzip Reha vor Pflege. Wir verbes-sern die Schnittstellen zwischen Krankenhäusern, Reha-einrichtungen und der Pflege. Wir führen eine Pflegezeitein, die für nahe Angehörige bis zu sechs Monate betra-gen kann. Frau Scharfenberg, Sie hätten in Ihrem Rede-beitrag fairerweise hinzufügen können, dass der Begriffder nahen Angehörigen hier nicht ausschließlich Ehe-partner und direkte Verwandte umfasst, sondern das derBegriff schon zeitgemäß gefasst ist. Ich muss sagen: DieVoraussetzungen für die Pflegezeit sind keine anderenals beispielsweise die bei der Elternzeit. Hier hat IhreFraktion zugestimmt.Man kann darüber diskutieren, ob die Pflege vonAngehörigen möglicherweise eher wieder die Frauentrifft. Die Diskussion, die wir heute aufgrund der aktuel-len Lage führen, sieht nun einmal so aus, dass insbeson-dere die Töchter oder Schwiegertöchter vor der Fragestehen: Muss ich meinen Angehörigen in eine stationäreEinrichtung geben, oder höre ich mit meinem Job kom-plett auf, um die häusliche Pflege zu ermöglichen? Wirhaben eine Pflegezeit mit voller sozialer Absicherungund mit der Garantie, in den alten Beruf zurückzukehren,beschlossen. Ich glaube, das sollte man anerkennen. Dasist sicherlich nicht das Optimum, aber eine deutlicheVerbesserung gegenüber dem Status quo.
Wir hätten uns gewünscht, dass die Union unseremVorschlag, den wir auch im Gesetzgebungsverfahreneingebracht haben, zugestimmt hätte, eine kurzfristigebezahlte Freistellung einzuführen, damit eben die An-gehörigen dann, wenn ein Pflegefall zu erwarten ist, dieZeit haben, um die notwendigen Maßnahmen zu veran-lassen. Wir alle wissen, dass in dieser Situation viele An-gehörige das Gefühl haben, es werde nichts mehr sosein, wie es war. Sie wissen eben nicht, wo sie die Unter-stützung bekommen, die sie brauchen, damit sie ihrenAngehörigen die Pflege zukommen lassen können, diesie sich selber wünschen.Hier werden wir nicht nachlassen. Wir werden diesenPunkt 2009 noch einmal aufgreifen. Es ist zwar jetzt eineChance vertan worden. Aber aufgeschoben ist nicht auf-gehoben.
Wir wissen um die Sorgen und Ängste der Menschen ineiner solch schwierigen Situation. Ich weiß, dass dieserVorschlag in der Bevölkerung große Unterstützung er-fährt.Uns ist es nicht gelungen, für das Problem der dauer-haften Finanzierung eine Lösung zu finden. Das spiegeltim Prinzip die Diskussion wider, die wir auch bei derGesundheitsreform geführt haben. Wir stehen nach wievor für eine Bürgerversicherung Pflege, weil wir derAuffassung sind, dass nur so eine tragfähige und solida-rische Finanzierung dauerhaft gesichert sein kann.
Ich bedauere es sehr, dass die Union von der Zusage, diesie im Koalitionsvertrag gegeben hat, leider wieder ab-gerückt ist.
– Nein, im Koalitionsvertrag steht nichts von einemPrüfauftrag. Frau Widmann-Mauz, manchmal hilft es, zulesen.
– Im Koalitionsvertrag steht, dass ein Risikoausgleichzwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherungerfolgen soll.
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Elke FernerDas haben Sie jetzt nicht mehr gewollt. Wir können dasnicht erzwingen. Aber man darf zumindest daran erin-nern, was Sie vor Regierungsbeginn zugesagt haben undwas Sie in der Regierungszeit in der Koalition bereitsind, umzusetzen.
Mit dieser Reform konnten wir das Problem der unge-rechten Verteilung der Risiken nicht lösen. Die sozialePflegeversicherung muss pro 100 Versicherte Leistun-gen für 2,8 Pflegebedürftige finanzieren, während dieprivate Pflegeversicherung Leistungen für nur 1,3 Pfle-gebedürftige bereitstellen muss. Daran sieht man, dassdie Risiken unterschiedlich verteilt sind. Da es sich hierum einen Versicherungszweig handelt, der die absolutidentischen Leistungen finanziert, macht es keinen Sinn,die Risiken so unterschiedlich zu verteilen.
Ein weiterer Punkt, den ich noch ansprechen möchte,ist die Verbesserung der Pflegequalität. Auch da, FrauWidmann-Mauz, sollte man deutlich machen, dass dieseine gemeinsame Aktion war. Sie haben den Vorschlageingebracht, aber auch wir haben diesen Vorschlag ge-macht. Beide Vorschläge haben sich getroffen. Ich binfroh darüber, dass ab 2011 in den Pflegeeinrichtungenjährlich und grundsätzlich unangemeldet Regelprüfun-gen stattfinden.
Da, wo der Medizinische Dienst Mängel erkennt, wirdnicht wie heute ein Prüfbericht vorgelegt, den keinerversteht, sondern dieser Bericht muss transparent seinund der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden so-wie in verständlicher Form abgefasst sein. Vor allen Din-gen ist neu, dass der Medizinische Dienst den Einrich-tungen Empfehlungen geben wird, wie das, was falschgelaufen ist, verbessert werden kann, damit bei dernächsten Prüfung die Qualität wieder in Ordnung ist.Es gehören aber auch die Weiterentwicklung der Ex-pertenstandards und eine gerechte Bezahlung des Perso-nals dazu. Ich bin sehr froh, dass bereits im Regierungs-entwurf als Voraussetzung dafür, dass zwischen Kassenund Einrichtungen überhaupt Verträge geschlossen wer-den können, die ortsübliche Bezahlung vorgesehen war.Eben ist gesagt worden, Pflegestützpunkte brächtennichts. Herr Seifert, Frau Scharfenberg, man kann ja da-rüber streiten, wie diese nachher ausgestaltet werden sol-len. Aber eines ist doch klar: Wenn ich in einer extremschwierigen Situation, in der teilweise sehr schnell ent-schieden werden muss, nicht den völligen Überblick da-rüber habe, welche Hilfsangebote es gibt und wie ich dieHäuslichkeit erhalten kann – auch wenn die Wohnungim Moment vielleicht noch nicht so umgebaut ist, wie essein müsste –, dann brauche ich eine umfassende undunabhängige Beratung.Jetzt kann man darüber streiten, wer unabhängig ist.Wirklich unabhängig sind auch die Kommunen nicht;denn spätestens dann, wenn SGB-XII-Leistungen ge-währt werden sollen, können auch die Kommunen nichtmehr ganz unabhängig sein. Aber da wir in Zukunft alleAkteure, alle Leistungsträger unter einem Dach haben– sie erstellen dann gemeinsam einen Hilfeplan undschauen nach einem vernünftigen Ausgleich; es geht ummaßgeschneiderte Hilfepläne für die Betroffenen –, wirdmeiner Meinung nach die Pflege besser organisiert undmehr an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen– auch an dem Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe –orientiert sein, als das heute der Fall ist.
Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Pflege-reform ein großer Erfolg für die Pflegebedürftigen undihre Angehörigen ist. Wir lassen uns das nicht klein-reden, auch wenn man sich an der einen oder anderenStelle vielleicht noch mehr Leistungen vorstellen kann.Ich würde mir wünschen, dass auch die Dinge, die vordem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft jen-seits der Pflegeversicherung notwendig sind, auf derkommunalen Ebene und der Landesebene befördert wer-den: dass Wohnumfelder geschaffen werden, die es er-möglichen, dass die Häuslichkeit weiterhin bestehenbleibt, dass eine soziale Infrastruktur geschaffen wird,die die Menschen darin unterstützt, in ihrer gewohntenUmgebung bleiben zu können und gleichzeitig gesell-schaftlich teilhaben zu können, dass sie im Alter men-schenwürdig und liebevoll gepflegt werden und dassauch ein Sterben in Würde möglich ist. In diesem Sinnewird die Pflegereform ein großer Erfolg sein.Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern des Ministeriums und der Fraktionen be-danken, die uns darin unterstützt haben, diese Reformauf den Weg zu bringen.Vielen Dank.
Daniel Bahr erhält nun das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DiePflegereform ist erneut ein Beispiel dafür, dass eineGroße Koalition eben nicht die großen Probleme an-packt. Wie schon bei der Gesundheitsreform ist es Ihnenauch mit dieser Pflegereform nicht gelungen, die Pro-bleme, die es vor dem Hintergrund einer alternden Be-völkerung bei der Finanzierung unserer sozialen Siche-rungssysteme gibt, wirklich anzupacken. Im Gegenteil:Wie bei der Gesundheitsreform schieben Sie bei derPflegereform erneut die Lasten auf kommende Genera-tionen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 15997
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Daniel Bahr
Der beste Beleg dafür, dass Sie schlechte Gesetze ma-chen, ist die Pflegereform; denn in dieser Pflegereformmüssen Sie die Dinge, die Sie in der Gesundheitsreformvereinbart haben, schon wieder korrigieren. Ich möchteetwas ansprechen, was bisher noch keine Rolle spielte,was aber in diesem Gesetzentwurf enthalten ist. Sie ha-ben in der Gesundheitsreform vorgesehen, dass Ärztebei selbstverschuldeten Krankheiten Behandlungenden Krankenkassen melden sollen; das ist der soge-nannte Petzparagraf. Dieser Petzparagraf muss nun nocheinmal in der Pflegereform geregelt werden. Er erschüt-tert das so schützenswerte Arzt-Patienten-Verhältnis.Wir von der FDP-Fraktion, wir Liberalen im Deut-schen Bundestag, lehnen diesen Petzparagrafen ab, weilwir glauben, dass er sich gegen die Grundrechte von Pa-tienten und Ärzten richtet. Dies ist ein Angriff auf dieärztliche Schweigepflicht und das verfassungsrechtlichgeschützte Patientengeheimnis.
Das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Ärztenund Patienten wird durch einen solchen Petzparagrafenuntergraben, wenn die Ärzte quasi zu Meldern für dieKrankenkassen werden. Ich glaube auch nicht, dass dieswirklich denen dient, die sich als Jugendliche vielleichtdurch ein Piercing eine Infektion zugezogen haben unddie dann Angst haben, zum Arzt zu gehen und sich be-handeln zu lassen, weil sie die Konsequenzen befürch-ten, wenn der Arzt dies an die Krankenkasse meldet. Wirhaben daher einen praktikablen Vorschlag vorgelegt, wieder Arzt etwas melden soll, wenn der Patient eingewil-ligt hat. Die entscheidende Voraussetzung muss sein,dass der Patient der Meldung an die Krankenkasse zu-stimmt. Wenn der Patient nicht einwilligt, kann der Arztdie Auskunft gegenüber der gesetzlichen Krankenversi-cherung verweigern. Dann müsste das privat behandelt,das heißt, privat bezahlt werden. Das ist ein praktikablerWeg. Damit schützen wir das Arzt-Patienten-Verhältnis.
Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Spahn?
Ja, die gestatte ich.
Bitte.
Herr Kollege Bahr, können Sie mir erklären, warum
die FDP an dieser Stelle die Meldepflicht für Ärzte ab-
lehnt, während sie in einem Antrag zur Genitalverstüm-
melung, den wir in dieser Woche ebenfalls beraten ha-
ben, die Bundesregierung bittet, zu prüfen, ob eine
Meldepflicht für Ärztinnen und Ärzte eingeführt werden
kann? Wie kommt diese unterschiedliche Bewertung
hinsichtlich der Abwägung von Schweige- und Melde-
pflicht zustande?
Lieber Herr Kollege Spahn, wir haben schon im Aus-schuss ausführlich darüber diskutiert. Ich habe Ihnen denUnterschied schon erklärt. Wenn Sie den Antrag richtiglesen, sehen Sie, dass wir lediglich eine Prüfung bean-tragt haben und außerdem selbst erhebliche Bedenkenhinsichtlich einer Meldepflicht haben.
Zwischen diesen beiden Sachverhalten besteht ein er-heblicher Unterschied: Bei der Genitalverstümmelunggeht es möglicherweise um ein Verbrechen an einer Per-son. Es geht darum, die Person davor zu schützen. BeiIhrem Vorschlag geht es dagegen um den Schutz der So-lidargemeinschaft – das ist ein berechtigtes Anliegen –vor Kosten, die sie nicht zu verantworten hat. Eine Mel-depflicht würde hier das wichtige Arzt-Patienten-Ver-hältnis erschüttern. Deshalb kann man diese beidenSachverhalte überhaupt nicht miteinander vergleichen.
Ich will noch etwas zur Pflegereform sagen. Die Kol-legin Widmann-Mauz hat gesagt, dass die Einführungder Pflegeversicherung 1994 ein Meilenstein war.
Die Pflegeversicherung, deren Einführung von Schwarz-Gelb und der SPD getragen wurde, hat Strukturen ge-schaffen, die den Pflegebedürftigen zugutekommen. Wirwollen gar nicht in Abrede stellen, dass damals etwasauf den Weg gebracht worden ist. Wir müssen heute abererkennen – das wussten wir übrigens schon 1994 –, dassdie Finanzierung der Pflegeversicherung über eine Um-lage – über die laufenden Einnahmen werden die laufen-den Ausgaben gedeckt – ein Riesenfehler war.
Das höre ich sonst auch von Unionskollegen. Wir hättenjetzt die Zeit gehabt, diesen Fehler von 1994 zu korrigie-ren, anstatt ihn fortbestehen zu lassen, was Sie jetzt tun.Die Einführung der Pflegeversicherung war, was dieFinanzierung betrifft, kein Meilenstein; im Gegenteil.
Diesen Fehler setzen Sie fort: Sie weiten die Leistun-gen aus, zum Beispiel auf den Bereich der Demenz-erkrankungen. Sie machen eine Leistungsdynamisie-rung. All das ist nötig; ich will das gar nicht in Abredestellen.
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Daniel Bahr
Da Sie die Finanzierungsfrage nicht gelöst haben, ver-größern Sie das Problem. Die Erhöhung der Beiträge um0,25 Prozentpunkte wird allenfalls bis 2012 ausreichen.Das hat Ihr Kollege, Herr Zöller, selbst kritisiert. DieFinanzierungsprobleme werden durch Ihre Reform nichtgelöst, sondern der kommenden Generation aufgelastetund damit weiter verschärft.In Richtung SPD möchte ich sagen: Man muss denHut davor ziehen, dass Sie in der rot-grünen Koalitionim Bereich der Altersversorgung einen historischenSchritt vollzogen haben. Der damalige Sozialminister,Walter Riester, hat den Bürgerinnen und Bürgern signali-siert, dass sie sich auf das umlagefinanzierte Rentensys-tem nicht verlassen können, weil wir eine alternde Be-völkerung haben, weil wir immer mehr Ältere undimmer weniger Jüngere haben. Das Gleiche gilt dochaber auch für die Pflege: Wir wissen, dass sich die Zahlder Pflegebedürftigen verdreifachen wird und die Zahlder jungen Beitragszahler auf zwei Drittel sinken wird.Das heißt, dass wir in dem Umlagesystem „Pflege“ diegleichen Probleme wie in dem Umlagesystem „Rente“haben werden. Wenn Sie das, was Sie mit der Riester-Rente gemacht haben, konsequenterweise auch bei derPflege gemacht hätten, hätten wir den Hut davor gezo-gen; denn die Riester-Rente war eine historische Leis-tung. Damit haben Sie eine Botschaft an die Bevölke-rung gesendet. Jetzt hingegen täuschen Sie dieBevölkerung, weil Sie ihr suggerieren, die Pflege sei inZukunft sicher. In Wahrheit kommen gewaltige Pro-bleme auf uns zu.
Frau Ministerin Schmidt, deswegen werden Sie in denGeschichtsbüchern gemeinsam mit Herrn Blüm stehen.
Sie und Ihr Ministerium haben zwar genauso wie HerrBlüm die Probleme, die sich aus einer alternden Bevöl-kerung ergeben, erkannt, aber trotzdem die Augen davorverschlossen. Dieses Problem wird uns in einigen Jahreneinholen,
und deswegen werden Sie, anstatt mit Herrn Riester ineinem Kapitel zu stehen, in einem Kapitel mit HerrnBlüm stehen.Frau Ferner und Frau Scharfenberg, Sie haben so vieldazu gesagt. Ich frage mich: Was haben Sie eigentlich inden sieben Jahren rot-grüner Regierung gemacht? FrauMinisterin Schmidt ist seit 2001 Gesundheitsministerin.Auch sie hatte sieben Jahre Zeit, um etwas auf den Wegzu bringen, legt aber erst jetzt einen schwachen Vor-schlag zur Reform der Pflegeversicherung vor.Durch die Bürgerversicherung, wie Sie sie nennen,letztlich also durch die „Einheitskasse Pflege“, könnendie Probleme der alternden Bevölkerung nicht gelöstwerden.
Im Gegenteil, dadurch werden die bestehenden Pro-bleme noch verschärft. Als ob durch 10 Prozent mehr ineinem System, das bereits heute Defizite produziert, inein paar Jahren die Probleme von 100 Prozent der Be-völkerung gelöst werden könnten! Das kann doch wirk-lich niemand glauben.
Wir haben erlebt, dass in der privaten Pflegeversiche-rung als Vorsorgemaßnahme im Hinblick auf die Pro-bleme der alternden Bevölkerung mittlerweile Alters-rückstellungen in Höhe von 16 Milliarden Euroaufgebaut wurden. Gleichzeitig wurde der Beitragssatzzur umlagefinanzierten Pflegeversicherung erhöht. Die-ser Beitragssatz wird übrigens noch weiter steigen. EinDefizit jagt das andere.
Die Probleme der alternden Bevölkerung könnendurch Einführung einer „Einheitskasse Pflege“, die dieLinke hier im Parlament vorschlägt, nicht gelöst werden.Diese Probleme können nur durch einen Systemwechselzur Kapitaldeckung, den die FDP vorschlägt, gelöst wer-den.Herzlichen Dank.
Das wäre ja zu schön gewesen, aber Zwischenfragen
kann ich nach Ablauf der Redezeit aus hoffentlich jeder-
mann nachvollziehbaren Gründen nur schwerlich zulas-
sen.
– Ja. Auch ich bin in einem leicht depressiven Zustand.
Da müssen wir gemeinsam durch.
Nun hat die Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieReform der sozialen Pflegeversicherung ist eine guteBotschaft für Millionen von Pflegebedürftigen und ihreAngehörigen in diesem Land. Mit den beschlossenenVerbesserungen des Leistungsspektrums erfüllt dieGroße Koalition eine zentrale Zusage. Die Leistungsfä-higkeit der Pflegeversicherung wird erhalten und weiter-
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Maria Eichhornentwickelt. Die beschlossenen Leistungsverbesserungenbedeuten vor allem eine Qualitätssteigerung im Bereichder Pflege. Mit unserem heutigen Beschluss wird einemAnliegen Rechnung getragen, das uns schon sehr langebewegt: der Einbeziehung demenziell Erkrankter.
Sie hat neben den finanziellen Aspekten auch eine nichtzu unterschätzende gesellschaftspolitische Dimension.Bisher löste die Diagnose Demenz zumeist ein unan-gebrachtes Schamgefühl und Schweigen aus. Durch diePflegereform wird nunmehr ein Beitrag dazu geleistet,das Phänomen Demenz weiter zu enttabuisieren. FrauFerner, ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungenist, mit unseren Änderungsanträgen dafür zu sorgen,dass Demenzkranke nicht nur im ambulanten Bereich,sondern auch im stationären Bereich einbezogen und un-terstützt werden.
Das ist eine für alle Beteiligten besonders gute Bot-schaft.Die Leistungsverbesserungen werden vor allem Frauenzugutekommen. 80 Prozent der pflegenden Angehörigensind Töchter, Schwiegertöchter, Mütter oder dem Pflege-bedürftigen sonst nahestehende Frauen. Ihnen und allenprofessionellen sowie ehrenamtlichen Helferinnen undHelfern in den ambulanten und stationären Pflegeein-richtungen gilt unser Dank.
Ihre gesellschaftlich oftmals viel zu gering erachtete,aber aufopferungsvolle Arbeit verdient unseren vollenRespekt und unsere praktische Unterstützung.
Frau Kollegin Eichhorn, nun möchte der Kollege
Spieth gerne Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage
verlängern.
Bitte schön.
Ich bedanke mich, dass Sie mir die Möglichkeit ge-
ben, eine Frage zu stellen.
Frau Eichhorn, Sie haben sich gerade bei den in den
Pflegeeinrichtungen Tätigen bedankt; das unterstütze ich
ausdrücklich. Bei aller Wertschätzung muss ich Sie aber
fragen: Warum hat die Große Koalition darauf verzich-
tet, die Leistungsbeträge, die in den Pflegestufen I und II
im stationären Bereich gewährt werden, zu erhöhen?
Sie werden frühestens – ich betone: frühestens – im
Jahre 2015 erhöht; jedenfalls steht das so im Gesetz.
Halten Sie das angesichts Ihrer Dankesworte wirklich
für angemessen? Denn unter dem Strich haben davon die
im stationären Bereich Beschäftigten und auch die zu
Pflegenden nichts.
Herr Kollege Spieth, Sie wissen genau, dass diese Re-form der Pflegeversicherung unter dem Motto „ambulantvor stationär“ steht.
Wir wollten zunächst einmal und in erster Linie denjeni-gen, die im ambulanten Bereich tätig sind, helfen. Dasheißt allerdings nicht, dass wir durch weitere Maßnah-men zur Qualitätsverbesserung und Entbürokratisierungnicht auch im stationären Bereich erhebliche Anstren-gungen unternehmen, die dazu beitragen, dass die Pfle-gekräfte entlastet werden.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf zweiNeuerungen: Zur weiteren Stärkung der häuslichenPflege haben Pflegekräfte in Zukunft bereits nach sechsMonaten Anspruch auf Erholungsurlaub. Bisher betrugdie Wartezeit für die erstmalige Inanspruchnahme einerErsatzpflegekraft doppelt so lange, nämlich zwölfMonate. Das ist eine echte Hilfe.Künftig werden pflegenden Angehörigen auch in derUrlaubszeit Rentenversicherungsbeiträge gutgeschrie-ben.
Diese Regelung kommt vor allem denjenigen zugute, dieAngehörige über einen langen Zeitraum pflegen. BeideNeuerungen sind Ausdruck unserer Wertschätzung derPflegepersonen.Die Reform, Herr Spieth, wird den Grundsatz „ambu-lant vor stationär“ stärken.
Damit entsprechen wir dem Bedürfnis der Pflegebedürf-tigen, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umge-bung, im Kreis ihrer Verwandten und Freunde zu blei-ben. Auch in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel:Die in den Schlussberatungen vereinbarte Erhöhung derFördermittel für alternative Wohnformen sowie für am-bulante und teilstationäre Hausgemeinschaften leisteteinen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Ver-sorgungsstrukturen. Wenn sich durch passgenaueniedrigschwellige Betreuungsangebote die Verlagerungins Pflegeheim vermeiden lässt, umso besser!Die Reform verbessert auch die Voraussetzungen fürPrävention und Rehabilitation in der Pflege. Bereitsdurch die Gesundheitsreform wurde mit der Rehabilita-tion auch die geriatrische Rehabilitation zur Pflichtleis-
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Maria Eichhorntung der Krankenkassen. Künftig drohen Sanktionen,wenn die Krankenkasse nicht innerhalb einer gewissenFrist eine notwendige Rehabilitationsmaßnahme geneh-migt und durchführen lässt. Der Betrag, den die Kran-kenkasse in diesem Fall an die Pflegekasse zu überwei-sen hat, wurde im Vergleich zum früheren Entwurfverdoppelt. Dies verbessert im Interesse der rehabedürf-tigen Patienten die Wirksamkeit der Regelung.
Mit der Pflegereform gehen wir einen Schritt weiter.Die stationären Pflegeeinrichtungen bekommen künftigeine Bonuszahlung, wenn sie mit aktivierender Pflegeund Reha eine Verbesserung des Gesundheitszustandsdes Pflegebedürftigen erzielen.In den meisten Heimen ist eine gute Pflege selbstver-ständlich leisten die Pflegekräfte hervorragende Arbeit.In der Vergangenheit haben jedoch Meldungen überschlechte Zustände in Pflegeheimen zu erheblicher Ver-unsicherung geführt. Die Menschen müssen sich auf dieQualität der Pflegeleistungen in den Heimen verlassenkönnen. Deshalb verkürzen wir die vorgegebenen Inter-valle für die Qualitätssicherungsprüfung durch dieMedizinischen Dienste der Krankenkassen. Es war vor-gesehen, Qualitätsprüfungen alle drei Jahre und nachvorheriger Anmeldung durchzuführen. Wir haben nunbeschlossen: Heime werden künftig jährlich und in derRegel unangemeldet geprüft. Die Prüfung – das ist mirebenso wichtig – soll sich künftig auf den Zustand derPflegebedürftigen konzentrieren, weniger auf die Doku-mentations- und Aktenlage.
Im Vordergrund der Prüfung muss die Ergebnisqualitätstehen; die Prozess- und Strukturqualität ist nachrangig.Wir wollen die Situation der Pflegebedürftigen im Be-triebsalltag der Heime in den Blick nehmen.Die intensive Diskussion zwischen den Koalitions-fraktionen über die Frage der Pflegeberatung hat sichaus unserer Sicht gelohnt.
Wenn nunmehr die Länder entscheiden, ob sie Pflege-stützpunkte einrichten, so berücksichtigt dies, dass dievorhandenen Beratungsstrukturen bundesweit höchst un-terschiedlich sind.
Dort, wo bereits heute auf bewährte Beratungsstrukturenzurückgegriffen werden kann, sind Pflegestützpunkteentbehrlich.
Dies ist mir von den Fachleuten vor Ort immer wiederbestätigt worden.
Es gibt bereits heute viele kirchliche, freigemeinnüt-zige und kommunale Einrichtungen, in denen engagiertund kompetent beraten wird, und zwar – das ist beson-ders wichtig – in Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten.
Insbesondere denjenigen, die sich ehrenamtlich engagie-ren, gilt unser besonders herzlicher Dank.
Eine Daueraufgabe bleibt die von den Pflegekräftenund Heimleitungen immer wieder nachdrücklich gefor-derte Entbürokratisierung in der Pflege. Die Pflege-dokumentation ist zwar eine wichtige Voraussetzung fürdas bestmögliche Wohlbefinden unserer Pflegebedürfti-gen; der zeitliche und inhaltliche Aufwand dieser Doku-mentation muss aber mit Augenmaß auf das Sinnvolleund Notwendige begrenzt werden. Unnötige bürokrati-sche Anforderungen, die Zeit für die Pflege rauben, soll-ten gestrichen werden. Notwendig sind also eine zielge-nauere Koordination behördlicher Kontrollen, eineReduzierung unnötiger Anzeigepflichten und eine Stan-dardisierung der Pflegedokumentation. Die Bestimmun-gen sollten sich darauf beschränken, dem Wohl der Be-wohnerinnen und Bewohner zu dienen.Die Familienpolitiker der CDU/CSU haben bereits inder letzten Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt undVorschläge zum Abbau der Bürokratie in Heimen formu-liert. Dass es sich lohnt, in diesem Bereich etwas zu tun,zeigt das bayerische Projekt „Entbürokratisierung derPflegedokumentation“, mit dem es gelungen ist, die Bü-rokratielasten in Teilbereichen um bis zu 50 Prozent zureduzieren. Das bedeutet nicht nur Einsparungen zu-gunsten von echten Pflegeleistungen, sondern vor allem,dass die bislang für eine überflüssige Bürokratie ver-schwendete Zeit endlich für die Pflege und Betreuungunserer Mitbürgerinnen und Mitbürger aufgebracht wer-den kann. Das ist ja dringend notwendig ist, denn sie ha-ben mehr Fürsorge und Zuwendung verdient.Ich bedanke mich.
Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Im Koalitionsvertrag haben Sie die Pflegeversicherungals zentralen Baustein der sozialen Sicherungssystemebezeichnet, der den Herausforderungen der Zukunft ge-recht werden muss. Was Sie uns heute vorstellen, ist einezentrale Baustelle. Dabei ist eine grundlegende Reformder Pflegeversicherung 15 Jahre nach ihrer Einführungüberfällig.
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Dr. Martina Bunge
In dieser grundlegenden Kritik stimmen wir mit der FDPüberein, Kollege Lanfermann. Wir stellen uns allerdingseine völlig andere Zielrichtung vor.
Sie versuchen wieder einmal die Quadratur des Krei-ses. Dass das schief gehen muss, ist klar. Mit einem ge-ringen finanziellen Mehraufwand wollen Sie große Ver-sprechungen umsetzen.
Ja, Sie wollen die Leistungssätze anheben, aber dievorgesehenen Anhebungen sind völlig unzureichend. Ei-nige Leistungen werden minimal angehoben, andere garnicht. In keinem Fall wird der Realwertverlust ausgegli-chen. Insofern gibt es keine Verbesserung gegenüber derStartposition Mitte der 90er-Jahre.
Ja, Sie kürzen zwar nicht die Leistungen für diePflegestufen I und II in den Pflegeheimen, aber dass Siedas als Erfolg feiern, muss angesichts der erforderlichenstärkeren Qualitätssicherung in den Heimen wie Hohnklingen.
Ja, Sie wollen die Leistungssätze dynamisieren, abererst ab 2015.
Bei einer durchschnittlichen Pflegedauer von acht biszehn Jahren haben die derzeit Pflegebedürftigen und de-ren Helferinnen und Helfer nichts davon.Ja, Sie wollen die Leistungen für Menschen mit ein-geschränkter Alltagskompetenz von bisher 460 auf biszu 2 400 Euro jährlich erhöhen. Aber das ist viel zu ge-ring; denn trotz Verfünffachung des Höchstbetrages be-deutet das rechnerisch nur 6,57 Euro pro Tag, für vielenur die Hälfte, für manche gar nichts; denn die einkalku-lierte Summe reicht nur für knapp die Hälfte der Er-krankten.
Ja, über einen Änderungsantrag haben Sie auch 200 Mil-lionen Euro für die Demenzbetreuung in Pflegeheimeneingestellt. Aber drei Viertel der Betroffenen werden leerausgehen; denn wenn jeder der 3 000 bis 4 000 Betreu-ungskräfte für jeweils 25 Betroffene zuständig sein soll,werden nur 100 000 Betroffene erfasst. Wir haben aber400 000, mit steigender Tendenz.
Ja, Sie wollen einen Pflegeurlaub von zehn Tagen ein-führen.
– Pflegeurlaub ist für diejenigen besser verständlich, dieuns zuhören. – Aber der Pflegeurlaub ist unbezahlter Ur-laub und kann nur in Unternehmen mit mehr als 15 Be-schäftigten genommen werden. Also fällt das für denOsten, die neuen Bundesländer, fast vollständig aus.
Ja, Sie wollen die Besuchspraxis des MedizinischenDienstes in Pflegeheimen transparenter gestalten undwollen deshalb häufigere unangemeldete Kontrollen.Aber das Problem der Qualität der Betreuung in Pflege-heimen ist nicht mit mehr Kontrollen zu lösen. Für gutePflege bedarf es vielmehr Zeit und ausreichend qualifi-ziertes Personal. Bei der Pflege dürfte meines Erachtensnicht das Motto „Zeit ist Geld“, sondern umgekehrt„Geld ist Zeit“ gelten.
Das Einzige, wo wir kein „Ja, aber“ anbringen, sinddie Paragrafen, die im Omnibusverfahren in das SGB V,also in die gesetzliche Krankenversicherung, eingefügtwurden. Zum Petz-Paragrafen, den Herr Bahr angespro-chen hat, sagen wir ein deutliches Nein. Wenn es aberdarum geht, Bedingungen zu schaffen, damit das Mo-dellprojekt „Gemeindeschwester AGnES“ besser in dieRegelversorgung überführt werden kann, sagen wir na-türlich Ja.
Kommen wir zum SGB XI, die Pflegeversicherung,zurück. Um nicht missverstanden zu werden, liebe Kol-leginnen und Kollegen von der SPD: Wir gönnen jederund jedem jeden Euro, der draufgelegt wird. Ihre Vor-schläge klingen gut. Aber die Enttäuschungen werdenumso bitterer sein. Wir alle wissen, dass Pflegende imMinutentakt die einzelnen Hilfe- und Betreuungsleistun-gen abarbeiten müssen. Pflege ist eine schwere Arbeit.Sie ist aber vor allen Dingen auch Beziehungsarbeitzwischen Menschen. Nicht nur die Pflegebedürftigen,sondern auch die Pflegekräfte leiden darunter, dass keineZeit für ein kleines Gespräch bleibt, dass keine Zeit fürein paar Streicheleinheiten ist. Eine hinwendungsbezo-gene, sprechende und ganzheitliche Pflege, die zudemgesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, sieht unseres Er-achtens anders aus.
Viele Pflegekräfte, sowohl im ambulanten als auch imstationären Bereich, sind so ausgepowert, dass sie alsFachkräfte nach rund zehn Jahren – physisch und psy-chisch fertig – aus dem Beruf gehen. Es trifft vor allenDingen Frauen. Sie gewinnen nichts mit dieser Reform.Aber sie sind diejenigen, die zu rund zwei Dritteln
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Dr. Martina BungeLeistungsbeziehende sind und die den größten Teil derPflegearbeit leisten. Insofern ist das mehr als ungerecht.
Wir wissen, dass durch den Wandel in der Arbeits-welt, durch veränderte Familienstrukturen und Erwerbs-biografien von Frauen familiäre Netzwerke künftig im-mer weniger zur Verfügung stehen. Wir wissen auch,dass die meisten Menschen wünschen, nach Eintritt derPflegebedürftigkeit in der vertrauten Umgebung zu blei-ben. Aber das ist nicht unbedingt mit dem Wunsch ge-koppelt, von Angehörigen gepflegt zu werden. DieseTendenzen werden von der Bundesregierung und vonden Koalitionsfraktionen völlig unzureichend beachtet.Wenn sie das nämlich wirklich täten, dann müssten siePflege und Assistenz als einen prosperierenden Beschäf-tigungszweig der Zukunft begreifen. Das setzte aber vo-raus, die Arbeit dort auch attraktiver zu machen, sie zumeinen zu „entschleunigen“ und sie zum anderen gerech-ter, also angemessen zu bezahlen.
Zukunftsforscher sprechen von der „weißen Revolu-tion“, also davon, dass Gesundheit und Pflege als die Be-reiche, in denen Arbeitsplätze entstehen, Wachstumsfak-toren für die Gesellschaft sein werden. Wir kritisieren,dass ganz überwiegend verschlafen wird – das hat sich jaauch in den Anhörungen gezeigt –, diese Chancen fürdie Zukunft wahrzunehmen. Dies ist einfach nicht hinzu-nehmen.
Daher werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.Aber wir haben Alternativen.
Ich rate Ihnen, auch Herrn Bahr, der nur die Hälfte da-von zitiert hat: Lesen Sie das einmal ausführlich nach.Das empfehle ich auch den Gästen und denjenigen, dieuns im Fernsehen zusehen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein merk-würdiges Schauspiel: Eine große Reform ist angekün-digt, eine kleine vorgelegt.Die CDU in Gestalt von Frau Widmann-Mauz erklärt:Wir haben lauter Erfolge errungen, alles ist ganz schön,aber die SPD ist ja blöd; wir haben leider keine Zu-kunftsvorsorge in Gestalt der Kapitaldeckung treffenkönnen.Frau Ferner tritt auf und stöhnt, die SPD habe lauterNiederlagen gegenüber der CDU erlitten
und habe so vieles nicht durchsetzen können. Die SPDhätte doch so gern die Solidarität in Gestalt der Bürger-versicherung erweitert, aber die CDU sei ja böse.Meine Damen und Herren, diese gegenseitigen Be-zichtigungen innerhalb einer Koalition mögen stim-mungsmäßig bei Ihnen bedeuten, was immer sie bedeu-ten, aber politisch ist das doch unerträglicher Kinderkram.
Das folgt dem Motto: Gibst du mir deine Quietschentenicht, dann kriegst du meinen Schwimmring nicht.
Aber dabei säuft doch nicht die Koalition ab, sondern dienachwachsende Generation; denn ihr muten Sie eineBugwelle von Pflegekosten in den kommenden Jahr-zehnten zu, ohne dafür irgendeine Vorsorge zu treffen.Das ist unerträglich.
Es ist doch so: Ab dem Jahr 2020 werden wir sehrviel mehr hochbetagte Menschen haben, also auch mehrPflegebedürftige. Dafür wäre eine finanzielle Vorsorgeerforderlich, aber Sie tun nichts. Sie hätten sich aufei-nander zubewegen sollen.
In concreto verschärfen Sie das Problem auch noch.Sie machen jetzt eine kleine Beitragserhöhung, und Sieversprechen bessere Leistungen. Sie wissen aber: DiesesGeld reicht für die verbesserten Leistungen genau oderhöchstens bis zum Jahre 2015.
Ab 2015 – so steht es jetzt im Gesetz – sollen dann nocheinmal bessere Leistungen kommen, die übrigens hoch-notwendig sind, nämlich in Form einer regelmäßigenAnpassung der Pflegeleistungen an gestiegene Preise,also eine Dynamisierung. Das heißt, Sie versprechenbessere Leistungen genau für den Zeitpunkt, zu demauch nach Ihren eigenen Angaben die Pflegekassen soleer sein werden wie der Kühlschrank vor der Fastenzeit.Das kann ja wohl nicht angehen.
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Birgitt Bender
Es kann nicht funktionieren, es wird nicht funktionie-ren. So kann ich nur sagen: Wenn es in der Politik fürdiejenigen, die sich am Wegducken vor der Zukunft be-teiligen, finanzielle Sanktionen gäbe, dann hätten UllaSchmidt ebenso wie die Abgeordneten der CDU nurnoch die Hälfte ihrer Diäten verdient.
Ein anderer Punkt, meine Damen und Herren: Ver-steckt auf den hinteren Seiten dieser Pflegereform, dieihren Namen nicht wirklich verdient, ist der Petzpara-graf; es war schon die Rede davon. Ärzte sollen in Zu-kunft ihre Patienten verpfeifen, wenn sie an den Folgenvon Piercings oder Schönheitsoperationen leiden unddeswegen behandelt werden müssten. Die Folge davonist, dass die Kassen nicht zahlen müssen. Sie haben ja inIhrer großartigen Weisheit schon mit der Gesundheitsre-form ein Selbstverschuldensprinzip eingeführt, das beidiesen Indikationen, aber auch in anderen Fällen greifensoll. Was tun Sie jetzt? Sie machen Ärzte zu Denunzian-ten:
Sie wollen sie verpflichten, ihre Schweigepflicht zu bre-chen. Damit hebeln Sie das Zeugnisverweigerungsrechtaus. Dazu kann man nur sagen: Wehret den Anfängen!
Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, diesen Petzpa-ragrafen und das Selbstverschuldensprinzip aufzuheben.Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man diesen Weg be-schreitet, dann kommt es irgendwann dazu, dass man ei-nem Zuckerkranken, der zum Arzt kommt, sagt: Dichwird niemand behandeln, denn du hättest dich ja beizei-ten besser ernähren können; das petze ich jetzt derKasse.
Das kann es nicht sein. Wir brauchen ein Solidarsystem.Es ist Aufgabe der Prävention – vor entsprechenden Re-gelungen haben Sie sich ja gerade wieder weggeduckt –,lebensstilbedingte Krankheiten zu verhindern.
Es ist keine Alternative, Patienten zu bestrafen undÄrzte zu Denunzianten zu machen; das wäre falsch.
Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der 1. Juli dieses Jahres wird ein guter Tag für dierund 2 Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehöri-gen.
Dann tritt nämlich die Pflegereform, die wir heute bera-ten und verabschieden werden, in Kraft. Wir reagierendamit zum einen auf die Herausforderungen der demo-grafischen Entwicklung und zum anderen – das ist derentscheidende Punkt – auf veränderte Bedürfnisse derPflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. ZahlreicheLeistungsverbesserungen werden zu einer spürbarenVerbesserung der Lebenssituation dieser Menschen füh-ren. Deshalb kann man uneingeschränkt sagen: Es isteine gute Reform. Sie ist gut, weil wir die Leistungsbe-träge schrittweise erhöhen, und sie ist gut, weil wir eineLeistungsdynamisierung einführen. Damit stoppen wirden schleichenden Wertverfall der Leistungen.Die ambulanten Sachleistungsbeträge werden bis2012 in allen drei Pflegestufen schrittweise erhöht. Imstationären Bereich wird es zu Aufstockungen in derPflegestufe III und bei den Härtefällen kommen. Auchdas Pflegegeld für pflegende Angehörige wird erhöht.Damit stärken wir vor allem die ambulante Pflege undkommen so dem Wunsch vieler Pflegebedürftiger nach,die in ihrem gewohnten Umfeld, zu Hause, gepflegt wer-den wollen.
Immer mehr Menschen erreichen ein gesegnetes Al-ter. Das ist zweifellos eine positive Entwicklung. Siebringt aber zugleich neue Herausforderungen für diehäusliche wie für die stationäre Pflege mit sich. Angehö-rige und Pflegekräfte werden bei der Versorgung derPflegebedürftigen zunehmend mit geistigen und psychi-schen Einschränkungen bis hin zu schweren Demenzer-krankungen konfrontiert, die oft zusätzlich zu den kör-perlichen Gebrechen auftreten. Darauf waren dieLeistungen der Pflegeversicherung bislang nur unzurei-chend ausgerichtet. Dieser Missstand wird mit der Pfle-gereform beseitigt.Die seit langem geforderten neuen Leistungen fürdemenziell erkrankte Menschen werden nun einge-führt. Im ambulanten Bereich wird es eine Staffelung ge-ben: Menschen mit geringerem allgemeinen Betreuungs-bedarf erhalten bis zu 100 Euro, diejenigen mit höheremBetreuungsbedarf bis zu 200 Euro im Monat. Demen-ziell Erkrankte erhalten somit dank dieser Reform bis zu2 400 Euro pro Jahr. Wichtig ist, dass dieser Betrag
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Dr. Carola Reimannzusätzlich zu den Pflegeleistungen und unabhängig vonder Pflegestufe gezahlt wird.
Das bedeutet: Auch Menschen, die keine Pflege, sondernvor allem Betreuung und Assistenz benötigen, erhaltenin Zukunft Unterstützung aus der Pflegeversicherung.Auf Vorschlag der SPD wird es auch für demenzer-krankte Heimbewohner zusätzliche Hilfen geben. DiePflegeversicherung finanziert zusätzliche Stellen für Be-treuungskräfte, die sich in vollstationären Pflegeeinrich-tungen um demenziell Erkrankte kümmern sollen. Siesollen altersverwirrten Menschen im Heim helfen, ihrenTagesablauf besser zu bewältigen. Die Finanzierung derStellen dieser Betreuungsassistentinnen und -assisten-ten durch die Pflegeversicherung ist an zwei wichtigeBedingungen geknüpft:Erstens. Es muss sich um zusätzliche Betreuungs-kräfte handeln. Eine Reduzierung oder Anrechnung vor-handenen Personals ist also nicht zulässig.Zweitens. Die Assistentinnen und Assistenten müssensozialversicherungspflichtig beschäftigt sein.
Das ist unser Beitrag zur Steigerung des Beschäfti-gungspotenzials. Mit der Einstellung zusätzlicher Be-treuungsassistenten in den stationären Einrichtungen undden neuen Leistungen im ambulanten Bereich erreichenwir eine substanzielle Verbesserung der Versorgung De-menzerkrankter und ermöglichen eine wirkliche Hilfeund Entlastung für die pflegenden Angehörigen, aberauch für die Pflegekräfte in den Heimen.
Frau Kollegin Reimann, möchten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Spieth beantworten?
Bitte schön.
Wenn es hilft, dann sollte es so sein. – Ich möchte
eine Frage stellen, weil Sie die Leistungen im stationä-
ren Bereich wieder locker überspringen. Es gibt in den
Stufen I und II keine Anpassungen. Diese erfolgen frü-
hestens im Jahr 2015. Im Durchschnitt müssen in der
Stufe II im stationären Bereich 2 800 Euro gezahlt wer-
den. Die Pflegeversicherung zahlt aber nur 1 279 Euro.
Das hat zur Folge, dass jemand, der mit Pflegestufe II in
den stationären Bereich muss, eine Differenz von round
about 1 600 Euro zu decken hat.
Das heißt, die Rente ist futsch und die Angehörigen
müssen mitzahlen. Warum haben Sie nicht auch in den
Stufen I und II die Leistungsbeträge erhöht? Damit hät-
ten Sie ein Stück dazu beigetragen, dass diejenigen, die
in den Einrichtungen sind, nicht zu Taschengeldempfän-
gern werden.
– Wurde aber nicht beantwortet.
Herr Kollege Spieth, wir alle wissen, dass es sich beider Pflegeversicherung nicht um eine Vollversicherunghandelt. Das will ich als Allererstes einmal sagen.
Das kann man bekritteln, aber sie ist nun einmal so undnicht anders angelegt worden. Wir führen sie jetzt in derbisherigen Form fort.Dann ist hier schon einmal gesagt worden, auch vonder Kollegin Eichhorn, dass der Schwerpunkt auf derVerbesserung im ambulanten Bereich liegt. Das ist völligrichtig.Schließlich sagten Sie, ich überspringe etwas, aberauch Sie überspringen etwas, nämlich dass die Leistun-gen für die Pflegestufe III im stationären Bereich aufge-stockt werden und dass es Verbesserungen für Härtefällegibt.
Kolleginnen und Kollegen, die Pflege eines Angehö-rigen ist eine ungeheuer verantwortungsvolle Aufgabe,die ganz viel Kraft kostet. Neben der Pflege des Angehö-rigen kommen häufig Beruf, Kindererziehung und dieganz alltäglichen Verpflichtungen hinzu. Ich will an die-ser Stelle noch einmal betonen, dass es zum weit über-wiegenden Teil die Frauen sind, die diese Mehrfachbe-lastung schultern. Das alles unter einen Hut zu bringen,ist alles andere als einfach. Die Grenze der Belastbarkeitist dabei ganz schnell erreicht, meist wird sie sogar über-schritten. Deshalb ist es unerlässlich, mit einer solchenPflegereform pflegenden Angehörigen die Möglichkei-ten zur Entlastung zu bieten.Hierbei kommt den Einrichtungen der Tages- undNachtpflege eine wichtige Funktion zu. Sie bieten An-gehörigen die Möglichkeit, ihre pflegebedürftigen Ver-wandten in gute, professionelle Betreuung zu geben, umdem Beruf und den alltäglichen Erledigungen nachzuge-hen oder einfach Zeit für sich und andere Familienmit-glieder zu haben. Zugleich sind diese Einrichtungen aberauch unter dem Gesichtspunkt der Aktivierung von Pfle-gebedürftigen von großer Bedeutung. Leider wurdendiese Angebote in der Vergangenheit nur in geringemUmfang genutzt. Hauptgrund dafür ist der damit verbun-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16005
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Dr. Carola Reimanndene geringere Anspruch auf Pflegegeld bzw. ambulanteSachleistungen für die verbleibende Zeit, die der Pflege-bedürftige zuhause gepflegt werden muss. Deshalb wer-den wir das mit der Pflegereform ändern: Neben demAnspruch auf Tages- und Nachtpflege wird es zusätzlicheinen 50-prozentigen Anspruch auf ambulante Pflege-sachleistungen bzw. Pflegegeld geben. Damit wird dieTages- und Nachtpflege attraktiver. Das heißt aber auch,die pflegenden Angehörigen haben die Chance auf spür-bare Entlastung, und die Pflegebedürftigen selbst be-kommen professionelle Unterstützung und Betreuung inden entsprechenden Einrichtungen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Reformsieht nicht nur den Ausbau von Pflegeleistungen vor,sondern auch die Möglichkeit, diese künftig flexibler inAnspruch zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist das soge-nannte Poolen von Leistungsansprüchen. Das neueGesetz ermöglicht, dass die Ansprüche mehrerer Leis-tungsberechtigter künftig in einen Pool eingebracht wer-den können, um hieraus selbstbestimmt Pflege-, Betreu-ungs- und hauswirtschaftliche Versorgungsleistungen zufinanzieren. Die hierdurch entstehenden Effizienzge-winne kommen den Pflegebedürftigen als zusätzlicheBetreuungszeit zugute.
Das heißt konkret, dass sich Pflegebedürftige in einemWohnquartier zusammenschließen und gemeinsam einenPflegedienst beauftragen können. Es könnte beispiels-weise ein Feld auch für Wohnungsbaugenossenschaftensein, dies vor Ort zu koordinieren. Zugleich werdendurch diese Möglichkeiten Anreize zur Schaffung neuerWohnformen wie Wohngemeinschaften gesetzt. Ichmeine, das ist die richtige Antwort auf sozialstrukturelleVeränderungen wie zum Beispiel die wachsende Zahlvon Singlehaushalten.
Die genannten Beispiele – Erhöhung der Leistungs-beiträge, neue Beiträge für Demenzerkrankte, Förderungder Tages- und Nachtpflege und das Poolen von Leistun-gen – bringen den Betroffenen spürbare Verbesserungen.Ich will aber an dieser Stelle nicht ganz verschweigen,dass ich mir an zwei Punkten mehr gewünscht hätte.Zum einen betrifft das die Finanzierung. Hier hättenwir Sozialdemokraten gerne den im Koalitionsvertragvereinbarten Finanzausgleich zwischen privater undgesetzlicher Pflegeversicherung verwirklicht.
Zum anderen hätten wir berufstätigen Angehörigengerne eine zehntägige bezahlte Freistellung zur Orga-nisation der Pflege ihrer Angehörigen ermöglicht.Wir hätten das im Interesse der Betroffenen gerneumgesetzt. Andere wollten das leider nicht. Beides, dieBürgerversicherung Pflege wie auch die zehntägige be-zahlte Freistellung, bleiben aber Ziele, für die wir unsweiter einsetzen werden. Ich bin sicher, diese Themenkommen wieder.
Kolleginnen und Kollegen, trotz der Notwendigkeitvon Kompromissen verabschieden wir heute eine Re-form, die, wie ich mit Freude feststelle, vor allem sozial-demokratische Handschrift trägt
und die Verbesserungen und neue Unterstützungsmög-lichkeiten für Betroffene wie Angehörige enthält. Des-halb wird – damit komme ich zum Anfang meiner Redezurück – der 1. Juli dieses Jahres, an dem die Reform inKraft tritt, ein guter Tag für alle Pflegenden und Pflege-bedürftigen. Ich darf mich bei allen bedanken, die zudiesem Gesetz konstruktiv beigetragen haben.Danke schön.
Willi Zylajew ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat ist das, womit wir uns hier beschäftigen, wichtig,nämlich die Frage, wie wir die Pflege zukunftsfest ma-chen. Wichtiger ist aber das, was 10 Millionen Men-schen Tag für Tag – auch in diesem Moment – erleben,die unmittelbar mit der Pflege befasst sind. Es sind diesdie Pflegebedürftigen selbst, es sind dies die Menschenmit Behinderungen, die auf Pflege angewiesen sind, essind dies aber auch die etwa 1 Million Kräfte, die imambulanten und im stationären Bereich Pflegeleistungenerbringen: Ehrenamtler, Menschen in Vereinen, in Pfarr-gemeinden, in Wohlfahrtsverbänden, Angehörige, Nach-barn und Freunde. Tag für Tag und Nacht für Nacht er-bringen sie diese Leistungen. Wir als Union haben dieChancen genutzt, die in dieser Koalition möglich sind,um exakt für diese Menschen Verbesserungen zu errei-chen.
Die Kolleginnen und Kollegen Widmann-Mauz,Maria Eichhorn und andere haben die Leistungen schonim Einzelnen angesprochen. Wir gewähren den Pflege-bedürftigen weitere materielle und personelle Hilfe,Hilfe zur Bewältigung des pflegebedingten Mehrauf-wands in ihrer Lebensführung. Unsere Gesellschaftbleibt weiterhin sozial. Wir belasten damit natürlich an-dere Menschen, das wissen wir: Auf der einen Seite pro-fitieren über 10 Millionen, auf der anderen Seite belastenwir 60 Millionen Beitragszahler, bei denen wir denNettoertrag aus selbstständiger Arbeit, aus abhängigerArbeit oder aus Kapitalertrag schon ein Stück weit redu-zieren.
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Willi ZylajewWir leiten einen Teil unseres Bruttoinlandsprodukts zuden Pflegebedürftigen.
– Natürlich ist das Solidarität. Aber, verehrte Frau Kolle-gin, wir als diejenigen, die politisch dafür die Verantwor-tung tragen,
sollten auch Respekt vor denen haben, die Leistungenerwirtschaften, Frau Ferner, und uns nicht nur ins Zeuglegen, wenn wir Geld, das wir ihnen wegnehmen, ande-ren geben. Das ist Solidarität, die Respekt verdient.
Kollege Lanfermann, Sie haben davon gesprochen,dass wir demnächst ein Drittel weniger Beitragszahlerhätten. Das stimmt nicht. Der Kollege Bahr hat es dannschon präziser gesagt: ein Drittel weniger junge Bei-tragszahler. – Man kann die Finanzierung der Pflegever-sicherung nicht mit der Finanzierung der Rentenversi-cherung vergleichen,
weil auch die Rentnerinnen und Rentner bis ins hohe Al-ter Beiträge zahlen.
– Ich brauche das nicht zu wiederholen, Herr Bahr. – In-sofern ist die Pflegeversicherung finanziell deutlich sta-biler als irgendeines der anderen Systeme.
Holen Sie doch einmal die Zitate der FDP-Kollegenvon 1994 hervor! Lambsdorff und andere Strategen ha-ben gesagt, schon im Herbst werde die Versicherungpleite sein.Also: Es gibt weniger junge Beitragszahler, aber dieRentnerinnen und Rentner zahlen auch. Insofern ist dasschon in Ordnung.Der ergänzende Kapitalstock ist aus unserer Sicht fürdie Jahre 2027 ff. wichtig.
Herr Kollege Zylajew, würden Sie zwischendurch
eine Frage des Kollegen Bahr gestatten?
Herr Präsident, sehr gern; dann kann ich ihn korrigie-
ren.
Das wollen wir einmal sehen! – Herr Kollege
Zylajew, wenn Sie die Debatten von 1994 ansprechen,
dann müssen Sie bitte auch Folgendes zur Kenntnis neh-
men: Bereits 1994 haben zum Beispiel Graf Lambsdorff
und andere Kolleginnen und Kollegen aus der FDP-
Fraktion darauf hingewiesen, dass wir im Jahr 2008 und
auch schon früher genau das erleben werden, was wir
jetzt tatsächlich erleben, nämlich steigende Defizite in
der Pflegeversicherung, und dass wir genau vor der
Frage stehen werden, ob man das Umlagesystem so
noch erhalten kann und ob die Beiträge weiter steigen
müssen.
Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass sich die demo-
grafischen Probleme einer alternden Bevölkerung in
einer Pflegeversicherung noch viel dramatischer auswir-
ken werden als in der Rentenversicherung, weil die Le-
benserwartung steigt, aber die Eintrittswahrscheinlich-
keit von Demenz, von Altersverwirrung, bei 80-Jährigen
mit etwa einem Drittel heute genauso hoch ist, wie sie
vor 10 oder 20 Jahren war und voraussichtlich auch in
10 oder 20 Jahren sein wird,
sodass es immer mehr pflegebedürftige Menschen, aber
immer weniger jüngere Menschen in unserer Gesell-
schaft geben wird?
Herr Bahr, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen,dass wir mehr ältere und weniger junge Menschen inunserer Gesellschaft haben werden. Das ist richtig. Siehaben das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leis-tungsempfängern angesprochen. Es ist nicht so, dassnur die jungen Menschen Beiträge zahlen. Ich habe dieherzliche Bitte, dass Sie dies zur Kenntnis nehmen. Wirsollten vor den Rentnerinnen und Rentnern hohen Re-spekt haben, denn sie zahlen ihren Beitrag klaglos.
Es ist daher nicht möglich, die Problematik der Renteauf die Problematik der Pflege zu übertragen. Die Rent-ner zahlen ordentlich und verlässlich,
und dafür haben wir ihnen zu danken. Wir brauchen ihreBeiträge, um die Leistungen auch in Zukunft ordentlichgewähren zu können.
Ich möchte noch einmal sehr deutlich sagen, dass wirden Menschen neue Möglichkeiten im Bereich der Be-treuung und der Selbstbestimmung eröffnen. Wir als
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Willi ZylajewUnion hatten den Ehrgeiz, möglichst jeden Euro und je-den Cent direkt an den Menschen zu bringen. Wir habendann mit dem Ministerium und Teilen der SPD Problemegehabt, weil sie das Geld lieber in neue Strukturen inves-tiert hätten. Wir haben uns am Schluss auf etwas verstän-digt, was aus unserer Sicht tragbar ist.Zu Rot-Grün beziehungsweise zu Grün direkt mussich sagen: Das alles hättet ihr in den Jahren von 1998 bis2005 machen können.
Ihr habt aber durch eine pflegepolitische Auszeit ge-glänzt.Frau Bunge, in Bezug auf die Linken sind wir neugie-rig, was sie dort, wo sie Verantwortung in den Ländernträgt, so Besonderes tut. Ich habe noch nicht bemerkt,dass es dort, wo die Linken mitverantwortlich sind, ei-nen Aufbruch im Bereich der Pflege gibt. Ein Abbruchin allen sozialen Systemen findet dort statt, wo sie Ver-antwortung trägt.
Sie ist wirklich nicht tauglich.Wir haben in unserer Gesellschaft eine Reihe vonwichtigen Problemen, mit denen wir uns auch nach die-ser Reform beschäftigen müssen. Fakt ist, dass sich un-sere Gesellschaft in folgender schwieriger Situation be-findet: Wenn man eine nach Tarif bezahlte Stelle einesPflegeberaters oder eines Fallmanagers ausschreibt,dann bekommt man 200 Bewerbungen. Schreibt maneine nach Tarif bezahlte Stelle einer examinierten Pfle-gekraft aus, dann hat man Glück, wenn man eine Bewer-bung erhält.
Herr Kollege, Frau Kollegin Bunge würde gern eine
Zwischenfrage stellen.
Auch dies gern.
Herr Kollege Zylajew, würden Sie mir zustimmen,
dass die Länder ihren Spielraum in der Frage, was sie in
der Pflege tun können, durch die Bundesgesetzgebung,
nämlich durch das SGB XI, vorgegeben bekommen und
einen ganz geringen eigenen Spielraum haben, den sie
beispielsweise in Berlin mit Modellprojekten nutzen?
Ich bin nicht bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, weil
es schlicht falsch ist. Die Länder haben eigene Gestal-
tungschancen und ein eigenes Profil. Mit den Landes-
pflegegesetzen haben sie hervorragende Chancen, ein
eigenes Profil für die Pflege zu entwickeln. Es gibt Län-
der, die das machen. Schauen Sie sich einmal an, was im
Bereich Südbaden an Kreativität vorhanden ist. Schauen
Sie, was Träger in anderen Ländern entwickeln. Ich
komme gern, um mir das in Berlin anzusehen. Ich nehme
aber das, was Sie sagen, nicht zur Kenntnis. Ich nehme
zur Kenntnis, dass dort, wo die Linken politisch etwas zu
sagen haben, kein Vorrang für Pflege vorhanden ist.
– Sind die Zwischenrufe beendet? Dann fahre ich fort.
Aus meiner Sicht ist deutlich, dass Fortschritte für zu
Pflegende, für die Angehörigen und für Träger und Ein-
richtungen in der Geschichte der Bundesrepublik immer
mit der Union verbunden waren. Sie waren in der Entste-
hungsphase mit Helmut Kohl und Norbert Blüm verbun-
den. Sie sind jetzt mit der Kanzlerin Angela Merkel ver-
bunden. Alle, die hier mehr wollen, können dies
anmelden. Verlassen aber können sich die Pflegebedürf-
tigen im Endeffekt nur auf die Union.
Das war so, das ist so, und das wird so bleiben.
– Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich
doch einmal an, wann Ihre Regierungsinitiativen gekom-
men sind. Das wird im deutschen Geschichtsunterricht
niemand herausfinden können, denn Sie haben keine un-
ternommen. Ich weiß, dass die Menschen hier auf die
Union setzen und setzen können. Ich sage noch einmal:
Wir haben das erreicht, was wir in dieser Koalition errei-
chen können. Dafür danken wir.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, welchenIdentifikationsgrad dieses Pflege-Weiterentwicklungs-gesetz auch bei unserem Koalitionspartner in allen Tei-len erfahren hat.
Ich freue mich sehr, dass die Teile des Pflege-Weiterent-wicklungsgesetzes, die von Ihrer Seite aus in der Öffent-
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Hilde Mattheislichkeit durchaus strittig diskutiert worden sind, jetzthier verteidigt werden.Ich bin auch der Überzeugung, dass die Oppositions-parteien in ein paar Wochen nicht mehr so gern darüberreden werden, wie sie hier abgestimmt haben, weil siedann nämlich in Pflegeeinrichtungen und vor Angehöri-gen rechtfertigen müssen, dass sie einer Leistungsver-besserung nicht zugestimmt haben.
Ich bin auch der Überzeugung, dass viele, die diePflegestützpunkte jetzt kritisieren, auf deren Verteilungschauen und feststellen werden, wie viele Pflegestütz-punkte in ihrem eigenen Bundesland – womöglich in ih-rem Wahlkreis – ankommen könnten. Dann wird es vorallem von denjenigen, die die Pflegestützpunkte bis jetztnicht verteidigen, einen großen Run darauf geben. Esgibt dann sicherlich auch einen Run der Länder, weil eswirklich ein Erfolgsmodell ist.
Wer sagt, dass Pflegestützpunkte zu Doppelstrukturenführen würden, der hat das Gesetz nicht gelesen,
weder den ersten Entwurf noch das, was wir in der Kom-promisslinie vereinbart haben und verabschieden wer-den. Denn da heißt es ausdrücklich, dass die Beratungs-und Vernetzungsstrukturen, die es bereits gibt, einzu-beziehen bzw. zu ergänzen sind. Ich bin fast versucht,das mit der Initiative bei den Ganztagsschulen zu ver-gleichen.
Auch da gab es zunächst eine heftige Abwehrhaltung;aber dann ging es in den Ländern ganz schnell, undplötzlich waren es zum Teil die schwarzen Bürgermeis-ter, die gefordert haben, dass in ihre Kommune eineGanztagsschule und die entsprechenden Mittel kommen.
Genauso wird es bei den Pflegestützpunkten sein. Esgibt Länder, die es schon geschafft haben, Beratungs-und Vernetzungsstrukturen aufzubauen, zum BeispielRheinland-Pfalz. Andere haben versucht, die vernetztenStrukturen herunterzufahren, indem die Zuschussmittelversagt wurden, wie in Baden-Württemberg – dort wol-len die Träger dieses Erfolgsmodell selber finanzieren –,und sie werden diese Chance ergreifen und Pflegestütz-punkte aufbauen.
Da bin ich ganz sicher. Das werden wir in einem hal-ben oder in einem Jahr sicher im Ausschuss bilanzierenkönnen. Wir werden dann alle sehr stolz sein können,dass wir dieses Gesetz heute so verabschiedet haben.Neben den Pflegestützpunkten – gute Dinge vertragenWiederholung – gibt es die Verpflichtung zur Pflege-beratung und deren Ausbau. Diese ist zwar heute schonim SGB XI verankert; aber die Case-Management-Strukturen, die wir jetzt einziehen wollen, werden dazubeitragen, dass Menschen in einer schwierigen Lebens-situation begleitet werden, dass sie Unterstützung undBeratung bekommen.
Auch der Leistungsanspruch in Bezug auf Menschenmit Demenz, egal ob ambulant gepflegt wird oder in sta-tionären Einrichtungen, wird eine unglaubliche Erleich-terung sein. Jeder, der mit Angehörigen der Betroffenenim engen Kontakt ist, weiß, dass die kleinen Dinge desLebens bei Demenz zu großen Hürden werden. Wennzum Beispiel der Gang zum Arzt geplant werden mussund niemand beim Ehemann oder bei der Ehefrau ist, istes wichtig, diese niedrigschwelligen Leistungen einfor-dern zu können und nicht von der Rente bezahlen zumüssen, sondern dies aus der Pflegeversicherung tun zukönnen.Ich will mich aber im Folgenden noch auf einenSchwerpunkt konzentrieren, der uns von Anfang an im-mer sehr wichtig war,
nämlich die Unterstützung der Qualität und Transparenzin der Pflege. – Der Finanzausgleich kommt noch, HerrSpieth; Sie können mich gerne dazu fragen. Sie wollenja noch einmal reden, nehme ich an.
Über diese Qualität haben wir intensiv diskutiert, und inder Anhörung ist uns recht gegeben worden, dass Quali-tätssicherung und Transparenz sehr eng zusammenhän-gen. Niemand von uns hat diesen Punkt diskutiert, ohneimmer wieder zu betonen, dass selbstverständlich derüberwiegende Teil des Pflegepersonals diesen Beruf mitgroßem Engagement, mit großer Liebe und Zuneigungausübt
und dass es darum geht, diese Berufsgruppe davor zuschützen, dass sie durch Schlagzeilen von Pflegemän-geln und wirklich schlimmen Verhältnissen in Pflegehei-men diskreditiert wird.
Deshalb ist es uns wichtig, hier noch einmal zu beto-nen, dass es jährlich eine unangemeldete Überprüfungdurch den MDK gibt. Diese Überprüfungen sind zwin-gend. Zertifizierungen ersetzen keine Überprüfungendurch den MDK. Ergebnisqualität zu beurteilen, be-deutet, zu schauen, in welchem Maße die Hilfe bei denPflegebedürftigen ankommt. Wo eine gute Ergebnisqua-lität zu finden ist, kann auf die Überprüfung der Prozess-und Strukturqualität verzichtet werden. Diese Teile wer-den ergänzend nur dann geprüft, wenn die Ergebnisqua-lität nicht stimmt.Wir wollen dem Medizinischen Dienst der Kranken-kassen in stärkerem Maße eine beratende Funktion ge-ben. Diese Funktion wird nicht nur, wie jetzt, im Rah-
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Hilde Mattheismen der gegebenen Möglichkeiten ausgeübt, sondernstellt eine Verpflichtung für den MDK dar. Pflegequalitätund Transparenz hängen voneinander ab und bilden da-mit ein Paar.
Daher wollen wir, dass jeder, der ein Heim betritt, genausehen kann, wie gut die Qualität in diesem Heim ist. Siekann durch eine entsprechende Anzahl von Sternen oderdurch eine Ampel angezeigt werden. So ist für alle aufden ersten Blick klar, wie der MDK die Qualität diesesHeimes einstuft.
Frau Kollegin, der Kollege Spieth würde jetzt gern
seine Zwischenfrage stellen.
Bitte, Herr Spieth.
Frau Kollegin Mattheis, da Sie mich so freundlich
eingeladen haben, das Thema Finanzausgleich anzu-
sprechen, und ich befürchte, dass Sie in Ihrem Beitrag
nicht mehr darauf zu sprechen kommen, möchte ich Ih-
nen Gelegenheit geben, dazu noch etwas zu sagen.
Im Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und
der SPD heißt es:
Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostruk-
turen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzli-
cher und privater Pflegeversicherung eingeführt.
Dieser ist dringend erforderlich, um die unterschiedli-
chen Risiken auszugleichen, die zwischen gesetzlicher
und privater Pflegeversicherung bestehen.
Mittlerweile ist es so, dass bei den privaten Pflegever-
sicherungen 15 Milliarden Euro auf der hohen Kante lie-
gen, während die soziale Pflegeversicherung extreme
Probleme hat.
Auch wenn es Ihnen nicht schmecken mag, frage ich
Sie: Warum hat die Koalition diesen wichtigen Punkt au-
ßer Acht gelassen und um die private Pflegeversicherung
erneut einen Schutzzaun gezogen?
Ich möchte jetzt nicht in den Verdacht kommen, bei
Ihnen, Herr Spieth, diese Frage bestellt zu haben.
Trotzdem möchte ich das Thema Ausgleich, das Sie in
Ihrer Frage angesprochen haben, aufgreifen. Ja, die Ko-
alitionsvereinbarungen sehen diesen Ausgleich vor. Ja,
in vielen Reden meiner Kolleginnen und Kollegen und
auch von mir finden Sie die Aussage, dass wir diesen
Ausgleich wollen. Er steht immer noch auf unserer poli-
tischen Agenda, Herr Spieth, und er hat bei den Verhand-
lungen selbstverständlich eine Rolle gespielt. Ich ver-
weise hier auf die beschlossenen Eckpunkte, die, wie Sie
wissen, schon zu vielen Diskussionen geführt haben.
Ich knüpfe jetzt aber an das an, was ich eingangs ge-
sagt habe, und frage Sie allen Ernstes: Wie wollen Sie
gegenüber Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen
rechtfertigen, dass Sie diesem Gesetzentwurf nicht zu-
stimmen und damit gegen eine Leistungserweiterung
sind? Denn im Gesetz finden Sie ausschließlich Punkte,
die zur Leistungsverbesserung und zur Qualitätssiche-
rung beitragen werden.
Erklären Sie mir also einmal, warum wir wegen eines
strittigen Punktes das ganze Paket scheitern lassen soll-
ten.
In Bezug auf Ihre Zwischenfrage sage ich an dieser
Stelle:
Selbstverständlich bleiben viele Themen auf unserer po-
litischen Agenda. Die Definition des Pflegebegriffs ist
eines davon. Sie können uns nicht den Vorwurf machen,
dass wir diesen Punkt vernachlässigen, Herr Seifert; das
haben Sie in Ihrer Rede gesagt. Klar ist: Genau in die-
sem Bereich brauchen wir einen sehr intensiven und mit
allen Fachverbänden organisierten Prozess. Das kann
man wirklich nur mit Ruhe und Gründlichkeit machen.
– Das stimmt ja nicht, Herr Lanfermann.
Wenn Pflegestufen womöglich neu organisiert werden,
spielt dabei doch vor allen Dingen das Instrument eine
Rolle. Dieses Thema bleibt also auf unserer politischen
Agenda. Auf der Agenda bleibt auch das Thema – –
Frau Kollegin, ich kann keine Zwischenfrage mehr
zulassen, weil Sie Ihre Redezeit bereits überzogen ha-
ben. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Mein letztes Wort: Auf der Tagesordnung bleibt auchdie Bürgerversicherung.Danke.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte auf einen Aspekt gern etwas vertiefter einge-hen, aber vielleicht gibt mir der Kollege Spieth anschlie-ßend ja die Gelegenheit, noch auf weitere Aspekte ein-zugehen.Ich bedauere zutiefst, dass mit dieser Pflegereform,mit dem vorgelegten Gesetzentwurf und den Änderungs-anträgen, der Einstieg in eine kapitalgedeckte Vorsorgein diesem Zweig der sozialen Versicherung nicht gelun-gen ist. Dieser Einstieg war im Koalitionsvertrag vorge-sehen und wäre angesichts des Zustandes der Pflegever-sicherung auch vonnöten gewesen.
Denn seit ihrer Einführung 1995 gab es bei der Pflege-versichtung in mehr Jahren eine Unterdeckung als eineÜberdeckung.Eine kapitalgedeckte Vorsorge ist besonders aus ei-nem Grund notwendig: In dem Jahr, in dem ich 80 Jahrealt sein werde – nämlich 2060 –, wird im Vergleich zuheute ein wesentlich größerer Anteil der Deutschen einAlter von über 80 Jahren erreicht haben. Schon jetztnimmt der Anteil dieser Personen stark zu. Das Risiko– gerade ist schon darauf hingewiesen worden –, insbe-sondere demenziell zu erkranken, liegt bei über 80-Jähri-gen bei etwa einem Drittel – Tendenz dramatisch stei-gend.
Deswegen haben alle Sachverständigen – auch wenn siesich über das Ausmaß nicht einig waren – in der Anhö-rung deutlich gemacht, dass eine Kapitalrücklage in dergesetzlichen Pflegeversicherung vonnöten wäre. Sie istam Ende – das muss man ehrlich miteinander konstatie-ren –
an der Uneinsichtigkeit und Kurzsichtigkeit unseres Ko-alitionspartners gescheitert.Liebe Frau Kollegin Bender, angesichts des Umstan-des, dass Sie in sieben Jahren Rot-Grün in diesem Be-reich gar nichts erreicht haben, ist Ihre Aufregung ge-rade zwar plakativ, am Ende aber doch etwas aufgesetztgewesen.
Denn wie schwer es mit diesem Koalitionspartner beidiesem Thema ist, haben Sie damals ja auch schon er-lebt.So muss man feststellen, dass der Zeitverlust, der mitjedem Jahr, in dem der Umstieg zu einer kapitalgedeck-ten Vorsorge nicht erfolgt, größer wird, zumindest nochzwei Jahre auf das Konto unseres sozialdemokratischenPartners geht. Diesem Partner stelle ich anheim, den Ge-rechtigkeitsbegriff um eine Zukunftsdimension zu er-weitern.
Klar ist aber auch, Herr Kollege Lanfermann: DerEinstieg in eine Kapitaldeckung würde im Moment – soehrlich muss man im Umgang miteinander sein – eineVerteuerung für die Menschen bedeuten. Wenn Sie aufder einen Seite fordern, dass die sozialen Versicherungengünstiger werden müssen,
und auf der anderen Seite gleichzeitig eine Kapitalrück-lage fordern, dann passt das nicht zusammen.
Wir müssen ehrlich zu den Menschen sein und ihnenklar sagen, dass – wenn wir für die Zukunft vorsorgen –es heute teurer wird, weil es für die zukünftigen Genera-tionen günstiger sein soll.Genau deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SED-Nachfolgepartei,
ist Ihr Antrag in der Argumentation so gefährlich. Denner folgt dem bekannten Muster: Sie fordern mehr:6 000 Euro für demenziell Erkrankte. Sie fordern Pflege-geld in der Höhe des Arbeitslosengeldes I. Sie fordernjährliche Dynamisierungen usw. Aber Sie verlieren, wiewir es von Ihnen gewohnt sind, kein Wort darüber, wiedas finanziert werden soll.
llja, Frank und Martina im Wunderland, möchte man sa-gen. Etwas Konkretes findet sich in Ihrem Antrag nicht.Eines ist klar: Ihre populistischen Forderungen nach„mehr“ sind verwerflich; denn Sie geben keinen Hinweisdarauf, wer das am Ende bezahlen soll, und suchen kei-nen vernünftigen Ausgleich zwischen den Beitragszah-lern in diesem Land – insbesondere den künftigen – unddenjenigen, die die Leistungen jetzt brauchen. Das las-sen wir Ihnen nicht durchgehen, verehrte Kolleginnenund Kollegen.
Ich möchte bei der Bewertung der Zukunft dieserPflegereform kurz auf drei weitere Dinge eingehen.
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Jens SpahnErstens. Die Pflegeversicherung ist – das ist geradeschon gesagt worden – per definitionem und von Anfangan immer nur eine Teilkostenversicherung gewesen.Deswegen ist es wichtig, dass wir mit dieser Reform denAbschluss von Zusatzversicherungen im privaten Be-reich auch in der Kooperation mit gesetzlichen Versiche-rungen erleichtern; denn die Zusatzversicherungen ha-ben per se einen Vorteil: Sie sind kapitalgedeckt.Zweitens. Es ist wichtig – das hat zwar mit dieserPflegeversicherungsreform nicht direkt etwas zu tun,aber gerade in diesen Zeiten steht die Entscheidung an,das Forschungszentrum nach Bonn zu verlegen –,
im Bereich der demenziellen Erkrankungen nicht nurfür die Betroffenen mehr Geld zur Verfügung zu stellen– das ist richtig –, sondern auch mehr Geld für For-schung und Entwicklung auszugeben. So können wir mitBlick auf das, was 2050 oder 2060 kommt, schauen, wiewir hier vielleicht gewisse Entwicklungen im Sinne derMenschen verhindern können.Drittens. Zu einer Zeit, zu der ich alt bin und ein Drit-tel der Menschen in diesem Land über 60 Jahre alt seinwird, werden wir uns auch – das ist mir persönlich sehrwichtig – über die Fragen des Zusammenlebens ausei-nandersetzen müssen. Es geht darum, wie wir das Zu-sammenleben in einer älteren Gesellschaft gestaltenwollen und welche Formen es gibt. Deswegen ist es sehrwichtig, dass wir mit dieser Pflegereform das Poolenvon Leistungen möglich machen, dass wir Modellpro-jekte realisieren, dass wir im Rahmen anderer Projektenach Alternativen zwischen der rein ambulanten und derrein stationären Pflege suchen,
um solche neuen Formen des Zusammenlebens zu erpro-ben.Ich fasse zusammen: Wie viele andere Kollegen vonder Unionsfraktion werde ich diesem Gesetzentwurf zu-stimmen, weil wir die Verbesserung der Leistungen fürdemenziell Erkrankte und auch die Steigerung der Trans-parenz in den Pflegeheimen nicht davon abhängen lassenkönnen, ob sich bei unserem Koalitionspartner endlichdie notwendige Einsicht durchsetzt. Von daher gehe ichheute diesen wichtigen Schritt mit. Klar ist aber auch,dass noch wichtigere Schritte im Sinne der Zukunftsfä-higkeit dieses Systems zu tun bleiben. Vielleicht gelingtes uns irgendwann – entweder durch Einsicht oder durchneue Mehrheiten in diesem Deutschen Bundestag –, dieseSchritte zu tun.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur struktu-rellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. DerAusschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525, in Kennt-nis des Vierten Berichts über die Entwicklung der Pfle-geversicherung auf Drucksache 16/7772 den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7439 und16/7486 in der Ausschussfassung anzunehmen.Hierzu liegen drei Änderungsanträge vor, über die wirzuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantragder Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8532? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-trag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Gegen-stimmen der FDP abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/8530? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit denStimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltun-gen von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen derLinken abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8531? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-trag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDPbei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und derFraktion Die Linke abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi-tion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen derKoalition bei Gegenstimmen der Opposition angenom-men.Wir kommen damit zur Abstimmung über drei Ent-schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8528? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses beiGegenstimmen der FDP abgelehnt.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 16/8527? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit denStimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltungvon Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen derLinken abgelehnt.Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8529? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen der Fraktio-
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastnernen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung derFraktion Die Linke abgelehnt.Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksa-che 16/8525 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7136mit dem Titel „Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkungder Verbraucher – Für eine konsequent nutzerorientiertePflegeversicherung“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Frak-tionen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen.Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/7472 mit dem Titel „Füreine humane und solidarische Pflegeabsicherung“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU/CSUund FDP bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke an-genommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525 die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-sache 16/7491 mit dem Titel „Für eine zukunftsfest undgenerationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmungstärkende, transparente und unbürokratische Pflege“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Ge-genstimmen der FDP angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 sei-ner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzuneh-men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FraktionenBündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der FDPmit dem Titel „Entbürokratisierung der Pflege vorantrei-ben – Qualität und Transparenz der stationären Pflegeerhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/6836, den Antrag derFraktion der FDP auf Drucksache 16/672 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion derFDP angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausErnst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKERiester-Rente auf den Prüfstand stellen– Drucksache 16/8495 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitHaushaltsausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Volker Schneider , Klaus Ernst,Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKEWiedereinführung der Lebensstandardsiche-rung in der gesetzlichen Rente– Drucksachen 16/5903, 16/6921 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich würde jetzt gern die Aussprache eröffnen undbitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche au-ßerhalb des Saales zu führen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeKlaus Ernst.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Angesichts der Rentenpolitik der Bundesregie-rung verstehe ich, dass so viele Koalitionäre den Raumverlassen.Die Ergebnisse dieser Politik sind leicht zusammen-zufassen: 2003: Rentenerhöhung null; 2004: Renten-erhöhung null; 2005: Rentenerhöhung null; 2006: Renten-erhöhung null; 2007: plus 0,54 Prozent bei einerPreissteigerung von 2,8 Prozent; zu 2008 kann ich auf-grund der neuesten Pressemeldungen nur sagen: Schleu-derkurs.
Die Rentner haben seit 2003 aufgrund der Preissteige-rungen real 10 Prozent weniger. Sie haben viele zusätz-lichen Belastungen zu verkraften gehabt: den allein zufinanzierenden zusätzlichen Krankenkassenbeitrag, un-ter anderem für Krankengeld, das ein Rentner per Defi-nition gar nicht mehr beziehen kann, Zuzahlungen, diePraxisgebühr von 10 Euro pro Quartal usw. Das Ergeb-nis der Rentenpolitik der letzten Jahre lautet: Keine Re-
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Klaus Ernstgierung hat die Rentner so geschröpft wie Rot-Grün undSchwarz-Rot in den letzten Jahren. Keine Regierung hatsich das zuvor getraut.
Aber jetzt bekommen Sie kalte Füße. Heute vor fünfJahren ist die Agenda 2010 verkündet worden. Jetzt,fünf Jahre später, wollen Sie die Dämpfung, die durchdie sogenannte Riester-Reform verursacht wurde, aus-setzen. Inzwischen haben Sie einen neuen Kürzungsfak-tor eingeführt, den Nachhaltigkeitsfaktor. Fünf Jahrenach Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors wollen Sieden Riester-Faktor außer Kraft setzen. Bei diesem Gradan Verwirrung erscheint die Aufnahme der Demenzkran-ken in die Pflegeversicherung in einem ganz neuenLicht.
Die Aussetzung dieses Dämpfungsfaktors ist aber vielzu wenig. Wir wollen und beantragen, dass alle Dämp-fungsfaktoren in der Rente abgeschafft werden. Wir wol-len, dass die Renten wieder der Lohnentwicklung indiesem Land folgen, was Sie verhindert haben,
und wir wollen, dass die gesetzliche Rente wieder denLebensstandard sichert. Man hatte immer den Eindruck,dass die Riester-Rente die Kürzung der gesetzlichenRente ausgleichen soll. Dazu ein Zitat von Herrn Riesteraus dem Jahr 2007:Nein, bei mir ging es nie darum, Defizite der So-zialversicherungsrente auszugleichen. Ich habe dieSozialversicherungsrente nicht als eine Rente ange-sehen, die den Lebensstandard im Alter sichert, dahabe ich mich völlig unterschieden von NorbertBlüm.Inzwischen stehen wir Herrn Blüm näher als Sie.
Sie zweifeln an der Finanzierbarkeit unserer An-träge. Ich empfehle Ihnen, unsere Anträge bis zum Endezu lesen; dann wissen Sie nämlich auch, wo das Geldherkommen soll. Sie formulieren ein Dogma: Die Bei-träge für die gesetzliche Rentenversicherung sollen nichtsteigen. Sie behaupten, die Linke fordere einen Bei-tragssatz in Höhe von 28 Prozent, und tun so, als würdeder Beitragssatz im Jahr 2030 anders aussehen, wennman Ihrem Konzept folgen würde.
Dem wollen wir uns jetzt einmal mathematisch nä-hern, auch wenn ich weiß, dass es bei Ihnen mit der Ma-thematik schwierig ist; das sieht man ja an der Mehr-wertsteuer.
Wir wollen es trotzdem einmal versuchen: Sie prognosti-zieren für 2030 einen Rentenbeitrag in Höhe von22 Prozent. Paritätisch finanziert würde das bedeuten,dass der Arbeitnehmer 11 Prozent zahlt. Inzwischenweiß man aber, dass man von seiner Rente nicht wird le-ben können. Deshalb muss ein Arbeitnehmer, wenn erseinen Lebensstandard im Alter halten will, mit ungefähr6 Prozent seines Einkommens privat vorsorgen. SeinBeitrag ist also überhaupt nicht stabil. Sein Beitrag liegtbei 11 plus 6 gleich 17 Prozent.Wenn man den Beitragssatz, den die Arbeitgeber zah-len sollen – er beträgt 11 Prozentpunkte –, berücksich-tigt, kommt man zu dem Ergebnis: Nach Ihren Vorstel-lungen würde der Beitragssatz zur Rentenversicherungim Jahr 2030 bei 28 Prozent liegen. Außerdem wäre erdann nicht mehr paritätisch finanziert. Die Arbeitgebermüssten einen Beitragssatz von 11 Prozentpunkten unddie Arbeitnehmer einen Beitragssatz von 17 Prozent-punkten zahlen. Wir hingegen wollen, dass der Beitrags-satz zur Rentenversicherung, den die Arbeitnehmer zuzahlen haben, nicht in diesem Maße steigt. Außerdemwollen wir, dass er nach wie vor paritätisch finanziertwird.
Unser Vorschlag hätte zur Folge, dass der Beitragssatz,den die Arbeitnehmer zu zahlen hätten, um 3 Prozent-punkte geringer wäre, als er es nach Ihren Vorstellungenwäre. Das ist die Wahrheit.
Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich michnoch ein wenig mit der Riester-Rente beschäftigen.
Es gibt folgendes Problem: Sie subventionieren mit vie-len Milliarden Euro eine Reform, von der wir noch garnicht wissen, wie sie wirkt. Welche Wirkungen sie füreine Verkäuferin, die 1 000 Euro verdient, hat, das wis-sen wir allerdings.Wenn man die Situation zweier Verkäuferinnen, vondenen eine riestert und eine nicht riestert, vergleicht,kommt man zu folgendem Ergebnis: Sagen wir, beideFrauen beziehen, wenn sie entsprechend wenig verdie-nen, eine gesetzliche Rente von 400 Euro. Diejenige, diegeriestert hat, erhält 50 Euro mehr. Letztlich bekommenbeide Verkäuferinnen eine Grundsicherung in Höhe voncirca 650 Euro. Das bedeutet, dass die Frau, die geries-tert hat, von ihrer Riester-Rente überhaupt nichts hat.
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Klaus Ernst
Weil Sie die Riester-Rente, obwohl Sie das wissen, för-dern und den Leuten nicht sagen, dass sie davon nichtshaben, stellen wir fest: Das, was Sie hier betreiben, istorganisierter Anlagebetrug.
Millionen von Menschen werden zu den privaten Ver-sicherungskonzernen gedrängt, obwohl sie nicht wissen,was am Ende für sie herauskommt. Das Einzige, das wirschon heute wissen, ist, wer mit Sicherheit an derRiester-Rente verdient: die private Versicherungswirt-schaft.
Diese Branche macht aufgrund der Riester-Rente großeGewinne. Im Jahre 2001 befanden sich die Versiche-rungsunternehmen noch in einer Krise. Inzwischen wis-sen sie gar nicht mehr, wohin mit ihrem Geld.
Meine Damen und Herren, mit der Aussetzung desRiester-Faktors für die Dauer von zwei Jahren sind Sieinsofern auf dem richtigen Weg, als die Renten dadurchgeringfügig steigen werden, allerdings so geringfügig,dass die Rentner im Jahre 2008 wieder weniger Geld be-kommen werden als im Jahr zuvor.
Um das zu vermeiden, reicht es nicht aus, nur denRiester-Faktor auszusetzen.Sie wissen ganz genau, dass die Bürger in diesemLande das nicht länger hinnehmen. Die Aussetzung desRiester-Faktors für zwei Jahre ist nichts anderes als einwahltaktisches Manöver,
das Sie betreiben, weil Sie merken, dass Sie bei Wahleneins auf die Mütze kriegen. Das ist die Wahrheit.
Ich komme zum Schluss. Wir werden Sie in der Ren-tenpolitik weiter vor uns hertreiben. Ich garantiere Ih-nen: Sie werden noch vieles machen, was in unseremSinne ist, auch dann, wenn Sie es gar nicht wollen.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Manch einer wird verwundert gewesen sein, welch tollerRechenkünstler gerade geredet hat.
Das war sagenhaft verwirrend. Daher will ich Ihnen sa-gen, was die Forderung der Linken im Ergebnis bedeu-ten würde:
Das, was hier vorgetragen und beantragt wurde, hätte zurFolge,
dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung in einemSchritt auf 28 Prozentpunkte in die Höhe schnellenwürde.
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutsch-land würden dadurch 80 Milliarden Euro zusätzlich ab-geknöpft,
und zwar mit steigender Tendenz.
Das ist das Ergebnis dessen, was hier gerade vorgetragenworden ist.
Diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, diediesen sagenhaft hohen Beitragssatz zur Rentenversiche-rung – wie gesagt, mit steigender Tendenz – zahlenmüssten, könnten sich noch nicht einmal sicher sein,dass sie dafür im Alter eine Rente in entsprechenderHöhe bekommen.
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Peter Weiß
Im Gegenteil, ihr Rentenanspruch würde sogar sinken.Deswegen sage ich Ihnen: Der Rentenklau hat einen Na-men, und er sitzt in diesem Hause linksaußen.
Damit kein Rentenklau stattfindet, sondern auch inZukunft der Lebensstandard im Alter gesichert ist, habenwir das Alterssicherungssystem in Deutschland vor eini-gen Jahren auf ein Dreisäulensystem umgestellt:
gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvor-sorge und private, kapitalgedeckte Altersvorsorge.
Warum haben wir das gemacht? Wir stehen inDeutschland vor der riesigen Aufgabe, die demografi-sche Veränderung zu bewältigen. Die sogenannten ge-burtenstarken Jahrgänge – das sind die Leute, die heutezwischen 35 und 55 Jahre alt sind – wollen, wenn sie in10, 20, 30 Jahren in Rente gehen, eine anständige Rentebekommen.
Hinzu kommt, dass genau diese geburtenstarken Jahr-gänge bis zu fünf Jahre länger als die heutigen Rent-nerinnen und Rentner Rente beziehen werden, weil dieLebenserwartung – erfreulicherweise – deutlich steigt.Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Der ge-burtenstärkste Jahrgang ist der Jahrgang 1964. Die imJahr 1964 Geborenen werden 2029 65 Jahre alt sein.Dieser Jahrgang wird dann den Schätzungen nach1,334 Millionen Menschen umfassen. Die im Jahr 2004Geborenen, die dann 25 Jahre alt sein werden und diehoffentlich im Berufsleben stehen und Steuern und So-zialversicherungsbeiträge zahlen werden, werden nur775 000 Menschen umfassen. 1,334 Millionen zu775 000, dieser Vergleich zwischen nur zwei Geburts-jahrgängen zeigt überdeutlich, wie radikal sich die Al-tersstruktur unseres Landes verändern wird. Daraufmuss man als Rentenpolitiker eine Antwort geben.
Die Antwort kann nur lauten: Unser Rentensystemmuss einen gerechten Ausgleich finden zwischen dem,was wir den Älteren, die in Rente gehen, zugestehenwollen, und dem, was die Jungen in die Rentenkasse ein-zahlen müssen. Das bedeutet in einem umlagefinanzier-ten Rentensystem, in dem die Jungen für die Alten zah-len, dass das Niveau der Rente sinken muss, damit derBeitrag nicht in exorbitante Höhen wie 28 Prozent oder,wie es Prognos für das Jahr 2030 vorausgesagt hat,36 Prozent oder gar 41 Prozent steigt. Das ist dasSchreckgespenst, vor dem die Menschen in Deutschlandstehen.
Herr Kollege Weiß, der Kollege Ernst würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Das darf er machen, und er darf mir auch seine neuen
Rechenbeispiele vortragen.
Danke, Herr Weiß. – Würden Sie mir zustimmen,
dass der Mensch, der im Jahre 2030 seinen Lebensstan-
dard mit gesetzlicher Rente und mit privater Vorsorge si-
chern will, auf einen Beitragssatz von insgesamt unge-
fähr 17 Prozent kommt?
Würden Sie mir zweitens zustimmen, dass das Pro-
blem der demografischen Entwicklung nicht nur die ge-
setzlich Versicherten, sondern auch die privat Versicher-
ten betrifft?
Würden Sie mir drittens zustimmen, dass es ange-
sichts dessen, dass das Institut für Makroökonomie und
Konjunkturforschung festgestellt hat, dass der Auf-
schwung nur bei den Unternehmen ankommt, sinnvoll
wäre, die Unternehmen wieder paritätisch zur Finanzie-
rung der Rente heranzuziehen?
Herr Kollege Ernst, wenn Sie sich einmal die Mühemachen, den letzten Altersvorsorgebericht der Bundes-regierung zu lesen,
werden Sie feststellen, dass die Experten sagen, dassderjenige, der das Dreisäulenmodell praktiziert, der ge-setzliche Rente mit betrieblicher Altersvorsorge und mitprivater, kapitalgedeckter Altersvorsorge, etwa einerRiester-Rente, kombiniert, davon ausgehen kann, dass erein Versorgungsniveau wie die heutigen Rentnerinnenund Rentner erreicht. Die Geringverdienenden werdendieses Versorgungsniveau eher erreichen und es sogarübertreffen können. Das sind Aussagen des Altersvor-sorgeberichts. Experten haben das durchgerechnet, nichtpolitische Schaumschläger wie Sie.
Es überfordert die Linke intellektuell, einzusehen– das ist der entscheidende Denkfehler –, dass die um-lagefinanzierte Rente, bei der die Jungen in die Renten-kasse einzahlen, damit die Alten die Rente bekommen,auf die sie in ihrem Erwerbsleben einen Anspruch er-worben haben, ein riesiges Demografieproblem hat,
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Peter Weiß
wenn viele Alte und wenige Junge da sind. Die kapital-gedeckte Altersvorsorge – die betriebliche Altersvor-sorge genauso wie der Riester-Sparvertrag – bedeutet,dass ich, dass Sie, dass jeder von uns für sich, auf seinemKonto, etwas für seine Altersvorsorge anspart und späternicht die Jungen, die arbeiten, belastet. Deswegen sinddie von uns vorgenommenen Umstellungen im Alters-vorsorgesystem in Deutschland die richtige Antwort aufdie demografischen Bedingungen. Ihr Vorhaben, alleLasten auf die junge Generation zu verschieben, ist einBetrug an dieser Generation.
Aber zurück zu meiner Rede:
Entscheidend ist, dass wir bei einer Umstellung unseresAltersvorsorgesystems die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen mitkonkreter staatlicher Hilfe helfen, damit private kapital-gedeckte Altersvorsorge für sie kein Fremdwort ist, son-dern dass sie diese Chance nutzen können.
Dabei ist die Große Koalition, wie ich finde, einen sehrkonsequenten Weg gegangen.Erstens hat die Große Koalition die Entgeltumwand-lung zur Altersvorsorge dauerhaft steuer- und sozial-abgabenfrei gestellt. Davon profitiert der weitere not-wendige Aufbau der betrieblichen Altersvorsorge. Schonheute haben 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer in Deutschland einen Betriebsrentenan-spruch. Wir tragen mit dieser Entscheidung konkret dazubei, dass sich der Anteil weiter erhöht und diese Säuleder Altersvorsorge entsprechend stabilisiert wird.
Zweitens hat diese Große Koalition die private kapi-talgedeckte Altersvorsorge noch attraktiver gemacht.Gegenwärtig haben bereits 11 Millionen Menschen ei-nen Riester-Sparvertrag und es werden täglich mehr.Denn seit diesem Jahr steigt beim Riester-Sparvertragder staatliche Förderbetrag pro Kind auf 300 Euro jähr-lich.Als Neuerung planen wir, dass auch der Erwerb vonWohneigentum zur Altersvorsorge gefördert wird, dassjunge Leute eine Einstiegsprämie von 100 Euro erhaltenund dass Erwerbsgeminderte ebenfalls die staatlicheFörderung für private Altersvorsorge erhalten können.Herr Ernst hat auf die Parität der bisherigen jeweilshälftigen Finanzierung der Rentenversicherungsbeiträgedurch Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingewiesen. Demhalte ich entgegen: Wenn wir für Niedrigverdiener beider Riester-Rente eine staatliche Förderquote von bis zu90 Prozent ermöglichen, dann ist das überparitätisch undkommt gerade denjenigen zugute, die es am nötigstenbrauchen. Riester lohnt sich auch und erst recht für den,der wenig verdient.
Gleichzeitig stärken wir auch die gesetzliche Rente;denn sie wird auch in Zukunft die wichtigste Säule derAltersvorsorge bleiben. Die Rentnerinnen und Rentnerfordern von uns zu Recht die Chance, auch am wirt-schaftlichen Aufschwung teilzuhaben, zumal zusätzlicheBelastungen auf sie zukommen wie die soeben beschlos-sene Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrages um0,25 Prozentpunkte ab 1. Juli bei einer entsprechendenAusweitung der Versicherungsleistungen.Deshalb will die Große Koalition zusätzliche Leistun-gen für die Renterinnen und Rentner einführen. Wir wol-len, dass die Rentnerinnen und Rentner am 1. Juli diesesJahres eine angemessen Rentenerhöhung erhalten, damitauch sie am wirtschaftlichen Aufschwung in unseremLand partizipieren können.
Es ist interessant, dass ausgerechnet die Linke – wieHerr Ernst in seiner Rede – dies wieder verteufelt. Ichbin der Überzeugung, dass eine angemessene Renten-erhöhung zum 1. Juli 2008, die die Große Koalition jetztauf den Weg bringt, damit die Rentnerinnen und Rentneram wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren können,eine gute und richtige Entscheidung ist. Es ist ein positi-ves Signal für die Rentnerinnen und Rentner in unseremLand.
Herr Kollege Weiß, der Kollege Dehm möchte auch
eine Zwischenfrage stellen.
Auch der Herr Kollege Dehm möchte später eine
Rente bekommen.
Herr Kollege, können Sie erklären, warum Herr
Dr. Norbert Blüm in der Riester-Rente einen völligen
Bruch mit dem Solidarprinzip sieht, oder gehört er auch
zu denjenigen, die nur verteufeln?
Ich kann Ihnen die Frage beantworten. Zuerst einmalgebührt Norbert Blüm Anerkennung dafür, dass er 1992die größte Rentenreform, die es in Deutschland gegebenhat, was das finanzielle Ausmaß anbelangt, durchgeführthat. Er hat Maßnahmen eingeleitet, die dazu geführt ha-ben, dass der Rentenversicherungsbeitrag – entgegen
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Peter Weiß
dem, was die Linken wollen – nicht in astronomischeHöhen steigt,
sondern dass der Anstieg gedämpft wird. Norbert Blümhat 1987 bei Prognos in Basel eine Studie in Auftrag ge-geben, die untersuchen sollte, was mit der gesetzlichenRente passiert, wenn man alles, was damals gegoltenhat, weiterlaufen lässt. Prognos hat ihm damals folgendeZahlen präsentiert: Wenn wir nichts tun
– darauf antworte ich gerade –, dann steigt der Renten-versicherungsbeitrag bis zum Jahr 2030 auf mindestens36 Prozent, wahrscheinlich sogar auf 41 Prozent. AlsKonsequenz wurde in diesem Haus 1992 die vonNorbert Blüm initiierte Rentenreform beschlossen, diedieses für die jungen Menschen, die arbeiten gehen undGeld verdienen, schreckliche Szenario verhindert hat.Norbert Blüm gebührt Dank dafür, dass er die bislangkonsequenteste Rentenreform in Deutschland durchge-führt hat.Zu Recht hat Norbert Blüm aber auch die Sorge, dassMenschen, die wenig verdient haben und lange Ausfall-zeiten haben, bei sinkendem Rentenniveau eine Renteerhalten, die zum Leben nicht mehr reicht. Hier gebe ichihm Recht. Wir werden sicherlich auch eine Form derAbsicherung nach unten für künftige Generationen inunserem Rentensystem benötigen. Ein sinkendes Ren-tenniveau darf nicht zur Folge haben, dass Menschen inAltersarmut geraten.
Herr Kollege Weiß, der Kollege Spieth würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Frau Präsidentin, ich beantworte gerne alle Fragen.
Aber vielleicht sollten wir den Kollegen von der Links-
fraktion ein Rentenseminar anbieten.
Es ist Ihnen unbenommen, ihnen das anzubieten.
Bitte schön, Herr Spieth.
Da ich in der Selbstverwaltung der gesetzlichen Ren-
tenversicherung tätig war und Seminare im Rentenversi-
cherungsrecht gemacht habe, könnten wir uns dann in-
tensiv austauschen. – Herr Kollege Weiß, in der Tat
wurde eine Rentenreform auf der Grundlage einer Pro-
gnos-Studie aus dem Jahre 1987 durchgeführt, und zwar
am 9. November 1989, also an dem Tag, an dem die
Mauer gefallen ist. Deshalb ist das leider weitgehend aus
dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Tatsache
ist, dass damals gesagt wurde: Machten wir den Umbau
von der bruttobezogenen Rente hin zur nettobezogenen
Rente einschließlich weiterer Rentenkürzungen nicht,
kämen wir auf die Beitragssätze, die Sie vorhin beschrie-
ben haben, nämlich auf bis zu 36 Prozent. Aber Sie ha-
ben peinlichst verschwiegen, dass man damals bereit
war – das wurde vom gesamten Haus festgelegt –, eine
lebensstandardsichernde, nettobezogene Rente mit ei-
nem Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 28 Pro-
zent zu finanzieren. Ist das zutreffend oder nicht?
Herr Kollege Spieth, ich wiederhole, was ich vorhinvorgetragen habe: Das Hauptproblem bei einem Renten-versicherungsbeitrag in Höhe von 28 Prozent und mehrwäre, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,die einen solch astronomisch hohen Rentenversiche-rungsbeitrag zahlen müssten, angesichts der demografi-schen Entwicklung für ihren späteren Ruhestand keinÄquivalent, also eine diesem Beitrag entsprechendeRente, zugesagt werden kann. Deswegen war und bleibtes richtig, dass wir unser Rentensystem zu einem Dreisäu-lensystem umbauen, das die Umlagefinanzierung – dieJungen zahlen für die Alten – mit der kapitalgedecktenAltersvorsorge – die Jungen sparen für ihr Alter an –kombiniert. Das ist und bleibt die einzig richtige Ant-wort, auch wenn die Linke das nicht mag.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um es zu-sammenzufassen: Was hier von links beantragt wird, istnichts anderes als eine Rolle rückwärts in der Rentenpo-litik.
Diese Rolle rückwärts bewirkt Folgendes: Erstens. Siezerstört die Solidarität der Generationen. Was die Linkenwollen, ist Kampf der Generationen gegeneinander undnicht solidarischer Ausgleich.
Zweitens. Was hier beantragt wird, schafft nicht sozialeGerechtigkeit, sondern zerstört sie.Das Drei-Säulen-Modell der Altersvorsorge schafftGerechtigkeit unter den Generationen; die Rolle rück-wärts ist die Abschaffung dieser Gerechtigkeit. EineRolle rückwärts in der Rentenpolitik würde schlichtwegeinen Betrug an der jungen Generation bedeuten, abernicht nur an ihr, sondern letztlich auch an der älteren.Deswegen sage ich: Das Drei-Säulen-System der Alters-vorsorge ist alternativlos, wenn wir der doppelten demo-grafischen Herausforderung begegnen wollen, die aufuns zukommt und die die Linken gerne leugnen, so wie
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Peter Weiß
sie vieles gerne leugnen und den Leuten nicht die Wahr-heit sagen.
– So ist es.Das Dreisäulensystem ist die einzig richtige Antwortauf die demografische Herausforderung, die vor unssteht. Mit dem, was wir mit zusätzlicher staatlicher Hilfefür die private kapitalgedeckte Altersvorsorge auf denWeg gebracht haben und weiter auf den Weg bringen,also mit der Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge,verhindern wir Altersarmut, mit dem schaffen wir Si-cherheit im Alter, auch für die Zukunft.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich halte es für bemerkenswert, was heute Morgen hier
passiert. Am Ende dieser Sitzung wird sich der Deutsche
Bundestag in die Osterpause verabschieden. Die Ticker-
meldungen überschlagen sich, die Bundesregierung
wolle an der Rentenformel Veränderungen vornehmen.
Aber hier wird bislang diese Tatsache mit keinem Wort
angesprochen.
Ich halte es auch für ein Unding, dass der zuständige
Minister, der für heute Mittag um 14.30 Uhr zu diesem
Thema eine Pressekonferenz angesetzt hat, nicht die Ge-
legenheit nutzt, heute Morgen hier im Deutschen Bun-
destag seine Pläne vorzustellen und uns zu informieren.
So geht das nicht.
Das muss man hier wirklich sehr deutlich sagen.
– Wenn der Kolb recht hat, hat er recht; das ist zweifel-
los der Fall. Und hier hat er recht.
Ich will es unmissverständlich sagen: Auch für uns ist
nicht akzeptabel, dass die Rentner in diesem Lande in ih-
rer Einkommensentwicklung dauerhaft hinter der Kauf-
preisentwicklung zurückbleiben, also real an Kaufkraft
verlieren. Das ist nicht akzeptabel.
Aber Kaufkraftverlust hat zwei Seiten. Eine ist die in
den letzten Jahren sicherlich in sehr geringem Maße vor-
genommene Rentenanpassung, wenn es überhaupt eine
gab. Auf der anderen Seite geht es aber auch um eine
deutliche Kostensteigerung. Hierzu muss ich feststellen:
Die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande büßen
für eine falsche Politik der Bundesregierung.
Die Bundesregierung hat die auch von den Rentnern
zu zahlende Mehrwertsteuer drastisch erhöht und damit
die Inflation hochgetrieben. Die Krankenkassenbeiträge
steigen; die Pflegeversicherungsbeiträge werden zum
1. Juli dieses Jahres angehoben. Von der Senkung des
Arbeitslosenversicherungsbeitrages profitieren die Rent-
ner nicht. Die Energiekosten galoppieren davon und be-
lasten auch die Rentnerhaushalte. Das ist nicht akzepta-
bel, und diese Entwicklung hat die Bundesregierung zu
verantworten.
Angesichts dessen stellen Sie sich hier hin, Herr
Weiß, und sagen: Wir wollen, dass sie jetzt eine ange-
messene Erhöhung bekommen. – Ich zitiere Ihren Frak-
tionsvorsitzenden Kauder: Eine Rentenerhöhung von
0,4 Prozent wäre für viele äußerst unbefriedigend, weil
damit nicht einmal die Inflation ausgeglichen würde. –
Wissen Sie denn, Herrn Weiß, wie hoch die Inflations-
rate, prognostiziert durch die Bundesregierung im Ja-
nuar, in diesem Jahr sein wird? 2,3 Prozent. Und jetzt
kommt vielleicht eine Rentenanpassung von 1 Prozent
heraus. Ist das angemessen, Herr Weiß, was Sie hier vor-
haben? Das ist es doch keinesfalls.
– Ich lasse die Zwischenfrage des Kollegen natürlich zu.
Herr Kolb, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie diese
Zwischenfrage zulassen.
Ich freue mich darauf.
Da Sie, Herr Kollege Dr. Kolb, als ehemaliger Staats-sekretär die Rentenformel exakt kennen und wissen,dass es in der Rentenanpassung keinen Inflationsaus-gleich gibt, so wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer keinen Anspruch auf Inflationsausgleich haben,sondern in Tarifverhandlungen ihre Gehaltserhöhungenerkämpfen müssen, frage ich Sie erstens: Ist die FDPwillens und bereit – und mit welcher Rentenformel undwie finanziert? –, den Rentnerinnen und Rentnern zum1. Juli 2008 einen vollen Inflationsausgleich zu geben?Zweitens: Warum machen Sie bei unserem Vorhaben,wenigstens eine einigermaßen angemessene Rentenerhö-hung zum 1. Juli 2008 zu ermöglichen, nicht mit? Wa-
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Peter Weiß
rum schließen Sie sich der Großen Koalition in dieserFrage nicht an?
Erstens, Herr Kollege Weiß, das Muster, das Olaf
Scholz offensichtlich jetzt zur Blaupause erhoben hat,
geht nicht. Man kann nicht den Leuten ein Kotelett zu-
rückgeben, nachdem man ihnen vorher die Sau vom Hof
geholt hat, und dann noch Dankbarkeit erwarten. Das
geht jedenfalls nicht.
Zweitens – ich komme auf Ihre Frage, Herr Kollege
Weiß –: Das Herumbasteln an der Rentenformel verbie-
tet sich aus unserer Sicht. Es ist nicht der richtige Weg,
weil es das Vertrauen der Menschen in eine langfristig
angelegte und verlässliche Rentenpolitik zerstört. Das
geht also auch nicht.
Wenn es – so verstehe ich das befristete Aussetzen
des Riester-Faktors – darum gehen soll, die Menschen in
diesem Lande befristet zu entlasten – Menschen heißt
hier ganz konkret: die Rentnerinnen und Rentner –, dann
sollten Sie darüber nachdenken, wie man die Rentnerin-
nen und Rentner in diesem Lande von Energie- und Ver-
brauchssteuern entlasten kann. Denn genau das sind
Dinge, die die Menschen besonders treffen.
Hier könnten Sie nicht nur ein bisschen heilen, son-
dern auch bewirken, dass die Menschen das Gefühl ha-
ben: Es wird zwar alles teurer, aber die Bundesregierung
hat uns punktuell an dieser Stelle so gestellt, dass wir da-
von nicht betroffen sind. – Das wäre faire Politik gegen-
über den Rentnerinnen und Rentnern.
– Nein, Herr Kollege Weiß, das, was Sie hier machen, ist
nicht ehrlich.
– Ich habe es Ihnen doch gesagt:
Wir wollen eine gezielte Entlastung der Rentnerinnen
und Rentner bei den Energie- und Verbrauchssteuern,
weil das wirklich bei denen ankommen würde, denen ge-
holfen werden soll.
Wir wollen kein Herumbasteln an der Rentenformel. Das
ist wirklich ein Ding.
Sie selbst, Herr Weiß, haben in der Vergangenheit
eine Rente nach Kassenlage immer ausgeschlossen.
Aber was wir jetzt erleben, ist eine Rente nach Umfra-
genlage.
Offensichtlich hat der Bundesarbeitsminister angesichts
der abstürzenden Umfragewerte der SPD, Frau Kollegin
Nahles, kalte Füße bekommen,
mit einer Rentenerhöhung von 0,5 Prozent vor die Men-
schen zu treten. Das ist doch der wahre Hintergrund. Das
geht so nicht; das muss man wirklich sagen. Sie haben
den Überblick verloren.
Im letzten Jahr, Herr Kollege Weiß, haben Sie die
Rentenbeiträge erhöht, obwohl es vermeidbar gewesen
wäre.
Sie haben zugunsten des Bundeshaushaltes die Beiträge
der Empfängerinnen und Empfänger von ALG II künst-
lich um 2 Milliarden Euro reduziert. Wir hatten im Jahr
2007 einen Überschuss in Höhe von 1,2 Milliarden
Euro. Das heißt unter dem Strich: Wir hätten diese Ren-
tenerhöhung von 19,5 auf 19,9 Prozent nicht gebraucht.
In der Rentenformel wirkt diese Erhöhung so, dass die
Rentenanpassung reduziert wird. Deswegen wiederhole
ich: Sie haben den Überblick verloren. Sie wissen nicht
mehr, wie dieses komplizierte Räderwerk der Rentenfor-
mel ineinandergreift und wollen jetzt den Riester-Faktor
für zwei Jahre aussetzen.
Ich sage noch einmal: Das ist Politik nach Umfrage-
werten. Mit einer seriösen und verlässlichen Rentenpoli-
tik hat das nichts zu tun.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Gregor Amann, SPD.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die beiden vorliegenden Anträge der Linken
und den Redebeitrag von Kollegen Ernst kann man kurz
mit einem Satz zusammenfassen: Riester-Rente taugt
nichts – abschaffen!
Jetzt habe ich aber vor wenigen Tagen in Spiegel-Online
gelesen, dass die Kollegin Kipping von den Linken ein
Thesenpapier zur Rentenpolitik ihrer Partei verfasst hat.
In diesem Thesenpapier steht – so Spiegel-Online –:
Kürzlich beschloss der Parteivorstand, das Thema
Rente zu einem der zentralen Kampagnenschwer-
punkte zu machen.
Das findet auch die Kollegin Kipping richtig. Aber, so
schreibt sie in diesem Papier laut Spiegel-Online:
Dass dem Beschluss zur Rentenkampagne jedoch
kein Beschluss über ein Rentenkonzept der Partei
vorangegangen ist, ist mehr als nur ein Schönheits-
fehler.
Auf der einen Seite sagen Sie, Sie wollten die Riester-
Rente abschaffen, auf der anderen Seite sagt die stellver-
tretende Bundesvorsitzende Ihrer Partei, ihre Partei ver-
füge überhaupt nicht über ein Rentenkonzept. Das
kommt mir so vor, als wenn ich zum Arzt gehe und sage:
„Herr Doktor, ich habe Brustschmerzen“ und der Arzt
sagt: Ich habe zwar keine Ahnung, woher die Schmerzen
kommen, aber wir amputieren auf jeden Fall mal den
rechten Arm.
Im Gegensatz zu den Linken hat die SPD ein Renten-
konzept. Walter Riester war nicht der einzige sozialde-
mokratische Arbeitsminister, der sich um die Sicherung
der Altersvorsorge verdient gemacht hat. Die Überwin-
dung der Altersarmut gehört zu den großen Errungen-
schaften unseres Sozialstaats. Ältere haben in Deutsch-
land heute ein viel niedrigeres Armutsrisiko als die
meisten anderen gesellschaftlichen Gruppen. Natürlich
gibt es auch in Deutschland ältere Menschen, die in Ar-
mut leben, aber die Quote der Senioren, die auf Grundsi-
cherung im Alter angewiesen sind – die Grundsicherung
ist übrigens 2003 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder
eingeführt worden; darauf bin ich stolz –, beträgt heute
weniger als 3 Prozent. Noch in den 50er-Jahren, also vor
Einführung der dynamischen Rente, war das Armutsri-
siko der Älteren mehr als doppelt so hoch wie das der
Gesamtbevölkerung.
Natürlich müssen wir darüber nachdenken, Herr Spieth,
wie wir diesen Erfolg sichern können und auch zukünf-
tig Altersarmut verhindern.
Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf eine Studie der
OECD und stellen deren Aussagen auf den Kopf. Ja, das
Rentenniveau wird in den nächsten Jahren absinken, aber
die OECD-Studie wies gleichzeitig auch auf – Zitat –
„große Fortschritte“ bei der deutschen Rentenpolitik hin
und lobte dabei ausdrücklich die Anhebung des Ren-
tenalters auf 67 Jahre; denn die Erhöhung des Renten-
einstiegsalters verringere den Druck, das Rentenniveau
abzusenken. Die Studie sagt darüber hinaus, dass die
Kombination von gesetzlicher Rentenversicherung, Be-
triebsrente und privater Vorsorge sehr wohl dazu geeig-
net ist, Altersarmut zu verhindern.
Wenn das Rentenniveau für kommende Generationen
absinkt, dann ist die wahre Ursache dafür die dramati-
sche demografische Entwicklung in unserem Land,
welche unser Umlageverfahren an seine Grenzen führt;
denn das Zahlenverhältnis zwischen Rentenempfängern
und Beitragszahlern verschlechtert sich kontinuierlich.
Genau hier greift der von Ihnen kritisierte Nachhaltig-
keitsfaktor. Er koppelt nämlich den Rentenanstieg an das
Zahlenverhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsbezie-
hern, und das ist auch sinnvoll; denn Einnahmen und
Ausgaben stehen nun einmal in diesem System in einem
klaren Zusammenhang.
Herr Kollege, Herr Kollege Schneider möchte gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Amann, Sie haben eben die OECD-Stu-
die angesprochen. Nun enthält die OECD-Studie eine
Reihe von Daten und unter anderem die Aussage – das
haben Sie eingeräumt –, dass das Rentenniveau sinkt,
und zwar so stark, dass wir in der Kategorie der Gering-
verdiener auf dem letzten Platz und in den anderen Kate-
gorien immer jeweils im letzten Drittel liegen. Das sind
die Fakten, die in diesem Bericht stehen. Wenn nun die-
ser Bericht angesichts dieser Fakten zu dem Ergebnis
kommt, dass die Bundesrepublik Deutschland Fort-
schritte macht, können Sie dann verstehen, dass wir als
Linke diese Wertung nicht als durch diese Fakten unter-
mauert ansehen? Sie reden hier über eine Wertung der
OECD. Wes Geistes Kind die OECD ist, will ich nicht
weiter ausführen.
Kollege Schneider, Sie haben die OECD-Studie sehrselektiv gelesen. Es ist in der Tat richtig, dass dieOECD-Studie auf Risiken gerade bei Geringverdienern
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Gregor Amannhinweist. Das ist vollkommen richtig und auch notwen-dig, aber sie sagt eben auch – das habe ich ausgeführt –,dass die Bundesregierung auf einem guten Weg ist unddass das Dreisäulenmodell sehr wohl dazu geeignet ist,Altersarmut zu verhindern.
Da ich gerade beim Nachhaltigkeitsfaktor war: Da imvergangenen Jahr aufgrund des Aufschwungs die Zahlder Beitragszahler durch den Rückgang der Arbeitslosig-keit stärker als die Zahl der Rentner angestiegen ist, hatder Nachhaltigkeitsfaktor dazu geführt, dass die Renten-steigerung im vergangenen Jahr sogar größer war, als sieohne den Nachhaltigkeitsfaktor gewesen wäre,
auch wenn sie – das gebe ich zu – nur 0,54 Prozent be-tragen hat. Der Nachhaltigkeitsfaktor wirkt also in beideRichtungen.Aber da wir gerade bei diesem Thema sind: Wenn dieRentensteigerung in diesem Jahr sich in dem bescheide-nen Rahmen bewegt, den manche Zeitungen jetzt schonzu kennen glauben, ohne dass die Zahlen überhaupt aufdem Tisch liegen, dann halte ich es für richtig, dass dieSPD-Fraktion dafür eintritt, den Riester-Faktor jetzt fürzwei Jahre auszusetzen.
Ich höre von beiden Oppositionsparteien, von der aufder einen wie von der auf der anderen Seite: Erstensmüssen wir die Renten stärker anheben, und zweitenswäre es eine Sauerei, den Riester-Faktor auszusetzen. –Ich verstehe das nicht. Wollen Sie das eine, oder wollenSie das andere? Das zeigt: Sie sind in dieser Frage ratlos.
Die Linken haben in ihrem Antrag eine scheinbar ein-fache Lösung: den Rentenbeitrag anheben. Schon amMittwoch hat der Kollege Schneider, als wir im Aus-schuss für Arbeit und Soziales über die Pflegeversiche-rung diskutiert haben, den Beitrag zur Pflegeversiche-rung anheben wollen. Ich glaube, Sie sagten in etwa: Wirhaben nicht den gleichen Horror wie Sie vor der Steige-rung des Beitragssatzes.
Ich sage Ihnen: Eine Anhebung der Lohnnebenkostenbei allen Sozialversicherungen, wie Sie sie wollen, ver-nichtet nicht nur Arbeitsplätze und zwingt dadurch Men-schen in Armut, sondern ist auch arbeitnehmerfeindlich;denn Sie nehmen den Menschen damit immer größereTeile ihres Einkommens weg.
Herr Kollege Amann, der Kollege Rohde möchte
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte, Herr Kollege Rohde.
Vielen Dank, Herr Kollege Amann.
– Ja, ich weiß, ich stehe noch auf der Rednerliste.
Aber Sie haben leider nicht auf den Kollegen Kolb
geantwortet, sondern festgestellt, dass die FDP die Ren-
tenerhöhung nicht mitträgt. Haben Sie versäumt, zur
Kenntnis zu nehmen, dass der Kollege Kolb vorgeschla-
gen hat, die Rentner an anderen Stellen zu entlasten? Wir
wollen nicht eine Rentenformel nach SPD-Umfragewer-
ten, sondern eine konsequente Rentenpolitik und eine
Entlastung der Rentner an anderer Stelle, zum Beispiel
bei den Energiekosten.
Bei der Mehrwertsteuererhöhung sind die Rentner belas-
tet worden. Es ist also nicht so, dass wir keine Vor-
schläge hätten, wie Sie es gerade in den Raum gestellt
haben, sondern so, dass wir andere Vorstellungen haben,
Herr Kollege Amann.
Herr Kollege Rohde, ich muss Ihnen ganz ehrlich sa-gen: Ich habe beim Kollegen Kolb kein funktionierendesKonzept heraushören können.
Sie haben nachher die Gelegenheit, das in Ihrem Rede-beitrag noch einmal zu erläutern.Die Hauptursache niedriger Renten sind niedrige Ein-kommen aufgrund von Niedriglöhnen und Langzeit-arbeitslosigkeit. Was können wir dagegen tun?Zum einen ist aus dieser Logik heraus natürlich eineerfolgreiche Wirtschaftspolitik immer auch die besteRentenpolitik. Ich will darauf nicht näher eingehen, kannIhnen aber versichern: Die Regierung ist sehr erfolgreichbei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Noch nie inder Geschichte der Bundesrepublik ist die Arbeitslosig-keit in einem einzelnen Jahr so stark zurückgegangenwie im vergangenen Jahr.
Die Grundlagen dafür wurden übrigens durch dieAgenda 2010 gelegt, die Bundeskanzler Gerhard
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Gregor AmannSchröder in seiner historischen Rede an genau dieserStelle heute vor fünf Jahren eingeleitet hat.Zum anderen brauchen wir dringend Mindestlöhnein Deutschland. Wenn wir die Löhne aller, die heute un-ter 7,50 Euro pro Stunde verdienen, auf mindestens7,50 Euro anheben würden, könnten wir allein durchdiese Maßnahme die Renten in Deutschland um mehr als1 Prozent steigern.
Ferner müssen wir eine Lösung dafür finden, wie wirauch Menschen mit Brüchen in der Erwerbsbiografie imAlter absichern. Sinnvoll erscheint mir dabei, unter an-derem auch darüber nachzudenken, ob und wie wirSelbstständige mit geringem Einkommen in die gesetzli-che Rentenversicherung einbeziehen können. Wenn mansich die Statistiken anschaut, wer aus welchem GrundGrundsicherung im Alter bezieht, dann stellt man fest,dass der Grundsicherungsbedarf überwiegend nichtdurch zu niedrige Renten aus der gesetzlichen Renten-versicherung entsteht, sondern bei Menschen, die über-haupt keine Ansprüche an die gesetzliche Rentenversi-cherung haben, die nie in den Sicherungsbereich dergesetzlichen Rentenversicherung einbezogen waren. Da-für müssen wir eine Lösung finden.Ich glaube, dass hier das Konzept einer Erwerbstäti-genversicherung zielführend ist. Aufgrund der starkenZunahme von selbstständiger Erwerbstätigkeit, insbe-sondere von Solo-Selbstständigen – also von solchenSelbstständigen, die gar keine Angestellten haben –, dienicht in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichertsind, aufgrund ihres geringen Einkommens aber auch ankeinem anderen Alterssicherungssystem teilnehmen,und weil es immer häufiger zu Übergängen von selbst-ständiger Erwerbstätigkeit zu abhängiger Beschäftigungkommt, scheint es mir sehr sinnvoll, diese in die gesetz-liche Rentenversicherung einzubeziehen. Übrigens sindwir in Europa die letzten, bei denen die Selbstständigennoch nicht in das gesetzliche Rentensystem einbezogensind.Für eine Erwerbstätigenversicherung gibt es abernoch keinen fertigen Plan, der einfach nur umgesetzt zuwerden braucht. Geklärt werden müssen noch viele De-tailregelungen, Übergangsregelungen, die genauen Grund-lagen der Beitragsbemessung, gerade auch bei starkschwankenden Einkommen, die Einkommenserfassungusw. Das sind einige der Dinge, über die wir noch nach-denken müssen.Wir Sozialdemokraten sind bereit, an dieser Stelle indie Zukunft zu blicken, um auch weiterhin Altersarmutzu vermeiden. Die Linken dagegen wollen in ihren An-trägen einfach nur zurück in die Vergangenheit, die an-geblich so viel besser war. In der Tat – ich komme aufden Anfang meiner Rede zurück –: Sie haben kein Ren-tenkonzept. Deshalb werden wir die beiden vorliegendenAnträge ablehnen.
Ich gebe das Wort der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem Antrag „Wiedereinführung der Lebensstan-dardsicherung in der gesetzlichen Rente“ stellt die Linkeden Kern ihres rentenpolitischen Programms vor.So viel Nostalgie war noch nie. Getreu dem Motto„Früher war alles besser“ schlägt die Linke eine Rück-kehr zur Rentenformel von Norbert Blüm vor.
– Ja. – Norbert Blüm brauchte bekanntlich nur auf dieLeiter zu klettern und zu plakatieren: Die Rente ist si-cher.
Schon glaubten es alle. Dieses Desaster haben wir heuteauszubaden.
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, stre-ben zurück zu einem Nettorentenniveau von 70 Prozentdes Erwerbseinkommens. Aber was heißt das?
– Das Rentenseminar ist abgeschlossen. – Sie schlageneinen Beitragssatz von 28 Prozent vor. Das heißt – dasmöchte ich Ihnen einmal ins Stammbuch schreiben –:Ein Durchschnittsverdiener oder eine Durchschnittsver-dienerin hätte jährlich 1 700 Euro mehr an Beiträgen zuzahlen.
Da frage ich Sie von der Linken: Woher sollen die Be-schäftigten dieses Geld nehmen?
Dazu schweigen Sie, und das ist das Schlimme.Nach Ihrem Konzept müsste der Rentenbeitragssatzbis zum Jahr 2030 sogar auf 40 Prozent anwachsen. EineBeschäftigte, die heute 28 Jahre alt ist und dann 50 Jahrealt sein wird, bezahlt den doppelten Rentenversiche-rungsbeitrag.
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, negie-ren auch noch den Rückgang der Zahl der Erwerbstäti-gen um circa 8 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030.Sie verschweigen die Belastungen, die Sie den jüngerenBeitragszahlern aufbürden wollen.
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Irmingard Schewe-Gerigk
Die jüngere Generation, die mittelständischen Betriebe,die heute die Arbeitsplätze schaffen, würden die Haupt-last Ihrer Vorschläge tragen.
Frau Kollegin, der Kollege Ernst hätte eine Zwischen-frage.
Der Kollege Ernst hat schon bei allen anderen nach-gefragt.
Wenn man sich intensiv mit der Rentenpolitik auseinan-dersetzt, dann kann man das im Ausschuss klären undsollte nicht immer wieder die gleichen Fragen stellen.
Zusammen mit Ihren Vorschlägen zu den anderen So-zialversicherungszweigen erreichen Sie spielend einAbgabenniveau von 60 Prozent: 40 Prozent Rentenversi-cherung, 16 Prozent Krankenversicherung, 4 Prozent Pfle-geversicherung. Als Kronzeugin für diese unsäglichePolitik, Herr Schneider, bemühen Sie die OECD-Studie.Diese Studie hat zu Recht auf die fehlende Armutssiche-rung im deutschen Rentenrecht aufmerksam gemachtund Korrekturen angemahnt. Sie, meine Damen undHerren von der Linken, erwähnen aber nicht – das findeich unseriös – die übrigen Aussagen der OECD-Studie.Deshalb zitiere ich sie jetzt:Deutschland hat mit den Reformen der vergange-nen Jahre die finanzielle Nachhaltigkeit des Sys-tems deutlich erhöht.
Die OECD hat mit der gesetzlichen Rente gerechnet,hat aber auch gesagt: Wenn die private und die betriebli-che Rente hinzukommen, dann ist das Niveau erreicht. –Auch das verschweigen Sie wieder.
– Ich habe alles gelesen. – Sie wollen das Rad zurück-drehen. Um dieses Ziel zu erreichen, greifen Sie auf alleszurück, was Ihnen zu passen scheint.Zu einer zweiten Sache. Hinsichtlich der Überprüfungder Riester-Förderung beziehen Sie sich in Ihrem Antragmehrfach auf die Studie von Corneo und anderen. In die-ser Studie wurde lediglich das Sparverhalten von Ge-ringverdienern für die Jahre 2000 bis 2004 untersucht.Die Studie kommt zu dem einfachen Ergebnis, dass Ge-ringverdiener im Jahr 2004 nicht mehr sparen konntenals im Jahr 2000. Das ist ein ganz erstaunliches Ergeb-nis. Wie sollten sie denn auch? Sie haben keine Lohnzu-wächse gehabt. Wie sollten sie da mehr sparen? Die Stu-die hat auch nicht die Zulagen der Riester-Förderungberücksichtigt, obwohl sich die Vermögensbildungdurch die Zulagen mehr als verdoppelt. Diese Studie, dieSie hier zitieren, ist wirklich vom Feinsten. Außerdemwird nicht zwischen allgemeiner Vermögensbildung undAltersvorsorge unterschieden. Das erklärte Ziel derRiester-Förderung war doch die gezielte Altersvorsorgeund nicht das allgemeine Sparen. Gerade dadurch solltedie Lücke geschlossen werden. Dazu sagen Sie heutenichts.
So, wie Sie nun einmal sind, leiten Sie trotz der gra-vierenden Mängel dieser Studie daraus die voreiligeSchlussfolgerung ab, die Riester-Förderung sei ineffi-zient und würde im Wesentlichen Mitnahmeeffekte er-zeugen.Ihre Forderung, eine Evaluation der Riester-Förde-rung vorzunehmen, unterstützen wir. Das finden wirsinnvoll und notwendig. Aber Ihr Antrag wirkt dochnicht glaubwürdig, wenn Sie sich schon darauf festge-legt haben, dass die Riester-Rente zurückgenommenwerden müsse.
Wir Grünen stehen zu den Strukturreformen, die – imUnterschied zu der Lage in vielen anderen Staaten – dieNachhaltigkeit des Rentensystems wesentlich verbesserthaben. Auch wir unterstützen die neuen Vorschläge vonArbeitsminister Scholz zu einer höheren Steigerung derRenten für die nächsten beiden Jahre, denn in der Tat istes so, dass die Rentner und Rentnerinnen über die Ma-ßen unter den Preissteigerungen zu leiden haben. Dassdieser Vorschlag nun gerade im Vorwahljahr kommt, hältuns Grüne nicht von einer Zustimmung ab, denn er istrichtig.
Die Strukturprobleme der Rente werden dadurch abernicht gelöst.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen zu einerAbkehr von der Frühverrentungspolitik. Wir stehen zuden Verbesserungen der Anrechnung der Kindererzie-hungszeiten. Wir stehen auch zu einer ergänzendenRiester-Förderung, die gerade für die unteren Einkom-mensgruppen attraktiv ist. Ich finde, es ist antiquiert, zurRentenformel aus dem Jahr 1992 zurückkehren zu wol-len. Nein, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, dieLeute wollen nicht, dass ihnen Politik vorgegaukeltwird. Sie möchten, dass wir die Probleme ernst nehmenund entsprechende Lösungen vorschlagen. Hier sage ich:Erst existenzsichernde Löhne bieten die Voraussetzungfür eine auskömmliche Rente. Auch darum setzen wiruns für Mindestlöhne ein.
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Irmingard Schewe-GerigkWir brauchen aber auch Strukturveränderungen in derRentenpolitik. Hier nehmen wir die OECD-Studie auf.Wir möchten, dass geringverdienende Menschen eineHöherbewertung erfahren, damit es nicht dazu kommt,dass die Rente am Ende des Erwerbslebens nicht aus-reicht und dass eine Grundsicherung beantragt werdenmuss. Wir brauchen auch – Herr Kollege Amann, da un-terstütze ich Sie – eine obligatorische Alterssicherungfür Solo-Selbstständige, die keine andere Alterssiche-rung haben.Nun komme ich zur Linken. Wir brauchen eine An-gleichung der Rentenwerte in Ost und West. Das ist docheine Selbstverständlichkeit. Schließlich wollen wir dieeigenständige Alterssicherung von Frauen weiter aus-bauen. Damit erreichen wir, dass wir das System Schrittfür Schritt zu einer Erwerbstätigenversicherung weiter-entwickeln. Von der Großen Koalition verlangen wireine Rücknahme der halbierten Rentenversicherungsbei-träge für Langzeitarbeitslose. 2,09 Euro Rente pro Mo-nat für Langzeitarbeitslose ist in der Tat nicht akzepta-bel. Auch die Zwangsverrentung mit 63 Jahren mitAbschlägen darf nicht erfolgen. Die Bundesregierungmuss endlich auf die Armutsgefährdung bestimmter Be-völkerungsgruppen reagieren.Zu den Anträgen der Linksfraktion fasse ich zusam-men: Ihre Konzepte sind rückwärtsgewandt, nicht finan-zierbar und unseriös. Sie nehmen auf die Zukunfts-perspektive der jüngeren Generation keine Rücksicht.Die jungen Menschen müssten über steigende Sozial-abgaben die Zeche zahlen, ohne dafür die Sicherheit zuhaben, selbst in den Genuss einer existenzsicherndenRente zu gelangen. Ihre Vorschläge zur Evaluation derRiester-Förderung sind nicht glaubwürdig, wenn Sie be-reits heute das Ergebnis vorwegnehmen. Das ist billigerPopulismus und eine rückwärtsgewandte Politik, die wirso nicht akzeptieren.Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Damit hatte die Linke nicht gerechnet, dass zahlreicheKollegen die OECD-Studie gelesen haben.
Frau Schewe-Gerigk und Herr Amann haben es ebendeutlich gemacht. In der Tat, Sie haben einige Sätze zi-tiert, die durchaus richtig sind und die auch auf Gefahrenhinweisen. Ein zentraler Punkt ist, dass dort festgestelltwurde, dass hier in Deutschland gerade im Bereich derAltersvorsorge angemessene Antworten auf die demo-grafischen und gesellschaftlichen Herausforderungengefunden worden sind, und zwar in besonderer Weise fürdie Geringverdiener. Da Sie das bewusst getan haben,kann man das nur als eine sehr unseriöse Beweisführungdarstellen.
Am 23. Januar dieses Jahres hat Herr StaatssekretärThönnes in der Fragestunde zu all diesen Themenberei-chen umfassend Stellung genommen. Dennoch habenSie heute Ihren Antrag wieder vorgelegt und die Er-kenntnisse der Studie nicht dargestellt.Wenn es um die Altersvorsorge geht, muss man auchan das Vertrauen der Bürger in die Langfristigkeit derEinrichtungen denken. Gerade in dieser Woche gab es jaDiskussionen über einige neue Beiräte, die sich gegrün-det haben und die bei der Politik angemahnt haben, lang-fristig zu denken. Aber ist Ihnen auch aufgefallen, dassLangfristigkeit gerade im Bereich der Altersvorsorgenicht angemahnt wurde? Die Koalitionsfraktionen unddie Regierung haben sich nämlich dieses Themas ange-nommen und die langfristige Perspektive der Altersvor-sorge in den Vordergrund gestellt.Gerade bei dem Thema der Altersversorgung habenwir eine sehr große Übereinstimmung zwischen den bei-den Regierungsfraktionen. Selbstverständlich gibt eseine Reihe von Problemen, die ich auch nicht verheimli-chen will: die unterbrochenen Erwerbsbiografien, dieTeilzeitbeschäftigungen, die Arbeitslosigkeit. Aber wirmüssen uns auch in besonderer Weise der Bevölkerungs-entwicklung, der demografischen Entwicklung stellen.In Deutschland gibt es bereits heute 21 Millionen über60-jährige Menschen. Wir wissen, dass es im Jahre 202025 Millionen sein werden und im Jahre 2030 30 Millio-nen. Heute leben in Deutschland etwas über 20 Millio-nen Rentner in den verschiedenen Formen der Rente. ImJahre 2030 werden es über 30 Millionen Rentner sein.Angesichts dessen kann man doch nicht in einem Antragfordern, die Rentenversicherungsbeiträge auf 28 Prozentzu erhöhen; denn das zerstört Arbeitsplätze und ist da-rüber hinaus ein Anschlag auf die junge Generation.
Wir brauchen für die Altersversorgung ein differen-ziertes Konzept. Wir haben es in Deutschland geschafft,solche Altersvorsorgekonzepte für die verschiedenenGruppen zu entwickeln. Selbstverständlich wird die ge-setzliche Rentenversicherung weiterhin die Basis sein.Sie ist die stärkste Säule für jeden Einzelnen.Aber wenn wir hier über dieses Thema diskutieren,müssen wir zunächst einmal die breiten Schichten derBevölkerung in den Blick nehmen und nicht nur dieHartz-IV-Empfänger oder das Thema der Grundsiche-rung; darauf komme ich gleich noch. Die breiten Schich-ten der Bevölkerung brauchen ein auskömmliches Ein-kommen im Alter, und es ist unsere Aufgabe, dafür zusorgen. Sie wissen, dass wir gut 200 Milliarden Euro fürdie Altersversorgung ausgeben. Aber bereits heute gibtes einen Zuschuss in Höhe von fast 80 Milliarden Euroaus Steuergeldern aus dem Bundeshaushalt. Das heißt,
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Klaus-Peter Flosbachetwa 30 Prozent der gesamten Staatsausgaben sind einpauschaler Zuschuss an die Rentenversicherung.Dennoch reicht das für viele nicht aus, um ein aus-kömmliches Einkommen zu erzielen. Heute muss manbei einem durchschnittlichen Einkommen etwa 25 Jahrein die Rentenversicherung einzahlen, um die Grundsi-cherung zu erlangen. Deswegen gibt es neben der ge-setzlichen Rentenversicherung verschiedene Säulen, bei-spielsweise fünf verschiedene Wege der betrieblichenAltersvorsorge. Ich glaube, wir müssen sogar noch ei-nen sechsten Weg gehen und eine Diskussion über dasmeines Erachtens wichtige Thema der Lebensarbeits-zeitkonten führen. Das heißt, jemand, der einen Vorratan geleisteter Arbeit geschaffen hat, kann möglicher-weise früher in Rente gehen oder Zeiten der Arbeitslo-sigkeit kompensieren.Es gibt fünf verschiedene Wege der betrieblichen Al-tersvorsorge, zum Beispiel Wege für große Unterneh-men. Ich denke an Pensionskassen, an Pensionsfonds,aber auch an betriebliche Direktzusagen. Es gibt vieleBetriebe, die nur einen Arbeitsvertrag unterschreiben,wenn er mit einer betrieblichen Altersversorgung ver-bunden ist. Ich denke, das ist der richtige Weg. Im Fi-nanzausschuss und im Plenum haben wir die neunte No-velle des Versicherungsaufsichtsgesetzes behandelt. Hierhaben wir neue Möglichkeiten für Arbeitnehmer ge-schaffen, über Pensionsfonds eine sichere Altersvor-sorge zu erreichen.Ein sehr wichtiger Weg ist auch der Beschluss dieserKoalition, die sogenannte Entgeltumwandlung nichtmehr mit Beiträgen für die Sozialversicherung zu belas-ten, übrigens eine Forderung, die die Union auch imRahmen des Alterseinkünftegesetzes erhoben hat. Ichbin froh, dass wir das umgesetzt haben; denn damit kannder einzelne Arbeitnehmer Beiträge in eine Altersvor-sorge einzahlen. Er muss hierauf keine Steuern undkeine Sozialversicherungsbeiträge zahlen, und die Er-träge können steuerfrei angesammelt werden. Für diesenFall gibt es eine nachgelagerte Besteuerung. Ich denke,das ist genau der richtige Weg, um langfristig Vertrauenund Sicherheit in der Altersversorgung zu schaffen.
Ein richtiger Weg ist auch, die gesetzliche Rentenver-sicherung durch die Riester-Rente zu ergänzen. Nach-dem einige Korrekturen durchgeführt worden sind, mussman sagen, dass das Ergebnis hervorragend ist. Nach25 Jahren hat ein Durchschnittsverdiener Ansprüche inHöhe der Grundsicherung erworben. Hat er zusätzlicheine Riester-Rente abgeschlossen, braucht er dazu nur20 Jahre.
Wenn die Linke behauptet, für die Geringverdienerwürde sich die Riester-Rente nicht lohnen, weil sie ja ehdie Grundsicherung erhielten, dann kann ich nur fragen:Ist Ihnen bewusst, welches Menschenbild und welchenAusblick auf die Zukunft Sie damit den Menschen ver-mitteln? Wollen Sie jungen Leuten wirklich sagen, dassihre Karriere in Hartz IV besteht oder später in derGrundsicherung und dass man keine eigenen Leistungenerbringen muss, um später ein auskömmliches Einkom-men zu erhalten? Das ist der völlig falsche Weg. Dasstimmt nicht mit unserem Menschenbild überein.
– Wir stehen zur Grundsicherung. Es handelt sich dabeium eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung, die erhaltenwerden sollte.
Aber sie sollte nur dann gewährt werden, wenn der Ein-zelne sie wirklich braucht.Die Riester-Rente ist eine Erfolgsgeschichte. Wie derKollege Weiß bereits sagte, gibt es über 11 Millionen ab-geschlossene Verträge. Bereits mit 5 Euro ist man dabei.Die Förderung beträgt bis zu 90 Prozent. In der aktuellenAusgabe der Zeitschrift Finanztest werden Beispielevorgestellt. Eine Alleinerziehende mit einem Kind undeinem Verdienst von 1 000 Euro im Monat, die monat-lich eine Eigenleistung von 11,75 Euro erbringt, erhälteinen monatlichen Zuschuss von 28 Euro. Das ergibtspäter eine Rente von circa 130 Euro im Monat, also dasZehnfache des Eigenbetrages.
Wichtig ist auch, dass die Riester-Rente Hartz-IV-ge-schützt ist. Das Geld, das auf diese Weise angespartwird, kann nicht genommen werden.
Wir haben dies auch für Selbstständige so geregelt, in-dem wir die Insolvenzsicherung durchgesetzt haben. Dassind wichtige Bausteine. Wir werden natürlich darüberdiskutieren müssen, ob diese Maßnahmen ausreichenoder ob wir die Höhe des Schonvermögens anders regelnmüssen. Der jetzige Stand ist auf jeden Fall ein gutesFundament.Das Wichtigste für die Altersversorgung ist natürlich,dass wir eine gut funktionierende Wirtschaft haben unddass es qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland gibt.Diese Koalition kann für sich in Anspruch nehmen, dasses ihr gemeinsam mit der Wirtschaft gelungen ist – diegute Weltkonjunktur will ich dabei nicht außer Acht las-sen –, innerhalb kürzester Zeit über 1 Million neue Ar-beitsplätze zu schaffen. Die höheren Beitragseinnahmensorgen dafür, dass die Finanzierung der Rente gesichertist.Ich komme zum Schluss. Die Union hat gemeinsammit ihrem Koalitionspartner ein langfristiges Konzeptvorgelegt. Wir schaffen es, die soziale Absicherung imRahmen eines schlüssigen Gesamtkonzepts langfristigzu gewährleisten. Ich denke, die Altersversorgung ist beiuns in guten Händen.Vielen Dank.
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Ich gebe das Wort Jörg Rohde, FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zunächst möchte ich auf einige Vorredner ein-gehen. Herr Weiß und Herr Flosbach, leider ist es rich-tig, dass ein Geringverdiener beim Riester-Sparen mög-licherweise mit Zitronen handelt. Ein Leugnen diesesProblems bringt die Union nicht weiter. Herr Weiß, ichweiß doch, dass Sie das Problem kennen. Sie selber ha-ben mit einem Freibetrag für die Riester-Sparer einenVorschlag gemacht, der in die gleiche Richtung wie derentsprechende FDP-Vorschlag geht. Ich fordere Sie alsoauf, weitere Überzeugungsarbeit in der Union zu leisten,damit sich da die Erkenntnis Bahn bricht.Herr Amann, im Stenogrammstil will ich schnell ei-nen Vorschlag der FDP zur Entlastung der Rentner prä-sentieren: Senden Sie allen deutschen Rentnern diesesund nächstes Jahr einen Scheck. Dieses Wahlgeschenkist transparent. Der Absender sollte aber bitte der Bun-desfinanzminister und nicht die Rentenkasse sein.
Finger weg von der Rentenformel! Das sage ich, weilSie – wenn auch nur befristet – an der Rentenformel he-rumdoktern wollen. Wenn Sie das tun, dann schaden Sieder nächsten Generation. Das ist absolut ungerecht.
Werte Kollegen der Linksfraktion, ich fokussieremich in meinem Beitrag auf Ihren etwas neueren Antrag,welcher fordert, die Riester-Rente auf den Prüfstand zustellen. Die Linksfraktion hat nun offensichtlich vor, sichals „Killer der Riester-Rente“ zu profilieren. Aber ge-rade Geringverdiener haben doch besonders von der ho-hen staatlichen Förderung profitiert.Es ist wichtig, dass wir die Diskussion weiterführen.Denn die sogenannte Riester-Rente kann nicht so blei-ben, wie sie heute ist. Die Bundesregierung ist gefordert,eine Nachbesserung vorzunehmen. Dazu muss abernicht eigens eine neue Prüfung angesetzt werden. DieFDP-Bundestagsfraktion hat bereits im Oktober letztenJahres einen umfangreichen Fragenkatalog zu diesemThema erarbeitet. Die Antworten der Bundesregierungliegen seit November 2007 vor. Der Nachbesserungsbe-darf für die Personengruppe der Geringverdiener, dendie FDP aufgedeckt hat, ist offensichtlich. Um das fest-zustellen, brauchen wir keine neue Prüfung. Und die An-rechnung der Riester-Rente auf die Grundsicherung imAlter haben Sie ja in Ihren Einführungstext aufgenom-men, werte Linke.Die FDP fordert ganz einfach ein, dass derjenige, derfür das Alter spart, mehr haben muss als derjenige, dernicht für das Alter spart.
Es ist mir völlig unverständlich, wieso die Regierungs-fraktionen diesen einfachen Grundsatz immer noch ab-lehnen.Die FDP ist die einzige Fraktion mit einem sofort um-setzbaren Lösungsvorschlag für das Problem. Wir schla-gen einen Freibetrag von 100 Euro und darüber hinausstatt der vollen Anrechnung nur eine 80-prozentige An-rechnung vor. Wir freuen uns bereits auf die diesbezügli-che öffentliche Anhörung; denn viele Experten habendiesen Vorschlag bereits für angemessen und gut befun-den.
Die FDP zeigt in dieser Frage klar auf, dass sich dieLiberalen auch für die Geringverdienenden einsetzen.Wir fordern aber auch weiterhin die Ausdehnung derRiester-Förderung – übrigens zusammen mit dem ehe-maligen Arbeitsminister – auf alle Bürger; denn zumBeispiel auch Selbstständige zahlen in den Steuertopf,aus welchem die Förderung erfolgt.Werte linke Kollegen, unter Punkt 2 Ihres Antrageszielen Sie darauf ab, die Altersvorsorge gezielt für Ge-ringverdienende innerhalb der gesetzlichen Rentenver-sicherung zu stärken. Zugegeben: Ich weiß nicht, wie da-mals die mickrige Rente in der DDR berechnet wurde.
Aber die Rentenversicherung in der BundesrepublikDeutschland basiert auf den Prinzipien der Äquivalenzvon Beitrag und Leistung, dem Versicherungsprinzip,der Einkommensersatzfunktion sowie dem sozialen Aus-gleich. Diese Prinzipien wurden zum Beispiel vor fünfJahren von der Rürup-Kommission dargestellt und ex-plizit als grundlegend für weitere Reformvorschlägebestätigt. Die Rürup-Kommission war sicher nicht ver-dächtig, von Liberalen unterwandert oder geprägt wor-den zu sein. Die Kommission zeigte eher unseren ge-meinschaftlichen Konsens in der Bundesrepublik zudieser Frage auf. Zur Äquivalenz von Beitrag und Leis-tung führt der Bericht der Rürup-Kommission aus, dasssich die Leistungen grundsätzlich nach der Höhe der inder Erwerbsphase gezahlten Beiträge richten sollen.Doppelt so hohe Beiträge führen zu doppelt so hohenAnwartschaften, gemessen in Entgeltpunkten. DieSumme der erworbenen Entgeltpunkte bestimmt wie-derum den individuellen Rentenanspruch. Die generelleBeibehaltung des Äquivalenzprinzips für Versicherte in-nerhalb eines Altersjahrgangs ist für die Rentenversiche-rung von besonderer Bedeutung. Jede Abkehr vomÄquivalenzprinzip bedeutet, dass Leistungen einer Per-sonengruppe aus den Beiträgen einer anderen finanziertwerden.Weiter führt der Bericht der Rürup-Kommission aus,dass es zur Förderung der Beschäftigung entscheidenddarauf ankommt, an dem Äquivalenzprinzip in der ge-setzlichen Rentenversicherung auch in Zukunft festzu-halten.Es gibt heute bereits punktuelle Ausnahmen beimÄquivalenzprinzip in der Rentenversicherung. Aber Sieauf der linken Seite des Hauses wollen anscheinend den
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Jörg RohdeGrundcharakter der Rentenversicherung ändern. Hiermacht die FDP auf keinen Fall mit.
Deswegen sollten Sie diese Forderung aus Ihrem Papierstreichen. Ich befürchte allerdings, dass wir uns einanderauch sonst nicht weit annähern werden. Deswegen kannich Ihnen keine Unterstützung Ihrer Anträge in Aussichtstellen.Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Ulrich Krüger von der SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wer erinnert sich nicht an die große Be-schwichtigungsformel am Ende des letzten Jahrtausends:„Die Rente ist sicher.“ Rot-Grün hat diese Formel unter-sucht und gehandelt. Schwarz-Rot setzt die erfolgreichePolitik von Rot-Grün insofern ergänzend fort.Aufgrund des demografischen Wandels der deut-schen Gesellschaft kann die gesetzliche Rentenversor-gung allein in Zukunft – die Kolleginnen und Kollegenhaben das heute schon angesprochen – das Gesamtver-sorgungsniveau, den Wohlstand im Alter nicht mehr ga-rantieren. Es war daher richtig, Finanzierungsmodelle zuentwickeln, um mit staatlicher Hilfe eine zusätzliche pri-vate Altersvorsorge vorzusehen. Herausgekommen istdie Riester-Rente.Seien Sie sicher: Millionen von Amerikanerinnen undAmerikanern wären glücklich und froh, hätten sie, nach-dem sie im Jahr 2000/2001 durch das Zerplatzen der Ak-tienblase ihre Pensionsansprüche verloren haben undnachdem nun ihre Häuser infolge der Immobilienkrisenur noch ein Drittel wert sind, ein System aus gesetzli-cher Rentenversicherung, ergänzender privater Alters-vorsorge und Betriebsrente als dritter Säule.
Bis zum Jahr 2030 wird sich – auch das ist schon an-gesprochen worden – das Verhältnis von Erwerbstätigenzu Rentnerinnen und Rentnern dramatisch verändern.Betrug das Verhältnis zu Zeiten unserer Väter und Müt-ter noch 7 : 1 oder 8 : 1, beträgt es heute 3,2 oder 3,3 : 1und wird sich zu einem Verhältnis von 1,9 : 1 entwi-ckeln. Im gleichen Zeitraum wird sich Gott sei Dank– daran werden wir alle partizipieren – die durchschnitt-liche Bezugsdauer der Rente auf 20 Jahre belaufen. Im-mer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehrnicht im Erwerbsleben stehende Menschen die Beiträgeerbringen.Diese Tatsache darf und durfte die Politik nicht ver-schlafen, sondern musste handeln. Sie hat es in Form derRiester-Rente getan, für die sich – der Kollege Flosbachhat es erwähnt – mittlerweile fast 11 Millionen Men-schen entschieden haben. Diese Menschen sind von denVorteilen der Riester-Rente überzeugt. Vater und Mutterwissen, dass sie dann, wenn sie beispielsweise im Jahr2008 einen Riester-Vertrag abschließen, je 154 Euro anZulage, das Kind 185 Euro an Zulage bekommen. Wenndas Kind nach dem 1. Januar dieses Jahres geboren wor-den ist, bekommt es sogar 300 Euro an Zulage. Sogareine Kleinfamilie, ein verheiratetes Paar mit einem Kind,erhält aktuell entweder 493 oder 608 Euro an Zulage.Es ist gut, dass die Gesamtsumme der diesbezügli-chen Zulagen im Jahre 2007 die Milliardengrenze über-schritten hat. Diese Summe darf, soll und muss nochweiter steigen. Das gilt auch im Bereich der schon mehr-fach angesprochenen Menschen mit einem geringen odermittleren Einkommen. Von daher ist es richtig, dass derMinimaleigenbeitrag von 5 Euro pro Monat respektive60 Euro pro Jahr so gehalten worden ist, dass auch ein-kommensschwächere Bürgerinnen und Bürger nicht vonder privaten Altersvorsorge ausgeschlossen sind.Es wird immer wieder gesagt, die Riester-Rente kämebei den Menschen, die ihrer bedürften, nicht an. Dazumöchte ich zwei Zahlen nennen. Zwei Drittel der Men-schen mit einem Riestervertrag haben ein Jahreseinkom-men von weniger als 30 000 Euro, exakt 43 Prozent einJahreseinkommen von weniger als 20 000 Euro. Auchdie alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die ge-ringfügige Bezüge erzielt, kann mit 60 Euro oder einerähnlichen Summe im Jahr – das hat der KollegeFlosbach schon erwähnt –, wenn ein Kind vor und einKind nach dem 1. Januar 2008 geboren worden ist,639 Euro an staatlicher Zulage erhalten. Das entsprichteiner Förderquote von mehr als 90 Prozent. Wer all dasin Abrede stellt, versündigt sich an der Situation dieserMenschen.
Bei der Grundsicherung im Alter ist die Situationanders. Was ist die Grundsicherung im Alter, die als sol-che schon angesprochen worden ist? Ist sie eine Geld-summe, die in einem ominösen Juliusturm liegt undohne Folgen für unsere Gesamtwirtschaft nach Bedarfabgerufen werden kann? Oder ist es – das ist gut undrichtig so – die aus Steuermitteln finanzierte Sozialhilfe-leistung, die von der notwendigen Solidarität der Starkenmit den Schwachen getragen ist und davon lebt, dass sieGott sei Dank nicht jeder in Anspruch nimmt bzw. neh-men muss, sondern aktuell nur circa 2,3 Prozent derRentnerinnen und Rentner in der BundesrepublikDeutschland, sprich über 97 Prozent eben nicht?
Die Riester-Rente aber ist genauso wie die gesetzlicheRente dazu gedacht, mit dem angesparten Geld späterden Lebensunterhalt zu bestreiten. Wer daher sagt, derGrundsicherungsanspruch müsse ohne oder nur mit eineranteiligen Anrechnung der Riester-Rente erfüllt sein, dermuss folgerichtig die Frage beantworten, warum denndann Sozialversicherungsrenten, Zinseinkünfte und Ein-künfte aus Vermietung und Verpachtung angerechnetwerden.
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Dr. Hans-Ulrich KrügerDie Solidarität der Starken mit den Schwachen funk-tioniert nur, wenn alle entsprechende Anstrengungen un-ternehmen. Das gilt in der Altersvorsorge genauso wieim alltäglichen Leben mit all seinen Banalitäten. Oderandersherum gesagt: Alle Versicherungen, beispiels-weise eine Feuerversicherung, die derjenige abschließt,der ein Haus besitzt, eine Hausratversicherung, die der-jenige abschließt, der eine Wohnung hat, oder eine Auto-versicherung, die derjenige abschließt, der einen Pkwfährt, funktionieren nur, weil Gott sei Dank nicht jederPkw-Halter jedes Jahr einen Unfall hat, nicht jedes Hausjedes Jahr abbrennt und jeder Hausrat jedes Jahr zerstörtwird. Wäre das der Fall, wäre das gleichbedeutend mitdem Ende dieser Versicherungssparte und -lösung, weildie Prämien folgerichtig eine Höhe erreichen müssten,welche kein Mensch mehr erbringen kann.Die Altersvorsorge wird nunmehr durch die Einbezie-hung der selbstgenutzten Wohnimmobilie in die pri-vate Altersvorsorge komplettiert. Von daher kann auchderjenige Bürger oder diejenige Bürgerin, der oder diesagt: „Eine Zusatzrente ist schön und gut; aber für michist das mietfreie Wohnen im Alter das Vorzugswürdige“,das steuerbegünstigte, im Rahmen des Zulagensystemsder Riester-Rente angesparte Vermögen für den Kauf ei-ner Immobilie nutzen. Ein weiteres Highlight ist – hierpasst man sich den neuen gesellschaftlichen Lebensfor-men an –, dass nunmehr auch der Kauf von Anteilen aneinem Altenheim und der Kauf von Genossenschafts-anteilen Riester-fähig sind. Auch Erwerbsminderungs-rentner, die sagen: „Ich möchte nach dem Eintritt der Er-werbsminderung etwas für meine Altersversorgung tun“,können einbezogen werden.Von daher sage ich all denjenigen, die fordern: „Wegmit der Riester-Rente!“: Vorsicht an der Bahnsteigkante!Bedenken Sie, was Sie im Hinblick auf Millionen Men-schen aufgeben, die genau wissen, dass die drei Säulen– gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Alters-vorsorge und private Altersvorsorge – für sie das Rich-tige sind.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8495 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti-
tel „Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in
der gesetzlichen Rente“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6921, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5903
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Ge-
genstimmen der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer,
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der
Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gabriele
Groneberg, Stephan Hilsberg, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge-
ordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine neue, effektive und an den Bedürfnis-
sen der Hungernden ausgerichtete Nahrungs-
mittelhilfekonvention
– Drucksachen 16/8192, 16/8485 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Thilo Hoppe
Sibylle Pfeiffer
Dr. Sascha Raabe
Dr. Karl Addicks
Hüseyin-Kenan Aydin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Sascha Raabe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl wiruns das ehrgeizige Ziel gesetzt haben, die Zahl der aufder Welt Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren,müssen wir feststellen, dass trotz Fortschritten immernoch 25 000 Menschen pro Tag an den Folgen von Hun-ger und Armut sterben. Während wir im DeutschenBundestag, wie es vor kurzem der Fall war, über die Pro-blematik von Übergewicht und seinen Krankheitsaus-wirkungen sprechen und zu Recht Sport und Bewegungeinfordern, besteht in anderen Ländern eine Situation,die für manche hier nicht vorstellbar ist und Menschen-leben fordert.Wir reden zu Recht über den Klimawandel, der auchuns in Deutschland betrifft. Aber in den Entwicklungs-ländern betrifft der Klimawandel die Menschen nochviel stärker im negativen Sinne. Im Rahmen des Welt-ernährungsprogramms wurde eine Untersuchung durch-geführt, die zu dem Ergebnis kam, dass heutzutage vorallem in Entwicklungsländern 1 Milliarde mehr Men-schen als noch vor zehn Jahren von Naturkatastrophenbetroffen sind.Durch den Klimawandel werden natürlich auch dieErnten und die Nahrungsmittelsicherheit in Mitleiden-schaft gezogen. Als sei diese katastrophale Situation
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Dr. Sascha Raabenicht schon schlimm genug, kommt noch hinzu, dass diePreise für Nahrungsmittel in der letzten Zeit sehr starkgestiegen sind. Viele Entwicklungsländer müssen fürGetreideimporte bis zu 35 Prozent mehr ausgeben als imVorjahr. Nach Angaben der Weltbank sind die Nahrungs-mittelpreise im vergangenen Jahr um durchschnittlich75 Prozent gestiegen. Davon waren insbesondere Grund-nahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen betroffen.Man muss berücksichtigen, dass die ärmsten Menschenetwa 80 Prozent ihres geringen Einkommens für Nah-rungsmittel aufwenden müssen, dazu aber oft nicht inder Lage sind.Manchmal wird die Frage gestellt, ob es angesichtsder wachsenden Weltbevölkerung vielleicht nicht genugLebensmittel auf der Welt gibt. Das ist absoluter Unsinn.Nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung undLandwirtschaft, der FAO, gibt es genug Lebensmittel,um etwa 12 Milliarden Menschen relativ problemlos zuernähren. Ich möchte die gleiche Frage stellen, die neu-lich der aus dem Amt scheidende UN-Sonderbericht-erstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, gestellthat: Warum geschieht das nicht?Unsere Bundesentwicklungsministerin, HeidemarieWieczorek-Zeul, hat am Montag dieser Woche denAktionsplan für Menschenrechte für die nächsten dreiJahre vorgestellt. Er wird dazu beitragen, dass die Men-schenrechte in den Entwicklungsländern vorangebrachtund gefördert werden. Ein Punkt ist das Recht auf Nah-rung. Dieses Recht muss endlich auch denjenigen zugu-tekommen, die Hunger leiden.Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antragauf, „sich für die Neuverhandlung der Nahrungsmittel-hilfekonvention gemäß der menschenrechtlichen Ver-pflichtungen zur Erfüllung des Rechts auf adäquate Nah-rung nach Art. 11 des Internationalen Pakts fürwirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechtesowie im Sinne der freiwilligen Leitlinien der … FAO“einzusetzen.
Wir werden diesen Antrag heute verabschieden. Ichfreue mich darüber, dass wir das gemeinsam mit derFraktion der Grünen tun. Es ist schön, dass bei diesemThema parteiübergreifend Einigkeit herrscht. Ich glaube,dass wir über diesen Antrag zu einer neugestalteten undumfassenden Nahrungsmittelhilfekonvention kommen,damit dieses Recht verwirklicht werden kann.Warum brauchen wir eine neue Nahrungsmittelhilfe-konvention? Als sie 1967 entstand, waren die Rahmen-bedingungen ganz anders. Es gab die durchaus gute In-tention, die steigenden Nahrungsmittelüberschüsse inden europäischen Staaten und in den USA sinnvoll fürdie Hungerbekämpfung einzusetzen. Das war erst ein-mal kein schlechter Grundgedanke: Bei uns gab es zuviel, und dort haben Menschen Hunger gelitten. Heutewissen wir aber, dass diese Hilfe, auch wenn sie gut ge-meint war, oft dazu führte, dass Kleinbauern und Land-wirte keinen nachhaltigen Anreiz hatten, um Nahrungs-mittel für den lokalen Markt zu produzieren, alsoGetreide anzupflanzen oder Hühner aufzuziehen. Wenndie Kleinbauern ihre Waren verkaufen wollten, standensie oft vor dem Problem, dass die Nahrungsmittelüber-schüsse der westlichen Staaten – was gut gemeint war –in den Regalen der lokalen Lebensmittelgeschäfte lagenund sie ihre Produkte nicht absetzen konnten. Insofernwar das, was gut gemeint war, oft kontraproduktiv. Da-rauf wollen wir mit unserem Antrag reagieren, indemwir die veränderten Rahmenbedingungen in die neueNahrungsmittelhilfekonvention einfließen lassen.Hinzu kommt, dass sich die Situation auf den Welt-agrarmärkten verändert hat. Es gibt neue, große Nachfra-ger wie China oder Indien. In einigen Ländern gibt es in-zwischen eine Konkurrenz zwischen dem Anbau vonNahrungsmitteln und dem Anbau von Agrartreibstoffen.An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinwei-sen, dass wir das Positionspapier des Bundesministe-riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung begrüßen, in dem Leitlinien festgezurrt wurden,damit die Nahrungsmittel weiterhin den Ärmsten zugute-kommen können. Der Biomasseanbau darf das nicht ver-hindern. Wir wollen nicht, dass der Klimaschutz durchden Biomasseanbau gefährdet wird. Wir wollen Biomas-seanbau nur auf zertifizierten Flächen haben. Wir wol-len, dass behutsam und vorsichtig vorgegangen wird.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in denletzten Jahren – ich formuliere das jetzt einmal sehr hart –unter dem Deckmantel der Nahrungsmittelhilfe eigent-lich nur ihre Agrarüberschüsse loswerden wollen.
Das war nicht WTO-konform. Deshalb war es richtig,dass die Europäer auf der WTO-Konferenz in Hongkongdarauf bestanden haben, auch über dieses Thema zu ver-handeln. Schließlich müssen auch wir – übrigens zuRecht – unsere Exportsubventionen senken bzw. sieganz streichen. Ich füge hinzu: Wir hätten beschließensollen, die Subventionen sogar noch vor dem Jahre 2013zu streichen. Das, was die Amerikaner – übrigens oft auswahltaktischen Gründen – unter dem Deckmantel derNahrungsmittelhilfe gemacht haben, ist nichts anderes,als Geschenke an die Farmer zu verteilen. Damit habensie in den Entwicklungsländern aber das genaue Gegen-teil dessen bewirkt, was man mit der Nahrungsmittel-hilfe zu erreichen versucht. Sie haben dort noch mehrHunger und Armut produziert. Das muss ein Ende ha-ben.
Noch im letzten Jahr haben die OECD-Staaten an dieLandwirte Subventionen in Höhe von 349 MilliardenDollar gezahlt. Für die öffentliche Entwicklungszusam-menarbeit haben sie allerdings nur etwa ein Drittel die-ses Betrages zur Verfügung gestellt. Wenn man sich dasvor Augen führt, stellt man fest, dass hier nach wie voreine erhebliche Schieflage besteht.Es muss klar sein, dass die Nahrungsmittelknappheitein Problem ist, das in erster Linie mit den weltwirt-
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Dr. Sascha Raabeschaftlichen Bedingungen des Handels zusammenhängt.Insofern handelt es sich auch um ein Verteilungspro-blem. Deswegen wäre es unzureichend, wenn man ver-suchen würde, dieses Problem auf bilateraler Ebene zulösen. Vielmehr müssen wir die strukturellen Ursachendieses Problems bekämpfen. Es ist zwingend notwendig,dass wir jetzt ein umfassendes Konzept der Nahrungs-mittelhilfe erarbeiten und eine Nahrungsmittelhilfe-konvention verabschieden, in deren Rahmen die Nah-rungsmittelhilfe in Konzepte zur wirtschaftlichenEntwicklung und Armutsbekämpfung integriert wird.Unser Ziel muss sein, den Übergang von der humanitä-ren Soforthilfe zur mittel- und langfristigen Ernährungs-sicherung, die ohne Hilfslieferungen auskommt, zu ge-währleisten. Den Menschen in den Entwicklungsländernmuss die Chance zur Selbsternährung gegeben und da-mit das grundlegende Recht auf Nahrung garantiert wer-den.Die Nahrungsmittelhilfe muss so eingesetzt werden,dass sie in entwicklungspolitischer Hinsicht nicht kon-traproduktiv ist, sondern dazu beiträgt, die lokale Land-wirtschaft zu stärken. Das ist es übrigens, was Deutsch-land von manch anderem Geberland unterscheidet. Wirwollen sicherstellen, dass mit der Nahrungsmittelhilfedie lokalen Märkte gestärkt werden.
Wir wollen nicht, dass zum Beispiel Getreide aus denUSA nach Afrika geliefert wird. Mit unserem Antragmöchten wir dafür sorgen, dass die Menschen, die Nah-rungsmittelhilfe erhalten, in erster Linie Geld oder Gut-scheine bzw. Essensmarken bekommen, damit sie dieProdukte, die sie brauchen, lokal, also bei ihren Land-wirten, kaufen. So macht Nahrungsmittelhilfe Sinn.Wenn man so vorgeht, fördert man auch die lokale Land-wirtschaft und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwick-lung, die dauerhaft selbsttragend sein kann. Außerdemträgt man dazu bei, dass die Hungernden, die in Notsind, nicht verhungern müssen.Diese Ziele müssen wir mit der neuen Nahrungsmit-telhilfekonvention erreichen. Ich glaube, dass wir hierparteiübergreifend ein gutes Ergebnis erzielen werden.Im Sinne der hungernden Menschen auf der Erde hoffeich, dass unser Antrag große Zustimmung findet.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist wirklich gut, dass wir heute hier im Plenum über daswichtige Thema Nahrungsmittelhilfe reden; denn dieNachrichten, die uns dazu in den vergangenen Tagen undWochen erreicht haben, sind wirklich besorgniserregend.Die Preise für Grundnahrungsmittel sind explodiert.Deswegen ist sogar das World Food Programme ge-zwungen, seine Hilfe in einigen Teilen der Welt einzu-schränken. Die derzeitige Verteuerung und Knappheitder Grundnahrungsmittel trifft selbst Länder, in denenman schon lange keine Nahrungsmittelknappheit undkeinen Hunger mehr gekannt hat. Ein krasses Beispiel istdas Schwellenland Mexiko. Der Anstieg des Preises fürMais führte dazu, dass sich die Mexikaner keine Tortil-las, das Grundnahrungsmittel, mehr leisten konnten. Da-her sind die Menschen auf die Straße gegangen und ha-ben demonstriert. Dass sich die Mexikaner keineTortillas mehr leisten können, ist wirklich ein Skandal.Ich frage mich: Wenn es schon in einem Schwellenlandwie Mexiko so aussieht, wie ernst ist die Situation dannerst in Entwicklungsländern,
die schon häufig mit Nahrungsmittelknappheit zu kämp-fen hatten? Laut World Food Programme ist die Lage invielen Entwicklungsländern mittlerweile so schlimm,dass sich selbst die dortige Mittelschicht Lebensmittelnicht mehr leisten kann.Hungersnöte erreichen heute nicht nur andere Bevöl-kerungsschichten; sie bekommen auch eine andere Di-mension: Wurden sie in der Vergangenheit meist durchNaturkatastrophen, durch Krieg und Zerstörung ausge-löst, sind es heute der steigende Ölpreis und steigendeEnergiepreise. So hat zum Beispiel die Regelung, dass10 Prozent Biokraftstoff beigemischt werden müssen,Auswirkungen auf die Nahrungsmittelpreise.Eine Zahl soll uns zeigen, was diese Entwicklung fürdie Arbeit des World Food Programme bedeutet: DasWorld Food Programme muss inzwischen durch die in-ternationale Gemeinschaft eine halbe Milliarde Dollarzusätzlich aufbringen, um den derzeitigen Umfang derHilfe aufrechtzuerhalten.Ein Grund für die neue Dimension, die die Nahrungs-mittelknappheit annimmt, ist, dass Kraftstoff zunehmendaus Sojabohnen, Mais und Getreide erzeugt wird. Einweiterer Grund ist die zunehmende Nachfrage der Welt-bevölkerung nach Fleisch, zum Beispiel in China und In-dien. Vom steigenden Ölpreis habe ich schon gespro-chen.All diese Punkte haben Sie in Ihrem Antrag zu Rechtangesprochen; die aktuelle Situation wird in Ihrem An-trag jedoch nicht ausreichend thematisiert. Sie wollen,dass die Bundesregierung aufgefordert wird, die Auswir-kungen der zunehmenden Konkurrenz zu erforschen. Er-forschen ist gut, Reagieren ist besser. Das Drama spieltsich doch vor unseren Augen ab. Hier geht uns Ihr An-trag nicht weit genug. Die Zeiten haben sich geändert:Nicht Überschüsse sind das Problem, sondern Knapphei-ten. Diese wichtige agrarpolitische Veränderung berück-sichtigen Sie in Ihrem Antrag nicht ausreichend.Wir sind uns doch im Grunde einig, dass hier alle Sei-ten mehr investieren müssen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008 16031
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Dr. Karl AddicksDie Entwicklungsländer, die Schwellenländer und dieIndustrieländer sind hier gleichermaßen gefordert. Daswäre langfristig Hilfe zur Selbsthilfe. Ich betone es auchan dieser Stelle: Spätestens seit dem Weltbankbericht,der neulich im Ausschuss Thema war, sollte jedem klarsein, dass die ländliche Entwicklung in unserer Entwick-lungszusammenarbeit bislang vernachlässigt wurde.
– Das ist kein Unsinn. Fragen Sie Ihren Kollegen Raabe!Auch er ist vor einiger Zeit auf den Trichter gekommen,dass wir auf diesem Gebiet in der Vergangenheit nichtdas getan haben, was wir hätten tun können. Doch dieländliche Entwicklung spielt gerade bei der Armutsbe-kämpfung eine ganz entscheidende Rolle.Wir werden, weil das Thema enorme Bedeutung hat,dem Antrag dennoch zustimmen.
Sie haben uns leider nicht die Möglichkeit gegeben, unsan der Erarbeitung dieses Antrags zu beteiligen. Sie ha-ben einen Antrag zur Abstimmung gestellt, dem wir ent-weder zustimmen oder den wir ablehnen können. Ichfinde das nicht kollegial.
Ich hoffe, dass wir in Zukunft bei einem so wichtigenThema zusammenarbeiten werden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wie komplex das Thema Nahrungsmittelhilfe und derBereich Nahrungsmittelhilfekonvention sind, möchte ichan einem Negativbeispiel verdeutlichen: Kenia machte2006 Schlagzeilen. Der Präsident rief damals den Not-stand aus und forderte internationale Nahrungsmittel-hilfe an. Was war geschehen?Aufgrund einer Dürre herrschte im Norden des Lan-des eine Hungersnot. Doch während im Norden mehr als2 Millionen Menschen der Hungertod drohte, saßen imWesten Kenias Bauern auf einer Rekordernte Mais. DieRegierung hatte angeboten, den Bauern im Westen denMais abzukaufen und ihn an die Menschen im Norden zuverteilen, die kein Geld besitzen, um Lebensmittel zukaufen. Eine einfache Sache, denkt man. Die Bauerndachten aber nicht im Traum daran, ihren Mais an dieRegierung zu verkaufen. Das hat einen einfachen Grund:Die Regierung zahlt in der Regel nicht. Sie versprichtzwar, irgendwann zu zahlen, aber die Bauern haben mitdem korrupten Regime schlechte Erfahrungen gemacht.Deshalb gaben die Bauern den Mais lieber an Händleraus Tansania ab, die ihn bar bezahlten und mit einemPreisaufschlag als Hilfsgüter an andere Länder verkauf-ten, in denen auch Hunger drohte. Wenn aus diesem Ge-schäft nichts wurde, dann nahmen die Bauern lieber inKauf, dass ihr Mais in den Silos vergammelte; denn dieswar immer noch günstiger als der Transport des Getrei-des über Hunderte von Kilometern auf katastrophalenStraßen in den Norden, wo sie nur niedrige Preise erzie-len könnten.Besonders schlimm finde ich an dieser Tatsache, dassdie Dürre das Land keineswegs unvorbereitet getroffenhat. Es gab Warnungen im Vorfeld. Kenia verfügt überSpezialisten, die regelmäßig genaue Prognosen und Be-richte in die Hauptstadt schicken. Was mit diesen Be-richten geschieht, dürfte allerdings das ewige Geheimnisder Regierung bleiben. Der Spiegel berichtete, dass derPräsident die Krise erst dann zur Chefsache erklärte,nachdem die Medien in Kenia ausführlich über die Kata-strophe berichtet hatten. Im Gefolge des Präsidenten er-schienen zwei Flugzeuge voller Minister und Regie-rungsbeamter vor Ort. Mit anwesend waren auch derVerteidigungsminister und der Tourismusminister, derenRessorts gar nichts mit dem Thema Hunger zu tun ha-ben. Es ging nicht um Krisenmanagement, sondern umeine medienwirksame Präsentation.Dass die Krise nicht ohne Vorwarnung kam und dieProbleme hausgemacht sind, zeigt eine weitere Tatsache:Bereits seit Jahren versorgt das Welternährungspro-gramm der Vereinten Nationen den Norden Kenias– auch in normalen Zeiten – mit Lebensmitteln. Manmuss wissen, dass in Nordkenia vorwiegend Viehhirtenbeheimatet sind. In Krisenzeiten müssten sie eigentlichihr Vieh schlachten, um die hungernden Menschen zu er-nähren, zumal die Überweidung durch die Rinderherdenin dieser Region dramatisch zunimmt. Kenianische Me-dien berichten, dass die Nomaden eher mit ihrem Viehhungern, als es zu essen. Manche Stämme essen grund-sätzlich das Fleisch ihrer Rinder nicht. Sie halten Rinderals Prestigeobjekt und als Währung. Damit wird zumBeispiel der Brautpreis für eine Frau bezahlt. Zurzeitliegt er angeblich bei 100 Kühen.Fakt bleibt, dass die permanenten Nahrungsmittelhil-fen die Probleme nicht beseitigt haben. Im Gegenteil:Sie haben sie verschärft. Kenia ist kein Einzelfall. Alleinin Afrika sind über 30 Länder auf Nahrungsmittelhilfeangewiesen.An dieser Stelle kommt die Nahrungsmittelhilfekon-vention ins Spiel. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass imLaufe der Zeit auch die besten Vorsätze manchmal in diefalsche Richtung führen können. Die ursprüngliche Ideewar durchaus sinnvoll: Lebensmittelüberschüsse aus denIndustrieländern sollten sinnvoll für die Hungerbekämp-fung in den Entwicklungsländern eingesetzt werden.Doch im Laufe der Zeit zeigte sich, dass die Nahrungs-mittellieferungen für die Empfängerländer auch proble-matisch sein konnten, zum Beispiel dann, wenn durchausländische Lieferungen die Bauern in den Entwick-lungsländern benachteiligt werden.
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Sibylle PfeifferDeutschland und die EU liefern grundsätzlich keineLebensmittel, sondern leisten nur Barzahlungen. So kön-nen die betroffenen Länder die notwendigen Lebensmit-tel vor Ort bzw. in den Nachbarländern kaufen. WennDeutschland keine Nahrungsmittel liefert, mag sichmancher fragen, welchen Sinn der vorliegende Antragfür eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention hat. DerGrund dafür ist, dass wir auch in dieser Frage eine Kohä-renz der Geber wollen. Es hat keinen Sinn, wenn jederseine eigene Entwicklungspolitik macht, ohne sich mitden anderen Gebern abzusprechen.Die Bundesregierung hat daher im Rahmen des G-8-Gipfels und der EU-Ratspräsidentschaft eine Konferenzzu diesem Thema veranstaltet. Über 150 Experten habenberaten, wie die Nahrungsmittelhilfekonvention neu ge-staltet werden kann; denn seit den Anfängen der Kon-vention vor über vier Jahrzehnten sind viele neue Fakto-ren aufgetreten, die große Folgen für die weltweiteNahrungsmittelsituation haben. Für meine Fraktion – dieCDU/CSU-Fraktion – war es wichtig, dass diese verän-derten Faktoren im Antrag berücksichtigt werden undsich somit auch im Hinblick auf die Neuverhandlung derKonvention niederschlagen.Ich möchte einige Punkte aufzählen. Wir alle kennendie aktuellen Nachrichten über steigende Lebensmittel-preise; Sascha Raabe hat das bereits angesprochen.Viele staatliche Stellen, NGOs und Organe der Ver-einten Nationen warnen vor den Konsequenzen. Auchder Generalsekretär der Vereinten Nationen hat sich zudieser dramatischen Entwicklung geäußert. Die rasantePreisentwicklung bei den Nahrungsmitteln geht weiter.Die Bedrohung durch Hunger und Unterernährungwächst ebenfalls. Das Millenniumsziel, die Zahl derhungernden Menschen bis 2015 zu halbieren, ist ohnehinschwierig zu erreichen.Durch die jüngsten Entwicklungen wird es nochschwieriger. Wir haben auch auf die damit zusammen-hängende Verknappung der Nahrungsmittel hingewie-sen. Die Gründe hierfür sind verschieden. Wir verzeich-nen eine steigende Nachfrage in den Schwellenländernnach verschiedensten Lebensmitteln. Sie selbst sind abernicht in der Lage, genug herzustellen, auch deshalb, weilihnen schlichtweg Ackerland durch Städtebau, Industrie-bau und Desertifikation verloren geht. So muss Chinazum Beispiel fast ein Viertel der Weltbevölkerung ernäh-ren. Es verfügt aber nur über 10 Prozent der weltweitenAckerfläche.Stichwort „Weltbevölkerung“. Uns war es wichtig,eine große globale Herausforderung im Antrag zu unter-streichen: Wie soll eine wachsende Weltbevölkerung beiimmer weniger verfügbarer Ackerfläche ernährt werden,vor allem vor dem Hintergrund, dass das rasante Bevöl-kerungswachstum vorwiegend in den Entwicklungslän-dern stattfindet? Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion istder Meinung, dass neue Lebensmitteltechnologien hier-bei eine entscheidende Rolle spielen können.
Wir begrüßen es daher sehr, dass Agenturen der Verein-ten Nationen wie die Ernährungs- und Landwirtschafts-organisation, FAO, mit der Afrikanischen Union zusam-menarbeiten, um die Grüne Revolution voranzubringen.Der UN-Generalsekretär betonte hierzu ausdrücklich,dass dabei auch die „lebensnotwendige Wissenschaftund Technik, die dauerhafte Lösungen für den Hungerbieten“, genutzt werden.Weitere Gründe für die Verknappung und Verteuerungder Lebensmittel liegen in der Klimaveränderung und inden gestiegenen Rohölpreisen, die den Transport verteu-ern. Nicht zu vergessen ist dabei der steigende Bedarf anBiokraftstoffen. Hierüber haben wir uns in einer großenAnhörung im Bundestag kundig gemacht.Wenn man dies alles berücksichtigt, verwundert esnicht, dass die weltweiten Nahrungsmittelreserven dra-matisch gesunken sind. So sanken beispielsweise dieWeizenbestände in der EU innerhalb eines Jahres von14 Millionen Tonnen auf 1 Million Tonnen. Eine kurzeBemerkung dazu: Zurzeit ist die Konvention bei der Ge-treidebörse in London angesiedelt. Man überlegt, woman sie künftig ansiedeln soll. Man sollte nicht das Kindmit dem Bade ausschütten. Ich glaube, die Entscheidungkann irgendwann im Laufe der Diskussion fallen. Wirmüssen das nicht jetzt entscheiden. Wichtig ist, dass dieVerwaltungskosten so gering gehalten werden wie zur-zeit bei der Getreidebörse.Wie soll die Nahrungsmittelhilfekonvention künftigaussehen? Die Nahrungsmittelhilfekonvention, die ur-sprünglich nur die Verteilung der Überschüsse regelte,muss neu justiert werden. Der wichtigste Punkt, den dasam Anfang geschilderte Beispiel Kenia zeigt, ist, dassNahrungsmittelhilfe mehr bedeutet als nur die Lieferungvon Lebensmitteln. Wir müssen differenzierter vorge-hen. Es ist ein Unterschied, ob überall in einem LandHunger droht oder ob grundsätzlich Lebensmittel vor-handen sind, die Menschen aber keinen Zugang dazu ha-ben, ob ihnen schlichtweg das Geld fehlt, um sich Nah-rung zu kaufen. Keine Frage, in Krisensituationen mussschnell gehandelt werden. Es soll auch schnell gehandeltwerden. Es muss aber effektiv gehandelt werden, alsoentwicklungspolitisch nachhaltig. Es darf nicht dazukommen, dass wie im Falle Kenia die Menschen in eineregelrechte Abhängigkeit von Nahrungsmittelhilfe gera-ten. Wir müssen Wege finden, die die Menschen in dieLage versetzen, sich selbst zu helfen, sich selbst zu er-nähren. Cash for work, food for work, das wären zumBeispiel geeignete Mittel.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Landwirtschaftder beschäftigungsintensivste Sektor für die meistenEntwicklungsländer ist und dass in ihr die meisten Men-schen eine Einnahmequelle haben. Die ländliche Ent-wicklung spielt somit eine entscheidende Rolle bei derArmutsbekämpfung.Das alles muss man im Auge behalten, wenn es umdie Neugestaltung der Nahrungsmittelhilfekonvention
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Sibylle Pfeiffergeht. In einer Mitteilung ruft die EU-Kommission aus-drücklich dazu auf, dass die Nahrungsmittelhilfe durchdie Förderung und Entwicklung der lokalen Landwirt-schaft abgelöst werden soll. Wenn Nahrungsmittelhilfedie einzige Alternative sein sollte, so fordert die Kom-mission den Einkauf auf lokaler Ebene und/oder in an-grenzenden Gebieten.Ein Punkt in diesem Zusammenhang liegt mir beson-ders am Herzen: Wir wissen, dass eine nachhaltige Ent-wicklung ohne die Förderung von Frauen nicht möglichist. Ich denke, dass diese Tatsache auch im Zusammen-hang mit der neuen Nahrungsmittelhilfekonvention be-rücksichtigt werden muss, und zwar in einem besonde-ren Maße.
Frauen erzeugen in Entwicklungsländern 80 Prozent al-ler Grundnahrungsmittel. Sie besitzen aber nur 10 Pro-zent der Anbaufläche und weniger als 2 Prozent allerLandtitel. Dies ist mit eine Ursache dafür, dass zweiDrittel aller Armen Frauen sind.Wir müssen auch darauf achten, die NGOs in die Ar-beit der Nahrungsmittelhilfekonvention einzubeziehen.Vor allen Dingen müssen die Regierungen der Entwick-lungsländer mehr partizipieren; denn sie stehen in beson-derer Verantwortung. Das Beispiel Kenia zeigt, dassviele Hungerkatastrophen durch bessere Verteilung undVerwaltung hätten vermieden werden können.Der Kern der Nahrungsmittelhilfekonvention sind dieverbindlichen Zusagen für Nahrungsmittelhilfe. Wirwollen diesen Kern stärken. Gleichzeitig aber wollenwir, dass die Nahrungsmittelhilfe Teil einer umfassendenund somit nachhaltigen Gesamtstrategie zur Bekämp-fung des Hungers wird. Sie kann eine grundlegende Er-nährungsstrategie und eine Entwicklungsstrategie nichtersetzen, aber sie kann diese sinnvoll ergänzen. MeinesErachtens zeigt unser Antrag dies deutlich.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin
von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieGrünen haben uns bereits im Dezember ihren Antrag füreine neue Nahrungsmittelhilfekonvention vorgelegt, dervon uns die volle Unterstützung bekam. Der uns nunvorliegende interfraktionelle Antrag ist demgegenüberdeutlich verwässert worden. Er weist einige Lücken auf,sodass die Fraktion Die Linke diesem Antrag jetzt nichtmehr zustimmt, sondern sich enthält.Ja, wir brauchen eine neue Nahrungsmittelhilfekon-vention, die sich an den Bedürfnissen der Hungerndenund der Empfängerländer und am Menschenrecht aufNahrung orientiert. Wir können jedoch nicht über eineneue Nahrungsmittelhilfekonvention zur Linderung desHungers reden, ohne über die Ursachen von Hunger zureden. Der uns vorliegende Antrag beantwortet die Fragenach den Ursachen mit dem Hinweis auf die Verknap-pung der Agrarrohstoffe, bedingt durch ein gestiegenesBevölkerungswachstum, die Folgen des Klimawandelsund eine gestiegene Nachfrage nach höherwertigen Nah-rungsmitteln wie Fleisch und nach Agrarbrennstoffen.Der entscheidende Punkt, der in diesem Antrag leiderunterbewertet wird, ist, dass der Agrarhandel und die un-gerechten Handelsbedingungen auf dem Weltmarkt zuHunger führen – zu Fleischbergen auf unserer Seite undzu einer Schale Reise am Tag auf der anderen Seite. Da-rüber haben wir schon des Öfteren hier im Plenum de-battiert.An dieser Stelle möchte ich die MinisterinWieczorek-Zeul zitieren:Alle Programme zur Einlösung des Rechts auf Nah-rung werden nichts ändern, wenn es uns nicht ge-lingt, die Strukturen im Welthandel gerechter zugestalten. Die Entwicklungsländer wollen faire Be-dingungen auf den Weltmärkten.Sehr richtig, Frau Ministerin. Doch wie sieht die Realitätaus? Die Steigerungen der Preise für Nahrungsmittel umbis zu zwei Drittel lösten in Kamerun und Burkina Fasoin diesem Monat schwere Unruhen aus, in deren Verlaufmehr als hundert Menschen starben. Ähnliche Szenariengab es in Senegal, in Guinea, aber auch in Mauretanien,also in Ländern, wo die armen Menschen weit über dieHälfte ihres Einkommens – bis zu 80 Prozent; KollegeRaabe wies darauf hin – für Nahrung ausgeben müssen.Was hat die Preissteigerungen ausgelöst? Es war bei-leibe nicht nur der Klimawandel. Die Verhandlungen derWTO und die Handelsabkommen der EU destabilisierendie lokalen Märkte in Afrika und weltweit. Eine Explo-sion der Rohölpreise führte hier zu einem Zusammen-bruch der Märkte. Die Preise für die Nahrungsmittelschnellten in die Höhe; die Verlierer sind wie immer dieArmen.Wer Hungersnöte vermeiden will, braucht stabile lo-kale Märkte. Das hat die Vergangenheit immer wiederbewiesen; auch Kollegin Pfeiffer hat es in ihrer Rede er-wähnt. Wenn der Staat eingreifen will, um seine Men-schen vor Hunger zu schützen, dann gibt es auf einmalvon allen Seiten Widerstand wegen möglicher Handels-verzerrungen, zuallererst von der WTO.Nahrungsmittelhilfe zählt in vielen Notsituationen zuden wichtigsten Reaktionsmechanismen. Sie war auf-grund ihrer Praxis des Absatzes von Agrarüberschüssenumstritten; das wurde bereits erwähnt. EntscheidendeForderungen waren die Orientierung am Prinzip desMenschenrechts auf Nahrung und eine Beteiligung derEmpfängerländer an Entscheidungen. Die Diakonie kri-tisierte an der alten Nahrungsmittelhilfekonvention:
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Hüseyin-Kenan AydinEmpfängerländer wie auch die Zivilgesellschaftsind nicht beteiligt, selbst die mit der Durchführungder Nahrungsmittelhilfe befassten internationalenOrganisationen … können nur auf Einladung teil-nehmen.Wen haben Sie in Ihrem neuen Antrag – im Gegensatzzum alten Antrag der Grünen – eingeladen, sich zu betei-ligen? Die WTO. Wen haben Sie ausgeladen? Die Emp-fängerländer und die Nichtregierungsorganisationen.
Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung über die-sen Antrag.Ich möchte an dieser Stelle die Regierung bitten – dasist eine ausdrückliche Bitte im Namen meiner Fraktion –,nicht nur auf die Handelsverzerrungen zu achten, wie esdie WTO betont, sondern auch die betroffenen Länderund die Nichtregierungsorganisationen einzubeziehen.Wenn Sie das tun, werden wir Ihre Arbeit nicht nur ent-sprechend würdigen und schätzen, sondern bei Gelegen-heit unsere Entscheidung in Richtung Zustimmung kor-rigieren, Frau Wieczorek-Zeul.
Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichversuche jetzt einmal, für etwas Entwirrung zu sorgen.Wir diskutieren jetzt nicht über einen Antrag, mit demversucht wird, die Ursachen des Hungers in der Welt zuerklären oder umfassende komplexe Hungerbekämp-fungsstrategien in den Vordergrund zu stellen. Wenn wirso eine Debatte führen, dann gehören natürlich die unge-rechten Handelsstrukturen oder auch die Konzentrationauf die ländliche Entwicklung in der Entwicklungszu-sammenarbeit dazu. Es gab – auch in der Kritik diesesAntrags – viele gute Vorschläge, aber es ist kein kom-plexer Hungerbekämpfungsantrag. Vielmehr konzentrie-ren wir uns hier auf ein Instrumentarium: auf die Nah-rungsmittelhilfe.Es ist manchmal schwer, zu erklären, dass es auf bei-den Seiten große Probleme gibt. Ganz aktuell gibt esdurch die dramatisch gestiegenen Lebensmittelpreise be-drohliche Engpässe. Es droht sogar die Einstellung derLuftbrücke nach Darfur. Die Essensrationen für 2 Mil-lionen Menschen werden bereits gekürzt, weil die Mit-telzusagen nicht ausreichen. Einige Rednerinnen undRedner haben das schon dargelegt. Das Welternährungs-programm ruft um Hilfe und sagt: Wir brauchen ganzschnell mehr Geld, um die Hungernden in Darfur nichtim Stich zu lassen.Angesichts dieser Krise ist es schwer, der Öffentlich-keit zu erklären, dass man auch auf der anderen Seitevom Pferd fallen kann. Es ist noch gar nicht lange her,dass in Afghanistan zu viel und auch falsch flankierteNahrungsmittelhilfe geleistet wurde, was dazu geführthat, dass Tausende von Bauern in den Ruin getriebenund die Märkte zerstört wurden. Es geht also darum, dieNahrungsmittelhilfe richtig zu flankieren und richtig do-siert einzusetzen.
Darum geht es in diesem Antrag. Das heißt, die negati-ven Effekte, die das Welternährungsprogramm in derVergangenheit mit ausgelöst hat, sind zu beenden. Kolle-gin Pfeiffer hat bereits dargestellt, dass Deutschland voreinigen Jahren die Konsequenzen gezogen hat undAgrarüberschüsse nicht mehr als Nahrungsmittelhilfeauf den Märkten der Dritten Welt ablädt. Das geschiehtanderweitig in Form von Agrarexporten, die subventio-niert werden – über den Schweinefleischexport werdenwir an anderer Stelle noch zu reden haben –, aber ebennicht mehr im Rahmen der Nahrungsmittelhilfe.Es geht darum, mit starker deutscher Unterstützungjetzt eine Konvention auf den Weg zu bringen, die dieseMängel der alten Nahrungsmittelhilfekonvention, dieaus den 60er-Jahren stammt, wirklich behebt.Wir als Fraktion der Grünen haben einen Antrag ein-gebracht. Ich freue mich, dass dieser Antrag nun einDrei-, Vier- oder vielleicht sogar noch ein Fünf-Fraktio-nen-Antrag wird, der von allen unterstützt wird. Es istklar, dass man in einem solchen Verfahren, in dem mandie Mehrheit für seinen Antrag bekommen möchte undin dem man mit anderen verhandelt, Kompromisse ma-chen muss. Aber die wichtigste Forderung, nämlich dasssich die neue Nahrungsmittelhilfekonvention zuallererstan dem Recht auf Nahrung auszurichten hat, an denMenschenrechten, und sie die Interessen und Bedürf-nisse der Hungernden in den Mittelpunkt stellt, nichtaber die Frage, wie hoch gerade die Getreideüberschüsseoder die Preise sind, steht an oberster Stelle in dem An-trag.
Auch die Beteiligung der Empfängerländer, die vorhernur eine Art Gaststatus hatten, und der NGOs ist enthal-ten. Es stimmt nicht, dass diese wieder ausgeladen wur-den.Die WTO soll nicht Mitglied der Nahrungsmittelhil-fekonvention, nicht Mitglied des Boards werden, aberbei der Regelung von Nahrungsmittelhilfe spielt dieWTO eine wichtige Rolle, ob wir das wollen oder nicht;denn über die WTO muss die handelsverzerrende, kom-merzielle Nahrungsmittelhilfe, also der Missbrauch vonNahrungsmittelhilfe, reglementiert werden. Gleichzeitigmuss innerhalb der WTO eine Safe Box geschaffen wer-den, die die wirkliche Nothilfe nicht behindert, sonderneffektiv gestaltet. Deswegen ist ein Konsultationsprozessnach wie vor notwendig.
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Thilo HoppeIch will aber nicht verschweigen, dass es bei zweiPunkten auch schmerzhafte Kompromisse gegeben hat.Wir meinen nicht, dass es den Erfordernissen der Zeitentspricht, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention beimInternationalen Getreiderat in London angesiedelt ist.Wir hätten uns gewünscht, dass sie unter das Dach derVereinten Nationen kommt. Es gibt nun zwar eine offeneFormulierung, die in diese Richtung zeigt, man drücktsich aber noch vor einer klaren Aussage.Der andere Punkt ist schmerzhafter. Diesen Kompro-miss machen wir nur mit Bauchschmerzen mit. Wir ha-ben gefordert, dass die Verpflichtungen der Geberländerso gestaltet werden, dass sie unabhängig von der Ent-wicklung der Getreidepreise sind. Darin waren wirFachpolitiker im AWZ uns einig. Die Haushälter der Ko-alition haben unsere Forderung herausgestrichen. Siehatten Angst davor, dass dann, wenn die Getreidepreisesteigen, wie es zurzeit der Fall ist, gewaltige Nachforde-rungen erforderlich würden. Ich denke, wir sollten nachwie vor für unsere Forderung streiten. Es geht hier umhumanitäre Hilfe, um Nothilfe, die buchstäblich Men-schenleben rettet. Die darf doch um Gottes Willen nichtdavon abhängig gemacht werden, wie hoch oder tief ge-rade der Getreidepreis ist.
Da bitte ich Sie alle, gerade die Fachpolitiker, die im Be-reich Entwicklungszusammenarbeit und der humanitä-ren Hilfe aktiv sind, weiter zu kämpfen. Ich bitte dieBundesregierung, eine entsprechende Position einzu-bringen und die humanitäre Hilfe nicht vom Getreide-preis abhängig zu machen.
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An-gesichts von weltweit 850 Millionen hungernden Men-schen, angesichts vielfältiger Kriege, Krisen und Kon-flikte, angesichts von Naturkatastrophen mag es deneinen oder anderen vielleicht wundern, dass die Praxisder Nahrungsmittelhilfe von den antragstellenden Frak-tionen teilweise sehr kritisch betrachtet wird. Das resul-tiert aus den Erfahrungen, die in der Vergangenheit viel-fach mit Nahrungsmittelhilfe gemacht worden sind.Manche Geber haben in der Vergangenheit das Instru-ment der Nahrungsmittelhilfe dazu benutzt, Agrarüber-schüsse auf einfache Art und Weise loszuwerden. DieKollegin Pfeiffer hat hier sehr deutlich Beispiele dafürgenannt.Auch auf der WTO-Konferenz in Hongkong spieltedieses Thema eine gewichtige Rolle. Beim Ringen umweltweit faire Handelsbedingungen im Agrarbereich wares die Forderung der EU, parallel zur angebotenen Ab-schaffung der Exportsubventionen auch die handelsver-zerrenden Praktiken von Staatshandelsunternehmen unddie Praxis, Nahrungsmittelhilfe zur Überschussbeseiti-gung zu benutzen, zu beenden. Der weitere Verlauf derWTO-Verhandlungen hat leider gezeigt, dass es bisherwenig Bereitschaft gab, auf diese Forderung einzugehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die WTO-Verhand-lungen sind der eine Schauplatz, auf dem über diesesThema verhandelt wird. Der andere Schauplatz ist dieNeuregelung der Nahrungsmittelhilfekonvention, die indiesem Jahr ansteht. Eine einjährige Verlängerung dieserKonvention bis 2009 ist möglich. Spätestens dann musses aber ein Ergebnis geben. Voraussetzung dafür wäreaber grünes Licht in Form eines entsprechenden Modali-tätenpapiers der WTO. Es gibt zarte, allerdings nur sehrzarte Signale, dass dies vielleicht noch in diesem Monatmöglich ist. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.Aber leider ist sie in der laufenden Welthandelsrunde,die ja eine Entwicklungsrunde sein sollte, schon zu oftgestorben.Die WTO-Verhandlungen sind – das wissen wir – ineiner wirklich schwierigen Phase. Viel zu viele letzteTermine sind schon verschoben worden. Wir brauchendeshalb zügig Vereinbarungen, die effizient und an denBedürfnissen der Betroffenen orientiert die Sicherungder Ernährung in Krisensituationen garantieren, Rege-lungen, die darauf ausgerichtet sind, die Probleme dernotleidenden Menschen und nicht die Überschusspro-bleme der Geberländer zu lösen.Die Perspektiven der Welternährung sind von einerReihe schwieriger Entwicklungen gekennzeichnet – wirhaben das teilweise schon gehört –:Erstens. Die Weltbevölkerung steigt rasant und damitauch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln.Zweitens. Die Preise für Weizen, Reis, Mais und Soja,also für Grundnahrungsmittel, sind im letzten Jahrenorm gestiegen. In Afghanistan zum Beispiel kostet derWeizen im Moment fast 70 Prozent mehr als vor einemJahr.Drittens. Der Nahrungsverbrauch in den Boomregio-nen der Schwellenländer steigt, weil dort immer mehrFleisch konsumiert wird.Viertens. Die Auswirkungen des Klimawandels sindbereits jetzt durch einen Rückgang der Anbauflächenund durch Ernteausfälle spürbar. Das wird in Zukunftnoch schwieriger werden.Fünftens. Wir erleben einen massiven Ausbau des Bio-spritanbaus, wenn ich das einmal so bezeichnen darf –eigentlich ein Instrument gegen den Klimawandel, dasaber global zu einer Verdrängung der Nahrungsmittel-produktion führt.Angesichts dieser Rahmenbedingungen wird esschwierig sein, die Millenniumsziele tatsächlich zu er-reichen. Gerade deshalb ist es so wichtig, bei der Nah-rungsmittelhilfekonvention möglichst rasch zu einemErgebnis zu kommen. Wir begrüßen nachdrücklich, dassdie Bundesministerin Wieczorek-Zeul sich dafür konse-quent eingesetzt hat und einsetzt. Die Ausrichtung derinternationalen Konferenz zur Nahrungsmittelhilfe in
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Manfred ZöllmerBerlin im letzten Jahr hat dies deutlich gemacht. DieseKonferenz hat wichtige Anregungen für eine umfas-sende Food Assistance Convention gegeben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird immer deut-licher: Die Situation in der Landwirtschaft hat sich ver-ändert. Zukünftig werden wir kaum noch vor dem Pro-blem der Überschussbeseitigung stehen. Unser Problemwird das des weltweiten Mangels an Nahrungsmittelnsein.Der vorliegende Antrag dreier Fraktionen – die FDPwird zustimmen; ich begrüße das – reflektiert dieseSituation und fordert eine Neuausrichtung der Nahrungs-mittelhilfe.
Die Hilfe darf nicht handelsverzerrend sein wie oftmalsin der Vergangenheit. Der Vorschlag, im Rahmen desAgrarabkommens der WTO eine Safe Box zu schaffen,ist richtig. Dies kann sicherstellen, dass in Notfällen un-bürokratisch, schnell und zielgenau geholfen werdenkann.Diese Hilfe darf nicht zu einem Zusammenbruch re-gionaler Märkte führen. Der Erhalt der Existenzgrundla-gen der Kleinbauern ist eine zentrale Voraussetzung, umlängerfristig die Versorgung mit Lebensmitteln aus eige-ner Kraft sicherzustellen. Das muss das Ziel sein.
Die WTO muss deshalb jetzt die Kraft haben, ein ver-nünftiges Modalitätenpapier vorzulegen. Dazu müssensich besonders die USA bewegen. Dann muss es zügigeine Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonven-tion geben. Wir brauchen ein gutes Ergebnis, und wirbrauchen es schnell, im Interesse der betroffenen Men-schen. Der vorliegende Antrag weist in die richtigeRichtung.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD
und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine neue,
effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausge-
richtete Nahrungsmittelhilfekonvention“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/8485, den Antrag auf Drucksache 16/8192 anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan
nutzen
– Drucksache 16/8501 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Grünen fünf Minuten erhalten sollen. Gibt es Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf demBukarester Gipfel der NATO wird eine Reihe von wich-tigen Fragen diskutiert. Es geht um die Frage einerneuen Raketenabwehr in Europa. Wir sind dezidiert derAuffassung, dass diese abrüstungspolitisch kontrapro-duktiv wäre;
denn sie würde eine schwere Belastung unseres Verhält-nisses zu Russland darstellen.Das Drängen der Ukraine und Georgiens auf Auf-nahme in die NATO, das sich auch in der Tagesordnungwiderspiegelt, dürfen wir angesichts der ungeklärtenKonflikte in diesem Bereich nicht durch unnötige Si-gnale ermuntern.Der Kern der Auseinandersetzung ist die Frage: Wiegeht die NATO mit dem ISAF-Einsatz in Afghanistanum? Hier muss es – da kann es nicht nur bei Ankündi-gungen bleiben – tatsächlich einen Strategiewechsel ge-ben.
Die jüngst veröffentlichten Zahlen und Statistiken unter-streichen das mit einem ganz bitteren Nachdruck. 2007gab es gewaltbedingt 8 000 Tote, darunter 1 500 Zivilis-ten. Das war das blutigste Jahr seit dem Sturz der Tali-ban. Die sogenannten Oppositionellen Militanten Kräftehaben im Jahr 2007 160 Selbstmordattentate verübt.Man muss in aller Deutlichkeit sagen: Die meisten getö-teten Zivilisten sind Anschlägen von Aufständischenund nicht kriegerischen Aktionen der internationalenGemeinschaft zum Opfer gefallen.
Es ist ein Irrtum – das muss man an dieser Stelle im-mer wieder sagen –, zu glauben, es würde weniger Krieg
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Jürgen Trittingeben, wenn die internationale Gemeinschaft dort abzie-hen würde. Im Gegenteil: Afghanistan würde in jenenBürgerkrieg zurückfallen, in dem es sich 30 Jahre langbefunden hat.
Natürlich ist auch jedes zivile Opfer, das durch Han-deln von NATO-Soldaten dort verantwortet wurde, einOpfer zu viel. Es delegitimiert die internationalen Bemü-hungen für einen Aufbau. Deswegen bedarf es diesesStrategiewechsels.In Bukarest soll über einen umfassenden strategisch-politisch-militärischen Plan gesprochen werden. Ichsage in aller Deutlichkeit: Es darf nicht bei einem Planbleiben. Der Strategiewechsel, über den in allen Gre-mien geredet wird, muss endlich am Boden in Afghanis-tan ankommen. Er muss für die Menschen in Afghanis-tan spürbar und erfahrbar sein. Er muss dort praktiziertwerden.
Dazu gehört eine gemeinsame Strategie mit der af-ghanischen Regierung für den Umgang mit den Opposi-tionellen Militanten Kräften. Dazu gehört eine verbes-serte und verstärkte Aufbauleistung. Dazu gehört, dassdie Defizite im Bereich des Polizei- und Justizaufbaus,der Drogenbekämpfung und der Demobilisierung end-lich angegangen werden.
Wir müssen endlich klarstellen, wer hier in welchen Be-reichen die Verantwortung und die Federführung hat.Ich denke, dass dem neuen zivilen Koordinator, HerrnEide, dabei nur eine glückliche Hand zu wünschen ist.Wir wünschen uns, dass er die Defizite, die gerade im zi-vilen Bereich aufgetreten sind, mit unser aller Unterstüt-zung bewältigen wird.
Die vielfach zitierte vernetzte Sicherheit muss aber inder Tat am Boden verwirklicht werden. Dazu gibt es eineGrundvoraussetzung, auf der wir mit allem Nachdruckbeharren, Herr Erler. Es kann nicht sein, dass neben derNATO-Operation, die dort auf der Basis eines Mandatsder Vereinten Nationen durchgeführt wird, eine weitere,davon unabhängige Militäroperation stattfindet. Dasstellt alle Bemühungen zur Erreichung eines einheitli-chen Konzeptes der vernetzten Sicherheit auf den Kopf.
Wenn Sie in dieser Frage mit den USA verhandelnund reden wollen, die der Hauptansprechpartner sind,dann sage ich in dem Bewusstsein, dass die USA aucheiner der größten zivilen Hilfeleister in Afghanistansind: Sie müssen auch die Bereitschaft haben, in anderenDingen Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht inerster Linie in Bereichen der Fall, die, wie die Bundes-kanzlerin es gesagt hat, mit mehr Gefahren verbundensind. Vielmehr glaube ich, dass die USA über einen sol-chen Strategiewechsel nur reden werden, wenn dieNATO bereit ist, tatsächlich das zu übernehmen, wasOEF bisher gemacht hat, nämlich die Ausbildung derafghanischen Armee. Deswegen sage ich Ihnen: DieFrage eines Strategiewechsels in Bukarest wird sich inder Antwort auf die Frage materialisieren, ob Sie esschaffen werden, in einem ersten Schritt das Nebenei-nander zu beenden, damit die Ausbildung der afghani-schen Armee künftig von ISAF – von der NATO –durchgeführt wird und nicht mehr unter dem Dach vonEnduring Freedom steht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, derheute vom Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wird, gibtdie Gelegenheit, noch einmal die Situation in Afghanis-tan genau in Augenschein zu nehmen. Bei allen bedauer-licherweise festzustellenden tragischen Ereignissen undbei allem, was der Kollege Trittin richtigerweise gesagthat, finde ich, dass wir das, was erreicht worden ist,nicht kleinreden sollten.
Es ist durchaus so, dass sich die Situation in Afghanistanin vielen Bereichen nicht unwesentlich verbessert hat. Esgibt inzwischen 4 Millionen Afghanen, die Zugang zuTrinkwasser haben. Es gibt viel mehr Menschen, die Zu-gang zu Infrastrukturleistungen wie Stromversorgunghaben. Es ist wieder möglich, dass junge Mädchen inSchulen gehen. Vieles andere ist ebenfalls möglich. In-sofern gehört das zur Komplettierung des Bildes dazu.Wir haben es mit einem sehr schwierigen und sehr kom-plexen Bild zu tun. Es gibt aber auch Erfolge, und diedürfen wir nicht kleinreden.
In diesem Zusammenhang müssen wir, so glaube ich,auch die Frage stellen, wie unser eigenes Engagementaussieht. Hierüber ist sehr viel diskutiert worden. DerDruck, der von der NATO auf uns ausgeübt wird, ist sehrgroß, wenn es um die Frage von zusätzlichen Truppen-stellungen geht. Ich finde, auch hier muss man feststel-len: Wir sind mit 3 500 Soldaten der drittgrößte Trup-pensteller in Afghanistan. Wir sind der viertgrößte Geberin Afghanistan, wenn es um die Mittel für humanitäreHilfe und Entwicklungszusammenarbeit geht. Das sindimmerhin beinahe 900 Millionen Euro. Das ist keineKleinigkeit. Ich finde, auch das gehört zu dieser Debatte.
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Holger HaibachWenn man ein neues Konzept der vernetzten Sicher-heit fordert, dann ist das sicherlich ganz im Sinne all de-rer, die sich hier im Hause mit dem Thema beschäftigen.Es ist aber auch im Sinne dieser Bundesregierung; dennsie ist ebenso wie die Vorgängerbundesregierung dieje-nige gewesen, die dieses Konzept der vernetzten Sicher-heit in die Diskussion eingebracht und dafür gesorgt hat,dass es überhaupt zum Thema gemacht worden ist.Wie sehr dies inzwischen zu einer allgemeinen Über-zeugung geworden ist, kann man sehr deutlich an demerkennen, was der NATO-Generalsekretär bei der Kom-mandeurstagung der Bundeswehr gesagt hat. Diese Redewar in vielerlei Hinsicht ausgesprochen bemerkenswert.
Wir würden vieles nicht teilen. Aber er hat etwas gesagt,was ich für einen NATO-Generalsekretär sehr bemer-kenswert finde. Ich möchte einmal zitieren, was er zu derDebatte über die Strategie in Afghanistan ausgeführt hat:Für mich jedenfalls beweist diese Diskussion, dasswir unseren Anspruch, die Lehren aus den sicher-heitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahregezogen zu haben, noch nicht wirklich eingelöst ha-ben.Er identifiziert dann insgesamt vier Bereiche, derenBeachtung er für notwendig hält, um das Konzept dervernetzten Sicherheit herzustellen: Erstens. Das Überle-ben eines Staates kann heute von Entwicklungen abhän-gen, die sich gänzlich innerhalb der Grenzen eines ande-ren Staates abspielen. – Deswegen ist die Frage, einfachaus Afghanistan zu verschwinden, für uns natürlichkeine Alternative. – Zweitens. Terrorismus des21. Jahrhunderts hat keine Armee und kein Aufmarsch-gebiet. Drittens. Die überkommenen Vorstellungen vonAbschreckung sind hinfällig geworden, weil Staaten einanderes Interesse haben als staatenlose Terroristen oderGruppen in zerfallenden Staaten. Viertens. Die Verbrei-tung von Massenvernichtungswaffen hat einen neuen,sehr bedauerlichen Grad erreicht.
Daraus zieht er die Konsequenz – ich zitiere –:Wir müssen sicherstellen, dass die militärischeTransformation unserem breiter gefassten Verständ-nis von Sicherheit entspricht … von Peacekeepingbis zum Kampfeinsatz …Nun kann man darüber reden, wie schnell so etwasumgesetzt wird und inwieweit das alle Partner teilen.Nur, eines ist auch klar: Vor 15 oder 10 Jahren hätte einNATO-Generalsekretär wahrscheinlich nicht in dieserArt und Weise gesprochen. Das ist sicherlich zum gro-ßen Teil auch ein Erfolg der Debatte und des Handelns inDeutschland.Nichtsdestoweniger finde ich, dass der Antrag derGrünen wichtige und richtige Punkte benennt. Das ist si-cherlich zum einen die Frage des Aufbaus ziviler undmilitärischer Strukturen in Afghanistan. Hier haben wirnoch einiges zu tun, sowohl mit Blick auf die Armee alsauch mit Blick auf die Polizei. Wenn man sich auf der ei-nen Seite das – rein personell gesehen – Engagement derEU zum Beispiel im Kosovo und auf der anderen Seitedas Engagement beim Aufbau der Polizei in Afghanistananschaut und einmal die Größe dieser Länder und dieBevölkerungszahlen miteinander vergleicht, dann er-kennt man, dass wir hier alle gemeinsam noch einiges zutun haben.
Richtig in dem Antrag ist auch, dass wir die Nachbar-länder mehr in den Blick nehmen müssen. Bei Pakistanist das relativ klar, wobei Pakistan auch der schwierigsteFall ist. Seien wir einmal ehrlich: Eine wirklich vernünf-tige Lösung gibt es noch auf keiner Seite; denn Pakistanselber befindet sich in einer extrem schwierigen politi-schen Situation. Hinzu kommt, dass der Staat in denTribal Areas an den Grenzen keine wirkliche Durch-griffsmacht hat, zumindest soweit wir das bis jetzt be-obachten können.Es gilt sicherlich für den Iran, aber auch für die zen-tralasiatischen Staaten, für Turkmenistan und Usbekis-tan, im Zusammenhang mit der Frage von Drogentrans-portwegen und des grenzüberschreitenden Kampfesgegen den Terrorismus. Es gilt auch für Indien. Wennwir über Pakistan und Afghanistan reden, dann müssenwir auch darüber reden, wie wir Indien an diesem Pro-zess beteiligen können. Dass dafür in Deutschlanddurchaus Verständnis herrscht, zeigt die deutsche G-8-Initiative zum afghanisch-pakistanischen Dialog an die-ser Stelle.Insofern glaube ich, dass wir beides zu tun haben: Aufder einen Seite müssen wir die Konsequenz der Politikder vernetzten Sicherheit einfordern, die alle Partner an-erkennen müssen, und auf der anderen Seite muss das,was erreicht worden ist, stabilisiert werden, und die Eng-pässe, die es eben gibt, müssen beseitigt werden. Das istnicht allein eine Frage des Geldes. Vielmehr lautet dieFrage: Wie können wir die Strukturen in Afghanistan sogestalten, dass das Land tatsächlich in der Lage ist, das,was wir ihm an Hilfsmitteln – sei es in Form von Geldoder in anderer Form – bieten können, vor Ort umzuset-zen?Eine letzte Bemerkung möchte ich zur Frage derMandate machen. Alle diejenigen, die sich mit den bei-den Mandaten beschäftigen, wissen, dass es nicht ganzeinfach ist, OEF und ISAF miteinander zu verbinden.Denn an OEF hängt noch die Operation Active Endea-vour. Außerdem ist das Mandatsgebiet von OEF wesent-lich größer als „nur“ die Fläche von Afghanistan. Alleindas bereitet schon gewisse Schwierigkeiten.Darüber hinaus bin ich auch nicht der Meinung, dasseine Zusammenlegung der Mandate eine unabdingbareVoraussetzung für bessere Verhältnisse und für eine Poli-tik der vernetzten Sicherheit ist. Es hat schon Gebieteund Länder gegeben, in denen Truppen mit unterschied-lichen Mandaten wirkungsvoll zusammengearbeitet ha-
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Holger Haibachben. Es ist durchaus möglich, auf diese Weise erfolg-reich zu arbeiten.
Ich denke, der uns heute vorliegende Antrag bietetviele bedenkenswerte Ansätze und Punkte, über die wirin den Beratungen reden müssen. Aber wir sollten im-mer im Blick haben, dass wir nicht alleine auf der Weltsind. Wir können Vorschläge machen, aber zum Schlusswird in der NATO kollegial entschieden. Bei allem, wasin Afghanistan bedauerlicherweise nicht so funktioniert,wie wir es gerne hätten, dürfen wir nicht vergessen, dasswir auch einiges erreicht haben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hellmut Königshaus
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grü-nen haben recht: Wir brauchen einen Kurswechsel, ge-nauer gesagt: Die Grünen brauchen einen Kurswechsel.Herr Trittin ist offenbar – das zeigt sein Beitrag – schonauf diesem Weg. Nur hat seine Auffassung leider relativwenig mit dem Antrag zu tun. Wahrscheinlich hat HerrTrittin das Herumgeeiere und das Vorbringen vonScheinargumenten, wie zuletzt auf der Bundesdelegier-tenversammlung seiner Partei geschehen, satt. Seinwohltuender Redebeitrag vorhin war fast schon staatstra-gend. Es wäre schön, wenn dies die gemeinsame Liniealler Grünen wäre. Aber der vorliegende Antrag setztnoch die alte, die unklare Linie fort: von allem etwas undimmer ein bisschen das Gegenteil davon; einerseits einbisschen Nachtwei, andererseits ein bisschen Zion undirgendwo dazwischen Herr Trittin.
Beispiel: Die NATO und damit auch die Bundeswehrsollen die Ausbildung der afghanischen Armee überneh-men. So steht es im Antrag. Aber es ist kein Wort da-rüber enthalten, dass dies notwendigerweise mit einerAufstockung sowohl beim Personal als auch beim Mate-rial verbunden ist. Was heißt dies überhaupt konkret?Soll die Bundeswehr auch im Süden, vielleicht auchnoch im Osten und im Westen ausbilden? In dem Antragfindet sich dazu kein Wort. Oder sollen das wieder nurdie anderen machen? Wir Deutschen machen immerVorschläge, und die anderen sollen sie dann umsetzen.Das wird auf Dauer nicht auf Begeisterung stoßen undauch nicht umsetzbar sein.
Es gibt hinreichend Grund, umzusteuern. Ich freuemich – wir haben das eben im Beitrag des KollegenHaibach gehört; Detlef Dzembritzki wird es wahrschein-lich ebenfalls erwähnen –, dass es in der Koalition dieErkenntnis gibt, dass wir etwas verändern und den Tatsa-chen ins Auge sehen müssen. Es gibt eben eine sich un-bestreitbar verschärfende Krise in Afghanistan, die ein„Weiter so“ verbietet.Die breite Masse der Menschen in Afghanistan – auchdas wurde schon vorhin deutlich – spürt einfach keineVerbesserung ihrer Situation. Der Wiederaufbau kommtnicht voran; die Wirtschaft entwickelt sich nicht – undwenn, dann nur im Bereich der Drogenproduktion unddes Drogenexports. Überall greift die Korruption umsich und zerstört jede nachhaltige Entwicklung. DerZentralregierung gelingt es überhaupt nicht, ihren Ein-fluss auf die Provinzen und damit auf das ganze Landauszudehnen.Deutschland und die internationale Gemeinschaftdürfen deshalb das afghanische Volk in dieser kritischenPhase nicht im Stich lassen. Die Entwicklungs- und Si-cherheitsstrategie müssen so angepasst werden, dass dieMenschen eine schnelle und spürbare Verbesserung ihrerSituation empfinden.Der NATO-Gipfel bietet eine gute Gelegenheit, denNATO-Partnern und ihren Parlamenten und Regierun-gen, aber auch uns selbst ins Gedächtnis zu rufen, wiewichtig ein stärkeres Engagement in Afghanistan ist.Wir dürfen uns in Afghanistan kein Scheitern leisten.Das gilt sowohl für die militärische als auch für die zi-vile Seite, den zivilen Aufbau. Viel zu wenig ist gesche-hen, um die Friedensdividende spürbar zu machen. Auchwir Deutschen müssen uns vorwerfen, dass unsere Bei-träge auf dem zivilen Sektor viel zu gering sind.
Wenn wir die deutschen Beiträge mit den Leistungen derUSA oder Kanadas vergleichen, dann müssen wir fest-stellen, dass sie viel zu gering sind. Aber wir hören jaauch immer wieder die Argumentation, dass wir militä-risch nicht mehr tun müssten, weil wir ja schon diesenBeitrag zum zivilen Aufbau leisten.Viel zu gering ist unser Beitrag auch im Vergleich zudem, den wir in anderen Ländern leisten, in denen wiraktiv sind, die für uns aber keine so strategische Bedeu-tung haben und die nicht so fragil sind wie Afghanistan.Warum bekommt beispielsweise China immer noch soviel Hilfe? Nach der ODA-Quote bekommt China187 Millionen Euro; für Afghanistan sind 125 MillionenEuro – wenn das denn so ist; im Haushaltsplan ist jeden-falls nichts davon zu finden – vorgesehen.
Ausgewogenheit und Schwerpunktsetzung sind dabeinicht zu erkennen.Der zivile Aufbau ist auch der Schlüssel zur Drogen-bekämpfung. Wir haben eben gehört, welche wichtigeRolle dieses Thema spielt. Die Menschen brauchen alter-native Einkommensmöglichkeiten, anders geht es nichtvoran. Noch sind die Menschen, die in großer Masse aufdem Land leben, auf die Drogenproduktion angewiesen.Wir müssen ihnen helfen.
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Hellmut KönigshausBei den Aufgaben, die wir im Bereich der Polizeiaus-bildung und im Übrigen auch im Bereich der militäri-schen und sonstigen Sicherheit übernommen haben, ha-ben wir versagt. Darauf ist schon mehrfach hingewiesenworden, ich will das nicht weiter vertiefen.Weshalb ist der NATO-Gipfel so wichtig? Die NATOist ja nicht nur ein militärisches, sondern auch ein politi-sches Bündnis. Die NATO ist der richtige Ort, um dieseThemen anzusprechen. Gott sei Dank werden sie ja auchangesprochen. Wir sollten dort insbesondere auch übereine bessere Verzahnung von OEF und ISAF sprechen.Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, alsgebe es eine gute und eine schlechte Mission und als obSie, die Grünen, gegen die schlechte Mission kämpftenund der ganze Rest der Welt auf dem Weg des Bösen sei.Nein, beides gehört zusammen: Ohne Bekämpfung desTerrors, ohne eine Sicherung durch OEF-Mission geht esnicht. Und wenn die OEF es nicht macht, dann müsste esdie ISAF tun. Aber das wollen Sie ja auch nicht. Des-halb: Kommen Sie endlich zu einer klaren Aussage da-rüber, was Sie wirklich wollen. Dieser Antrag zeigt esuns nicht. Er soll nichts anderes bezwecken, als die nachwie vor bestehende Unklarheit bei der Ausrichtung in-nerhalb der grünen Partei zu verkleistern. Dafür ist die-ses Thema weiß Gott zu ernst.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ImGegensatz zu Herrn Königshaus möchte ich mich zu-nächst einmal zumindest bei einem Teil der Opposition– nämlich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – bedan-ken. Denn in dem von Ihnen vorgelegten Antrag sprechenSie durchaus Aspekte an, die in die richtige Richtung wei-sen. Mein Bemühen – lieber Kollege Königshaus, wirkennen uns schon lange; und Sie wissen, dass ich Sieschätze – ist eigentlich immer gewesen, hier im Haus einemöglichst große Schnittmenge von Gemeinsamkeitenherzustellen. Gerade in der Afghanistan-Debatte solltenwir den Versuch unternehmen, das beizubehalten. Ausunserer Sicht verfolgen Sie in Ihrem Antrag wichtigePunkte, die auch wir verfolgen. Es ist gut, wenn wir dasgemeinsam feststellen und weiter an diesem Thema ar-beiten. Das schließt natürlich nicht aus, dass in einigenPunkten Differenzen und Diskussionsbedarf bestehen.Sie fordern von der Bundesregierung, sich auf demNATO-Gipfel in Bukarest für einen Kurswechsel einzu-setzen. Sie werden nicht überrascht sein, dass wir durch-aus meinen, dass sich die Bundesregierung in diesemBereich schon eingebracht hat. Beispielsweise ist das,was auf dem NATO-Gipfel in Riga passiert ist, auch aufden Einsatz der Bundesregierung zurückzuführen. Beidem Werben für einen zivil-militärischen Ansatz, derauch in Bukarest eine Rolle spielen wird, sind wichtigeImpulse von deutscher Seite ausgegangen. Ich will damitnicht sagen, dass das unsere Erfindung ist, aber wir wa-ren wesentlich daran beteiligt.Interessant und – wenn Sie so wollen – erfreulich istauch: Wenn man zum Beispiel im NATO-Hauptquartierin Brüssel Diskussionen mit den Militärs und den zivilenSpitzen führt, dann hört man überall: Wir brauchen dengemeinsamen Ansatz, den Comprehensive Approach. –Das ist geradezu ein sehnlicher Wunsch, der von der Po-litik auch erfüllt werden muss. In diesem Bereich mussin Bukarest einiges passieren. Das will ich deutlich un-terstreichen.Herr Kollege Trittin, Sie sind anlässlich des Gipfels inBukarest eingangs auf das Thema NATO-Erweiterungeingegangen. Mir ist dabei die Kommandeurstagungdurch den Kopf gegangen, an der ich teilgenommenhabe und auf dem sich die Bundeskanzlerin und derNATO-Generalsekretär zu dieser Frage und auch zu Af-ghanistan geäußert haben. Das Interessante war: Als icham nächsten Tag die Zeitung las, habe ich mich gefragt,bei welcher Veranstaltung ich gewesen bin, weil ich dieAuftritte des Generalsekretärs und der Kanzlerin als ein-vernehmlicher wahrgenommen hatte, als das nach außentransportiert wurde.Deswegen sollten wir auf dieser Konferenz in Buka-rest mit einem gewissen Selbstbewusstsein auftreten, umdort unseren Ansatz zu vertreten. Dabei müssen wir un-seren Anteil, den wir in Afghanistan leisten, immer imHinterkopf haben. Wir wissen, dass der militärische Teilnotwendig ist, um, wenn man so will, Zeit zu erkaufen,um den zivilen Aufbau zu ermöglichen. Wir wissen aberauch, dass der zivile Aufbau den entscheidenden Anteilunserer Arbeit in Afghanistan haben muss.Dabei darf man aber auch nicht übersehen – manch-mal ist das offensichtlich der Fall –, dass das, was militä-risch im Norden geleistet wird, nicht ohne Risiko ist unddass auch unsere Soldatinnen und Soldaten im Zweifelzu Handlungen herausgefordert sind, die man durchausals Kampfhandlungen bezeichnen kann. Hier so zu tun,als ob sie dort technische Hilfe zu leisten hätten, wäreabsurd und würde der Öffentlichkeit Sand in die Augenstreuen, wenn es darum ginge, zu beschreiben, was inAfghanistan zu leisten wäre.Interessant ist aber auch etwas anderes. Ich bitte Sie,davon Kenntnis zu nehmen. Herr Königshaus, Sie sagenpauschal, bei den Menschen in Afghanistan sei nichtsangekommen. Das sollten wir ein Stückchen differen-zierter sehen. In diesem Zusammenhang – das habe ichhier schon gesagt – gibt es drei interessante Untersu-chungen in dieser Sache.
– Dann ist es ja gut. Ich will hier aber von dieser Stelletrotzdem sagen, dass 70 Prozent der Menschen in Afgha-nistan den internationalen Einsatz im zivilen wie im mi-litärischen Bereich für sich persönlich als wichtig undwertvoll ansehen und dass sie ihre Lebenssituation, ver-
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Detlef Dzembritzkiglichen mit 2001, als deutlich verbessert betrachten.Auch das muss einmal in die Köpfe transportiert werden.
Diese Diskussion über Afghanistan führen wir sehrhäufig. Ich kann inzwischen schon nicht mehr zählen,wie oft ich hier schon über Afghanistan gesprochenhabe.
Aber wenn die Kolleginnen und Kollegen zum fünftenMal das gleiche Beispiel vortragen, dann ist nicht fünf-mal etwas Schlechtes oder Gutes geschehen, sondern wirmüssen zur Kenntnis nehmen, dass dort ein Prozess ab-läuft und wir an diesem Prozess im Guten – hoffentlichweniger im Bösen – beteiligt sind und dabei durchausErfolge zu verzeichnen haben.Sie haben – das ist für mich nicht überraschend, dawir diese Frage häufig diskutieren – OEF und ISAF an-gesprochen. Man sollte sich davor hüten, OEF mit demEtikett „böse“ und ISAF mit dem Etikett „gut“ zu verse-hen. Schauen Sie sich zum Beispiel an, dass OEF we-sentlicher Träger der Ausbildung der afghanischen Ar-mee ist. Diese Aufgabe wollen sie jetzt an ISAF und dieNATO übertragen. Ich weiß gar nicht, ob dafür die Ka-pazitäten vorhanden sind. Hier ist mit Sicherheit Diskus-sionsbedarf und ein Abwägungsprozess notwendig, wiewir eigentlich die Herausforderungen, die nach wie vorim Süden bestehen, meistern wollen, welche Instrumentewir dafür zur Verfügung haben und wie andererseits derwichtige Bereich der Ausbildung unterstützt werdensoll.Das, was ich als absolut notwendig ansehe, ist, dassvon der Konferenz in Bukarest vonseiten der NATO einSignal in Richtung der Europäischen Union, aber nochmehr in Richtung der Vereinten Nationen dahin gehendausgeht, wie die Zusammenarbeit verbessert und unter-einander abgestimmt werden kann, um zum Beispiel dieZiele und Vorgaben des Afghanistan Compacts zu errei-chen, der nach wie vor die wichtigste Roadmap, diewichtigste Vorgabe für die Entwicklung in Afghanistanist. Wichtig ist auch, dass wir die Konferenzen in Buka-rest und Paris über Afghanistan miteinander verbindenkönnen, sodass die NATO in der Bilanzierung deutlichmachen kann, welche Dinge sich in ihrer Verantwortungnicht entwickelt haben. Andererseits muss gezeigt wer-den, wie Europäische Union und Vereinte Nationen inihrer zivilen Leitungsfunktion unterstützt werden kön-nen, um diese Aufgaben zu erfüllen.Ich will an dieser Stelle ansprechen, dass die Bereit-stellung von Polizei und das Funktionieren der Justizwesentliche Voraussetzungen dafür sind, dass innere Si-cherheit entstehen kann. Aus einem Bericht im Auswär-tigen Ausschuss – wir alle haben ihn bekommen – gehtzwar hervor, dass 55 000 Polizisten zur Verfügung ste-hen. Ich unterstelle einmal, dass diese Zahl zutreffendist. Es fehlen dann aber immer noch 30 000. Man musssich also darüber Gedanken machen, wie man die Aus-bildung forciert.Dazu sage ich: Wenn notwendig, müssen wir im Par-lament bereit sein, die Entscheidung zu treffen, dass dieRegierung mehr Geld zur Verfügung hat, um diese Auf-gabe zu übernehmen. Das ist dann eine temporäre He-rausforderung, die man mit entsprechenden Haushalts-mitteln angehen muss. Wir können uns auf keinen Fallbei den Amerikanern darüber beklagen, dass sie etwastun und wie sie etwas tun, wenn wir von unserer und eu-ropäischer Seite aus nicht in der Lage sind, uns mit demgleichen materiellen und personellen Einsatz einzubrin-gen.So gesehen, können wir eine Partnerschaft auf glei-cher Augenhöhe in Bukarest wie in Paris nur dann errei-chen, wenn wir uns den Verpflichtungen stellen undnicht kleinliche Diskussionen darüber führen, wie aufParteitagen bestimmte Dinge abgelaufen sind. Wir Parla-mentarier müssen vielmehr die Gesamtverantwortungübernehmen, indem wir einerseits unsere Regierung soausstatten, dass sie handeln kann, und sie andererseits zueinem kritischen Dialog auffordern und ihr sagen: In Bu-karest ist die NATO im Hinblick auf Afghanistan zu ei-nem Erfolg verpflichtet.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhatte Ihnen ja beim letzten Mal prophezeit, dass wir Sit-zungswoche für Sitzungswoche über Afghanistan disku-tieren werden. Ich habe gar nicht gedacht, dass sich dasso schnell erfüllt.
Es wird so sein, dass uns dieses Thema noch lange sehrkontrovers beschäftigen wird.Die NATO will auf ihrem Gipfel in Bukarest einenumfassenden, strategischen, politisch-militärischen Planfür Afghanistan beschließen. Nur, das Interessante daranist: Sie will diesen Plan nicht veröffentlichen, weil er ge-heim ist. Man will also etwas beschließen, will es abernicht öffentlich machen, weil es geheim ist. Wenn dasein neues strategisches Konzept ist, dann muss ich michdoch sehr wundern.
Als Erstes sollte der Deutsche Bundestag souveränsagen: Wir wollen, dass dieser umfassende militärisch-strategische Plan auf den Tisch kommt und öffentlichwird, damit man darüber reden kann.
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Wolfgang GehrckeWas ist denn das für eine Politik, etwas zu beschließenund es nicht öffentlich zu machen? Zumindest das kön-nen wir von der Regierung fordern.Die NATO wird in Bukarest weiter Druck nach mehrMilitär und neuem Kriegsgerät machen, weil sie diestärkste kriegführende Partei ist. Das liegt bereits auf demTisch; die Forderungen sind bekannt. Auf dem Gipfel inBukarest wird es im Prinzip auch ein Ja zur Stationierungeines Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechiengeben. Zudem wird es eine Öffnung zur Aufnahme vonGeorgien und der Ukraine in die NATO geben. Auch dasist mittlerweile bekannt. Man wird diesen Schritt nochnicht vollziehen, aber die Tür aufmachen.Ich erwarte aber kein neues strategisches Konzept, dasauch in der Frage Afghanistan einen tatsächlichen Wan-del mit sich bringt. Ich will ganz deutlich sagen – hier ha-ben wir Linken eine Grunddifferenz zu dem Vorschlagder Grünen –: Ein strategisches Konzept kann dann nichtneu sein, wenn es nicht die Bereitschaft zum Truppenab-bau, zum Truppenabzug vorsieht.
Dazu gibt es ja überhaupt keine Überlegungen. Wenndies nicht geschieht, dann gibt es kein neues strategi-sches Konzept. Man kann zwar einzelne Punkte benen-nen; aber zu einem neuen Konzept kommt man nicht.Man wäre blind, wenn man nicht erkennen würde,dass die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATOzunehmen, dass auch die mit der Bundesregierung ge-führte Debatte intensiver wird. Ich finde es schon inte-ressant, dass sich die Kollegen dazu bislang nicht geäu-ßert haben. Einmal klar gesagt: Ich fand den Auftritt desNATO-Generalsekretärs auf der Kommandeurstagunghier in Berlin und die Art und Weise, wie mit unseremLand umgegangen worden ist, dreist.
Die Antwort des Verteidigungsministers Jung lautete – ichwill ihn einmal wörtlich zitieren; damit das auch korrektist –, Auslandseinsätze würden voraussichtlich das Auf-gabenspektrum der Bundeswehr in Zukunft in noch stär-kerem Maße bestimmen. Was heißt denn das? Er hat dieTür für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr aufge-macht und nicht etwa zugemacht. Das ist die Botschaft.Ich habe ihn wörtlich zitiert.Jetzt steht die Bundesregierung unter Druck. Das ver-stehe ich auch. Sie weiß ganz genau, dass die Mehrheitder deutschen Bevölkerung mit ihrer Afghanistanpolitiknicht einverstanden ist. Sie spürt den Druck der USAund taktiert in dieser Situation. Diesem Druck muss sieja Rechnung tragen.Ich will Ihnen einmal etwas vorhalten, was gestern imHandelsblatt zu lesen war:Und bei einer Umfrage in Deutschland fordertenzwei Drittel der Befragten einen Rückzug aus Af-ghanistan noch in diesem Jahr. Die Nato hat denRückhalt bei den Bürgern verloren.
Das schreibt das Handelsblatt; das sagen nicht wir. Dasist aber eine exakt richtige Einschätzung. Mit der Fort-setzung der jetzigen NATO-Politik werden Sie denRückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht zurück-erobern. Das ist auch nicht unser Ziel, sondern wir wol-len einen tatsächlichen Wandel in der Politik.
Da Ostern vor der Tür steht, nutze ich die Gelegen-heit, alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu bit-ten, an den Ostermärschen der Friedensbewegung teilzu-nehmen.
Ich selber werde das sehr ausgedehnt machen. Ich würdemich freuen, wenn ich Kolleginnen und Kollegen diesesHauses auf dem einen oder anderen Marsch treffenwürde.
Dort können Sie sich mit der Meinung der Friedens-bewegung, die einen Rückzug aus Afghanistan will, aus-einandersetzen. Auch Abgeordnete können an Ostermär-schen teilnehmen. Vielleicht trifft man ja auch malwieder einen Grünen auf einem Ostermarsch; das wäredirekt ein Revival.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Stellvertretend auch für die heutige Mehrheit in diesemHause hat am 5. Mai 2005 der damalige Bundeskanzlererklärt:Die NATO ist ein Teil deutscher Staatsräson gewor-den – und sie wird dies auch bleiben.Wenn das so sein sollte, muss dann nicht in einer zu-nehmend vernetzten Welt die Frage gestellt werden, wieDeutschland von Staaten gesehen und beurteilt wird, diediesem Bündnis, dem von niemandem ein Angriff droht,nicht angehören? Diese Staaten werden registrieren, dassDeutschland es hinnimmt, wenn die NATO-Führungs-macht die Foltermethode Waterboarding weiterhin beiVerhören anwendet, weil ihr Präsident selbst definiert,was Folter ist. Diese Staaten sehen, dass die ISAF inAfghanistan täglich zwischen 40 und 65 Einsätze vonJagdbombern zur Luftnahunterstützung fliegt, dabeistets unbeteiligte Personen ums Leben kommen und dieBundeswehr dafür die Luftbilder liefert. Sie werden sich
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Gert Winkelmeierfragen, ob auf diese Weise Nationbuilding befördert wer-den soll. Die Nicht-NATO-Staaten haben erlebt, wie1999 Jugoslawien unter Zuhilfenahme gefälschter Be-weise mit deutscher Beteiligung überfallen worden ist.Sie erleben heute, dass Deutschland den herausgebomb-ten Teil unter Bruch der KSZE-Schlussakte, der Chartader Vereinten Nationen und seiner eigenen Verfassungals Staat anerkennt.Mit zunehmender Besorgnis blickt die Welt auf eineNATO, die sich entgegen ihren vertraglichen Grundla-gen als Bündnis von Demokratien unverhohlen an dieStelle der UNO setzen will und sich schon jetzt derenAufgaben anmaßt. Die Welt fragt, was Deutschland zutun gedenkt, um dem Einhalt zu gebieten. Sie fragt, wases mit einer vorgeblichen Wertegemeinschaft auf sichhat, die sich im Zweifelsfall über Recht und Gesetz hin-wegsetzt, weil sie glaubt, sich dies militärisch leisten zukönnen. Was ist das für eine Wertegemeinschaft, die ehe-malige, hochrangige Generale über nukleare Präventiv-kriege gegen Nichtatomwaffenstaaten nachdenken lässt?Was ist von dem einstigen Verteidigungsbündnis nachWegfall des potenziellen Gegners geblieben? Die zwang-hafte Suche nach Feindbildern und Bedrohungen, um ei-nen Militärapparat zur Durchsetzung westlicher ökono-mischer Interessen zu rechtfertigen.Der Exportweltmeister Deutschland ist jedoch aufVertrauen in der Welt angewiesen. Dies nicht zu verspie-len, dazu ist die geografische und militärische Expan-sionsagenda des Gipfels in Bukarest wahrlich nicht ge-eignet. Anstatt über weitere Mitglieder, strategischeLufttransporte und die an jedem Ort der Welt einsetzbareschnelle Eingreiftruppe zu verhandeln, wäre die Bundes-regierung gut beraten, sich auf die einstigen Stärkendeutscher Außenpolitik zu besinnen. Für diese stehenBegriffe wie Abrüstung, Rüstungskontrolle, gegensei-tige Sicherheit, strukturelle Nichtangriffsfähigkeit undgesamteuropäische Friedensordnung. Ich bezweifle aber,dass Sie den erforderlichen Mut aufbringen, gegen denStrom zu schwimmen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8501 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ina Lenke, Gisela Piltz, Sibylle Laurischk, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Auswertungen der Erfahrungen mit anony-
mer Geburt und Babyklappe
– Drucksachen 16/5489, 16/7220 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP-Bundestagsfraktion hat zu den Themen Babyklappe undanonyme Geburt eine Große Anfrage an die Bundes-regierung gerichtet. Seit 1999 gibt es in der Bundesrepu-blik überall Babyklappen, insgesamt 76. Überall inDeutschland gibt es auch Krankenhäuser, in denenschwangeren Frauen, die anonym bleiben und ihren Na-men nicht nennen wollen, eine Entbindung ermöglichtwird.Fakt ist, dass sich diese Frauen und das Krankenhaus-personal dabei nach deutschem Recht strafbar machen.Man darf das also nicht. Die Deutsche Gesellschaft fürGynäkologie und Geburtshilfe, in der sich solche Ärztezusammengefunden haben, erhebt meines Erachtens zuRecht an den Staat, also auch an uns, das Parlament, dieForderung, das medizinische Handeln der Ärzte in soeinem Fall strafrechtlich nicht zu verfolgen. Denn das istheute der Fall.
Für die Babyklappe und die wirklich seltenen Fälleder anonymen Geburt – in Deutschland sind es 40 bis 50 –gibt es bisher keine rechtlichen Grundlagen. Das ist derBundesregierung bekannt. Im Koalitionsvertrag vonCDU, CSU und SPD wurde vereinbart, dass die Prüfungder rechtlichen Absicherung der anonymen Geburt nochin dieser Legislaturperiode vorgenommen werden soll.Mittlerweile hat schon die zweite Hälfte dieser Legisla-turperiode begonnen. Die FDP-Bundestagsfraktion stelltfest, dass sich auf diesem Gebiet aber überhaupt nichtstut.
In der Antwort auf die Große Anfrage der FDP hat dieBundesregierung nun zum ersten Mal Fakten genannt.Es wird deutlich, dass sich schwangere Frauen in einerextremen Notlage befinden, und dies – das möchte ichbetonen –, ohne den Rückhalt ihrer Familie oder ihresPartners zu haben; die sind nämlich nicht da. Denn auswelchem Grund sollte es zu anonymen Geburten kom-men, wenn nicht deshalb, weil diese Frauen in einer ex-tremen Notlage sind?Im Jahre 2002 – ich glaube, es ist ganz wichtig, dassich das sage, weil einige von Ihnen damals noch nicht imBundestag waren – hat der Deutsche Bundestag schoneinmal eine Lösung dieses Problems gefunden. SPD,CDU, CSU und FDP haben damals fraktionsübergrei-fend den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ano-
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Ina Lenkenymen Geburt in den Bundestag eingebracht. Schon imJahre 2002 waren wir also so weit.Wer im Bundestag arbeitet, der weiß, wie selten frak-tionsübergreifende Vorlagen sind, wie selten also die Na-men der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfrak-tionen auf derselben Drucksache erscheinen, weil alledie gleiche Regelung wollen. Dennoch frage ich die Kol-leginnen und Kollegen, die heute hier sind, weil sie die-ses Thema interessiert: Warum sollte das in dieser Legis-laturperiode nicht noch einmal möglich sein?
Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Fra-gen sind natürlich unvollständig. Das liegt auch daran,dass diese Fragen zum ersten Mal zu beantworten waren.Einige Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen, konn-ten nur unvollständige Angaben machen. Dennoch zei-gen die Antworten, dass die Hälfte der Schwangeren, diesich in Beratungsstellen anonym beraten ließen, ihreAnonymität nach der Geburt aufgeben und das Kind mitnach Hause nehmen. Diese Erfolge gilt es zu sehen.Ich komme zur Babyklappe. Auch die Mütter, die,statt ins Krankenhaus zu gehen, ihr Kind ohne Hilfe imBadezimmer oder wo auch immer geboren und es in eineBabyklappe gelegt haben, haben nach kurzer Zeit ihreAnonymität aufgegeben und die Beziehung zu ihremKind hergestellt. Auch das ist ein Erfolg der Baby-klappe. Die Gegner von Babyklappe und anonymer Ge-burt verweisen darauf, dass deshalb nicht weniger Kin-der getötet würden. Ich glaube, solche Vergleiche sollteman nicht bemühen. Wenn die Frauen die extreme Not-lage der Geburt hinter sich haben und in einem geschütz-ten Raum wie dem Krankenhaus betreut werden, sind sieoffen für staatliche Hilfe.Sollten Mütter ihre Anonymität nicht aufgeben wol-len – auch dieser Fall muss angesprochen werden –,bleibt das Kind zunächst im Krankenhaus, wird dann füracht Wochen in eine Pflegefamilie gegeben, bis das Ad-optionsverfahren vom Jugendamt eingeleitet wird.Ich will deutlich sagen: Das Recht des Kindes aufWissen um die eigene Abstammung gehört zu denGrundrechten.
Das gilt aber auch für das Recht auf Leben. Dem wie-derum wird mit ärztlicher Hilfe am besten Rechnung ge-tragen.
Erste Lösungsansätze sieht auch die Bundesregie-rung, schaut man sich ihre Antwort auf die Fragen 20 bis24 an. Ich denke, an diesen Punkten muss gearbeitetwerden.Ich komme zum Schluss. Fraktionsübergreifend soll-ten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die unsererVerfassung Rechnung tragen und gleichzeitig schwange-ren Frauen in extremen Notlagen helfen sowie den Ärz-ten und Ärztinnen Rechtssicherheit geben.
Die positive Bilanz der Hilfsprojekte zeigt: Eine Be-gleitung der anonymen Geburt birgt die Chance, dass dieMutter in die Lage versetzt wird, staatliche Hilfsange-bote in Anspruch zu nehmen. Damit kann man dem ge-setzlichen Anspruch des Kindes auf Wissen um die ei-gene Herkunft besser gerecht werden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfreue mich, dass noch einige Kolleginnen und Kollegenhier sind, um über dieses wichtige Thema zu diskutieren.Die Kollegin Lenke hat schon ausgeführt, dass sichbereits in der 14. und 15. Legislaturperiode Abgeordneteaus allen Fraktionen für eine Regelung der anonymenGeburt eingesetzt haben – leider ohne Erfolg. Im erstenFall ist der Gesetzentwurf nicht zum Tragen gekommen,im zweiten Fall war die Legislaturperiode zu schnell zuEnde, als dass man zu einem Ergebnis hätte kommenkönnen. Es war uns daher wichtig, in der Koalitionsver-einbarung festzuhalten, dass hier Handlungsbedarf be-steht.In der Vergangenheit und auch heute hat sich die Dis-kussion auf zwei Kernprobleme zugespitzt: Erstens.Kann eine rechtliche Absicherung der anonymen Geburttatsächlich Leben retten? Zweitens. Welche Bedeutungkommt dem Recht auf Wissen um die eigene Abstam-mung zu? Ich sage ganz klar: Das Recht auf Leben hatVorrang vor dem Recht auf Wissen um die eigene Ab-stammung.
Um die offenen Fragen zu klären und bei dieser The-matik weiterzukommen, hat das Bayerische Staatsminis-terium für Arbeit und Sozialordnung eine Studie in Auf-trag gegeben, deren Ergebnisse im Herbst letzten Jahresveröffentlicht wurden. Gegenstand ist das Moses-Pro-jekt, das Frauen in Bayern die anonyme Geburt ermög-licht. Fazit dieser Studie ist:Die Bedeutung des Projekts wird hoch eingeschätzt.Das Fallaufkommen ist Gott sei Dank nicht hoch; dasProjekt leistet aber Unterstützung in sehr prekären Le-benslagen. Es gibt keine klar definierte Zielgruppe.Von hoher Bedeutung ist die Beratung, da nahezukeine Frau einen Partner hat, der sie unterstützt. Entwe-
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Maria Eichhornder wissen die Väter nichts von der Schwangerschaft,oder sie lehnen das Kind ab. Auch das soziale Umfeld istkeine Hilfe. Da eher harte Sanktionen zu erwarten sind,soll niemand von der Schwangerschaft erfahren.Viele der Frauen sind jung, haben keine Ausbildungund leben in schwierigen materiellen Verhältnissen. Siesind oft überfordert, und manche sind suchtabhängig.Die materiellen Probleme wären behebbar. Aber diesozialen Sanktionen scheinen unüberwindbar. DieFrauen haben Angst vor Stigmatisierung, wenn sie ihrKind offiziell zur Adoption freigeben würden. Es geht inder Regel um sehr tragische Lebenssituationen.Auf unsere Initiative hin hat Frau Bundesministerinvon der Leyen zugesagt, eine Anschlussstudie in Auftragzu geben. Diese ist zurzeit in Arbeit.Die Große Anfrage der FDP bringt neue Erkennt-nisse; sie macht aber auch deutlich, dass es aufgrund derAnonymität bei vielen Fragen schwierig ist, Aussagenzu treffen. Denn die Anonymität steht im Vordergrund.Warum muss die anonyme Geburt gesetzlich geregeltwerden? Die anonyme Geburt soll die psychosoziale undmedizinische Begleitung der Mutter ermöglichen, umein Kind besser vor Aussetzung oder Tötung währendoder nach der Geburt zu schützen. Es geht um die Si-cherstellung der medizinischen Versorgung von Mutterund Kind vor und während der Geburt auch in den Fäl-len, in denen Frauen glauben, ihre Schwangerschaft ver-heimlichen zu müssen, und zumindest zu diesem Zeit-punkt keine Möglichkeit für ein Leben mit dem Kindsehen.Davon strikt zu unterscheiden ist die Babyklappe, indenen Frauen ihr Kind unerkannt ablegen können. Die-ses Angebot lässt schwangere Frauen vor und währendder Geburt in medizinischer und sozialer Hinsicht allein.Heute erfolgen 30 Prozent aller Entbindungen durchKaiserschnitt. Es ist nicht auszudenken, was passiert,wenn Frauen allein oder ohne medizinische Hilfe entbin-den würden. Die damit verbundene Gefahr für Mutterund Kind ist groß. Nicht selten finden solche Geburtenunter unwürdigen Bedingungen statt.Die geltende Rechtsordnung sieht eine anonyme Ge-burt nicht vor. Darauf hat Frau Lenke schon hingewie-sen. Wer die begleitete anonyme Geburt im Interesse desvorrangigen Lebensschutzes praktiziert, begibt sich der-zeit in eine rechtlich schwierige Lage. Er agiert amRande der Legalität und kann jederzeit von Strafverfol-gung betroffen sein.Was schwangere Frauen dazu drängt, anonym zu ge-bären, entspricht im Grunde dem Schwangerschaftskon-flikt nach § 219 StGB. Dieser wird aber häufig erst nachAblauf der Zwölfwochenfrist festgestellt, entweder weildie Schwangerschaft verdrängt wird oder die Schwan-gere keine Möglichkeit sieht, vor der zwölften Wocheeine Beratungsstelle aufzusuchen.Manche sehen die Gefahr, dass die anonyme Geburtsozusagen als Billigangebot genutzt wird, man sich alsoaus missbilligenswerten Gründen den Pflichten für dasKind entzieht. In den bisherigen Fällen befanden sich dieSchwangeren überwiegend in extremen Lebenssituatio-nen. Im Übrigen bekennen sich zum Beispiel beim Mo-ses-Projekt 80 Prozent der Frauen nach der Geburt zu ih-rem Kind. Das ist sicherlich auf die intensive Beratungund Begleitung durch die Schwangerschaftskonfliktbe-ratungsstellen zurückzuführen, denen es in der Regel ge-lingt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und die Ei-genkräfte und das Selbstbewusstsein der betroffenenFrau so weit zu stärken, dass sie sich zu ihrem Kind be-kennen kann.Die Panik, die vor der Geburt herrschte, stellt sich an-ders dar, wenn das Kind da ist. Das Moses-Projekt inBayern zeigt, dass die Möglichkeit zum anonymen Ge-bären wirklich eine Hilfe sein kann. Zur Beschränkungauf Extremfälle trägt sicherlich auch der von der Berate-rin unterzeichnete Schutzbrief bei, den die schwangereFrau – im Fall Bayern von Donum Vitae – erhält. Darinbestätigt die Beraterin, dass es sich tatsächlich um einebesondere, extreme Notsituation handelt.Es wird oft behauptet, das Angebot einer anonymenGeburt erreiche die Frauen in ihrer psychischen und pa-nikartigen Ausnahmesituation nicht. Die begleitete ano-nyme Geburt, bei der die Frau bereits vor der Entbin-dung nicht alleine gelassen wird, will Panik erst garnicht entstehen lassen. Hierin besteht der Unterschiedzur Babyklappe, in die die Mutter das Kind erst nach derGeburt legt. Viele Gegner unterscheiden nicht zwischendiesen beiden Möglichkeiten.Das Problem des beeinträchtigten Rechts auf Her-kunftskenntnis, das Verfassungsrang hat, versuchtDonum Vitae mit dem Moses-Projekt dadurch zu lösen,dass die Beraterin der Mutter in den Gesprächen vor undnach der Entbindung nahelegt, ihren Namen für dasKind und Angaben über weitere Umstände im sicherenTresor der Beratungsstelle zu hinterlassen. Das Rechtauf Herkunftskenntnis muss im Übrigen gegenüber demZiel des Lebensschutzes abgewogen werden. Der Euro-päische Gerichtshof hat im Jahre 2003 ein ganz klaresUrteil zugunsten des Lebensschutzes gefällt. Das mussfür uns maßgebend sein.
Eine Änderung von Gesetzesbestimmungen solltemehr Klarheit schaffen und das Risiko der Strafverfol-gung der mit der begleiteten anonymen Geburt befasstenPersonen verringern. Dabei sind bisherige, beispiels-weise mit dem Moses-Projekt gemachte Erfahrungendurchaus hilfreich.Wie geht es weiter? Die Erkenntnis aus der GroßenAnfrage und die Machbarkeitsstudie bestätigen denAuftrag der Koalitionsvereinbarung. Wir müssen dierechtlichen Grauzonen endlich beseitigen und alle An-strengungen unternehmen, damit der Auftrag der Koali-tionsvereinbarung noch in dieser Legislaturperiode er-füllt werden kann. Das liegt nicht nur im Interesse derMütter, die sich in extremen Lebenssituationen befinden,sondern dient auch dem Lebensschutz. Der Schutz desmenschlichen Lebens, insbesondere der Schutz ungebo-
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Maria Eichhornrener und geborener Kinder, hat für uns höchste Priori-tät.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Dank richtet sich an die FDP für die Große An-
frage, die wirklich umfassend ist. Ich danke aber auch
der Bundesregierung – das trifft bei der Beantwortung
von Anfragen ja nicht immer zu – für die überraschend
offenen Antworten. Frau Eichhorn, die Antworten ma-
chen aber deutlich, dass Sie zu kurz greifen – und das ist
ein Problem –, wenn Sie als einzige Begründung für Ihr
Vorhaben anführen, Lebensrecht gehe vor Abstam-
mungsrecht. Die Tatsache, dass wir in Deutschland kon-
stant etwa 25 Babytötungen pro Jahr haben – das hat
sich leider in den letzten sieben Jahren nicht verändert –,
und alle weiteren Ausführungen zeigen klar, dass die
Fragen nicht beantwortet werden können, ob bei Umset-
zung Ihres Vorhabens tatsächlich Kindstötungen verhin-
dert werden, welche neuen Probleme auftreten und wel-
che Wirkung das auf das Verhältnis zwischen Müttern
und Kindern hat. Ich denke, die vorliegenden Antworten
ermöglichen uns eine sachliche und unaufgeregte Dis-
kussion. Aber diese muss ehrlich geführt werden.
Ein Hauptproblem besteht darin: Es handelt sich um
Ausnahmehandlungen. Frauen befinden sich in einer Si-
tuation, in der sie von anderen Angeboten nicht erreicht
werden. Es stellen sich also die Fragen: Müssen wir
nicht verstärkt über andere, vorgeschaltete Angebote dis-
kutieren? Geht es wirklich nur um eine anonyme Ge-
burt? Oder führt eine anonyme Geburt nicht zu einer
Anonymisierung des Verhältnisses zwischen Mutter und
Kind? Wenn es so sein sollte: Will man das tatsächlich
legalisieren? Man sollte also wesentlich intensiver
schauen, wie man Möglichkeiten zu einer geheimen Ge-
burt schafft. Das Recht des Kindes auf Abstammung ist
ein wesentliches Recht, und man kann es gerade in die-
sem Problemkreis nicht gegen etwas anderes ausspielen
oder abwägen.
Ich halte die anonymisierende Geburt tatsächlich für
ein Problem. Die nur sehr lückenhaft vorhandenen Er-
gebnisse stellen klar, dass es den Frauen zum großen Teil
eigentlich nicht um ihre eigene Anonymität geht, son-
dern um Anonymität in ihrem Umfeld. Das ist in der
Antwort auf Frage 2 klar ausgeführt:
In der Regel geht es den betroffenen Frauen nicht
um Anonymität, sondern um Vertraulichkeit im
Umgang mit ihrer besonderen Situation.
Das ist der entscheidende Punkt.
In diesem Zusammenhang muss man sich natürlich
auch um andere Aspekte kümmern, die mir sowohl in
den Fragen und somit auch in den Antworten viel zu
kurz kommen, nämlich: Warum sprechen wir hier immer
nur über die Frauen? Muss man an dieser Stelle nicht
noch einmal das Geschlechterverhältnis wesentlich stär-
ker thematisieren? Warum kommen Frauen in eine sol-
che Situation? Wie kann es sein, dass sie eine Schwan-
gerschaft als Schande verstehen, dass ihr Recht auf
körperliche Unversehrtheit für sie aufgrund ihrer kon-
kreten Lebenssituation infrage gestellt ist?
Wir als Linke fordern hierzu eine wirklich sachliche,
unaufgeregte Diskussion. Dabei muss man weitergehen;
diese kann man nicht auf Babyklappe und anonymisie-
rende Geburt beschränken. Vielmehr müssen wir überle-
gen, wie wir flächendeckende, zielgerichtete Unterstüt-
zungsangebote zur Prävention von Notsituationen schaffen
können. Es war doch zu erkennen, dass diese Möglich-
keiten gerade Frauen nutzen, die keinen gesicherten
Aufenthaltsstatus haben. Es geht also auch darum, wie
man sie erreichen kann. Es bedarf auch besserer Infor-
mationen zur legalen Adoption und zu Möglichkeiten
der Pflege sowie einer höheren gesellschaftlichen Ak-
zeptanz von Adoptionen. Es geht um die Frage der Stär-
kung der reproduktiven Rechte. Sozial benachteiligte
Frauen haben keinen ungehinderten Zugang zu kosten-
freien Verhütungsmitteln. Auch das ist ein Problem, über
das man in diesem Zusammenhang reden muss.
Schließlich halte ich es für sehr kritisch, wenn Werbe-
kampagnen für Babyklappen durchgeführt werden, aber
gleichzeitig weniger Geld für Aufklärungsangebote über
legale Hilfsangebote bereitgestellt wird.
In diesem Sinne meine ich, dies ist ein großes Feld
von Anforderungen, die wir aber gemeinsam erfolgreich
bewältigen können; dies wird auch die weitere Debatte
ergeben.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Helga Lopez von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauEichhorn, das Thema ist nicht nur ein wichtiges Thema;ich halte es insbesondere für ein äußerst schwierigesThema.
Im Koalitionsvertrag ist es mit einem Satz erwähnt. Ichhabe die schriftliche Fassung jetzt leider nicht hier, habesie aber eben noch einmal angeschaut. Sie lautet in etwaso, dass eine gesetzliche Regelung erfolgen soll, wennsie denn nötig ist. Darauf, ob sie nötig ist, gehe ich jetzt
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Helga Lopezgleich ein; ich bin der festen Überzeugung, sie ist esnicht.
– Eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Frau Kollegin Lenke.
Frau Lopez, ich habe den Text jetzt hier; Sie haben
das richtig zitiert. Aber hier wurde auch geschrieben,
„Erfahrungen mit der Anonymen Geburt sollen ausge-
wertet“ werden. Das ist ja das, was gefehlt hat. Ich hoffe
nicht, dass dahinter ein entsprechender politischer Wille
steckt. Sehen Sie das genauso?
Nein, das sehe ich nicht so. Außerdem müssen Sie dadas Haus fragen. Sie können mit Sicherheit davon ausge-hen, dass der politische Wille unserer Fraktion dazu ebennicht fehlt. Wir sind auch froh und dankbar, dass ange-kündigt worden ist, es werde ein weiteres Papier geben,mit dem mehr Klarheit geschaffen wird; denn auch wirwollen Verbesserungen bewirken. Es ist immer nur dieFrage, was der probate Weg ist, um Müttern und ebenso– das sage ich hier ganz bewusst – Kindern zu helfen.
Ich bin hier doch etwas berührt, wie wenig bisher dieRede davon war, wie es den Kindern geht, denen durchanonyme Geburt oder Ablage in der Babyklappe ihr ver-fassungsmäßig garantiertes Recht verwehrt wird.
– Nein, sie sollen nicht lieber sterben.Ich denke, ich erläutere Ihnen jetzt einmal, wie ich dieAngelegenheit sachlich und rechtlich sehe. Wir alle wis-sen und begrüßen ausdrücklich, dass Straftaten bzw.Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der ano-nymen Geburt nicht strafverfolgt werden. Es gibt die so-genannten Neusser Fälle; da hat die Staatsanwaltschaftdie Ermittlungen eingestellt. Ich sage Ihnen noch einmalganz deutlich: Es gibt keine Beschwer. Denn in keinemeinzigen Fall wurden die Beteiligten – seien es Ärzteoder Mütter – belangt.
Es wird aber ein verfassungsmäßig garantiertes Rechtdes Kindes verletzt, und zwar erheblich und nicht nur imrechtlichen Sinne. Aber dass die Kenntnis der Abstam-mung ein Verfassungsrecht ist, dafür gibt es sehr triftigeund gewichtige Gründe. Was das Bundesverfassungsge-richt – der EuGH hat übrigens ähnlich entschieden –dazu schreibt, lese ich Ihnen jetzt einmal vor – vielleichtdient das der Klarstellung –:Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeitund die Menschenwürde sichern jedem Einzelneneinen autonomen Bereich privater Lebensgestal-tung, in dem er seine Individualität entwickeln undwahren kann.Weiter schreibt das Gericht:Verständnis und Entfaltung der Individualität sindaber mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Fak-toren eng verbunden. Zu diesen zählt neben ande-ren die Abstammung. Sie legt nicht nur die geneti-sche Ausstattung des Einzelnen fest und prägt soseine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmtsie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüs-selstellung für Individualitätsfindung und Selbst-verständnis ein.Etwas weiter unten schreibt das Gericht:… die Kenntnis der Herkunft bietet dem Einzelnenunabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Er-gebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Ver-ständnis und für die Entfaltung der eigenen Indivi-dualität. … Dem kann nicht entgegengehaltenwerden, daß es Fälle gibt, in denen die Abstam-mung unaufklärbar bleibt … Art. 2 Abs. 1 in Ver-bindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verleiht kein Rechtauf Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Ab-stammung, sondern– jetzt wird es wichtig –kann nur vor der Vorenthaltung erlangbarer Infor-mationen schützen.Genau das passiert aber durch die anonyme Geburt.Wenn wir diese legalisieren, dann halten wir erlangbareInformationen vor.
Das ist nicht rechtens.
– Frau Eichhorn, ich will es hier einmal ganz deutlich sa-gen: Sie haben nicht eine empirische Zahl, die belegt,dass Kinder ansonsten getötet werden. Aus alldem, waswir bisher gehört haben, mutmaße ich das Gegenteil.Die genannten Frauen aus Neuss haben sich bewusstentschieden, ihre Kinder zu bekommen.
Sie können das. Ihnen wird in dieser Republik geholfen.Die Strafverfolgungsbehörden verfolgen nicht. Es gibtkeine Beschwerden.
Es gibt sozusagen nur eine rechtliche Grauzone. Dazusage ich mit meiner relativ großen Verwaltungserfah-rung: Es muss auch in Deutschland möglich sein, ein-fach einmal eine Grauzone zu belassen. Denn wenn mangesetzgeberisch tätig wird, läuft man Gefahr, dass das
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Helga LopezGesetz von einem höheren Gericht gekippt wird unddass wir dann ein schlechteres Ergebnis bekommen. Daswollen wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnennicht. Wir wollen probate Hilfe.
Frau Kollegin Lopez, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage des Kollegen Königshaus?
Ja.
Bitte schön, Herr Königshaus.
Frau Kollegin, gestatten Sie die Anmerkung, dass das,
was Sie hier sagen, sehr bürokratisch klingt. Ist es nicht
so, dass die Wahrnehmung von Rechten voraussetzt,
dass man überlebt? Sie sagen, es sei empirisch nicht
nachweisbar, dass aufgrund der derzeitigen Rechtslage
Kinder getötet würden. Das ist wahr. Man kann das im
konkreten Fall natürlich nicht nachweisen. Aber sind Ih-
nen beispielsweise die Fälle bekannt, in denen in Blu-
menkästen mehrere Kinder gefunden wurden, die von
ihrer Mutter getötet wurden? Meinen nicht auch Sie,
dass es darum geht, den Müttern zumindest ein Angebot
zu machen, wie sie einer solchen Konfliktsituation ent-
gehen können?
Ich bin mit Ihnen in diesem Punkt hundertprozentig
einig. Es gibt da keinen Unterschied. Wir ahnen – ich
muss sagen: ahnen; aber wir haben darüber viele Be-
richte gehört –, dass die Fälle, in denen Kinder getötet
und abgelegt werden, weder durch Babyklappen noch
durch die Ermöglichung anonymer Geburt reduziert
werden, leider.
Das ist aber auch psychologisch erklärbar; denn der Vor-
gang, eine Babyklappe aufzusuchen oder eine anonyme
Geburt durchzuführen, verlangt ein koordiniertes Han-
deln. Mütter, die nach der Geburt ihre Kinder töten, sind
offenkundig – das bestätigen viele Psychologen – in ei-
ner derart schlimmen psychischen Situation, dass sie zu
dieser Koordination – das gilt sowohl für das Aufsuchen
der Babyklappe als auch für die anonyme Geburt – nicht
fähig sind. Das, was wir gehofft haben, nämlich dass mit
Babyklappen und der Ermöglichung anonymer Geburt
die Zahl der Kindstötungen minimiert wird, ist empi-
risch zumindest nicht belegt, leider.
Ich sage: Der richtige Weg ist, zu schauen, wie wir
– das wurde eben von Frau Eichhorn, glaube ich, ange-
sprochen – die Quote der Mütter erhöhen können, die
sich trotz anonymer Geburt im Nachhinein entscheiden,
das Kind doch noch in ihre Obhut zu nehmen und ihm
damit wiederum die Kenntnis der Abstammung zu ver-
schaffen. Da sind wir offensichtlich auf einem guten
Weg. Die Quote ist höher, als ich gedacht hätte. Hier ha-
ben wir gehört, dass es bereits die Möglichkeit einer
„heimlichen Geburt“ in Zusammenarbeit mit der Adop-
tivstelle gibt.
Es wurde auch klar, dass die Beratungsangebote an
Mütter ganz generell nicht ausreichen. Insbesondere in
dieser Richtung müssen wir Anstrengungen unterneh-
men. Wir müssen Frauen beraten, wir müssen ihnen auf-
suchende Hilfe geben, und wir müssen ihnen Mut ma-
chen, ihre Kinder anzunehmen. Das ist der richtige Weg.
Mit einer Legalisierung der anonymen Geburt, von
der ich überzeugt bin, dass sie nicht rechtens ist und dass
sie vom Verfassungsgericht nicht geduldet würde, ist
niemandem geholfen, insbesondere nicht den betroffe-
nen Kindern. Vielleicht sollten Sie sich einmal bei Fami-
lien in Ihrer Umgebung erkundigen – fast jeder kennt
solche Familien –, deren Kinder adoptiert worden sind,
wie es war, als die Kinder von den Adoptiveltern erfuh-
ren, dass sie nicht die leiblichen Kinder sind.
Ich kenne solche Fälle. Es sind mildere Fälle, aber ich
weiß, welche Auswirkungen das auf die Kinder hat. Ich
schätze das Recht auf Kenntnis der Abstammung in der
Sache nicht so gering wie Sie.
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigkvom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist nicht das erste Mal, dass wir hier im Plenum zumThema „anonyme Geburt“ debattieren. Die bisherigenBemühungen sind „nicht zu einem parlamentarischenAbschluss gekommen“, wie es in den Vorbemerkungender Großen Anfrage der FDP heißt.Eines stimmt ja: Es ist äußerst schwierig, Regelungenzu finden, die die verschiedenen grundgesetzlich ge-schützten Rechtsgüter in Einklang bringen, nämlich dasRecht auf Kenntnis der Abstammung und das Recht aufLeben. Frau Lopez, darauf sind Sie nicht eingegangen.Aus meiner Sicht ist das Recht auf Leben klar höher zubewerten als das Recht auf Kenntnis der eigenen Ab-stammung.
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Irmingard Schewe-Gerigk
Das sage nicht nur ich. Es gibt auch Verfassungsrechtler,die das so sehen. Die Schwierigkeit und das Problem lie-gen aber gerade darin, dass es so schwer nachweisbar ist.Sie nennen Zahlen, wir nennen Zahlen. Die einen wissennichts, die anderen auch nichts. Darum ist es gut, dasseine zusätzliche Studie in Auftrag gegeben wird, um unshier etwas mehr Klarheit zu verschaffen.Auf die Einrichtung von Babyklappen haben wir alsParlament wenig Einfluss. Aber die Hysterie, mit dermanche sie zu einer „staatlich lizensierten Babyentsor-gung“ hochstilisieren, ist mir absolut unverständlich.
Wer sein Kind aussetzen will, wird das tun, ob mit Baby-klappe oder ohne. Allerdings sind die Überlebenschan-cen mit einer Babyklappe doch größer.
Babyklappen sind oft der letzte Ausweg, eher eine mo-derne Form des alten Weidenkorbs, die ein wenig siche-rer für die Babys ist. Ich bin ziemlich sicher, dass imEinzelfall Kinder gerettet werden. Aber wir brauchen fürBabyklappen keine gesetzlichen Regelungen.Anders sieht es bei der anonymen Geburt aus. Ich binder Meinung: Hier müssen wir etwas regeln. Frauen inextremer Notlage sollen unter hygienisch und medizi-nisch zumutbaren Bedingungen, wie es auch in Öster-reich der Fall ist, gebären können, ohne ihren Namen an-geben zu müssen. Wir müssen auch den unsäglichenZustand beenden, dass medizinisches Personal mit ei-nem Bein im Gefängnis steht, wenn es in dieser Notlagehilft.
Frau Lopez, Sie haben vorhin gesagt: Das wird nichtverfolgt; das ist überhaupt kein Problem. In eine Bera-tungsstelle des SkF Köln, die entsprechende Hilfsange-bote unterbreitete, kam jedoch der Staatsanwalt, setztedie Verantwortlichen unter Druck und verlangte, die Na-men herauszugeben. Ich finde, das können wir uns in ei-nem Rechtsstaat nicht erlauben.
Ich frage mich: Warum sollen diese Menschen ausbaden,dass die Politik sich hier nicht einigen kann? Ein solchesDurchwursteln und Wegducken entspricht auch nichtmeinem Verständnis von Verantwortung der Politik.Für mich ist es auch schwer erträglich, dass wir defacto in vielen Kliniken anonyme Geburten dulden, aberes vom Wohnort der Frau abhängt, ob sie Hilfe findetoder nicht. Sie hat Glück, wenn sie in der Nähe eine Kli-nik hat, die das macht. Eine Kollegin hat mir kürzlichden Fall geschildert, dass eine Frau, die schon Wehenhatte, von einem Krankenhaus zum anderen gehenmusste, weil sie immer wieder weggeschickt wurde. Ichfinde, wenn niemand die Verantwortung übernehmenwill, dann ist es um uns schlecht bestellt. Das darf nichtsein.
Vor diesem Hintergrund verblassen die betroffen ma-chenden Berichte von Menschen, die nicht um ihre bio-logische Abstammung wissen. Auch ich kenne Fälle, beidenen Adoptivforscherinnen sagen, es wäre besser, die-ses Kind wäre überhaupt nicht zum Leben gekommen,da es nun so sehr darunter leide, dass es adoptiert wor-den sei.
Ich muss sagen: Für mich ist hier das Recht auf Lebenvorrangig.
Ich frage diejenigen, die sagen, wir bräuchten hierkeine Regelung: Was ist die Alternative? Was wollen Sieda anbieten? Das Angebot, anonym und vertraulich zugebären, rettet Leben von Müttern und Kindern. Da binich ziemlich sicher. Zahlen können wir hier nicht nen-nen. Häufig ermöglicht ein solches Angebot – da bin ichsicher – dem Kind erst die Kenntnis der Abstammung.Die Bundesregierung hat dokumentiert, dass vieleFrauen nach einer Beratung ihr zunächst anonym gebo-renes Kind tatsächlich annehmen. Es gibt auch eine Un-tersuchung von Fällen von SterniPark, in der von 70 bis80 Prozent die Rede ist. Das ist doch wichtig. Wenn dieFrauen diese Beratung nicht erhalten hätten, dann hättensie sofort der Adoption zugestimmt. Jetzt haben sie Zeit,werden beraten und können sich zu ihrem Kind beken-nen. Adoptionen werden dadurch also verhindert.
Natürlich werden wir nicht alle Frauen, die ihr Kindin Panik und Verzweiflung töten, mit dem Angebot deranonymen Geburt erreichen. Aber wenn wir nur ein paarvon ihnen erreichen können, dürfen wir uns der Verant-wortung nicht entziehen und müssen hier Rechtssicher-heit schaffen.Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktio-nen, Sie haben vereinbart, gesetzliche Regelungen zuschaffen, wenn es nötig ist.
Für mich ist diese Notwendigkeit erwiesen. Sie habenjetzt noch eine Studie in Auftrag gegeben. Ich hoffe,dass sie zur Klarstellung dient. Ich weiß, es gibt keineeinfachen Antworten. Ich weiß auch, dass nicht alle ge-winnen werden. Aber ich möchte Sie doch bitten, ge-meinsam nach Lösungen zu suchen und sich der gemein-samen Verantwortung zu stellen.
Metadaten/Kopzeile:
16050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 152. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. März 2008
(C)
(D)
Irmingard Schewe-GerigkVielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck , Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern
– Drucksache 16/7742 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genom-
men werden sollen. Es handelt sich um die Reden von
Wolfgang Gunkel, SPD, Gisela Piltz, FDP, Petra Pau,
Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen,
und des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier
für die Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7742 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 9. April 2008, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.