Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich und wünsche uns einen guten Tag und gute,konstruktive Beratungen.Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ichIhnen mitteilen, dass interfraktionell vereinbart wordenist, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatz-punktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der LINKENVorschlag des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt,bei einer entsprechenden Entwicklung der Steuereinnah-men 2006 auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu ver-zichten
ZP 2 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NENWarnungen vor einer Militarisierung der Auseinanderset-zung um das iranische AtomprogrammZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und derSPDFür die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechtenund Grundfreiheiten beim Umgang mit GefangenenRede– Drucksache 16/431 –ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar,Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPFür die Schließung von Guantanamo Bay und die Über-führung der Gefangenen in rechtsstaatliche Verfahren– Drucksache 16/454 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ,Jürgen Trittin, Marieluise Beck , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENRechtsstaatliche Verfahren und Menschenrechtsschutzfür die Inhaftierten in Guantanamo Bay– Drucksache 16/443 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und HumanitäAuswärtiger Ausschusszungen 26. Januar 2006.00 UhrZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung desBundesrechts im Zuständigkeitsbereich des Bundesminis-teriums für Verbrauchers4chutz, Ernährung und Land-wirtschaft– Drucksache 16/27 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Er-
– Drucksache 16/425 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich JordanWaltraud Wolff
Hans-Michael GoldmannDr. Kirsten TackmannUlrike HöfkenDie Tagesordnungspunkte 8 – Vorratsdatenspeiche-rung – und 15 b – Entschädigungsrecht – sollen abge-setzt werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesord-nungspunkt 11 – Abfallrecht – unmittelbar nach dem Ta-gesordnungspunkt 9 – Änderung des Gentechnikgeset-zes – aufzurufen. Von der Frist für den Beginn der Bera-tungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –textDas ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahreswirtschaftsbericht 2006 der Bundes-regierungReformieren, investieren, Zukunft gestalten –Politik für mehr Arbeit in Deutschland– Drucksache 16/450 –isungsvorschlag:ss für Wirtschaft und Technologie
usschussss für Ernährung, Landwirtschaft undcherschutzre Hilfe
ÜberweAusschuFinanzaAusschuVerbrauAusschuss für Arbeit und Soziales
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Präsident Dr. Norbert LammertAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahresgutachten 2005/06 des Sachverständi-genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung– Drucksache 16/65 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache insgesamt zwei Stunden vorgesehen. –Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstder Bundesminister für Wirtschaft, Michael Glos.Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Jahreswirtschaftsbericht macht deutlich, woDeutschlands Zukunft liegt: im Bereich Bildung undInnovation. Das sind nach meiner festen Überzeugungdie Grundlagen für zukünftiges Wachstum und damitauch für wieder mehr Beschäftigung in unserem Land.
Die Überschrift des vorliegenden Jahreswirtschafts-berichts lautet: „Reformieren, investieren, Zukunft ge-stalten – Politik für mehr Arbeit in Deutschland“. Diekonjunkturelle Erholung Deutschlands hat sich, wie ichmeine, gefestigt und wird in diesem Jahr nach Überzeu-gung aller Institute an Breite gewinnen; darauf deutendie aktuellen Indikatoren hin wie auch die Auftragsein-gänge, die Produktionsdaten und die Stimmungsindika-toren. Wie in unserem Jahreswirtschaftsbericht steht,erwarten wir für das Jahr 2006 einen Anstieg des Brutto-inlandsprodukts um real 1,5 Prozent. Nun kann manstreiten, wie Prognosen von Fachleuten zu werten sind.Die offizielle Prognose, nach den statistischen Daten, diezugrunde gelegt sind, lautet: 1,4 Prozent. Es gibt aberauch Stimmen, nach denen der Anstieg bis 1,6 Prozentbetragen kann. Ich bleibe bei 1,5 Prozent. Ich meine,dass das eine bewusst vorsichtige Schätzung der gesamt-wirtschaftlichen Eckdaten ist. Es ist nämlich besser, vor-sichtiger zu schätzen und es kommt dann günstiger, alsden Weg zu gehen, der in der Vergangenheit beschrittenworden ist. Ich meine, wir haben diesmal die Chance,von der tatsächlichen Entwicklung positiv übertroffen zuwerden.
– Ich will die Gespräche im Plenum nicht stören, HerrPräsident.
Als Bundestagspräsident muss ich darauf auch größ-ten Wert legen, Herr Minister.Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Mein Respekt als Bundestagsabgeordneter vor demParlament ist viel zu groß.Die außenwirtschaftlichen Impulse dürften angesichtsder robusten Weltwirtschaft erhalten bleiben. Bei einemgeschätzten Exportanstieg von 6,5 Prozent werden diedeutschen Exporteure erneut Marktanteile hinzugewin-nen.Lassen Sie mich an dieser Stelle allen Menschen dan-ken, die mit dazu beitragen, dass wir Exportweltmeistersind und es bleiben werden. Dazu zählen auch diejeni-gen, die bereit sind, ins Ausland zu gehen, um dort deut-sche Anlagen zu montieren.
Sie sichern damit Arbeitsplätze in Deutschland und tra-gen in anderen Ländern der Welt zu einer wirtschaftli-chen Entwicklung bei, was wiederum eine friedlicheEntwicklung unterstützt. Deswegen appelliere ich an dieEntführer der beiden deutschen Ingenieure im Irak, diesefreizulassen.
Auch die Binnenkonjunktur könnte allmählich – daswünschen wir uns alle – wieder an Zugkraft gewinnen.Darauf deuten sehr viele Umfrageergebnisse hin. Vor al-lem ist die Stimmung der Deutschen wieder zuversichtli-cher geworden. Wir wissen natürlich, dass das wirt-schaftliche Handeln der augenblicklichen Stimmunghinterherhinkt. Wenn aber viele Menschen der Meinungsind, es gehe aufwärts und diese Entwicklung sei stabil,dann wird sich auch deren Kaufverhalten verbessern. Al-lein die Aktivitäten bei Ausrüstungsinvestitionen in un-serem Land sprechen schon Bände. Das zeigt, dass der
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Bundesminister Michael GlosImpuls von außen auf die Bereitschaft zu Investitionenim Inland durchgeschlagen hat. Ich hoffe, dass das auchfür die Konsumbereitschaft gelten wird.Es gibt viele Zahlen, die dafür sprechen, dass derAufschwung breit angelegt ist. Als Beispiele nenne ichnur: die kräftige Gewinnentwicklung in den vergange-nen Jahren, insbesondere bei exportorientierten Unter-nehmen, die fortgeschrittene Bilanzbereinigung beivielen Unternehmen, die lange Zeit viel Faules mitge-schleppt haben, bis man es in der Bilanz entsprechendbereinigen konnte, und die zuletzt wieder gestiegene Ka-pazitätsauslastung. Auch der letzte Punkt ist wichtig;denn erst wenn die Kapazitäten ausgelastet sind, kommtes zu Erweiterungsinvestitionen. Ich meine, dass dasgünstige Anzeichen sind.Die Zahl der Arbeitslosen wird dieser Prognose nachim Jahresdurchschnitt um rund 350 000 auf 4,5 Millio-nen Personen zurückgehen.Wie jede Vorhersage ist auch die Jahresprojektion derBundesregierung mit Risiken und damit mit Unsicher-heiten behaftet. Niemand vermag zum Beispiel exakt vo-rauszusagen, ob es erneut zu einem weltweiten Anstiegbei den Rohstoffpreisen kommen wird, vor allem beimRohöl. Wir haben bei unserer Prognose schon einen ho-hen Rohölpreis zugrunde gelegt. Aber dieser kann natür-lich noch übertroffen werden; schließlich wird Rohölzum großen Teil in unsicheren Gegenden der Welt geför-dert. Das zeigt letztlich unsere Abhängigkeit von sol-chen Entwicklungen.Niemand kann heute vorhersagen, welche Auswir-kungen die globalen Ungleichgewichte haben werden.Das gilt insbesondere für die Entwicklung des Haus-halts- und Leistungsbilanzdefizits der USA. Niemandweiß, wie das auf die Weltfinanzmärkte durchschlagenwird.Auf der anderen Seite bestehen durchaus Chancen füreine günstigere Entwicklung als vorausgesagt. Eskommt vor allem darauf an, das Vertrauen der Menschenzu stärken. Wir werden mit unserer wirtschaftspoliti-schen Strategie zu einer Stärkung des Vertrauens beitra-gen. Das ist das Ziel der Bundesregierung.
Der Dreiklang, den wir setzen, besteht aus Sanieren,Reformieren, Investieren. Zum ersten Punkt: Gesundeund tragfähige Staatsfinanzen sind eine wesentlicheGrundlage für Vertrauen in die Politik. Es kann mittel-und längerfristig nur dann einen Aufschwung geben,wenn wir uns an die Sanierung der öffentlichen Finanzenheranwagen. Um die Solidität dauerhaft zu sichern, musses uns gelingen, die öffentlichen Haushalte strukturell zukonsolidieren und die Weichen für mehr Wachstum undBeschäftigung zu stellen. Wir werden deshalb die Kon-solidierung des Bundeshaushaltes und der sozialen Si-cherungssysteme mit großer Entschlossenheit angehen.
Ich bitte Sie von allen Seiten des Hauses ganz herzlichum Ihre Mitwirkung.Ich bin mir der Problematik der Erhöhung derMehrwertsteuer natürlich sehr bewusst. Wenn wir abervon einer Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunktereden, dann müssen wir immer wieder hinzufügen, dass1 Prozentpunkt davon direkt in die Senkung der Lohn-nebenkosten fließt.
Die zu hohen Lohnzusatzkosten – so sagt man inzwi-schen vielleicht besser, weil es in Teilen nicht mehr nurNebenkosten, sondern Hauptkosten sind – sind nochschädlicher für die Volkswirtschaft als die Steuerbelas-tung. Wenn wir zumindest unsere Steuerquote mit demSchnitt in anderen Ländern vergleichen, dann stellen wirfest, dass wir gar nicht so schlecht liegen.
Wie gesagt: Es läuft alles nur gut, wenn es auchWachstum gibt. Deshalb ist es zweitens notwendig, dasswir mit einem wirtschaftlichen Aufschwung in diesemJahr die notwendige Breite schaffen, damit der Zug desAufschwungs auch im nächsten Jahr, wenn die Mehr-wertsteuererhöhung greift, so rasch auf den Gleisenfährt, dass er nicht ohne weiteres gestoppt werden kann.Wir wollen, dass die Sozialversicherungsbeiträgedauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden. Das ist eineder Aufgaben der großen Koalition. Ein erster Schritt aufdiesem Weg ist die Senkung des Beitrags zur Arbeitslo-senversicherung von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent zum1. Januar 2007. Handlungsbedarf besteht auch am Ar-beitsmarkt, um möglichst vielen Menschen eine Chanceauf Arbeit zu geben. So bedarf es des so genannten – –
– Ich kann Sie schlecht verstehen. Ich empfehle Ihnen,aufzustehen und sich zu melden, Herr Kuhn. Ihre Bei-träge sind im Allgemeinen ja so intelligent, dass Sie sieauch laut und ohne dass Störungen damit verbundensind, vorbringen können.
– Ich lasse mich von Ihnen trotzdem nicht aus dem Kon-zept bringen.Ich sage es noch einmal: Wir bedürfen auch des so ge-nannten Niedriglohnsektors und einer Neuregelung amArbeitsmarkt dergestalt, dass auch die Menschen, dieweniger qualifiziert und leistungsfähig sind und die sichin der komplizierten Arbeitswelt oft nicht mehr ge-braucht fühlen, Arbeit und Brot finden. Das ist eine der
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Bundesminister Michael Gloswesentlichen Aufgaben für die Zukunft. Dafür wird eineKommission eingesetzt und wir werden unvoreingenom-men prüfen, was man sinnvollerweise tun kann.Neben der Haushaltssanierung und weiteren struktu-rellen Reformen geht es der Bundesregierung drittensum mehr Investitionen und Innovationen. Auf unsererRegierungsklausur in Genshagen haben wir in fünf Be-reichen konkrete Impulse mit einem Volumen von insge-samt 25 Milliarden Euro bezogen auf die Legislatur-periode beschlossen.Dazu gehört die Förderung von Forschung und Ent-wicklung. Dabei geht mein Appell auch an die Wirt-schaft, mitzumachen und nicht infolge sich erhöhenderstaatlicher Mittel möglicherweise die eigenen For-schungsmittel zu kürzen.
Das Gegenteil muss der Fall sein. Wir wollen mit demöffentlichen Geld, das wir einsetzen, zusätzliche Impulseauslösen.Zu unserem Programm gehören auch die Belebungvon Mittelstand und Wirtschaft sowie die Erhöhung derVerkehrsinvestitionen, was nicht nur der Bauwirtschaftdirekt zugute kommt; vielmehr wirkt sich die dann vor-handene Infrastruktur natürlich auch günstig auf unsereWirtschaft und die Investitionen an den verkehrsmäßiggünstigen Standorten aus.Zu unserem Programm gehört aber auch die Förde-rung der Familien. Das ist eine der Sorgen unseresLandes. Ich bin vom amerikanischen HandelsministerGutierrez, der mich gestern besucht hat, gefragt worden,warum wir in Deutschland schon stolz sind, wenn wirWachstumsraten von vielleicht 2 Prozent, wenn wir sehroptimistisch sind, erreichen können.
Ich habe gesagt: Das hat auch etwas mit unserer Bevöl-kerungsentwicklung zu tun. Schauen Sie sich die Bevöl-kerungsentwicklung Ihres Landes an und schauen Siesich die Bevölkerungsentwicklung unseres Landes an.
Dann sehen Sie, wo im Grunde ein großes Stück unsererProbleme liegt.Ich darf die Maßnahmen, die wir konkret vereinbarthaben, weiter aufzählen: Es geht auch um die steuerlicheAbzugsfähigkeit von haushaltsnahen Dienstleistun-gen. Auch hier sind die Weichen entsprechend gestelltworden.All diese Maßnahmen sollen zur Stärkung der Wachs-tumskräfte beitragen und sind in unsere Projektion ein-gearbeitet. Natürlich ist in diese Projektion auch die Tat-sache eingearbeitet, dass die Mehrwertsteuererhöhung,die für nächstes Jahr geplant ist, in diesem Jahr zusätzli-che Käufe auslöst. Es gibt selbstverständlich einen Vor-zieheffekt; dieser ist gewollt.Bereits kurzfristig erhoffe ich mir Anstöße von derRevitalisierung der degressiven Abschreibung für be-wegliche Anlagegüter auf dem alten Stand. Aber dasmuss dann von einer Reform der Unternehmensbesteue-rung zum 1. Januar 2008 abgelöst werden. Die nomina-len sowie die effektiven Steuersätze auf unternehmeri-sche Tätigkeit sind bei uns in Deutschland iminternationalen und auch im europäischen Vergleich zuhoch.
Effektiv liegen sie bei 36 Prozent. Im europäischenDurchschnitt sind es 30 Prozent, in Osteuropa unter20 Prozent.Unter Federführung des Finanzministers wird unterEinbeziehung von Experten noch in diesem Jahr ein Vor-schlag vorgelegt werden. Wir haben die Chance, uns zu-erst mehrere Vorschläge anzusehen. Diese müssen dannvom Finanzminister zusammen mit dem Wirtschafts-minister bewertet und möglichst bald dem parlamentari-schen Gesetzgebungsverfahren zugeleitet werden. DieMenschen wollen schließlich wissen, was 2008 auf siezukommt.Wachstumspolitisch besonders wichtig ist mir dasZiel, die Ausgaben für Forschung und Technologie bis2010 auf insgesamt 3 Prozent des Bruttosozialprodukteszu steigern; denn in der Fähigkeit, innovativ zu sein undzu bleiben, liegt Deutschlands Zukunft. Nur dadurchkann unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit aufdem hohen Niveau von Wohlstand und Sozialleistungenaufrechterhalten werden. Mit Billiglöhnen in anderenLändern können wir nicht konkurrieren.Für die Jahre 2006 bis 2009 werden aus Haushalts-mitteln 6 Milliarden Euro für Forschung und Innovationbereitgestellt. Ich werde insbesondere bei den For-schungsmitteln, die dem BMWi zugute kommen, dafürsorgen, dass der Schwerpunkt auf der Stärkung des inno-vativen Mittelstandes und der technologieorientiertenGründer liegen wird.
Wir werden aber selbstverständlich innovativeLeuchtturmprojekte fördern, zum Beispiel das so ge-nannte emissionsfreie Kraftwerk, um auf dem Energie-sektor neue Lösungen voranzutreiben.
Alle Maßnahmen werden wir im Aktionsplan „High-tech Strategie Deutschland“ bündeln. Wir versprechenuns von diesen Maßnahmen eine doppelte Dividende.Mit den kurzfristigen Impulsen tragen wir dazu bei, dieaktuelle konjunkturelle Belebung zu festigen. Ichglaube, das wollen alle. Diese kurzfristigen Impulse sindnatürlich temporär angelegt und laufen nach einer Weileaus. Ein Beispiel: Die Verbesserung der Abschreibungs-bedingungen wird in eine echte Unternehmensteuer-reform münden.
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Bundesminister Michael GlosMit den eher längerfristig wirksamen Maßnahmenschaffen wir darüber hinaus die Voraussetzung für eindauerhaft höheres Wachstum. Hierzu zählen die Förde-rung von Forschung und Entwicklung, die ich bereits er-wähnt habe, aber natürlich auch die Maßnahmen, diestrukturell und längerfristig zu einer Entlastung desHaushaltes führen. Sie sind ebenfalls auf Dauer angelegtund werden zur strukturellen Haushaltskonsolidierungbeitragen. Dazu gehören zum Beispiel die Ausgabenkür-zungen, der Abbau von Steuervergünstigungen sowie dieMaßnahmen zur Stabilisierung unserer sozialen Siche-rungssysteme.Wir werden mit einer Mittelstandsinitiative starten,in deren Mittelpunkt weniger Bürokratie und mehrFlexibilität steht.
Das kostet den Staat und die öffentliche Hand kein Geld;aber es hilft den Betrieben, die investieren und Arbeits-plätze schaffen wollen.Beim Bundeskanzleramt wird ein Normenkontroll-rat eingerichtet. Unabhängige Fachleute sollen künftigalle Gesetzesinitiativen auf Erforderlichkeit und büro-kratische Kosten überprüfen. Auf der anderen Seite wis-sen wir, dass nicht jede Abschaffung von Regelungenunbedingt Beifall auslöst. Sehr viele haben sich an dieseRegelungen gewöhnt.Lassen Sie mich ein aktuelles Beispiel anführen: DieWirtschaftsministerkonferenz der Länder hat Vereinfa-chungen im Gaststättengesetz – beispielsweise durch dieAbschaffung der Bundeskompetenz – gefordert. Sobaldsolche Maßnahmen jedoch im Jahreswirtschaftsberichtaufgeführt werden und ihre Umsetzung Gestalt an-nimmt, werden Stimmen laut, die sich dagegen ausspre-chen.Aber zurück zu den von uns geplanten Maßnahmen:Wir müssen – das halte ich für ganz entscheidend – auchdie Selbstständigenquote in unserem Land steigern.
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ein immernoch sehr stark industriell geprägtes Land mit einer hochkomplizierten Volkswirtschaft wie Deutschland ist in be-sonderem Maße in Sorge um den Energiepreis. DerEnergiepreis in Deutschland ist sehr vielen staatlichenBelastungen ausgesetzt. Das ist bekannt und unstrittig.Wir müssen aber dafür sorgen, dass der Wettbewerb aufdem Energiemarkt funktioniert und die Versorgungs-sicherheit – auch über entsprechend gute Leitungsnetze –erhalten wird. Darüber hinaus müssen ausreichend Ka-pazitäten vorhanden sein, um einen echten Wettbewerbzu ermöglichen. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz ver-fügen wir über ein Instrument, das den dafür zuständigennachgeordneten Behörden erlaubt, über den Wettbewerbzu wachen.Als Maßnahme zur Steigerung der Energieeffizienzerhöhen wir das Fördervolumen für das CO2-Gebäude-sanierungsprogramm auf 1,4 Milliarden Euro jährlich.Dadurch werden auch Arbeitsplätze im Handwerk ge-schaffen, worum es mir in besonderem Maße geht.
Wir wollen den Energiemix ausweiten. Auf dem ge-planten Gipfeltreffen mit der Bundeskanzlerin werdenwir die künftigen Leitlinien ziehen.Wir setzen in unserer Politik auf unsere Stärken inDeutschland: auf qualifizierte Arbeitnehmer und Ar-beitsnehmerinnen bzw. wettbewerbsfähige Unternehmenund vor allen Dingen auf den sozialen Frieden, der einhohes Gut ist. Ich kann nur hoffen, dass sich die Tarif-partner in den anstehenden Verhandlungen so einigen,dass die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes nicht ge-fährdet wird und dass vorhandene Spielräume zugunstenunseres Landes mit hoher Flexibilität genutzt werden.Daran arbeiten wir.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Brüderle für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-deskanzlerin hat vor wenigen Wochen an dieser Stelleihre Politik unter das Motto „Mehr Freiheit wagen“ ge-stellt. Sie hat es gestern in Davos erneut als Strategie derBundesregierung betont. In der Realität sieht die Politikaber leider ganz anders aus. Die Bundesregierung hatsich allenfalls die Freiheit genommen, ihre Prognose imJahreswirtschaftsbericht sehr vorsichtig anzulegen.Das prognostizierte Wachstum um 1,4 Prozent liegtam unteren Rande dessen, was die Ökonomen vorhersa-gen. Auch bei den Investitionen und dem Konsum liegendie Prognosen am unteren Rande der Expertenmeinun-gen. Ich kritisiere das nicht; besser wäre es aber, wenndie Regierung bei den steuerlichen Belastungen der Bür-ger Zurückhaltung üben und ihnen weniger abverlangenwürde.
Herr Glos hat persönlich eine deutlich optimistischerePrognose öffentlich geäußert. Finanzminister Steinbrückwill aber offenbar den Druck aufrechterhalten, um dieDebatte über die Mehrwertsteuererhöhung keinesfallsweiter anzuheizen. Deshalb ist die Prognose so moderatausgefallen.Die Erstellung des Jahreswirtschaftsberichts ist dieAufgabe des Wirtschaftsministers. Man muss sich aberohnehin fragen, wofür Herr Glos eigentlich zuständig ist.Wenn ich Energie höre, sehe ich Herrn Gabriel. Wennich Konjunkturprognose höre, sehe ich HerrnSteinbrück. Wenn ich Ministererlaubnis höre, sehe ichdie Herren Koch und Stoiber. Aus dem ERP-Sonderver-mögen sollen offenbar 2 Milliarden Euro zum Stopfenvon Haushaltslöchern herausgebrochen werden. Das
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Rainer Brüderlesteht übrigens im Gegensatz zum Koalitionsvertrag undauch zum Jahreswirtschaftsbericht. Herr Glos, vielleichtnehmen Sie im Laufe der Debatte die Gelegenheit wahr,richtig zu stellen, dass die Mittel für den Mittelstandnicht zum Stopfen von Haushaltslöchern missbrauchtwerden dürfen.
Die Union hat jedenfalls, als sie noch in der Opposi-tion war, den Ausverkauf der Marshallplanmittel vehe-ment kritisiert. Meine Bitte: Fallen Sie hier nicht um!Lassen Sie die Sozialdemokratisierung der Union nichtso weit gehen, dass Sie alle Ihre Vorstellungen, die Sievor der Wahl geäußert haben, wieder einsammeln.
Wo sich der Wirtschaftsminister selber äußert, geht eshott und hü. Vor dem Jahreswechsel fordert er noch hö-here Löhne, damit die Konjunktur in Gang kommt.
Nach dem Jahreswechsel fordert er Lohnzurückhal-tung. Er fordert nun – das ist die neueste Variante – dif-ferenzierte Lösungen. Im Klartext heißt das betrieblicheBündnisse für Arbeit. Aber er hat nicht den Mut, dieKonsequenzen zu ziehen, nämlich den Mitarbeitern imBetrieb tatsächlich zu ermöglichen, mit 75 ProzentMehrheit eigenständig Regelungen zu treffen, und zwarjenseits des Diktats der beiden Kartellbrüder Gewerk-schaften und Arbeitgeber. Das wäre die Konsequenz ei-ner differenzierten Lösung.
Eigentlich ist der Bundeswirtschaftsminister das ord-nungspolitische Gewissen einer Regierung. Es wäre ge-radezu seine Pflicht, solche Öffnungsklauseln zu for-dern. Ich schätze Herrn Glos persönlich als fähigenPolitiker. Aber ich muss zitieren, was zum Beispiel „Bildam Sonntag“, eine der Regierung durchaus nicht feind-lich gesonnene Zeitung, über ihn wörtlich schreibt:Glos blamiert sich nicht nur als Fachminister, son-dern lässt erste Zweifel an der Qualität und Kompe-tenz der neuen Bundesregierung aufkommen.
Der Minister versucht, uns den Heimaturlaub schmack-haft zu machen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wennman aber nicht über den deutschen Tellerrand hinaus-blickt, dann hat man es schwer, Konzepte für eine Re-form des Welthandels oder für die WTO-Verhand-lungsposition zu erarbeiten.Auch das Ministerium ist noch immer nicht richtiggeordnet. Die Diskussion über Luft- und Raumfahrtko-ordination offenbart, dass hier vieles noch nicht klar ist.Ein ordnungspolitisches Gewissen ist jedenfalls in kei-ner Weise erkennbar.
Wenn man die Vorgaben der Bundeskanzlerin ernstgenommen hätte, dann hätte der Jahreswirtschaftsberichtgeradezu ein ökonomisches Freiheitsprogramm seinmüssen. In ihm hätten die Fundamente für mehr Wachs-tum und mehr Arbeitsplätze gelegt werden müssen. DerJahreswirtschaftsbericht ist das Schicksalsbuch der deut-schen Wirtschaftspolitik. Doch statt das Schicksal derdeutschen Wirtschaft zum Besseren zu wenden, wird indem Bericht noch einmal der Inhalt des Koalitionsvertra-ges aufgelistet: reformieren, investieren, Zukunft gestal-ten. Das alles hört sich zwar ganz gut an.
Aber die Realität von Schwarz-Rot ist bisher: kaschie-ren, blockieren und Angst verwalten.
Wer mehr als die Überschriften des Jahreswirtschafts-berichts liest, merkt, dass viel zu wenig Substanz undFreiheit drin sind. Es ist richtig, was Herr Glos sagt: Wirbrauchen ein starkes Wachstum, um den Haushalt zu sa-nieren und in Ordnung zu bringen, und müssen dabeiüber die Ausgabeseite gehen. Aber diese wichtige Er-kenntnis wird nicht umgesetzt. Die erste Maßnahme derRegierung ist, die Ausgaben mit einem Minikonjunktur-programm zu erhöhen. So werden die Ausgaben nichtgesenkt und so wird der Haushalt nicht in Ordnung ge-bracht. Das Dutzend zusätzlicher Staatssekretäre hättenSie sich sparen können. Sie stören nur in der Verwaltungund kosten Geld. Das ist kein Beitrag zum Sparen.
Statt das Wachstum durch weniger Bürokratie undniedrigere Steuersätze zu entfesseln, wird die Mehrwert-steuer deutlich angehoben und der Spitzensteuersatz er-höht. Das ist das Gegenteil von mehr Freiheit wagen. BeiIhnen geht es nach dem Motto „Gib mir meine Mehr-wertsteuer, ich gebe dir deine Reichensteuer“.
Aber mehr Steuern bedeuten weniger Freiheit, weil manin geringerem Umfang über die Verwendung dessen,was man sich selbst erarbeitet hat, entscheiden kann. Eswird also in stärkerem Maße vorgeschrieben, wofür dasselbst Erarbeitete verwendet werden soll. Das ist das Ge-genteil von mehr Freiheit. Das zieht sich wie ein roterFaden durch Ihre Politik. Sie reden nur von Freiheit. Tat-sächlich sorgen Sie aber nicht für mehr Freiheit, sondernreduzieren die Freiheit. Das ist die falsche Politik.
Zum Ausgleich gibt es ein bisschen für Handwerker,ein bisschen für Investitionen, ein bisschen für Familien,ein bisschen für den Mittelstand. Übrigens hat der Haus-haltsausschuss Ihr Gebäudesanierungsprogramm ange-halten, weil die Finanzierung nicht nachvollziehbar ist.Auch da ist das Motto ganz einfach: Erst nimmt mandem Bauern das Schwein weg, dann bekommt er dreiKotelett und soll sich auch noch artig bedanken. Das istkeine Strategie für eine erfolgreiche Politik.
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Rainer BrüderleFamilienförderung ist sicherlich ein wichtigesThema. Nur, die große Koalition zelebriert als Medien-beschäftigungstherapie geradezu täglich ihre Differen-zen in der Familienpolitik. Sie machen so eine ArtSchönheitswettbewerb: Spieglein, Spieglein an derWand, wer ist die Sozialste im Land? Sie sollten sich lie-ber mit den Kernproblemen beschäftigen. Das Beste fürFamilien ist, wenn ihre Mitglieder einen Arbeitsplatz ha-ben und Geld verdienen, statt irgendwelche Wohltatenvon dieser Regierung zu erhalten.
Als wir gefordert haben, den Privathaushalt alsArbeitgeber anzuerkennen, wurden wir beschimpft:Typisch FDP, Dienstmädchenprivileg. Jetzt, mit20 Jahren Verspätung, sagen Sie, Sie hätten eine Wun-derwaffe entdeckt, den Haushalt als Arbeitgeber. Dashätten Sie schon längst machen können. Es könntenschon Hunderttausende in Arbeit sein, wenn Sie unserenVorschlägen früher gefolgt wären.
Das Minikonjunkturprogramm nennen Sie stolz Sub-vention für den Aufschwung. Das ist in sich schon Un-sinn. Subventionen in einen Aufschwung hinein zu ge-währen, hat sich noch nie als erfolgreich erwiesen. Sieunterschlagen völlig, dass Sie in diesem Jahr einZwangsdarlehen bei den Unternehmen, insbesonderebeim Mittelstand, aufnehmen. Die Sozialversicherungs-beiträge müssen nämlich in diesem Jahr einen Monatfrüher entrichtet werden, also dreizehnmal statt zwölf-mal. Damit nehmen Sie der deutschen Wirtschaft Liqui-dität in Höhe von 20 Milliarden Euro. Das können Siedoch nicht mit 5 Milliarden Euro, die Sie für Wärme-dämmung und Elterngeld ausgeben wollen, ausgleichen.Der Beitrag ist viermal so hoch wie der, den Sie unsinni-gerweise als Konjunkturprogramm verkaufen.
Herr Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Dehm?
Bitte sehr.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
nach Ihrer Definition die Deutsche Bank, Allianz, BMW
und Daimler-Chrysler überwiegend sehr frei sein müs-
sen, weil sie in den letzten eineinhalb Jahrzehnten
summa summarum so gut wie keinen Cent Körper-
schaftsteuer bezahlt haben, während die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer unfrei sind, weil sie überwie-
gend mit ihren Lohnsteuern diesen Staat finanzieren?
Sie haben das natürlich nicht richtig verstanden. Ich
will generell die Freiräume für Entscheidungen vergrö-
ßern. Ihr klassenkämpferisches Denken – sie stürzen
sich reflexartig auf Großkonzerne, die Sie früher in Ih-
rem alten System als Großkombinate gefördert haben –
ist die falsche Denkweise.
Sie sollten sich irgendwann einmal von der Vergangen-
heit lösen. Es ist ja schön, dass Sie sich zu Ihrem altso-
zialistischen Erbe bekennen, aber Sie müssen doch nicht
in jeder Sitzung deutlich machen, dass Sie von Wirt-
schaft nichts verstehen.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage, Herr Kol-
lege?
Bitte.
Auch wenn Sie meinen, dass jemand, der wie ich drei
Jahrzehnte relativ erfolgreich Unternehmer war und ein-
mal eine große Unternehmensorganisation geleitet hat,
von Wirtschaft nichts versteht, dann stellt sich doch die
Frage, was Sie zu meinem Kernargument sagen. Was hat
es für eine Bedeutung, wenn wir steuerpolitisch die
Deutsche Bank, Allianz, BMW und Daimler-Chrysler
über eineinhalb Jahrzehnte so schonen, dass bei ihnen
keine Großbetriebsprüfung durchgeführt wird und sie
am Ende so gut wie keinen Cent Körperschaftsteuer be-
zahlen?
Die Realität ist doch längst eine andere. Selbst derBundeswirtschaftsminister räumt ein, dass die Belastungdurch die Unternehmensteuer in Deutschland mit effek-tiv etwa 36 bis 37 Prozent deutlich höher als im europäi-schen Durchschnitt ist. Wir haben es inzwischen ge-schafft, dass durch die Steuerbelastung nicht nur großeVermögen aus dem Land getrieben werden, sondernauch kleine Vermögen. Selbst der Altbundeskanzler hatsich entschieden, seine Rubel lieber in der Schweiz ent-gegenzunehmen als in Deutschland, weil dort mehr üb-rig bleibt.Offensichtlich ist die Strategie ein „Investitionsver-treibungsprogramm“. Wenn die Investitionen nicht hier,sondern woanders getätigt werden, dann entstehen hierauch keine Arbeitsplätze. Sie müssen einmal rekapitulie-ren, dass Arbeitsplätze folgendermaßen entstehen:Irgendjemand nimmt Geld in die Hand, geht in ein Ge-schäft, kauft etwas und zur Herstellung dessen, was ge-kauft wird, werden andere Menschen beschäftigt. Mitroten Fahnen am 1. Mai können Sie die Beschäftigungs-misere in Deutschland nicht beseitigen. Das hat sichschon früher nicht bewährt und das bewährt sich auchheute nicht.
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Rainer Brüderle– Natürlich. Ich bin sogar für Meinungsfreiheit. Deshalblege ich Wert darauf, dass auch Sie hier noch reden dür-fen. Mit einer Mehrheit von 73 Prozent wollen Sie denpolitischen Wettbewerb kleinhalten. Treten Sie jetzt da-für ein, dass zumindest der wirtschaftliche Wettbewerboffen bleibt!Was Sie tun, ist jedenfalls das Gegenteil von „Freiheitwagen“. Zur Belebung der Wirtschaft fehlen in diesemJahr 20 Milliarden Euro. Jedes Konjunkturprogramm,das das ausgleichen soll, ist ein echter Witz.Sie müssten das Steuersystem in Ordnung bringen.Sie müssten es einfacher machen, damit die Menschenes noch verstehen. Selbst die Steuerberater klagen, dasssie mit diesem System nicht mehr umgehen können. Ver-fassungsrichter sagen, ein derart kompliziertes Steuer-recht sei an der Grenze der Verfassungsgemäßheit.Die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, dieSozialsysteme in Ordnung zu bringen, all dies haben Sieim Koalitionsvertrag ausgeklammert. Weder zur Pflegenoch zum Gesundheitswesen noch zur Rente haben SieVereinbarungen getroffen. Das lag nicht daran, dass Siekeine Zeit gehabt hätten, das auszuhandeln; der Grundwar vielmehr, dass Sie sich über die ganze Themenpa-lette von Kopfpauschale bis Bürgerversicherung nichteinig sind. Da kann es doch keine vernünftigen Kompro-misse in der Gesundheitspolitik geben.
Wagen Sie doch endlich mehr Freiheit! Ich höre dieAnkündigung, Bürokratie abzubauen, seit Jahren.Wolfgang Clement ging jede Woche mit einem neuenbunten Luftballon durch die Landschaft – Stichwort„Masterplan Bürokratieabbau“ – und am Schluss kamganz wenig dabei heraus. Ich bin sehr gespannt, wasdiesmal herauskommt. Der beste Weg wäre, mehr Kom-petenzen auf die Länder zu verlagern und den föderalenWettbewerb zu fördern – „race to the bottom“ zwecksAbbau der Bürokratie –, damit es wirklich zu einem Be-freiungsschlag bei uns kommt. Die Handschellen, diewir dem Mittelstand und der Wirtschaft in Deutschlanddurch zu viele Regelungen – sie verhindern, dass Ar-beitsplätze entstehen – angelegt haben, müssen endlichabgelegt werden.Herr Glos, ich finde es ganz gut, dass Sie Änderungenam Gaststättengesetz vornehmen wollen. Aber die Ab-schaffung des „Frikadellenabiturs“ allein wird die Lö-sung der Probleme der deutschen Volkswirtschaft nichtbringen. Da muss schon ein bisschen mehr kommen.Bisher ist jedenfalls festzustellen, dass die großeKoalition den Wettbewerb sträflich vernachlässigt. IhreAnsätze sind interventionistisch, industriepolitisch. DieLex Telekom, die veranlasst, die Telekom bei der Breit-bandkabelkommunikation aus dem Wettbewerb heraus-zunehmen, ist kein Beitrag, mehr Freiheit zu wagen undden Wettbewerb zu stärken. Im Gegenteil: Es ist gera-dezu eine Privilegierung.
Ihnen geht es bei Freiheit offenbar um die Freiheitvom Wettbewerb statt um die Freiheit zum Wettbewerb.Wir brauchen mehr Freiheit zum Wettbewerb, damit derWettbewerb die Wirtschaft besser steuern kann und da-mit es zu besseren Ergebnissen kommt.Wir haben immer noch ein Monopol bei der Briefbe-förderung. Dieses Monopol hätten wir schon längst ab-schaffen können. Auch Ihre Leuchtturmprojekte sindsehr fragwürdig. Sie legen fest, was zukunftsweisend ist– das sind die so genannten Leuchtturmprojekte –, stattmehr Wettbewerb zuzulassen. Nur durch Wettbewerbund nicht durch Festlegungen von Beamten kommenwirtschaftliche Erfolge zustande.
Der europäische Steuerwettbewerb soll verhindertwerden. Die Bundesregierung will, dass die Regionalför-dermittel für solche Mitgliedstaaten gestrichen werden,deren Unternehmensteuerquote angeblich zu niedrig ist.Das ist ein tolles System: Statt selbst besser zu werden,werden die, die es besser machen, bestraft und sollen un-sere schlechten Regeln übernehmen. So kommen wirwahrlich nicht voran. Ein weiterer Schritt in die falscheRichtung wäre, dass durch EU-Beschluss festgelegtwird, dass die Wirtschaft Chinas, Indiens und andererLänder nicht mehr schneller als unsere wachsen darf.Das wäre nicht „Freiheit wagen“, sondern einfach Un-sinn.
Ihr neuester Vorstoß, EU-Subventionen für Arbeits-platzverlagerer zu verbieten, ist natürlich ein interessan-ter Ansatz. Für mich ist das ein Ablenkungsmanöver,weil gerade die Bundeskanzlerin die Mittel für die osteu-ropäischen Staaten aufgestockt hat. Diese Staaten habennun noch mehr Mittel, um im Wettbewerb zu bestehen.Dennoch fordern Sie, diese Mittel zu reduzieren. Dashätte Frau Merkel wunderbar machen können, indem sieden Osteuropäern keine höheren Mittel für die regionaleWirtschaftsförderung faktisch zugestanden hätte.Europäische Dienstleistungsrichtlinie: Hierbei wirddas Herkunftslandprinzip fundamental infrage gestellt.Wir sind ein Hochlohnland, Hochsteuerland und Hoch-bürokratieland. Deshalb müssen wir dort ansetzen, diesreduzieren und mehr Freiheit wagen, um bessere Ergeb-nisse zu erzielen.Das Institut der deutschen Wirtschaft hat vorgerech-net, dass wir durch einen umfassenden Bürokratie-abbau 30 Milliarden Euro mehr erwirtschaften, 600 000neue Arbeitsplätze schaffen und 1,5 Prozent mehrWachstum erreichen könnten. Machen Sie es doch! Nie-mand hat Sie gehindert. Ihr leidenschaftlicher Junior-partner SPD hat dies in den sieben Jahren, in denen ermit den Grünen regiert hat, nicht getan, sondern, im Ge-genteil, die Bürokratie noch weiter verstärkt. Was vonder Klausurtagung in Genshagen nach außen gedrungenist, ist auch kein Beitrag zu dem Ziel, mehr Freiheit zuwagen.
Wenn man die Verteilung über die Erwirtschaftung setzt,kommt man natürlich nicht voran.
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Rainer BrüderleDas Kernproblem der deutschen Volkswirtschaft ist,dass unser Wachstumspfad, die Entwicklung des Pro-duktionspotenzials, zu schwach ist. Bei diesem Wachs-tumspfad – der Sachverständigenrat hat maximal1,2 Prozent attestiert – können wir keine echte Verbesse-rung auf dem Arbeitsmarkt erreichen. Die Bundesbanksagt, dass wir mindestens 2 Prozent reales Wachstumbrauchen, um auf dem Arbeitsmarkt echte Verände-rungseffekte zu erreichen; andere Institute sprechen von1,8 Prozent. Aber all Ihre Prognosen – für 2007 ist Ihrepersönliche Prognose 1 Prozent, wie Sie bei Ihrer Pres-sekonferenz gestern dargelegt haben – liegen deutlichunter dem, was wir bräuchten, damit wir die Wende aufdem Arbeitsmarkt schaffen.Ihre Strategie – wir machen in diesem Jahr nichts,weil sieben Wahlen anstehen; wir lassen weiter ein Defi-zit durchlaufen; wir machen ein bisschen Konjunktur-programm, was eine veraltete Strategie aus den 60er-und 70er-Jahren ist und nicht wirken kann; das Abkas-sieren beginnt erst 2007, nach den sieben Wahlen; dawird der Aufschwung hoffentlich so stark sein, dass erüber diese Hürde hinweg trägt – ist eine sehr gewagtespielerische Strategie. Besser wäre es, das gleich richtigzu machen, den Menschen die Wahrheit zu sagen, dieDinge in Ordnung zu bringen, die Reformen umzuset-zen, die Belastung zu reduzieren und die elementarenKenntnisse der Volkswirtschaft umzusetzen. Sie gebensich stattdessen einem Wunschdenken hin: Plötzlich istalles schön. Die beiden Partner in der Koalition sind inden Flitterwochen und haben sich so lieb, dass gar keineDiskussion mehr aufkommen soll. Gesundbeten wirdaber nicht helfen.Der Export läuft gut – Gott sei Dank –, aber die glei-chen guten Produkte, die wir im Ausland gut verkaufenkönnen, finden im Binnenmarkt keinen Absatz, weilkein Vertrauen da ist und weil keine Berechenbarkeit ge-geben ist. Ein Steuererhöhungsprogramm, das den Men-schen ab 2007 für den Rest der Legislaturperiode120 Milliarden Euro abnimmt, ist wahrlich kein Kon-zept, das einen dauerhaften Aufschwung bewerkstelli-gen kann. Schauen Sie sich in Großbritannien, Schwe-den und den Niederlanden einmal an, weshalb dort dieArbeitslosigkeit weniger als halb so hoch wie inDeutschland ist! Das ist deshalb so, weil diese Staateneine andere Strategie eingeleitet haben, weil sie denStaat ein Stück zurückgenommen haben, weil sie denMenschen ihr Geld schneller zurückgegeben haben, weilsie stärker dereguliert haben und weil sie ihre sozialenSicherungssysteme in Ordnung gebracht haben. Das sinddie Ansätze, die auch für Deutschland richtig wären.Was wir tun müssten, wissen wir. Das sagt die Bun-desbank. Das steht im Gutachten des Sachverständigen-rats. Das sagen uns der Internationale Währungsfondsund die OECD. Nur, es wird nicht umgesetzt.Was hier halbherzig betrieben wird, wird nicht dieLösung der Probleme bringen. Es ist kein Jahreswirt-schaftsbericht, der einen überzeugenden Weg aus derdeutschen Situation aufzeigt. Er enthält ein bisschenWunschdenken, nennt ein bisschen hier und ein bisschenda. Die Trippelschritte sind nicht der richtige Ansatz, umdie Probleme zu lösen. Hier gilt die alte Regel: Wennman wirtschaftlich etwas erreichen will, muss man klot-zen und darf nicht nur kleckern. Mit Kleckern und Trip-pelschrittchen kann man sich ein bisschen bewegen,wenn es kalt ist, aber man erreicht nicht die Geschwin-digkeit, die notwendig ist, um zum Ziel zu kommen unddie Probleme zu lösen.Vielen Dank.
Kollege Stiegler ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kol-lege Brüderle ist wirklich ein armer Tropf. Er ist eigent-lich ein grundkonstruktiver Mensch. Mir tut herzlichLeid, dass er hier für die FDP, die als einzige der frühe-ren Oppositionsfraktionen in dieser Rolle verblieben ist,weiter Trübsal blasen muss. Früher war das ein Orches-ter. Jetzt gibt es nur noch eine einsame Posaune, aber derResonanzboden reicht nicht, um die Stimmung in derdeutschen Wirtschaft wirklich zu beeinflussen. HerrBrüderle, reden Sie doch so, wie Sie wirklich sind, undlassen Sie uns gemeinsam etwas für den Aufschwungtun!
Ihnen kann doch nicht entgangen sein, dass der Ifo-Konjunkturindex die 100 wieder überschritten hat. Dasheißt, die Stimmung in der Wirtschaft zeigt etwas ande-res, als Sie dargestellt haben. Sie hocken wie der Froschbei schlechtem Wetter ganz unten, während diejenigen,die in der Wirtschaft die Verantwortung tragen, längstnach oben geklettert sind und sich freuen, dass die Sonnewieder scheint. Sie sind noch wie zugefroren, währenddie anderen wie die Veilchen aus der Erde kommen.
Der Ifo-Konjunkturindex – Sie wissen es doch selber,Herr Westerwelle – zeigt die Geschäftserwartungen unddie Geschäftswirklichkeit und widerlegt damit den libe-ralen Pessimismus. Eigentlich müssten die Liberalen op-timistisch sein, statt zu weinen und zu klagen.
Schauen Sie sich an, was die Institute sagen. Wir sindzurzeit eher unteroptimistisch, was die amtlichen Datenbetrifft.
Auch das ist eine Methode, sich positiv überraschen zulassen. Machen Sie mit! Heute Morgen stellt der Spar-kassen- und Giroverband seine Mittelstandsdiagnosevor. Alle Experten sagen, dass selbst der Mittelstand, derja besondere Probleme hat, wieder investiert und wiedermehr Mut hat. Ausgerechnet in Rheinland-Pfalz, wo Sie
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Ludwig Stieglerin Einigkeit mit uns Sozialdemokraten regieren, sind dieHandwerker mit am optimistischsten.
Also, Herr Brüderle, nehmen Sie von dem OptimismusIhrer Handwerker in Rheinland-Pfalz etwas mit ins Ple-num, dann geht es uns allen besser!
Meine Damen und Herren, der sieben Jahre dauerndeKampf zwischen den beiden Lagern hat letztlich daringeendet, dass die Leute depressiv wurden, weil niemandmehr wusste, wie es vorangeht. Die Taktik des Schlecht-machens des anderen, damit man selber gut dasteht, hatniemandem geholfen. Es ist einer der Vorteile der großenKoalition, dass keiner mehr den anderen anschwärzenkann, weil er sich gleichzeitig selbst anschwärzenwürde. Wir sind zum gemeinsamen Erfolg verurteilt undwir wollen ihn gemeinsam haben.
Unsere Aufgabe in diesem Jahr ist es, den Auf-schwung zu stärken, um die internen wie die externenBelastungen zu überstehen und voranzukommen. Natür-lich wissen wir, dass die Mehrwertsteuererhöhung einEisbatzen im Gefäß ist; aber wir müssen die Konjunkturso anheizen, dass die Wirtschaft das verträgt. Die deut-sche Volkswirtschaft hat 2005 mit den Öl- und Energie-preissteigerungen eine vergleichbare Belastung wegge-steckt und ist trotzdem gewachsen. Damals kam dieseBelastung von extern. Da haben die Scheichs und anderedas Geld kassiert; aber wir haben das weggesteckt undSie haben es auch nicht beklagt. In dem Moment jedoch,wo wir zur Haushaltskonsolidierung beitragen wollen,fangen Sie an zu jammern. Wenn wir aber den Haushaltnicht konsolidieren würden, würden Sie hier den Welt-untergang verkünden. Das ist ja fast wie zwischen Scyllaund Charybdis, wenn man es Ihnen Recht machen will:Wenn man das eine vermeidet, fällt man dem anderenzum Opfer. Herr Brüderle, lassen Sie uns gemeinsam inder Mitte bleiben, dann kommen wir auch voran!Wir haben die Genshagener Impulse. Das Handwerkwirbt mit dem Programm der großen Koalition bei seinerKundschaft. Wo hat es das je gegeben? Das Handwerksetzt Vertrauen in uns. Mit dem CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm starten wir, Herr Brüderle, am 1. Fe-bruar. Unsere klugen Haushälter haben einen Bypass ge-funden, wodurch die Behinderung, die in den letztenWochen aufgetreten ist, symbolisch bleibt, aber keineWirkung entfaltet. Auch das gehört zur Regierungs-kunst.
Sie sollten uns darum eher beneiden, als herumzukrit-teln.Die Abschreibungsverbesserung verursacht gerade imAufschwung einen zusätzlichen Schwung für die Inves-titionstätigkeit. Im Gegenzug zur Mehrwertsteuererhö-hung haben wir gerade für die kleinen und mittleren Un-ternehmen eine ganze Menge zusätzlicher Liquiditätbereitgestellt. Die von Ihnen angesprochene zusätzlicheBeitragszahlung wird über Monate so verteilt, dass sievon den Unternehmen verkraftet werden kann.Die Wirkungen der Multiplikatoren unserer Maßnah-men – wir stehen zu diesen Maßnahmen – werden dieSchwierigkeiten durchaus ausgleichen. Ich hoffe sogar,dass sie sie übertreffen werden. Sie werden im Laufe desJahres Mühe haben, auf den Erfolgszug aufzuspringen.Aber wir werden Ihnen die Hand reichen, damit Sienicht unter die Räder geraten.
– Gucken Sie sich das ruhig an! Ich muss ja HerrnBrüderle sozusagen pflegen; denn er regiert mit uns inRheinland-Pfalz. Für mich ist es also eine besondersschwierige Situation.
Ich möchte diese Freundschaft erhalten.
– Es ist mein Schicksal, dass ich immer nach ihm redenund daher diese depressiven Einschübe überwinden undzum Optimismuspfad zurückkehren muss.
Das werden wir miteinander schon hinbekommen.Im Mittelpunkt stehen die kleinen und mittleren Un-ternehmen. Die „Diagnose Mittelstand“ des DeutschenSparkassen- und Giroverbands zeigt: Es ist besser ge-worden; wir sind aber hinsichtlich der Eigenkapitalaus-stattung und anderer Dinge noch längst nicht dort, wohinwir wollen. Wir müssen uns gemeinsam um die Finan-zierungsfragen kümmern und die Eigenkapitallücke mitden mezzaninen Instrumenten überwinden helfen. Wirwerden mit der KfW reden, dass die Mittelstandsförder-programme an das neue Ratingsystem, an Basel II, ent-sprechend angepasst werden.Wir werden uns gemeinsam auch um die Möglichkei-ten der Beteiligung an kleinen und mittleren Unter-nehmen kümmern. Das gilt für die Arbeitnehmerbeteili-gung genauso wie für die Beteiligung von Menschen ander Finanzierung der kleinen und mittleren Unternehmenin ihrer Region. Es ist doch verrückt, dass wir in For-schung und Entwicklung viel Geld investieren, aberwenn es um Seed Capital und um Wachstumskapitalgeht, dann brauchen wir die Private Equity, also die ame-rikanischen Rentner. Dieses Land kann das für seineVolkswirtschaft selbst organisieren. Das müssen wir mit-einander anpacken.
Wir werden daher gemeinsam das Unternehmensbeteili-gungsgesetz verbessern.
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Ludwig StieglerDie Risiken 2006 sind Rohstoffpreise und Energie-kosten. Das ist eine schwere Hypothek. Die Nachfragenach Rohstoffen nimmt zu. Wir haben in den letzten Jah-ren erlebt, was hohe Rohstoffpreise bedeuten. In Bezugauf die Energiekosten und Sicherheit bei der Energiever-sorgung gibt es Fragen. Unsere Antwort ist Effizienzstei-gerung durch Technik und, Herr Brüderle, auch durchWettbewerb. Wir werden bei der Energieversorgung dieAnreizregulierung mithilfe des Ministeriums und derRegulierungsbehörde durchsetzen. Ihr Beitrag ist dabeidurchaus erwünscht. Aber daneben geht es, wie gesagt,auch um die Technik.Das Unwort des Jahres heißt Entlassungsproduktivi-tät. Wir setzen den Managern entgegen: Der Fortschrittwird nicht durch Entlassungsproduktivität hervorge-bracht, sondern durch eine kostenentlastende Effizienzund durch kostenentlastende Rohstoffproduktivität. Fürihre hohen Einkommen sollen die Manager ihr Gehirn-schmalz auf die Weiterentwicklung in diesen Bereicheneinsetzen. Das ist unsere gemeinsame Forderung.
Ich stimme Sigmar Gabriel und Michael Müller aus-drücklich zu, dass die Energie- und Rohstoffintelligenzdie Zukunftsfragen sind, vor denen wir stehen. Deshalbmüssen wir die neuen Potenziale der erneuerbaren Ener-gien erkennen und beherzt nutzen. Vor dem Hintergrundder aktuellen Preisentwicklung tun sich völlig neue Ho-rizonte auf. Wir müssen die Übergangsenergien bis hinzu den Null-Emission-Kraftwerken voranbringen. Diegroße Koalition wird deshalb schwerpunktmäßig dieForschung und Entwicklung stärken sowie Bildung,Ausbildung und Weiterbildung vorantreiben. HerrBrüderle, das ist der Pfad, auf dem Sie uns begleitensollten. Sagen Sie Ja!
– Er verhält sich sehr sperrig.2006 bietet also gute Aussichten auf mehr Wachstumund Beschäftigung, beispielsweise auch im Bereich desTourismus. Wir wollen die Fußballweltmeisterschaftnutzen und dabei wollen wir uns nicht von einer schlech-ten Seite zeigen. Wir wollen weder Militär vor den Sta-dien sehen
noch wollen wir, dass die Gastwirte ihre Monopolstel-lung nutzen und zu hohe Preise verlangen. Wir müssenuns nachhaltig auf den Incoming-Tourismus ausrichten,damit sich Deutschland dauerhaft als Zielland für Reisenetabliert. Dafür müssen wir die Weltmeisterschaft nut-zen. Das ist ein ganz wichtiger Faktor.
Der Tourismus schafft Arbeitsplätze in der Fläche, inden strukturschwachen Regionen.Wir wollen auch das nutzen, was der Arbeitsministerjetzt angestoßen hat: ein Kurzarbeitergeld in schwierigenTourismusstandorten, die nur eine kurze Saison und indiesem Bereich noch Schwierigkeiten haben. Auch dieseBeschäftigungsprobleme wollen wir angehen.
Wir wollen gemeinsam den Standort fördern. Es istMusik in meinen Ohren, wenn Michael Glos, der nochvor einem Jahr in seinen Reden den Weltuntergang ge-predigt hat,
jetzt ganz anders spricht. Insofern setzt Herr Brüderledas fort, was früher
die beiden Wunschpartner für eine Alternativkoalition,die nicht gewählt worden ist, gemeinsam verkündet ha-ben. Dies ist jetzt nur noch eine zarte Stimme und klingtnicht mehr nach einem Kontrabass.Wir haben jetzt den Standortvorteil „große Koali-tion“. Wir können das gemeinsame Projekt „Fuchs undRappe vor dem Staatswagen“ durchführen. Sie werdenuns nicht dazu bringen, dass wir uns gegenseitig verbei-ßen. Wir werden vielmehr klar vorausgehen.Entscheidend ist aber, dass wir die bei den Menschenbestehende Angst vor Veränderungen überwinden, dasswir Zukunftsangst in Zukunftsvertrauen umwandelnund dass wir den Menschen den Glauben an die Hand-lungsfähigkeit zurückgeben. Dazu gehört ein verlässli-cher Sozialstaat und nicht Ihre Vorstellung von Freiheit,Herr Brüderle – die der Vogelfreiheit nahe kommt –,sondern Freiheit für alle durch soziale Sicherheit und dasVertrauen, dass man in schwierigen Umständen Gebor-genheit findet.
Darum werden wir zusammen mit unseren schwarzenBrüdern und Schwestern
die europäische Dienstleistungsrichtlinie so gestalten– wir werden uns gemeinsam anstrengen –, dass der So-zialstaat nicht gefährdet wird.Zum Zukunftsvertrauen gehört, dass wir die Men-schen an Bildung teilhaben lassen, dass wir Bildung alsZukunftsvorbereitung verstehen, dass auch diejenigen,die aus prekären Verhältnissen kommen, die Chance ha-ben, in den Zug einzusteigen, und dass wir keine Talentezurücklassen. Das ist ein Stück Geborgenheit. Zukunfts-vertrauen besteht zum Beispiel für den Mittelstand darin,Zugang zu Finanzierungselementen zu haben, die bishernicht zur Verfügung standen.Herr Brüderle, die Liberalen vergessen gelegentlich:Auch der Sozialstaat ist eine Produktivkraft. Sie sehen
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922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006
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Ludwig Stiegleretwa an dem verrückten Verhalten von Electrolux inNürnberg, welche Krisen daraus erwachsen. Sie habenbei Conti in Hannover gesehen, in welche Krisen manUnternehmen führt, weil die Manager mit Entlassungs-produktivität arbeiten. Sie sollten neue Produkte, neueVerfahren, neue Effizienzen suchen und die Menschenmitnehmen. Das wäre die richtige Antwort.
Zu einem guten Sozialstaat gehört auch, dass die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitgenommen wer-den. Wir wissen, dass die Tätigkeit der Unternehmer die-sen mehr Vermögen und mehr Einkommen gebracht hatals die Tätigkeit der Arbeitnehmer den Arbeitnehmern.Deshalb muss die differenzierte Tarifrunde dazu beitra-gen, dass die Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer ei-nen fairen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg bekommen.Wir haben also einerseits die Aufgabe, Marktdynamikzu entfalten, und andererseits die Aufgabe, das Gemein-wohl zu sichern. Markt und Gemeinwohl müssen imGleichgewicht bleiben. Das ist das, was Ludwig Erhardmit Wohlstand für alle gemeint hat.
Das ist unser Auftrag.Steigen Sie also ein! Machen Sie mit! Mit Trübsalbla-sen kommt man zu keinem Fortschritt. Lasst uns diesesJahr mit Zukunftsvertrauen angehen! Wir fangen zu Be-ginn des Jahres mit Anstößen an und bezahlen, wie inder Vergangenheit oft geschehen, nicht mehr am Endedes Jahres den Verlust, der durch mangelnde Aktivitätzustande kommt. Wir fangen gleich richtig an.Glückauf!
Ich erteile dem Kollegen Oskar Lafontaine für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich bin heute in der außergewöhnlichen Situation,meinen Beitrag zum Jahreswirtschaftsbericht mit einemausdrücklichen Lob der Bundesregierung beginnen zukönnen. Dieses Lob spreche ich deshalb aus, weil selteneine Regierung in so eindrucksvoller Klarheit dieFrüchte ihrer Arbeit im Jahreswirtschaftsbericht darge-stellt und prognostiziert hat wie diese Regierung. Ich binsicher, dass auch die Abgeordneten der Koalition inte-ressiert sind, zu hören, was die Bundesregierung vondiesem Jahr erwartet. Ich weiß aus eigener Erfahrung,dass man nicht immer dazu kommt, alle Unterlagen biszum Ende zu lesen, und trage daher jetzt die wichtigstenSätze vor.Die Regierung sagt auf Seite 96:Die Summe der Nettolöhne und -gehälter stagniertin diesem Jahr erneut.Dort heißt es weiter:Die Selbständigen- und Vermögenseinkommendürften … in diesem Jahr kräftig zunehmen …Die Regierung geht von 7,25 Prozent aus. Ich möchtedas noch einmal verdeutlichen: Die Arbeitnehmer erhal-ten nichts und die Vermögenden und diejenigen, die überGewinneinkommen verfügen, erhalten wie im vergange-nen Jahr einen Zuwachs in Höhe von 7,25 Prozent. Dasstellt die Regierung als Ergebnis ihrer Wirtschaftspolitikrichtigerweise fest.
Im Bericht heißt es weiter,dass sich die monetären Sozialleistungen des Staa-tes insgesamt leicht vermindernwerden. Das heißt, der Staat wird weniger soziale Leis-tungen erbringen.Am Schluss dieser eindrucksvollen Zukunftsbilanzheißt es:Ferner werden angesichts einer stagnierendenLohnentwicklung im vergangenen Jahr die Rentenerneut nicht steigen.Das alles ist richtig, aber ich habe selten ein Resümeegelesen, in dem in solch beeindruckender Klarheit voneiner Regierung festgestellt wird, dass weiter von untennach oben umverteilt wird und dass diese Regierungdazu steht. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: Wirhalten das für eine katastrophale Bilanz.
Ich habe hier bereits darauf hingewiesen – und mussmich wundern, dass es nicht aufgegriffen wurde –, dasssich eine Schlüsselgröße der Volkswirtschaft, nämlich dieLöhne, in Deutschland beängstigend entwickelt. Wir ha-ben im letzten Jahr zum ersten Mal nach dem Krieg sin-kende Bruttolöhne verzeichnet. Ich wiederhole das, weilauch in der Berichterstattung immer wieder von sinken-den Netto- oder Reallöhnen die Rede war. Wir hatten erst-mals sinkende Bruttolöhne! Es war nicht nur so, dass dieGewinn- und Vermögenseinkommen deutlich gestiegensind, sondern gleichzeitig hat man den Arbeitnehmern,wie die Wirtschaftsabteilungen der Gewerkschaften aus-gerechnet haben, brutto 6 Milliarden Euro genommen.Ich kenne keinen vergleichbaren Industriestaat, dereine solche Entwicklung verzeichnet. Trotzdem hat einRedner in diesem Hause gesagt: Die Sonne scheint. Ichwill mich mit ihm gar nicht persönlich auseinander set-zen, darf aber für die große Mehrheit der Bevölkerungfeststellen, dass die Sonne nicht scheinen wird, weil dieRenten trotz steigender Preise nicht steigen werden undweil die Bruttolöhne trotz steigender Preise sinken oder
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 923
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Oskar Lafontainestagnieren werden. Das heißt, die große Mehrheit desVolkes wird in diesem Jahr weiterhin Verluste hinneh-men müssen. Das ist eine beängstigende Bilanz, zu derman doch Stellung nehmen müsste!
In dieser Situation ist das Hauptanliegen der Regie-rungsparteien und auch konkurrierender Parteien, dieLohnzusatzkosten zu senken. Die hohen Lohnzusatz-kosten seien das wichtigste Problem unserer Volkswirt-schaft. Aus Unternehmersicht sind LohnzusatzkostenLöhne. Angesichts der Tatsache, dass die Bruttolöhnesinken, ist es ganz merkwürdig, wenn man davonspricht, dass das Hauptanliegen unserer Volkswirtschaftdarin bestehe, die Lohnzusatzkosten zu senken; das seivor allem wichtig, weil wir sonst international nichtmehr wettbewerbsfähig seien.Welch ein gigantischer Schwachsinn – ich muss dashier so deutlich sagen – wird täglich abgesondert, wenndavon gesprochen wird, dass wir international nichtmehr wettbewerbsfähig seien!
Wir sind die wettbewerbsfähigste Industrienation derWelt! Kein anderes Land exportiert so viele Waren wiedie Bundesrepublik Deutschland. Weder die Chinesennoch die Inder, noch die Japaner oder die US-Amerika-ner exportieren so viel wie wir; dennoch heißt es immerwieder, wir seien international nicht wettbewerbsfähig.Wenn die Realität nach wie vor so geleugnet wird, wiees zurzeit geschieht, wird es niemals möglich sein, inDeutschland zu Wachstum und Beschäftigung zu kom-men.
Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gesagt, wirstünden bei der Steuerquote doch nicht schlecht da. Eswurde insoweit eine gewisse Korrektur all der Beiträgevorgenommen, die in den letzten Monaten geleistet wor-den sind, als immer wieder darauf hingewiesen wordenist, dass die Steuerquote bei uns vielleicht nicht ganz sohoch, die Abgabenquote aber beträchtlich sei.Insofern ist es verdienstvoll, dass für all diejenigen,die sich falsch geäußert haben – ich will niemanden per-sönlich ansprechen –, im Jahreswirtschaftsbericht wie-der einmal die Steuer- und Abgabenquote nach derOECD-Statistik für Deutschland im internationalen Ver-gleich dargestellt worden ist. Jeder, der willens ist, nach-zulesen, kann auf Seite 23 nachlesen, dass wir bei derSteuerquote Großbritannien um circa 9 Punkte nach un-ten übertreffen. Bei der Abgabenquote liegt Deutschlandbei 34,6 Prozent und Großbritannien bei 40,6 Prozent.Das sind – bezogen auf unser Bruttosozialprodukt – weitüber 160 Milliarden Euro, die den öffentlichen Haushal-ten in Großbritannien zusätzlich zur Verfügung stehen,und Großbritannien hat keine Einheit zu finanzieren.Ist denn immer noch nicht klar, dass es mit einer sol-chen Steuer- und Abgabenpolitik unmöglich ist, einenmodernen Industriestaat zu verwalten?
Kein Industriestaat der Welt leistet sich eine solch kata-strophale Fehlentwicklung.Ich wiederhole für das geschätzte Plenum die Durch-schnittszahlen: Während der europäische Durchschnittbei der Steuerquote bei 28,9 Prozent liegt, liegt er beiuns bei 20,4 Prozent. Während der europäische Durch-schnitt bei der Abgabenquote bei 40,5 Prozent liegt, liegter bei uns bei 34,6 Prozent. In einer solchen Situationmuss man natürlich dazu kommen, dass man die sozia-len Leistungen kürzt. In einer solchen Situation mussman natürlich dazu kommen, dass man für die Rentnernichts mehr übrig hat. Aber ein solcher Weg kann immernur zu demselben Ergebnis führen: Im Export sind wirstark, weil eine solche Politik den Export nicht gefähr-det, sondern eher noch leicht unterstützt. Aber auf demBinnenmarkt wird es sein wie immer in den vergange-nen Jahren: kein Wachstum und damit auch keine Unter-stützung für Beschäftigung, was wir in diesem Lande je-doch dringend bräuchten.
Weder mit einer Politik der Umverteilung von untennach oben, die Sie in eindrucksvoller Weise hier darge-legt haben,
noch mit einer Steuerpolitik, die angesichts der beab-sichtigten Mehrwertsteuererhöhung weiter von untennach oben umverteilt, ist irgendeine vernünftige Wirt-schaftspolitik zu machen.Um das auch Herrn Kuhn von den Grünen noch ein-mal zu sagen: Die Alternative zu einer drastischenMehrwertsteuererhöhung ist nun einmal eine Vermö-gensteuer, für die ich hier nachdrücklich werbenmöchte.
Ich will noch einmal die Zahlen dazu nennen: DasGeldvermögen der Deutschen beläuft sich auf über4 000 Milliarden Euro. Von diesen 4 000 MilliardenEuro – einfach zum Nachrechnen – haben die oberstenZehntausend 2 000 Milliarden Euro. Hätte irgendjemandden Mut, nur das Geldvermögen der obersten Zehntau-send mit 5 Prozent zu besteuern, käme man in die Näheder durchschnittlichen europäischen Abgabenquote undhätte in den öffentlichen Haushalten 100 Milliar-den Euro mehr zur Verfügung.
Stattdessen kürzen Sie Renten, soziale Leistungen unddrücken auf Löhne.Ich möchte noch etwas zur Lohnentwicklung inDeutschland sagen. Sie kommt nicht von ungefähr undes ist auch nicht so, dass man sich zurücklehnen und sa-gen kann, dafür seien die Tarifparteien in der Verant-wortung. Nein, die große Koalition oder die Allparteien-koalition, die in den letzten Jahren hier gewirkt hat, haterheblichen Anteil an diesem Ausnahmezustand, dass
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Oskar Lafontainedie Bruttolöhne in Deutschland fallen. Wer Freiheit ver-steht, Herr Kollege Brüderle – das muss ich hier einmalsagen –, als Freiheit von Tarifverträgen, wer Freiheitversteht als Freiheit von Kündigungsschutz, wer Freiheitversteht als Freiheit von sozialer Sicherung – ich denkedabei an das Streichen der Arbeitslosenhilfe und dasKürzen des Arbeitslosengeldes –, der setzt die Arbeit-nehmer einer Situation aus, in der sie leichter erpressbarsind, in der sie es nicht wagen, kräftig für ihre Interesseneinzutreten, aus Angst, dann Hartz-IV-Bezieher zu wer-den. Deshalb sinken die Löhne und deshalb ist diese per-verse Arbeitsmarktpolitik endlich zu revidieren.
Vor dem, was Sie hier selbst bilanziert haben, kanndoch niemand die Augen verschließen. Sie bilanziereneine Umverteilung von unten nach oben. Schrecklich!Früher hätte es von bestimmten Gruppen bei einer sol-chen Bilanz Aufstände gegeben. Sie sagen hier dannnoch fröhlich: Die Sonne scheint.
– Es ist so. Leider ist es aber so, dass die Sonne hier imReichstag nur auf eine gewisse, ausgewählte Körper-schaft scheint. Das ist bekanntlich nicht eine Versamm-lung von Hartz-IV-Empfängern, Rentnern oder Arbeit-nehmern, die im Niedriglohnbereich tätig sind. Das istdas Problem.
Ich möchte noch einen Satz – meine Redezeit ist lei-der gleich zu Ende –
zu Ihrer Bemerkung, Herr Kollege Brüderle, auf dieZwischenfrage des Kollegen Diether Dehm zur Deut-schen Bank sagen. Sie hätten schon etwas dazu sagenkönnen, warum die Einkommen der Schwächsten syste-matisch fallen und die großen Betriebe keine Steuernmehr zahlen. Dazu kann man doch etwas sagen! Siemeinten dann, auf die Kombinate in der ehemaligenDDR verweisen zu müssen.Erlauben Sie mir dazu noch diese Bemerkung: Ichhabe in der Presse gelesen, dass der Vorsitzende des Ver-waltungsrates der BaFin – des Gremiums, das die Ge-schäftspraktiken der Banken kontrollieren soll –, HerrStaatssekretär Caio Koch-Weser, jetzt zur DeutschenBank wechselt. Vielleicht haben Sie das gemeint.
Ich möchte Ihnen dann aber sagen: Wenn das Kombi-natswirtschaft ist, dann sitzt das Politbüro nicht mehr inder Regierung, sondern in der Deutschen Bank. Dasscheint ein Problem unserer Wirtschaft zu sein.
Ich fasse zusammen: Bei dieser Art von Wirtschafts-und Finanzpolitik werden Sie im Export kein Unheil an-richten. Insofern können Sie da einen gewissen Beitragerwarten. Aber auf dem Binnenmarkt wird es wie in allden letzten Jahren sein: Die Umverteilung wird dasWachstum bremsen und die Arbeitslosigkeit wird ten-denziell auf hohem Niveau bleiben. Das heißt, Sie selbstkündigen schon den Fehlschlag an, für den Sie dann alleverantwortlich sein werden.
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Berninger,Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So war esin der Vergangenheit immer: Es gab zum Teil ermuti-gende Signale in der Wirtschaft und es ging in bestimm-ten Bereichen aufwärts. Die Regierung hat das beson-ders betont und die Opposition – damals übrigens oftunter tatkräftiger Führung von Michel Glos – hat jedeszarte Pflänzchen, das gezeigt hat, dass es aufwärts geht,gleich wieder zertreten. Auch heute Morgen haben wirdas erlebt. Ich als Grüner bin ganz froh, dass sich diesesBündnis von FDP und Linkspartei noch nicht in derWirtschaftspolitik abbildet. Aber was kam von links wievon rechts? Nur Mäkelei.Ich finde, wir sollten eines erst einmal feststellen:Dass es in Deutschland ganz offenkundig wirtschaftlichaufwärts geht, ist eine gute Nachricht, und zwar unab-hängig davon, wer im Einzelnen die Verantwortung da-für trägt.
Ich halte überhaupt nichts davon, dass wir in der altenTradition fortfahren und dieses Land schlechterreden, alses ist. Wir sind ein Land, das jedes Jahr über80 Milliarden Euro dafür aufbringt, die neuen Bundes-länder an die westdeutschen Lebensverhältnisse heran-zuführen. Keine andere Volkswirtschaft der Welt schafftdas. Besucher, die nach Berlin kommen, jubeln darüber,wie die Situation hier seit der deutschen Einheit ist. Aberwas passiert in Deutschland? Über diesen Zustand wirdnur gemäkelt. Auch das ist ein Beispiel dafür, wie mandieses Land kaputtreden kann.
Wir sind inzwischen Exportweltmeister und – auchwenn die CDU/CSU das erst sehr spät gemerkt hat – wirwaren es auch schon in der Zeit von Rot-Grün. Wir ha-ben es geschafft, eine Dynamik in Gang zu setzen. Wirhaben es geschafft, Weltmarktanteile im Export in denletzten Jahren zu gewinnen. Wer wäre ich, wenn ichmich nicht darüber freuen würde, dass diese Entwick-lung weiter vorangeht? Ich finde, das ist kein Grund zum
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Matthias BerningerMäkeln, sondern zeigt, dass dieses Land Stärken hat, aufdie wir alle gemeinsam stolz sein sollten.
Jetzt ist innerhalb der Bundesregierung ein interes-santer Streit in Gang gekommen, nämlich der Streit überdie Frage: Ist das Wachstum mit 1,4 Prozent vielleichtzu knapp berechnet? Wird das Wachstum im Jahr 2006nicht vielleicht größer sein? Ich hätte mir gewünscht,dass wir diesen Streit in den letzten Jahren rot-grünerZusammenarbeit geführt hätten. Wahrscheinlich würdedie rot-grüne Regierung dann auch noch bestehen. Aberes ist ein interessanter Streit. Denn ich glaube, dass es indiesem Streit darum geht, ob wir es auch ohne Mehr-wertsteuererhöhung schaffen können, dieses Land aufden Erfolgspfad zurückzuführen, oder nicht. Je größerdas Wachstum ist, je größer die Staatseinnahmen sind,desto richtiger ist es, auf die Erhöhung der Mehrwert-steuer zu verzichten. Ich glaube, auch das ist der Grund,warum die Regierung die Wachstumsrate jetzt niedrigeinschätzt. Sie möchte von der geplanten Mehrwertsteu-ererhöhung um 3 Prozent nicht abweichen. Das ist einschwerwiegender Fehler.
Der Bundeswirtschaftsminister hat sich heute geäu-ßert. Ich bin davon überzeugt, dass Michel Glos in derZeit in der Opposition lieber im Bundestag gesprochenhat. Aber auch diese Rede wird den Aufschwung inDeutschland nicht verhindern.
Gestern in der Pressekonferenz hat er deutlichere Wortegefunden; übrigens auch der Bundesfinanzminister imFinanzausschuss hinter verschlossener Tür. Darübersteht in der heutigen Ausgabe der „Financial TimesDeutschland“ die schöne Überschrift: „Glos erwartet2007 Wachstumsdämpfer“. Der Umfang dieses Wachs-tumsdämpfers – so die Schätzung des Wirtschaftsexper-ten Michel Glos – beträgt 1 Prozentpunkt. Ich finde, dasist eine richtige Einschätzung, Herr Bundeswirtschafts-minister. Die Mehrwertsteuererhöhung wird uns 1 Pro-zentpunkt unseres Wirtschaftswachstums kosten. Wirwerden den Anschluss an die Wachstumsraten der ande-ren Länder in Europa aber nicht schaffen, wenn wir ein-fach sehenden Auges in Kauf nehmen, dass das Wachs-tum unserer Wirtschaft um 1 Prozentpunkt geringerausfällt.Die Steuermindereinnahmen, die dadurch entstehen,und die Arbeitsplätze, die wir dadurch gefährden, kostenden Staat mehr Geld, als er durch die Mehrwertsteuerer-höhung einnimmt. Das war, glaube ich, die Sorge, dieMichel Glos bewogen hat, auf der gestrigen Bundespres-sekonferenz Tacheles zu reden. Ich finde, diesen Aspekthätte er auch hier im Deutschen Bundestag durchaus an-sprechen können.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hatbeschlossen, in den nächsten vier Jahren 25 MilliardenEuro in ein Investitionsprogramm zu stecken. Nunkann man über die Wirkung von Investitionsprogram-men streiten. Wenn wir aber angesichts eines Brutto-inlandsprodukts von 2,2 Billionen Euro nur ungefähr6 Milliarden Euro pro Jahr in die Hand nehmen, dannmuss man schon sehr optimistisch und sehr hoffnungs-froh sein, wenn man glaubt, dass das ausreicht, um un-sere Wirtschaft wirklich voranzubringen.
Dennoch halten wir Grüne viele Elemente dieses Investi-tionsprogramms für durchaus vernünftig. Ein Beispiel istdas Gebäudesanierungsprogramm, das Teil dieses Inves-titionsprogramms ist.Warum ist das Gebäudesanierungsprogramm sowichtig? Die Mietnebenkosten sind in Deutschland umein Drittel gestiegen. Die Gas- und Energiepreise belas-ten die Haushalte, vor allem die Bezieher kleiner undmittlerer Einkommen. Das Gebäudesanierungspro-gramm ist nicht nur für die Umwelt gut, sondern es istauch angewandte Sozialpolitik. Diese galoppierendenKosten müssen wir nämlich in den Griff bekommen. Zu-dem sichert dieses Programm Arbeitsplätze im Hand-werk.Aber das, was in den letzten Wochen passiert ist,sollte uns doch zu denken geben. Ludwig Stiegler sagte,im Haushaltsausschuss sei ein Bypass gelegt worden.Das ist nicht die Dynamik, die wir uns wünschen. ImKlartext: Das, was dort geschehen ist, ist Gemurkse; esgeht hin und her, vor und zurück. Die Leute, die sichheute entscheiden wollen, ein Haus zu bauen oder zu sa-nieren, wissen nicht genau, woran sie sind.
Das klare Signal, dass dieses Programm sofort in Gangkommt und wir in Schwung kommen, wäre besser.
Diese Regierung hat folgendes Problem: Ihr Investi-tionsprogramm krankt daran, dass im Deutschen Bun-destag erst nach den Landtagswahlen über den Bun-deshaushalt diskutiert werden soll. Dadurch sind vieleMaßnahmen auf die lange Bank geschoben. Aber dieMenschen, die in diesem Bereich investieren wollen,brauchen jetzt Verlässlichkeit und Planungssicherheit.
Wenn man Zeitungen und Zeitschriften aus dem Be-reich Bauen durchblättert, dann ist das wie die bunteIllustration eines Programms der Grünen: Es geht umThemen wie Holzpelletheizungen, Wärmedämmung,Solarzellen auf den Dächern und Solarthermie. Allemöglichen Bestandteile eines zum einen Wachstumschaffenden und zum anderen die Arbeitsplätze imHandwerk sichernden Programms sind darin enthalten.Ich bin froh darüber, dass die Bundesregierung dieses
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Matthias BerningerInvestitionsprogramm um die Gebäudesanierung ergänzthat. Ich würde mir allerdings wünschen, dass Sie jetztTempo machen, damit die Arbeitsplätze, um die es hiergeht, auch tatsächlich entstehen. Es darf nicht bei buntenBildern in sehr fortschrittlichen Zeitungen zum Bauenund Wohnen bleiben.
Beim Thema Planungssicherheit komme ich auf einzweites Beispiel zu sprechen: die Biokraftstoffe. Dierot-grüne Bundesregierung hat das klare Signal gesetzt,dass die Produktion von Biokraftstoffen in Deutschlandgefördert wird. In den sieben Jahren der rot-grünen Re-gierungszeit ist Deutschland, was die Produktion vonBiokraftstoffen betrifft, zum Spitzenreiter geworden.Was ist durch Ihre Koalitionsvereinbarung passiert?
– Ludwig Stiegler sagt: „Das bleiben wir auch!“ –
Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt – dort sitztzum Beispiel der Kollege Schindler, der wahrscheinlichein Lied davon singen kann –, weiß: Der Markt ist ver-unsichert. Diejenigen, die investieren wollen, fragensich: Wird es noch eine Steuerbefreiung geben odernicht? Wird es zu einem Einspeisezwang kommen? Waswird geschehen? All das wissen sie nicht.
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich bitte Sie: NehmenSie sich dieses Themas an, sorgen Sie für Klarheit undlassen Sie uns in Alternativen zum Öl investieren! Denndie Ölpreisentwicklung ist ausgesprochen besorgniserre-gend.
Ludwig Stiegler hat gesagt, die Mehrwertsteuererhö-hung würde schon irgendwie verkraftet werden. Ich sagenoch einmal: In den nächsten vier Jahren wollen Sie denLeuten 75 Milliarden Euro aus der Tasche ziehen,25 Milliarden Euro wollen Sie in Form eines Investi-tionsprogramms zurückgeben. Das ist der Unterschiedzwischen dem Kotelett und dem Schwein, den der wirt-schaftspolitische Sprecher der FDP vorhin angesprochenhat.Aber das Grundproblem, Herr Kollege Stiegler, ist,dass die Mehrwertsteuererhöhung und der Anstieg derEnergiepreise nicht alternativ, sondern kumulativ zu be-trachten sind; denn die Energiepreise steigen in diesemJahr genauso wie im letzten Jahr.
Das bedeutet: Die Mehrwertsteuererhöhung kommt zuden galoppierenden Energiepreisen noch hinzu. Daswird unsere Binnenkonjunktur endgültig zum Erlah-men bringen.
Der Kollege Lafontaine hat ein klares Bild, wie mandas mit der Binnenkonjunktur hinkriegen kann; es wirdja hier gebetsmühlenartig vorgetragen.
Es gibt ein Problem mit der berühmten Wettbewerbs-fähigkeit über Lohnstückkosten, über das man, wie ichfinde, reden muss. Was die Lohnstückkosten angeht,sind wir in Deutschland wahnsinnig erfolgreich: In denletzten beiden Jahren sind die Lohnstückkosten bei allenunseren Wettbewerbern gestiegen – bei uns sind sie um8 Prozent gesunken. Das ist eine Erklärung dafür, warumwir Exportweltmeister sind.
Es gibt nur ein Problem: Die Senkung der Lohnstück-kosten beruhte zum einen auf Sozialreformen, das heißt,wir haben Einsparungen machen müssen, die zum Teilschmerzhaft waren. Ein zweiter Grund, warum wir soniedrige Lohnstückkosten haben, ist die gestiegene Ar-beitslosigkeit. Diese gestiegene Arbeitslosigkeit, dieMassenentlassungen bei vielen Unternehmen haben unszwar wettbewerbsfähig gemacht, aber vielen Menschendie Existenz geraubt. Deshalb finde ich es unredlich, zuargumentieren, man müsse im Bereich der Lohnkostengar nichts machen, weil die Lohnstückkosten ja so nied-rig sind. Das Gegenteil ist richtig: Wenn wir davon weg-kommen wollen, dass Rationalisierung nur über denFaktor Arbeit stattfindet, dann müssen wir uns stärkerum die Senkung der Lohnnebenkosten kümmern.
Herr Kollege Berninger, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Lafontaine?
Ja.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass sich angesichtsder Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland– ich nenne das „das deutsche Lohndumping“ – Spanien,das ja an der Währungsunion teilnimmt, hinsichtlich derWettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland bereitsum 20 Prozent verschlechtert hat? Eine ähnliche Zahlwird für Portugal gemeldet, und auch in Italien ist einesolche Entwicklung zu verzeichnen. Ist Ihnen auch be-kannt, dass der Chefvolkswirt der Deutschen Bank ge-sagt hat, da Italien ja nicht mehr abwerten kann, müsstendort die Löhne um bis zu 20 Prozent gekürzt werden? IstIhnen bekannt, dass aufgrund der törichten Politik inDeutschland viele Stimmen in Europa mittlerweile sa-gen, wir legten den Sprengsatz an das europäische
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Oskar LafontaineWährungssystem, weil sich die anderen nicht mehrdurch Abwertung zur Wehr setzen können?
Nun kommen wir von den Lohnstückkosten zur Wäh-rungspolitik. Herr Kollege Lafontaine, zum einen denkeich, über die Frage „Euro, ja oder nein?“ brauchen wirhier nicht mehr zu diskutieren – der Euro ist eingeführt.Ich bin ein überzeugter Europäer, ich glaube, dass esrichtig ist, auf den europäischen Binnenmarkt zu set-zen. Er ist ein weiterer Grund, warum wir Exportwelt-meister sind.
Wir haben nämlich für Deutschland sowohl in den altenEU-Ländern als auch in den Beitrittsländern enormeMärkte. Vor diesem Hintergrund will ich mich, was denPopulismus zum Euro angeht, eher zurückhalten.Zum Zweiten: Der Grund, warum wir gegenüber die-sen Ländern durch niedrigere Lohnstückkosten einenWettbewerbsvorteil errungen haben, hängt weniger mitdem Euro zusammen als vielmehr damit, dass Deutsch-land ein hohes technologisches Rationalisierungs-potenzial hat, dass die in Deutschland ansässigen Unter-nehmen sehr innovativ waren, mehr Güter mit wenigerArbeit zu produzieren – auch, weil über unser sozialesSicherungssystem die falschen Anreize gesetzt wordensind. Dass wir so erfolgreich waren, führt dann ebendazu, dass andere Länder ein Problem haben. Aber las-sen Sie uns nicht in einen Populismus verfallen, denEuro infrage zu stellen und den europäischen Binnen-markt als einen zerfallenden Binnenmarkt anzusehen,dessen Teilnehmer untereinander lediglich konkurrieren.
Damit bin ich bei einer interessanten Anmerkung vonMichel Glos vom gestrigen Tag. Der Bundeswirtschafts-minister hat gestern gesagt: Lassen Sie uns einmal da-rüber nachdenken – er hat einen Brief nach Brüsselgeschrieben –, die Strukturförderung für die Beitritts-länder künftig an die Frage zu koppeln, ob dadurch viel-leicht auch Wettbewerber entstehen und ob damitArbeitsplatzverlagerungen von Deutschland nachTschechien oder Polen oder sonst wohin verbunden sind.Hintergrund sind die Arbeitsplätze, die bei Continentalin Hannover, bei der AEG und anderswo in Gefahr sind.Aus drei Gründen finde ich diese Form von Populis-mus falsch: Grund Nummer eins ist, dass die Bundes-kanzlerin während der Verhandlungen über den Finanz-rahmen der EU bis 2013 Gelegenheit hatte, diesesThema zur Sprache zu bringen. Sie hat es, wohlverstan-den, nicht gemacht, weil die Abgrenzung, wann eineStrukturförderung arbeitsplatzverlagernd ist oder nicht,so schwierig ist.Grund Nummer zwei – ich sagte es schon –: Deutsch-land hat schon jetzt von der Erweiterung der EU profi-tiert: Die Wachstumsraten unserer Wirtschaft auf diesenneuen Märkten – ob das Ungarn ist, ob das Polen ist, obdas Tschechien ist – sind so groß, dass wir uns auch hiernicht schlechtreden müssen. Deutschland ist auf diesenMärkten erfolgreich. Dann müssen wir aber umgekehrtauch diesen Ländern eine Chance geben. Deshalb teileich die Einschätzung, dass der Bundesfinanzminister mitBrandbriefen bezüglich der Steuersätze für Unterneh-men in diesen Ländern nur ein mildes Lächeln erntenwird.Der dritte Grund. Die Regelungen zur deutschen Ein-heit wurden von uns nicht anders gestaltet. Von den80 Milliarden Euro, die von West nach Ost transferiertwerden, fließen viele Mittel in die Strukturförderung.Das führt dazu, dass Betriebe von Westdeutschland nachOstdeutschland abwandern. Nehmen Sie als Beispiel dieFirma Müller Milch. Müller Milch hat in Niedersachsenseine Molkereien zugemacht und dort mehr Menschenentlassen, als in Sachsen beim Neuaufbau eingestelltwurden. Allerdings muss man anmerken, dass sich dieneuen Länder in einem Aufholprozess befinden. Densollten wir unterstützen.
Ich glaube, dass die Arbeitslosigkeit nur mit einerKombination aus mehr Wachstum und Strukturförde-rung – dazu müssen wir den Mut haben – bekämpft wer-den kann.Die Regierung hat in diesem Punkt, wie ich meine,ein großes Defizit, über das hier noch gesprochen wer-den muss. In unserem Land besteht ein enger Zusam-menhang zwischen Arbeitslosigkeit und Qualifizierung.Probleme gibt es bei uns, anders als in anderen Ländern,vor allem bei den niedrigqualifizierten Menschen, beiden Menschen im niedrigen Einkommensbereich.In diesem Zusammenhang will ich etwas zu deraktuellen Tarifdebatte sagen: Über die Frage, ob dieForderung der IG Metall nach 5 Prozent mehr Lohn rich-tig ist oder nicht, sollen die Tarifpartner entscheiden. Da-bei haben sie bisher immer große Weisheit an den Taggelegt. Ich finde, wir sollten uns nicht an dem Aushand-lungsprozess beteiligen. Was mich aber freut, ist, dassdie IG Metall, nach Verdi die größte Einzelgewerkschaftin Deutschland, in diesen Tarifverhandlungen erstmalsdas Thema Weiterbildung ganz oben auf die Tagesord-nung gesetzt hat. Das hätte auch der Bundeswirtschafts-minister in seiner Rede positiv unterstreichen könnenund er hätte die IG Metall einmal loben können, ohnebefürchten zu müssen, danach im CSU-Präsidium geprü-gelt zu werden. Das ist der richtige Weg.
Wir müssen mehr im Bereich Qualifizierung tun, wennwir die Arbeitslosigkeit senken wollen.Nun hat der Bundeswirtschaftsminister gestern etwasgemacht, was ich sehr bedenklich finde. Letzte Wochehaben wir mit großem Konsens die Angleichung desArbeitslosengeldes II im Osten an das Westniveau be-schlossen. Gestern ist in den Veröffentlichungen derAgenturen zu lesen gewesen, der Bundeswirtschafts-minister stehe Subventionen im Niedriglohnbereich
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Matthias Berningerskeptisch gegenüber. Herr Bundeswirtschaftsminister,ich teile zwar diese Ihre Einschätzung; denn so etwasführt zu Mitnahmeeffekten und zu so genannten Dreh-türeffekten. Unternehmen werden davon profitieren, siewerden Menschen Arbeit geben, andere dafür aber ent-lassen. Das ist der falsche Weg.Weiter haben Sie gesagt, man müsse die Sozialtrans-fers bei den unteren Einkommen absenken, so wie unsdas Herr Sinn aus München empfiehlt. Wir können abernicht in der einen Woche beschließen, das ALG II imOsten an das Westniveau anzugleichen, und in dernächsten Woche die Menschen noch stärker verunsi-chern, die in den letzten Jahren real Einkommensver-luste zu erleiden hatten. Das ist – Herr Lafontaine, dasind wir wieder einer Meinung – der falsche Weg.Deswegen machen wir Ihnen den Vorschlag, die not-wendige Senkung der Lohnnebenkosten und somit derArbeitskosten auf die kleinen und mittleren Einkommenzu konzentrieren. Das ist der richtige Weg. Wenn wir esschaffen würden, die Lohnnebenkosten im unterenEinkommensbereich stärker zu senken und die Steuer-finanzierung der Lohnnebenkosten dort zu konzentrie-ren, dann hätten wir eine Chance, die Bekämpfung derArbeitslosigkeit wirksam in Gang zu setzen. Das könntediese Regierung auf den Weg bringen. Das würde mehrZuversicht geben. Das würde auch mehr Investitionennach sich ziehen. Vor allem würde es Menschen Be-schäftigung geben, die schon viel zu lange auf einen Ar-beitsplatz warten.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bun-deswirtschaftsminister hat heute den Jahreswirtschafts-bericht der neuen Bundesregierung, den ersten in seinerAmtszeit, vorgelegt. Die Tendenz ist klar erkennbar: Esgeht aufwärts in Deutschland. Nach fünf Jahren Stagna-tion kommt die deutsche Volkswirtschaft wieder inGang. Daran kann man sehen: Der Eintritt der Union indie Regierung macht sich bemerkbar.
Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist – er wurde schonmehrfach erwähnt – auf dem höchsten Stand seit fünfJahren.
Der Dax liegt auf einem Vierjahreshoch. Die Unterneh-men schauen wieder mit Zuversicht in das Jahr 2006.Immer mehr Ökonomen heben ihre Prognosen für dasvor uns liegende Jahr an.Der Opposition möchte ich mit den Worten unseresersten Bundespräsidenten Theodor Heuss sagen: „Dereinzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.“Deshalb bitte ich Sie, den allgemeinen Optimismus inIhren Reihen aufzunehmen und konstruktiv daran mitzu-wirken,
dass es in Deutschland mit der Wirtschaft und dem Ar-beitsmarkt wieder aufwärts geht.
Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Ar-beit hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zum Jah-reswechsel dargestellt. Ich darf ihn zitieren:Die Entwicklung der letzten Monate gibt uns Zu-versicht für das … Jahr 2006.Das ist die großartige Botschaft zu Beginn dieses Jahres.Im Jahreswirtschaftsbericht wird deshalb zu Rechtfestgestellt: Der Aufschwung ist in Gang gekommen.Das Wirtschaftsklima verbessert sich branchenübergrei-fend. – Es bestätigt sich wieder einmal der Lehrsatz vonLudwig Erhard: „Konjunktur ist zu 50 Prozent Psycho-logie“. An dieser Stelle hat die neue Bundesregierung ei-nen neuen Pflock eingeschlagen und Vertrauen geschaf-fen. Sie ist verlässlich und berechenbar und schafftdamit Vertrauen für die Akteure in der Wirtschaft. Die-sen Kurs müssen wir in Ruhe und Gelassenheit weiterverfolgen.
Ich möchte die Kollegen der Opposition einladen,sich nicht darauf zu beschränken, den Kurs und die Stra-tegie dieser Regierung zu kritisieren, wie das heute Mor-gen geschehen ist, sondern eine alternative Strategie vor-zulegen.
– Herr Brüderle, ich habe das in dieser Debatte vermisst.Wo ist Ihre konstruktive Alternative?
Man löst keine Probleme, indem man nur Bedenken vor-trägt. Sagen Sie doch einmal, wie Sie den Haushalt sa-nieren wollen! Sagen Sie, wie Sie mehr Beschäftigungschaffen wollen! Sagen Sie, wie Sie konkret die Sozial-systeme reformieren wollen!
Dann können wir darüber streiten, wer die richtige Stra-tegie in diesem Lande verfolgt.
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Dr. Michael Meister
Ich glaube, diese Regierung hat den richtigen Schwer-punkt gesetzt. Wir werden das Notwendige tun, um dieAnstrengungen für Wachstum und Beschäftigung voran-zubringen. Wir haben uns darauf verständigt, die Refor-men an unserem Standort einzuleiten, die notwendigsind, um uns den Weg in die Wissensgesellschaft zubahnen. Deutschland kann sich besser auf die Herausfor-derungen der Zukunft vorbereiten. Wir werden den Men-schen in Deutschland mehr Freiheit geben, damit sie sichauf diese neuen Rahmenbedingungen einstellen können.
Mit neuen Leistungsanreizen werden wir den Menschendie Chance geben, diese Freiräume eigenverantwortlichauszufüllen. Zudem wollen wir die Marktkräfte dauer-haft stärken, damit die vorhandenen Wachstumspoten-ziale genutzt werden können.Wir sollten den Menschen hier nichts Falsches ein-flüstern. Der Kollege Lafontaine hat eben die Brutto-lohnsumme angesprochen und den Menschen sozusagenunterschwellig suggeriert, wir müssten unsere Problememit massiven Lohnerhöhungen lösen. Das ist ein voll-kommen falscher Ansatz. Die Bruttolohnsumme bestehtaus der Summe aller Individuallöhne. Unser Problemliegt doch darin, dass die Beschäftigtenzahl in den ver-gangenen Jahren massiv zurückgegangen ist. Wir müs-sen daran arbeiten, dass die Beschäftigtenzahl steigt.Dann werden die Menschen auch wieder mehr Einkom-men haben und mehr Geld in die Hand nehmen. Deshalbmüssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wirmehr Menschen in eine sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung bekommen. Dort müssen wir denSchwerpunkt setzen. Wir sollten keine Vorschläge aufden Tisch bringen, die dazu führen, dass die Beschäftig-tenzahl noch weiter nach unten geht und wir noch weiterin dieses Dilemma schlittern, Herr Lafontaine.
Diese Bundesregierung hat einen Dreiklang festge-schrieben: Wir wollen den Haushalt sanieren, wir wollenInvestitionsanreize setzen und wir wollen langfristigeStrukturreformen auf den Weg bringen. Ich glaube, dassdieser Dreiklang der richtige Ansatz ist, um die Lage un-seres Landes zu verbessern und mehr Wachstum und Be-schäftigung zu erreichen.Es ist gelegentlich sinnvoll, zu schauen, wie andere,die uns von außen betrachten, unsere Strategie kommen-tieren. Die Europäische Kommission hat gestern gesagt:Deutschland verfolgt eine kohärente, integrierte und an-gemessene Strategie, um zu mehr Wachstum und Be-schäftigung zu kommen. – Ein besseres Gütesiegel derWirtschaftspolitik dieser neuen Regierung hätten wir unsgar nicht wünschen können. Deshalb: Nehmen Sie diesepositive Beurteilung doch einmal auf und orientieren Siesich daran!
Der Bundeswirtschaftsminister hat den Dreiklangdargestellt. Die Haushaltskonsolidierung ist ein zentra-les Ziel in dieser Legislaturperiode. Ich möchte hier aufden Chefökonomen der Europäischen Zentralbank,Otmar Issing, hinweisen. Er hat in einem Interview inden vergangenen Tagen gesagt:Keine Regierung wird auf Dauer bestehen können,wenn sie den Haushalt nicht konsolidiert.Damit hat er absolut Recht. Konsolidierung ist keinSelbstzweck. Alle wissenschaftlichen Untersuchungenzeigen, dass die Konsolidierung der Staatsfinanzen perse eine wachstumssteigernde Wirkung hat. Deshalb wer-den wir über einen verlässlichen Konsolidierungspfaddazu kommen, das Wachstum in Deutschland längerfris-tig anzureizen.Wir müssen uns im Zuge der Haushaltskonsolidie-rung auch auf die Herausforderungen der noch zu erwar-tenden Lasten durch die demografische Entwicklungvorbereiten. Die Tatsache, dass heute ein neugeborenesKind mit 18 000 Euro Schulden zur Welt kommt, istnicht akzeptabel. In Zukunft müssen wir weniger Schul-den machen und unseren Staatshaushalt ausgleichen.
Die neue Bundesregierung packt das Problem derHaushaltskonsolidierung entschlossen an. Ich möchte al-len Kritikern sagen: Sie bieten keine Alternative an. Wirwürden uns gerne mit Ihnen über eine Alternative strei-ten. Legen Sie sie doch einfach vor! Diejenigen, die Sienach vorne geschickt haben, sind, als sie die Möglichkeithatten, das Problem zu lösen, bei Nacht und Nebel durchdie Hintertür geflohen und jetzt stellen sie sich hier hinund treten als die großen Ratgeber auf.
Sie hatten doch damals die Möglichkeit, die Probleme zulösen. Warum haben Sie es nicht getan? Warum sind Sieeinfach verschwunden?Der Konsolidierungsbedarf ist enorm. Ein Viertel derAusgaben des Bundes sind nicht durch laufende Einnah-men gedeckt. Deshalb werden wir in den kommendenJahren massiv und eisern sparen müssen, um die Vorga-ben in Art. 115 des Grundgesetzes und des europäischenStabilitätspaktes, die Einhaltung der Maastrichtkriterien,zu erreichen.Heute Morgen ist schon intensiv darüber diskutiertworden, wie wir das Wirtschaftswachstum für 2006einschätzen. Ich bin sehr froh, dass wir mit einer realisti-schen, aber auch konservativen Wachstumseinschätzungin dieses Jahr gehen. Wir haben in den vergangenen Jah-ren oft erlebt, dass die Erwartungen nicht übertroffen,sondern unterlaufen wurden. Jetzt haben wir die Chance,dass sich die Erwartungen, die wir wecken, auch wirk-lich erfüllen werden und dass wir durch die Basiseffektefür die kommenden Jahre einen positiven Schub errei-chen, statt Defiziten hinterherzulaufen. Deshalb werbe
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Dr. Michael Meisterich dafür, diese neue Strategie in den Folgejahren fortzu-setzen und in Zukunft mit realistischen, aber konservati-ven Einschätzungen Wirtschaftspolitik zu gestalten.Das Impulsprogramm, das die Regierung vorgelegthat, dient dazu, kurzfristig Investitionsanreize zu setzen.Es ist richtig, Herr Brüderle, dass wir nicht nur fordern,den Privathaushalt als Arbeitgeber zu entdecken, son-dern dies auch schlicht und ergreifend tun. Genau dasmachen wir mit diesem Programm. Freuen Sie sich dochmit uns gemeinsam, dass dadurch neue legale Beschäfti-gung in Deutschland entsteht und mehr Menschen in Be-schäftigung kommen!
Freuen Sie sich darüber, dass wir den Unternehmen nichtsagen, dass sie warten müssen, bis wir eine ausgereifteUnternehmensteuerreform auf den Weg gebracht haben,was wir uns bis zum 1. Januar 2008 vornehmen, sonderndass wir diese zwei Jahre mit Abschreibungsbedingun-gen überbrücken, die Investitionen am Standort Deutsch-land auch in diesem Zeitraum attraktiv machen.Entscheidend aber ist natürlich die Frage: Können wirStrukturreformen umsetzen? Hier sind wir – lassen Siemich das an dieser Stelle sagen – in einer komfortablenLage. Die Koalition hat den klaren politischen Willen,dieses Problem zu lösen. In Bundestag und Bundesrathaben wir die dafür notwendigen Mehrheiten. Darüberhinaus steht uns der komplette steuerpolitische Sachver-stand dieser Republik zur Verfügung, der an Lösungenfür dieses Problem mitwirkt. Diese einmalige Situationsollten wir nutzen, nicht nur kleine Veränderungen vor-zunehmen, sondern eine Strukturveränderung, die lang-fristig dazu führt, dass unser Standort attraktiv ist.
Das Thema Föderalismusreform wird mittlerweileseit Jahren diskutiert. Die Regierung und die Koalitionhaben sich vorgenommen, diese Reform in den erstensechs Monaten dieses Jahres umzusetzen. Die Struktur-veränderung, die wir auf den Weg bringen, wird dazuführen, dass in unserem Land schneller entschieden wirdund Kompetenzen klarer geregelt sind.Auch das Thema Bürokratieabbau haben wir unsvorgenommen. Ich glaube, hier können wir diesmal tat-sächlich etwas verändern. Wir diskutieren zwar schonseit Jahren über Bürokratieabbau, aber ehrlicherweisesind wir dabei nicht vorangekommen. Jetzt werden wirden Bürokratieaufwand an einzelnen Bestimmungentransparent machen, indem wir anfangen, Bürokratie zumessen. Beim Bundeskanzleramt wird ein Rat eingerich-tet – damit wird das Thema Chefsache –, der sich damitbeschäftigt, die Bürokratie dort, wo sie wirklich nach-weisbar ist, zurückzuführen. Damit hört die Debatte zudiesem Thema, das in jeder Sonntagsrede vorkommt,auf, Herr Brüderle. Diese Regierung fängt an, in der Ta-gespolitik entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, umzu weniger Bürokratie in Deutschland zu kommen.
Anhand vieler Großprojekte haben wir erkannt, dassEntscheidungen in unserem Land zu lange dauern. Sieals Rheinland-Pfälzer kennen den Frankfurter Flugha-fen. Wir alle wundern uns, wie lange die Entscheidungenüber neue Landebahnen und über die Werft des A380dauern. Wir haben uns vorgenommen, dafür zu sorgen,dass Planungs- und Genehmigungsverfahren in über-schaubarer Zeit abgeschlossen werden können. Dasheißt nicht, alles zu genehmigen und alles kritiklos hin-zunehmen. Menschen, die in unserem Land zu Unter-nehmungen bereit sind, müssen aber in überschaubarerZeit eine klare Auskunft erhalten, was sie tun könnenund was nicht. Ich glaube, dass davon ein positiver Im-puls für den Standort Deutschland ausgeht.Ich möchte in dieser Debatte zum Jahresbeginn 2006alle einladen, sich bei der Frage, wie wir unser Landwieder in Gang bringen können, konstruktiv einzubrin-gen. Lassen wir den Missmut beiseite und sorgen wir da-für, dass mehr Menschen in Deutschland Beschäftigungfinden und dass sie wieder Vertrauen und Optimismusentwickeln, damit es mit unserem Land aufwärts gehenkann! Deutschland kann es besser und wir wollen dafürsorgen, dass es auch besser wird.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Wend für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Eine große Koalition ist nicht immer einfach. DerKollege Meister hat uns ein wenig gekitzelt, indem erdie besseren Wirtschaftsdaten – vorsichtig ausgedrückt –ein wenig einseitig vorträgt und sich darauf beruft, dasssie durch den Eintritt der Union in die Bundesregierungbegründet seien. Es trifft sich gut, dass ich einen kurzenText des Sachverständigenrates bei mir habe, in demfestgestellt wird, dass die große Koalition eine gute Ba-sis für mutige und umfassende Politikmaßnahmen unddie Fortsetzung des von Rot-Grün eingeschlagenen Re-formkurses sein könne.
Herr Kollege Meister, das war sozusagen eine kleineboshafte Retourkutsche zu Ihrer Anmerkung.Die große Koalition ist aber auch deshalb nicht ein-fach, weil die FDP kaum eine Gelegenheit auslässt, Ih-nen vorzuhalten, was Sie noch vor einigen Wochen undMonaten gemeinsam auf den Weg bringen wollten undwelche Position die Union jetzt vertritt. Die Grünen ma-chen es uns auch nicht leichter, weil sie im BundestagAnträge vorlegen, die wir in der letzten Legislatur-periode noch mit ihnen gemeinsam eingebracht haben.
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Dr. Rainer WendDennoch muss sich die große Koalition in der gegenwär-tigen Situation ihrer großen Verantwortung bewusst wer-den. Warum ist ihre Verantwortung so groß? Wir kom-men nicht daran vorbei, zu erkennen, dass wir in derÖkonomie unseres Landes – übrigens nicht nur inDeutschland, sondern auch im übrigen Kerneuropa –dramatische Veränderungen zu verzeichnen haben. Mitder Öffnung Chinas, Indiens und der Länder Osteuropaskonkurrieren weltweit circa 2 Milliarden Menschen zu-sätzlich um Investitionen und Arbeitsplätze.Die Frage ist, wie wir diese große Herausforderung,vor der wir stehen, meistern können. Dafür müssen wirzwei Aufgaben bewältigen. Was die eine Aufgabe an-geht, muss ich dem Kollegen Lafontaine widersprechen.Angesichts der zusätzlichen Konkurrenz auf den Welt-märkten bleibt es uns nicht erspart, uns diesem Wett-bewerb zu stellen, sei es durch Verbesserungen in Bil-dung und Forschung – diesen Weg würden wir sicherlichgemeinsam gehen –, sei es über das Steuersystem oderdie Frage, wie die Arbeit in den Bereichen zu organisie-ren ist, in denen die Beschäftigten weniger gut qualifi-ziert sind.Als große Koalition haben wir aber auch eine zweiteAufgabe, auf die der Kollege Stiegler zu Recht hinge-wiesen hat. Wir werden nur dann Erfolg haben, wenn esuns gelingt, neben der Wettbewerbsfähigkeit auch diesoziale Ausgestaltung unseres Landes beizubehalten.Es kann auch unter den veränderten Wettbewerbsbedin-gungen nicht richtig sein, wenn sich das Lohnniveau ineiner Weise entwickelt, dass wie im Bewachungsge-werbe in Thüringen Tariflöhne von 4 Euro gezahlt wer-den.
Wir müssen der ständigen Abwärtsspirale bei den Löh-nen entgegenwirken. Deswegen richte ich an die Bun-desregierung und die Koalitionsfraktionen die Bitte: Wirmüssen einen Weg finden, diese Abwärtsspirale zu been-den. Wir müssen über Instrumente wie den Mindestlohndiskutieren und klären, wie wir denjenigen helfen, dieaufgrund ihrer Qualifikation auch zu den gesetzlichenMindestlöhnen keine Arbeit finden würden. Ein solchesInstrument ist beispielsweise der Kombilohn; er kämefür diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in-frage, die aufgrund fehlender Qualifikation oder andererProbleme im persönlichen Bereich keine Beschäftigungfinden.Lassen Sie mich auf ein Thema eingehen, das mirgroße Sorgen bereitet und das bislang nur am Rande eineRolle gespielt hat. Das ist das Thema Europa. Es istbereits vom Bundeswirtschaftsminister und auch in un-serer Koalitionsvereinbarung angesprochen worden. Ichglaube nicht, dass wir folgende zwei Dinge, die mitei-nander zusammenhängen, hinnehmen können. Das eineProblem ist: Wir fördern in manchen Ländern nicht dasEntstehen von neuen Arbeitsplätzen, sondern die Verla-gerung von bestehenden Arbeitsplätzen aus dem Land Xin das Land Y. Man wird keinem Steuerzahler inDeutschland klar machen können, warum er Steuernzahlen soll, mit deren Hilfe Arbeitsplätze aus unseremLand wegsubventioniert werden. Das ist ein Thema, demsich die Bundesregierung widmen muss.
Der Vorwurf, dass die Bundeskanzlerin sogar für zusätz-liche Mittel zugunsten Osteuropas gesorgt hat, trägt je-doch nicht; denn dass die Strukturen in Osteuropa – auchmit Hilfe von EU-Mitteln – verbessert werden, ist rich-tig. Dafür ist zusätzliches Geld notwendig. Aber das darfnicht zur Subventionierung von Arbeitsplatzverlagerun-gen in die osteuropäischen Staaten führen. Vielmehrmüssen dort neue Strukturen und Arbeitsplätze entste-hen.
Das andere Problem ist das Steuerdumping. Ich weißnicht, ob darüber Konsens herrscht. Ich stelle jedenfallsfest, dass manche Länder nach meiner Wahrnehmung dieMindeststeuerquote unterschreiten. Wenn diese Mit-gliedstaaten auf tragfähige Finanzierungsgrundlagenverzichten, dann ist das ihr gutes Recht. Wir werden ih-nen kaum etwas anderes vorschreiben können. Danndürfen aber diese Länder im Gegenzug nicht erwarten,dass andere Länder die Finanzierung ihrer staatlichenLeistungen übernehmen. Diese Diskussion werden wirin Europa führen müssen.
Herr Kollege Lafontaine, in diesem Zusammenhangmöchte ich auf Ihre Argumente eingehen; denn ichfinde, dass man sich auch mit dem sehr ernsthaft aus-einander setzen sollte, was Sie gesagt haben. Ich habemich an einer Stelle Ihrer Rede über einen klassischenPopulismus geärgert. Sie sagen: Führten wir nur 5 Pro-zent Vermögensteuer für die Reichsten ein, dann stün-den uns 100 Milliarden Euro zusätzlich im Haushalt zurVerfügung.
Man kann mit mir sicherlich über Steuern und Len-kungswirkungen diskutieren. Wenn aber im Gesetzblattsteht, dass 5 Prozent Vermögensteuer zu erheben sind,bedeutet das noch lange nicht, dass sich die Steuerein-nahmen erhöhen. Meine Sorge ist: Uns stehen dannletztlich weniger Einnahmen zur Verfügung, weil eineErhöhung der nominalen Steuersätze dazu führt, dassdas Geld, das Sie besteuern wollen, nicht mehr vorhan-den ist. Es steht dann auch nicht mehr zur Verfügung,um in Deutschland investiert zu werden, die Produktivi-tät zu erhöhen und für Wachstum und Beschäftigung zusorgen. Aus diesem Grund bin ich im Hinblick auf dieEinführung einer Vermögensteuer sehr zurückhaltendund werfe Ihnen ein Stück weit Populismus vor.
Ich möchte noch etwas zum Thema Bürokratie-abbau sagen. Ich finde, es ist gut, dass die Bundeskanz-lerin dieses Thema in den Mittelpunkt ihrer Rede in Da-vos gestellt hat. Wir müssen selbstkritisch einräumen
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Dr. Rainer Wend– das geht übrigens allen Bundesregierungen der letzten30 Jahre so –: Wir haben den Bürokratieabbau ständigals Aufgabe benannt. Jeder von uns hat gesagt, dass dieausufernde Bürokratie ein zentrales Problem ist. Das istsie auch. Wir haben aber letztendlich nicht den richtigenDreh, den richtigen Ansatzpunkt gefunden, um diesesProblem nachhaltig in den Griff zu bekommen. Wir ha-ben hier und da Verbesserungen vorgenommen. DasEnde vom Lied war allerdings, dass wir mehr Gesetzeund Verordnungen als vorher hatten und dass unser Bei-trag zum Bürokratieabbau – um es zurückhaltend auszu-drücken – sehr begrenzt war.Es lohnt sich aber, darüber zu reden. Wir wollen einenneuen Anlauf wagen. Der Ansatz lautet: Wir messen dieBürokratiekosten, die Unternehmen nur dadurch entste-hen, dass sie bestimmte Dokumentations- und Berichts-pflichten staatlichen Stellen gegenüber haben – wir re-den gar nicht über das materielle Recht, sondern nurüber die Dokumentations- und Berichtspflichten –, undwir wollen uns Zielvorgaben setzen, aus denen hervor-geht, in welchem Umfang diese Kosten zu reduzierensind.Vielen sind die Zahlen bekannt; ich nenne sie den-noch noch einmal. Die Niederländer haben über denDaumen 20 Milliarden Euro Kosten für die Bürokratieerrechnet. Auf unser BIP übertragen sind das etwa80 Milliarden Euro, wenn ich einmal unterstelle, dasswir nicht viel weniger bürokratisch sind als die Nieder-lande. Wenn es uns gelänge, diese Summe nur um einViertel zu reduzieren, würden wir in unserer Volkswirt-schaft 20 Milliarden Euro freisetzen, die nicht mehr fürBürokratie, sondern für Investitionen und für Innovatio-nen zur Verfügung stünden. Das ist ein Ansatz zumBürokratieabbau, über den ich sage: Das lohnt sich. Diegroße Koalition muss diesen Schritt unternehmen.
Wir können keine Wunder versprechen, aber wahr istdoch: Reformen einerseits und Sicherung unserer sozia-len Systeme andererseits müssen die Grundlage bilden,ergänzt durch positive Stimmungen, die diese große Ko-alition erzeugt hat und auch in Zukunft erzeugen kann.Wenn uns dies auch weiterhin gelingt, dann wird es zwarimmer noch nicht einfach mit der großen Koalition, aberdann wird sie ihrer Aufgabe gerecht, die Herausforde-rungen in unserem Land anzunehmen und dafür zu sor-gen, dass es mit Wirtschaftsentwicklung und Arbeits-plätzen aufwärts geht.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Herbert Schui,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-desregierung und die Koalition haben ihren jüngstenJahresstagnationsbericht vorgelegt,
wenngleich mit außerordentlich optimistischem Unter-ton, optimistisch präsentiert, mit einer ganzen Mengevon Beschwörungsformeln, mit gegenseitigem Schulter-klopfen und vielem anderen mehr. Die Zukunft wollenSie gestalten. Das bedeutet dechiffriert: Trotz steigenderArbeitsproduktivität soll der Bruttolohn und damit derLebensstandard der großen Mehrheit der Bevölkerungsinken. Damit haben Sie gesagt, welche Zukunft Sie fürdie meisten von uns vorgesehen haben.Das von Ihnen prognostizierte Wirtschaftswachstumin Höhe von 1,4 Prozent beruht auf zwei Ursachen: zumeinen auf der Zunahme der Ausrüstungsinvestitionen,zum anderen auf dem Wachstum der Exporte. Sie wer-den mit mir sicherlich darin übereinstimmen, dass dieZunahme der Ausrüstungsinvestitionen nicht anhaltenwird. Zum einen sind es – das ist schon häufig gesagtworden – nichts weiter als vorgezogene Ersatzinvestitio-nen, die ohnehin irgendwann einmal fällig gewordenwären, zum anderen ist die Zinspolitik der EuropäischenZentralbank nicht gerade geeignet, einen Investitions-schub auszulösen. Schließlich gibt es gegenwärtig keinerevolutionären Produktionstechniken, die Motiv für einewirkliche Investitionskonjunktur sein könnten.Es bleibt also nichts weiter als der Export. Dieser Ex-port ist aber deswegen sehr gefährdet, weil der ExportDeutschlands Handelsbilanzdefizite bei unseren Han-delspartnern hervorruft. Dieser Export könnte dann dau-erhaft sein, wenn Deutschland so viel importierenwürde, wie es exportiert; er könnte dann dauerhaft sein,wenn die Inlandseinkommen, die Bruttolöhne und Ge-hälter, so hoch wären, dass so viele Importgüter gekauftwürden, dass keiner unserer Handelspartner ein Defizitmit Deutschland realisiert.
Weil diese Defizite realisiert werden, müssen die Defi-zitländer über kurz oder lang eine wachstumsdämpfendePolitik einleiten. Wenn sie ihr Wachstum bremsen, umweniger im Ausland zu kaufen, dann bedeutet das natür-lich, dass diese Exportstütze, diese Wachstums- undKonjunkturstütze, endgültig perdu ist. Sie glauben dochwohl nicht im Ernst, dass die Vereinigten Staaten in derlangen Frist ihr Außenhandelsdefizit von mehr als600 Milliarden US-Dollar aufrechterhalten werden. Siewerden vorher eine wachstumssenkende Politik einlei-ten, damit die Importe aus den starken Exportländernwie Deutschland zurückgehen.Insgesamt ist die Konzeption propagandistisch, falschund ideologisch. Wenn nämlich der Export die einzigeKonjunkturstütze ist, dann, so wird stets argumentiert,müssen wir wettbewerbsfähig im Ausland bleiben. Wett-bewerbsfähig im Ausland können wir nur bleiben – soargumentiert man weiter –, wenn die Löhne niedrig sind.Das bedeutet aber, dass die Vorteile einer internationalenArbeitsteilung, von denen in den Lehrbüchern die Redeist und die auch in Ihren Sonntagsreden hervorgehobenwerden, sich in der allgemeinen Wahrnehmung als Be-drohung durch den Weltmarkt darstellen. Der internatio-nale Warenaustausch und die internationale Arbeitstei-
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Dr. Herbert Schuilung sind eben so organisiert, dass der Einzelne nichtdavon ausgehen kann, dass wir alle davon profitieren.Das, was Sie Globalisierung nennen, ist in der Tat be-drohlich.
In einer überschaubaren Frist wird es also nicht zu ei-ner Verbesserung der Lage kommen. Damit Ihr nächsterJahreswirtschaftsbericht wirklich wieder ein Stagna-tionsbericht wird, haben Sie mittlerweile beschlossen,die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Erhöhung der Mehr-wertsteuer bedeutet, dass dem privaten Sektor zunächstrund 24 Milliarden Euro entzogen werden. Über die Sen-kung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werdenihm 8 Milliarden Euro zurückgegeben. Dem privatenSektor werden unter dem Strich also 16 Milliarden Eurogenommen. Diese 16 Milliarden Euro gibt der Staat abernicht zusätzlich aus; denn es ist das erklärte Ziel, dassdie Ausgaben nicht wachsen und die Neuverschuldungdie 3-Prozent-Grenze nicht überschreitet. Infolgedessenhaben Sie ein Nachfragesenkungsprogramm aufgelegt.Dieses Nachfragesenkungsprogramm wird nach über-schlägigen Rechnungen in einer ersten Runde einenWachstumsverlust von wenigstens 0,8 Prozentpunktenbedeuten. Das heißt, wenn Sie zurzeit für das Jahr 2007von 1,5 Prozent Wachstum ausgehen, dann werden Siebei 0,7 Prozent Wachstum landen. Diese Minderung derAusgaben hat Folgewirkungen: Wenn weniger ausgege-ben wird, nehmen andere Leute weniger ein und gebenauch weniger aus. Das verstärkt die negativen Wirkun-gen. Nach etwa 18 Monaten werden sich diese kumulier-ten negativen Wirkungen auf das Wachstum auf unge-fähr 1,2 Prozentpunkte belaufen.Sie werden dann irgendwelche mythischen Argu-mente finden müssen, um dennoch neuen Optimismuszu verströmen. Ich bin gespannt, welche Beschwörungs-formel dann an der Reihe ist. Herr Bundesminister Gloshat vorhin eher beiläufig gesagt, das niedrige Wachstumin Deutschland liege an der niedrigen Geburtenrate.Wahrscheinlich werden Sie die künftige Argumentationmehr darauf stützen. Alle, die bei der so genannten bür-gerlichen Mitte und rechts davon anzusiedeln sind, nei-gen nicht zur Analyse, wohl aber zu biologistischen Er-klärungen.Vielen Dank.
Herr Kollege Schui, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere,
verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere par-
lamentarische Arbeit.
Nächster Redner ist nun der Kollege Alexander
Dobrindt für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerBundeswirtschaftsminister hat einen Jahreswirtschafts-bericht vorgelegt, der zum ersten Mal wieder Visionenenthält. Er hat Prognosen abgegeben, die – wie bei gutemWirtschaften üblich – konservativ sind. Das heißt, dasswir eine realistische Chance haben, diese Prognosen so-gar zu übertreffen. Das ist neu. Nach der Vorlage der Jah-reswirtschaftsberichte in der Vergangenheit mussten dieEckpunkte vierteljährlich nach unten korrigiert werden.Im Übrigen war das an der schlechten Stimmung imLand maßgeblich schuld – das ist das Entscheidende –,dass Verlässlichkeit und Planbarkeit von politischen Ent-scheidungen für die Verbraucher und die Wirtschaft ver-loren gegangen sind.Politik, die unter dem Motto „Nachbessern“ betriebenwird, kann kein Vertrauen schaffen und sie ist deswegenTeil des vielästigen Problemgestrüpps in unserem Land.Ich bin froh darüber, dass wir das Vertrauen der Men-schen nicht abermals mit zu optimistischen Zahlen aufdie Probe gestellt haben.
Politik wirkt natürlich maßgeblich auf die Emotionender Menschen ein. Ich glaube, es gibt in unserem Landkein emotionaleres Thema als die hohe Arbeitslosig-keit, wobei insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeitimmer stärker zunimmt und die Arbeitslosigkeit insge-samt inzwischen in der Mitte unserer Gesellschaft ange-kommen ist. Wohl jeder kann heute sagen, dass er in sei-ner Verwandtschaft oder Bekanntschaft auch mit Angstvor Arbeitslosigkeit oder mit Arbeitslosigkeit konfron-tiert ist. Deswegen ist es gut, dass der Jahreswirtschafts-bericht einen positiven Ausblick in Bezug auf den Ab-bau der Arbeitslosigkeit geben kann. Das ist das zentraleThema, über das wir hier reden müssen.Reformieren und investieren zugleich ist der Schlüs-sel für langfristige und kurzfristige Maßnahmen, damitWachstum und Beschäftigung in unserem Land geschaf-fen werden können. Anders formuliert: Es gilt, Ausga-ben zu reduzieren, gezielte Wachstumsimpulse zu gebenund gleichzeitig die Einnahmesituation zu verbessern.
Darin stecken große Herausforderungen, aber damit sindnatürlich auch umso mehr Chancen für die Menschenverbunden.Der Vorwurf, der hier formuliert worden ist, dass einTeil dieser Wachstumsimpulse ein Konjunkturprogrammder alten Prägung sei, greift schlichtweg nicht. Es gehtvielmehr darum, den marktwirtschaftlich günstigstenWeg zu finden, notwendige Projekte zu realisieren.Ein Beispiel ist das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm, das den Zweck hat, die Energieeffizienz zu er-höhen, das heißt im Wesentlichen natürlich Energie zusparen. Das ist eine wichtige umweltpolitische und wirt-schaftspolitische Maßnahme, die zusätzlich gerade dermittelständischen Wirtschaft und den Handwerkern zu-gute kommt, Arbeitsplätze schafft und Arbeitsplätze si-chert.
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Alexander Dobrindt
„Reformieren, investieren, Zukunft gestalten“ heißtnatürlich auch, die Probleme jetzt zu lösen und nicht indie Zukunft, auf die nächste Generation, zu verschieben.Anders formuliert: Politik muss endlich wieder das Zu-kunftsinteresse vor das Gegenwartsinteresse stellen. Dasist für die meisten Menschen in unserem Land überhauptnichts Unübliches. Der viel strapazierte Satz „Ich will,dass es meinen Kindern einmal besser geht“ ist genauder Kern der Aussage „Zukunftsinteresse vor Gegen-wartsinteresse stellen“.
Das heißt, die Politik muss mit den Rahmenbedingungendafür sorgen, dass Wachstum und Beschäftigung einNiveau erreichen, das weiterhin breitestmöglich Wohl-stand und Sicherheit garantiert.
Deswegen ist ausdrücklich zu begrüßen, dass derWirtschaftsminister die Förderpraxis der EU kritisiert.Arbeitsplatzverlagerung innerhalb Europas, mit Steuer-geldern finanziert, hat nichts mit Wettbewerb zu tun,sondern ist das genaue Gegenteil davon.
Der Bundesminister hat in seiner Rede die Energie-politik thematisiert. Er hat vom ausgewogenen Energie-mix gesprochen und zu Recht auf die Erwartung der Ver-braucher hingewiesen, dass Versorgungssicherheit undwettbewerbsfähige Energiepreise von der Politik mit zugarantieren sind. Gerade die jüngsten Erfahrungen, dieauch in Deutschland einen neuen Prozess des Nachden-kens über die hohe Importabhängigkeit Deutschlands beiEnergieträgern angestoßen haben, sollten uns dazu ver-anlassen, über die getroffene Entscheidung zum Ablaufdes so genannten Atomausstiegs, das heißt über das Obund das Wie, neu nachzudenken. Denkverbote dürfenhier nicht erteilt werden. Deswegen ist es sinnvoll, zumkommenden Energiegipfel alle Chancen und Risiken,auch die der bisher getroffenen Entscheidungen zumEnergiemix, neu zu überprüfen.
– Herr Kollege Dr. Wend, ich will nicht auf die Ausfüh-rungen Ihrer europäischen Kollegen zurückgreifen; aberwir können bei Gelegenheit über das diskutieren, wasdarüber heute im „Handelsblatt“ steht.Der Jahreswirtschaftsbericht nimmt umfassend zurSituation im Mittelstand Stellung. Das BMWi hat eineMittelstandsinitiative angekündigt, die für weniger Bü-rokratie und mehr Flexibilität sorgen soll – eine Maß-nahme, die der Mittelstand in Deutschland dringend er-wartet. Nach Berechnungen des Instituts der deutschenWirtschaft kann Entbürokratisierung bis zu 600 000 neueStellen schaffen und einen enormen Wachstumsimpulsgeben.Auf der Rangliste der ökonomischen Freiheit liegtDeutschland nur auf Platz 19, weit hinter Ländern wieEngland, Holland und Österreich. Gerade die ökonomi-sche Freiheit ist aber wesentlich, um die Chance aufSelbstständigkeit zu eröffnen. Deshalb ist außerordent-lich zu begrüßen, dass die Bundesregierung eine Grün-deroffensive startet mit dem Ziel, eine Selbstständigen-quote von über 10 Prozent zu erreichen. Darin liegt eineechte Chance, neue Beschäftigung zu schaffen. Nur Ar-beit schafft nämlich Arbeit; die Verteilung von Arbeitschafft keine Arbeit.Meine Damen und Herren, der Kollege „roterFreund“ Stiegler
– es sind schwarze Brüder und Schwestern und roteFreunde – hat auf das Unwort des Jahres 2005, „Entlas-sungsproduktivität“, hingewiesen. Das ist in der Tatein Begriff, der auf traurige Weise die Tendenz aus-drückt, dass Unternehmen ihre Produktivität oder ihrenMehrwert durch Entlassungen steigern.
Was wir in unserem Land aber brauchen, ist Einstel-lungsproduktivität. Darum muss es gehen. Denn nurdurch neue Arbeitsplätze wird es wieder stabiles undlangfristiges Wachstum in Deutschland geben. Daranmüssen wir die Rahmenbedingungen ausrichten. DasWort des Jahres 2006 muss „Wachstum“ sein.
Der vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht zeigt deutlichdie Anstrengungen des Bundeswirtschaftsministers undder Bundesregierung. Die Wirtschaft blickt wieder opti-mistisch in die Zukunft. Die Menschen gewinnen wiederVertrauen in die Politik. Ich denke, zusammen sind dasgute Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäf-tigung in diesem Jahr.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach den wirtschaftspolitischen Rundumschlägen mei-ner Vorredner möchte ich mich jetzt auf einen wichtigenBereich für die gesamtwirtschaftliche EntwicklungDeutschlands konzentrieren, und zwar den Bereich For-schung und Innovationen.Als Henry Ford junior nach dem Kriegsende 1945 an-geboten wurde, das Volkswagenwerk kostenlos zu über-nehmen, hat er geantwortet: Nein danke, dieses Auto isteine Fehlkonstruktion. – Ich kann nur vermuten, dass er
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Ute Bergsich über diese grobe Fehleinschätzung später sehr geär-gert hat. Jedenfalls zählt Volkswagen zu den größten Er-folgsgeschichten der deutschen Wirtschaft und die deut-sche Automobilindustrie gehört weltweit zu deninnovationsträchtigsten Industrie- und Forschungsberei-chen. Wir alle wissen, dass es von unserer Innovations-fähigkeit abhängt, ob wir weiterhin wirtschaftlich erfolg-reich und international wettbewerbsfähig sein werden.Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatletztes Jahr eine Studie zur InnovationsfähigkeitDeutschlands veröffentlicht. Ergebnis: Wir sind gut. ImVergleich mit den weltweit führenden Industrieländernliegen wir im oberen Mittelfeld. Das heißt natürlich, esgibt noch bessere, auch in Europa. Hier bilden Schwe-den, Finnland und die Schweiz die Innovationselite. So-wohl bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklungals auch bei der Umsetzung in marktfähige Produktesind sie Spitze. Wir müssen also noch zulegen. Wenn wirunseren hohen Lebensstandard im Vergleich zum Bei-spiel zu Ländern wie China oder Indien halten wollen,die ja immerhin mit uns konkurrieren, dann geht das nurdurch die ständige Entwicklung neuer Verfahren, Dienst-leistungen und Produkte.
Was tut die Bundesregierung nun, um die Innova-tionskapazität der deutschen Wirtschaft zu stärken? Ers-tens, sie investiert gezielt in Forschung und Entwick-lung. Zweitens, sie fördert innovative Unternehmen undden Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.Drittens, sie unterstützt eine gute Ausbildung des Nach-wuchses.Wir halten an dem Ziel fest, bis 2010 3 Prozent desBruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklungzu investieren. Das wurde vorhin schon mehrfach gesagtund zu den Maßnahmen wurde einiges ausgeführt. Des-halb kann ich das jetzt beiseite lassen.Wichtig ist aber auch: Wir unterstützen nicht nachdem Gießkannenprinzip, sondern fokussieren unsereForschungsförderung auf bestimmte zukunftsträchtigeSchwerpunkte wie zum Beispiel Verkehr und Raum-fahrt, Energie und Nachhaltigkeit sowie Nanotechnolo-gien, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Damitsetzen wir die erfolgreiche Forschungspolitik der Vor-gängerregierung fort.So wichtig es nun ist, dass geforscht wird, so wichtigist es aber auch, dass die Erkenntnisse aus der Forschungihren Weg in die Wirtschaft finden.Ein Beispiel. Die Firma Sto AG aus Stühlingen in Ba-den-Württemberg hat eine Wandfarbe entwickelt, dieGerüche und Schadstoffe aus der Raumluft herausfiltert,und zwar einfach durch die Einwirkung von Licht. DieseEntwicklung wäre nicht möglich gewesen ohne die Zu-sammenarbeit der Firma mit der Uni Erlangen-Nürn-berg, die jahrelang an Pigmenten geforscht hat, die orga-nische Stoffe umwandeln können. Bedarf für diese Farbebesteht an vielen Orten, beispielsweise in Kinderzim-mern und in Krankenhäusern. Ich könnte noch weitereBeispiele nennen.Innovative Entwicklungen dieser Art als Ergebnis ei-ner guten Zusammenarbeit von Wirtschaft und Wissen-schaft werden von der Bundesregierung seit Jahren in-tensiv gefördert. Zu nennen sind beispielsweiseProgramme wie Pro Inno, durch das seit 1999 über 5 000kleine und mittelständische Unternehmen unterstütztwurden. Herr Lafontaine, in unserem Land gibt es dochnoch ein bisschen Sonne, was die Wirtschaft angeht.
Speziell für die neuen Länder hat die letzte Bundesre-gierung die Programme Inno-Watt und NEMO ins Lebengerufen. Eines von vielen erfolgreichen Beispielen istdas Innovationsnetzwerk Augenoptik Rathenow in Bran-denburg, das im Rahmen von NEMO gefördert wird.Dort haben sich 15 kleinere Firmen der Optikbranchezusammengeschlossen, um gemeinsam technische Ent-wicklungen voranzubringen. Sie arbeiten zusammen miteinem Fraunhofer-Institut und mit Fachhochschulen ausder Region. Sie stellen gemeinsame Systemkataloge zu-sammen, vermarkten Brillengläser, Mikroskope und Prä-zisionsmaschinen. Mitte der 90er-Jahre gab es dort250 Beschäftigte. Inzwischen sind dort über 1 000 zu-sätzliche Arbeitsplätze entstanden.
Dieses Beispiel zeigt, wie sehr sich Investitionen loh-nen, wenn sie gezielt eingesetzt werden, zum Beispielzum Aufbau von Netzwerken, so genannten Clustern,die eine enorme Wachstumswirkung entfalten können.Investitionen dieser Art tragen, nebenbei bemerkt, zu ih-rer eigenen Refinanzierung bei.Damit aber solche Projekte gelingen, braucht manMenschen mit Erfindergeist, mit Wagemut und – last,but not least – mit einer guten Ausbildung, und zwarvon Anfang an: über den Kindergarten, die Schule bishin zum Berufsbildungs- oder Hochschulabschluss.Auch wenn wir hier den Jahreswirtschaftsbericht dis-kutieren, ist es mir wichtig, diesen Zusammenhang nocheinmal explizit zu betonen: Gute Bildungspolitik ist im-mer eine Grundvoraussetzung für eine gelungene Wirt-schafts- und Technologiepolitik.
In diesem Bereich haben wir, wie wir aus internationalenStudien wissen, noch einen gewissen Optimierungsbe-darf.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Ortwin Runde, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Positionswechsel sind schon mehrfach
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Ortwin Rundeangesprochen worden. Es ist in der Tat erstaunlich, wieschnell und reibungslos einige einen solchen Wechselvollziehen. Andere wiederum haben ihre Schwierigkei-ten damit.Was die Positionswechsel angeht, freue ich michdurchaus, dass die Zahl derjenigen, die an die Bewälti-gung der Probleme optimistisch gestaltend herangehen– in diesem Punkt kann ich für mich eine gewisse Konti-nuität in Anspruch nehmen –, gewaltig zugenommenhat.
Dass sich einige aufgrund der Positionswechsel ein we-nig einsam fühlen, Herr Brüderle, kann ich nachempfin-den.Ich möchte bei dieser Diskussion darauf hinweisen,dass sich auch Positionen inhaltlicher Art verändert ha-ben. Ich habe unsere Diskussion über den europäischenStabilitäts- und Wachstumspakt aus dem letzten Jahrund unsere Diskussion über die Frage, wie man damitumgeht, noch gut in Erinnerung. Ich kann mich auchnoch gut an die verschiedenen Defizitprognosen erin-nern.Wir können nun resümieren. Herr Kampeter lag mitseiner Prognose bei über 40 Milliarden Euro. Am Endewaren es 31 Milliarden Euro. Das ist ja ein Unterschied.Daraus ziehen einige in Bezug auf den europäischen Sta-bilitäts- und Wachstumspakt den Schluss – gerade ausder Wissenschaft, in der es sehr unterschiedliche Denk-schulen gibt –, dass es angesichts einer Defizitquote von3,4 Prozent anstatt von 3,9 Prozent, die von der Regie-rung ursprünglich nach Brüssel gemeldet wurden, einLeichtes wäre, eine Quote von 3 Prozent schon in 2006zu erreichen. Ich muss sagen, dass wir diese Diskussionnicht in der Koalition führen, sondern es sich dabei umeine Randbegleitung durch die Wissenschaft handelt.Das macht die Veränderung in den gesamten Einstellun-gen deutlich.
Ich habe natürlich immer ein bisschen den Verdacht,dass auch die FDP diese Diskussion führen möchte. Nunmuss man sich vorstellen: Die Defizitquote um 0,4 Pro-zentpunkte reduzieren zu wollen, klingt wenig, bedeutetaber: Jede Reduzierung um 0,1 Prozentpunkt erfordertEinsparungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Bei0,4 Prozentpunkten müsste man also 10 Milliarden Euroeinsparen. Herr Brüderle ist immer gut im ganz Abstrak-ten; er fordert allgemein die Entlastung der Bürger. Kon-kret wird er aber nie.
Bezogen auf den Bundeshaushalt bedeuten Einspa-rungen natürlich, den Zusammenhang von abstrakterÖkonomie und Gesellschaftspolitik herzustellen. Dannist man sehr schnell bei der Frage: Wen trifft es? Mansieht, die Hauptausgabenblöcke liegen bei den Rentenund Ähnlichem.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brüderle?
Immer. Das belebt das Geschäft.
Lieber Kollege Runde, wir haben uns als kleine Op-
positionspartei sehr viel Mühe gemacht – wir haben ja
nicht wie der Finanzminister einen Apparat von ein paar
Tausend Beamten, die ihm zuarbeiten können –, haben
ein Sparbuch mit Einsparmöglichkeiten in Höhe von
30 Milliarden Euro vorgelegt und damit die Finanzie-
rung unseres Steuerkonzeptes offen dargelegt. Das hat
keine andere Partei gemacht.
Statt uns zu loben, kritisieren Sie uns nun. Sie sollten
dankbar sein für unsere Hilfestellung.
Sie zu loben, würde mir leichter fallen,
wenn Ihre Konzepte wirklich politiktauglich wären.Wenn man Ihre Steuerkonzepte anschaut, stellt man fest,dass Ihre Partei die Handlungsunfähigkeit des Staatesherbeiführen will.
Wenn ich mir ansehe, zu welchen EinnahmeausfällenIhre Steuerkonzepte führen würden, dann kann ich nursagen: Das ist nicht verantwortbar.
Dass die große Koalition die Handlungsfähigkeit desStaates sicherstellen will, ist eine der Veränderungen, dieim Koalitionsvertrag deutlich wurde und die in den letz-ten Wochen und Monaten schon in ersten Gesetzen um-gesetzt wurde.Ich erinnere mich an jede Sitzung im Finanzaus-schuss, in der wir über den Abbau der Eigenheimzulageund die Abschaffung von Verlustzuweisungsgesellschaf-ten diskutiert haben. Ihre Vertreterinnen und Vertretersagten immer: Das alles darf nicht jetzt sein,
sondern erst dann, wenn eine große Steuerentlastungkommt.
Insofern haben Sie dies faktisch immer verhindert.
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Ortwin RundeMeine Damen und Herren, ich finde es schon richtig,dass die Bundesregierung, bezogen auf das Jahr 2006,sagt: Wir können die Stabilitäts- und Wachstumskrite-rien nicht erfüllen.
Wir werden sie in 2007 erfüllen. – Dies scheint mir, auchkonjunkturpolitisch, ein richtiger Ansatz zu sein.
Das ist auch für die wirtschaftliche Entwicklung von ent-scheidender Bedeutung.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,
diesmal vom Kollegen Schäffler?
Natürlich, gern.
Herr Runde, ist Ihnen bekannt, dass wir dem Gesetz
zur Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben
und das von Ihnen angesprochene Gesetz unsere Zustim-
mung gefunden hat?
Mir ist bekannt, dass Sie am Ende der Begrenzung der
Verlustzuweisungsverrechnung zugestimmt haben. Aber
ist Ihnen bekannt, dass Sie immer die Argumentationsli-
nie hatten: „Wir können dort keine Subventionen ab-
bauen, weil das im Grunde genommen eine verdeckte
Steuererhöhung ist, solange wir auf der anderen Seite
keine Senkung der Steuersätze haben“? Das ist doch Ihr
Argumentationsmuster. Ist Ihnen das bekannt?
Auch finde ich es richtig, dass die Bundesregierung in
dieser schwierigen Haushaltssituation ein Programm mit
Wachstumsimpulsen verabschiedet. Das Wachstums-
impulsprogramm, das 3 Prozent für Forschung und
Entwicklung vorsieht, wirkt über eine längere Zeit. Da-
rauf hat Frau Berg bereits hingewiesen.
Über das Programm zur energetischen Gebäudesanie-
rung freuen sich auch die Grünen. Dass wir es in dieser
Größenordnung nicht gemeinsam hinbekamen, ist
schade; daher ist es umso schöner, dass es jetzt möglich
war. Es hat im Bereich der Energie- und Materialeffi-
zienz sehr viel mit den Herausforderungen zu tun, vor
denen wir stehen, wenn wir zukunftsorientiert handeln
wollen. In diesen Bereichen sehe ich in der Tat weltwirt-
schaftlich bedrohliche Entwicklungen.
Das sind bezogen auf die Prognosen des Jahreswirt-
schaftsberichts Punkte, die als Risiken einzuschätzen
sind. Dazu gehört im Übrigen auch das Verhalten der
Europäischen Zentralbank, das von ganz entscheidender
Bedeutung sein wird.
Ich halte das Wachstumsimpulsprogramm für rich-
tig. Dabei wird häufig nach der Größenordnung ge-
fragt. Wenn man die Umrechnung in D-Mark vornimmt,
sieht man, dass sich die Größenordnung alten Gewerk-
schaftsvorstellungen annähert. Durch die Umstellung
von D-Mark auf Euro kommt es gelegentlich zu einem
subjektiv falschen Eindruck. Ich möchte darüber hinaus
festhalten, dass es zu Multiplikatoreffekten in großem
Ausmaß kommt.
Ich finde es gut, dass man den Bereich der Abschrei-
bungen als konjunkturpolitisches Instrument wieder ent-
deckt hat. Dass der alte Schiller wieder aufersteht, kann
in der Diskussion über die Ökonomie,
die wir zurzeit führen, nicht schaden.
Dass wir bei der Herstellung der Handlungsfähigkeit
der verschiedenen staatlichen Ebenen ein Stück vorange-
kommen sind, macht die Entwicklung des Gewerbesteu-
eraufkommens deutlich. Vor einem Jahr hätte niemand
zu prognostizieren gewagt, dass es im Jahr 2005 ein
Aufkommen in Höhe von vielleicht sogar 33 Milliarden
Euro geben wird. Das ist erfreulich, weil wir damit auch
die Investitionskraft der öffentlichen Hände stärken. Bei
der Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten
wird es bezüglich der Investitionen in die Infrastruktur
darauf ankommen, die verschiedenen staatlichen Ebenen
miteinander zu verknüpfen, aber auch handlungsfähig zu
machen.
Das scheint ein ganz bedeutsamer Faktor zu sein. Es
geht also nicht nur um die Frage, wie man bezüglich der
Konsolidierung der Finanzen zu einem Pakt zwischen
Bund, Ländern und Kommunen kommen kann; vielmehr
ist auch in den Bereichen „wirtschaftliche Impulse“ und
„Investitionen“ gemeinsames Handeln erforderlich. Das
scheint mir ganz entscheidend zu sein, wenn wir über
das, was die Bundesregierung prognostiziert hat – sie
geht von einem Wachstum in Höhe von 1,5 bzw., spitz
gerechnet, 1,4 Prozent aus –, hinauskommen wollen.
Unter Berücksichtigung der Stimmung in der Wirt-
schaft und in der Annahme, dass auch andere Elemente
mitwirken werden, gehe ich davon aus, dass wir eine hö-
here Wachstumsrate erreichen können. Es wäre gut, wenn
wir zum Jahresende unser Hauptziel, die Herstellung von
Beschäftigung bzw. den Abbau von Arbeitslosigkeit in ei-
ner Größenordnung von mehr als 350 000, erreichen
könnten.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 16/450 und 16/65 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
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938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerSind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäf-tigung– Drucksache 16/429 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes-minister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbe-richt eine Menge zur Entbürokratisierung gehört. Mitdiesem Gesetzentwurf zum Saison-Kurzarbeitergeldtragen wir zur Entbürokratisierung bei. Bisher werden invielen Branchen im Winter Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer entlassen und zum Frühjahr wieder einge-stellt. Das ist für die Betriebe ebenso wie für die betrof-fenen Menschen eine schwierige Prozedur. Nicht immerfindet man die, die man im Dezember oder Januar ent-lassen hat, im März wieder.Wir wollen mit dem Gesetzentwurf, der heute zur ers-ten Lesung vorliegt, für die Zeit von Dezember bis Märzeine vernünftige und weniger bürokratische Regelungals die, die es bisher gegeben hat, schaffen. Wir kennendas Problem aus der Baubranche. Aber nicht nur in derBaubranche werden witterungsbedingt um die Jahres-wende herum die Aufträge weniger, sodass Menschenentlassen werden müssen. Bis 1995 gab es das Schlecht-wettergeld; dann wurde es abgeschafft. Danach hat manmit anderen Regelungen versucht, eine Lösung zu fin-den. Das hat aber nie so ganz richtig geklappt.Jetzt hat es Gespräche mit beiden Seiten der Tarifpar-teien gegeben. Man hat eine Vereinbarung getroffen, diesich in diesem Gesetzentwurf niederschlägt. Unser Vor-schlag findet große Zustimmung – nicht von allen, dasist wahr – vor allen Dingen beim Zentralverband desDeutschen Baugewerbes, der ausdrücklich das lobt, waswir in Gesetzesform zu fassen versuchen.Wir wollen das Sondersystem der Winterbauförde-rung fortentwickeln und in das System des Kurzarbeiter-geldes integrieren. Danach werden die Menschen zwi-schen dem 1. Dezember und dem 31. März nichtentlassen, sondern bleiben bei dem Betrieb beschäftigtund bekommen Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Pro-zent ihres bisherigen Lohnes. Wer ein Kind hat, be-kommt 67 Prozent. Am 1. April beginnt wieder das nor-male Beschäftigungsverhältnis. Während dieser Zeitzahlt der Arbeitgeber keinen Lohn, aber Sozialversiche-rungsbeiträge von 80 Prozent des bisherigen Lohns. Erzahlt Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge. Das machtin der Summe ungefähr 30 Prozent des Lohns aus, den erzuvor gezahlt hat. Der Arbeitgeber hat während dieserZeit jemanden bei sich beschäftigt, der aber nicht arbei-tet, der auch keinen Lohn bekommt, für den er aber Sozi-alversicherungsbeiträge zahlt.Die Frage ist, in welcher Größenordnung dies ange-nommen wird. Wir sehen auch, dass dies wahrscheinlichnicht sehr viele sein werden. An dieser Stelle fängt es an,richtig interessant zu werden. Jetzt geht es um die Frage,ob die Tarifparteien zur Finanzierung der ergänzendenLeistungen an Arbeitnehmer bei Nutzung beispielsweisevon im Laufe des Jahres angesparten Arbeitszeitgutha-ben zur Überbrückung von Ausfallstunden eine bran-chenspezifische Umlage vereinbaren, um daraus ein ver-nünftiges System zu machen.Unsere Vorschläge sind nicht zwingend, nicht für dieBaubranche und nicht für andere Branchen. In der Bau-branche jedoch gibt es eine solche Vereinbarung. AlleBranchen – dazu gehört beispielsweise auch die Land-und Forstwirtschaft –, die Vereinbarungen zu einer sol-chen Umlage treffen, können das System, das wir anbie-ten, dann in vernünftiger Weise nutzen.Wenn die Tarifparteien – das ist mit ihnen besprochenworden – solche Umlagesysteme einführen, passiert imWesentlichen dreierlei:Erstens. Der Arbeitgeber muss nicht mehr die Sozial-versicherungsbeiträge in voller Höhe zahlen, sondernnur noch einen ganz kleinen Rest davon. Das macht dieSache für ihn hoch attraktiv. Er kann seine Mitarbeiterweiterbeschäftigen, braucht sie nicht zu entlassen, er hatAufwand für Bürokratie gespart, muss für sie nicht zah-len und spätestens zum 1. April sind die Betreffendenbei ihm wieder voll tätig.Zweitens gibt es ein Zuschuss-Wintergeld. Das ist einBonus in Höhe von bis zu 2,50 Euro für jede Stunde, dieaus einem Arbeitszeitguthaben eingebracht und im Win-ter zur Vermeidung von Arbeitsausfällen genutzt wird.Das ist eine flexible Arbeitszeitregelung. Das heißt, aufArbeitszeitguthaben, die sich im Verlauf des Jahres auf-gebaut haben, kann im Winter zurückgegriffen werden.Dafür gibt es einen Zuschuss von bis zu 2,50 Euro proStunde.Drittens gibt es ein Mehraufwands-Wintergeld. Dasist ein Bonus in Höhe von 1 Euro für jede in der Förder-zeit geleistete Arbeitsstunde, in der Summe jedoch fürnicht mehr als 450 Stunden. Dagegen ist das Zuschuss-Wintergeld eine Vergünstigung für diejenigen, die ihrArbeitszeitguthaben in der Zeit aufbrauchen. BeimMehraufwands-Wintergeld geht es um die geleistetenStunden.
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Bundesminister Franz MünteferingUm die Kombination dieser drei Möglichkeiten – derArbeitgeber zahlt keine Sozialversicherungsbeiträgemehr; es gibt einen Zuschuss für den Einsatz des zuvoraufgebauten Arbeitszeitguthabens und es gibt 1 Euro zu-sätzlich für jede in der Zeit von Dezember bis März ge-leistete Stunde – geht es.Ich sage noch einmal ausdrücklich: Das ist keineZwangsveranstaltung für die eine oder andere Branche,sondern ein Angebot für die Tarifparteien auf beidenSeiten. Hier handelt es sich um eine Triparität – falls esso etwas gibt; das wurde mir zumindest so aufgeschrie-ben, deshalb gebe ich das hier gerne weiter –: Es gibtdrei Handelnde, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und denStaat, also die Arbeitsverwaltung. Es liegt an den beidenTarifparteien, ob sie solche Vereinbarungen treffen.Wenn sie es tun, dann sind sie in der guten Lage, dass sie– anders als bisher – die Menschen zu Beginn des Win-ters nicht mehr entlassen und dann irgendwann späterwieder suchen müssen, um sie einstellen zu können. Sogibt es eine größere Sicherheit für alle Beteiligten.Ich glaube, das ist eine insgesamt vernünftige, büro-kratiefreundliche und auch arbeitgeber- wie arbeitneh-merfreundliche Regelung, die wir hier eröffnen. Ich bitteum Unterstützung.
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Für die Fraktion der FDP begrüße ich dieZielsetzung des heute vorgelegten Entwurfs eines Geset-zes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Wir wer-den konstruktiv an der Diskussion zu diesem Gesetz teil-nehmen.
Das Saisonkurzarbeitergeld soll die bisherige Winter-bauförderung ablösen, wobei die neue Leistung nicht aufdie Baubranche beschränkt wird, sondern für weitereSaisonbranchen geöffnet werden soll.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales er-wägt nunmehr, Wirtschaftszweige auch ohne deren Zu-stimmung einzubeziehen. Dies ist nicht akzeptabel.
Mit der Finanzierung der Sozialversicherungsbeiträgefür Saisonkurzarbeitergeld im Wege eines Umlagever-fahrens oder einer Direktzahlung an die Bundesagenturfür Arbeit sind zusätzliche Belastungen verbunden. Diesgilt vor allem für Arbeitgeber der Branchen, die bishernicht über ein Umlageverfahren wie das der Baubrancheverfügen. Je nach Situation der Branche bestünde da-durch die Gefahr, dass – statt Saisonarbeitslosigkeit zuverhindern – vielmehr durch vermehrte FirmenpleitenArbeitsplätze dauerhaft in Gefahr geraten. Das wäre na-türlich absolut kontraproduktiv.
Durch die Ausweitung des Anwendungsbereichesdes neuen Gesetzes über Verordnungen des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales dürfen Tarifver-tragsparteien nicht die Anreize genommen werden,ganzjährige Beschäftigung selbstständig über eine fle-xible Ausgestaltung der Tarifverträge zu erreichen.
Für eine Ausweitung über die Baubranche hinaus müs-sen strenge Maßstäbe gelten.Einige Passagen des Gesetzentwurfes werfen weitereFragen auf, welche wir in den Ausschüssen klären soll-ten. Wie schon erwähnt ist noch unklar, welche Bran-chen genau in die neue Leistung des Saisonkurzarbeiter-geldes einbezogen werden. Zunächst hieß es in derDiskussion, dass nur Branchen einbezogen werden, diedies auch wollen. Im Gesetzentwurf steht nun aber, dassdas Bundesministerium für Arbeit und Soziales durchRechtsverordnung die einzubeziehenden Wirtschafts-zweige festlegen kann.
Somit könnte mit der Unterschrift des zuständigenMinisters eine Branche zum Beispiel auch gegen den er-klärten Willen der Arbeitgeber einbezogen werden. Dasallein ist fast schon ein Eingriff in die Tarifautonomie.Schon der nächste Absatz der Gesetzesvorlage zeigt,wohin die Reise geht: Das Bundesministerium für Arbeitund Soziales darf Verordnungen über die Höhe der er-gänzenden Leistungen erlassen. Statt dieser Verordnun-gen sollten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, wiedie Tarifpartner auch ohne Herrn Müntefering Vereinba-rungen treffen können.
Ebenfalls müssen wir darauf achten, dass mit derneuen Förderung keine neuen Belastungen auf die Bei-tragszahler zur Arbeitslosenversicherung zukommen.Richtig ist, dass bei Inanspruchnahme von Saisonkurzar-beitergeld anstelle von Arbeitslosengeld die Beitrags-zahler entlastet werden, weil sie keine Sozialversiche-rungsbeiträge zu finanzieren haben. Allerdings könnte esje nach Umfang der Inanspruchnahme des Saisonkurzar-beitergeldes deshalb auch zu Mehrbelastungen kommen.Einer übermäßigen Inanspruchnahme von Saisonkurzar-beitergeld und der damit einhergehenden Belastung derBeitragszahler muss deshalb eine wirksame Sperre ent-gegengesetzt werden.
Ein Baustein zur Senkung der Belastungen für dieBundesagentur für Arbeit ist auch die erhöhte Flexibili-sierung der Arbeitszeit mit Zeitguthaben von bis zu150 Stunden statt wie bisher 10 Prozent der vereinbartenJahresarbeitszeit.
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Jörg RohdeWir als Liberale wünschen uns hier noch mehr Freiraumfür die Arbeitnehmer. Schon als Betriebsrat habe ichmich immer für größere Zeitkorridore ausgesprochen.
Wie wäre es zum Beispiel mit 250 Stunden? Um dieganzjährige Beschäftigung der Saisonarbeitnehmer zufördern, könnte man auch über negative Zeitguthabendiskutieren.Statt des Bezuges von Saisonkurzarbeitergeld nachAbbau der Arbeitszeitguthaben könnten Arbeitsausfälleaufgrund schlechten Wetters oder schwacher Auftrags-lage im Frühjahr durch nachträgliche Überstunden aus-geglichen werden.
Auch für negative Arbeitszeitguthaben könnte als Anreizdas Zuschusswintergeld gewährt werden. So kann dieInanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld vermie-den werden.
Um das Ziel der Förderung einer ganzjährigen Be-schäftigung zu erreichen, ist bei Inanspruchnahme vonArbeitslosengeld nach Bezug von Saisonkurzarbeiter-geld eine Anrechnung vorzusehen. Die Einführung ei-nes Saisonkurzarbeitergeldes darf nicht dazu führen,dass beitragsfinanzierte Leistungen zeitlich kumuliert inAnspruch genommen werden können. Dies würde auchdem erklärten Ziel der Neuregelung, die ganzjährige Be-schäftigung zu fördern, widersprechen.
Ich fasse zusammen: Die FDP unterstützt die Einfüh-rung eines Saisonkurzarbeitergeldes, wenn dies zu kei-nen neuen Belastungen für die Arbeitslosenversicherungführt und wenn die Entscheidung, welche Branchen ein-bezogen werden, nicht gegen den Willen der jeweiligenArbeitgeberverbände erfolgt.Herr Müntefering, Sie sagen zwar das Richtige, aberim Gesetzentwurf steht etwas anderes, etwas, das mandeuten kann.
Sie zeigen Möglichkeiten auf, während wir wollen, dassdiese Türen gewissermaßen verbarrikadiert werden. Wirmöchten eine stärkere Einbeziehung der Parteien, die dieVerhandlungen führen, und weniger Einflussnahmedurch den Gesetzgeber.
Da wir für die Gesetzgebung zuständig sind und keineTarifverträge aushandeln, sollten wir Obergrenzen set-zen, die im Rahmen von Tarifverträgen ausgeschöpftwerden können, statt – wie bei den Zeitguthaben – engeObergrenzen einzuführen.
Wir wünschen uns eine intensive Diskussion und ichfreue mich auf die Beratungen in den Ausschüssen.Vielen Dank.
Herr Kollege Rohde, im Namen des ganzen Hauses
herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Deut-
schen Bundestag. Ich wünsche Ihnen persönlich und
politisch alles Gute.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjäh-riger Beschäftigung soll ein wesentlicher Beitrag zur Be-kämpfung der Winterarbeitslosigkeit, insbesondere inder Baubranche, geleistet werden. Mit diesem Gesetz-entwurf verfolgen wir das Ziel, in der Baubranche undgegebenenfalls auch in anderen witterungsabhängigenBranchen eine ganzjährige Beschäftigung zu fördern.Diese Zielsetzung ist im Interesse der Arbeitnehmer undim Interesse der Arbeitslosenversicherung, die dadurchentlastet werden soll. Dies ist im Grundsatz zu unterstüt-zen. Ich bin auch für die Signale aus der Oppositiondankbar, dass wir uns in diesem Ziel, jedenfalls vomGrundsatz her, einig sind.Mit diesem Gesetzentwurf werden wir ein neuesInstrument schaffen, das so genannte Saisonkurzarbei-tergeld, mit dem wir die bisherige Winterbauförderungals Spezialfall einer allgemeinen Kurzarbeitergeldrege-lung ersetzen. Sowohl die bisherige Winterbauförderungals auch das neue Saisonkurzarbeitergeld ist ziemlichkompliziert.Lassen Sie mich darauf hinweisen, worum es dabeiim Wesentlichen geht: Es geht vor allem darum, dass inder Schlechtwetterperiode, also bei witterungs- und auf-tragsbedingtem Arbeitsausfall, Saisonkurzarbeitergeldgezahlt wird; so haben wir es auch im Koalitionsvertragfestgelegt. Dieses Saisonkurzarbeitergeld wird in dersel-ben Höhe wie das Arbeitslosengeld gezahlt. Aber dieSozialversicherungsbeiträge müssen vom Arbeitgebergetragen werden. Zudem soll den Arbeitnehmern aus ei-ner Umlage, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmernzu tragen ist, sowohl ein Zuschuss- als auch ein Mehr-aufwandswintergeld gezahlt werden.Auf diese Weise wird die Absicht verfolgt, die ganz-jährige Beschäftigung zu fördern: Die betroffenen Ar-beitnehmer sollen nach Möglichkeit beschäftigt bleiben,statt entlassen und zur BA geschickt zu werden, obwohlsie die Absicht haben, nach der Schlechtwetterperiode
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Dr. Ralf Brauksiepewieder mit ihrem Arbeitgeber zusammenzukommen. Essoll also vermieden werden, dass sich jemand arbeitslosmeldet, der eigentlich nicht vermittelt werden, sondernnach der Schlechtwetterperiode zu seinem Arbeitgeberzurückkehren will; denn das ist nicht sinnvoll. Genaudas soll mit dieser Regelung vermieden werden. Ichdenke, das ist ein vernünftiges und unterstützungswürdi-ges Anliegen.
Nun steckt bei diesem Gesetzentwurf wie bei vielenanderen und wie häufig im Leben der Teufel im Detail.Natürlich lehrt die Erfahrung, dass am Ende kein Ge-setzentwurf genau so aus dem Parlament herausgeht, wieer hineingegangen ist.
Gleichzeitig muss man natürlich zur Kenntnis nehmen,dass die gesetzlichen Regelungen, die wir hier andisku-tieren, nicht aus dem luftleeren Raum kommen: Es gibteine Vereinbarung der Tarifvertragsparteien in derBauwirtschaft, von IG BAU und Bauindustrie, aus demJuli letzten Jahres, in der genau diese Regelungen – dieUmlage, das Zuschusswintergeld und auch das Mehrauf-wandswintergeld – vereinbart worden sind. Über einesmuss man sich im Klaren sein: Eine gesetzliche Rege-lung, die eine solche Vereinbarung der Tarifvertragspar-teien flankieren soll, läuft auf Dauer ins Leere, wenn dieRegelungen, die dort vereinbart sind, nicht kompatibelsind; wenn sie nicht zusammenpassen, kann das nichtfunktionieren. Es ist sicherlich vernünftig, über die ein-zelnen dort vereinbarten Regelungen nachzudenken, wiedas Ausfallgeld zur ersten Stunde. Es wird aber nichtsinnvoll sein, eine gesetzliche Regelung zu machen, diemit den tarifvertraglich vorhandenen Regelungen nichtin Übereinstimmung zu bringen ist. Dann läuft dasInstrument ins Leere, dann muss man sagen: Wir wollendas nicht. – Wir wollen aber ein solches Instrument.Über die Details wird also zu reden sein, nur der Grund-satz müsste klar sein.
Da die FDP nun argwöhnt, die Regelung solle ande-ren Branchen gewissermaßen übergestülpt werden, kannich Sie beruhigen: Es ist nicht beabsichtigt, weder vonden Koalitionsfraktionen noch von der Bundesregierung– ich denke, das darf ich sagen –, hier irgendeine Tarif-vertragspartei irgendeiner Branche zwangszubeglückenmit etwas, was sie überhaupt nicht haben will.
Wir müssen uns als Gesetzgeber ja mit zwei Dingenbeschäftigen: Einmal damit, dass keine Branche zwangs-beglückt wird, die das gar nicht will. Und selbst wenndie Tarifvertragsparteien das wollen, darf die Regelung,die geschaffen werden soll, nicht zulasten Dritter gehen.Wir haben im Koalitionsvertrag ganz klar festgelegt:Wir wollen einen kostenneutralen Ersatz für die alteWinterbauförderung. Deswegen müssen wir uns bei kon-kreten Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien damitauseinander setzen, ob diese kostenneutral sind. Hier istvorgesehen, nach zwei Jahren zu überprüfen, ob unserZiel im Rahmen der Vereinbarungen, die die Tarifver-tragsparteien geschlossen haben, erreicht worden ist.Beides muss also zusammenkommen: Es muss eine Ver-einbarung beider Tarifvertragsparteien geben, damit einsolches Instrument angewendet werden kann – die Um-lage ist die einzig sinnvolle Voraussetzung dafür, dass soetwas auch für die Tarifvertragsparteien attraktiv wird –,und der Gesetzgeber muss sich die Frage stellen, ob ereine Anwendung auf andere Branchen für sinnvoll hält,wenn es deren Tarifvertragsparteien tun. Dabei muss erdie Auswirkungen auf die Arbeitslosenversicherung imAuge haben.Dieser Regelung liegt die Kalkulation zugrunde, dassbei etwa 25 Prozent derer, die bisher – trotz Winter-bauförderung – saisonbedingt in die Arbeitslosigkeitgingen, dies künftig vermieden werden kann. Wenn unsdas gelingt, dann werden wir auch in der Lage sein, die-ses Instrument kostenneutral zu gestalten; da können Sieganz beruhigt sein. Im Detail wird darüber zu reden sein,wie wir das erreichen können.Ich will noch einmal deutlich sagen: Entscheidend ist,dass wir tatsächlich etwas umsetzen. Denn das Problembrennt wirklich auf den Nägeln. Es kann keinen Sinnmachen, die Menschen regelmäßig – aufgrund abseh-barer, saisonaler Probleme – in die Arbeitslosigkeit zuentlassen, sie für viel Geld zu verwalten und auf büro-kratischem Wege wieder aus der Arbeitslosigkeit heraus-zubringen. Gut wäre es, wenn die Tarifvertragsparteiendafür einen Vorschlag unterbreiten. Der Gesetzgeberstellt sich hier nicht an die Stelle der Tarifvertragspar-teien, sondern er versucht, die Gesamtinteressen, die erzu wahren hat, in Einklang zu bringen mit dem, was dieTarifvertragsparteien vereinbart haben. Auf dem Wegsind wir und ich denke, wir können ihn im Laufe des Ge-setzgebungsverfahrens weiter erfolgreich beschreiten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus, Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD bestätigen mit dem vorliegenden Geset-zesvorhaben die Notwendigkeit der Förderung ganzjäh-riger Beschäftigung. In diesem Ziel sind wir uns einig.Insofern begrüßen wir vom Grundsatz her den vorgeleg-ten Gesetzentwurf.Wir müssen allerdings auch feststellen, dass sowohlCDU/CSU als auch SPD für die derzeitige missliche Si-tuation der Beschäftigten in saisonabhängigen Branchen,die vom Minister hier völlig zu Recht beklagt wordenist, durch Entscheidungen in der Vergangenheit wesent-lich mitverantwortlich sind:
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Werner DreibusUnter Führung von CDU/CSU und FDP wurde mitdem Schlechtwettergeld ein gut funktionierendes Sys-tem mit der Begründung abgeschafft, es sei zu teuer undbelaste den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zusehr. Damals hat Ihre Fraktion, Herr Rohde – das kannman wunderbar nachlesen; das würde ich Ihnen empfeh-len –,
übrigens keine Rücksicht auf die Tarifautonomie und aufdie Interessen und formulierten Positionen der Tarifver-tragsparteien genommen, sondern gegen deren Rat dasSchlechtwettergeld abgeschafft. Was war das Ergeb-nis? – Das Ergebnis war und ist ein Anstieg bei der sai-sonalen Arbeitslosigkeit in den Bauberufen. Unter demStrich wurden die Beschäftigten und die Bundesanstaltfür Arbeit zusätzlich belastet.Vor allem die SPD, aber auch die Grünen haben 1995die Abschaffung des Schlechtwettergeldes lautstark undvöllig zu Recht kritisiert. Während ihrer Regierungsver-antwortung in den letzten sieben Jahren hat Rot-Gründen Missstand dann aber lediglich weiter verwaltet. Insieben Jahren hat Rot-Grün es nicht fertig gebracht, eineAbsicherung für die Beschäftigten zu schaffen, die imPrinzip dem alten Schlechtwettergeld entsprochen hätte.Im Gegenteil: Mit der Hartz-III-Gesetzgebung habenSie die Beschäftigten im Baugewerbe deutlich schlechtergestellt. Ab Februar 2006 könnten die betroffenen Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer – es sind überwie-gend aber Arbeitnehmer – schrittweise ihre Ansprücheauf Arbeitslosengeld I verlieren und trotz regelmäßigerWiederbeschäftigung zu Beziehern von Arbeitslosen-geld II werden. Die Misere, die mit der Abschaffung desSchlechtwettergeldes unter Schwarz-Gelb eingeleitetwurde, hat Rot-Grün mit Hartz III ohne Not zugespitzt.Das alles muss man wissen, wenn sich CDU/CSU undSPD jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um Ab-hilfe bemühen.Ich sage es, um kein Missverständnis aufkommen zulassen, noch einmal: Wir begrüßen die Zielsetzung desGesetzesvorhabens. Aber die Lernkurve – wir habenvorhin etwas über die lernende Gesellschaft gehört –,von der Abschaffung des Schlechtwettergeldes bis zuseiner Wiedereinführung durch die Hintertür, ist mitzehn Jahren nach meinem Verständnis deutlich zu langeausgefallen.
Es waren zehn Jahre, in denen das Leben vieler am Baubeschäftigter Menschen überflüssigerweise dadurch er-heblich verschlechtert wurde, dass ihnen die heutigenKoalitionäre den notwendigen Schutz vor Arbeitslosig-keit im Winter verwehrt haben. Es war und ist falsch,Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei saisonalenAuftragsschwankungen betriebsbedingte Kündigungenzustellen zu lassen. Es war und ist falsch, diese gekün-digten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immerwieder neu zur Agentur für Arbeit zu schicken und Ar-beitslosengeld beantragen zu lassen. Es war und istfalsch, dass die Agenturen für Arbeit gezwungen wer-den, sich in diesen Fällen mit Arbeitnehmern zu beschäf-tigen, die weder gefordert noch gefördert werden müs-sen.Ihre Arbeitsmarktpolitik gibt vor, dem Leitbild desForderns und des Förderns zu folgen. Das ist ein Miss-verständnis und geht zulasten der betroffenen Menschen.Weder die Abschaffung des Schlechtwettergeldes nochdie Hartz-Reformen insgesamt folgen tatsächlich die-sem Motto. Sie folgen der Maxime des Forderns undHoffens. Im Fall der Beschäftigten am Bau habenSchwarz-Gelb und Rot-Grün in der Vergangenheit dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgefordert, sichganzjährig um Arbeit zu bemühen, und gleichzeitig ge-hofft, dass der Winter ausfällt.
Statt eine solche Fata Morgana zu beschwören undsich zehnjährige Auszeiten in der Wahrnehmung ein-fachster Zusammenhänge zu leisten, ist eine den Realitä-ten angemessene Absicherung der Beschäftigungsrisikenvon saisonabhängigen Beschäftigten notwendig. Das giltbei diesem Thema und das gilt für die Arbeitsmarktpoli-tik als Ganzes. Wir werden uns an dieser Debatte kon-struktiv beteiligen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binder Auffassung, dass Sie mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf eine richtige Absicht verfolgen.Natürlich ist es richtig, die Arbeitslosigkeit in wetter-abhängigen Branchen reduzieren zu wollen. Das ist gutfür die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natür-lich führt dies auch zu einer Arbeitserleichterung bei denArbeitsagenturen. Herr Müntefering, nebenbei kommt esdadurch natürlich auch zu einer positiven Entwicklungder Arbeitslosenstatistik. Das ist ein schöner Nebenef-fekt, der dabei herauskommt.
Aber sei’s drum, das gönnen wir Ihnen von Herzen; denndas ist in der Sache ja auch richtig.Meine Frage aber ist – ganz anders als bei HerrnBrauksiepe und bei der FDP-Fraktion –: Warum be-schränken Sie diese Regelung eigentlich auf die saison-bedingte Arbeitslosigkeit in Wintermonaten? Sie nen-nen hier ausdrücklich Branchen, die Probleme im Winterhaben: Baugewerbe, Land- und Forstwirtschaft, Bau-stoffindustrie, Steinmetz-, Bildhauerhandwerk, Malerund Lackierer.Offen gestanden finde ich das halbherzig. Ich meine,dass das Prinzip, das Sie mit diesem Gesetzentwurf ver-folgen, richtig ist, frage mich allerdings, warum es nurum die Monate Dezember bis März geht. Ich weiß, dassSie – Frau Merkel hat das immer wieder betont – die
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Brigitte PothmerPolitik der kleinen Schritte adeln wollen. Aber müssenes tatsächlich Trippelschritte sein? Wetter ist ganzjährigund gibt es nicht nur von Dezember bis zur Krokusblüteim März.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großenKoalition, ich weiß, dass Sie am liebsten mit dem Sloganwerben würden: Wenn morgens früh die Sonne lacht,hat’s die große Koalition gemacht.
Ich kann Ihnen aber sagen: Schlechtes Wetter – zumal inunseren Breitengraden – wird selbst dann ein ganzjähri-ges Phänomen bleiben, wenn Frau Merkel regiert.Ich finde, es ist ein Problem, dass Sie mit Ihrer Rege-lung etliche Wirtschaftszweige von vornherein davonausschließen, diese Regelung in Anspruch zu nehmen:zum Beispiel die Gastronomie in Wintersportregionensowie Alm- und Gondelbetriebe. Diese bräuchten einKurzarbeitergeld für die Sommersaison. Das ist aberauf der Grundlage dieses Gesetzes ausdrücklich nichtmöglich.Interessanterweise handelt es sich dabei um Bran-chen, in denen überwiegend Frauen beschäftigt sind. In-sofern ist es, das muss ich schon sagen, Ausdruck vonfortgeschrittener Geschlechtsblindheit,
wenn Sie in Ihrem Entwurf auch noch schreiben, diesesGesetz habe keine gleichstellungspolitische Bedeutung.Interessanterweise profitieren von Ihrer Regelung Bran-chen, in denen fast ausschließlich Männer beschäftigtsind.Warum treffen Sie nicht einfach eine Regelung, diebesagt: Wenn jemand acht von zwölf Monaten sozialver-sicherungspflichtig beschäftigt ist und alle anderen Vo-raussetzungen – das betone ich ausdrücklich – ebenfallserfüllt sind, dann gilt diese Regelung? Das wäre auch einBeitrag zum Bürokratieabbau.
Das frage ich Sie vor allen Dingen vor dem Hinter-grund, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf betonen, mit die-ser Regelung könnten circa 25 Prozent der saison-bedingten Entlassungen vermieden werden. Gut so,sage ich. Ich frage aber: Warum denn nicht auch in ande-ren Bereichen? In Ihrem Gesetzentwurf werden die Ein-sparungen für die Bundesagentur für Arbeit und denBund betont. Herr Brauksiepe, machen Sie nur weiter imSchritttempo der 80er-Jahre! Diese Wohltaten könnenwir doch auch anderen Branchen gönnen.
Ich will noch auf einen weiteren Punkt hinweisen, dermir sehr wichtig ist. Sie wollen mit diesem Gesetzent-wurf – das finde ich gut – Anreize schaffen, um Arbeits-zeitkonten stärker zu nutzen. Es ist natürlich das Ziel– das sehen wir genauso –, dass Regelungen in erster Li-nie darüber und nicht über das „Schlechtwettergeld“ ge-schaffen werden. Aber in diesem Fall müssen wir diesenGesetzentwurf noch ein bisschen nachbessern. Wir müs-sen dann natürlich sehr viel mehr für eine bessere Insol-venzsicherung bei Arbeitszeitguthaben tun.
Wie sagte Herr Brauksiepe ganz richtig? Kein Gesetzkommt aus dem Ausschuss so heraus, wie es dort hinein-gegangen ist. Darauf setze ich – auf das Prinzip Hoff-nung!Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Steppuhn,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Die Koalition von CDU/CSU und SPD bringtheute den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganz-jähriger Beschäftigung ein. Ziel dieses Zukunftsmodellsist es, einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung derWinterarbeitslosigkeit und zur Verstetigung der Beschäf-tigungsverhältnisse im Bauhaupt- und Bauausbauge-werbe zu leisten.
Bereits in der 14. Legislaturperiode wurde seinerzeitein Gesetz zur Neuregelung der Förderung der ganzjäh-rigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft auf den Weggebracht. Diese so genannte Winterbauförderung hat be-reits nachweislich einen aktiven Beitrag zur Vermeidungder Winterarbeitslosigkeit geleistet. Aufgrund dieserpositiven Erfahrungen soll nun das bislang einzig auf dieBauwirtschaft beschränkte Fördersystem nicht nur wei-terentwickelt, sondern auch auf weitere Branchen mitsaisonbedingten Arbeitsausfällen ausgeweitet werden.Wir erfüllen damit eine Vereinbarung aus dem Koali-tionsvertrag.Der vorliegende Gesetzentwurf ist vom zuständigenBundesministerium für Arbeit und Soziales unter Einbe-ziehung – der Minister hat das schon gesagt – einer sogenannten Triparität mit den Tarifvertragsparteien desBaugewerbes erarbeitet worden und wird auch nach Ex-pertenmeinungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten,dass Winterarbeitslosigkeit zukünftig vermieden wird.Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sichim Ergebnis ihrer Tarifpolitik auf ein umlagefinanzier-tes System verständigt, in dem sich sowohl Arbeitneh-mer als auch Arbeitgeber finanziell engagieren.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir da-von ausgehen, dass bereits im kommenden Winter dieWinterarbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft spürbar ge-senkt werden kann.
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Andreas Steppuhn
Dieses beschriebene Zukunftsmodell soll auch auf wei-tere Branchen, in denen saisonbedingte Arbeitslosigkeitin den Wintermonaten bislang gang und gäbe war, aus-geweitet werden. Konkret haben wir beispielsweise dasMaler- und Lackiererhandwerk, die Baustoffindustrie,die Land- und Forstwirtschaft, aber auch kleinere Berei-che wie das Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk imBlick.Die Einbeziehung von weiteren Branchen ist denk-bar und kann im Wege von Rechtsverordnungen erfol-gen; das ist gesagt worden. Voraussetzung ist aber, dasses allgemein verbindliche Tarifverträge gibt, auf die sichdie Tarifvertragsparteien verständigen.
– Voraussetzung ist – ich sage das noch einmal –, dassdie Tarifvertragsparteien einen entsprechenden Tarifver-trag vereinbaren. Alles andere macht keinen Sinn. Vondaher sind wir da sehr nahe beieinander.Die künftige Förderung wird in das System des Kurzar-beitergeldes integriert. Das bedeutet: Das neu eingeführteSaison- und Kurzarbeitergeld wird nunmehr bei einemsaisonbedingten Arbeitsausfall gewährt. Anspruch aufEntgeltersatz haben Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin-nen in den Wintermonaten von Dezember bis März. DieBundesagentur – das ist bereits genannt worden – zahltaus Beitragsmitteln 60 Prozent bzw., bei mindestens ei-nem Kind, 67 Prozent der pauschalierten Nettogeldein-bußen. Hinzu kommt, dass Arbeitgeber von der Pflichtzur Entgeltfortzahlung erheblich entlastet werden. Kün-digungen im Winter werden sich zukünftig nicht mehrlohnen. Den Mehrausgaben der Bundesagentur für dasneu eingeführte Saison- und Kurzarbeitergeld wiederumstehen Einsparungen bei den Ausgaben für das Arbeits-losengeld gegenüber.Wichtig ist auch, zu betonen, dass durch den Fort-bestand der Beschäftigungsverhältnisse die Arbeits-agenturen durch entfallende Arbeitslosmeldungen undentfallende Bearbeitung von Leistungsanträgen in erheb-lichem Maße entlastet werden.
Darüber hinaus entsteht der positive Effekt – ich haltedies auch für sozial gerecht –, dass Bauarbeitnehmertrotz einer regelmäßigen Beschäftigung in zwei auf-einander folgenden Jahren nicht mehr wie bisher untereine jährliche Beschäftigungszeit von acht Monatenkommen und somit nicht mehr Gefahr laufen, irgend-wann ins Arbeitslosengeld II mit allen damit verbunde-nen Konsequenzen abzurutschen. Denn sie gehen dochfast das ganze Jahr über einer regelmäßigen Tätigkeitnach.
Lassen Sie mich als jemand, der selbst den Beruf desBetonbauers erlernt und zehn Jahre seines Berufslebensauf Baustellen verbracht hat, eine persönliche Anmer-kung machen. In dieser Zeit gab es – die Älteren unterIhnen wissen das noch – eine so genannte Schlechtwet-tergeldregelung, die schon angesprochen wurde. DieseRegelung wurde seinerzeit vom damaligen Bundeskanz-ler Helmut Kohl – insbesondere auch auf Drängen derFDP in diesem Hause – abgeschafft. Es war eine Zeit, inder ich selber nie im Winter arbeitslos geworden bin. Inder heutigen Situation hat jedoch ein Großteil der Bau-leute Erfahrungen mit der Winterarbeitslosigkeit ge-macht. Dies soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurfwieder anders werden.
Ich danke insbesondere den Tarifvertragsparteien– der IG Bauen-Agrar-Umwelt, dem Hauptverband derDeutschen Bauindustrie und dem Zentralverband desDeutschen Baugewerbes, aber auch dem Bundesarbeits-minister, Franz Müntefering –, dass es gelungen ist,heute dieses zukunftsträchtige Gesetz auf den Weg zubringen.
Die Tarifvertragsparteien im Baugewerbe haben be-reits die notwendige tarifpolitische Flankierung des Ge-setzes vorgenommen. Wir wollen jetzt, dass eineschnellstmögliche Umsetzung erfolgt, wie es auch imKoalitionsvertrag festgeschrieben ist. Ich bitte Sie daherum die Überweisung des Gesetzentwurfes in den Aus-schuss für Arbeit und Soziales. Es geht darum, diesenGesetzentwurf im Interesse der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer wie auch im Interesse der Unternehmenim weiteren Gesetzgebungsverfahren möglichst zügig zuberaten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Steppuhn, auch Ihnen herzlichen Glück-
wunsch zu Ihrer ersten Rede. Ich wünsche Ihnen im Na-
men des ganzen Hauses persönlich und politisch alles
Gute.
Bevor ich dem Kollegen Peter Rauen das Wort erteile,
gratuliere ich Ihnen, Herr Kollege Rauen, recht herzlich
zu Ihrem heutigen Geburtstag und wünschen Ihnen Ge-
sundheit und Glück.
Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächstherzlichen Dank für den Glückwunsch zu meinem61. Geburtstag. Das Thema der ganzjährigen Beschäfti-
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Peter Rauengung am Bau, das wir heute beraten, ist so alt wie meinBerufsleben. Ich erinnere mich daran, dass ich vor fastgenau 40 Jahren mein Ingenieurexamen gemacht unddas Bauunternehmen meines Vaters übernommen habe.Das Schlechtwettergeld gab es seit 1970. Zuvor sinddie Leute im Winter stempeln gegangen, wie es damalsgenannt wurde. Das hörte mit der Einführung derSchlechtwettergeldregelung auf. Aber seitdem hat sichim Baugewerbe folgende Situation ergeben: In den Mo-naten Dezember, Januar, Februar und März werden rund280 000 Personen arbeitslos. Das ist die doppelte Anzahlderer, die im normalen Jahresschnitt arbeitslos werden.Diese Arbeitslosigkeit entsteht also witterungsbedingt.Das hängt auch zum Teil mit den Auftragsbedingungenzusammen, weil die Auftragslage in der Baubranche imWinter schlechter ist als sonst. Insofern gibt es allenGrund, zu überlegen, wie ganzjährige Beschäftigung insolchen witterungsabhängigen Branchen erreicht werdenkann.Ich kann Sie beruhigen, Frau Pothmer: Das Gesetz istnicht nur für Männer gedacht. Es richtet sich im Kern analle, die in Branchen arbeiten, in denen diese Problema-tik saisonbedingt im Winter auftritt. Es ist wichtig, diesfestzuhalten.Herr Rohde, Ihre Sorge, dass der Minister diese Rege-lung durch eine Rechtsverordnung auf andere Branchenausdehnen könnte, teile ich insofern nicht, als die Tarif-partner erst einmal einen Tarifvertrag abschließen undgemeinsame Kassen einführen müssen. Erst dann kanndie Regelung auf diese Branchen ausgedehnt werden.Auch das muss berücksichtigt werden. Denn nach der-zeitigem Stand kann die Regelung in der Baubranche nurhinsichtlich der seit Anfang der 70er Jahre bestehendengemeinsamen Kasse der Tarifpartner angewandt werden.
– Ja, das gehört dazu. Denn ich bin dafür, dass wir dasThema ganz entspannt angehen.Oberstes Ziel der Regierung ist es, mehr Arbeits-plätze, vor allen Dingen mehr ordentliche Beschäfti-gungsverhältnisse, also mehr sozialversicherungspflich-tige Arbeitsplätze, zu schaffen; denn sonst sind alleanderen Probleme nicht zu lösen. Die Saisonarbeitslo-sigkeit muss daher beseitigt werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rohde?
Ja, gerne.
Herr Rohde, bitte.
Kollege Rauen, was uns misstrauisch macht, ist, dass
auch dann, wenn die Tarifvertragsparteien kein Umlage-
verfahren in Gang setzen, Zahlungen an die Bundes-
agentur für Arbeit geleistet werden können. Ich kann mir
vorstellen, dass es dann zu einem Henne-und-Ei-Pro-
blem kommt. Erst kommt die Verordnung und dann sa-
gen die Gewerkschaften: Liebe Tarifvertragsparteien,
setzt doch jetzt, wo es möglich ist, ein Umlageverfahren
in Gang. – Wir sehen die Gefahr und betrachten das des-
wegen sehr kritisch. Stimmen Sie mir darin zu?
Herr Rohde, darüber müssen wir im Gesetzgebungs-verfahren sprechen. Ich habe aber den Eindruck, dassunser Arbeitsminister niemanden über den Tisch ziehenwill und dass man das, was er sagt, so nehmen kann, wieer es gemeint hat, nämlich dass erst die Tarifvertragspar-teien entscheiden müssen, bevor die Regelung betreffenddie Winterbauförderung in Kraft gesetzt wird. Wir soll-ten hier kein Misstrauen aussprechen. Das ist ein sehrpraxisbezogenes Thema.
Über den vorliegenden Gesetzentwurf kann man nurseriös beraten, wenn man in die Details geht und sich diePraxis in der Vergangenheit genau anschaut. Es gibt indiesem Zusammenhang einen Punkt, den ich ansprechenmöchte. Als 1996 das Schlechtwettergeld wegfiel – übri-gens auch auf Druck anderer Branchen, die gefragt ha-ben, warum das Baugewerbe privilegiert ist; das sollteman wissen –, mussten die Arbeitnehmer zunächst50 Stunden einbringen, bevor ihnen aus der Umlage derSchlechtwettergeldausfall bis zur 130. Stunde bezahltwurde. Erst dann hat das Arbeitsamt gezahlt. Das wurdeim Juni 1999 geändert. Seitdem müssen die Arbeitnehmer30 Stunden einbringen. Von der 31. bis zur 100. Stundewird aus der Umlage gezahlt. Ab der 101. Stunde zahltdann das Arbeitsamt und die Arbeitgeber zahlen die So-zialbeiträge. Das führt aber dazu, dass viele Unterneh-mer – weil ihnen, wie vom Minister dargelegt, die Sozi-albeiträge zu hoch sind – ihre Arbeitnehmer von derersten Stunde an als arbeitslos melden. Nun ist eine ent-scheidende gesetzliche Verbesserung vorgesehen.
Herr Minister, 1996 haben jedoch viele Firmen in derBaubranche – darüber sollten wir ganz ruhig reden –zum ersten Mal flexible Jahresarbeitszeitkonten einge-führt; das hat auch funktioniert. Diese Firmen hatten mitdem aus der Umlage finanzierten Wintergeld nichtsmehr zu tun. Sie haben zwar noch in die Kasse der Tarif-partner gezahlt, haben aber das Instrument nicht mehrgenutzt. All diese Firmen existieren noch. Wenn nun perGesetz den Arbeitnehmern ermöglicht wird, sich von derersten Stunde an Kurzarbeitergeld auszahlen zu lassen– es ist also nicht mehr notwendig, flexible Stunden ein-zubringen –, dann muss ich mich nur in die Lage einesMaurers versetzen – diesen Beruf habe ich erlernt –, umzu wissen, wie ich reagieren würde. Wenn man einerseitsden Anreiz des Zuschusswintergelds in Höhe von bis zu2,50 Euro je ausgefallener Arbeitsstunde hat, sein flexib-les Arbeitszeitkonto zu verrechnen, andererseits beiNichtverrechnung die Möglichkeit hat, sich im Sommer
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946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006
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Peter Rauendie Stunden auszahlen zu lassen und im Winter von derersten Stunde an Kurzarbeitergeld zu bekommen – dassind etwa 7 bis 8 Euro je Stunde –, dann ist die Entschei-dung klar. Dann wird die Flexibilität, die sich in derBaubranche zum Segen der Sozialkassen und der Umla-genhöhe durchgesetzt hat, kaputtgemacht. Darüber müs-sen wir in aller Ruhe reden; denn das darf nicht das Zielsein.Das Gesetz ist in seiner Zielsetzung völlig richtig. Ichhabe diesbezüglich auch keine Sorgen. Aber wir müssenaufpassen, dass wir bei der Kostenneutralität nicht ineine Falle laufen; denn das Verhalten der Menschen wirdnach Inkraftsetzung der Neuregelung ganz anders seinals zuvor. Das müssen wir sehr exakt beobachten. Ichschlage daher vor, an der bisherigen Regelung festzuhal-ten, wonach der einzelne Arbeitnehmer einen Teil seinerflexiblen Stunden einbringen muss, bevor er Kurzarbei-tergeld erhält. Wichtig ist, dass in Zukunft bei der Ver-rechnung mit flexiblen Stunden 2,50 Euro je ausgefal-lene Arbeitsstunde gezahlt werden; denn dadurchentsteht ein neuer Anreiz zur Flexibilisierung.Der Teufel steckt also im Detail. Wir sollten in allerRuhe, Gelassenheit und Sachlichkeit darüber reden. AlleFraktionen haben Gesprächsbereitschaft signalisiert.Letztendlich müssen wir erreichen, dass ein Teil derMenschen, die bislang im Winter aus saisonalen Grün-den arbeitslos werden, in Zukunft in Arbeit sind undBeiträge zahlen und dass es so zu einem Aufschwung inDeutschland kommt.Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 16/429 zur federführenden Beratung an denAusschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitberatungan den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaftund Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung, den Ausschuss fürTourismus sowie an den Haushaltsausschuss zu überwei-sen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Wahl der Bundesbeauftragten für die Unterla-gen des Staatssicherheitsdienstes der ehemali-gen Deutschen Demokratischen RepublikDie Bundesregierung hat mit Schreiben vom27. Dezember 2005 Frau Marianne Birthler vorgeschla-gen.Ich gebe zunächst einige Hinweise zum Wahlverfah-ren. Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzeswird die Bundesbeauftragte für die Unterlagen desStaatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen De-mokratischen Republik auf Vorschlag der Bundesregie-rung vom Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfteder gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt. ZurWahl sind also mindestens 308 Stimmen erforderlich.Die grünen Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt.Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, so bestehtjetzt noch die Möglichkeit, diese vom Plenarassistentenzu erhalten. Außerdem benötigen Sie Ihren grünenWahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ih-rem Stimmkartenfach entnehmen. Bitte achten Sie unbe-dingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich IhrenNamen trägt.Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimm-karten also an Ihrem Platz ankreuzen. Stimmkarten, diemehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthal-ten, sind ungültig. Bevor Sie die Stimmkarte in eine derWahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlaus-weis einer der Schriftführerinnen oder einem der Schrift-führer an den Wahlurnen. Der Nachweis der Teilnahmean der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweiseserbracht werden. Die Schriftführerinnen und Schriftfüh-rer bitte ich, darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabeder Wahlausweis übergeben wird. Ich bitte jetzt dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen.Haben alle Schriftführerinnen und Schriftführer diePlätze eingenommen? – Das ist offenbar der Fall. Ich er-öffne die Wahl.Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schrift-führerinnen und Schriftführer, ihre Stimmkarte abgege-ben? – Ich frage noch einmal: Haben alle Mitglieder desHauses ihre Stimmkarte abgegeben? – Das ist offenbarder Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführe-rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-nen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekanntgegeben.Wir kommen jetzt zu etlichen Abstimmungen. Damitdie Abstimmungsverhältnisse klar sind, bitte ich die Mit-glieder des Hauses, die Plätze einzunehmen.Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 6 abis 6 j, Wahlen zu Gremien. Ich möchte darauf hinwei-sen, dass diese Wahlen mittels Handzeichen durchge-führt werden.
– Auch an die Fraktion der Grünen geht die Bitte, diePlätze einzunehmen.
Tagesordnungspunkt 6 a:Kuratorium der Stiftung „Haus der Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland“– Drucksache 16/433 –Dazu liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag allerFraktionen auf Drucksache 16/433 vor. Wer stimmt für
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastnerdiesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 b:Kuratorium der „Stiftung Archiv der Parteienund Massenorganisationen in der DDR“– Drucksache 16/434 –Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionender CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/434ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Dieser Wahlvorschlag istebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.
– Dieser Wahlvorschlag ist bei Enthaltung der Grünenangenommen.Tagesordnungspunkt 6 c:
– Drucksache 16/435 –Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionender CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/435 ab.Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist beiEnthaltung der Fraktion der Grünen mit den Stimmendes restlichen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 d:Stiftungsrat der „Deutschen Stiftung Friedens-forschung “– Drucksache 16/436 –Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionender CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/436 ab.Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist beiEnthaltung der Fraktion der Grünen mit den restlichenStimmen des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 e:Senat des Vereins „Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentrene. V.“– Drucksache 16/437 –Es liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/437 vor. Werstimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Dieser Wahlvorschlag ist eben-falls bei Enthaltung der Fraktion der Grünen mit denrestlichen Stimmen des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 f:Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt fürFinanzdienstleistungsaufsicht– Drucksache 16/438 –Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen derCDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 16/438vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlagist bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/DieGrünen mit den restlichen Stimmen des Hauses ange-nommen.Tagesordnungspunkt 6 g:Parlamentarischer Beirat der „Stiftung fürdas sorbische Volk“– Drucksache 16/439 –Wir stimmen über den Wahlvorschlag der Fraktionender CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/439 ab.Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Wahlvorschlag ist beiEnthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünenmit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 h:Kuratorium „Wissenschaftszentrum Berlinfür Sozialforschung“– Drucksache 16/440 –Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 16/440 vor. Wer stimmt für diesenWahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls bei Enthaltungder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit demRest der Stimmen des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 i:Beirat zur Auswahl von Themen für die Son-derpostwertzeichen ohne Zuschlag beim Bun-
– Drucksache 16/441 –Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 16/441 vor. Wer stimmt für diesenWahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen des gan-zen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 j:Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Geset-zes– Drucksache 16/442 –Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 16/442 vor. Wer stimmt für diesen Wahl-vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Dieser Wahlvorschlag ist ebenfalls mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demÜbereinkommen Nr. 172 der InternationalenArbeitsorganisation vom 25. Juni 1991 über
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastnerdie Arbeitsbedingungen in Hotels, Gaststättenund ähnlichen Betrieben– Drucksache 16/342 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusEs handelt sich um eine Überweisung im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 16 abis 16 i sowie Zusatzpunkt 6. Es handelt sich um dieBeschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 16 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes über die Bereinigung von Bundes-recht im Zuständigkeitsbereich des Bundesmi-nisteriums des Innern– Drucksache 16/28 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 16/464 –Berichterstattung:Abgeordnete Ralf GöbelMaik ReichelGisela PiltzJan KorteSilke Stokar von NeufornDer Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/464, den Gesetzentwurfin der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung bei Enthaltung von Teilen der Frak-tion Die Linke mit den übrigen Stimmen des ganzenHauses angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mitden Stimmen des ganzen Hauses in dritter Beratung an-genommen.Tagesordnungspunkt 16 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts imZuständigkeitsbereich des Bundesministeri-ums für Wirtschaft und Arbeit– Drucksache 16/34 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 16/399 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael FuchsDr. Rainer WendMartin ZeilDr. Herbert SchuiMatthias BerningerDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache16/399, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfin der Ausschussfassung zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 16 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber konjunkturstatistische Erhebungen in be-
– Drucksache 16/36 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 16/465Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Michael FuchsDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache16/465, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfin der Ausschussfassung zustimmen wollen, um dasHandzeichnen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungbei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen vom Restdes Hauses angenommen.
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerDritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Bei Gegenstim-men der FDP-Fraktion ist der Gesetzentwurf in dritterBeratung mit den Stimmen vom Rest des Hauses ange-nommen.Tagesordnungspunkt 16 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungErste Verordnung zur Änderung der Altfahr-zeug-Verordnung– Drucksachen 16/308, 16/413 Nr. 2.1, 16/467 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannBirgit HomburgerEva Bulling-SchröterSylvia Kotting-UhlDer Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Druck-sache 16/308 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Frak-tion Die Linke vom Rest des Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 16 e:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKENErhöhung der Anzahl von Ausschussmitglie-dern– Drucksache 16/432 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist bei Enthaltungder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen von denrestlichen Mitgliedern des Hauses angenommen.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 16 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 6 zu Petitionen– Drucksache 16/377 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 6 ist mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 16 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 7 zu Petitionen– Drucksache 16/378 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 7 ist bei Gegenstimmender Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und derFraktion Die Linke von den restlichen Mitgliedern desHauses angenommen.Tagesordnungspunkt 16 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 8 zu Petitionen– Drucksache 16/379 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 9 ist bei Gegenstimmender Fraktion Die Linke vom Rest des Hauses angenom-men.Zusatzpunkt 6:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Bereinigung des Bundesrechts im Zustän-digkeitsbereich des Bundesministeriums fürVerbraucherschutz, Ernährung und Land-wirtschaft– Drucksache 16/27 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
– Drucksache 16/425 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich JordanWaltraud Wolff
Hans-Michael GoldmannDr. Kirsten TackmannUlrike HöfkenDer Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/425, den Gesetzentwurf in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Ich höre gerade, dass ich einen Tagesordnungspunktübersprungen habe.
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerIch rufe noch einmal den Tagesordnungspunkt 16 hauf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 8 zu Petitionen– Drucksache 16/379 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen?
– Ich habe noch einmal die Sammelübersicht 8 aufgeru-fen. Darüber stimmen wir jetzt ab, Herr Kollege Beck. –Sammelübersicht 8 ist bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke mit den Stimmen vom Rest des Hauses ange-nommen.Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 16 i auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 9 zu Petitionen– Drucksache 16/380 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 9 bei Gegen-stimmen der Grünen vom Rest des Hauses angenom-men.Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnenund Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-chen Abstimmung bekannt: Abgegebene Stimmen 565,davon gültige Stimmen 563. Mit Ja haben gestimmt486 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 60 Abge-ordnete, Enthaltungen 17. Frau Marianne Birthler hatdamit die erforderliche absolute Mehrheit, also mindes-tens 308 Stimmen, erreicht.1)
Herzlichen Glückwunsch, Frau Marianne Birthler. Siesind damit zur Bundesbeauftragten für die Unterlagendes Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DeutschenDemokratischen Republik gewählt.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion desBündnisses 90/Die GrünenWarnungen vor einer Militarisierung der Aus-einandersetzung um das iranische Atompro-grammIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.1) Anlage 2
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieLage um den Iran entwickelt sich zum wichtigsten undwahrscheinlich gefährlichsten außenpolitischen Kon-flikt. Wir alle erinnern uns an die unsäglichen Äußerun-gen von Präsident Ahmadinedschad über die Vernich-tung Israels und an seine wiederholte Leugnung desHolocausts.Unübersehbar ist – das sage ich in aller Deutlich-keit –, dass der Iran über lange Jahre an der Internationa-len Energieagentur und den Aufsichtsbehörden vorbeiein Atomprogramm vorbereitet hat, das offenkundignicht friedlichen Zwecken dient. Wozu braucht man eineUrananreicherung, wenn man nicht einmal einen Reak-tor hat? Warum muss man diese in einen militärisch ge-tarnten Bunker packen, wenn sie nur friedlichen Zwe-cken dient?
Es ist also unsere Aufgabe und es ist notwendig, denEinstieg in ein neues atomares Wettrüsten im Iran undausgehend vom Iran zu verhindern.
Dies muss aber – dies betone ich – mit zivilen Mittelngeschehen.
Es darf – das war Kern des auf unsere Initiative vomganzen Hause gefassten Beschlusses – keine schlei-chende Eskalation zur Planung eines militärischen Ein-satzes geben. Militärische Gewalt kann diesen Konfliktnicht lösen, sondern dürfte ihn nur verschärfen.
Wir alle wissen, dass der Iran heute in einer militä-risch schwer angreifbaren Position ist. Der Krieg gegenden Irak hat die Position des Iran an dieser Stelle nocheinmal gestärkt. Aber wir alle wissen auch: Politisch undwirtschaftlich ist das Regime im Iran außerordentlichverwundbar. Der Iran braucht enorme Investitionen, umdie Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.Was wenige wissen: Der Iran exportiert zwar Öl; aber ermuss Ölprodukte und Gasprodukte in raffinierter Formreimportieren, weil er keine Raffineriekapazität hat, umdiese Produkte an seine Bevölkerung abzugeben.Der Iran verfügt wie kaum ein anderes Land in dieserRegion über eine ausgeprägte und außerordentlich viel-fältige Zivilgesellschaft. Unsere Strategie muss daraufabzielen, diese Zivilgesellschaft davon zu überzeugen,dass der Griff der Mullahs nach der Atomwaffe nicht imInteresse des Iran liegt, sondern ausschließlich im Inte-resse der Stabilisierung ihrer Herrschaft.
Diese Doppelstrategie muss unsere Iranpolitik leiten.Das heißt, klar machen, wo die Grenze ist, aber immer
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Jürgen Trittinwieder versuchen, das Bündnis und das Einverständnismit der iranischen Bevölkerung zu finden.Man kann in diesem Zusammenhang lange darüberstreiten, ob das, was Herr Chirac gesagt hat, eine Ak-zentverschiebung in der Nuklearstrategie der Franzosengewesen ist. Aber eines muss man sagen: Weil dies vonihm unmittelbar mit der Politik gegenüber dem Iran inZusammenhang gebracht worden ist, waren diese Äuße-rungen unangemessen und unproduktiv.
Sie waren unproduktiv, weil sie den Eindruck habenentstehen lassen, dass der Westen mal wieder mit zwei-erlei Maß misst: sich selber eine militärische und sogarnukleare Option offen hält, dem Iran aber sogar diefriedliche Nutzung der Atomenergie untersagt. DieseForm doppelter Moral ist das, was die iranische Opposi-tion dem Westen und uns allen vorwirft.Weil das falsch war, hätte ich von Frau Merkel erwar-tet, dass sie diese Differenz in Paris in aller Deutlichkeitanspricht. Das wäre nötig gewesen. Dass Sie das, liebeFrau Merkel, in Paris nicht getan haben, war, wie ichfinde, ein großer Fehler.
Das war ein Fehler mit Folgen; denn seitdem ist in dergroßen Koalition und in der CDU kein Halten mehr.Dort geht es mit Volldampf zurück zu den außenpoliti-schen Positionen von 2002, lieber Herr von Klaeden.Den ersten Aufschlag machte VerteidigungsministerJung, der in der „Bild am Sonntag“ erklärte, man brau-che eine militärische Drohkulisse und „alle Optionen“.Wer so redet, entwertet alle anderen Optionen, über diewir hier reden.
Womit wollen Sie denn drohen? Haben wir nicht ausden Konflikten und Kriegen der letzten Jahre – ich nennehier auch Kosovo – nicht gelernt, dass man immer nurmit den militärischen Mitteln drohen kann, die man aucheinzusetzen bereit ist? Ich frage Sie, Herr Jung: Waswollen Sie von Ihren Äußerungen bezüglich des Iranumsetzen? Wenn Sie nichts davon umsetzen wollen, wares eine falsche Äußerung.
Im Interesse der politischen Kultur möchte ich sagen:Vielleicht war es nur fahrlässig; schließlich weiß ich ja,wie solche Interviews zustande kommen. Heute hat HerrScholz aber auf diese Fahrlässigkeiten in der „Bild“-Zei-tung noch die Forderung draufgesetzt, Deutschlandbrauche eigene Nuklearwaffen. Das ist wahrlich unver-antwortlich. Ich sage in aller Deutlichkeit: Gegen Terro-risten helfen keine nuklearen Waffen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. –
Mein Appell ist … dass wir uns in einer solchen
Lage, in der alle Beteiligten Ihnen sagen „Wir set-
zen auf diplomatische Lösungen“, nicht von einer
Militarisierung des Denkens erfassen lassen.
Das sagte Frank-Walter Steinmeier. Er hat Recht, aber
Herr Scholz und Herr Jung müssen von der Koalition zur
Ordnung gerufen werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir allekonnten in den letzten Tagen ziemlich viel über die Kon-troversen innerhalb der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenüber die richtige Oppositionsstrategie lesen. Ich hättemir ehrlich gesagt gewünscht, Sie hätten sich nicht aus-gerechnet dieses Thema ausgesucht, um eine Kontro-verse vom Zaun zu brechen, die, wenn man es sich ge-nau anschaut, in diesem Hause im Grunde nie eine warund hoffentlich auch keine sein wird. Wenn wir alle ge-meinsam eine diplomatische, eine Verhandlungslösungin dem schwierigen Nuklearkonflikt mit dem Iran wol-len, dann können wir sie nur bei internationaler Einigkeiterreichen. Sie wird auch nur bei Einigkeit in den jeweili-gen nationalen Parlamenten darüber, was wir erreichenoder unterstützen wollen, möglich sein.
Ich bitte einfach darum, nicht einen künstlichen Ge-gensatz, der in Wahrheit nicht besteht, aufzubauen. Siehaben den französischen Staatspräsidenten Chirac mitseiner Verlautbarung zur Nuklearstrategie Frankreichs ineinen Zusammenhang mit dem Iran gerückt. Er selberhat in seiner Rede das Land mit keinem einzigen Satz er-wähnt. Sie stellen Zusammenhänge her, um sie anschlie-ßend zurückzuweisen und um eine Kluft aufzubauen, diees in Wirklichkeit nicht gibt.Der Besuch der Bundeskanzlerin hat deutlich ge-macht, dass die EU 3 – Deutschland, Frankreich undGroßbritannien – nach wie vor eine gemeinsame Posi-tion haben. Sie haben dem Iran gemeinsam ein Verhand-lungspaket unter der Bedingung angeboten, dass er aufden militärisch nutzbaren Teil des Nuklear- und Brenn-stoffkreislaufs verzichtet. Zu diesem Paket gehört auchein Angebot zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der zi-vilen Nutzung der Kernenergie für die Stromerzeugung.
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Ruprecht PolenzAuch Handels- und Kooperationsabkommen für die Be-reiche Technologie und Wirtschaft werden angeboten.Das alles liegt auf dem Tisch.Neben den Punkten, die Sie angesprochen haben,Herr Kollege Trittin, stimmt natürlich auch nachdenk-lich, dass Iran bisher – hoffentlich ändert sich das jetzt –auch das russische Angebot zu einer gemeinsamen zivi-len Anreicherungsanlage auf russischem Territorium zu-rückgewiesen hat.Wir stehen jetzt vor einer schwierigen Phase, weilIran sein Versprechen gebrochen hat, das er den Euro-päern gegeben hat, nämlich für die Dauer der Verhand-lungen seine Anreicherungsaktivitäten oder die Akti-vitäten, die auf Anreicherung hinzielen, einzustellen. ImAugust hat er sich in Isfahan und jetzt zum Jahreswech-sel in Natanz vorgetastet. Er hat also immer weiter aus-getestet, wie weit er gehen kann. Es war richtig, dass dieEU 3 daraufhin die Verhandlungen abgebrochen haben;denn Iran möchte auch etwas von uns. Er kann seineWirtschaftsprobleme ohne Kooperation mit den Europä-ern nicht lösen.Jetzt zu der Frage, ob wir eine Druckkulisse brau-chen. Ich glaube, dass wir sie brauchen und dass Bewe-gung in die iranisch-russischen Gespräche gekommenist. Ich erinnere daran, dass die erste Reaktion Teheransauf das russische Angebot eine fast beleidigte Zurück-weisung nach dem Motto war, wie man Teheran so etwasüberhaupt vorschlagen könne. Jetzt, nachdem sich dieEuropäer vom Verhandlungstisch zurückgezogen haben,heißt es aus Teheran, es sei eigentlich für beide Seiteneine ganz gute Grundlage für einen akzeptablen Kom-promiss.Die Bundeskanzlerin bemüht sich bei ihrem Besuchin Frankreich, bei ihren Kontakten in Russland, eine ge-meinsame Position aufzubauen, die dem Iran deutlichmacht, dass er sich selbst isoliert, wenn er diesen Wegweiter geht. Darauf kommt es jetzt an.Bei der Sondersitzung des Gouverneursrats geht esjetzt um die Frage: Geht es in den Sicherheitsrat? Ichdenke – das sollte man auch hier festhalten –, dass mannur dann in den Sicherheitsrat gehen kann, wenn manweiß, was herauskommt. Es geht um Augenmaß, Festig-keit und Fingerspitzengefühl. Man muss dem Iran auchimmer eine Lösung offen lassen, die ihm einen gesichts-wahrenden Ausweg ermöglicht, wenn man keine weitereEskalation will.
Weil Sie sich vorhin zum Einsatz von Militär geäußerthaben: Es war al-Baradei, der das iranische Nuklearpro-gramm wahrscheinlich am besten von allen beurteilenkann, der gesagt hat: Als Letztes kann man möglicher-weise auch gewaltsame Fragen nicht ausschließen. Sohat er formuliert. Es ist ein Unterschied, ob ich etwasnicht ausschließe oder ob ich mit etwas drohe. Ichstimme Ihnen zu: Wir sollten nicht mit militärischer Ge-walt drohen.
Ich halte es aber für einen Fehler, per se den Iranern ir-gendwelche Gewissheiten zu geben, womit sie unter kei-nen Umständen zu rechnen hätten.
Diese Gewissheit braucht die Verhandlungsseite in Tehe-ran nicht. Wir drohen nicht, aber wir müssen nichts vomTisch nehmen, was etwa aus der Sicht der Amerikaneroder offenkundig auch anderer Länder nicht vom Tischgenommen werden sollte.
Herr Kollege, ich muss auch Sie an die Zeit erinnern.
Ich komme zum Schluss.
Bauen wir hier also nicht künstlich neue Gegensätze
auf. Halten wir an der Gemeinsamkeit in der Iranpolitik
fest, die wir als Opposition damals während Ihrer Regie-
rungszeit unterstützt haben. Ich denke, auch unsere Re-
gierung hat einen Anspruch darauf, dass die Fortsetzung
dieser Politik auch vom Bündnis 90/Die Grünen weiter
mitgetragen wird.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich schließe direkt an das an, was derKollege Polenz zum Schluss gesagt hat: nicht drohen,aber auch nichts ausschließen. Insofern kann man so ar-gumentieren – einige haben das getan –, dass PräsidentChirac in der letzten Woche nichts Neues gesagt hat.Wenn aber eine europäische Mittelmacht wie FrankreichNuklearwaffen hat – jeder weiß, dass Frankreich dieseNuklearwaffen hat –, muss es gute Gründe geben, wa-rum man das in einer solchen krisenhaften Situationnoch einmal ausdrücklich erwähnt und in den Vorder-grund rückt.
Unter diesem Gesichtspunkt habe ich die Äußerungennicht nachvollziehen können. Nun kann man innenpoli-tisch argumentieren, er sei ein geschwächter Präsident,der mit Stärke wieder auf sich aufmerksam machenwolle. Man kann auch argumentieren, dass es ein Trup-penbesuch war, bei dem man würdigt, was die Männerund Frauen auf diesem Gebiet unter schwierigen Bedin-gungen leisten. Jedoch war das international im Hinblickauf das, was uns in den Verhandlungen mit dem Iran be-vorsteht, weder hilfreich noch klug.
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Dr. Werner Hoyer
Deswegen kann ich auch die Äußerung der Bundes-kanzlerin in Paris – Sie wissen, wir haben die Bundes-kanzlerin in den letzten Wochen immer wieder gelobt obihrer hervorragenden Auftritte in Washington und Mos-kau – nicht nachvollziehen. Sie war überflüssig und auchfür uns nicht hilfreich.
Die Äußerungen anderer Koalitionspolitiker heben sichwohltuend davon ab. Das heißt, da gibt es ein Manage-mentproblem in der neuen Koalition.Die Logik des Kalten Krieges basierte nicht zuletztdarauf, dass nukleare Abschrekkung davon ausging, dassauf der Gegenseite rationales Verhalten vorausgesetztwerden konnte. Nun haben die Franzosen bzw. Chiracnicht den Terroristen mit nuklearer Vergeltung gedroht,sondern den Staaten, die Terroristen unterstützen. Aberselbst dann, wenn man diese Differenzierung präzisevornimmt, kommen große Zweifel auf, ob das funktio-nieren kann. Hätte zum Beispiel beim Fall Afghanistanzu Talibanzeiten die nukleare Drohung bei den Taliban-führern etwas ausrichten können, um sie davon abzuhal-ten, al-Qaida Terroristen zu unterstützen? Das möchteich sehr bezweifeln. Deswegen gilt in Zeiten asymmetri-scher Bedrohung eine andere Abschreckungslogik alsbisher.
Nach meiner Auffassung ist entschlossenes und ge-schlossenes Handeln der Völkergemeinschaft gegen-über dem Iran unverzichtbar und alternativlos. Deswe-gen unterstützen wir nachdrücklich die Bemühungen derBundesregierung, gemeinsam mit den europäischenPartnern, mit den Vereinigten Staaten und auch – wie ichhoffe – mit Russland und China zu einem Ergebnis zukommen. Ich finde es begrüßenswert, dass die Bundesre-gierung sich gegenwärtig sehr darum bemüht, Staaten,die durch eigene nukleare Ambitionen einige Problemehaben, dazu zu bewegen, im Gouverneursrat der IAEOkonstruktiv mitzuarbeiten.Der Weg dieses Problems in den Weltsicherheitsratkann jetzt nicht mehr ausgeschlossen werden. Aber HerrPolenz hat völlig zu Recht gesagt: Das kann man natür-lich nur machen, wenn sich der Weltsicherheitsrat vonvornherein als handlungsfähig darstellt. Die größte Bla-mage für die Völkergemeinschaft wäre, dass man in denWeltsicherheitsrat geht, man abstrakt über Instrumentediskutiert und zum Schluss den Fall an die IAEO zurück-verweist. Das können wir uns in der Tat nicht leisten.Deswegen muss es in den Gesprächen mit Moskau undPeking darum gehen, mehr als eine laue Enthaltung zuerreichen. Denn wir alle müssen uns darüber im Klarensein: Wenn wir den durchaus begrenzten Instrumenten-kasten von Sanktionen öffnen, dann gibt es nur sehr we-nige Möglichkeiten, durch die der Schaden nicht auchbei uns erheblich sein wird. Man muss bereit sein, das zurealisieren. Das gilt ganz besonders für die Russen.Wir haben offensichtlich ein riesiges Problem mit nu-klearer Proliferation. In den letzten zehn Jahren hat eshier keinen Fortschritt gegeben. Das Gegenteil war derFall. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht mit einer rheto-rischen Eskalation die wohlmeinenden Kräfte im Iran ei-nem Präsidenten, der nach unseren Maßstäben nichtganz nachvollziehbare Äußerungen gemacht hat, gera-dezu in die Arme treiben. Denn der Iran hat eine sehrjunge Gesellschaft, eine im Grunde dem Westen gegen-über sehr aufgeschlossene Gesellschaft, die sich gern ausalten Fesseln befreien würde. Aber in der Frage desnuklearen Selbstbewusstseins ist diese gut ausgebildete,junge iranische Generation mit einem aus meiner Sichterschreckend großen Anteil derselben Meinung wie derStaatspräsident. Deswegen geht es darum, diesen Men-schen Angebote zu machen und sie in eine konstruktiveZusammenarbeit einzubinden. Entsprechende Angeboteliegen auf dem Tisch. Ich glaube, wir müssen dieses Pro-blem noch einmal konkreter angehen.Darüber hinaus brauchen wir einen entschlossenenneuen Ansatz in der Abrüstungspolitik.
Es ist nicht mehr fünf vor zwölf. Im günstigsten Fall istes zwölf Uhr und wir können die Uhr noch ein bisschenanhalten. Aber danach wird die nukleare Proliferation ineinem Ausmaß voranschreiten, wie wir uns das gegen-wärtig noch gar nicht vorstellen können. Das geht weitüber den Iran hinaus. In einem solchen Zusammenhanghat die Bundesrepublik Deutschland ein hohes Maß anGlaubwürdigkeit, weil wir die nukleare Option für unsein für allemal ausgeschlossen haben und das im Zwei-plus-Vier-Vertrag noch einmal bekräftigt haben. Dasmuss auch ein früherer Verteidigungsminister wissen.Wir sollten an diesem Imperativ deutscher Außenpolitikkeinen Zweifel aufkommen lassen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Staatsminister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am kommenden Donnerstag, dem 2. Februar 2006, wirdder Gouverneursrat der IAEO, also der InternationalenAtomenergiebehörde, zusammentreten und versuchen,einen Ausweg aus der Krise zu finden, die im Zusam-menhang mit dem iranischen Atomprogramm entstandenist.
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Staatsminister Gernot Erler
Das ist der richtige Zeitpunkt, um hier noch einmaldaran zu erinnern, wie diese krisenhafte Situation ent-standen ist. Die Islamische Republik Iran ist Unterzeich-ner des Atomwaffensperrvertrages. Dieser Vertragverpflichtet das Land, auf die Entwicklung von Atom-waffen zu verzichten, verbrieft aber zugleich das Rechtauf friedliche Nutzung der Atomenergie. Um das Ganzetransparent und kontrollierbar zu machen, gibt es als be-sondere Sicherungsmechanismen die „Safeguards“-Ab-kommen mit der IAEO.Im Jahr 2003 – das wurde schon angedeutet – mussteder Iran zugeben, gegen die Safeguards verstoßen undüber 18 Jahre hinweg ein geheim gehaltenes Nuklear-programm verfolgt zu haben, zu dem der verdeckte Baueiner Urananreicherungsanlage gehörte, in der auchspaltbares Material zur Waffenproduktion hergestelltwerden kann. Schon damals hätte die IAEO das Rechtgehabt, die Weltgemeinschaft über diesen groben Ver-stoß zu informieren und den Sicherheitsrat der VereintenNationen einzuschalten.Damals waren es die europäischen Staaten, die ver-hindert haben, dass Teheran für seinen Täuschungsver-such an den internationalen Pranger gestellt und isoliertwurde. Stattdessen versuchten Deutschland, Frankreichund Großbritannien im Auftrag der Europäischen Union,eine Verhandlungslösung zu finden und dem Iran Brü-cken für seine Rückkehr zur Vertragstreue und zur Aus-räumung des Misstrauens zu bauen, das internationalentstanden war.Entscheidende Voraussetzung war, dass der Iran fürdie Dauer der Verhandlungen verbindlich auf alleAktivitäten der Konversion, der Anreicherung und derWiederaufarbeitung verzichtete. Da Teheran hierzu be-reit war und entsprechende Abkommen unterzeichnete,wurde der Weg für eine Verhandlungslösung frei-gemacht. Im Namen der EU verfolgten die drei Ver-handlungsstaaten, die so genannten E 3, ein Konzept, umfolgendes Ziel zu erreichen: Am Ende musste die Ge-wissheit stehen, dass der Iran kein Atomwaffenpro-gramm verfolgt und dass er die zivile Nutzung der Kern-kraft, zu der er berechtigt ist, nicht für die Entwicklungsolcher Programme missbrauchen kann.Ich möchte betonen: Hinter diesem Ziel stand undsteht bis heute die ganze Weltgemeinschaft einschließ-lich der Länder, die auf verschiedenen Gebieten engstensmit der Islamischen Republik Iran zusammenarbeiten.Das Mittel zur Erreichung des Ziels war ein umfassendesKooperationsangebot – Herr Dr. Hoyer hat das eben an-gesprochen –, das dem Iran am 5. August letzten Jahresunterbreitet wurde. Es umfasste die Aufhebung allerSanktionen und Restriktionen gegenüber dem Iran, dieZusammenarbeit bei der zivilen Nutzung der Atomener-gie, die Zusammenarbeit im Bereich der Hochtechnolo-gie, Hilfen zur Erschließung neuer Märkte für iranischeProdukte und sogar eine sicherheitspolitische Zusam-menarbeit in bestimmten Bereichen einschließlich derVerfolgung des Zieles der Errichtung einer umfassendenatomwaffenfreien Zone im Nahen Osten.Man kann wirklich nicht sagen, dass das kein ein-drucksvoller Katalog von Angeboten gewesen ist. Daswar der Katalog der Gegenleistungen, der dem Iran fürseinen verbindlichen Verzicht auf Aktivitäten zur Uran-anreicherung und -aufarbeitung angeboten wurde. DieseAktivitäten hätten zwar angesichts des gegenwärtigenStands des zivilen iranischen Programms momentanüberhaupt keinen Sinn gemacht, ihre Beendigung aberhätte genau jene Garantie dargestellt, die seitens derWeltgemeinschaft – das habe ich bereits gesagt – vonTeheran so nachdrücklich eingefordert wurde. Es han-delte sich um das Angebot einer Inklusions- bzw. Ein-bindungspolitik, das auf dem Prinzip des Gewinns fürbeide Seiten basierte, und es enthielt eine gute Perspek-tive für den Iran, der ja immense soziale und wirtschaft-liche Probleme hat.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reaktion waraus europäischer Sicht niederschmetternd: Unser Ange-bot ist nicht nur kaum geprüft zurückgewiesen worden,sondern fünf Tage später hat der Iran seine Konversions-aktivitäten in der Anlage in Isfahan sogar demonstrativwieder aufgenommen.
Trotz des Angebots der E 3, weiterhin über die Vor-schläge und ihre Verbindlichkeit zu reden, war das derBeginn eines nervenaufreibenden Hin und Her und einesVersteckspiels, das schließlich am 9. Januar dieses Jah-res in der Wiederaufnahme der so genannten For-schungsvorhaben einschließlich der Anreicherungs-aktivitäten gipfelte. Damit war den Verhandlungendefinitiv die Grundlage entzogen, und zwar einseitig undmutwillig, und es war der Punkt erreicht, zu dem Bun-deskanzlerin Angela Merkel gestern noch einmal festge-stellt hat, dass der Iran damit die so genannte rote Linieüberschritten hat und dass sich das die westliche Ge-meinschaft in dieser Form nicht bieten lassen kann.
Die einseitige Aufkündigung der vereinbarten Sus-pendierung der Programme – vor allem des Programmszur Urananreicherung – hat die internationalen Besorg-nisse verstärkt. Diese Sorgen sind durch einen anderenFaktor noch verstärkt worden, nämlich durch die nichthinnehmbaren Schmähungen und Drohungen gegenden Staat Israel, einschließlich der Leugnung des Holo-caust durch den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad;
wir haben ja vor kurzem in diesem Hohem Hause da-rüber debattiert.Die Außenminister der E 3 haben dann am 12. Januarfestgestellt, dass vorerst keine Grundlage für Verhand-lungen mehr gegeben ist. Zugleich haben sie aber ihreEntschlossenheit betont, weiter nach einer Verhand-lungslösung zu suchen. Ich nutze diesen Punkt gern, uman den Kollegen Trittin und an den Kollegen Dr. Hoyer
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Staatsminister Gernot Erlergerichtet noch einmal zu sagen: Über dieses gemeinsameVorgehen gibt es keinerlei Dissens mit der französischenSeite; das ist auch in Blaesheim noch einmal betont wor-den, jenseits der ganzen Debatte über Atomstrategien.
Die drei Verhandlungsstaaten haben ihre Überzeugungzum Ausdruck gebracht, dass jetzt die Autorität der Ver-einten Nationen gebraucht wird, um den Forderungender IAEO an den Iran Nachdruck zu verleihen; die dreiStaaten haben inzwischen mit vielen anderen Staatendarüber geredet und debattiert. Egal welche Entschei-dung die 35 Mitgliedstaaten des Gouverneursrats derIAEO am 2. Februar treffen: Der Iran sollte die Ent-schlossenheit der Weltgemeinschaft, sichere Garantiengegen ein iranisches Atomwaffenprogramm zu bekom-men, nicht unterschätzen.Von vornherein hat die Bundesregierung auch denMoskauer Kompromissvorschlag als sehr konstruktivbegrüßt, der auf eine gemeinsame Urananreicherung au-ßerhalb des Irans, auf russischem Boden, hinausläuft.Erst hat Teheran – Herr Hoyer hat das geschildert – die-sen Vorschlag brüsk zurückgewiesen. Seit gestern siehtes so aus, als könnte sich dieses Fenster wieder etwasöffnen. Wir begrüßen das ausdrücklich.
Während die diplomatischen Bemühungen weiter aufHochtouren laufen, hat sich in der Öffentlichkeit in meh-reren Ländern eine intensive Diskussion über möglicheSanktionen gegen den Iran – bis hin zur Anwendung mi-litärischer Mittel – entwickelt. Eine solche Diskussionhilft nicht weiter.
Darüber hinaus ist sie geeignet, den sehr breiten Kon-sens in der Weltgemeinschaft über das Ziel der Verhand-lungen mit dem Iran infrage zu stellen.Die Bundesregierung beteiligt sich deshalb nicht ansolchen Spekulationen. Im Gegenteil: Der deutsche Au-ßenminister Frank-Walter Steinmeier hat vor wenigenTagen ausdrücklich vor einer Militarisierung des Den-kens in diesem Kontext gewarnt.
Selbstverständlich bleibt die Bundesregierung bei ihrerPolitik einer umfassenden, weltweiten atomaren Abrüs-tung, wie sie auch im Koalitionsvertrag enthalten ist.
Damit komme ich zum Schluss: Was jetzt gefragt ist,sind nicht Spekulationen über militärische Optionen,sondern internationale Geschlossenheit und gemeinsa-mes Handeln. In diesem Sinne wird die Bundesregierungihre Bemühungen fortsetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Norman
Paech von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis heutemorgen wollte ich meine Rede eigentlich damit begin-nen, dass hier über zwei Dinge offensichtlich Konsensbesteht, nämlich dass die Anzahl der Atomwaffenstaatenauf keinen Fall steigen darf und dass eine militärischeIntervention gegen den Iran auf jeden Fall zu verhindernist.Nun ist vom ehemaligen Kollegen Scholz die Unge-heuerlichkeit zu hören, im Zweifel müsse auch Deutsch-land Atomwaffen gegen den Terrorismus einsetzen. Ichhoffe, meine Kolleginnen und Kollegen aus der CDU,dass dies eine absolute Minderheitsmeinung ist, die Sienicht vertreten, und dass Ihre Partei den aus dem Rudergelaufenen ehemaligen Kollegen wieder einfängt.
Denn solche Äußerungen zerstören den Konsens, denwir bisher in der Innen- und Außenpolitik gehabt haben.
Wenn über die beiden oben genannten Punkte nochimmer Konsens besteht, dann stellt sich die Frage, wodas Problem liegt. Liegt es beim Iran, wie die meistenvon Ihnen sagen, bei den USA oder vielleicht in den Ver-handlungen selbst? Dazu einige Worte – dabei kommtes, Herr Erler, auf die Pointierung an –:Die EU fordert: Keine Entwicklung und Produktionvon Atomwaffen. Antwort des Iran: Das war nie unserPlan und wir haben es auch nicht vor. Darauf USA undEU: Wir haben keine Beweise, glauben und trauen euchaber nicht. Wir kehren deshalb die Beweislast um undwerden euch erst dann glauben, wenn ihr definitiv aufjede Urananreicherung verzichtet. Antwort des Iran:Wie kommen wir dazu, auf etwas zu verzichten, auf daskein anderer Staat der Welt verzichtet – am wenigstendie EU und die USA – und was uns der Atomwaffen-sperrvertrag ausdrücklich gestattet? Darauf die EU:Wenn ihr verzichtet, bieten wir euch weitestgehendeKooperation in der Wirtschaft, Wissenschaft und Atom-energie an; das hat Herr Erler in extenso ausgeführt. Wirwerden euch sogar Brennelemente aus dem Ausland lie-fern und euch bei der Aufnahme in die WTO unterstüt-zen. Doch der Iran lehnt wieder ab. Jetzt will man ihnvor den UN-Sicherheitsrat bringen.
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Dr. Norman PaechLassen wir einmal die wirklich unerträglichen Äuße-rungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad bei-seite.
– Wir sind bei der Qualifizierung einer Meinung. – SeineÄußerungen für sich genommen erfordern noch keinEingreifen des Sicherheitsrates. Was verlangt man ei-gentlich vom Iran? Man verlangt die Aufgabe einesStücks seiner Souveränität,
ohne ihm in den beiden für ihn entscheidenden Anliegenein adäquates Angebot zu machen: bei der Forderungnach Unabhängigkeit seiner Energieversorgung und beiseiner berechtigten Wahrnehmung der Bedrohung durchdie Nachbarstaaten, die entweder im Besitz von Atom-waffen sind oder Protektorate der USA.Hier fahren zwei Züge, zunächst noch langsam, abermit immer größer werdender Geschwindigkeit, auf-einander zu. Wenn sie im UN-Sicherheitsrat aufeinandertreffen, dann ist der einzige substanzielle Vorwurf gegenden Iran, gegen das Safeguards-Abkommen mit derIAEO verstoßen zu haben.
Das ist noch kein hinreichender Grund für Sanktionennach dem VII. Kapitel der UN-Charta. Wir müssen fest-stellen: Der Iran hat noch nie gegen den Atomwaffen-sperrvertrag verstoßen; das behaupten auch Sie, HerrErler, nicht.
Wir kennen doch die Mechanismen, wie aus Regel-verstößen, die man nicht leugnen kann, eine Gefahr fürden internationalen Frieden konstruiert wird, um damitdas Tor für Sanktionen zu öffnen, die dann bis zu militä-rischen Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 der UN-Chartagehen können. Hier müssen wir ernst nehmen, was Au-ßenministerin Condoleezza Rice noch vor wenigen Ta-gen gesagt hat, dass sich nämlich der amerikanische Prä-sident immer alle Optionen offen halte.Erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang bitte andie Zeit vor dem Irakkrieg. Auch damals sprachen etli-che in diesem Hohen Hause von der Notwendigkeit, eineDrohkulisse aufzubauen, um der Diplomatie zum Erfolgzu verhelfen. Auch damals war der UN-Sicherheitsrateine der Etappen der Eskalation. Was daraus gewordenist, können wir täglich sehen. – Um es kurz zu machen:Es sind ganz offensichtlich die gegenwärtigen Verhand-lungen selbst und konkret die nicht akzeptablen Ange-bote an den Iran, die die Gefahr eines militärischenEndes hervorrufen.Die Frage ist, was die Alternativen sind; das wurdeschon angesprochen. Ich will konkret vier Alternativennennen:Erstens. Das russische Angebot einer gemeinsamenUrananreicherung mag ein zukunftsweisender Weg fürdie Energieversorgung sein; die Beseitigung der atoma-ren Bedrohung kann es aber nicht bewirken.Zweitens. Die EU fordert vom Iran ein Moratorium.Warum fordert sie ein solches eigentlich nur vom Iranund nicht weltweit?
Herr Kollege Paech, kommen Sie bitte zum Schluss.
Nur ein weltweites Moratorium für neue Urananrei-
cherungsanlagen wäre ein wirklich ehrliches Angebot,
das auch der Iran nicht abschlagen könnte. Das ist übri-
gens ein Vorschlag von al-Baradei.
Drittens. Die USA müssen gegenüber dem Iran end-
lich auf Gewalt verzichten.
Viertens. Darauf ist schon hingewiesen worden:
Letztendlich wird in dieser Region nur dann Frieden ein-
treten, wenn der Vorschlag einer atomwaffenfreien Zone
von Israel bis Indien endlich in die Tat umgesetzt wird.
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Theodor Freiherrzu Guttenberg. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lassen Sie mich voranstellen, dass die CDU/CSU-Fraktion die Äußerungen von Professor Scholzweder als hilfreich noch als in der Sache dienlich erach-tet und als solche auch nicht unterstützt.
Sehr verehrter Herr Professor Paech, trotz einigerDifferenzen war die Debatte bislang von einem hohenKonsens dahin gehend geprägt, worauf der Schwerpunktzu legen ist. Der Schwerpunkt in dieser Debatte ist nichtim Wesentlichen dort zu sehen, dass wir mit dem nack-ten Finger des Vorwurfs auf unsere Bündnispartner zei-gen, sondern dass wir uns auch damit beschäftigen, wodas Problem als solches eigentlich liegt. Es ist zunächsteinmal im iranischen Regime anzusiedeln und wenigerbei denen, die Sie gerade genannt haben.
Lassen Sie mich vor dem Hintergrund dessen, wes-halb diese Debatte beantragt wurde, das aufgreifen, wasRuprecht Polenz bereits angeschnitten hat. Man kannsich sicherlich mit Recht darüber streiten, ob der Tonfallund der Zeitpunkt der Äußerung von Chirac wirklichglücklich gewählt waren; aber er hat die Welt mit seinenÄußerungen tatsächlich nicht neu erfunden. Die Fort-schreibung der französischen Nukleardoktrin als sol-che ist seit längerem bekannt. Sie wurde in den französi-
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Karl-Theodor Freiherr zu Guttenbergschen Medien in den letzten Jahren bereits behandelt undsie wurde auch von den deutschen Medien aufgegriffen.Von daher ist die Aufregung über die ÄußerungenChiracs doch ein wenig weit gehend.Herr Professor Paech, wir sollten sehr darauf achten,dass insbesondere in der öffentlichen Meinung nicht dasBild und die Auffassung entstehen, dass sich die Vorzei-chen bereits umgekehrt haben. Die Bedrohung als solchegeht nicht von Frankreich, Israel oder den VereinigtenStaaten von Amerika aus, sondern die Ursache der Be-drohung ist im iranischen Regime und beim Iran selbstzu suchen.
Deswegen: Wenn wir hier die Vorzeichen umkehren,dann bringen wir die Dinge in ein völlig falsches Licht.Ein weiterer Gedanke, der damit im Zusammenhangsteht, sollte mit aller Klarheit unterstrichen werden– hier klang nämlich etwas anderes ein wenig durch undes wurde in den vergangenen Monaten auch schon vonanderen Mitgliedern dieses Hauses geäußert –: Es mussfür uns inakzeptabel sein – das ist es auch –, sich mitdem Gedanken anzufreunden, dass wir uns am Ende desTages mit einem nuklearisierten Iran abfinden. Daskann und darf nicht in unserem Interesse sein.
Ich glaube, dass wir uns gerade vor dem Hintergrundder offenen Fragen – es scheint in vielerlei Hinsicht einDilemma zu sein – noch einmal gewahr werden müssen,welche Optionen sich uns noch bieten. Ich glaube, dasswir uns dieser Diskussion gerade auch vor dem Hinter-grund des iranischen Raketenprogramms etwas inten-siver stellen müssen, das bereits NATO-Gebiet umfasst,das Israel als klar definiertes Ziel hat und innerhalb des-sen bereits in diesem Jahr die Erreichbarkeit Europas ei-nem Test unterzogen werden soll.Vor diesem Hintergrund wird auch für unsere interneDebatte folgendes Wechselspiel bedeutsam: Wie stehtunser unmittelbares Sicherheitsinteresse zu unseremlangfristigen Wirtschaftsinteresse, vielleicht auch Ener-gieversorgungsinteresse? Ich glaube, dass wir diese De-batte bislang noch nicht intensiv genug führen. Das hatmöglicherweise auch etwas mit dem ökonomischenSanktionspotenzial Europas zu tun. Nun muss das indie Debatte eingeführt werden.Ich stimme Ruprecht Polenz zu und auch Gernot Erlerhat das richtigerweise angesprochen: Der russische Vor-schlag muss ernsthaft erwogen werden. Er darf natürlichnicht dazu führen, dass dies wiederum nur einen Zeitge-winn für die iranische Führung, das iranische Regimebedeutet. Auch müssen wir nach Kräften dafür sorgen,dass insbesondere die Chinesen entsprechende Vor-schläge mit unterstützen und in diesem Fall keine Ge-genvorschläge machen.Entscheidend bleibt aber, dass wir unser Vorgehen so-wohl mit unseren europäischen Partnern als auch mit denVereinigten Staaten von Amerika engstens abstimmen;denn jeder – das war bei Ihnen herauszuhören, Herr Pro-fessor Paech – antiamerikanische Reflex, den wir her-vorrufen, und jeder Versuch, unsere europäischen Part-ner öffentlichkeitswirksam aus der Geschlossenheithinauszutreiben, bestätigt die Iraner in ihrer Taktik, diewestliche Staatengemeinschaft zu spalten. Das kann unddarf nicht in unserem Interesse sein. Die Geschlossen-heit ist unser Stärkemoment, das wir auch darstellenmüssen.
Wir werden – damit schließe ich – einen Gedanken et-was klarer fassen müssen, nämlich welche Optionen Eu-ropa und welche Optionen die Vereinigten Staaten ha-ben. Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten ihrPotenzial, was Anreize für Iran anbelangt, noch nichtausgeschöpft haben.
Auch wir auf europäischer Seite haben unsere Potenzialeauf friedlichem Wege – ich bin ebenfalls klar gegen einemilitärische Option in diesem Gesamtkontext – nochnicht ausgeschöpft. Darauf müssen wir hinarbeiten, dasist unsere Zielsetzung. Das ist allemal besser als dieAnalogien, Professor Paech, die Sie vorhin gezogen ha-ben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasHauptproblem ist deutlich benannt worden. Die primäreHerausforderung ist, wie das iranische Streben nachAtomwaffen verhindert und eine unabsehbare Eskalationder Auseinandersetzung darum abgewendet werdenkann. Dafür sind Geschlossenheit, Glaubwürdigkeit undäußerste Sorgfalt in Bezug auf Strategie wie auch öffent-liche Formulierung unbedingt notwendig.
Herr Minister Jung, ich danke Ihnen, dass Sie jetzthier sind, und darf Sie direkt ansprechen. Sie haben be-kanntlich in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“im Hinblick auf den Iran und auf eine Drohkulisse er-klärt, man benötige alle Optionen. Ich unterstelle Ihnenin keiner Weise, dass Sie eine so genannte militärischeOption in irgendeiner Art anstreben würden. Aber es isteine alte sicherheitspolitische Grunderfahrung: Wer einemilitärische Option offen lässt, muss auch zu ihrer Um-setzung grundsätzlich bereit sein und muss alle Konse-quenzen bis zum Ende durchdenken. Eine realistischeund verantwortbare militärische Option gegenüber demIran gibt es nicht. Deshalb ist, so meinen wir, die offene
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Winfried NachtweiFormulierung, die Sie in diesem Interview gewählt ha-ben, fahrlässig.
Die Stellungnahmen aus den Reihen der Union zurRede des französischen Staatspräsidenten spielen die Sa-che schon sehr herunter. Kollege Polenz, in dieser Fragedürfen wir keine künstlichen Gegensätze aufbauen; dasist völlig richtig. Allerdings werden da die Dinge sehrheruntergespielt und münden in einer deutlichen Ver-harmlosung.Die Tatsache, dass nach Hiroschima und Nagasakikeine weiteren Atomwaffen eingesetzt wurden, ist keinGrund, sich an atomare Abschreckung zu gewöhnen. Siebleibt eine Kalkulation mit unterschiedsloser Massen-vernichtung und dem faktischen Bruch allen Kriegsvöl-kerrechts.
Präsident Chirac beteuerte in seiner Rede, dass diefranzösischen Atomwaffen nur der Abschreckung dien-ten und keine Kriegswaffen seien. Zugleich aber sagteer, dass auch Staaten abgeschreckt werden sollten, dieTerrorismus förderten und gegebenenfalls Massenver-nichtungswaffen gegen uns – gegen Frankreich undseine Verbündeten – einsetzen würden oder wollten. Ersagte des Weiteren, französische Atomwaffen solltenauch der Verteidigung unserer „strategischen Versor-gung“ dienen.Hinzu kommt, dass in Frankreich seit geraumer Zeiteine ernsthafte Diskussion über die so genannte Minia-turisierung von Atomwaffen geführt wird. Hierzu istzusammen mit den USA ein ambitiöses Simulationspro-gramm entwickelt worden. Ab 2010 wird es Annahmenzufolge möglich sein, kleinere Atomwaffen sehr reali-tätsnah zu planen und zu testen.Ich fasse zusammen: Erstens weitet Frankreich seineatomare Abschreckung aus. Der Adressat ist angesichtsdes Zeitpunkts – dieser Interpretation folgen durch dieBank auch die weltweiten Medien – offensichtlich derIran. Zweitens ist eine gewisse Öffnung in Richtung derKriegsführungsfähigkeit mit Atomwaffen zu verzeich-nen.
Die Verbreitung von Atomwaffen stellt neben dem in-ternationalen Terrorismus gegenwärtig die Hauptbedro-hung der internationalen Sicherheit dar. Wer heute eineatomare Drohung oder eine atomare Option gegenüberdem Iran zumindest andeutet, fördert die Weiterverbrei-tung, statt sie einzudämmen, und er fördert die Solidari-sierung der dortigen Gesellschaft mit denjenigen, die tat-sächlich über Atomwaffen verfügen wollen.
Die Rede des französischen Präsidenten lenkt denBlick darauf, dass der französische Verbündete mit sei-ner Nuklearpolitik einer glaubwürdigen Nichtverbrei-tungspolitik in den vergangenen Jahren leider eher ge-schadet als genutzt hat. Dies ist aber bei uns in derPolitik insgesamt eher als Tabu behandelt worden.Diese Widersprüche beeinträchtigen die Glaubwür-digkeit und Wirksamkeit der europäischen Nichtverbrei-tungspolitik zurzeit auch gegenüber dem Iran. Das musszumindest intern dem französischen Verbündeten deut-lich gemacht werden. So, wie die Bundeskanzlerin aberdie öffentliche Kritik in Deutschland abgekanzelt hat,haben wir leider keinen Hinweis darauf, dass dies we-nigstens unter vier Augen geschehen wäre.
Das ist beunruhigend, weil damit die Militarisierungder Auseinandersetzung um das iranische Atompro-gramm hingenommen zu werden scheint. Es handelt sichdabei um eine Militarisierung des Denkens, die nicht zurLösung des gefährlichen Konflikts beiträgt, sondern Ölin die Glut leitet.Wir fordern die Bundeskanzlerin auf, die bisherigeEindeutigkeit der deutschen Iranpolitik wieder herzustel-len. Wir brauchen die glaubwürdige Geschlossenheit derStaatengemeinschaft gegenüber dem iranischen Atom-programm.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Mützenich von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, die Rede des französischen Präsidenten in dervergangenen Woche hat in der Tat nicht viel Neues ent-halten. Darüber, ob der Zeitpunkt richtig gewählt wor-den ist, kann man streiten.
Ich glaube, wir haben damals auch zu Recht zwischenGrünen und SPD – die CDU/CSU durfte damals nichtzustimmen – bei der Beratung eines Antrags im Zusam-menhang mit der Überprüfungskonferenz festgestellt,dass die französischen Atomwaffen seit Mitte der 90er-Jahre modernisiert werden.Dennoch glaube ich nicht, dass es darum geht, ob derPräsident in seiner Rede viel Neues gesagt hat. Ichglaube vielmehr, dass es um folgende Fragen geht: Wirdeine atomare Militärdoktrin den neuen Bedrohungen ge-recht? Ist die Politik der Atomwaffenstaaten und damitauch Frankreichs mit dem Atomwaffensperrvertrag ver-einbar? Kann mithilfe einer nuklearen Abschreckungs-doktrin das Aufkommen neuer Atomwaffenstaaten ver-hindert werden?Leider muss man diese drei Fragen verneinen. Manwird den internationalen Terrorismus nicht durchNuklearwaffen abschrecken können. Die Atomwaffen-staaten müssten meines Erachtens dem Auftrag desAtomwaffensperrvertrags und den 13 Punkten der Über-
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Dr. Rolf Mützenichprüfungskonferenz nachkommen und atomar abrüsten.Das Entscheidende ist, dass das Festhalten an Atomwaf-fen und deren Modernisierung andere Staaten verleitet,solche Waffen möglicherweise für sich selbst vorzuhal-ten. Das ist im Grunde genommen der Kern, über denman debattieren muss.
Ich möchte drei Tendenzen aufzeigen, die in letzterZeit in der internationalen Politik eine Rolle gespielt ha-ben und auf die alle Kernwaffenstaaten reagieren müss-ten. Die erste feststellbare Tendenz ist, dass militärischeGewalt wieder als Instrument in die internationale Poli-tik aufgenommen wird. Das hat in den USA im Zusam-menhang mit dem Irakkrieg stattgefunden. Das findetaber auch in Russland statt. Erinnern wir uns nur anTschetschenien oder an die Überlegungen des General-stabschefs der russischen Streitkräfte betreffend präven-tive Atomschläge. Genauso ist es in China. Denken wirnur an die Taiwanfrage. Auch hier wird über militärischeGewalt als legitimes Mittel diskutiert. Das müssen wirzurückweisen; denn das ist eine große Gefahr für die in-ternationale Politik.
Die zweite Tendenz ist, dass darüber diskutiert wird,ob Atomwaffen eine neue Rolle zugewiesen werden sollund ob das nukleare Gewaltmonopol wieder auf die na-tionalstaatliche Ebene übertragen werden darf. Nachmeiner Auffassung ist es nach 1945 ein großer Fort-schritt gewesen, dass wir das an den Sicherheitsrat derVereinten Nationen überwiesen haben. Das Neue an derRede von Chirac ist, dass er die Befugnisse, über denEinsatz von Nuklearwaffen zu entscheiden, auf die na-tionalstaatliche Ebene zurückholen will. Das muss manzurückweisen.
Die dritte Tendenz steht – darum geht es letztlich – imZusammenhang mit der iranischen Atomkrise. Der Iranhat in den letzten Wochen – machen wir uns nichts vor –die Krise eskalieren lassen. Das muss man kritisierenund zurückweisen. Herr Professor Paech, es ist eine Ver-harmlosung, wenn Sie die Worte von Ahmadinedschadnicht kritisieren.
Letztlich herrschte im Bundestag Konsens über diesesThema. Ich finde, das sollte man in dieser Debatte er-wähnen.Der entscheidende Punkt ist: Der Iran hat gegen dieRegeln des Atomwaffensperrvertrages verstoßen. Dashat die Internationale Atomenergiebehörde oft genugfestgestellt. Sie überprüft dies weiterhin. Aber es ist legi-tim, nun darüber nachzudenken, ob der Sicherheitsratder Vereinten Nationen – das ist das richtige Gremium –aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse dem Iran in Zu-kunft besser bzw. möglicherweise konkreter drohenkann. Das kann die Internationale Atomenergiebehördenicht. Deswegen muss der Fall Iran an den Sicherheitsratüberwiesen werden.
Wir, die SPD-Fraktion, unterstützen das, was der Au-ßenminister in den vergangenen Tagen gesagt hat. Eswar gut, dass er ständig darauf geachtet hat, dass es zueinem gemeinsamen Vorgehen der Europäischen Unionkommt. Darauf müssen wir weiter setzen. Die EU-3-Staaten müssen an ihrer gemeinsamen Position festhal-ten, genauso wie der Beauftragte für äußere Angelegen-heiten der Europäischen Union. Die Verhandlungen inden letzten zwei Jahren waren gut; denn heute wissenwir mehr darüber, was der Iran gegenüber der Internatio-nalen Atomenergiebehörde verschwiegen hat. Diese öf-fentliche Diskussion hat sich gelohnt.Ich möchte die Bundesregierung ermutigen, das auf-zugreifen, was der Kollege Hoyer gesagt hat. Es ist ander Zeit, die Rüstungskontrolle wieder auf die Tagesord-nung der internationalen Politik zu setzen.
Darin unterstütze ich die Bundesregierung. Wir habengelernt, dass Rüstungskontrolle und Abrüstung die Ent-spannung in Europa gefördert haben. So sollten wir auchandere Rüstungskrisen entschärfen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Georg Wellmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situa-tion ist außerordentlich beunruhigend. Der Iran entwi-ckelt eine Nukleartechnologie, deren Ausmaß und Um-fang vernünftigerweise keinen anderen Schluss zulassen,als dass Atomwaffen gebaut werden sollen. Dort werdenKomponenten entwickelt und tatsächlich gebaut, dieman für die zivile Nutzung der Kernenergie nicht benö-tigt und deren enorme Kosten nur dann Sinn machen,wenn es Ziel ist, Atomwaffen zu besitzen.Der Iran entwickelt Trägersysteme, was vernünftiger-weise keinen anderen Schluss zulässt, als dass andereNationen damit bedroht werden sollen. Ich meine damitnicht nur Nationen im näheren Umfeld, sprich Israel. Ichfrage mich vielmehr: Warum braucht der Iran Raketen,die 2 000 Kilometer weit fliegen und Europa erreichenkönnen? Der französische Generalstabschef hat wörtlichgesagt, er hielte das für einen Albtraum. Ich glaube, derMann weiß, wovon er redet.
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Karl-Georg WellmannDer Iran verhält sich auch heute so, dass der Schlussnahe liegt, er meine es mit seiner Nuklearrüstung bitter-ernst. Da wurde gelogen und getäuscht. Ich erinnere da-ran, dass die Anlage zur Anreicherung von Uran zu-nächst als Armbanduhrenfabrik deklariert wurde. Mitdenen kann man – das wissen wir – jedenfalls kein Urananreichern, aber mit den Gaszentrifugen, die in dieserFabrik stehen und ausschließlich dem Zweck der Anrei-cherung waffenfähigen Materials dienen.Ich warne auch vor Wunschdenken. Es gibt viele, dieglauben, der Mann meine es bestimmt nicht so ernst,Ahmadinedschad werde innenpolitisch Schwierigkeitenbekommen und er werde sich nicht durchsetzen. Dasmag sein. Ich glaube aber, der Mann meint tatsächlich,was er sagt. Seine abstoßenden Äußerungen zu Israel ha-ben wir alle gehört. Es ist schon reichlich eklig – das willich in dieser Form hier einmal sagen –, wenn jetzt diedeutschen Rechtsradikalen mit Horst Mahler an derSpitze nach Teheran pilgern,
um dort ihre zwanghaften Fixierungen gegen jüdischeMenschen und gegen Israel auszuleben.Die Frage ist: Wie sollen wir reagieren? Möglichkeiteins: gar nichts machen, also business – im wahrstenSinne des Wortes – as usual; es wird schon nicht soschlimm werden. Vielleicht hilft es ja, Herr Trittin, denMullahs weiter gut zuzureden. Die Folge wird sein, dasssie – nach unseren Informationen – eher früher als späterdie Atombombe haben werden. Ich glaube nicht, dass siesie gleich einsetzen werden. Sie kennen die FähigkeitenIsraels und sie haben sicher auch die Äußerungen desfranzösischen Staatspräsidenten zur Kenntnis genom-men. Aber sie streben als Nuklearmacht die Vormacht-stellung in der arabisch-muslimischen Welt an. Der Iranwird sich bei dem Export von Terrorismus noch unan-greifbarer fühlen. Wir wissen seit langem, dass der Iranden Dschihad im Kampf gegen Israel unterstützt.
Möglichkeit zwei: eine militärische Lösung. Die willkein verantwortlicher Politiker, insbesondere nicht diedeutsche Bundesregierung. Ich darf sagen, Herr Trittin,dass es eine Unverfrorenheit ist, dass ein Sprecher derGrünen – das ging heute über die Agenturen – FrauMerkel vorwirft, sie gehe von der Friedenspolitik ab undwolle etwas anderes. Dies weise ich in aller Form zu-rück.
Lassen Sie mich das Zitat des Chefs der Atomener-giebehörde, Herrn al-Baradei, vorlesen. Er sagt wörtlich:Diplomatie ist nicht nur Reden. Diplomatie brauchtauch Druckmittel und, in extremen Fällen, Gewalt.Das sagt dieser vorsichtige Mann. Ich meine, es wärefalsch, die militärische Option von vornherein als aller-letzte Konsequenz auszuschließen. Die Grünen tun das,die Linkspartei auch. Ich glaube, Ihre Haltung wird dieMullahs in Teheran ungeheuer beeindrucken und siewerden allein deshalb von ihrer Atompolitik ablassen.Ich stelle mir auch vor – das sollten Sie und auch HerrPaech sich einmal überlegen –, welchen Eindruck es aufdie Menschen in Israel macht, dass Sie angesichts einerNuklearrüstung des Iran als Erstes die Sorge um die ter-ritoriale Unberührtheit des Iran formulieren. Ich warnevor dem Eindruck, der da erzeugt wird.
Das passt ins Bild. Ich habe mir ein Zitat von Altaußen-minister Fischer herausgesucht. Er hat in der „Süddeut-schen Zeitung“ – da war er schon einige Jahre Außen-minister – gesagt, der Iran rücke immer mehr alspolitischer Stabilitätsfaktor in den Vordergrund; dasLand sei im Aufbruch zu demokratischen Reformen.
Die Grünen kommen einen langen Weg, bis sie die Si-tuation realistisch einschätzen.Herr Kollege Paech, ich muss Ihnen sagen: Ihre Ein-lassungen sind völlig unglaubwürdig. Sie waren es – ichhabe das nachgelesen –, der die Intervention der Sowjet-union in Afghanistan mit warmen Worten gelobt hat. Ichhabe mir das Zitat herausgesucht. Sie sagen, wegen deroffenen Interventionsdrohung der USA gegenüber demIran und wegen der konterrevolutionären EinmischungPakistans sei die friedliebende Sowjetunion dem armenAfghanistan zu Hilfe geeilt.
Diese Doppelmoral, Herr Paech, ist in der Tat unerträg-lich.
Das Problem ist, dass Sie all dies und noch viel mehrveröffentlicht haben. Ich habe schöne Zitate von Ihnengefunden; man kann das heute alles nachlesen.Unsere einzig realistische Möglichkeit ist, internatio-nal wirkungsvoll – das heißt vor allem: gemeinsam mitRussland und möglichst auch gemeinsam mit China –Druck aufzubauen. Russland und China haben kein Inte-resse an einer neuen Atommacht an ihren Südgrenzen.
Auch die Chinesen, Herr Trittin, haben ein Interesse angesicherten, stabilen Energielieferungen. Sie haben keinInteresse an einer Atommacht, die, wie Michael Stürmersagt, „apokalyptisch, sektiererisch“ gepolt ist.
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Herr Kollege Wellmann, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Deshalb macht ein wirklich entschlossenes Vorgehen
der Staatengemeinschaft Sinn. Das muss im Vordergrund
der diplomatischen Bemühungen der deutschen Regie-
rung stehen. Dafür hat sie die Unterstützung meiner
Fraktion.
Vielen Dank.
Herr Kollege Wellmann, im Namen des ganzen Hau-
ses gratuliere ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deut-
schen Bundestag.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lassen Sie mich am Anfang ein Wort zu den Kolle-gen sagen, die zuvor gesprochen haben. Wir sollten das,was Herr Scholz gesagt hat, nicht herunterspielen, son-dern ernst nehmen.
– Nein, Sie haben gesagt: nicht hilfreich und sachdien-lich. – Ich finde, es geht weit darüber hinaus, weil eseine Anregung war, unsere eigenen Sicherheitsstruktu-ren in der Weise zu verändern, dass wir den Nichtver-breitungsvertrag beenden und die gesamte Politik, diewir vorher als Nichtatomwaffenstaat glaubwürdig ge-macht haben, aufgeben sollten. Auch der Vorschlag vonHerrn Chirac, die Nuklearwaffen Frankreichs – sicher-lich denkt er auch an die Großbritanniens – zum Be-standteil der ESVP zu machen, ist ganz prekär.
Ich fürchte mich davor, dass eine Diskussion über einensolchen Vorschlag die gesamte Politik ruiniert, die wirgemeinsam in diesem Hause bisher entwickelt haben.
Diese Aktuelle Stunde trägt den Titel „Warnungen voreiner Militarisierung der Auseinandersetzung um dasiranische Atomprogramm“. Man muss all denjenigen,die eine militärische Option in Bezug auf den Iran for-dern oder für sinnvoll halten, die Frage stellen, ob sie dieFolgen einer militärischen Operation überhaupt über-prüft haben. Ich muss mit Erschrecken feststellen, dassmein Verteidigungsministerium mir als Parlamentarierindie Erfüllung der Bitte versagt hat, mir ein militärischesBriefing zu geben. Möglicherweise geschah das in derAngst, dass ich mich heute hierhin stelle und sage: Dasist doch möglich und die Bundesrepublik macht dort mit.Mir ging es darum, dass man sich wirklich einmalüberlegt, was die Anwendung einer militärischen Optionbedeutet. Ich fordere dazu auf, kurz den Blick auf denIrak zu richten. Ich glaube, mehr brauche ich dazu nichtzu sagen. Man bedenke sämtliche Konsequenzen.
Von hier aus möchte ich Herrn Steinmeier noch ein-mal für die Ablehnung der Militarisierung des Denkensrecht herzlich danken. Es ist wichtig, auf den Pfad derVerhandlungen zurückzukehren, wie es Herr Erler hiergeschildert hat.Iran pocht auf sein in Art. IV des Atomwaffensperr-vertrages verankertes Recht; aber es bestehen Zweifel,dass er die in diesem Vertrag niedergelegten Verpflich-tungen einhält. Über diesen Punkt müssen wir diskutie-ren.Ich möchte noch auf ein sicherheitspolitisches Themavon allgemeiner Bedeutung eingehen. Die IAEO hatzwei Aufgaben: Zum einen soll sie mithilfe der Safe-guards und anderer die friedliche Nutzung der Atom-energie ermöglichen; zum anderen soll sie gegenüberden Atommächten immer wieder mahnen, was in Art. VIdes Atomwaffensperrvertrages steht. Wir müssen unseinmal den momentanen Zustand der nuklearen Abrüs-tung anschauen: Seit 1995 gibt es einen Stillstand. Nachder Agonie, in die die Überprüfungskonferenz zumAtomwaffensperrvertrag hineingeraten ist, können wirfür die Zeit nach 2005 eigentlich nur Rückschritte fest-stellen.Auch im Hinblick auf die Doktrinen gibt es eine Ent-wicklung, die mir Angst macht. Das, was Chirac gesagthat, kann man auch anders interpretieren. Die Doktrinder USA für den Einsatz von Nuklearwaffen – sie liegtschwarz auf weiß vor – erklärt Nuklearwaffen zu Kriegs-waffen und sieht Präemptivschläge vor. Sie besagt aus-drücklich, dass man einen Gegner auf seinem eigenenTerritorium mit Nuklearwaffen treffen darf, wenn diesermöglicherweise über Massenvernichtungswaffen ver-fügt. Dies ist eine ganz große Gefahr. In noch viel höhe-rem Maße als bei Frankreich ist bei den USA zu sehen,dass die Waffendesigns bereits auf dem Reißbrett liegen.Wir müssen uns ernsthaft darauf besinnen, zur nu-klearen Abrüstung zurückzukommen. Wir brauchen ei-nen Atomteststopp, einen Cut-off, aber auch wieder eineDiskussion über atomwaffenfreie Zonen. Das Wichtigstewäre, dass sich die internationale Staatengemeinschaftbemüht, über regionale Sicherheitskonzepte unter Einbe-ziehung aller Nachbarn endlich gemeinsam zu diskutie-ren. Da sind wir als Europäer, die USA und die UNO ingleichem Maße gefragt.In diesem Zusammenhang kann man dann auch an-fangen, über atomwaffenfreie Zonen in diesem Bereichzu diskutieren. Man muss sich die Sicherheitsbedürf-nisse der einzelnen Staaten anschauen. Einige Staaten
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Uta Zapfmeinen mittlerweile, dass sie sich überhaupt nur mitNuklearrüstung schützen können. Das gilt für Indien, Pa-kistan und Nordkorea und das können wir exemplarischmöglicherweise auch am Iran sehen. Es geht darum, einglobales Sicherheitskonzept zu entwickeln, wie al-Baradei auch gefordert hat. Er hat nicht nur gefordert, zudrohen. Er hat auch gesagt: Die internationale Staatenge-meinschaft muss ein globales Sicherheitskonzept entwi-ckeln, das nicht von nuklearer Abschreckung geprägt ist,sondern das die Sicherheitsinteressen der einzelnen Staa-ten berücksichtigt.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Letzter Satz. – Wir müssen in diesem Kontext wirk-
lich etwas angehen, was die OSZE in Europa geschafft
hat und was auch die Europäische Union vorexerziert:
gemeinsame Sicherheit organisieren, Vertrauensbildung
und Abrüstung endlich wieder auf den Tisch des Hauses
bringen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Erich Fritz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Zapf, es gehört zum Verfassungskonsens derBundesrepublik Deutschland, dass wir weder Atomwaf-fen besitzen wollen noch an ihren Einsatz denken.
– Die Aussagen des sonst sehr geschätzten Herrn Kolle-gen Professor Scholz sowie des Herrn Professor Paechrauben einem jeden Glauben – soweit man ihn überhauptjemals hatte – an die besondere Fähigkeit von Professo-ren, mit den Dingen dieser Welt umzugehen. Deshalbsollte man gar nicht weiter darüber nachdenken.
Eine meiner Heimatzeitungen, die „WestfälischeRundschau“ in Dortmund, titelt heute „Iran kauft Atom-teile illegal in Deutschland“. Der Bericht beruht auf In-formationen aus dem Zollkriminalamt. Er signalisiertmir zwei Dinge: Erstens zeigt er, dass wir mit dem, wasin den 90er-Jahren nach den Erfahrungen in Rabda etc.zur Bekämpfung illegaler Exporte, zur Begrenzung vonRüstungsexporten und Exporten von Dual-Use-Güternund deren Kontrolle sowie zur Vorfeldaufklärung aufge-baut worden ist, gut gehandelt haben und dass das er-folgreich ist, selbst wenn man kriminelle Handlungen indiesem Bereich nie ausschließen kann.Dieser Artikel signalisiert ein Zweites, nämlich dassdas Beschaffungswesen des Iran im nuklearen wie imbiologischen Bereich auf eine aggressive Ausstattungdieses Landes weist, dass es nicht darum geht, defensiveFähigkeiten zu verbessern, sondern darum, ausschließ-lich aggressive Potenziale aufzubauen.Deshalb ist es richtig, dass wir diese Debatte so füh-ren, wie wir es jetzt tun – auch wenn man das beim Ein-gangsbeitrag von Herrn Trittin noch nicht geglaubt hat –,nämlich mit der Bestätigung der gemeinsamen Absicht,die europäische Position, die aufgebaut worden ist, zuunterstützen, also den diplomatischen Druck zu erhöhen,den Iran trotz seines Verhaltens immer wieder an denVerhandlungstisch zurückzubringen und in Zusammen-arbeit mit den Vereinigten Staaten, Russland und Chinaalle Chancen zu nutzen.Es ist doch erfreulich, wenn wir jetzt feststellen, dasses nach langem Hin und Her, nach zunächst extremerAblehnung nun Signale dafür gibt, dass der VorschlagPutins – auf den die Bundeskanzlerin, wie wir wissen,Einfluss genommen hat – in Teheran positiv erwogenwird. Ich finde es auch gut, wenn jetzt nicht eine LexIran daraus gemacht wird, sondern sozusagen einDienstleistungsangebot Russlands an die Länder exis-tiert, die solche Wiederaufarbeitung brauchen.
Ich finde, das ist ein guter Ansatz, weil er – wie schonRuprecht Polenz gesagt hat – die Gesichtswahrung ge-währleistet.Aber machen wir uns nichts vor. Wenn wir den Ver-lauf der Verhandlungen betrachten, dann wissen wirauch, dass man immer wieder daran zweifeln muss, obdie Verhandlungsabsicht der anderen Seite wirklich ehr-lich ist, ob es um die Lösung des Problems geht – um dieDurchsetzung der friedlichen Nutzung der Kernenergie –oder ob dahinter nicht doch der Wille zum Erwerb ag-gressiver Potenziale bis hin zu Atomwaffen steckt. Des-halb gibt es keine Alternative zu dem jetzt begonnenenVorgehen, nämlich im Gouverneursrat darüber zu spre-chen, ob man den Sicherheitsrat einschaltet.Ich finde die Initiative der Vereinigten Staaten, dieReise Robert Zoellicks zu Gesprächen nach Peking, unddie Reaktion Pekings sehr positiv. Peking hat ausdrück-lich erklärt, man habe kein Interesse daran, dass der IranAtomwaffen erwirbt oder selbst herstellt. Es ist sehr po-sitiv, dass Russland in derselben Weise Partei ergreift.Noch nicht ganz klar ist, wie Indien sich im Gouver-neursrat verhalten wird. Es hat ebenfalls eine wichtigeSchlüsselposition; wir wissen, welche energiepolitischenAbsichten in Richtung Pakistan und Indien vom Iran ausverfolgt werden.Meine Damen und Herren, die Drohung mit Sanktio-nen hat sich in der Vergangenheit als nicht sehr scharfeWaffe erwiesen. Dennoch sollte man keine Möglichkeitausschließen. Jeder muss wissen, dass wir im ExtremfallSanktionen besser aushalten als der Iran,
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Erich G. Fritz
der mit 60 Prozent seiner Staatseinnahmen vom Öl- undGasexport abhängig ist, der keinerlei weltmarktfähigeProdukte hat außer den Rohstoffen, die er verkaufenkann, und der die Loyalität seiner Bevölkerung aufDauer nicht nur durch den Hass auf Israel und aggressiveAußenpolitik wird erhalten können.
Herr Kollege Fritz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Menschen im Iran, diese junge Bevölkerung, ha-
ben einen Anspruch darauf, dass ihre Zukunft gesichert
wird: durch Technologietransfer, durch Öffnung für den
und Beteiligung am Welthandel, durch alle Möglichkei-
ten, sich gleichberechtigt zu verhalten. Deshalb bietet
der Weg in die Isolation, den dieser Präsident geht und
den die Mullahs immer wieder gegangen sind, keine Zu-
kunftsperspektive für das Land.
Das Wort hat der Kollege Andreas Weigel von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Voranderthalb Jahren war unsere Einschätzung bezüglichder Verhandlungen der EU 3 noch recht positiv. Heutebefinden wir uns in einer völlig anderen Situation. Wirhaben eine andere Phase erreicht. Es ist aber falsch, denAbbruch der Verhandlungen als das Ende der Verhand-lungen zu sehen und zu meinen, nun begännen militäri-sche Optionen. Die EU 3 müssen die Verhandlungenwieder aufnehmen; denn wir wollen eine friedliche Lö-sung des Konflikts. Wir stehen in der Verantwortung,diesen Konflikt friedlich zu lösen.
Die Verhandlungen benötigen aber ein glaubwürdigesAngebot und ebenso ein glaubwürdiges Drohpotenzial.Da wir militärische Drohpotenziale ausschließen, müs-sen wir uns ernsthaft mit Wirtschaftssanktionen aus-einander setzen. Konsequente Wirtschaftssanktionenwürden den Iran entscheidend treffen. Wenn keine ernstzu nehmenden diplomatischen Möglichkeiten und Kon-zepte greifen, werden wir darum nicht herumkommen.Ich halte sie im Übrigen auch für erfolgversprechend,weil sie den Iran an einer sehr empfindlichen Stelle tref-fen.Die iranische Führung tritt gerade deswegen außen-politisch so aggressiv auf, weil sie große Probleme mitder dynamischen Entwicklung ihrer Bevölkerung hat, ei-ner Bevölkerung, die jährlich um 1,2 Prozent, also umfast 1 Million Menschen, wächst. Eine Gesellschaft, diederart rasant wächst, verlangt konsequenterweise nachWirtschaftswachstum und entsprechenden Arbeitsplät-zen.Es wird gesagt, wirtschaftliche Sanktionen kämennicht infrage, weil davon die globale Energieversorgungschwer getroffen werden würde. Wir selbst hätten dafüreinen sehr hohen Preis zu zahlen. Aber was ist denn dieAlternative? Wirtschaftssanktionen können nur auf demGebiet erfolgreich sein, wo es dem Iran wehtut. Es gehtalso im Wesentlichen um das Erdöl. Wirtschaftssanktio-nen werden Auswirkungen auf die Energiemärkte haben.Das hat auch für uns empfindliche Konsequenzen.
Wir müssen uns auf spürbare energiepolitische Folgeneinstellen. Wir werden um diesen Preis nicht herumkom-men. Die Frage ist, ob wir diesen Konflikt energiepoli-tisch aushalten. Wirtschaftliche Sanktionen, die übermehrere Stufen gesteigert werden können, sind nebenden diplomatischen Bemühungen aus meiner Sicht daseinzige Mittel, die iranische Führung noch zum Einlen-ken zu bewegen.
In den letzten Tagen ist in der öffentlichen Berichter-stattung der Eindruck entstanden, dass sich Frankreichfür militärische Sanktionen ausspricht. Wenn ich dieRede des französischen Präsidenten vom 19. Januar rich-tig verstehe, dann komme ich zu dem Schluss, dass seineigentliches und ursprüngliches Anliegen ist, die Frageder gemeinsamen europäischen Verteidigung anzuspre-chen, einer Verteidigung, die ausdrücklich auch über dieFähigkeit zur Abschreckung verfügt. Dabei geht es ers-tens um die Änderung der Nuklearstrategie des Westens.Zweitens geht es darum, dass sich Europa über die FrageGedanken machen muss, ob das nukleare Potenzial derFranzosen und Briten eine Rolle in der europäischenVerteidigung spielen soll.Wenn wir eine Abschreckungskapazität brauchen,stellt sich die Frage, wie sie aussehen soll. Es sind – zu-gegebenermaßen – unbequeme Fragen, die der französi-sche Präsident aufwirft. Wir kommen aber in der Tat umdie Beantwortung dieser Fragen nicht herum – auch diePolitik in unserem Land muss sich diesen Fragen stel-len –: Woraus soll die Verteidigungsfähigkeit Europasletztendlich bestehen?
Welche Rolle werden Nuklearwaffen in einer europäi-schen Sicherheits- und Verteidigungsunion spielen?Die EU hat noch immer eine gute Handlungsbasis.Damit kann man im Schulterschluss mit Russland undmit Unterstützung der Vereinigten Staaten und Chinasspürbaren Druck auf den Iran ausüben. Wenn Europa ge-schlossen und glaubwürdig der iranischen Führung mitempfindlichen Sanktionen droht, wenn die USA undRussland diesen Weg mitgehen und wenn Russland die
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Andreas WeigelÜbernahme der iranischen Atomanreicherung anbietet,dann wird der Iran erkennen, dass es in seinem ureige-nen Interesse ist, mit der internationalen Staatengemein-schaft zu kooperieren.
Das Wort hat der Kollege Steffen Reiche von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! „Nur wenige Völker haben ihre nationale Identitätüber einen so langen Zeitraum hinweg zu wahren ver-mocht.“ Das hat Willy Brandt einmal in großer Achtungvor der uralten Kulturnation der Iraner gesagt. Über6 000 Jahre hinweg handelt es sich um eine Geschichte,die immer auch Frieden und Krieg mit Israel kannte. DasAlte Testament ist voll davon.Wir haben dem Iran in der Weltkultur viel zu verdan-ken und Wesentliches auch in unsere europäische Kulturintegriert. Deshalb ist es so wichtig, gerade in dieser auf-geladenen Zeit – in der es auch strategische Überra-schungen geben könnte, wie Jacques Chirac in seinerRede zu Recht warnt – Zeichen an die islamische Weltzu senden, die nicht nur den Willen zum Frieden, son-dern auch und vor allem den Willen zur Integration zei-gen.Deshalb ist das klare Zeichen vom 3. Oktober, des Ta-ges, an dem Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf-genommen worden sind, so hoch anzusehen. Dieses Zei-chen ist nämlich nicht nur bei den Türken, sondern auchbei Arabern und Persern sowie in der ganzen islami-schen Welt vermerkt worden. Gerade diese Entschei-dung stärkt die Rolle Europas in der Vermittlung inebendiesem Konflikt.
Der, der in dieser Frage am ehesten gehört werdensollte – zumindest nach der von uns in Deutschland be-schlossenen europäischen Verfassung –, nämlich JavierSolana, der EU-Außenbeauftragte, hat eine militärischeLösung im Atomstreit mit dem Iran abgelehnt. „Ein mi-litärisches Vorgehen gegen den Iran steht außer Frage“,hat er vor zehn Tagen klargestellt. Genauso außer Fragesteht, dass sich Präsident Mahmud Ahmadinedschad wieein weltpolitischer, antisemitischer Geisterfahrer be-nimmt.
Die Koinzidenz von der Leugnung des Holocaust, demerklärten Willen, Israel von der Landkarte zu tilgen, unddem Aussetzen des Moratoriums zur Atomforschung er-fordert eine klare Antwort der Weltgemeinschaft und derEuropäischen Union.
Es erfordert vor allem eine Stimme von Europa. Gäbe esmehrere Stimmen aus Europa, würde die wichtigsteStimme neben der Russlands, der USA und Chinas nichtgehört.Chirac sagt in seiner Rede leider erst am Ende – dahaben es viele nicht mehr gehört –: Es bleibt meineÜberzeugung, dass wir zu gegebener Zeit die Frage nacheiner gemeinsamen Verteidigung stellen müssen, welchedie bestehenden Abschreckungskräfte im Hinblick aufein starkes, für seine Sicherheit verantwortliches Europaberücksichtigt.Guy Verhofstadt, der belgische Regierungschef,schreibt in seinem großartigen Buch „Die VereinigtenStaaten von Europa. Manifest für ein neues Europa“ infaszinierender Klarheit:Die europäische Außenpolitik wird erst glaubwür-dig sein, wenn es eine echte europäische Verteidi-gung gibt, d. h. eine europäische Armee.Wir müssen den Mut haben, die Dinge beim Namenzu nennen. Deshalb muss Deutschland, müssen Bundes-regierung und Bundestag Präsident Chirac sagen: Diegegebene Zeit für diesen Schritt ist jetzt. Über 50 Jahrenach dem Scheitern der EVG, der Europäischen Verteidi-gungsgemeinschaft, im Jahre 1954 müssen wir einenneuen Anlauf unternehmen und den Weg zu einer ge-meinsamen europäischen Armee in der NATO ebnen.Manche vermuten, dass sich Chirac in Brest auch des-wegen so deutlich geäußert hat, weil er die Notwendig-keit der 3,5 Milliarden Euro, die Frankreich für seineAtomkräfte ausgibt, erklären wollte. Aber Jeremy Rifkinund andere haben uns vorgerechnet, wie wir mit demgleichen Geld, das wir in Europa in nationale Armeenstecken, viel mehr Sicherheit erreichen könnten oderaber – bei gleicher Sicherheit – eine gemeinsame Frie-densdividende haben würden. Wenn man jetzt beginnt,dann wäre, denke ich, die nächste Finanzplanungsperi-ode noch ein denkbares Ziel.Wer Europa aufbauen will, muss wacher sein und tie-fer träumen als andere. Das ist die notwendige Dialektik.Deshalb versteht sich die PDS, die sich jetzt Linkenennt, nicht einmal selber bzw. nimmt nicht ernst, wassie fordert, wenn sie die europäische Verfassung ablehnt,weil sie zu stark militarisiert sei. Der einzige berechtigteVorwurf an den europäischen Verfassungsvertrag kanndoch nur sein, dass er noch nicht so viel gemeinsameVerteidigungspolitik ermöglicht, wie heute nötig. Wennwir schon den Euroraum geschaffen haben, warum sollteuns heute nicht auch der Raum einer gemeinsamen Ver-teidigungspolitik in einer besseren Koalition der Willi-gen gelingen?Eine Bitte habe ich an uns alle: Rabbiner IsraelSinger, der Vorsitzende des Jüdischen Weltkongresses,hat einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht. Er sagt:Nachdem die Kirchen und das Judentum vorgemacht ha-ben, wie man durch einen intensiven Dialog 2 000 Jahrekirchlichen Antisemitismus überwinden kann, könnteman das doch auch mit dem Islam schaffen. – Ich bitteSie, seinen Vorschlag zu prüfen, ob nicht Deutschlandeine internationale Konferenz einberuft, die politische
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 965
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Steffen Reiche
und religiöse Führer aus der ganzen Welt zusammen-bringt, um zu besprechen, wie der Zusammenstoß derKulturen vermindert und verhindert werden kann.
Herr Kollege Reiche, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich füge hinzu: Deutschland sollte das im Namen der
Europäischen Union tun. Herr Singer sagt, Berlin wäre
hierfür der richtige Ort. Ich finde, er hat Recht.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Heinz-Peter Haustein,
Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Vorverlegung des Fälligkeitstermins für So-
zialabgaben rückgängig machen und struktu-
relle Reformen in der Rentenversicherung ein-
leiten
– Drucksache 16/396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte die Kollegen, die an der jetzt anstehenden
Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal zu verlassen,
damit wir mit den Beratungen fortfahren können.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am16. Januar dieses Jahres haben die Unternehmen inDeutschland wie gewohnt die Sozialversicherungsbei-träge für den Monat Dezember abgeführt; so weit, sogut. Morgen, am 27. Januar 2006, also nur elf Tage spä-ter, werden bereits die Beiträge für den laufenden MonatJanuar fällig. Insgesamt werden die Unternehmen in die-sem Jahr 13 Sozialversicherungsbeiträge an die Sozial-kassen abführen müssen. Das ist schlecht, sehr schlechtsogar; denn mit dem Vorziehen der Fälligkeit der Sozial-versicherungsbeiträge wird vor allem den mittelständi-schen Unternehmen 20 Milliarden Euro an Liquiditätdauerhaft entzogen,
zusätzliche Finanzierungskosten in Höhe von1,25 Milliarden Euro aufgebürdet und Bürokratielastennach Expertenschätzungen bis zu einer Höhe von4 Milliarden Euro zugemutet. Mit einem Wort: Die Wir-kung dieses Zwangskredites, den die Unternehmen derSozialversicherung gewähren müssen, ist verheerend.
Im vergleichsweise günstigen Fall können Unterneh-men wegen des Liquiditätsentzugs Investitionen nichtrealisieren und neue Arbeitsplätze nicht schaffen. Imungünstigeren Fall – das betrifft Hunderttausende vonFällen – werden die Unternehmen in eine schwere Fi-nanzierungskrise gestürzt, die für nicht wenige Betrof-fene existenziell sein wird. Ich sage Ihnen, meine Kolle-ginnen und Kollegen von Union und SPD, voraus undwerde dabei leider Recht behalten: Das Vorziehen derFälligkeit der Sozialbeiträge wird zwischen 20 000 und30 000 zusätzliche Insolvenzen in diesem Jahr inDeutschland zur Folge haben
und damit 100 000 bis 150 000 Arbeitsplätze zusätzlichvernichten. Das fällt in Ihre Verantwortung.
Das ist keine Panikmache,
weil schon heute in einer Vielzahl der Fälle auf der Gläu-bigerseite Konkursanträge durch die Sozialversiche-rungsträger, namentlich die Krankenkassen als Einzugs-stellen, gestellt werden, oft wegen relativ geringerdreistelliger Eurobeträge. In dieser Sache müssen Siesich einmal schlau machen. Weil die Sozialversiche-rungsbeiträge wegen des überaus engen Zeitkorridorsam Monatsende absolut pünktlich kommen müssen, istdavon auszugehen, dass dieses Regime zukünftig min-destens genauso rigide, wenn nicht noch rigider gehand-habt werden wird.Zu den Wirkungen auf den Mittelstand: Es gab Zei-ten, da hat zumindest die Union das noch genauso gese-hen. Ich zitiere Andreas Storm in der Aktuellen Stundevom 11. Mai 2005:Für viele kleine Handwerksmeister kann dieser zu-sätzliche Liquiditätsentzug der Tropfen sein, derdas Fass zum Überlaufen bringt. Damit sind weitereArbeitsplätze in unserem Land gefährdet.Das hat er gesagt, bevor die Union ihre 180-Grad-Wen-dung in dieser Frage vorgenommen hat; seine Aussagegilt aber heute noch unverändert.
Damit stellt sich auch die Frage nach dem Ansatz dergroßen Koalition zur Bewältigung der aktuellen Pro-bleme in übrigens allen Zweigen der Sozialversiche-rung. Wenn es richtig ist, Herr Kollege Weiß – Sie
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Dr. Heinrich L. Kolbwerden gleich dazu sprechen –, dass die aktuellen Pro-bleme weniger durch einen Anstieg der Ausgaben – dasnatürlich auch – als vielmehr durch eine Schwäche beiden Einnahmen begründet sind, und wenn es richtig ist,dass der Verlust von 1,5 Millionen sozialversicherungs-pflichtigen Arbeitsplätzen und damit verbunden von1,5 Millionen Beitragszahlern seit 2001 Ursache derFinanzkrise ist, dann kann es, um mit unserem Bundes-präsidenten Horst Köhler zu sprechen, nur eine richtigeAntwort geben: Vorfahrt für Arbeit! Im Umkehrschlussheißt das: Es muss alles unterlassen werden, was Ar-beitsplätze bedroht oder vernichtet. Das gilt für das Vor-ziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge inbesonderer Weise.
Deswegen frage ich Sie, meine Kollegen von Unionund SPD: Glauben Sie wirklich, dass die mageren Be-schlüsse von Genshagen – 9,5 Milliarden Euro für denMittelstand, verteilt über vier Jahre, also noch nicht ein-mal 2,5 Milliarden Euro pro Jahr – auch nur annäherndden gesamtwirtschaftlichen Schaden ausgleichen kön-nen, der mit dieser neuen Regelung angerichtet wird?Wer, wenn nicht der Mittelstand, soll denn Arbeitsplätzein diesem Land schaffen?
Glauben Sie, dass sich ein Mittelständler von derÜbergangsregelung für den Januarbeitrag, von dieserSechstelung über die nächsten Monate, wirklich blendenlässt? Was Sie da betreiben, ist doch Augenwischerei!Spätestens ab August – und dann dauerhaft – trifft ihndie volle Belastung und schmälert seine Liquidität. DieUnternehmen werden sich darauf einstellen müssen, obSie das glauben oder nicht.
Dann steht bereits zu Beginn des nächsten Jahres dieMehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent mit der Wir-kung eines Kaufkraftentzugs von 25 Milliarden Euro insHaus. Das wird die Konjunktur in unserem Lande – dashat der Bundeswirtschaftsminister in der Debatte heuteMorgen ja eingeräumt – zusätzlich aufs Schwerste belas-ten. Das sind keine Rahmenbedingungen, die auf neueArbeitsplätze hoffen lassen.Um es mit einem Bild zu sagen: Sie haben in Gensha-gen bei bis zum Anschlag angezogener Handbremse ver-sucht, auf das Gaspedal der Konjunktur zu treten. JederAutofahrer aber weiß, dass das Gasgeben bei angezoge-ner Handbremse dazu führt, dass man den Motor ab-würgt. Genau das werfen wir Ihnen vor, dass Sie nämlichden Mittelstand, den Motor der Wirtschaft in unseremLande, stümperhaft abwürgen werden.
Das Gebot der Stunde ist also – um im Bild zu bleiben –,die Handbremse mit einer Steuerreform, mit Reformenauf dem Arbeitsmarkt und Strukturreformen dersozialen Sicherungssysteme zu lockern. Der Sachver-ständigenrat hat dazu Vorschläge gemacht.Wir als FDP-Bundestagsfraktion werden uns jeden-falls mit dieser unsinnigen Regelung nicht abfinden. Wirhaben bisher schon gegen diese Regelung angekämpftund werden das auch weiterhin tun. Wir wollen nicht,dass die Unternehmen in Deutschland von Ihnen weiter-hin wie eine Zitrone ausgequetscht werden.
Wir werden deswegen eine Protestaktion bei 30 000 Mit-telständlern als Initialzündung starten, um dem Bundes-arbeitsminister als dem Verantwortlichen, der jetzt leidernicht hier ist – heute Morgen bei den Saison-Kurzarbei-tergeldern war er da; das war ihm anscheinend wichtig –,deutlich zu machen, wo den Mittelstand der Schuhdrückt und dass diese Regelung wirklich kontraproduk-tiv ist. Wir unterstützen auch die Verfassungsbeschwerdeeines Mittelständlers gegen diese Regelung.Sie haben aber eine Chance: Sie brauchen gar nichtauf Karlsruhe zu warten. Kehren Sie heute zur alten Re-gelung zurück, indem Sie unserem Antrag zustimmen!Ich möchte die Union auffordern, zu ihrer alten Positionzurückzukehren, und die SPD, endlich einzusehen, dassdas, was Sie gemacht haben, gesamtwirtschaftlicher Un-sinn war. Nehmen Sie die Regelung zurück! StimmenSie unserem Antrag zu!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege Kolb hat versucht, in den Antrag einzufüh-ren. Er ist relativ kurz:
Vorverlegung des Fälligkeitstermins zurücknehmen unddarüber hinaus strukturelle Reformen in der Rentenver-sicherung einleiten, um deren Finanzgrundlage zu ver-bessern. Leider Gottes hat er wesentlich mehr über denJahreswirtschaftsbericht gesprochen,
vielleicht weil er in der ersten Runde heute nicht redenkonnte.
Es wäre aber schon wichtig gewesen, über den Antragund darüber zu reden, was damit gemeint ist.
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Max StraubingerHerr Kollege Kolb, wenn wir heute Ihrem Antrag zu-stimmen würden, würden wir weit mehr Bürokratieverursachen – davon bin ich überzeugt –, als wir mit die-ser Maßnahme insgesamt vielleicht verursacht haben,weil sich die Unternehmen, die Handwerker, die Mittel-ständler bereits darauf eingestellt haben, weil sie die Ge-setzeslage kennen. Sie wird also bereits umgesetzt.
Wenn die Kollegen von der FDP das am 18. Januar vonden Mittelständlern in unserem Land noch nicht erfahrenhaben, dann tut es mir Leid. Ich habe mich erst heutewieder informiert. Natürlich ist es eine Beschwernis undmit zusätzlichem Aufwand verbunden.
Natürlich braucht man ein neues IT-Programm. Aber eswird mittlerweile umgesetzt
und deshalb wäre ein Zurück zur früheren Regelung eherkontraproduktiv.
Was wird im Prinzip dadurch verändert? In vielen Be-reichen hat es keine Veränderungen gegenüber der frühe-ren Fälligkeit hervorgerufen. Denn in Betrieben, in de-nen am 15. eines Monats der Lohn ausgezahlt wird – dasist in vielen Bereichen der Fall –, ist schon bisher derSozialversicherungsbeitrag am 25. des Monats fällig ge-wesen.
Es geht um die Betriebe, die den Lohn am Ende des Mo-nats zahlen und am 15. des darauf folgenden Monats dieSozialversicherungsbeiträge abzuführen haben. Ichmöchte anmerken, dass wir dadurch in einer Zeit, in deres moderne Kommunikationsmöglichkeiten gibt – in denletzten Jahren gab es natürlich eine Straffung der Ab-rechnungssysteme; die Regelung ist ja mittlerweile30 Jahre alt –, eine zeitnähere Erfassung erreichen bzw.Finanzmittel in unsere gesetzlichen Sicherungssystemebekommen. Um einen Anstieg des Rentenversiche-rungsbeitrages um 0,5 Prozent abzuwehren, ist esdurchaus gerechtfertigt, dies in die Tat umzusetzen.
Dies verschafft uns natürlich Liquidität.Ich weiß, dass hiermit keine umfassende Lösung derProbleme der gesetzlichen Rentenversicherung oder un-serer sozialen Sicherungssysteme insgesamt herbeige-führt worden ist. Aber wir haben auf alle Fälle Beitrags-satzstabilität für das Jahr 2006 erreicht.
Herr Kollege Kolb, ich habe von der FDP im vergange-nen Jahr bei den Gesetzesberatungen nicht vernommen,dass Sie dafür eingetreten wären, dass der Rentenversi-cherungsbeitragssatz um 0,5 Prozent erhöht werden soll,
was für die Betriebe 1 Milliarde Euro zusätzliche Belas-tung bedeutet hätte. Das müssen Sie zur Kenntnis neh-men.
– Herr Kollege Kolb, Sie wollen eine Zwischenfragestellen?
Herr Kollege Kolb, zunächst einmal müssen Sie den
Präsidenten fragen, ob Sie eine Zwischenfrage stellen
dürfen. Ich frage dann den Redner und der Redner kann
dann die Zwischenfrage zulassen.
Ich bitte Sie, jetzt Ihre Zwischenfrage zu stellen.
Ich bedanke mich beim Präsidenten und beim Kolle-
gen Straubinger dafür, dass diese Zwischenfrage zuge-
lassen wurde.
Herr Kollege Straubinger, sind Sie bereit einzuräu-
men, dass Sie in der Frage des Vorziehens der Fälligkeit
der Sozialversicherungsbeiträge Ihre Unschuld längst
verloren haben? Im letzten Jahr – ich kann mich an die
Beratung hier sehr deutlich erinnern – haben Sie uns
treuherzig vorgehalten: Wenn wir die Fälligkeit der So-
zialversicherungsbeiträge nicht vorziehen, dann wird es
zu einer Erhöhung des Rentenbeitrags kommen. Jetzt be-
kommen wir das Vorziehen der Fälligkeit und zusätzlich
eine Erhöhung des Rentenbeitrags ab 1. Januar 2007.
Das halten wir Ihnen vor. Sind Sie bereit, einzuräumen,
dass wir in dieser Hinsicht offensichtlich ein Stück weit-
sichtiger waren als Sie?
Nein, Herr Kollege Kolb, ich möchte nicht sagen,dass Sie weitsichtiger waren. Wir kennen eben auch dieFinanzsituation in den gesetzlichen Sicherungssyste-men insgesamt. Ich möchte allerdings anführen, dass dieFDP im Gesetzgebungsverfahren – insbesondere überihre Möglichkeiten durch Regierungsbeteiligungen inden Bundesländern – auch nicht unbedingt mit letzterKraft gekämpft hat,
um dies zu verhindern.
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Max StraubingerZum zweiten Teil Ihrer Zwischenfrage: Wir habenuns in den Koalitionsverhandlungen darauf geeinigt,dass der Rentenversicherungsbeitrag zum 1. Januar2007 auf 19,9 Prozent angehoben wird, um die Finanzsi-tuation in der Rentenversicherung zu stabilisieren. Abergleichzeitig wird diese Bundesregierung den Arbeits-losenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte, näm-lich von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent, absenken. Das wirdmehr Entlastung für die Betriebe bedeuten.
Davon bin ich überzeugt.In den heutigen Pressemeldungen steht, dass der Ifo-Index stark gestiegen ist, dass also in der Wirtschaft dasZutrauen in die zukünftige Entwicklung wächst. Da-durch werden in unserem Land nicht nur Arbeitsplätzegesichert, sondern die Arbeitslosigkeit kann signifikantabgebaut werden. Das sind doch positive Zukunftsaus-sichten. Darüber sollten wir uns freuen. Ich bitte Sie, unsdabei zu unterstützen.
Verehrte Damen und Herren, natürlich bringt jede Än-derung auch bestimmte bürokratische Abläufe mit sich;das ist unbestritten. Aber auch Änderungen eines Bei-tragssatzes in der Sozialversicherung, etwa der Kranken-versicherung, oder Änderungen von Bemessungsgrund-lagen müssen in der Regel am 1. Januar eines Jahres inden Betrieben aufgefangen und von ihnen umgesetztwerden.Wir fordern die Bundesregierung auf, die entspre-chenden Verfahren so elegant zu gestalten, dass mög-lichst wenig Bürokratie entsteht; vielleicht können ein-zelne Regelungen ja sogar wieder entfallen. Darüberhinaus hoffe ich, dass in den Betrieben, wenn die Ren-tenversicherungsträger die Prüfungsverfahren durchfüh-ren, anerkannt wird, dass es sich bei der Vorauszahlungim Prinzip immer um die Zahlung des vergangenen Mo-nats handelt.
Natürlich muss das zeit- und realitätsnah eingeschätztwerden. Aber ich bin davon überzeugt, dass es ein gang-barer Weg ist, den richtig ermittelten Betrag der Sozial-versicherungsbeiträge im jeweils kommenden Monat alsVorauszahlung zu leisten, um in unseren Betrieben mög-lichst wenig Bürokratie zu erzeugen.Verehrte Damen und Herren, ich glaube, entscheidendist, wie wir zukünftig die Strukturreformen der gesetz-lichen Rentenversicherung angehen. Sie von der FDPhaben uns in Ihrem Antrag aufgefordert,
sowohl längerfristige als auch kurzfristige Strukturmaß-nahmen zu ergreifen, um die finanzielle Situation der ge-setzlichen Rentenversicherung zu verbessern.Die die Bundesregierung tragenden Parteien, CDU,CSU und SPD, haben sich in ihrem Koalitionsvertragauf mehrere Schritte geeinigt. Zum Beispiel wird es abdem Jahr 2012 zu einer schrittweisen Anhebung desRenteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre kommen. Da-durch wollen wir für eine weitere Stabilisierung des Bei-tragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung sor-gen. Das haben wir bereits beschlossen.Ebenso wichtig ist Folgendes: Wir werden dafür ein-treten, dass die private Altersvorsorge zukünftig eineweitere Stärkung erfährt.
Durch die Volksrente – früher Riester-Rente genannt –wird insbesondere für die Förderung von Familien mitKindern eine zusätzliche Grundlage geschaffen, wo-durch die Zukunftsperspektiven der Jugend und vor allenDingen der jungen Familien auch im Hinblick auf ihrezukünftige Rentensituation verbessert werden.Dies sind die Vorstellungen der Koalition, die wir na-türlich auch umsetzen werden. Wenn wir die entsprechen-den Entscheidungen treffen, werden wir im Interesse derRentnerinnen und Rentner auch die Gewährleistung derSicherheit der Renten im Auge haben müssen: Wir müs-sen dafür sorgen, dass die Renten auch weiterhin nichtnur pünktlich, sondern auch in gewohntem Umfang zurAuszahlung kommen.Verehrte Damen und Herren, eine entscheidendeRolle kommt dabei sicherlich der wirtschaftlichen Ent-wicklung in Deutschland zu. Wie ich bereits in meinerAntwort auf Ihre Frage, Herr Kollege Kolb, deutlich ge-macht habe, ist in unserer Wirtschaft gegenwärtig – Gottsei Dank! – eine wesentlich stärkere Dynamik festzustel-len.
Darüber freuen wir uns. Diese Dynamik wollen wir na-türlich unterstützen, Herr Kollege Kolb.
Das werden wir auch tun. Unser erklärtes Ziel ist dabei,insbesondere für mittelständische Betriebe dieAbschreibungsbedingungen zu verbessern. Das bedeu-tet mehr Zukunftsinvestitionen in unsere Betriebe, mehrArbeitsplätze in unserem Land und die Stärkung derWettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe.
Das ist die Grundlage auch für die Finanzierung unse-rer sozialen Sicherungssysteme. Deshalb bin ich sehr ge-spannt, inwiefern uns die FDP bei diesem Bemühen– dem Unterfangen, in unserem Land mehr Arbeitsplätzezu schaffen – zukünftig zu unterstützen bereit ist.
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Max Straubinger
Zwar hoffe ich, dass sie das tatkräftig tun wird, glaubeaber, dass uns Anträge, die rückwärts gerichtet sind,nicht voranbringen werden. Deshalb ist es angebracht,Ihren Antrag abzulehnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dereinen Seite halten auch wir den FDP-Antrag für einenSchauantrag: weil er doch sehr spät kommt und das Kindschon in den Brunnen gefallen ist.
Auf der anderen Seite denken wir, dass wir über diesenAntrag im Ausschuss doch beraten sollten.
Dabei bin ich nicht der Ansicht, dass wir zurückkommensollten zu Zahlungsterminen um den 15. Man kann daszeitnah gestalten. Auch wenn ich als Linker vielleichtnicht in der Position bin, zu vermitteln,
meine ich, die Abführung der Beiträge am 3. oder 5. desFolgemonats, wie es von Sachverständigen auch vorge-schlagen worden ist, wäre noch zeitnah und würde Dop-pelarbeit bei der Abrechnung vermeiden.
Alle Sachverständigen haben bei der Begutachtung imJuni letzten Jahres von diesem Verfahren abgeraten, weiles völlig unnötig zu Doppelarbeit führt, sei es in den Be-trieben, sei es bei den Krankenkassen, sei es bei den So-zialversicherungsträgern.
Gleichzeitig – das ist für meine Begriffe das Entschei-dende – schafft diese Vorverlegung nicht einmal einemittelfristige Lösung des Problems.
Ich kann hier heute keine Darlegung unserer Vorschlägezur mittel- und langfristigen Sicherung der Finanzender Renten-, der Kranken- und der Pflegeversiche-rung machen; das werden unsere Fachkolleginnen und-kollegen tun.
– Ich könnte es natürlich und würde es auch gerne, wennSie mir die Zeit dazu gäben.Ich möchte nur auf drei Phänomene hinweisen, dieaus meiner Sicht als Finanzpolitiker gegenwärtig die ent-scheidenden Probleme sind: Das ist zum einen die Ver-teilungsentwicklung. Hier wurde gerade gesagt, wirhaben doch wieder Dynamik und wirtschaftliche Ent-wicklung und und und. Dabei wird unterstellt, das täteuns gut. Aber schauen wir uns die Entwicklung docheinmal konkret an: Im Jahr 2004 hatten wir ein Wirt-schaftswachstum von 1,6 Prozent, einen realen Zu-wachs des Sozialproduktes von 58 Milliarden Euro. Vondiesen 58 Milliarden Euro sind 55 Milliarden Euro in dieSteigerung der Einkommen aus Unternehmertätigkeitund Vermögen geflossen, aber nur 3 Milliarden, sprich:5 Prozent des gesamten Zuwachses, sind bei den Arbeit-nehmereinkommen gelandet.
2005 hatten wir einen Zuwachs des Sozialprodukts um0,9 Prozent; es ist um 26 Milliarden Euro gestiegen. DerZuwachs der Einkommen aus Unternehmertätigkeit undVermögen betrug 32 Milliarden Euro. Demgegenübersind die Arbeitnehmereinkommen um 6 Milliarden Eurozurückgegangen. Der Jahreswirtschaftsbericht – heuteMorgen ist es schon diskutiert worden – prognostiziertfür das gegenwärtige Jahr noch einmal so etwas.Wenn man bei einem sozialen Sicherungssystem, dasan der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmerangelehnt ist, nichts gegen diese ständige weitereUmverteilung zugunsten von Gewinnen unternimmt,dann nutzt einem Wachstum überhaupt nichts, dann wer-den die sozialen Sicherungssysteme weiter Defizite ha-ben.
Zweitens – auch das habe ich an dieser Stelle schoneinmal gesagt –: Massenarbeitslosigkeit, vor allemständig steigende Massenarbeitslosigkeit, verursacht fürdie sozialen Sicherungssysteme ungeheure Kosten.4,8 Millionen registrierte Arbeitslose bedeuten für diesozialen Sicherungssysteme jährliche Beitragsausfällevon über 27 Milliarden Euro. Schon eine Halbierung derArbeitslosigkeit entsprechend unseren Vorschlägenwürde den sozialen Sicherungssystemen ein erheblichesMehr bringen, und zwar dauerhaft.Drittens. Nach wie vor haben wir eine ständigeUmschichtung von sozialversicherungspflichtigerBeschäftigung zu Minijobs bzw. 400-Euro-Jobs.Diese Umschichtung, das ist völlig klar, führt dazu, dassdie Einnahmeverluste weiter wachsen. Anders wäre es,wenn wir mehr sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung bekämen.Deswegen bestehen wir darauf: Nur eine grundlegendanders angelegte Wirtschafts-, Finanz- und Arbeits-marktpolitik kann die sozialen Sicherungssysteme
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Dr. Axel Troostheilen, kann versuchen, hier Abhilfe zu schaffen. Ichweiß, Sie sagen jetzt wie immer: Das ist ein Zurück indie 70er-Jahre. – In gewisser Weise haben Sie Recht:Wir kritisieren nämlich seit 30 Jahren die Politik, die inverschiedensten Konstellationen hier im Haus praktiziertworden ist und letztlich mit jeder Koalition zu immerhöherer Arbeitslosigkeit, immer höheren Schulden, mehrUmverteilung und letztlich unsicheren sozialen Siche-rungssystemen geführt hat. Deswegen sagen wir hier imHause, aber auch draußen bei den Menschen: Wir brau-chen eine andere Politik, eine Politik für mehr Arbeitund soziale Gerechtigkeit.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gregor Amann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Im vorliegenden Antrag wird – wie das HerrDr. Kolb auch in seiner Rede getan hat – ein düsteresHorrorszenario gemalt:
Es werden „schwere gesamtwirtschaftliche Schäden“und „Tausende von Insolvenzen“ vorausgesagt. Es istdie Rede von „einem Investitionsrückgang“ und einem„weiteren Abbau der sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigung“. Am Ende warnen die Antragsteller sogarvor einem „verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriffin das Eigentum des Unternehmers“.
Man könnte fast glauben, der Bundestag hätte eineEnteignung aller privaten Unternehmen oder nochSchlimmeres beschlossen. Mitnichten! In Wirklichkeitgeht es im vorliegenden Antrag lediglich um die Vorver-legung des Fälligkeitstermins der von den Unternehmenabzuführenden Sozialabgaben um etwa zwei Wochen.
Das ist eine Maßnahme, für die es gute Gründe gibt, dieich im Folgenden erläutern möchte.In der Vergangenheit wurde den Unternehmern beider Zahlung der Sozialabgaben ein großzügiges Zah-lungsziel eingeräumt, das angesichts der modernentechnischen Möglichkeiten bei der Datenverarbeitungund beim Zahlungsverkehr heute nicht mehr erforderlichund auch nicht mehr gerechtfertigt ist. Wenn die Sozial-beiträge bisher überwiegend erst zum 15. des Folgemo-nats überwiesen wurden, so war diese Regelung eineüberholte Praxis aus der Zeit, als die Löhne noch bar inder Lohntüte ausgezahlt wurden. Auf dem Stand der da-maligen Technik war es nicht möglich, Löhne, Gehälterund Sozialversicherungsbeiträge zeitnah zu berechnen,auszuzahlen und zu überweisen. Heute ist das anders.
Natürlich führt die beschlossene Umstellung zu einervorübergehenden, aber in ihren Ausmaßen noch erträgli-chen Belastung der Unternehmen. Dieser Belastungstehen zwei Vorteile gegenüber, von denen auch, abernicht nur die Unternehmen profitieren:
Erstens wird es zu Verwaltungsvereinfachung und Bü-rokratieabbau beitragen – das werde ich Ihnen gleichnäher erklären –, zweitens wird es im Jahr 2006 zu einerimmensen Liquiditätsverbesserung bei den Sozialkas-sen in Höhe von etwa 20 Milliarden Euro führen, wovonallein auf die Rentenkasse etwa 9 Milliarden Euro ent-fallen.Mit dem im letzten Jahr ebenfalls beschlossenen voll-automatisierten Melde- und Beitragsverfahren in derSozialversicherung werden zum 1. Januar 2006 die Ar-beitsabläufe beschleunigt und vereinfacht. Mit der Vor-verlegung des Zahlungstermins der Sozialabgaben wirddieses moderne Verfahren konsequent weiterentwickelt.Durch das neue Verfahren wird eine Reihe unter-schiedlicher Einzahlungs-, Buchungs- und Überwei-sungsvorgänge gebündelt und damit kostengünstiger ge-macht. Während das bisherige Verfahren in der Praxisoft zu drei bis vier Beitragsabrechnungen in einem Mo-nat führte, insbesondere bei Unternehmen, in denen dieausgezahlten Gehälter stark schwanken, entfallen zu-künftig Stornierungen, Korrekturen und das Ausfüllenaufwändiger Korrekturbögen, wie sie bisher im Rahmendes Beitragsverfahrens notwendig waren. Dadurch, dassdie Differenz zwischen der Vorausschätzung am Mo-natsende und dem später errechneten Istwert jetzt derFälligkeit des laufenden Monats zugerechnet wird, gibtes ab 2006 nur noch zwölf Beitragsabrechnungen imJahr. Wenn also im vorliegenden Antrag von neuem Bü-rokratieaufwand und neu entstehenden Kosten für Büro-kratie gesprochen wird, dann ist die Wahrheit vielmehr:Es werden Bürokratie und Verwaltungsaufwand abge-baut.
Davon profitieren übrigens auch die Krankenkassen,die den Beitragseinzug für die gesamte Sozialversiche-rung durchführen. Denn künftig müssen sie nur nocheinmal im Monat die Weiterleitung der Beiträge an dieRenten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung veranlas-sen. Die Zahl der Abrechnungstermine wird von 24 aufzwölf reduziert. Das hilft natürlich bei der Stabilisierungder Verwaltungskosten der Kassen.Nun aber zum Thema finanzielle Belastung derUnternehmen. Selbstverständlich bedeutet jede Vorver-legung des Fälligkeitstermins einer Zahlung für den Be-troffenen erst einmal den Entzug liquider Mittel undstellt somit eine finanzielle Belastung dar.
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Gregor AmannWenn wir aber einmal objektiv betrachten, um was eshier geht, dann müssen wir feststellen: Der bisherigeFälligkeitstermin hinsichtlich der Sozialabgaben bedeu-tete für die Unternehmen schlichtweg einen zinslosenKredit auf Kosten der Sozialversicherungen.
Man könnte hier sogar das in der FDP ansonsten so ver-pönte Wort „Subvention“ gebrauchen.
Die Praxis des zinslosen Kredits der Sozialversicherun-gen an die Unternehmen zu beenden und so die Liquidi-tät der Sozialversicherung 2006 um einen zweistelligenMilliardenbetrag zu erhöhen, ist nicht nur sinnvoll undnotwendig, sondern angesichts der schwierigen Kassen-lage unserer Sozialversicherungen auch sozial gerecht.
Die FDP ruft doch sonst immer nach Subventionsabbau.Warum verlässt Sie denn plötzlich der Mut, wenn Sie ei-ner nicht mehr zeitgemäßen Subvention so unvermitteltAuge in Auge gegenüberstehen?
Im Übrigen wissen Sie genau – Herr Dr. Kolb, Sie ha-ben es selber erwähnt –, dass es gerade für Unterneh-men, deren Finanzrahmen besonders eng ist, wie dashäufig im Mittelstand der Fall ist, eine großzügige Über-gangsregelung gibt, nach der es möglich ist, die Bei-träge für den Monat Januar 2006 auf die Monate Februarbis Juli 2006 zu verteilen.
Nutzt ein Unternehmen diese Übergangsregelung, führtdie Streckung der Zahlung der Beiträge sogar zu einempositiven Stundungseffekt, durch den die Liquidität desUnternehmens gestärkt wird.Die Alternativen zu diesem bereits beschlossenen Ge-setz wären entweder weitere Beitragssatzerhöhungen beiden Sozialversicherungen oder Rentenkürzungen gewe-sen. Wir haben in der Koalition beschlossen, dass Ren-tenkürzungen mit uns nicht zu machen sind; denn Ar-beitnehmer und Rentner haben in den letzten Jahrenbereits ihren Anteil zur Stabilisierung der Sozialversi-cherungssysteme geleistet.Bezüglich der Beitragssatzerhöhungen brauche ichder FDP doch hoffentlich nicht die Bedeutung der Lohn-nebenkosten für den Wirtschaftsstandort Deutschland zuerklären.
Natürlich wäre es für die Unternehmen deutlich kost-spieliger, wenn die durch die Vorverlegung der Fällig-keitstermine gewonnene zusätzliche Liquidität derSozialversicherungen durch Beitragssatzsteigerungenrealisiert werden müsste. Das beschlossene Verfahren istalso sowohl für die Beitragszahler als auch für die Ar-beitgeber die sozial gerechtere und wirtschaftlich sinn-vollere Alternative.Sie fordern im vorliegenden Antrag, auf die Vorverle-gung des Termins für die Fälligkeit der Sozialabgaben zuverzichten und stattdessen – ich zitiere – „die Defiziteder Rentenversicherung durch strukturelle Reformen inder Rentenversicherung und eine wachstumsorientierteWirtschaftspolitik zu beseitigen“.
Herr Kollege Amann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Wir sollten das eine tun,
ohne das andere zu lassen.
Diese Koalition hat bereits strukturelle Reformen in
der Rentenversicherung beschlossen und sie betreibt
eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, wie das in
Genshagen beschlossene Investitionsprogramm in Höhe
von 25 Milliarden Euro beweist. Im Gegensatz zu Ihnen
haben wir aber auch den Mut, nicht mehr zeitgemäße
Subventionen zu streichen, den Sozialkassen so drin-
gend benötigte Liquidität zuzuführen und damit deren
Finanzsituation zu stabilisieren. Das ist sozial gerecht
und stärkt langfristig die Wirtschaftskraft unseres Lan-
des.
Herr Kollege Amann, ich darf Ihnen im Namen des
ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bun-
destag gratulieren.
Deshalb habe ich bei der Redezeit beide Augen zuge-
drückt.
Jetzt hat der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eshandelt sich hier wieder einmal um einen typischenFDP-Antrag:
große Töne und viel Lamento. Wenn man dann nach Lö-sungsvorschlägen und Alternativen sucht, wird man aufein jämmerliches Blatt Papier verwiesen, auf dem keinWort zu den Alternativen zum Vorziehen des Terminsder Fälligkeit von Sozialabgaben steht.
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Markus Kurth
Man muss wissen, dass es sich hier um einen Gesetz-entwurf handelt, den die damalige rot-grüne Bundesre-gierung eingebracht hat.
Die Alternative zum Ausgleich der konjunkturbedingtenMindereinnahmen der Sozialversicherungen, insbeson-dere in der gesetzlichen Rentenversicherung, wäre eineErhöhung des Beitragssatzes um 0,5 Prozentpunktegewesen.
Wir wissen, was das bedeutet hätte: nicht nur einenAnstieg der Arbeitskosten und einen gewissen Kauf-kraftentzug, sondern überdies – das hat die Sachverstän-digenanhörung ergeben – fiskalische Effekte von mehrals 2 Milliarden Euro. Hören Sie gut zu, meine Damenund Herren von der großen Koalition! Jede Steigerungdes Beitragssatzes um einen zehntel Prozentpunkt in derSozialversicherung ergibt einen zusätzlichen fiskali-schen Effekt, weil die Unternehmen die Sozialversiche-rungsabgaben als Betriebsausgaben absetzen können.Dadurch sinken die Steuereinnahmen. Im Rahmen dergesetzlichen Rentenversicherung muss der Bundeszu-schuss automatisch ansteigen, weil das entsprechendfestgelegt ist. Professor Rürup hat uns dargelegt, dassjede Erhöhung des Beitragssatzes um einen zehntel Pro-zentpunkt neben den üblichen Folgen des Anstiegs derSozialversicherungsbeiträge zu einem fiskalischen Ef-fekt in Höhe von 400 Millionen Euro führt. Die Erhö-hung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversi-cherung um 0,4 Prozentpunkte, die am 1. Januar 2007wirksam werden soll, kostet den Bundeshaushalt also1,6 Milliarden Euro. Insofern haben Sie von der SPD– Sie von der Union ohnehin – den Pfad der Tugend, denwir damals in der rot-grünen Koalition eingeschlagenhaben, leider verlassen.
Ohne für das Vorziehen des Fälligkeitstermins einenSchönheitspreis zu beanspruchen: Wir haben diesen Wegbeschritten, um auch über das Jahr 2006 hinaus die Per-spektive stabiler Beitragssätze in der gesetzlichen Ren-tenversicherung zu geben. Das ist der entscheidende Un-terschied.
Zudem wollen Sie zum 1. Januar 2007 die Mehr-wertsteuer erhöhen, was einen weiteren Kaufkraftent-zug bedeutet. Das wird durch die von Ihnen viel geprie-sene Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitragsnicht ausgeglichen. Überdies muss man wissen, dass Siedie gesetzliche Rentenversicherung zusätzlich inSchwierigkeiten bringen, da in Zukunft 2 MilliardenEuro an Rentenversicherungsbeiträgen fehlen werden,die bislang von den Arbeitslosengeld-II-Beziehern andie gesetzliche Rentenversicherung abgeführt werden.
Sie setzen die Sozialversicherung weiter unter Druck,indem Sie angekündigt haben, die Steuermittel im Be-reich der gesetzlichen Krankenversicherung zurückzu-fahren. Die Versuche von Rot-Grün, die Sozialversiche-rung durch einen höheren Steuerfinanzierungsanteilkonjunkturunabhängiger zu machen – das waren unsereStrukturveränderungen, Herr Kolb –, werden konterka-riert und zurückgenommen, kaum dass sie ihre eigentli-che Wirkung haben entfalten können. Das ist ein wirk-lich schwerer Fehler, den man im Zusammenhang mitdiesem Antrag einmal nennen muss.
Ich möchte an dieser Stelle noch kurz zu der von Ih-nen vorgeschlagenen Lösung kommen, den Struktur-veränderungen. Sie erklären lapidar, man könne sichdie Vorverlagerung des Fälligkeitstermins durch Struk-turveränderungen ersparen.
Das finde ich ganz besonders unseriös. Sie wissen ganzgenau, dass ehrliche Strukturveränderungen, und zwarsolche, wie wir sie etwa mit dem Nachhaltigkeitsfaktoreingeführt haben, also Veränderungen in der Rentenfor-mel, langfristig wirken. Sie sind vollkommen untaug-lich, um ein kurzfristiges Finanzierungsloch – in diesemFall in Höhe von knapp 10 Milliarden Euro – zu stopfen.Das heißt, das kann gar nicht funktionieren. Selbst wennwir heute beschließen würden, das gesetzliche Renten-eintrittsalter ab dem 1. Januar 2007 auf 67 Jahre festzu-legen, hätten wir in der Sozialversicherung einen kon-junkturbedingten Einnahmeausfall. Das müssten Siedoch eigentlich wissen.Uns an dieser Stelle vorzuwerfen, wir hätten hierkeine Strukturveränderungen vorgenommen, zeugt schonvon einem erheblichen Maß an Blindheit. Wenn es indiesem Bereich eine Dynamik gab und ein politischerErfolg zu verzeichnen war, dann in den vergangenen sie-ben Jahren. Wir wären auf diesem Weg auch weiterge-gangen. Ich nenne hier nur als Stichworte Ökosteuer,Riestertreppe und Nachhaltigkeitsfaktor. Damit habenwir verhindert, dass der Beitragssatz in der gesetzlichenRentenversicherung heute bei 22,5 oder gar bei23 Prozent liegt; denn das wäre die Konsequenz gewe-sen.
Deswegen, Herr Kolb, gibt es in der Opposition – zumalin diesem Fall – keine Koalition.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 973
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Markus KurthIch hätte eigentlich erwartet, dass Ihre Erfahrung,jetzt wieder auf der Oppositionsbank zu sitzen, Sie etwasgeläutert hätte.
Von Ihnen, liebe ehemaligen Kollegen aus der Koalition,hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich an die Tugendenerinnert hätten, die unsere Arbeit in den vergangenensieben Jahren relativ erfolgreich gemacht haben.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Um eine Bemerkung des Kollegen Kurth aufzugreifen:
Mit dem Vorziehen des Termins der Fälligkeit von So-
zialabgaben kann man wahrscheinlich keinen politischen
Schönheitspreis gewinnen. Das ist wahr.
Wenn man aber jetzt in einem Antrag fordert, auf die-
ses Vorhaben zu verzichten, Herr Kolb,
dann muss man auch Alternativen benennen. Sie aber
haben in Ihrem Antrag wie auch in Ihrer Rede keine ein-
zige Alternative genannt.
Wer kurzfristig handeln will, hat drei Alternativen.
Die erste Alternative besteht darin, die Renten zu kür-
zen. Sie haben nichts dazu gesagt, ob Sie die Renten kür-
zen wollen.
Die zweite Alternative ist, sofort – möglichst schon zum
1. Januar dieses Jahres – den Rentenversicherungsbei-
trag anzuheben,
ohne dass an anderer Stelle ein Ausgleich geschaffen
wird. Zu dieser Alternative haben Sie sich aber auch
nicht erklärt. Die dritte Alternative wäre, den Bundeszu-
schuss kräftig zu erhöhen.
Auch das haben Sie nicht vorgeschlagen.
Interessanterweise haben Sie noch vor einem halben
Jahr ein bisschen mehr Mut gehabt, Herr Kolb. Im Juni
war in der Presse zu lesen: Herr Kolb schlägt als Alter-
native vor, einen Teil der Sozialabgaben vorzeitig auszu-
zahlen.
Das wäre doch noch bürokratischer als die derzeitige Re-
gelung. Des Weiteren haben Sie die Anhebung des Ren-
tenversicherungsbeitrags zum 1. Januar 2006 vorge-
schlagen.
– Entschuldigung, aber das würde die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer wie auch die Unternehmen finan-
ziell noch stärker belasten als die jetzige Regelung.
Bevor Sie Ihre Zwischenfrage stellen, Herr Kolb,
möchte ich noch feststellen: Wer nach Ihren heutigen
Ausführungen und Ihren Andeutungen im vergangenen
Jahr glaubt, der deutsche Mittelstand habe in der FDP ei-
nen besonderen Fürsprecher, der irrt gewaltig.
Ich gehe davon aus, dass Sie diese Zwischenfrage zu-
lassen, Herr Kollege Weiß. – Bitte schön, Herr Kolb.
Herr Kollege Weiß, in wem der Mittelstand seinenFürsprecher sieht, lassen wir ihn am besten selbst ent-scheiden.
Sind Sie bereit, einzuräumen, dass auch nach Aussa-gen der damaligen Bundesregierung eigentlich nur5 Milliarden Euro für 2006 in der Rentenkasse gefehlthätten und dass Sie damals im Bundesrat durchgewinkthaben, dass stattdessen 20 Milliarden Euro eingenom-men werden?Meine zweite Frage ist: Sind Sie bereit, mir zu erklä-ren, worin aus Ihrer Sicht der Unterschied zwischen ei-ner Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zum1. Januar 2006 und einer Erhöhung der Rentenversiche-rungsbeiträge zum 1. Januar 2007 besteht? Das Volumenwäre doch in etwa gleich gewesen. Inwiefern ist das einegut und das andere schlecht?
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Dr. Heinrich L. Kolb
Herr Kollege Kolb, zum Ersten: Wenn es wirklich derpolitische Wille der FDP gewesen wäre, dass der Ren-tenversicherungsbeitrag zum 1. Januar 2006 um mindes-tens 0,5 Prozentpunkte erhöht wird, dann hätte ich mirgewünscht, dass das auf allen Wahlplakaten gestandenhätte
und ein zentrales Thema in den FDP-Wahlkampfredengewesen wäre.
Zum Zweiten: Die Wirkung wäre gewesen, dass be-reits in diesem Jahr – ohne dass es zu einer Entlastungder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Be-triebe in unserem Land gekommen wäre – der erhöhteRentenversicherungsbeitrag hätte aufgebracht werdenmüssen.
Vorhaben der großen Koalition ist es, den Rentenver-sicherungsbeitrag zum 1. Januar 2007 auf 19,9 Prozentanzuheben, gleichzeitig aber eine massive Entlastungder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Be-triebe beim Arbeitslosenversicherungsbeitrag vorzuneh-men. Das ist schon ein gewaltiger Unterschied.Herr Kolb, ich sage Ihnen klar und deutlich: Sie ha-ben uns und der Öffentlichkeit in Ihrer Rede bewusst dieAlternativen verschwiegen, die deutlich machen, waswir machen sollen, wenn die Sozialabgaben nicht vor-zeitig einkassiert werden. Eine Antwort darauf bleibenSie auch in dem vorliegenden Antrag schuldig. Daszeigt, dass Sie keine Alternativen haben. Wir könnenden Antrag der FDP eigentlich nicht behandeln, weilkeine Alternativen aufgezeigt werden.
Zu Recht fordert die FDP Strukturreformen in der Ren-tenversicherung. Aber in ihrem Antrag ist keine einzigeStrukturreform benannt.Die gute Nachricht ist, dass sich die große Koalitiontrotz aller unterschiedlicher Vorstellungen, die bei SPDund CDU/CSU bestanden und sicherlich weiter beste-hen, ein Programm in Sachen Rente gegeben hat, mitdem die großen Strukturreformen wirklich angegangenwerden.
Ich wiederhole: Erstens. Wir erhöhen den Rentenbei-trag 2007 genau dann, wenn wir die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer sowie die Unternehmen bei der Bei-tragszahlung an die Arbeitslosenversicherung entlasten.Zweitens. Mit uns gibt es – das wird gesetzlich abge-sichert – keine Rentenkürzungen.
Gleichzeitig werden wir in den Jahren, in denen einebessere Lohnentwicklung Rentenerhöhungen ermög-lichte, den Rentenanstieg durch einen entsprechendenNachholfaktor dämpfen.
Drittens. Wir diskutieren in Deutschland schon seitJahren über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters.Wir haben uns nun entschieden – das ist schon jetzt einegroße Leistung der großen Koalition –, das gesetzlicheRenteneintrittsalter ab 2012 allmählich auf 67 Jahre an-zuheben.
Dass das gerechtfertigt ist, erkennt man, wenn man zurKenntnis nimmt, dass sich die durchschnittliche Renten-bezugsdauer von 1960 bis heute um 70 Prozent verlän-gert hat. Ich finde, es ist gut, dass wir uns entschlossenhaben, endlich zu handeln; denn wir können vor der de-mographischen Entwicklung und ihren Herausforderun-gen nicht länger den Kopf in den Sand stecken. Diegroße Koalition hat die Wahrheit akzeptiert und handeltentsprechend. Herr Kolb hingegen hat sich noch vor ei-nem halben Jahr bei seinen großen rentenpolitischenÄußerungen, die ich vorhin zitiert habe, gegen eine He-raufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ausge-sprochen.Viertens. Weil die gesetzliche Rente – das ist vor allenDingen für die jugendlichen Zuhörerinnen und Zuhörerwichtig – den künftigen Rentnerinnen und Rentnernnicht mehr das bringen wird, was sie für die heutigenRentnerinnen und Rentner leistet, muss die privateAltersvorsorge als ergänzende Säule attraktiver ge-macht und konsequent ausgebaut werden. Hierzu hat diegroße Koalition zwei – wie ich finde: bemerkenswerte –Festlegungen getroffen. Ich persönlich halte es für einesder wichtigsten Vorhaben, das private Wohneigentum indie Riester-Förderung einzubeziehen. Das werden wirtun. Mietfreies Wohnen im Alter verringert die Gefahrder Altersarmut entscheidend. Deshalb ist es richtig undsinnvoll, dass wir auch diese Anlageform gleichberech-tigt in die geförderte Altersvorsorge integrieren. Laut ei-ner heute veröffentlichten Umfrage – das ist in derPresse nachzulesen – denken 63 Prozent der Bürgerin-nen und Bürger in unserem Land beim Thema privateAltersvorsorge als Allererstes an privates Wohneigen-tum. Daraus sollten wir politisch die entsprechendenKonsequenzen ziehen. Um die Attraktivität der privatenAltersvorsorge darüber hinaus weiter zu verbessern undum Familien mit Kindern besonders zu fördern, werden
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Peter Weiß
wir die Kinderzulage in der Riester-Rente auf 300 Eurojährlich erhöhen.Die Gestaltung einer sicheren und verlässlichen Al-tersversorgung ist die große soziale Frage der kommen-den Jahre. Die Menschen erwarten von uns ehrliche Ant-worten. Die Methode „Augen zu und durch“ wird unsnirgendwohin führen. Deshalb wird diese Koalition kon-sequent handeln und die notwendigen Strukturreformenfür die Altersversorgung in Angriff nehmen. In diesemPunkt entsprechen wir voll und ganz dem Antrag derFDP. Leider bleiben Sie uns die Antworten schuldig,während wir sie klar und eindeutig geben.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Anton Schaaf von der SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kolb, Sie haben Herrn Kollegen Straubinger aufge-
fordert, in dieser Debatte zu gestehen, dass die Union
ihre Unschuld verloren habe.
Das will ich jetzt nicht weiter ausbreiten. Aber gestehen
Sie doch bitte Ihre Schuld für den Zustand der sozialen
Sicherungssysteme vor dem Jahr 1998 ein.
Gestehen Sie doch Ihre Schuld dafür ein, dass fünf
Mehrwertsteuererhöhungen mit Ihrer Beteiligung statt-
gefunden haben.
Wenn Sie über den Entzug von Kaufkraft reden, dann re-
den Sie bitte auch über Ihre Schuld für solche Maßnah-
men. Es würde zur Ehrlichkeit, die Sie von der Gegen-
seite fordern, beitragen, wenn Sie die Schuld für das
eingestehen würden, was Sie in den Jahrzehnten Ihrer
Regierungsbeteiligung ignoriert haben.
Ich weise auf Folgendes hin: Aus meiner Sicht hat man
nicht oder sogar falsch gehandelt, um die sozialen Siche-
rungssysteme sturmreif zu schießen und anschließend
sagen zu können: Lasst uns die Individualisierung der
Lebensrisiken vorantreiben! Lasst die Menschen selber
vorsorgen; denn die Systeme funktionieren ja nicht. –
Das ist der Zusammenhang, den ich in Ihrer Argumenta-
tion, die Sie heute hier geliefert haben, erkennen kann.
Herr Kollege Schaaf, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kolb?
Selbstverständlich, gerne.
Bitte, Herr Kolb.
Herr Kollege Schaaf, wären Sie bereit, zuzugeben,
dass die Schwankungsreserve der Rentenversicherung
1998 bei etwa 12 Milliarden Euro lag, dass Sie zwi-
schenzeitlich eine Ökosteuer mit einem Volumen von
17 Milliarden Euro eingeführt haben, dass Sie die Bei-
tragsbemessungsgrenze genauso wie die Rentenversi-
cherungsbeiträge seit 1998 angehoben haben, dass Sie
die Erlöse aus dem Verkauf der GAGFAH in Höhe von
rund 2,1 Milliarden Euro für die Liquidität der Renten-
kasse verwendet haben,
und wären Sie vor diesem Hintergrund bereit, zuzuge-
ben, dass Sie doch offensichtlich ein bisschen schuldiger
sind als die FDP, der Sie etwas in die Schuhe zu schieben
versuchen, wofür sie wirklich nicht verantwortlich ist?
Ich gestehe Ihnen sicherlich das eine oder andere zu.Vor allen Dingen gestehe ich Ihnen zu, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die versucht hat, geradewas die Rente angeht, Stabilität herzustellen und Struk-turen zu verändern.
Sie waren in über 20 Jahren, während Sie in der Regie-rungsverantwortung waren, nicht dazu in der Lage undschreiben jetzt solche Anträge.
Wir haben die zusätzliche private Säule mit derRiester-Rente aufgebaut. Ich gestehe zu, dass man sievereinfachen sollte, damit mehr Menschen daran teilneh-men können. 5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer zahlen mittlerweile in die Riester-Rente ein.Wir haben die Strukturreformen angepackt. Dass unsereMaßnahmen vor dem Hintergrund der Defizite nicht aus-gereicht haben, ist richtig. Es muss aber auch konstatiertwerden, dass Sie trotz Ihrer Kenntnisse der demographi-schen Entwicklung und der Belastungen, die die deut-sche Einheit gebracht hat, keine adäquaten Maßnahmen
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Anton Schaafgetroffen haben. Diese Wahrheit muss bei der renten-politischen Debatte auch einmal ausgesprochen werden.
Wenn Sie in Ihren Antrag als einzige Forderung schrei-ben, dass wir Strukturveränderungen brauchen, dannmüssen Sie auch sagen – da haben Kollege Kurth undandere völlig Recht –, was Sie damit meinen.Wenn wir Ihrem Antrag zustimmen würden, käme dasin erster Linie einer Gruppe zugute, den Großunterneh-men, und zwar durch die so entstehenden Zinsgewinne.
Der Mittelstand wäre nicht der Profiteur. Das muss manausdrücklich sagen.Im Übrigen tun Sie so, als sei das eine enorme zusätz-liche Belastung für die Unternehmen.
Ich sage noch einmal, worum es geht. Eine Fälligkeit,also eine Verpflichtung, die man sowieso hat, wird vor-gezogen. Es wird nichts neu erfunden. Von einer enor-men Belastung der Unternehmen zu reden, halte ich da-her für völlig verfehlt.
Ich erinnere übrigens auch gerne an die Steuer- undAbgabenlast bis 1998. Sie war damals in der Republikauf dem höchsten Stand aller Zeiten. Allein der Renten-versicherungsbeitrag lag bei 20,3 Prozent. Hätten wirnicht gehandelt, wäre er bei 22 Prozent gelandet. Manmuss das einmal so deutlich sagen. Damals trugen Siedie Verantwortung. Die eingeforderten Strukturverände-rungen sind unter Rot-Grün auf den Weg gebracht wor-den. Auch das muss man in aller Deutlichkeit konstatie-ren dürfen.Übrigens bin ich der festen Überzeugung, dass es eherum eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht, HerrKolb. Auch das darf man einmal ehrlich ansprechen. Ichhabe keine Probleme damit, grundsätzliche Unterschiedezu diskutieren. Ihnen geht es darum, dass die sozialen Si-cherungssysteme zunehmend individualisiert werden. Indem Beitrag des Kollegen Brüderle heute Morgen istnoch einmal sehr deutlich geworden, worum es Ihnengeht. Sie verkleistern es immer wieder mit dem Begriff„Freiheit“. Ich gebe gern ein Beispiel: Sie sagen, es seidie Freiheit des Einzelnen, über seinen Arbeitsvertragindividuell zu verhandeln. Ich begreife Freiheit anders:Die Freiheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernist es, ihre Interessen zu bündeln und kollektiv zu vertre-ten. Das erhöht die Freiheit. Ihr Weg schränkt Freiheitein.Die sozialen Sicherungssysteme erhöhen aus meinerSicht die Freiheit des Einzelnen. Was ist das für eineFreiheit, wenn ich permanent Angst vor Altersarmut ha-ben muss, weil meine Biografie auch Arbeitslosigkeitbeinhaltet? Ich frage noch einmal: Inwiefern wird dieFreiheit des Einzelnen dadurch gestärkt? Inwiefern wirddie Freiheit des Einzelnen gestärkt, wenn er nach einerschweren Krankheit Angst haben muss, ein Leben langSchulden zu haben, weil er nur noch individuell undnicht kollektiv abgesichert ist? Unsere Freiheitsbegriffesind unterschiedlich. Ich sage Ihnen: Zu unserem Frei-heitsbegriff gehören ohne Zweifel vernünftige, solidari-sche und auch paritätische Sicherungssysteme für dieMenschen.
Weil es nicht oft genug gesagt werden kann, will ichaufgreifen, was die Konsequenz wäre, wenn wir IhremAntrag zustimmten. Die Kollegen haben es vorhin sehrdeutlich aufgezeigt: Es gibt nur zwei Alternativen. Siehaben diese Alternativen nicht benannt. Ich kritisiere,dass Sie in Bezug auf das, was Sie vertreten, gegenüberden Menschen nicht wirklich Klartext reden. Zum einenverlangen Sie, dass der Bundeszuschuss für die sozialenSicherungssysteme steigt; allein der Bundeszuschuss fürdie Rentenversicherung soll um fast 10 Milliarden Eurosteigen. Zum anderen fordern Sie, dass die Staatsver-schuldung gesenkt wird, dass Staatsabbau betrieben wirdund dass die Maastrichtkriterien eingehalten werden.Wenn Sie wirklich beides wollen, widersprechen Siesich.Sie wollen – da sagen Sie den Menschen ehrlich, wasSie meinen –, dass staatliche Leistungen, zum Beispieldie gesetzliche Rente, gekürzt werden. Ihr Antrag hat al-lein die Interessen Ihrer Klientel im Auge. Zum richtigenZeitpunkt stellen Sie einen Schauantrag, der die Bot-schaft vermittelt: Liebe Klientel, wir, die FDP, sind nochda. Auch wenn die Mehrheitsverhältnisse nicht ausge-reicht haben, uns in Verantwortung zu bringen, sind wirimmer noch eure Interessenvertreter. Nichts anderes be-deutet der von Ihnen hier vorgelegte Antrag.Selbstverständlich haben wir gute inhaltliche Gründe,ihn abzulehnen. Wir haben die Taktik, die hinter der Ein-bringung Ihres Antrags steht, durchschaut. Mein KollegeAmann hat sehr ausführlich begründet – dabei hat erseine Redezeit leicht überschritten –, warum wir diesenAntrag ablehnen. Deswegen beende ich meine Rede50 Sekunden vor Ablauf meiner Redezeit.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/396 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsErste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesDritten Gesetzes zur Änderung des Gentech-nikgesetzes– Drucksache 16/430 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte diejenigen, die dieser Debatte nicht folgenwollen, den Plenarsaal zu verlassen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Dr. Maximilian Lehmer vonder CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Gesetzesvorhaben haben immer zwei Seiten:den Wunsch und die Wirklichkeit. Das mag eine Binsen-weisheit sein; aber in diesem Falle ist sie recht unmittel-bar anzuwenden. Der Wunsch war und ist, dass einebreite Debatte rund um die Gentechnikgesetzgebung ge-führt wird. Wir müssten jetzt einen intensiven Dialog mitallen Beteiligten führen. Dies müsste gründlich und ver-antwortungsvoll erfolgen.
Realität ist aber, dass wir unter zeitlichem Druck stehen,die EU-Vorgaben umzusetzen. Die Vorgängerregierunghat das vor sich hergeschoben; das müssen wir jetzt aus-baden.
– Jawohl; aber wir schaffen das.Zu den Fakten. Am 19. Dezember hat die Kommis-sion Deutschland ultimativ aufgefordert, binnen zweiMonaten die europäische Freisetzungsrichtlinie umzu-setzen. Die Umsetzung dieser Richtlinie, die das Gen-technikrecht auf EU-Ebene verbindlich regelt, ist schonseit mehr als zwei Jahren überfällig. Die Kommissiondrohte an, im Falle der Nichtumsetzung gegen Deutsch-land ein Zwangsgeld zu verhängen. Dieses Zwangsgeldkann bis zu 792 000 Euro am Tag betragen. Außerdemkann es mit einem Pauschalbetrag kombiniert werden,der noch einmal ein Vielfaches dieses Tagessatzes aus-machen könnte.Es war schnell klar, dass wir jetzt keine Zeit für einegroße politische Auseinandersetzung haben, die aber– ich betone – dringend notwendig und unausweichlichist, wenn das Gentechnikrecht politisch umgestaltetwird.
Wir entscheiden uns deshalb für ein zweistufiges Verfah-ren. In einem ersten Schritt konzentrieren wir uns auf dieUmsetzung der Freisetzungsrichtlinie als solche und ineinem zweiten, sich unmittelbar anschließenden Schrittwerden die übrigen Sachfragen und politischen Streit-punkte angegangen.Nun zum ersten Schritt, zur Umsetzung der Freiset-zungsrichtlinie. Der vorliegende Gesetzentwurf geht aufeine Formulierungshilfe der Bundesregierung zurückund ist als Fraktionsinitiative im Bundestag eingebrachtworden. Die EU-Freisetzungsrichtlinie regelt die Frei-setzung zu Erprobungs- und Forschungszwecken ebensowie das Inverkehrbringen von gentechnisch verändertenOrganismen. Ein großer Teil der Regelungen der Richtli-nie wurde bereits mit dem Gesetz zur Neuordnung desGentechnikrechts umgesetzt. Nunmehr erfolgt die Um-setzung des noch ausstehenden Teils, und zwar konse-quent nach dem Grundsatz einer Eins-zu-eins-Umset-zung.
Was ist nun der Inhalt dieses Gesetzentwurfs? DerGesetzentwurf betrifft überwiegend Form- und Ver-fahrensvorschriften. Geregelt wird der Inhalt derAntragsunterlagen, zum Beispiel in Bezug auf die Um-weltverträglichkeitsprüfung, die Vorlage eines Beobach-tungsplans, die Zusammenfassung der Akte, die Nach-forderung von Unterlagen und die Bezugnahme aufUnterlagen Dritter. Geregelt werden ferner die Bearbei-tungsfristen bis zur Entscheidung bzw. bis zur Erstellungeines Bewertungsberichtes, die Öffentlichkeitsbeteili-gung – ein wichtiger Punkt – und die Unterrichtung derÖffentlichkeit über die Überwachungsmaßnahmen.So weit die Erläuterungen zum ersten Schritt der not-wendigen Anpassung an die EU-Regelungen.
Lassen Sie mich nun noch einige Aussagen zur weite-ren Gesetzgebung machen. Wegen der gebotenen Eilekonnten in dem vorliegenden Entwurf die Anliegen desBundesrats, die er schon in der letzten Legislaturperiodemit Nachdruck verfolgt hatte, noch nicht berücksichtigtwerden. In einem zweiten, unmittelbar folgenden Schrittsollen diese Fragen aufgegriffen werden. Im Wesentli-chen betrifft dies sehr wichtige Punkte, nämlich dieFrage der Haftungsregelung und die Möglichkeit einesAusgleichsfonds, die Definition der guten fachlichenPraxis, das Auskreuzen aus experimentellen Freisetzun-gen und die Definition des Inverkehrbringens sowie zu-sätzliche Verfahrenserleichterungen.Ziel ist, umgehend einen Gesetzentwurf zu diesenFragen vorzulegen. Er sollte so rechtzeitig verabschiedet
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978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006
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Dr. Max Lehmerwerden – das ist unsere Absicht –, dass die geändertenRegelungen ihre Wirkung zur Anbauperiode 2006/07entfalten können.
Ich bin davon überzeugt, dass es zu unserer zweistufi-gen Vorgehensweise keine Alternative gibt. Die Abwen-dung des Zwangsgeldes ist eine dringende Aufgabe.Bitte helfen Sie dabei mit, dass das Gesetzgebungsver-fahren möglichst zügig durchgeführt werden kann undunserem Land das Zwangsgeld erspart bleibt!
Nun zu den wichtigen Zielen beim weiteren Vorge-hen. Es ist uns bewusst, dass die Anwendung der Gen-technik in der Landwirtschaft und der Ernährungs-wirtschaft auf Vorbehalte, ja teilweise auf Ablehnungstößt. Diese Bedenken unserer Bürger müssen und wol-len wir sehr ernst nehmen.
Bei den Gesprächen mit den Bürgern ist immer wiederfestzustellen, dass viele Vorbehalte auf fehlender oderunzureichender Information und Aufklärung beruhen.Leider gibt es viele in unserem Lande, die – das sage ichausdrücklich – bewusst oder unbewusst Unsicherheitund Angst verbreiten.
Verantwortliche Politik verlangt aber wissenschaftlichfundierte und ideologiefreie Information, insbesondereim Hinblick auf moderne, innovative Zukunftstechnolo-gien.
Bedauerlicherweise ist in der Vergangenheit fast aus-schließlich von Risiken der Gentechnik gesprochen wor-den. Die enormen Vorzüge und Chancen dieser innovati-ven Technologie wurden dagegen leider auch vonVertretern der Vorgängerregierung systematisch negiert;so habe ich es empfunden.
Dabei liegen ausreichend wissenschaftlich fundierte Er-kenntnisse für die sichere Anwendung auch im Lebens-mittelbereich vor. Ich weise in diesem Zusammenhangauf die aktuellen Berichte der bundeseigenen Einrichtun-gen wie BfR oder BVL und internationaler Einrichtun-gen wie WHO oder FAO hin. Auf diese Erkenntnissewird bei der anstehenden Diskussion zum zweiten Ge-setzesschritt sicher noch intensiv einzugehen sein.Alle künftigen Regelungen im Gentechnikgesetzmüssen klare Aussagen bringen, und zwar erstens zumSchutz von Mensch und Umwelt – ich denke, dieserPunkt hat oberste Priorität –,
zweitens zur fairen Koexistenz aller Anbauverfahren aufdem Acker, drittens zur Wahlfreiheit für den Verbrau-cher und nicht zuletzt viertens zu verlässlichen Rahmen-bedingungen für die innovative Forschung und den ge-samten Investitionsbereich.Neuere Forschungsansätze wie die Arbeit an Pflanzenfür die verbesserte Nährstoffzusammensetzung, die ge-steigerte Krankheits- und Schädlingsresistenz und dieOptimierung als nachwachsende Rohstoffe – ein, wie ichdenke, ganz aktuelles Thema – sind sehr erfolgverspre-chend und zeigen überzeugende Ergebnisse. Von vielenWissenschaftlern und Wirtschaftsexperten wird die Bio-technologie deshalb übereinstimmend als Schlüsseltech-nologie für die nächsten Jahrzehnte bezeichnet.
Viele Pflanzenzüchter, Landwirte und Verbraucherweltweit nutzen bereits die Vorzüge der Pflanzenbio-technologie. So werden derzeit bereits über 80 MillionenHektar gentechnisch bearbeitete Pflanzen angebaut. Ge-rade in Entwicklungsländern – ich verweise auf den ak-tuellen FAO-Bericht, der das ganz deutlich ausweist –hat der Einsatz der Gentechnik den Menschen wertvolleHilfe geleistet. Sowohl Anbauer wie Verbraucher nutzendamit den biologischen und ökonomischen Vorteil diesermodernen Technologie.Innovative Anbaumethoden auf Basis der Gentechniksind jedoch nicht nur von ökonomischem Nutzen, son-dern zeigen auch sehr positive Umwelteffekte: die Ein-sparung von Treibstoffen, die Reduzierung von Boden-erosion, die Verringerung des Landverbrauchs
und die Verringerung des Pflanzenschutzmitteleinsat-zes, um nur einige wichtige zu nennen.
Bereits diese kurze Darstellung zeigt, dass in der Nut-zung der grünen Gentechnik für alle Beteiligten großeChancen stecken. Mit dem jetzt zu schaffenden gesetzli-chen Regelwerk sind diese auch erfolgreich zu nutzen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Herr Lehmer, das war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Dafür bedanken wir uns herzlich und wünschen
Ihnen weiterhin Erfolg.
Ich gebe das Wort Dr. Christel Happach-Kasan von
der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich, heute zu Ihnen zu sprechen. Ich möchte
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 979
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Dr. Christel Happach-Kasandem Kollegen Lehmer zu seiner ersten Rede hier gratu-lieren, in der er sehr überzeugend und sachlich kompe-tent über die Vorzüge der grünen Gentechnik gesprochenhat.
Herr Kollege Lehmer, ich sehe Sie als einen Verbünde-ten dabei an, diese Bundesregierung und diese große Ko-alition anzutreiben, den Worten tatsächlich Taten folgenzu lassen. Ich nehme Sie als Kronzeugen; denn auch Siewollen eine weitere Novellierung des Gentechnikgeset-zes. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit – indiesem Fall mit der Regierung.
Liebe Kollegin Drobinski-Weiß, ich bin ein bisschenerschüttert darüber, dass die SPD-Fraktion das ThemaAbwendung von Zwangszahlungen gar nicht auf ihrerTagesordnung hat. Sie haben Ihrem Koalitionskollegenvorhin keinen Beifall gezollt, obwohl die SPD mitver-antwortlich dafür ist, dass die Bundesregierung in dieseschwierige Situation gekommen ist. Ich finde dieses Ver-halten ausgesprochen schade und hoffe, dass es noch einbisschen mehr Einsatz für die Abwendung von Zwangs-zahlungen gibt, damit Minister Steinbrück nicht unnö-tige Geldausgaben tätigen muss.
Ich will ausdrücklich sagen, dass der Einstand vonMinister Seehofer gut gewesen ist. Das Bundessorten-amt hat erstmals den Anbau und Vertrieb von drei gen-technisch veränderten Pflanzensorten erlaubt. Damit istder Minister – es ist schade, dass er heute nicht anwe-send ist – zu einer Politik der Rechtsstaatlichkeit zurück-gekehrt. Das verdient zwar kein Lob, weil es selbstver-ständlich ist, aber es verdient Anerkennung, weil eseinen Bruch mit dem Verhalten der Vorgängerregierungbedeutet. Deutschland ist keine Bananenrepublik.
– Vielen Dank für den Beifall von der SPD. Sie haben eserkannt.Deutschland läuft Gefahr, ab dem 19. Februar zurZahlung von Strafgeldern verpflichtet zu werden. Das isteine Altlast der rot-grünen Regierung
– nein, das ist die Altlast der rot-grünen Regierung –, diemit dem Bundesrat nicht ins Einvernehmen kommenkonnte.
Aber auch die große Koalition hätte es schaffen können,einen Entwurf für dieses Minimalgesetz rechtzeitig vor-zulegen. Ich finde es schade, dass sie es nicht hinge-kriegt hat.
Ich beklage sehr, dass Minister Seehofer mal so undmal so spricht. Der Minister hat die Verantwortung fürdie Umsetzung des Koalitionsvertrages. Dort heißt es,die grüne Gentechnik solle in Anwendung und For-schung gefördert werden. Das ist eine sehr eindeutigeAussage. Wir messen Sie daran, ob Sie das schaffen wer-den.Die Bedenken aus der SPD – wir haben darüber lesenkönnen – zielen darauf ab, die Grünen in ihrer Rolle alsAngstschürer zu beerben.
Auf einmal ist vergessen, dass die SPD-MinisterBulmahn, Clement und Stolpe sehr wohl die Beschäfti-gungspotenziale der grünen Gentechnik erkannt ha-ben. Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen haben wir keinenBedarf für eine solche Politik von Bedenkenträgern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-tion, ich empfehle Ihnen, einen Blick auf die Internet-seite der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Ener-gie zu werfen. Schwerpunktthema ist dort die Bio- undGentechnologie. Dort heißt es:Die Bio- und Gentechnologie zählt zu den wichtigs-ten Innovationsfeldern des 21. Jahrhunderts. Siesetzt starke Impulse für die verschiedenen Anwen-dungsbereiche und wird wirtschaftlich in Zukunfteine große Rolle spielen.Ich empfehle Ihnen, sich einmal bei Ihrer Gewerkschaftzu informieren.
Wir brauchen geeignete Rahmenbedingungen. Des-halb muss das Gentechnikgesetz, wie es Kollege Lehmergesagt hat, weiter novelliert werden, so wie dies in derBegründung des heute vorgelegten Gesetzentwurfs fest-geschrieben ist.An die Adresse der CDU/CSU muss die Frage gerich-tet werden: Kann sich die Öffentlichkeit darauf verlas-sen, dass das, was im Koalitionsvertrag und in der Geset-zesbegründung festgeschrieben ist, auch tatsächlichumgesetzt wird?
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980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006
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(D)
Dr. Christel Happach-KasanDies muss glaubwürdig hier vertreten und anschließendumgesetzt werden. Denn die vollständige Novellierungdes Gentechnikgesetzes ist unter Rot-Grün gescheitert.
Eine Zustimmung der FDP zu diesem Gesetz ist da-von abhängig, dass die Novellierung des ersten Gesetzesbis zur Sommerpause verbindlich zugesagt wird. Waswir Rot-Grün nicht haben durchgehen lassen, lassen wirauch einer großen Koalition nicht durchgehen. Das mussganz klar sein.Herr Minister, die „Welt“ hat Ihnen schon jetzt einenVerlust an politischer Glaubwürdigkeit attestiert.
– Ja, die Glaubwürdigkeit ist zu Recht nicht mehr gege-ben; denn er spricht mal so und mal so. – Herr Minister,schaffen Sie Klarheit!Bemerkenswert ist aber auch der Kommentar in der„FAZ“ zur Sendung „Menschen bei Maischberger“, inder es um das Thema „Hysterie ums Essen?“ ging. Ichdenke, einige von Ihnen haben sie gesehen. Wissen-schaftler durften nicht dabei sein, heißt es. Es ging ja umGentechnik. Ich frage Sie: Ist das wirklich repräsentativfür den Wissensstandort Deutschland?Ein großes Thema in dieser Legislaturperiode wirdder Einsatz von Biomasse zur Energiegewinnung sein.Bei der energetischen Nutzung von Biomasse kommt esauf Masse an; sonst ist die Biomassenutzung nicht wett-bewerbsfähig. Mais kann als C4-Pflanze besser als un-sere heimischen C3-Pflanzen Kohlenstoff assimilieren.Herr Biologe, Sie können es sicher bestätigen. Deshalbsetzen die Betreiber von Biogasanlagen auf den Mais.Deswegen ist die Strategie der Landwirte richtig, Bt-Mais in Deutschland anzubauen. Dies geschieht aufmehr als 1 000 Hektar.
Deutschland ist ein Hochlohnland. Wir sind ein roh-stoffarmes Land. Deswegen müssen wir in Deutschlandauf Innovationen setzen. Das ist eine Aufgabe für dieBildungs- und Forschungspolitik. Es muss aber auch dieAufforderung an die gesamte Gesellschaft geben, Inno-vationen offen zu begegnen, statt sie emotional auszu-grenzen.
Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Wem die Menschen in diesem Land am Herzen lie-
gen, wer sich für die Zukunftschancen unserer jungen
Menschen einsetzt, sollte endlich die Scheuklappen ab-
legen, diffuse Ängste in den Müll werfen und für Inno-
vationen werben: für die Anwendung der grünen, der ro-
ten und der weißen Gentechnik.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von
der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir bringen heute denEntwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gen-technikgesetzes ein, um damit endlich die EU-Freiset-zungsrichtlinie komplett umzusetzen. Die Zeit drängt.Wir müssen einer Verurteilung durch den EuropäischenGerichtshof wegen Nichtumsetzung zuvorkommen;denn niemand, so denke ich, wird wirklich wollen, dasswir in die Situation kommen, Strafzahlungen leisten zumüssen.
Ich bin froh darüber, dass wir uns mit dem Koalitions-partner darauf einigen konnten, dieses dritte Gentechnik-änderungsgesetz auf die Regelungen zu beschränken, diezur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie noch aus-stehen.Es sei mir als SPD-Abgeordnete aber die Bemerkunggestattet: Das hätten wir schon früher haben können,
nämlich im Sommer letzten Jahres, als unser zweitesGentechnikänderungsgesetz hätte verabschiedet werdenkönnen, hätte das nicht die Mehrheit im Bundesrat ver-hindert.
Ich denke, es ist wichtig, hier noch einmal deutlich da-rauf hinzuweisen.
Der Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaftund in der Lebensmittelproduktion ist ein sensiblesThema. Denn 79 Prozent der Verbraucherinnen und Ver-braucher lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittelab.
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Würden Sie denn eine Zwischenfrage gestatten?
Nein. – Deshalb ist es so wichtig, dass sie die Wahl
haben und selbst entscheiden können, ob sie gentech-
nisch veränderte Produkte kaufen wollen oder nicht.
Deshalb ist es so wichtig, dass der Schutz der konventio-
nellen und ökologischen Landwirtschaft vor Einträgen
aus dem GVO-Anbau gewährleistet bleibt, damit eine
gentechnikfreie Landwirtschaft weiterhin möglich ist
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern gentech-
nikfreie Produkte angeboten werden können.
Hier gibt es Arbeitsplätze, Frau Kollegin, und nirgendwo
anders.
Wir wollen die Chancen der Gentechnik nutzen. Des-
halb haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verstän-
digt, die Forschung auf diesem Gebiet weiter zu fördern.
Insbesondere im Bereich der so genannten weißen Gen-
technik sehen wir großes Potenzial.
Wir halten aber daran fest, dass der Schutz von
Mensch und Umwelt Vorrang vor wirtschaftlichen Erwä-
gungen haben muss und dass Koexistenz und Wahlfrei-
heit gewahrt bleiben müssen.
Für uns haben die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher Priorität.
Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Mittel
zum Leben, die 80 Prozent der Menschen in Deutsch-
land haben wollen, weiterhin produziert werden können.
Das hat auch mit Demokratie und wirtschaftlichem Er-
folg zu tun.
Mit Besorgnis habe ich die Erwägung der Firma Hipp
aufgenommen, bei zunehmendem Anbau von gentech-
nisch veränderten Pflanzen in Deutschland die Rohstoffe
für ihre Kindernahrung künftig aus dem Ausland bezie-
hen zu wollen. Wie jedes intelligente und erfolgreiche
Unternehmen richtet Hipp sein Angebot nach den Be-
dürfnissen seiner Kundinnen und Kunden aus. Vermut-
lich steht diese Firma mit solchen Erwägungen nicht al-
lein.
Ich bin dankbar, dass sie öffentlich geäußert worden
sind.
Denn dadurch haben wir die Chance, darauf zu reagie-
ren. Einigen von uns wird vielleicht erst dadurch klar,
dass eine Absenkung des Schutzniveaus für die gentech-
nikfreie Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion so-
wohl von den Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie
den Landwirten als auch von einem Teil der Unterneh-
men als Bedrohung wahrgenommen wird.
Ich möchte Herrn Hipp und möglicherweise noch
viele andere Unternehmer aus der Lebensmittelwirt-
schaft heute von hier aus beruhigen: Wir sorgen dafür,
dass bei uns weiterhin gentechnikfrei angebaut werden
kann. Die Unternehmer werden weiterhin gentechnikfrei
produzieren können und ihre Kundinnen und Kunden
werden weiterhin ihre Ware aus gentechnikfreien Roh-
stoffen auch aus Deutschland kaufen können.
Wenn wir mit dem heute vorliegenden Entwurf eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Gentechnikgesetzes
die EU-Freisetzungsrichtlinie umgesetzt haben werden,
werden wir dafür eine gute Grundlage geschaffen haben.
Wir werden diesen Entwurf natürlich noch eingehend
beraten, aber ich bin zuversichtlich, dass wir die darin
geregelten Verfahrensfragen bald mit großer Mehrheit
verabschieden können. Viel Spielraum haben wir dabei
ohnehin nicht, da es sich um die Umsetzung von EU-
Recht handelt.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann von
der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der Koalitionsvertrag sagtzur Umsetzung der EU-Freisetzungsrichtlinie:Der Schutz von Mensch und Umwelt bleibt, ent-sprechend dem Vorsorgegrundsatz, oberstes Zieldes deutschen Gentechnikrechts. Die Wahlfreiheitder Landwirte und Verbraucher und die Koexistenzder unterschiedlichen Bewirtschaftungsformenmüssen gewährleistet bleiben.Nur, die Politik dieser Regierung verletzt diese Grund-sätze. Keines der diskutierten gesundheitlichen oderökologischen Risiken der grünen Gentechnik ist wider-legt. Dagegen mehren sich die bestätigenden Hinweise.Ihre Anwendung jetzt dennoch zu forcieren, halten wirfür schlichtweg unvereinbar mit dem Vorsorgegrundsatz.
Die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflan-zen in ein offenes System nimmt den Menschen dieWahlfreiheit, zumindest schleichend. Nichtanwenderwerden früher oder später Verunreinigungen hinnehmenmüssen, weil es viele nicht oder kaum kontrollierbare di-rekte und indirekte Verschleppungswege gibt. Zum Bei-spiel werden Rapspollen über 26 Kilometer verbreitet,
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Dr. Kirsten TackmannRapssamen bleibt über viele Jahre hinweg im Bodenkeimfähig.Mit diesem Gesetz wird deshalb „gentechnikfrei“ inZukunft nur noch die Einhaltung von Grenzwerten be-deuten. Das sollte den Menschen dann auch ehrlich ge-sagt werden.
Unbeantwortet ist die Frage nach den Kosten vonMaßnahmen zur Koexistenz. In einer von der EU-Kom-mission in Auftrag gegebenen Studie werden die Kostenbei Raps, Mais und Kartoffeln auf 53 bis 345 Euro proHektar geschätzt. Wer bezahlt solche zusätzlichen Auf-wendungen? Wer haftet für trotzdem eingetretene Schä-den?Aber davon abgesehen: Ihr Versprechen für Koexis-tenz und Wahlfreiheit ist nach Lage der Dinge unredlich,weil es nicht haltbar ist.
Die Fraktion Die Linke steht an der Seite der vielenLandwirte, die die grüne Gentechnik strikt ablehnen undsich ihr uraltes Nachbaurecht nicht durch Gentech-Kon-zerne nehmen lassen wollen. Wir stehen an der Seite derübergroßen Mehrheit der Verbraucherinnen und Ver-braucher, die solche Lebensmittel nicht wollen. Ihre In-teressen haben für uns eine höhere Priorität als giganti-sche Gewinnerwartungen von Gentech-Konzernen.
Wir sind keine Maschinenstürmer, aber die grüneGentechnik ist eine Risikotechnologie, deren Schädennicht rückholbar sind. Freilandanwendungen sind daherunbeherrschbare Großversuche.Die gegebenen Versprechen hat sie nicht erfüllt: Inden USA werden auf Genfeldern bereits 13 Prozentmehr Pestizide versprüht als auf konventionell bewirt-schafteten Äckern, mit stark zunehmender Tendenz. Vorallem herbizidresistenter Genraps ist zu einem hartnäcki-gen Unkraut geworden, weil sich viele verschiedeneGenrapssorten untereinander gekreuzt haben und nungegen alle eingesetzten Totalherbizide resistent sind.Es gibt also keinen Grund zur Entwarnung. Es stehtmehr denn je die Frage im Raum, ob grüne Gentechniküberhaupt gebraucht wird.
Das sehen wohl auch die über 160 Regionen,3 500 Städte und Gemeinden, die sich zu gentechnik-freien Zonen erklärt haben, und Zehntausende Bauernso.Es stellt sich abschließend die Frage: In wessen Inte-resse handelt die Regierung?Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Uli Höfken, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Tackmann, Ihre Rede hat mich echt ge-freut. Ich fände es aber auch gut, wenn die Linke, die inMecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligtist, da aber leider unter dem Tisch sitzt, wenn es um dasThema Gentechnik und Agrogentechnik geht, sich ein-mal etwas lauter äußern
und das unglaubliche Vorpreschen in diesem Punkt viel-leicht doch etwas bremsen würde.
– Wir haben erlebt, wie Sie sich im Bundesrat verhaltenhaben.Ich habe gestern im Bayerischen Fernsehen eine Sen-dung zum Thema „Hipp kontra Seehofer“ gesehen. Daging es um die Frage: Gefährdet Seehofer die150 000 Arbeitsplätze in der Biobranche, die 1 200 Ar-beitsplätze in seinem Wahlkreis bei Hipp oder die vielenHunderttausend Arbeitsplätze in der Qualitätserzeu-gung? Ich denke, das sind Fragen, die sich auch die CSUstellen sollte. Sie können sich übrigens einmal bei derBioFach diesen innovativen Bereich der Lebensmitteler-zeugung ansehen. Es ging in der Sendung auch um dieGentechnikoffensive, die in Bayern gestartet werdensollte und die dann aufgrund der Abwehr der Bevölke-rung zurückgezogen wurde.Ich sage ganz klar: Es ist zu begrüßen, dass die großeKoalition das „grüne“ Gentechnikgesetz – oder das rot-grüne; schön, wenn Sie dazu stehen – heute wieder ein-bringt. Gut ist, dass die wichtigen Regelungen im Gen-technikgesetz erhalten bleiben, nämlich diejenigen, diedie Haftung, die Transparenz im Standortregister undden Schutz ökologisch sensibler Gebiete betreffen. Es istwichtig, dass diese Regelungen erhalten bleiben.
Es war im Übrigen ganz überflüssig, dass Sie, auchSie von der FDP, dieses Gesetz im Bundesrat ein ganzesJahr lang verhindert haben.
Die Androhung mit dem Zwangsgeld hat jetzt Einsichtgebracht. Ich denke aber, ebenfalls dazu beigetragen hat,dass viele der Kampfparolen gerade der CDU – und auchmancher SPDler –
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Ulrike Höfkenbezüglich der Haftungsregelung im Realitätstest durch-gefallen sind. Sie haben auch keine bessere Lösung ge-funden. Eine Pressemitteilung des Bauernverbands vonheute – auch das ist eine Ente – besagt, dass die Pflan-zenzüchter jetzt einen Haftungsfonds wollen. Dasstimmt definitiv nicht. Die sagen wörtlich: Einen Haf-tungsfonds lehnen wir ausdrücklich ab.Es sollte also so bleiben, wie es im geltenden Gen-technikgesetz geregelt ist. Wir warnen die große Koali-tion auch ganz klar davor – das hat sie ja offiziellangedroht –, nach dieser Novelle, in der es um die Um-setzung von EU-Recht geht, die Schutzregelungen fürdie gentechnikfreie Produktion zu verändern. Denn daswäre ein richtig schmutziger Deal, mit dem dann durchdie Hintertür Anforderungen an die Sicherheit und an dieSorgfaltspflichten im Umgang mit der Agrogentechnikgelockert werden sollen, nach dem Motto: Wie definiereich Schadensersatzansprüche so um, dass die Versichererkein Risiko mehr haben?
Nein, das werden wir nicht durchgehen lassen. Unsgeht es nämlich um die Wahlfreiheit von Bauern undVerbrauchern. Die sollten auch Sie im Blick haben,wenn die zweite Stufe, die Sie ankündigen, nicht derWeg in den Abgrund für Sie werden soll.
Eins-zu-eins-Umsetzung heißt aber auch – das habenwir jetzt aus dem Fall der Maissorte MON 863 der FirmaMonsanto gelernt –, dass es einer Verbesserung bei derÖffentlichkeitsbeteiligung bedarf. Das fordern die Um-weltverbände zu Recht ein. Diese Forderung werden wirunterstützen. Mittlerweile gibt es auch ein Gerichtsurteildazu.Die versprochene Wahlfreiheit für Verbraucher, Bau-ern, Wirtschaft – nicht nur für Hipp, aber dem hat HerrSeehofer es öffentlich versprochen – kann es nur geben,wenn der Schutz der gentechnikfreien Produktion mit al-ler Seriosität aufrechterhalten wird. Das geht nur mitBeibehaltung des Gentechnikgesetzes von Rot-Grün.
Daran darf nicht weiter herumgedoktert werden. Wirwollen Freiheit statt Zwangsbeglückung.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Matthias Miersch von der
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin demKollegen Lehmer ausdrücklich sehr dankbar, dass er hiereinen sachlichen Dialog eingefordert hat. Liebe KolleginHappach-Kasan, wenn Sie von Kronzeugen sprechen,dann sage ich Ihnen: Zu einer umfangreichen Beweis-aufnahme gehört natürlich auch die Kenntnisnahme vonDokumenten.
Ein wesentliches Dokument, das dieser Debatte zu-grunde liegt, ist der Koalitionsvertrag. Er ist eine hervor-ragende Grundlage, da er zwei feste Grundprinzipien be-rücksichtigt, nämlich erstens die Koexistenz undzweitens die Wahlfreiheit. Alle künftigen Regeln müssensich an diesen zwei Grundwerten orientieren und messenlassen.
– Liebe Frau Kollegin Happach-Kasan, Sie haben sehrschnell gesagt, die Haftung müsse aufgelockert werden.
Ich rate Ihnen: Schauen Sie sich einfach einmal an, wieschwer es bereits heute für einen Landwirt, der konven-tionell arbeitet, beispielsweise im Fall der Lieferung vonmangelhaftem Saatgut ist, seine eigentlich ganz klarenAnsprüche in der Praxis durchzusetzen.
Wenn wir Koexistenz ernst nehmen wollen, dannmüssen wir die Praxis berücksichtigen. Die Existenzmuss gewährleistet sein. Es kann nicht sein, dass Pro-zesse jahrelang ausgefochten werden müssen, bevor manSchäden ersetzt bekommt.
Neben der Koexistenz ist die Wahlfreiheit der zweitefeste Grundwert. Wahlfreiheit setzt Transparenz voraus,und zwar an allen Stellen.
Dieser Grundwert, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder FDP, ist jetzt betroffen. Die EU-Freisetzungsrichtli-nie stellt das Recht der Öffentlichkeit auf Information inden Mittelpunkt. Frau Kollegin Höfken, manchmal kannman bestehende Entwürfe – selbst dann, wenn die Grü-nen daran mitgewirkt haben – noch verbessern.
Insofern möchte ich das Hohe Haus bitten, einenPunkt zu berücksichtigen: Wenn wir uns den Gesetzent-wurf, wie er augenblicklich vorliegt, ansehen, dann stel-len wir fest, dass in § 28 a zahlreiche Einschränkungengenannt werden. Ich glaube, wir tun gut daran – auchwenn die Debattenzeit und die Beratungszeit im
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Dr. Matthias MierschAusschuss kurz bemessen sind –, uns diesen Punkt nocheinmal genau anzusehen und ihn mit dem Ziel der EU-Freisetzungsrichtlinie zu vergleichen, in der eindeutiggeregelt ist, dass das Recht der Öffentlichkeit aufInformation ein hohes Gut ist.
Die grüne Gentechnik ist sicherlich ein Thema, zudem man geteilter Meinung sein kann. Ich glaube, dieKoalitionsfraktionen haben mit dem Koalitionsvertrageine gute Grundlage beschlossen. Wir müssen jetzt überdieses Thema streiten. Alle, die meinen, in diesem Be-reich müsse liberalisiert und aufgeweicht werden, müs-sen berücksichtigen, dass es letztlich um die Frage geht,ob derjenige, der auf eine jahrhundertealte Traditionsetzt, in seiner Rechtsposition geschützt werden sollte,und derjenige, der – zu Recht – eine neue Technologieverwendet, für eventuelle Schäden haften muss. Ichfinde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Daran solltenwir uns und alle zukünftigen Regeln messen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Miersch, das war hier Ihre erste Rede.Dazu gratulieren wir Ihnen ganz herzlich und wünschenIhnen viel Erfolg bei Ihrer parlamentarischen Arbeit.
Ich schließe hiermit die Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 16/430 zu überweisen, federführend an denAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss,den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Aus-schuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Na-turschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschussfür Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.Gibt es dazu weitere Vorschläge? – Das ist offensichtlichnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein-fachung der abfallrechtlichen Überwachung– Drucksache 16/400 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höreich keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demBundesminister Sigmar Gabriel.Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Durchden vorgelegten Gesetzentwurf wird die abfallrechtlicheÜberwachung nachhaltig vereinfacht und gleichzeitig ef-fizienter gemacht. Wir reagieren damit auf Forderungen,die sowohl die Umweltverwaltungen als auch die Unter-nehmen erhoben haben. Der Gesetzentwurf schafft eineGewinner-Gewinner-Situation: einerseits für die Um-weltbehörden, andererseits für die Wirtschaft und dieUmwelt. Wir können künftig mit weniger Bürokratieund vor allen Dingen mit geringeren Personalkosten dengleichen, wenn nicht sogar mehr Umweltschutz errei-chen.Der Gesetzentwurf birgt nach Auffassung der Bun-desregierung drei Vorteile:Erstens. Er sorgt für eine stringente Anpassung andas Recht der Europäischen Gemeinschaft. Das istinsbesondere für die Unternehmen, aber auch für dieje-nigen, die EG-weit tätige Unternehmen überwachen,wichtig. Ich glaube, dass das von besonderer Bedeutungist.
Zweitens. Wir stellen das Nachweisverfahren konse-quent auf elektronische Kommunikationssysteme um.Bisher erhalten die zuständigen Überwachungsbehördenpro Jahr circa 125 000 Entsorgungsnachweise und2,5 Millionen Begleitscheine auf dem Formularweg zurPrüfung; das kann man, wie ich finde, fast nicht glauben.Die bundesweite Nutzung moderner Kommunika-tionstechniken vereinfacht den Datenaustausch, senktdie Kosten und entlastet Behörden von Routineaufga-ben. Ich glaube, das ist überfällig.
Drittens. Der Gesetzentwurf schöpft in einzelnenÜberwachungsbereichen wichtige spezifische Vereinfa-chungsoptionen aus. Künftig besteht beispielsweisenicht mehr die Pflicht, betriebliche Abfallkonzepte undBilanzen zu führen; denn sie haben in der Praxis nichtzur erwarteten Optimierung der betrieblichen Abfall-wirtschaft geführt.Ich möchte noch auf eine wichtige Besonderheit desProjekts hinweisen: Das Bundesumweltministerium hatdieses Vereinfachungskonzept im Auftrag der Umwelt-ministerkonferenz, gemeinsam mit den Ländern und imDialog mit der Wirtschaft vorbereitet. Diese breite Basissichert eine sehr hohe Akzeptanz. Schon jetzt, währenddas Gesetzgebungsverfahren hier im Parlament eigent-lich erst beginnt, bereiten sich die Behörden und dieWirtschaft auf das neue Verfahren und die EDV-Systemevor. Alle Betroffenen wollen, dass wir das Rechtset-zungsverfahren zügig durchführen.Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme darum ge-beten, weitere Vereinfachungsoptionen im Abfallrechterst nach Abschluss dieses Gesetzgebungsverfahrensaufzugreifen. Er hat die Beratung der parallel vorgeleg-
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Bundesminister Sigmar Gabrielten Verordnung zur Vereinfachung der abfallrechtlichenÜberwachung zurückgestellt, da erst dieses Gesetz ver-abschiedet werden muss. Der Bundesrat wird die Bera-tung der Verordnung aber zügig aufnehmen, sobald hierim Haus das parlamentarische Ergebnis vorliegt.Meine Damen und Herren, deshalb bitte ich Sie da-rum, den vorgelegten Gesetzentwurf zügig zu beratenund zu verabschieden. Er ist sicherlich ein gelungenesBeispiel dafür, dass es sehr wohl möglich ist, zum Wohlevon Umwelt und Wirtschaft und im Interesse einer effi-zienten öffentlichen Verwaltung zusammenzuarbeiten.Weil auch das zu diesem Thema gehört, will ich dieseGelegenheit nutzen, um auf einige Presseberichte vomletzten Wochenende hinzuweisen, in denen behauptetwurde, dass es in Deutschland einen akuten Müllnot-stand gebe. Davon kann keine Rede sein. Vielmehr istfestzustellen: Die Anforderungen der seit Juni 2005 gel-tenden Ablagerungsverordnung zeigen ihre gewollteWirkung. Nicht verwertbare Abfälle werden vor ihrerAblagerung entweder in Müllverbrennungsanlagen oderin mechanisch-biologischen Anlagen behandelt – in ei-nem der beiden Anlagentypen müssen sie behandelt wer-den – und nicht mehr einfach zu billigen Preisen in De-ponien verbracht.Insbesondere die kommunalen Entsorger haben recht-zeitig die erforderlichen Maßnahmen getroffen. FürHausmüll und hausmüllähnliche Gewerbeabfälle wurdenausreichende Behandlungskapazitäten geschaffen. Estrifft allerdings zu, dass es bei Gewerbeabfällen in be-stimmten Regionen in Deutschland Engpässe gibt. Diesliegt daran, dass sich einige gewerbliche Abfallerzeugertrotz der langen Übergangsphase von immerhin zwölfJahren nicht rechtzeitig auf die neue Situation eingestellthaben und die kommunalen Anlagen mit ihren eigenenAbfällen weitgehend ausgelastet sind.Ich jedenfalls erinnere mich noch ganz gut an die Dis-kussion, die vor zwölf Jahren geführt wurde. Die De-batte über die Verbrennung bzw. die mechanisch-biolo-gische Vorbehandlung des Mülls war ja bundesweitbewegend. Diese Frage ist entschieden worden. Ichglaube, alle Beteiligten hatten ausreichend Zeit, um sichauf die neue Situation vorzubereiten. Allein in den kom-munalen Abfallentsorgungsanlagen wurden Investitio-nen in Höhe von 7,5 Milliarden Euro getätigt. Die Kom-munen haben enorme Vorleistungen erbracht. Wenn mannun die Klage hört, beim Gewerbemüll sei ein Entsor-gungsnotstand ausgebrochen, dann liegt das schlicht undergreifend daran, dass diejenigen, die sich nicht vernünf-tig vorbereitet haben, jetzt „Haltet den Dieb!“ rufen.
Gefordert sind in diesem Bereich verstärkte Anstren-gungen zur Verwertung. Bei der Entsorgung von ge-werblichen Abfällen gibt es hier noch große Potenziale.Geboten ist dabei zum Beispiel die verstärkte Trennungder Abfälle. Der in Zeiten enger Rohstoffmärkte auchwirtschaftlich gebotene Vorrang der Verwertung ist auchbei Gewerbeabfällen zu realisieren. Die deutsche Entsor-gungswirtschaft kann den gewerblichen Abfallerzeugerndabei ein wirklich leistungsfähiger Partner sein. Darüberhinaus müssen in Bau und Planung befindliche Verbren-nungsanlagen sowie mechanisch-biologische Behand-lungsanlagen schnellstmöglich fertig gestellt und beste-hende Anlagen gegebenenfalls erweitert werden. Für dieheizwertreichen Abfallbestandteile sollten die vorhande-nen Müllverbrennungskapazitäten in Kraft- und Zement-werken genutzt werden.Ich denke, dass es sinnvoll war, angesichts dieser De-batte über ein, so hoffe ich jedenfalls, weitgehend un-strittiges Thema Klarheit geschaffen zu haben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger von der
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben heute die erste Lesung des Entwurfs eines Gesetzeszur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung,wie es so schön heißt. Dieser Gesetzentwurf zeigt vor al-len Dingen eines sehr deutlich: wie stark das europäi-sche Recht Einfluss nimmt auf das deutsche Recht. Diewesentlichen Vorgaben stammen heute aus Brüssel. Des-halb ist es so wahnsinnig wichtig, dass wir bei den Ver-handlungen darauf achten, rechtzeitig Einfluss zu neh-men auf die Dinge, die auf europäischer Ebenebeschlossen werden.
Das ist vor allem vor dem Hintergrund sehr wichtig,dass wir sowohl ökologisch anspruchsvolle als auchökonomisch sinnvolle Regelungen brauchen. Was dabeiherauskommt, wenn man sich nicht rechtzeitig darumkümmert, zeigt beispielsweise die Vierte Verordnung zurÄnderung der Verpackungsverordnung, in der wir dieEuropäische Verpackungsrichtlinie umgesetzt haben. Dahaben wir uns allen Ernstes in mehreren Stufen – Bun-destag und Bundesrat – mit der Frage beschäftigt, wannBlumentöpfe Verpackung sind. Am Schluss der Diskus-sion, nach mehreren Monaten, hat die große Koalitionvor kurzem die wegweisende Formulierung gefunden,dassBlumentöpfe, die dazu bestimmt sind, dass diePflanze während ihrer Lebenszeit darin verbleibt,nicht als Verpackung gelten.Das sind Dinge, bei denen sich der Normalbürgerfragt, wie das noch Sinn machen kann! Das Recht wirdnämlich immer komplizierter, man kann es immerweniger durchschauen. Deswegen plädiere ich dafür,beispielsweise die Diskussion über Abfallvermeidungund -recycling, in deren Zuge unter anderem die EG-Ab-fallrahmenrichtlinie novelliert werden wird, dazu zu nut-zen, auch eine Überprüfung der Europäischen Verpa-ckungsrichtlinie herbeizuführen. Es gibt eine Klausel inder Verpackungsrichtlinie, die darauf abzielt, genau sol-chen Unsinn, wie ich gerade zitiert habe, zu beseitigen.
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Birgit HomburgerIch fordere Sie auf, Herr Bundesumweltminister: NutzenSie die Gelegenheit, hier auf der europäischen EbeneEinfluss zu nehmen!
Der heutige Gesetzentwurf wird in der Tat zu einergewissen Vereinfachung führen; deswegen stimmen wirder Grundrichtung auch zu. Es geht um eine Anpassungan europäisches Abfallrecht, sowohl von der Strukturher als auch von der Terminologie. Das ist natürlich auchfür den Vollzug von Bedeutung, insbesondere dann,wenn Abfalltransporte grenzüberschreitend sind, zumBeispiel in andere Staaten der Europäischen Union ge-hen. Durch den Gesetzentwurf sollen sowohl die Unter-nehmen der Wirtschaft als auch die Vollzugsbehördenvon bürokratischen und von arbeitsaufwendigen Pflich-ten entlastet werden. Im Sinne der besseren Effizienz derabfallrechtlichen Überwachung sowie im Hinblick aufBürokratieabbau und Deregulierung begrüßen wir dieZiele des Gesetzentwurfs.
Durch das elektronische Nachweisverfahren – Siehaben es angesprochen, Herr Minister – soll die abfall-rechtliche Überwachung erheblich erleichtert werden.Für die besonders überwachungsbedürftigen Abfälle, diezukünftig „gefährliche Abfälle“ heißen werden, werdenbislang bundesweit jährlich etwa 60 000 Entsorgungs-nachweise, 20 000 Sammelentsorgungsnachweise und1,5 bis 2 Millionen Abfallbegleitscheine ausgestellt undkontrolliert. Es ist ein Fortschritt, wenn diese Papier-berge überflüssig werden.Wir müssen im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfah-rens aber tunlichst darauf achten, dass nicht, wie es beiso mancher sozialversicherungs- und steuerrechtlichenRegelung der Fall gewesen ist, die kleinen Betriebedurch eine Umstellung auf komplizierte EDV-Systemeerhebliche Schwierigkeiten bekommen. Auch das mussim Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden.
Es wird eine Änderung hinsichtlich der Erstellung sogenannter Abfallwirtschaftskonzepte und Abfallwirt-schaftsbilanzen geben. Diese werden zukünftig als be-triebsinterne Planungsinstrumente für Erzeuger großerMengen gefährlicher Abfälle zur Verfügung stehen. DieVorgaben aus der Abfallwirtschaftskonzept- und -bilanz-verordnung entfallen, weil sie zu starr und zu wenigflexibel und in der Praxis kaum umsetzbar waren. Des-halb ist es sachgerecht, die Pflicht zur Aufstellung vonKonzepten und Bilanzen aufzuheben und die kompletteVerordnung zu streichen.Durch die Aufhebung der deutschen Sonderkategorieder überwachungsbedürftigen Abfälle fällt eine weitereVerordnung weg. Auch das begrüßen wir. Dadurch wirdes künftig weniger Abgrenzungsprobleme geben.Zum Schluss will ich Folgendes sagen, Herr Minister:Ich verstehe nicht, dass mit dem vorgelegten Gesetzschon wieder die Gewerbeabfallverordnung geändertwerden soll. Wir wissen doch ganz genau, dass dieseAnfang 2003 in Kraft getretene Verordnung zu einerökologischen und wirtschaftlichen Verschlechterung ge-führt hat. Wir könnten mit diesem Gesetz auch dieseVerordnung abschaffen. Das wäre ein weiterer Beitragzum Bürokratieabbau. Dazu fordern wir Sie auf.Wir werden im Ausschuss über die Details dieses Ge-setzentwurfs diskutieren. Ich denke, er geht in die rich-tige Richtung. Vonseiten der FDP-Bundestagsfraktionsind wir aber der Auffassung, dass noch einiges mehr anüberflüssiger Bürokratie wegfallen könnte.Vielen Dank.
Herr Kollege Michael Brand von der CDU/CSU-
Fraktion, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als Neuling im Bundestag, der den mittel-ständisch geprägten Wahlkreis Fulda in Berlin gut ver-treten will, bin ich überrascht von der Masse an Vor-schriften, die den Mittelstand als „Jobmaschine Nummereins“ einengen.
– Herr Trittin, auf Sie werde ich im Laufe meiner Redenoch zu sprechen kommen. – Das betrifft die von unspolitisch zu verantwortenden Vorschriften allgemein unddie Regelungsdichte im Umweltbereich im Besonderen.Auch die vom vorliegenden Entwurf erfassten circa125 000 Entsorgungsnachweise, 2,5 Millionen Begleit-scheine sowie die Millionen Übernahmescheine, die proJahr anfallen, bedeuten Bürokratie, die den Betrieben oftdie Luft zum Atmen knapp werden lässt und ihnen dieSicherung von Beschäftigung erschwert.Allein im Jahre 2004 – Herr Trittin, hören Sie gut zu –gab es im Arbeits- und Umweltrecht unglaublich vieleÄnderungen. Die Betriebe mussten eine Flut von neuenVorschriften beachten: über 1 100 Änderungen aufEbene der Bundesländer, über 1 000 Änderungen aufBundesebene, dazu 250 Änderungen seitens der EU unddarüber hinaus noch über 200 Änderungen der Berufsge-nossenschaften. Manchmal habe ich den Eindruck, dassUmweltrecht als Ordnungsrecht zu stark die Recycling-wirtschaft konkret behindert. Dies werden wir natürlichauch weiterhin aufmerksam beobachten.Es besteht kein Zweifel: Umweltrecht ist zum Schutzvon Natur und Umwelt wichtig und hilft uns Menschenbei der Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts. Na-türlich sind konkrete Regelungen zum Schutz von Be-schäftigten wie der Bevölkerung in allen Bereichen ins-gesamt erforderlich, wenn mit Stoffen umgegangenwird, die eine besondere Sorgfalt erfordern.Wir von der Union sind klar gegen Ökodumping undtreten grundsätzlich für einen schonenden Umgang mitden Ressourcen ein. Wir haben diese Erde in der Tat nur
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Michael Brandals Geschenk erhalten. Nach meinem Verständnis bedeu-tet der Satz „Macht euch die Erde untertan“ eine beson-dere Verantwortung für die Schöpfung.
Wir dürfen die Erde nutzen, aber wir müssen auch sorg-sam mit der Schöpfung umgehen. Ich teile als relativfrisch gebackener Vater sehr die These: „Wir haben dieErde von unseren Kindern nur geliehen.“
Dass wir das Kind dabei nicht mit dem Bade ausschüttenwollen, unterscheidet uns von der Union sicherlich vonanderen: Wir wollen eben keine Ökoideologie, sonderndie Umsetzung einer Umweltpolitik, die sowohl der Na-tur wie den Menschen dient.
Das Wort „Kreislaufwirtschaft“ beinhaltet nämlich ausgutem Grunde auch das Wort „Kreislauf“. Wenn wirdiese funktionierende Kreislauf- und Stoffstromwirt-schaft durch ein Übermaß an Vorschriften verlangsamen,stoppen oder durch falsche Initiativen gar dauerhaft un-terbrechen, dann wird es statt der Modernisierung inRichtung Stoffstromwirtschaft einen Rückschritt bei derökologischen Qualität geben.Meine Fraktion, die CDU/CSU, und unsere Bundes-kanzlerin Angela Merkel haben daher zu Recht auf eineStabsstelle zur Entbürokratisierung im Bundeskanzler-amt gedrängt und dies auch umgesetzt. Wir wollen undwerden die Entbürokratisierung konkret auch in die-sem Bereich so weit wie möglich umsetzen. Dabei wer-den wir vor allem die Beschäftigung und die Wettbe-werbsfähigkeit der überwiegend mittelständischenUnternehmen im Blick haben. Vor allem hier werden dieArbeitsplätze geschaffen und gesichert, die wir inDeutschland so dringend brauchen.
Wir gehen dabei davon aus, dass auch dieser Gesetz-entwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Nach-weispflichten, der ja aus der Ära Trittin stammt, durchden „Bürokratie-TÜV“ der neuen Bundesregierung nocheinmal kritisch geprüft werden wird. Wir als CDU/CSUsind dabei davon überzeugt, dass sowohl der Nachfolgerdes ausgeschiedenen Umweltministers als auch dessenVorgängerin und heutige Bundeskanzlerin umweltge-rechten und mittelstandsfreundlichen Verbesserungenoffen gegenüberstehen.Die Harmonisierung mit dem EU-Recht ist bei derVereinfachung ein ganz wesentlicher Fortschritt für dieUnternehmen und die Vollzugsbehörden. Das ist abernicht alles. Vor allem in der elektronischen Umsetzungder Nachweispflichten wird sich entscheiden, ob derMittelstand seine Position als regionaler Dienstleisterund als Jobmaschine auch in Zukunft erhalten kann. Da-bei werden wir auf den Grundsatz achten: Solide Arbeitmuss sich lohnen. Es kann ganz klar nicht so sein, dassüber zu komplexe Anforderungen bei den so genanntentechnischen Schnittstellen – Frau Homburger hat dasauch erwähnt – ordentlich arbeitenden Unternehmen un-nötige Bürokratie aufgezwungen wird. Wir als CDU/CSU werden jedenfalls nachhaltig auf ein ökologischverantwortbares Gleichgewicht zwischen Umweltbüro-kratie und Umweltarbeitsplätzen achten.Herr Bundesminister Gabriel, nach unseren ersten Be-gegnungen im Umweltausschuss und auch darüber hi-naus will ich allerdings auch gerne etwas unterstellen:Dieser Niedersachse, der dort auf der Regierungsbanksitzt, hat eine deutlich bessere Vorstellung von dem, wasfür Wirtschaft, Arbeit und Umwelt verträglich oderschädlich ist, als andere Niedersachsen, und damit binich wieder bei Ihnen, Herr Trittin.
Ich will hier aber auch noch einen anderen Nieder-sachsen erwähnen, nämlich den derzeitigen Ministerprä-sidenten in Niedersachsen, Christian Wulff; denn in die-ser Frage kann man sich in allen Fraktionen sicherlichein Beispiel an ihm nehmen.
– Ich finde, Herr Kelber war ein bisschen kleinlich. Einwenig Applaus dürfte es für den amtierenden Minister-präsidenten geben.
Herr Minister, darauf, dass wir Sie in dem Bestrebenum Umwelt und Arbeit aktiv begleiten werden, dürfenSie sich gerne verlassen. Die CDU/CSU-Fraktion wirddem vorliegenden Gesetzentwurf zur Vereinfachung derabfallrechtlichen Überwachung also zustimmen. Diestun wir auch deshalb, um bei der Entbürokratisierungund der Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehrBeschäftigung zügig voranzukommen.Die CDU/CSU hat dabei nicht übersehen, dass es beiallem Konsens in der Grundrichtung auch Dissens zwi-schen dem Bund und den für den Vollzug verantwortli-chen Ländern gibt. Dies betrifft offenkundig vor allemdie Frage, wie die Nichterfüllung von Nachweispflichtengeahndet werden soll. Wir glauben hier allerdings, dassdie Bundesregierung einen guten Ansatz gewählt hat,um mit den Ländern eine Einigung zu erreichen. Daswesentliche Stichwort ist auch hier die bereits erwähnteelektronisch gestützte Nachweisführung bei der Abfall-überwachung.Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat könnenim Verlauf des weiteren Verfahrens noch offene Fragenklären, um den Zielen der Effizienzverbesserung undauch der Erleichterung bei der Überwachung von Abfäl-len einen Schritt näher zu kommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, da dies heute meineerste Rede im Deutschen Bundestag ist, erlauben Sie mirzum Abschluss eine kurze persönliche Bemerkung:Als jemand, der in Osthessen nahe der innerdeutschenGrenze mit ihrem Stacheldraht und dem Schießbefehl
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Michael Brandgroß geworden ist, erinnere ich mich auch heute sehr ge-nau an Ausflüge in die Rhön, die plötzlich im Niemands-land stoppen mussten. „Point Alpha“ war bekanntlichder heißeste Punkt im Kalten Krieg. Nach dieser erlebtenTeilung meiner Heimat bin ich auch heute sehr froh undsehr dankbar, dass durch den Mut der Menschen unddurch eine kluge politische Führung unter Kanzler Kohlund auch der letzten DDR-Regierung de Mazière dieEinheit Deutschlands in Freiheit möglich wurde. DerSatz vorne auf dem Reichstagsgebäude „Dem deutschenVolke“ bedeutet für mich: „Dem deutschen Volke die-nen.“ Es heißt Gott sei Dank auch wieder: „Dem gesam-ten deutschen Volke dienen.“Das zu sagen, war mir persönlich wichtig. Das ist mirauch für die Menschen wichtig, die unter der Teilung ge-litten haben und die sich an Einigkeit und Recht undFreiheit in Deutschland freuen können.Vielen Dank.
Herr Brand, Sie haben schon darauf hingewiesen:
Dies war Ihre erste Rede. Dazu gratulieren wir Ihnen als
ganzes Haus sehr herzlich.
Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Eva Bulling-
Schröter von der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Bundesregierung will die Abfallüberwa-chung ändern. Moderner, einfacher und vollzugsfreund-licher soll sie werden. Das ist natürlich auch von unsererSeite zu unterstützen. Diese Begründung gilt aber nur füreinen Teil der Novelle, beispielsweise für die Anpassungdes deutschen Überwachungsrechts an die Begrifflich-keiten des EU-Rechts. Begrüßenswert ist auch dieMöglichkeit, die Nachweisführung auf EDV-Systemeumzustellen. Die Überwachung wird sicherlich unbüro-kratischer und effizienter.Probleme haben wir dagegen mit dem Abschnitt desGesetzentwurfs, der vorsieht, die Pflichten der Unter-nehmen zur Erstellung von Abfallwirtschaftskonzeptenund Abfallbilanzen abzuschaffen. Begründet wird diesdamit, dass sich Erwartungen nicht erfüllt hätten, die andiese Instrumente geknüpft worden seien. Mich würdeinteressieren, wer hier welche Erwartungen hatte undwer meint, Abfallwirtschaftskonzepte hätten sich nichtbewährt.
Gibt es dazu überhaupt Untersuchungen? Ich denke, hierwird lediglich einer alten Forderung der Wirtschaftentsprochen, sich leidiger Überprüfungen zu entledigen.Im Rahmen der Debatte um das Umweltaudit hatten jaseinerzeit Unternehmen und FDP mehrmals gefordert,die Firmen sollten Abfallwirtschaftskonzepte und Ab-fallbilanzen selbst überwachen. Das wurde im Jahr 2000aus gutem Grund abgelehnt. Frau Homburger hat jetztdiesen Entwurf gelobt.Nun soll beides gleich ganz abgeschafft werden, undzwar ohne Alternative und mit zweifelhafter Begrün-dung. Firmen, die wenig Lust auf Abfallwirtschaftskon-zepte hätten, erstellten in der Regel sowieso keine ver-nünftigen Pläne, ist im Entwurf zu lesen. Hört, hört!Doch wenn ich mich richtig erinnere, sollen Abfallkon-zepte und -bilanzen – so ist das damals diskutiert wor-den – von den Behörden überprüft werden. Wenn diesnicht anständig geschieht, dann liegt das daran, dass inden Vollzugsverwaltungen immer mehr Mitarbeiter undMitarbeiterinnen eingespart werden.
Durch Abfallbilanzen und Abfallwirtschaftskonzeptewurden nicht wenige Unternehmen dazu veranlasst, daserste Mal gründlicher über ihre Abfallströme nachzuden-ken; ich kenne das aus eigener Erfahrung. Gleichzeitigsind sie ein Instrument, illegalen Entsorgungen vorzu-beugen oder diese aufzudecken. Deswegen meinen wir,sie sollten erhalten bleiben. Ich weiß von Abfallbilanzen,Frau Homburger, an denen die großen Firmen richtigGeld verdienen.
In dem sensiblen Abfallbereich noch stärker aufMarkt und Selbstkontrolle zu setzen, scheint uns dage-gen naiv oder fahrlässig zu sein; denn die Realität sprichteine deutliche Sprache: Abfallströme werden sich stetsden billigsten Weg suchen, unzählige Müllskandale bele-gen dies. Nehmen Sie das endlich einmal zur Kenntnis.Ich möchte nur an die illegale Scheinverwertung vonGewerbeabfällen erinnern. Dabei wurden in der Vergan-genheit, um Kosten zu sparen, den öffentlich-rechtlichenEntsorgungsträgern der andienungspflichtige Gewerbe-müll zur Entsorgung entzogen, grob sortiert und an-schließend schlicht auf Billigdeponien abgelagert.Wer denkt, dieses dunkle Kapitel ist seit dem1. Juni 2005 abgeschlossen, der irrt sich. Stattdessengeht das Ganze ins Ausland. In einem tschechischenDorf in Nordböhmen sind beispielsweise kurz vor Weih-nachten rund 4 000 Tonnen deutschen Mülls auf demGelände eines in Konkurs gegangenen landwirtschaftli-chen Betriebes abgekippt worden. Auftraggeber: ein Re-cyclingunternehmen aus Deutschland. Ich frage Sie ein-fach: Sehen Sie eine solche Recyclingwirtschaft als inihren Möglichkeiten beschränkt? Wir sehen das nicht.
Ich denke, hier muss etwas Wesentliches passieren. DieAbfälle waren als Kunststoffreste deklariert. Tatsächlichbestand das Abfallgemisch aber aus Plastikflaschen undTextilien.Das ist kein Einzelfall. Bitte befassen Sie sich mit die-sem Thema! Wir lehnen den vorliegenden Gesetzent-wurf ab.
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Eva Bulling-SchröterAbschließend möchte ich mich kurz zu Herrn Brandäußern. Wenn Sie darauf hinweisen, dass Sie dem deut-schen Volk dienen, dann halte ich Ihnen entgegen, dasswir für die Belange der Bevölkerung in diesem Land wieauch – gerade im Bereich der Umwelt – in den andereneuropäischen Staaten zuständig sind. Ich denke, Um-weltschutz hat auch eine internationale Dimension.
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Im Gegensatz zu meiner ersten Rede in diesemHaus – damals ging es um REACH – haben meine Frak-tion und ich mit dem heutigen Vorhaben der Regierungkeine Probleme.Ich kann zwar die Bedenken der Kollegin Bulling-Schröter nachvollziehen, aber es geht nicht darum, dieVerpflichtungen abzuschaffen, sondern die formalisierteÜberwachung zu erleichtern und effizienter zu machen.Die gesetzlichen Pflichten zur Erstellung betrieblicherAbfallwirtschaftskonzepte und Abfallbilanzen haben inder Tat nicht in dem erwarteten Maß zur Optimierungder betrieblichen Abfallwirtschaft beigetragen. Es machtdeshalb Sinn, auf den Einzelbetrieb zugeschnittenenKonzepten und Bilanzen – gegebenenfalls auch unterHilfestellung der Industrie- und Handelskammer – denVorzug zu geben und ihre Effektivität zu bewerten.Der Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrecht-lichen Überwachung kann drei Ziele erreichen. Er machterstens durch die Einführung der elektronischen Formdie Überwachung effizienter. Er bewirkt zweitens, dassdie Überwachung EU-kompatibel wird, und er lässt drit-tens Kostensenkungen bei Bund, Ländern und Kommu-nen einerseits und den überwachungspflichtigen Unter-nehmen andererseits erwarten.Die Investitionskosten für die Einführung der elektro-nischen Kommunikationstechniken werden durch dieVorteile der elektronischen Form mehr als ausgeglichenwerden – ganz abgesehen davon, dass damit diesesStück notwendiger Restbürokratie im 21. Jahrhundertankommt. Schluss mit der Zettelwirtschaft!Da es sich hierbei um ein praktiziertes Beispiel mög-lichen Bürokratieabbaus handelt, will ich mit Ihrer Er-laubnis das Stichwort „Bürokratieabbau“ noch einmalbeleuchten und stoße damit vielleicht auch bei der Kolle-gin Bulling-Schröter auf Zustimmung. Der Begriff „Bü-rokratieabbau“ hat sich zu einem wirkungsmächtigenSchlagwort entwickelt. Wer den Abbau von Bürokratiefordert, findet im Allgemeinen ohne großes Ansehen derSache sofort regen Zuspruch.
Gerade bei Regelungen zum Schutz der Umwelt wirdgerne propagiert, das sei alles zu bürokratisch, zu teuer,zu technikfeindlich und schade der Wirtschaft.
Niemand bestreitet, dass es – auch im Umweltrecht, wiedas heutige Beispiel zeigt – Überregulierungen gibt.Eine reine Fokussierung auf die Regulierung kannaber den Blick auf inzwischen anstehende Aufgaben er-schweren, zum Beispiel die Notwendigkeit in der Ab-fallthematik, die Ressourceneffizienz unserer Wirtschaftdeutlich zu erhöhen und zu einem echten Kreislauf derStoffströme zu kommen. Bürokratieabbau ist also an denStellen notwendig, wo er dazu dient, effektive Gesetzeund ihren effektiven Vollzug zu erreichen.Aber auch dies bleibt wahr: Jede staatliche Regelungzum Schutz der Bürgerinnen und Bürger erzeugt Büro-kratie. Auf eine hohe Komplexität des Umweltrechtskönnen wir aber nicht verzichten. Eine Gesellschaft, diemit über 100 000 chemischen Stoffen in mehr als 1 Mil-lion Zubereitungen umgehen muss, kann nicht erwarten,die daraus resultierenden Risiken mit wenigen Federstri-chen des Gesetzgebers in den Griff zu bekommen. Des-halb kann es beim Umweltrecht keinen undifferenziertenSchrei nach Bürokratieabbau geben.
Ein immer wieder guter Weg zum Bürokratieabbauist, wie das heutige Beispiel zeigt, die Vereinheitlichung.Die Harmonisierung, Straffung und Vereinfachung desUmweltrechts in einem Umweltgesetzbuch steht auf derAgenda. Zentraler Bestandteil wäre hierbei die inte-grierte Vorhabenprüfung: Eine Behörde prüft in einemVerfahren die genehmigungsrelevanten Tatbestände.Lassen Sie mich zum Schluss noch eine deutlich kriti-sche Bemerkung an die Regierung richten, wie es sichfür eine Oppositionsfraktion gehört. Mit den Vorschlä-gen zur Föderalismusreform – über die wir noch zu re-den haben werden – hat die Koalition der Absicht desBürokratieabbaus und dem Ziel des UGB einen Bären-dienst erwiesen. Der Kompetenzwirrwarr zwischenBund und Ländern wird im Umweltbereich nicht ent-zerrt; er wird vielmehr verschärft. Konkurrierende Ge-setzgebung einmal mit – im Abfallrecht –, einmal ohneErforderlichkeitsklausel. Weit reichende Möglichkeitender Bundesländer, vom Bundesrecht abzuweichen, wer-den weder den Belangen der Umwelt gerecht noch dasBedürfnis von Investoren nach Klarheit und Rechtssi-cherheit befriedigen.
Hier war der kleine Bürokratieteufel am Werk undwird sich ins Fäustchen lachen, falls diese Regelungentatsächlich so in Kraft treten. Wir von Bündnis 90/Die Grünen werden jedenfalls mit aller argumentativenKraft versuchen, das zu verhindern. Einig können wiruns dagegen bei klarem Bürokratieabbau und Effizienz-gewinn werden, wie bei dem vorliegenden Entwurf eines
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Sylvia Kotting-UhlGesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Über-wachung.Vielen Dank.
Herzlichen Dank. – Ich schließe damit die Ausspra-
che.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/400 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe
dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie die Zu-
satzpunkte 3 bis 5 auf:
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Maurer, Oskar Lafontaine, Dr. Gregor Gysi, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Guantanamo schließen
– Drucksache 16/364 –
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Für die Einhaltung von grundlegenden Men-
schenrechten und Grundfreiheiten beim Um-
gang mit Gefangenen
– Drucksache 16/431 –
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für die Schließung von Guantanamo Bay und
die Überführung der Gefangenen in rechts-
staatliche Verfahren
– Drucksache 16/454 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck , Jürgen Trittin, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rechtsstaatliche Verfahren und Menschen-
rechtsschutz für die Inhaftierten in Guanta-
namo Bay
– Drucksache 16/443 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Es ist vereinbart, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!Zu Beginn meiner Rede möchte ich etwas sagen, das mireigentlich nicht so wichtig ist, das ich aber einmal gesagthaben will: Ich finde, es ist angesichts des Gewichts desThemas kleinkariert, dass alle anderen Fraktionen eineneigenen bzw. einen gemeinsamen Antrag eingebrachthaben, nur weil sie den Adressaten unseres begründetenAntrags als nicht richtig empfinden.
Natürlich kenne ich ein solches Verhalten auch aus derGeschichte der Linken; das will ich gar nicht bestreiten.
– Ich sagte ja gerade, dass ich das kenne. – Ich bin froh,nun Mitglied einer Fraktion zu sein, die dieses Verhaltenwirklich überwunden hat
und bereit ist, jeden vernünftigen Antrag zu unterstützen,selbst wenn er von der Union kommt; das geschieht al-lerdings relativ selten.
Inhaltlich geht es um eine gewichtige Frage. Das Völ-kerrecht, mit dem wir es heute überwiegend zu tun ha-ben, ist in einer bestimmten Zeit entstanden, in einer Zeitdes militärischen Gleichgewichts zwischen der Sowjet-union und den USA. Es hatte so lange einen relativ stabi-len Bestand. Nichts Wichtiges geschah an der einen oderder anderen Weltmacht vorbei. Dann ist die eine Welt-macht weggefallen; das ist begrüßt worden. Aber damitsind auch viele Grundlagen des Völkerrechts entfallen.Es entspricht heute nicht mehr dem bestehenden Kräfte-verhältnis. Das Vetorecht Russlands ist anders gewichtetals das der Sowjetunion. Die USA haben sehr schnell er-kannt, dass sie die einzig verbliebene Weltmacht sind.Aber die einzig verbliebene Weltmacht zu sein darf nichtnur ein Ausdruck von Rechten, sondern muss auch einAusdruck von Verantwortung und enormen Pflichtensein. Dem stellen sich die USA nur sehr wenig.
Das Völkerrecht hat – genauso wie das innere Recht –nur Substanz, wenn es für alle Staaten verbindlich ist,das heißt für Uganda genauso wie für Deutschland unddie USA. Es darf nicht nur für bestimmte Staaten und fürandere nicht gelten. So sind die Charta der Vereinten Na-tionen und viele andere völkerrechtliche Bestimmungenangelegt.Wir haben es mit der Entwicklung des Terrorismusund schrecklichen Ereignissen – diese muss ich hier si-cherlich nicht im Einzelnen aufzählen – zu tun bekom-
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Dr. Gregor Gysimen. Die Antwort darauf lautete Krieg. Ich sage Ihnen,warum ich diese Antwort so falsch finde: Krieg bringtnur neuen Hass hervor. Im Krieg sterben immer Un-schuldige – wenn man so will – aus politischen Gründen.Krieg, insbesondere der völkerrechtswidrige, ist eine derschlimmsten Formen des Terrorismus.
Deshalb wird in der Charta der Vereinten Nationen dieMöglichkeit, Krieg zu führen, ungemein eingeschränkt.Dagegen ist aber verstoßen worden.Wir haben es nun mit einer Spirale der Gewalt zutun und niemand von uns kann wirklich einschätzen, wo-hin das Ganze führt, wann wer wie darunter leidet, wannetwas passiert. Die USA haben daraus eine Schlussfol-gerung gezogen: Sie bekämpfen den Terrorismus aufihre Art mit allen Mitteln und verletzen dabei das Recht.Ich sage Ihnen aber: Terrorismus ist großes grobes Un-recht. Wir haben nur eine Chance gegen großes grobesUnrecht, wenn wir es mit Recht bekämpfen.
Wenn wir es mit Unrecht bekämpfen, werden wir dem,was wir bekämpfen, immer ähnlicher. Genau das darfaber nicht passieren.Ich kann Ihnen viele Beispiele nennen. Heute geht esum eines, um Guantanamo. Man muss sich überlegen,was nach dem Krieg in Afghanistan geschehen ist: Dumachst Gefangene, sagst aber, dass das keine Kriegsge-fangenen sind. Du willst die entsprechende Konventionnicht anwenden, du gibst ihnen nicht die Rechte vonKriegsgefangenen. Du sagst aber auch, dass es keine Be-schuldigten sind und deshalb keine Ermittlungsverfahrenin diesem Sinne durchgeführt werden. Du sagst, dass dudein eigenes Recht fürchtest. Die US-Administrationsagt: Ich bringe die Gefangenen nicht in die USA; dennda haben sie Rechte. Da gibt es Richter, Verteidiger undvieles mehr. Das will ich nicht. – Man erklärt die Gefan-genen für rechtlos.Das ist das Kernproblem. Wenn man sagt, Gefangeneseien rechtlos, dann bringt man ein Stück zivilisatorischeEntwicklung von weit über 100 Jahren ins Schwanken.Wir bewegen uns dann zurück. Der Terrorismus hat die-sen Erfolg einer antizivilisatorischen Entwicklung beiuns oder im Westen überhaupt nicht verdient. Es wäregrotesk, wenn er Erfolg hätte.
Deshalb ist es so wichtig, gerade an einen Partner, ge-rade an eine so wichtige Macht wie die USA, immerwieder zu appellieren: Man kann Stärke auch missbrau-chen. – Sie sind dabei, das zu tun; das ist ein grober Feh-ler. Schauen Sie sich die Entwicklung auf der Welt an.Wie denkt die Bevölkerung mancher Staaten heute überdie USA? Ich habe den Eindruck, dass das die Adminis-tration in den USA gar nicht interessiert. Ich glaube, dasist ein großer Fehler. Wir hatten heute eine Diskussionüber den Iran. Es gibt viele Länder, über die man in die-sem Zusammenhang sprechen könnte. Wir haben hiereine katastrophale Entwicklung.Deutschland ist ein enger Verbündeter der USA. Siealle kennen die Geschichte seit 1945. Ich brauche garnicht darauf einzugehen, welche Rolle die USA geradefür die alte Bundesrepublik gespielt haben. Und weil dasso ist, ist es so wichtig, dass ein Partner wie Deutschlandden Mut hat – auch das Parlament –, zu sagen: Du be-gehst einen Fehler. Wir sagen das öffentlich, weil wirnicht wollen, dass du diese Entwicklung als Weltmachtweiter nimmst. Wir wollen, dass du deine Rechte wahr-nimmst, vor allem aber auch deine Pflichten und deineVerantwortung gerade für das Völkerrecht.
Sie sollten bitte zum Schluss kommen, Herr Gysi.
Lassen Sie mich als Letztes eines sagen, weil immer
der Vorwurf des Antiamerikanismus nahe liegt: Abgese-
hen davon, dass ich in den USA Freunde habe, weise ich
diese Anschuldigung zurück.
– Sie haben keine Ahnung. Das macht aber nichts. –
Wissen Sie, wer heute antiamerikanisch ist? Präsident
Bush. Er erzeugt einen Antiamerikanismus wie kein an-
derer.
Eine Korrektur ist dringend erforderlich. Deshalb meine
Bitte: Machen wir zusammen einen Antrag und sagen
den USA: So geht es nicht weiter!
Das Wort hat Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Eine Institution wie Guantanamo kann und darf aufDauer so nicht existieren. Es müssen Mittel undWege für einen anderen Umgang mit den Gefange-nen gefunden werden. Das steht für mich außerFrage.Diese eindeutige und unmissverständliche Aussage vonBundeskanzlerin Angela Merkel findet, so denke ich, dieUnterstützung von uns allen.
Wir sind der Bundeskanzlerin dafür dankbar, dass siedies nicht nur vor ihrer USA-Reise in einem „Spiegel“-Gespräch gesagt hat, sondern dass sie diese Positionauch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten mitNachdruck vertreten hat. Wir teilen die Auffassung derBundesregierung, dass diese Gefangenen in Überein-stimmung mit dem humanitären Völkerrecht und denmenschenrechtlichen Mindeststandards zu behandeln
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Ruprecht Polenzsind. Dazu gehören menschliche Behandlung, Achtungder Person und der Ehre, Schutz vor Gewalttätigkeit undEinschüchterung, Anspruch auf ärztliche Behandlungsowie Gerichtsverfahren mit rechtsstaatlichen Garantien.Es geht um die Frage: Wie führen wir den Kampfgegen den internationalen Terrorismus? Wir verteidi-gen in diesem Kampf unser Recht auf Sicherheit für Leibund Leben. Wir verteidigen dieses Recht gegen Terroris-ten, die ihre Angriffe bevorzugt gegen so genannte wei-che Ziele richten. „Weiche Ziele“ ist eine zweifelhafteUmschreibung für Kinder, Frauen, alte Menschen, Zivi-listen, unschuldige Opfer. Wir verteidigen dieses Rechtgegen Terroristen, die Angst und Schrecken verbreitenwollen durch immer grausamere Anschläge, denen mög-lichst viele Menschen zum Opfer fallen sollen. Wir ver-teidigen im Kampf gegen den internationalen Terroris-mus unsere Freiheit, so zu leben, wie wir leben wollen,ohne dadurch anderen zu schaden.Außerdem verteidigen wir unsere Werte. Wir verteidi-gen die Unantastbarkeit der Menschenwürde gegen Ter-roristen, die in einem rigiden Freund-Feind-Denken ge-fangen sind und die für den Feind nur Vernichtung übrighaben. Wir verteidigen unseren Rechtsstaat gegen Terro-risten, die sich keinerlei Recht verpflichtet fühlen. Des-halb ist der internationale Terrorismus die gewalttätige,mordende Antithese zur Zivilisation.
Das, was wir verteidigen, definiert auch die Grenzeder zulässigen Mittel. Deshalb haben wir bei der Verab-schiedung der so genannten Antiterrorpakete zur Erhö-hung unserer inneren Sicherheit darauf geachtet, dieFreiheit nicht stärker einzuschränken als unabdingbarnotwendig. Aus der Unantastbarkeit der Menschen-würde folgt zwingend ein absolutes Folterverbot.
Man darf auch nicht foltern lassen. Die Unantastbarkeitder Menschenwürde verbietet auch Handlungen, die einegrausame, unmenschliche oder erniedrigende Behand-lung oder Strafe darstellen. Rechtsstaatlichkeit gibt An-spruch auf rechtliches Gehör und faire Gerichtsverfah-ren.
Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September2001 haben die Vereinten Nationen alle Staaten dazuaufgefordert, beim Kampf gegen den internationalenTerrorismus zusammenzuarbeiten, weil dieser Kampfnur in dieser Gemeinsamkeit aller Staaten gewonnenwerden kann. Das bedeutet, dass wir – nicht zuletzt umGefahren für unser Land abzuwehren – diese Zusam-menarbeit nicht nur auf solche Staaten begrenzen kön-nen, die rechtsstaatliche Demokratien sind wie wir. Aberwir dürfen bei dieser Zusammenarbeit die Grenzen nichtüberschreiten, die uns unser Rechtsstaat setzt.
Die Zusammenarbeit kann umso enger sein, je mehrwir nicht nur im Ziel der Bekämpfung des Terrorismuseinig sind, sondern auch im Hinblick auf die Grenze derzulässigen Mittel. Auch in den USA, der ältesten Demo-kratie der Welt, wird mit großem Ernst um die Grenzengerungen, die es beim Kampf gegen den Terrorismuseinzuhalten gilt. Welchen Rechtsstatus haben Mitgliederder Terrororganisation al-Qaida? Wie sollen Gefangenebehandelt werden, die des Terrorismus beschuldigt wer-den? Welche Verhörmethoden sind zulässig und wo lie-gen die Grenzen?Ich finde die Offenheit und Intensität dieser inner-amerikanischen Debatte beeindruckend. Mein Eindruckist, dass sich die amerikanische Diskussion in den bisherunterschiedlich bewerteten Fragen immer mehr denPositionen annähert, die auch von uns für richtig gehal-ten werden. So hat die amerikanische AußenministerinCondoleezza Rice nach ihrem Europabesuch klargestellt,dass die US-Regierung ihre Verpflichtungen aus derAnti-Folter-Konvention anerkenne – Zitat –, „ob inner-halb oder außerhalb der USA“.
Außerdem hat sie zugesagt, dass internationale Ver-einbarungen in den USA nicht anders ausgelegt werdenals in Europa.Der US Supreme Court hat am 28. Juni 2004 in dreigrundlegenden Urteilen entschieden, dass den Guantana-mogefangenen der Rechtsweg zu US-Gerichten offensteht und sie sich auf die Justizgrundrechte der US-Ver-fassung berufen können.Umgekehrt wächst auch bei uns die Erkenntnis, dassder internationale Terrorismus neue völkerrechtlicheFragen aufgeworfen hat, auf die auch wir und die Euro-päer insgesamt noch keine befriedigende Antwort gefun-den haben. Die Bundeskanzlerin hat dem amerikani-schen Präsidenten vorgeschlagen, diese Fragen nochstärker als bisher im Rahmen der Vereinten Nationen zudiskutieren. Wir sollten diese Diskussion mit unserenamerikanischen Partnern und Freunden in einem Geistund mit einer Sprache führen, die deutlich machen, dasswir uns den gemeinsamen Werten verpflichtet fühlen.Lassen Sie mich mit einem Zitat des amerikanischenSenators John McCain schließen:Die Feinde, die wir bekämpfen, haben keine Ach-tung vor menschlichem Leben oder vor den Men-schenrechten. Sie verdienen nicht unser Verständ-nis. Aber es geht nicht darum, wer sie sind. Es gehtdarum, wer wir sind.
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Ruprecht Polenz
Es sind unsere Werte, die uns von unseren Feindenunterscheiden, und wir dürfen unseren Feinden nieund niemals erlauben, uns diese Werte wegzuneh-men.
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar von der
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Guantanamo Bay ist nicht das einzige Gefange-nenlager, das die USA unterhalten, aber es ist ein Stückweit zu einem Symbol geworden; denn es steht für einePolitik, die zur Bekämpfung des Terrors nach eigenemBekunden die Samthandschuhe abgelegt hat. Doch woes nicht mehr allein um wirksame Maßnahmen gegenden Terror geht, sondern um die Demonstration von har-tem Durchgreifen, bei dem Häftlinge sinnlos gedemütigtwerden, da ist eine Grenze überschritten. Terrorbekämp-fung hat sich am Gebot effektiver Verhinderung und Ver-folgung von Anschlägen zu orientieren; es geht geradenicht um Vergeltung. Jedes andere Zeichen wäre einAusdruck nicht der Stärke, sondern der Schwäche.
Klar ist: Wir brauchen den Kampf gegen den Terrorwie gegen seine Ursachen. Das bedeutet auch, dass Täterverfolgt, Terrorzellen überwacht und Gelder sicherge-stellt werden. Aber dies hat in einem rechtsstaatlichenRaum und nicht in rechtsleeren, abgeschirmten Grau-zonen zu erfolgen.
Wo immer dieser Kampf mit zulässigen rechtsstaatli-chen Mitteln geführt wird, haben die USA ein Anrechtauf unsere deutsche Unterstützung. Wo der notwendigeKampf gegen Terrorismus aber mit Mitteln geführt wird,die gegen grundlegende Wertvorstellungen, die wir jagerade gegen die Terroristen verteidigen wollen, versto-ßen, müssen wir dem entgegentreten.Die Existenz von Regeln zur Behandlung vonGefangenen ist eine unschätzbare Errungenschaft, dienicht preisgegeben werden darf. Das Lager in Guanta-namo Bay ist mit bestehenden Regeln zur Behandlungvon Gefangenen nicht vereinbar. Die Inhaftierten wer-den rechtsstaatlichen Mechanismen entzogen. Auf siefinden weder die Regeln der Genfer Konvention überKriegsgefangene Anwendung, noch gelten sie als Be-schuldigte im Sinne des amerikanischen Strafrechts.Diese Rechtlosstellung der Tatverdächtigen ist nicht hin-nehmbar. Sie ist gerade vor dem Hintergrund der ameri-kanischen Rechtstradition und der amerikanischen Ver-fassung, in der der Schutz vor willkürlicher Inhaftierungdurch das IV. Amendment ein zentrales Freiheitsrechtdarstellt, ein kolossaler Salto rückwärts und wird zuRecht von einer zunehmenden Zahl von US-Bürgern ab-gelehnt.
Auch die Art und Weise, wie mit den Gefangenen inden Camps umgegangen wird, veranschaulicht, wie sehrhier im Hinblick auf Rechtsstaat und Bürgerrechte eineSchieflage entstanden ist. Die Berichte über das Zufügenvon Schmerzen durch Schläge oder über Scheinhinrich-tungen, beispielsweise durch die Praxis des so genanntenWaterboarding, sind mehr als beunruhigend. Wenn derSprecher des amerikanischen Heeres, Paul Boyce, aufBerichte, in denen kolportiert wird, es sei ab Mitte Fe-bruar möglich, in Guantanamo Inhaftierte durch dasMilitär auch hinrichten zu lassen, lediglich mit dem Satzreagiert, das sei pure Spekulation, dann ist das schlichtund einfach zu wenig, meine Damen und Herren.
„Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht exis-tieren“ – so hat es die Bundeskanzlerin vor ihrem Abflugnach Washington ausgedrückt. Wir Freien Demokratenbegrüßen es, dass die Kanzlerin diese Position einge-nommen hat. Wir begrüßen das vor allem vor dem Hin-tergrund, dass unsere Fraktion in der letzten Legislatur-periode die erste war, die diese Forderung hier imBundestag in Form eines Antrags eingebracht hat. Die-ser wurde damals leider mit den Stimmen aller anderenFraktionen abgelehnt. Insbesondere die Kollegen vonder Union waren noch in der letzten Legislaturperiodenicht bereit, die angesprochenen Probleme insbesonderehinsichtlich des Status der Gefangenen auf Guantanamoauch nur als solche anzuerkennen. Es freut uns, dass dieForderung nach einer Schließung des Lagers und derÜberstellung der Inhaftierten an ordentliche Gerichtemittlerweile in diesem Hause eine doch so breite Unter-stützung erfährt, wie sich das jetzt abzeichnet.
Meine Damen und Herren, vor zwei Jahren wurde mitder rot-grünen Mehrheit hier im Bundestag ein Antragbeschlossen, der die USA zum Schutze menschenrechtli-cher Mindeststandards in Guantanamo und zur Einhal-tung aller ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen er-mahnte. Bereits eineinhalb Jahre zuvor hatten deutscheNachrichtendienste allerdings selbst auf GuantanamoVerhöre vorgenommen. Es ist doch unbestreitbar, dass esdoppelzüngig ist, wenn der Deutsche Bundestag einer-seits – und zu Recht – Resolutionen gegen dieses Lagerbeschließt und andererseits deutsche Geheimdienste vorOrt Inhaftierte befragen, womöglich auf Veranlassungder Bundesregierung.
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Florian ToncarDas ist inkonsequent und schadet der Glaubwürdigkeitunserer Haltung als Parlament zu Guantanamo insge-samt. Ich sage es ganz offen: Wäre ich vor zwei Jahrenals Abgeordneter an jenem Entschließungsantrag, mitdem Guantanamo kritisiert wird, beteiligt gewesen, dannwürde es mich heute doch interessieren, inwieweit deut-sche Beamte dieses Lager zur Gewinnung eigener Er-kenntnisse mitgenutzt haben. Was bisher dazu auf denTisch gekommen ist, würde mich eher beunruhigen alsberuhigen.
Meine Damen und Herren, uns liegen heute vier An-träge vor, die in eine ähnliche Richtung zielen. Wir wün-schen uns für unseren Antrag die Überweisung in dieAusschüsse zur weiteren Beratung dort. Wie Sie demWortlaut des FDP-Antrags entnehmen können, unterstüt-zen wir die Forderung der Bundeskanzlerin im Hinblickauf eine Schließung des Lagers in Guantanamo. Eswäre aus unserer Sicht jedoch geschickter gewesen,wenn auch die Koalitionsfraktionen diese Forderung indieser wohltuenden Klarheit in ihren Antrag hineinge-schrieben hätten, anstatt in Andeutungen stecken zu blei-ben.
Denn ich finde es falsch, auch aus der Perspektive desParlamentariers, wenn man zum Verständnis der Haltungdes Parlaments auf Interviewäußerungen der Bundes-kanzlerin verwiesen wird. Das sollten wir für uns selbstnicht so vorsehen.
Ich sagte eingangs, Guantanamo sei ein Symbol. Diedahinter stehende Frage, zu welchen Mitteln man imKampf gegen den Terrorismus greifen darf, wird uns– da bin ich mir sicher – leider noch eine ganze Zeit langund wahrscheinlich – auch diese Anmerkung sei gestat-tet – nicht immer mit der gleichen Einigkeit wie heute indiesem Parlament beschäftigen.
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung Staats-
minister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bundesregierung begrüßt, dass sich der DeutscheBundestag heute erneut mit dem Thema Guantanamo be-schäftigt. Die Frage des Status, der Rechte und der Be-handlung der Gefangenen von Guantanamo ist seit lan-gem Gegenstand des politischen Dialogs zwischen derBundesregierung und der Regierung der VereinigtenStaaten.Die Bundesregierung hat dabei immer wieder den un-geklärten Status der Guantanamogefangenen ange-sprochen. Wir halten die Einstufung der Verdächtigen als„ungesetzliche Kämpfer“ bzw. „feindliche Kombattan-ten“ mit der Folge, dass sie keinen Anspruch auf rechts-staatliche Verfahren haben, für nicht mit dem geltendenVölkerrecht vereinbar.
Nach unserer festen Überzeugung haben die Festgehalte-nen unabhängig von der Festlegung ihres Status im Ein-zelfall einen Anspruch auf Behandlung nach den rechtli-chen Standards des humanitären Völkerrechts und derMenschenrechte, das heißt konkret, Anspruch auf einejederzeit menschenwürdige Behandlung, auf Schutz vorFolter und körperlicher Misshandlung, auf Schutz vorgrausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behand-lung oder Strafe und schließlich das Recht auf faire,rechtsstaatliche Verfahren.
Diese grundsätzliche Position der Bundesregierunghat die Unterstützung des Deutschen Bundestages erhal-ten. Besonders deutlich wurde das in der sehr differen-zierten Entschließung des Deutschen Bundestages vom25. März 2004 zum Thema Guantanamo – der KollegeToncar hat diese Entschließung eben angesprochen –,die noch heute Gültigkeit beanspruchen kann. Die Bun-desregierung hat diese grundsätzliche Position in ihrerBeantwortung von Fragen aus den Reihen des DeutschenBundestags im Dezember 2005 erneut bekräftigt.Über diese Fragen gibt es, wie gesagt, seit längeremeinen kritischen Dialog mit den Vereinigten Staaten.Vor ihrem Antrittsbesuch in Washington hat die Bundes-kanzlerin dazu deutliche Worte gefunden und öffentlichgefordert – Herr Polenz hat es bereits gesagt; ich zitierees noch einmal –:Eine Institution wie Guantanamo kann und darf aufDauer so nicht existieren. Es müssen Mittel undWege für einen anderen Umgang mit den Gefange-nen gefunden werden.Das Thema war dann auch Gegenstand des Gesprächsder Bundeskanzlerin mit dem amerikanischen Präsiden-ten. Es wurde schon vorher von BundesaußenministerFrank-Walter Steinmeier bei der Begegnung mit seinerKollegin Condoleezza Rice im Dezember angesprochen.Dabei kann es nie darum gehen, vor der neuen Quali-tät der terroristischen Herausforderung, die wir nachdem 11. September 2001 erfahren mussten, die Augenzu schließen. Wir sind aber noch dabei, zu lernen, wiewir die Bürger vor Gefahren schützen können, die wir indieser Form früher nicht kannten.Gilt zum Beispiel für jemanden, der über 150-mal mitden Hauptattentätern des 11. September in New Yorkund Washington und des 11. März in Madrid telefonierthat, die Unschuldsvermutung – Telefonieren ist ja nichtstrafbar – oder müssen wir hier möglicherweise präven-tiv – zum Schutz der Bürger – tätig werden? Es geht alsoum jene schwierige Gratwanderung zwischen einer ent-schlossenen und gemeinsamen Abwehr des Terrorismuseinerseits und der Bewahrung von rechtsstaatlichen und
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Staatsminister Gernot Erlerdemokratischen Grundsätzen und Freiheitsrechten – ge-rade dagegen richtet der internationale Netzwerkterroris-mus seine Attacken – andererseits.Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Washingtoner Redevom 12. Januar dieses Jahres ausdrücklich die schwie-rige Aufgabe angesprochen, hier die richtige Balance zufinden. Dabei geht es auch nicht ausschließlich umrechtliche Fragen, sondern letztlich um die politischeFrage, welche Art der Bekämpfung des Terrorismus aufDauer erfolgreich sein kann. Solange das Lager in Guan-tanamo Bay besteht, wird diese Diskussion insofern im-mer wieder auf die Behandlung der dortigen Gefangenenzurückkommen müssen.Längst hat diese Diskussion auch die VereinigtenStaaten selbst erreicht, wo inzwischen über diese politi-schen und rechtlichen Fragen auf einem hohen Niveaudiskutiert wird. Herr Kollege Gysi, ich würde michfreuen, wenn Sie auch diesen Teil der amerikanischenRealität zur Kenntnis nehmen würden. Ich meine damitunter anderem die Diskussion um das so genannteMcCain Amendment, wodurch jetzt die weltweite Gel-tung des Folterverbots für alle US-Bediensteten in Be-zug auf alle Verhörmethoden gesetzlich klargestelltwurde. Ich meine damit auch, dass amerikanische Ge-richte klargestellt haben, dass Guantanamo kein rechtli-ches Niemandsland sein darf und dass jetzt neue undtransparente Regelungen für Haftprüfungsverfahren gel-ten. Ich meine damit weiterhin die schon angesprocheneEntscheidung des US Supreme Courts, dass ausländi-sche Gefangene in Guantanamo dasselbe Recht wieamerikanische Bürger haben, nämlich die Autoritätstaatlicher Gerichte in Anspruch zu nehmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklun-gen ermutigen uns. Sie ermutigen die Bundesregierung,den in letzter Zeit sehr intensiv geführten Dialog mit un-seren amerikanischen Partnern mit dem ausdrücklichenZiel fortzusetzen, gemeinsam Mittel und Wege zu einemanderen Umgang mit den Guantanamogefangenen, aberauch mit allen anderen Gefangenen im Zusammenhangmit dem Kampf gegen den Terrorismus zu finden.
Damit stellen wir letztlich unter Beweis: Die Gemein-schaft der Staaten, die sich den Attacken der Feinde derFreiheit ausgesetzt sieht, kann Antworten finden, die un-serem Anspruch als freie und offene Gesellschaften ge-recht werden, die das Recht jedes Einzelnen achten unddie den geltenden und unverzichtbaren Regeln des inter-nationalen Völkerrechts ohne Einschränkung folgen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ter-roristen wollen die Freiheit in unseren Gesellschaftenangreifen. Sie wollen Angst und Schrecken verbreiten.Wir müssen die Einhaltung der Menschenrechte, Rechts-staatlichkeit und Demokratie als zentrale Grundwerteverteidigen und sichern.Beim Verteidigen und Sichern dürfen wir aber diesePrinzipien nicht selbst teilweise außer Kraft setzen undGrenzen überschreiten; ansonsten ist ein Teilziel dessen,was die Terroristen erreichen wollen, erfüllt. Deshalbmüssen wir mit unseren amerikanischen Freunden weiterdarüber sprechen und von ihnen fordern, dass auch siesich beim Kampf gegen den Terrorismus ohne Wenn undAber an das Völkerrecht und an internationale Men-schenrechtskonventionen halten.
Guantanamo steht als Symbol für doppelte Stan-dards des Westens beim Kampf gegen den Terrorismusund beschädigt damit den ideologischen Kampf um dieKöpfe in einer Problemregion. Denn wir zeigen, dass derWesten in seinen Handlungen nicht konsequent ist. Wirdementieren damit unser Anliegen selber. Dies ist vongroßem außenpolitischen Schaden, weil es dadurch nichtgelingt, die Terroristen von der großen Mehrheit der dor-tigen Bevölkerung zu isolieren und die Bevölkerung zuüberzeugen: Das sind Wirrköpfe und der Westen ist ganzanders, als er beschrieben wird.Die Amerikaner leisten mit Guantanamo einen Bei-trag dazu, dass die falsche Beschreibung der Welt durchdiese Wirrköpfe für manche Menschen ein gewissesMaß an Plausibilität gewinnt. Deshalb muss das Gefan-genenlager Guantanamo geschlossen werden.Wir als Bundesrepublik Deutschland müssen mit ei-ner Stimme sprechen und ein solches Vorgehen zurück-weisen. Ich hoffe, dass es dieses Hohe Haus schafft,während des Verfahrens mit einer Stimme zu sprechen.Denn ich denke, die große Einheit zwischen den fünfFraktionen sollte als Willensbildung des Parlamentesklar zum Ausdruck kommen.
Die Bundesregierung hat seit dem Afghanistankriegund dem Bekanntwerden des Gefangenenlagers in Guan-tanamo die Praxis der Amerikaner in Regelmäßigkeitkritisiert. Ich bin sehr froh darüber, dass die neue Bun-desregierung diese Politik der alten Bundesregierungnahtlos fortsetzt.
Deshalb begrüße ich es, dass Frau Merkel wie zuvorihre Vorgänger wie Herr Fischer, Otto Schily und FrauZypries in den USA klare Worte gefunden hat.
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Volker Beck
– Auch der Bundeskanzler hat dies angesprochen. Abererinnern Sie sich einmal, in welcher Zeit das damals war,welche außenpolitischen Diskussionen wir geführt ha-ben und wie die Situation angesichts der Tatsache war,dass Angela Merkel nach Washington gefahren ist, umzu sagen: So ganz gegen den Irakkrieg, wie die deutscheRegierung es ist, sind wir nicht. Deshalb hat man damalsnicht jedes Gespräch an die große Glocke gehängt.
Ich kann Ihnen eine lange Liste von Dokumenten vorle-gen, die beweisen, dass Vertreter der Bundesregierungim Ausland, zum Beispiel in Washington, und inDeutschland, im Bundestag, ganz klar gesagt haben: DasGefangenenlager in Guantanamo muss geschlossen wer-den. Es darf keine Differenzen beim Kampf gegen deninternationalen Terrorismus geben. Menschenrechtemüssen gewahrt werden. – Da brauchen wir uns wirklichnicht zu verstecken.
Frau Merkel hat in diesem Zusammenhang gesagt:Eine Institution wie Guantanamo kann und darf aufDauer so nicht existieren.Beim Wording wünsche ich mir eine größere Klarheit.Was heißt „auf Dauer“? Ich finde, sie darf überhauptnicht existieren und sollte morgen und nicht erst in sechsMonaten geschlossen werden.
Kollege Toncar hat es schon angesprochen: Wenn unsBerichte aus den USA erreichen, in denen Sprecher desUS-Verteidigungsministeriums erklären, dass in Guan-tanamo aufgrund einer neuen Verwaltungsvorschrift jetztauch hingerichtet werden kann, und ein anderer Sprechersagt, das sei falsch, das habe man falsch interpretiert,dann beunruhigt mich das außerordentlich. Da muss manein klares Stoppsignal setzen und deutlich machen, dasswir als Europäer in großer Sorge darüber sind, dass einweiterer Schritt in der Auflösung des Rechts gegangenwird, und wir uns dem klar entgegenstellen.
Wir müssen bei der Diskussion – das ist mir vor allenDingen beim Einstiegsbeitrag aufgefallen – aber auchaufpassen, wie wir über die Amerikaner und mit denAmerikanern reden. McCain ist ein Beispiel dafür, dassim amerikanischen Parlament und in der amerikanischenBevölkerung eine Position für Rechtsstaatlichkeit, fürMenschenrechte und gegen Folter mehrheitsfähig ist unddass die Position der amerikanischen Regierung und desamerikanischen Präsidenten nicht für Amerika als Gan-zes steht.
Das ist ganz wichtig. Wenn wir das sehen, dann könnenwir mit den Bündnispartnern in der amerikanischenGesellschaft dafür sorgen, dass unseren Prinzipien viel-leicht auch in den USA zum Durchbruch verholfen wird.Ich glaube, wir alle sollten an einem Strang ziehen, umdas hinzubekommen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Alois Karl von der CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Guantanamo – welch ein Wort! Kaum ein ande-res Wort in der politischen Diskussion ist heutzutage mitso viel Negativem belegt wie dieses. Der Begriff wirdbei uns mit der Entziehung persönlicher Freiheiten, mitder Verweigerung rechtlichen Gehörs in Zusammenhanggebracht. Guantanamo kann aber doch nicht isoliert ge-sehen werden; der Bogen muss weltweit gespannt wer-den, zum international operierenden Terrorismus, der– wir haben das gehört – mit rechtsstaatlichen Mittelnbekämpft werden muss.Guantanamo ist gewiss kein Ruhmesblatt für die USAund kann aus unserer Sicht nicht dauerhaft Bestand ha-ben. Guantanamo ist für uns, die wir uns zum Grund-rechtskatalog bekennen, mehr als bloß ein Dorn imAuge; es ist sicher eine offene Wunde. Unsere Meinungist eindeutig: Grundlegende Menschenrechte könnenkeinem vorenthalten werden, nicht einmal dem, der sichselbst außerhalb der Rechtsordnung gestellt hat. Diestrifft auch auf die Gefangenen von Guantanamo Bay zu:Auch sie sind nicht vogelfrei.
Es ist nicht zweifelsfrei definiert, welchen Status die600 Gefangenen auf dem US-Stützpunkt haben. Insbe-sondere die al-Qaida-Gefangenen werden als unrechtmä-ßige Kombattanten angesehen und sollen aus demRechtekatalog der Genfer Konvention herausfallen. Fürsie, so die amerikanische Diktion, gelte das humanitäreVölkerrecht nicht; sie haben also keinen Zugang zu An-wälten, keinen Zugang zu Gerichten.Nach der amerikanischen Position sind die Gefange-nen in Guantanamo Bay sozusagen rechtsschutzlos. DieBeurteilung hierzulande ist anders. Unabhängig vom ju-ristischen Hin und Her geht es in Guantanamo um Men-schen, und diese leben augenblicklich in ganz unerträgli-chen Verhältnissen. Ihre Situation kann uns aus demGesichtswinkel der Menschenrechte nicht gleichgültigsein.
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Alois Karl
Das große Verdienst von Angela Merkel ist es zwei-fellos, dass sie dieses Thema schon im Vorfeld der USA-Reise und dann beim Präsidenten offen angesprochenhat. Damit drückt die Bundeskanzlerin aus, dass uns imfreien Teil Europas die Gefangenen von Guantanamonicht egal sind. Wir sind ihr dankbar, dass sie damit auchdem Gebot des Art. 1 des Grundgesetzes Rechnungträgt, wonach sich das „Deutsche Volk … zu unverletzli-chen … Menschenrechten“ bekennt. In diesem Grund-rechtsartikel ist gerade das Wort „bekennen“ wichtig.Diese Forderung des Grundgesetzes, also das Bekennen,richtet sich an jeden, an den Feind und noch viel mehr anden Freund. Es gibt nicht nur eine Feigheit vor demFeinde, sondern auch Tapferkeit vor dem Freund; das hatAngela Merkel bewiesen.
Wir danken unseren amerikanischen Freunden dafür,dass auch sie das Grundgesetz von 1949 und damit par-lamentarische Demokratie, Freiheitsrechte, Rechtsstaat-lichkeit usw. ermöglicht haben.
Aus diesem Grunde sind gerade jetzt die freundschaftli-chen Beziehungen zu den USA die richtige Plattform,um erkannte Missstände anzusprechen. Angela Merkelhat dies in vorzüglicher Weise getan, und zwar offen,nicht bloß in bilateralen Gesprächen, ohne die Öffent-lichkeit beizuziehen.Diese Position der Bundesregierung möchten wir alsParlament heute ausdrücklich bekräftigen. Alleinig vonGuantanamo zu sprechen, wäre allerdings zu kurz ge-griffen. Wir kennen den weltweit agierenden Terroris-mus. Er wendet sich oft genug gegen die USA. Sie ha-ben im Bemühen um die Terrorabwehr unsere volleSolidarität. Auch das sprechen wir heute mit unseremAntrag deutlich aus.
Guantanamo kann nicht relativiert werden. Es warrichtig, die deutsche Position in Washington offen anzu-sprechen. Wir wollen das bekräftigen.Vor sechzig Jahren hat der Sieger des Zweiten Welt-krieges, Dwight D. Eisenhower, hier in Berlin ausge-drückt, dass der Sieg erst dann komplett sei, wenn nachJahrzehnten in Deutschland und Europa Demokratie,Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingekehrt seien. In dergleichen Weise rufen wir unseren amerikanischen Freun-den zu: In Afghanistan habt ihr erst dann gewonnen,wenn auch dort rechtsstaatliches Verhalten eingekehrtist.Meine sehr geehrten Damen und Herren, als Deut-scher Bundestag stellen wir uns ungeschmälert in dieTradition der Freiheitsrechte, die ja gerade in den USApostuliert worden sind. Darüber besteht im DeutschenBundestag breite Einigkeit. Aus diesem Grunde ist esauch niemandem verwehrt, dem Antrag der Regierungs-fraktionen zuzustimmen, weil wir alle Teil einer ganzgroßen Koalition zur Einhaltung der Menschenrechteund der Grundfreiheiten, auch den Gefangenen gegen-über, sind.Nach all dem, meine Damen und Herren, bitte ichauch um Ihre Zustimmung zu dem Antrag der Koaliti-onsfraktionen.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Herr Karl, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bun-
destag. Wir gratulieren Ihnen ganz herzlich und wün-
schen Ihnen Erfolg bei der parlamentarischen Arbeit.
Das Wort hat der Kollege Johannes Jung von der
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Guantanamo ist der tagtägliche systematischeVerstoß gegen Menschenrechte und Menschenwürde,gegen internationales Völkerrecht und auch gegen US-amerikanisches Recht.
Dieses Lager und die Behandlung der dort festgesetztenPersonen stehen in schärfstem Widerspruch zur Tradi-tion der Freiheitsrechte in den USA und sie diskredi-tieren zusätzlich die Politik der US-Administration. DieUSA waren Jahrhunderte lang ein Zufluchtsort und dieChance auf eine hoffnungsfrohe Zukunft für Verfolgteund Geknechtete in dieser Welt, gerade auch ausDeutschland.Wie sehr die Bush-Administration diese Tradition vonFreiheit und Rechtsstaatlichkeit fürchtet, zeigt eben Gu-antanamo, wo „the rule of law“, die Herrschaft des Ge-setzes – also in unseren Worten die Rechtsstaatlichkeit –,ausgehebelt und ferngehalten wird. Dort wird totalestaatliche Gewalt widerrechtlich ausgeübt. ZahlreicheGerichtsurteile in den USA belegen, dass die Sorgender Bush-Administration aus ihrer Sicht sehr wohl be-rechtigt und begründet sind.Umso bedeutsamer ist die in den USA geführte De-batte über die Folter. Für diese Debatte steht SenatorMcCain, der übrigens die Freiheitsmedaille derMünchner Sicherheitskonferenz erhalten wird.
Dies ist ein gutes und ein wichtiges Signal. Es widerlegtvielleicht die alte Weisheit, dass man Preise dann be-kommt, wenn man sie nicht mehr braucht. Ich denke, Se-nator McCain und die Debatte über die Folter in denUSA brauchen diese Auszeichnung.
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Johannes Jung
Ich gehöre einer Partei und einer Regierungsfraktionan, die im Kampf gegen den Terror unsere demokrati-sche und aufgeklärte Lebensweise, die das Ziel diesesTerrors ist, mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigen willund weiterhin verteidigen wird. Wir haben die Beteili-gung an der Intervention der internationalen Staatenge-meinschaft in Afghanistan und am Wiederaufbau dortnicht gescheut. Wir haben aber den Krieg im Irak abge-lehnt und immer wieder vor den verheerenden Folgendieses Krieges gewarnt.
Leider muss ich sagen: Unsere Befürchtungen wur-den wahr. Der Krieg im Irak, die illegalen Verschleppun-gen – die so genannten renditions – und Guantanamosind verheerende politische Fehler und schlimmste Men-schenrechtsverletzungen, die unter der Überschrift„Kampf gegen den internationalen Terror“ begangenwerden.Wie sieht die parlamentarische Behandlung aus? DerEuroparat hat im April letzten Jahres eine ausführlicheund detaillierte Entschließung gefasst, in der die Haftbe-dingungen in Guantanamo als rechtswidrig und un-menschlich verurteilt werden. Das Europäische Parla-ment hat in der vergangenen Woche ebenfalls eineEntschließung verabschiedet, in der die „Überführungvon Hunderten von Personen … in das illegale Haftzen-trum Guantanamo, in dem Folter und andere Arten derMisshandlung … zahlreichen Zeugenaussagen zufolgean der Tagesordnung gewesen sind“, verurteilt wird,„und fordert die sofortige Schließung des Lagers“. DerDeutsche Bundestag hat wiederholt zur entwürdigendenBehandlung der Gefangenen in Guantanamo und zurFolter unmissverständlich Stellung bezogen. Es giltheute, diese Position zu bekräftigen.
Es wird Sie dabei nicht wundern, dass ich für denAntrag der Koalitionsfraktionen werbe. Wir heben indiesem Antrag erstens die Unabdingbarkeit rechtsstaatli-cher Mittel beim Kampf gegen den internationalen Ter-rorismus hervor. Klar ist – das wurde oft genug betont;vielleicht doch nicht oft genug –: Der Rechtsstaat darfnicht auf dem Wege seiner vorgeblichen Verteidigungverengt und abgeschafft werden.Wir unterstützen zweitens die Bundesregierung unddie Bundeskanzlerin ausdrücklich in ihrer öffentlich vor-getragenen kritischen Haltung zu Guantanamo.Wir bekräftigen drittens nochmals unsere grundsätzli-che Forderung zur Einhaltung von Menschenrechten unddem Respekt vor den Grundfreiheiten von Gefangenen.Das Lager Guantanamo verstößt gegen alle demokra-tischen Regeln von Politik, Recht und Moral. Es istSynonym für einen Ort der Rechtlosigkeit und der tota-len Verfügung über Menschen. Da Guantanamo einzigzu dem Zweck eingerichtet wurde, den Rechtsstaat au-ßen vor zu halten, muss dieses Lager geschlossen wer-den.
Ich darf Sie um Ihre Zustimmung zum Antrag der Koali-tionsfraktionen bitten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Jung, das war Ihre erste Rede hier im
Deutschen Bundestag, wozu wir Ihnen herzlich gratulie-
ren.
Mir ist mitgeteilt worden, dass zu diesem Punkt eine
Debatte zur Geschäftsordnung gewünscht wird. Ich
gebe das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben volles Haus, weil wir uns über die Frage unterhaltenwollen, wie wir jetzt mit diesen Anträgen umgehen. Ichfinde, bei einem solch ernsten Thema und bei einer sol-chen Debatte, bei der so viel Einvernehmen im HohenHause gezeigt wird, wäre es gut, wir kämen zu einem ge-meinsamen Ergebnis, zu einer gemeinsamen Entschlie-ßung.
Nun habe ich – genau wie andere Redner – angespro-chen, dass wir uns an bestimmten semantischen Feinhei-ten verschiedener Anträge stören. Das ist gar nicht ver-wunderlich. Dies kann man im Ausschuss glätten unddann zu einem gemeinsamen Text kommen. Das ist ei-gentlich gute Übung hier im Hohen Hause. Wir habenzum gleichen Thema vier Anträge aus fünf Fraktionen,in denen steht: Guantanamo muss geschlossen werdenund die USA müssen sich an Rechtsstaatlichkeit, Völ-kerrecht und Menschenrechte halten.Ich glaube, es müsste uns gelingen, dies gemeinsamso zu schreiben, dass das Hohe Haus in der nächsten Sit-zungswoche einstimmig eine Botschaft in die USA sen-den kann. Deshalb beantragt unsere Fraktion mit Unter-stützung der FDP- und der Linksfraktion, allevorliegenden Anträge der Fraktionen in die Ausschüssezu überweisen, in der nächsten Sitzungswoche darüberzu beraten und dann hier im Plenum endgültig darüberabzustimmen. Alles andere wäre wirklich parteipoliti-sche Nickeligkeit. Diese ist diesem Thema aber nunwirklich nicht angemessen.
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Volker Beck
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undvon der Union, Sie sind hier zahlreich angetreten, um ab-zustimmen. Vor der Abstimmung wäre es schön, wennSie noch einmal über Folgendes nachdenken: Was wäredas klarste Signal an die Amerikaner? Welches Verhal-ten von uns würde sie am meisten beeindrucken? DasBeeindruckendste wird sein, wenn wir uns auf einen ge-meinsamen Text einigen. Ich glaube, alle Fraktionensind kompromissbereit genug, um zu sagen, dass es rich-tig und unterstützenswert ist, dass die Regierung hiereine klare Sprache spricht. Lassen Sie uns diesen Ver-such machen. Ich bitte Sie: Stimmen Sie unserem Ge-schäftsordnungsantrag zu und ersparen Sie uns nachherbei der Abstimmung über die Einzelanträge unterschied-liche Voten.Vielen Dank.
Für die Koalition hat die Kollegin Dr. Krogmann von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir als Koalition halten es für sinnvoll, über diese An-
träge sofort abzustimmen, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens. Herr Kollege Beck, trotz vieler Gemeinsam-
keiten werden in den einzelnen Anträgen wichtige unter-
schiedliche Akzente gesetzt, die wir nicht glätten wollen.
Deshalb halten wir es für unwahrscheinlich, dass es nach
den Ausschussberatungen überhaupt zu einem gemein-
samen Antrag kommen wird.
Zweitens. Wenn wir alle der Meinung sind – dass dem
so ist, hat die Debatte gezeigt –, dass dieses Thema sehr
wichtig ist, dann sollten wir die Entscheidung darüber
nicht vertagen. Wir sollten kraftvoll sofort abstimmen
und unmittelbar entscheiden.
Deshalb beantrage ich für die Koalition, dass über die
vorliegenden Anträge sofort abgestimmt wird.
Herr Kollege van Essen hat das Wort für die FDP-
Fraktion.
Frau Kollegin Krogmann, Ihre Argumentation hat
mich überhaupt nicht überzeugt.
Es verschlägt doch gar nichts, wenn wir in der nächsten
Sitzungswoche abstimmen.
Ich denke, dass die heutige Debatte gezeigt hat, wie breit
die Übereinstimmung im Deutschen Bundestag ist.
Wenn wir ein Signal aussenden wollen, dann ist es doch
wichtig, dass unser Vorgehen vom ganzen Haus unter-
stützt wird.
Die Oppositionsfraktionen haben heute deutlich ge-
macht, dass sie bereit sind, mit Ihnen zusammen einen
gemeinsamen Antragstext zu finden.
Diesen Versuch sollten wir unternehmen. Das ist jeden-
falls der Wunsch meiner Fraktion. Wir werden für die
Überweisung der Anträge stimmen, damit es ein klares
und deutliches Signal des gesamten Deutschen Bundes-
tages gibt. Genau das hat dieses Thema verdient.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Enkelmann, bitte, für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir un-terstützen den Antrag auf Überweisung aller Anträge andie Ausschüsse. Ich denke, die Debatte hat tatsächlichgezeigt: Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Es geht um eingemeinsames politisches Signal aus diesem Haus.
Wir hatten unseren Antrag rechtzeitig eingebrachtund es gab tatsächlich das Angebot – die Kollegen Parla-mentarische Geschäftsführer wissen das –, einen ge-meinsamen Antrag zu formulieren. Wir wollten nicht un-bedingt auf unser Recht der ersten Nacht pochen; dennwir hätten schon gerne gesehen, dass es zu einem ge-meinsamen Antrag kommt.Aber jetzt haben wir die widersinnige Situation, dassvier Anträge zum gleichen Thema vorliegen. Es istdurchaus möglich, aus ihnen einen gemeinsamen Antragzu machen. Diese Arbeit sollten wir in den Ausschüssenleisten. Deswegen bitte ich Sie alle ganz herzlich: Las-sen Sie uns die vorliegenden Anträge gemeinsam an die
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1000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006
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Dr. Dagmar EnkelmannAusschüsse überweisen, lassen Sie uns dort einen ge-meinsamen Antrag formulieren und lassen Sie uns ausdiesem Haus ein gemeinsames politisches Signal aussen-den!
Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache zurGeschäftsordnung.Wir kommen zu den Abstimmungen.Die Fraktionen der FDP, der Linken und desBündnisses 90/Die Grünen beantragen, die Anträge aufden Drucksachen 16/364, 16/431, 16/454 und 16/443 fe-derführend an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mit-beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Hu-manitäre Hilfe zu überweisen. Die Koalitionsfraktionenhingegen wünschen sofortige Abstimmung in der Sache.Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über denÜberweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejenigen, die fürden Vorschlag auf Überweisung an die genannten Aus-schüsse stimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist hiermitabgelehnt mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion undder SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion derFDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen.Wir stimmen daher in der Sache ab. Abstimmungüber den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 16/364 mit dem Titel „Guantanamo schlie-ßen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist abgelehnt mitden Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-men der Linke-Fraktion und einzelner Abgeordneter vonBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP und ei-ner Mehrheit der Abgeordneten von Bündnis 90/DieGrünen.Damit kommen wir zur Abstimmung über den Antragder Fraktionen der CDU/CSU und der SPD aufDrucksache 16/431 mit dem Titel „Für die Einhaltungvon grundlegenden Menschenrechten und Grundfreihei-ten beim Umgang mit Gefangenen“. Wer stimmt für die-sen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieserAntrag ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionbei Enthaltung der übrigen Mitglieder des Hauses.Ich komme zu Zusatzpunkt 4. Abstimmung über denAntrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/454 mitdem Titel „Für die Schließung von Guantanamo Bay unddie Überführung der Gefangenen in rechtsstaatliche Ver-fahren“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist abgelehnt mitden Stimmen von SPD und CDU/CSU gegen die Stim-men der FDP, des Bündnisses 90/Die Grünen und derFraktion Die Linke.Schließlich kommen wir zum Antrag der Fraktion desBündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/443 mitdem Titel „Rechtsstaatliche Verfahren und Menschen-rechtsschutz für die Inhaftierten in Guantanamo Bay“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Dieser Antrag ist abgelehnt. Für den An-trag haben gestimmt die Fraktionen der FDP, der Linkenund des Bündnisses 90/Die Grünen, dagegen gestimmthaben die Abgeordneten von CDU/CSU und SPD.Ich rufe hiermit die Tagesordnungspunkte 12 a und12 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. TheaDückert, Margareta Wolf , MatthiasBerninger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENDie Dienstleistungsrichtlinie verbessern – Daseuropäische Sozialmodell bewahren– Drucksache 16/373 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaLötzer, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der LINKENEU-Dienstleistungsrichtlinie ablehnen– Drucksache 16/394 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHierfür ist eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne gleich die Aussprache, wenn die Kollegin-nen und Kollegen den Saal verlassen haben, die dieserDebatte nicht folgen möchten.
– Möglicherweise könnten die Gespräche, die nicht zurSache gehören, draußen geführt werden.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 1001
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Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtIch gebe das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
– Auch auf die Gefahr hin, dass es Sie stört: Ich habe Ih-nen hier zu einem sehr zentralen Thema etwas mitzutei-len.Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, bringt einenAntrag ein mit dem Titel „Die Dienstleistungsrichtlinieverbessern – Das europäische Sozialmodell bewahren“.Warum? In naher Zukunft, und zwar am 14. Februar, fin-det in Brüssel eine ganz zentrale Abstimmung über dieDienstleistungsrichtlinie statt, die das Ziel hat, dengemeinsamen Binnenmarkt auf den Dienstleistungsbe-reich auszudehnen. Auf die Ausgestaltung der Dienst-leistungsrichtlinie müssen wir Einfluss nehmen. DieBundesregierung sucht noch nach ihrer Linie, wie über-all zu lesen ist. Wir wollen ihr dabei helfen, ihre Positionzu finden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPDund der CDU/CSU.
Worum geht es? Der Binnenmarkt bietet eine großeChance für Europa, der Binnenmarkt im Dienstleis-tungsbereich allemal. Es könnten – auch in Deutschland– viele Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Chancedürfen wir nicht verspielen.
Den Antrag bringen wir ein, weil wir verhindern wol-len, dass in Europa durch die Dienstleistungsrichtlinie inihrer jetzigen Form Tür und Tor für Sozialdumping,Lohndumping und Umweltdumping geöffnet werden.Das Ziel, einen Binnenmarkt für den Dienstleistungsbe-reich zu schaffen, ist richtig. Auf die Ausgestaltungaber müssen wir von der Bundesrepublik Deutschlandwie auch von Brüssel aus Einfluss nehmen.Es müssen folgende Schritte umgesetzt werden: Ers-tens darf das Herkunftslandprinzip nur für den Markt-zugang gelten. Dadurch erreichen wir, dass die bürokra-tischen Hürden für kleinere und mittlere Betriebe beimZugang auf den Dienstleistungsmarkt in den Nachbar-ländern abgebaut werden. Zweitens muss bei der Durch-führung von Dienstleistungen das Ziellandprinzip gel-ten. Das bedeutet, dass die sozialen Standards,Umweltstandards und arbeitsrechtlichen Standards derZielländer gelten, also unsere Standards hier in Deutsch-land.
Dadurch müssen sich unsere Verbraucherinnen und Ver-braucher nicht durch den Dschungel von 25 Rechtssyste-men und 25 unterschiedlichen Standards in Europakämpfen, wobei die Gefahr besteht, dass sie die Orien-tierung verlieren.Wir wollen hier zu diesem Thema eine Debatte füh-ren. Sie ist zielführend und es besteht die Chance, dassdie Ergebnisse in Europa Realität werden. EvelyneGebhardt von der SPD hat den Kompromissvorschlageingebracht. Unser Antrag mit seinen klaren Änderungs-vorschlägen, nämlich der Berücksichtigung des Her-kunftslandprinzips und des Ziellandprinzips, hat eineChance auf Umsetzung, wenn wir uns hier einig werden.Ich glaube, im Ziel sind wir uns einig.In unserem Antrag werden noch andere Punkte ange-sprochen. Auch darüber gilt es zu diskutieren. Wir wol-len, dass besonders sensible Bereiche, die vom zustän-digen Binnenausschuss des Europäischen Parlamentsnoch nicht berücksichtigt worden sind – dazu zählen dieBereiche Pflege und Leiharbeit, aber auch Bereiche derDaseinsvorsorge –, aus dieser Dienstleistungsrichtlinieherausgenommen werden.In Deutschland könnte es, auch wenn das Entsendege-setz auf alle Branchen ausgeweitet wird, möglicherweisenoch Bereiche geben, die in manchen Regionen oder jenach Branche über Tarifverträge nicht abgesichert sind.Deswegen wollen wir auf Regionen bzw. auf Branchenbezogene Mindestlöhne möglich machen.
Dieser Weg ist gangbar – das sage ich noch einmal –und wird für Deutschland und für Europa große Chanceneröffnen. Er ist gangbar, wenn sich die Koalition an ih-ren Koalitionsvertrag hält. Damit kommen wir zu desPudels Kern: Im Koalitionsvertrag steht, dass das Her-kunftslandprinzip beim Schutz der sozialen Standardsnicht wirklich zum Ziel führt. Herr Koch zum Beispielhat im Bundesrat einen interessanten Antrag einge-bracht, in dem steht, dass das Herkunftslandprinzip nurfür den Marktzugang gelten soll; das hat auch FrauEvelyne Gebhardt in Brüssel so vorgetragen. Mankönnte meinen, in der Bundesregierung existiere hierzueine klare Linie.Wo ist das Problem? In Wirklichkeit existiert keineklare Linie. Der Staatssekretär im Wirtschaftsministe-rium, Herr Wuermeling, hat in Brüssel sehr viel Energieinvestiert, damit das Herkunftslandprinzip nicht verän-dert wird. Er hat sich dem in den Weg gestellt und hatdafür gesorgt, dass gerade die Konservativen in Brüsseldiesen notwendigen Veränderungen nicht zugestimmthaben. Er hat sogar klare Worte gefunden und gesagt,dass das eine unredliche Panikmache vonseiten der Lin-ken sei. Ich muss Ihnen übrigens sagen, dass er ganz of-fensichtlich auch Herrn Koch damit gemeint hat. Nungut.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungs-koalition, Sie haben die Chance, an dieser Stelle die Ei-nigung zu finden, nach der Sie suchen, indem Sie sichauf Ihren Koalitionsvertrag beziehen, indem sich dieUnion zum Beispiel auf einen bestimmten Ministerpräsi-denten bezieht und indem wir alle gemeinsam die positi-ven Chancen, die es im Binnenmarkt für Dienstleistun-gen gerade auch für die Entwicklung des Arbeitsmarktesin Deutschland gibt, aufgreifen.
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Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Ich komme zum Schluss. – Ich möchte noch eine Be-
merkung machen, weil hier noch ein zweiter Antrag vor-
liegt, nämlich der der PDS.
Das ist ein ziemlicher Zwitterantrag. Sie rufen in ers-
ter Linie zum Boykott der Dienstleistungsrichtlinie und
erst in zweiter Linie zu Änderungen auf. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen der PDS, ich glaube, Sie täten den so-
zialen Standards sowie den Arbeitsrechts- und Umwelt-
schutzstandards in Europa Gutes, wenn Sie von Ihrem
Boykott Abstand nehmen und dieses Europa mitgestal-
ten würden; denn ein soziales und ein umweltfreundli-
ches Europa ist möglich.
Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Laurenz Meyer, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Der freie Dienstleistungsverkehr ist Bestandteildes EU-Vertrages. In Art. 49 EG-Vertrag ist das vorgese-hen. Die Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte istintegraler Bestandteil. Das müssen wir einfach sehen.Als Dienstleistungen gelten insbesondere gewerbliche,kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätig-keiten. So steht es in Art. 50 des EG-Vertrages.Die Öffnung der europäischen Dienstleistungs-märkte bietet große Chancen für mehr Wachstum undBeschäftigung in Deutschland. Das sollten wir bei allden Diskussionen über Einzelpunkte nicht unterschla-gen. Wir haben hochmoderne und leistungsfähigeDienstleistungsbranchen, die von dieser Marktöffnungsehr stark profitieren können. Diese Chancen gilt es zunutzen. Wir sind bisher Weltmeister beim Export von In-dustrieprodukten. Wir sollten in Zukunft auch einenSpitzenplatz beim Handel mit Dienstleistungen einneh-men können, wenn wir es richtig anstellen.
In dem ganzen Konzept ist zu bedenken – das nehmenwir sehr ernst –, dass aufseiten der Bevölkerung, insbe-sondere der Arbeitnehmerschaft, mit der Liberalisierungder Dienstleistungsmärkte Sorgen verbunden sind, denendurch geeignete gesetzliche Regelungen begegnet wer-den muss. Deshalb wollen wir die wünschenswerte Libe-ralisierung in einen geeigneten Rahmen stellen. Das ha-ben wir die ganze Zeit getan. Das wichtigste Ziel ist,drohende Nachteile, etwa gar Sozialdumping, zu vermei-den und auszuschließen. Deshalb ist es wichtig, dass wirjetzt die Dienstleistungsrichtlinie als gesetzlichen Rah-men bekommen, da die Regelungskompetenz für denganzen Bereich ansonsten ausschließlich dem Europäi-schen Gerichtshof zufiele. Das kann niemand von unswünschen.Meine Damen und Herren, wir müssen eine vernünf-tige Balance zwischen den sozialen und den ökologi-schen Schutzinteressen einerseits und der Erleichterungdes zwischenstaatlichen Handels andererseits erreichen.Deshalb wollen wir eine weitere Öffnung der Dienstleis-tungsmärkte. Diese Liberalisierung ist im Übrigen auchTeil der Lissabonstrategie, durch die Europa zum dyna-mischsten Wirtschaftsraum werden soll. Wenn wir hierkeine vernünftigen Regelungen finden, dann werden wirdieses Ziel ganz bestimmt nicht erreichen.Deshalb will ich Ihnen hier die Position, die dieUnion die ganze Zeit verfolgt hat und deren Durchset-zung wir in den letzten Monaten – auch in Abstimmungmit unseren Kollegen im Europaparlament – vorange-trieben haben, noch einmal nennen. Wir haben bisherschon viel erreicht. Ich möchte die Position aber nocheinmal wiederholen, damit wir alle den für uns vorgege-benen Rahmen kennen:Erstens. Durch die Richtlinie muss deutschen Unter-nehmen die Chance gegeben werden, in Zukunft leichterund mehr Aufträge in europäischen Ländern zu erhaltenund durchzuführen, und müssen die Voraussetzungen fürmehr Wachstum und Arbeitsplätze geschaffen werden.Gleichzeitig wollen wir sicherstellen, dass die Anwen-dung der Richtlinie in Bezug auf die Erbringung vonLeistungen der Daseinsvorsorge und die Ausübungöffentlicher Gewalt eingeschränkt wird. Die Defini-tions-, Gestaltungs- und Finanzierungshoheit der Mit-gliedstaaten bei der Daseinsvorsorge muss unangetastetbleiben und die Besonderheiten von Dienstleistungen imallgemeinen Interesse müssen innerhalb der Richtlinieberücksichtigt werden.Notare, die sich mit der Ausübung öffentlicher Ge-walt beschäftigen, und Tätigkeiten, die damit verbundensind, sind vom Anwendungsbereich der Richtlinie aus-zunehmen. Der Schutz der öffentlichen Sicherheit undOrdnung sowie die staatliche Kulturförderung dürfennicht eingeschränkt oder ausgehöhlt werden. Deshalb istes unsere Strategie, von dieser Diskussion über das Her-kunfts- und Bestimmungslandprinzip wegzukommenund zu einer klaren Regelung der einzelnen Bestandteilezu kommen, die aus unserer Sicht notwendig ist, um dasSubsidiaritätsprinzip in Europa sicherzustellen.
Ich will noch einige Punkte nennen, die von dieserDiskussion um Begriffe klar wegführen, und Ihnen zei-gen, an was wir im Einzelnen denken. Wir dürfen unserenationalen Umwelt- und Sicherheitsstandards sowie un-sere Gesundheitsstandards nicht aushöhlen. Das natio-nale Arbeitsrecht muss in vollem Umfang unberührtbleiben. Das geht bis hin zur Entsenderichtlinie. Hier hatdie nationale und nicht die europäische Gesetzgebungden Vorrang.Die Überlassung von Arbeitnehmern muss ebensowie die Steuerung von Arbeitsmigration nach deutschenStandards geregelt werden. Hier muss die nationale
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Laurenz Meyer
Ebene zuständig bleiben. Das geht bis hin zu der Frage,welche Drittstaatenangehörigen in unser Land entsandtwerden dürfen. Die Mitgliedstaaten müssen in der Lagesein, all das zu beschließen, was in ihrem Interesse istund was sie für richtig halten, um den Schutz der öffent-lichen Sicherheit und Ordnung, Volksgesundheit, Um-welt und die Vorbeugung gegen Risiken vor Ort wirklichsicherzustellen.Das Herkunftslandprinzip – bei dieser Meinungsind wir geblieben, schließlich liegt in der Zusammen-arbeit die große Chance – darf sich eben nicht auf Fragendes anwendbaren Zivilrechts und auf das internationalePrivatrecht ausdehnen. Dass Verträge nicht nach demHerkunftslandprinzip gestaltet werden dürfen, ist geradefür die Verbraucher in Deutschland von ganz entschei-dendem Interesse; denn wenn es um Dienstleistungenaus dem Ausland geht, wollen die Menschen sicherge-stellt wissen, dass zum Beispiel Gewährleistungs- oderSchadensersatzansprüche bei uns und nach unseremRecht abgewickelt werden und sie nicht etwa irgendwoin Polen oder Tschechien vorstellig werden müssen.Deutsche Gerichte müssen für diese Bereiche zuständigbleiben.
Die Finanzierungshoheit im öffentlichen Gesund-heitswesen ist sicherzustellen. Im Übrigen – dieserPunkt ist offen, darüber müssen wir in Europa noch spre-chen – geht es darum, dass der Gesundheitssektor insge-samt nach unserer Überzeugung von der Richtlinie aus-zuschließen ist. Das gilt für den staatlichen Bereich, abernach unserer Meinung auch für private Gesundheits-dienstleistungen. Hier muss die Einbeziehung in dieRichtlinie geprüft werden, weil es sich bei dem Gesund-heitsbereich in unseren Augen um einen Wachstumssek-tor handelt. Hier müssen wir unsere Rahmenbedingun-gen selber gestalten können.Die Anerkennung von Berufsqualifikationen ist einweiterer Punkt, der nicht durch die Dienstleistungsricht-linie geregelt werden sollte, sondern durch die dafür vor-gesehene Richtlinie, die dann Vorrang haben muss. DieBerufsqualifikation sollte durch eine eigene Richtliniegeregelt werden und nicht durch die Dienstleistungs-richtlinie ausgehebelt werden können. Das heißt, dassdie Rahmenbedingungen aus unserer Sicht durch dieDienstleistungsrichtlinie festgelegt werden, diese je-doch subsidiär gilt. Dort, wo Sondertatbestände existie-ren, die einzeln geregelt werden, gelten diese Sonderre-gelungen und nicht das allgemeine Rahmenwerk derDienstleistungsrichtlinie. Das betrifft etwa die Bereichevon audiovisuellen Dienstleistungen oder auch Rechts-anwälte. Diesen Bereich haben wir bereits besprochen.Auch den Bereich Fernsehen oder audiovisuelle Dienst-leistungen haben wir im Zusammenhang mit dem Petitorunserer öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten debat-tiert. Sie sind aus dem Anwendungsbereich der Richt-linie herauszunehmen und damit nationale Angelegen-heiten.Das Gleiche gilt, wenn es um die Bekämpfung illega-ler Beschäftigung und die Bekämpfung von Schwarz-arbeit geht. Hier dürfen keine Erschwernisse auftreten.Angesichts der geltenden Regelung zur Verwaltungszu-sammenarbeit bin ich ganz sicher, dass dieser Bereichbisher schon gut geregelt ist und nicht neu gestaltet wer-den muss.Im Übrigen – das möchte ich abschließend feststel-len – sollten Regelungen, die neue bürokratische Lastenwie unnötige zusätzliche Evaluierungsvorschriften oderüberzogene Informations-, Berichts- und Prüfungsvor-schriften mit sich bringen, konsequent aus der Richtlinieherausgenommen werden, um das, was wir in Deutsch-land machen, auch auf der europäischen Ebene fortzu-setzen.Wenn wir diese Vorstellungen in den Prozess hin zurVerabschiedung der Richtlinie durch das Europaparla-ment einbringen, dann bin ich optimistisch, dass wir inEuropa zu guten Lösungen kommen. Das erreichen wirnicht, indem wir uns verweigern und auf einzelne Be-griffe abstellen, sondern indem wir uns hart an der Sacheorientieren und uns bemühen, Rahmenbedingungen zu-gunsten von Wachstum und Arbeitsplätzen zu schaffen,damit in Europa ein wichtiger weiterer Sektor geregeltwerden kann.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil, FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie ist einTest dafür, wie wir es mit den Chancen des europäischenBinnenmarktes und dem Abbau bürokratischer Hinder-nisse halten. Jenseits aller Detailaspekte geht es um un-sere Vision von Europa: Wollen wir ein Europa auf derBasis von Freiheit und Wettbewerb, das wirtschaftlichzusammenwächst, oder verkrümeln wir uns in einemAkt der Selbsttäuschung in die heimelige Wärmestubedes Protektionismus?
Grüne und Linke – auch Teile der SPD – bevorzugenoffenbar die Wärmestube. So wäre zum Beispiel die vonihnen vorgeschlagene Spaltung von Zugangs- und Aus-übungsregelungen zwischen Herkunfts- und Bestim-mungsländern ein erheblicher Rückschritt gegenüberdem geltenden Recht. Die Bedenkenträger übersehen,dass es im Zeitalter der Globalisierung nicht hilft, wennman sich in die Furche duckt und hofft, der Wind desWettbewerbs würde irgendwie an uns vorüberziehen.Frau Merkel hat in Davos zu Recht festgestellt: DerStaat muss loslassen können – das gilt auch europa-weit –, wenn wir wieder eine Wachstumsregion werdenwollen.
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Martin ZeilDie Koalition muss aber den Worten der Kanzlerin auchTaten folgen lassen, Herr Meyer. Sonst riskieren Sie,dass sie zur Frühstücksdirektorin wird.
Ich zitiere den früheren Wirtschaftsminister Clement,der im Februar 2005 im „Tagesspiegel“ festgestellt hat:Wir brauchen mehr Wettbewerb im Dienstleis-tungssektor in Europa. Gerade die deutschen Unter-nehmen sollten in der Richtlinie mehr Chancen alsRisiken sehen.Der Mann hatte Recht!Mit der Richtlinie soll endlich europaweit Bürokratieabgebaut werden. Das begrüßen wir schon deshalb, weilaus Europa bisher oft mehr Bürokratie gekommen ist.Die Kritiker der Richtlinie verschweigen, dass der zu-ständige Ausschuss des Europaparlaments – der KollegeMeyer hat es schon erwähnt – einer Reihe von Anregun-gen Rechnung getragen hat:Erstens. Bei der staatlichen und kommunalenDaseinsvorsorge bleibt es bei der Definitions-, Gestal-tungs- und Finanzierungshoheit der Mitgliedstaaten.Zweitens. Das Arbeitsrecht – auch die Entsendungvon Arbeitnehmern – fällt aus dem Herkunftslandprinzipheraus. Weder die Bestimmungen zu Arbeits- und Tarif-verträgen noch zum Arbeitsschutz können umgangenwerden.Drittens. Die Bekämpfung von Schwarzarbeit undScheinselbstständigkeit bleibt Sache der Behörden vorOrt und ist durch grenzüberschreitende Verwaltungszu-sammenarbeit sicherzustellen. Hierbei kommt es daraufan, dass die Kommission endlich Vorschläge für die Um-setzung der grenzüberschreitenden Kooperation der Be-hörden vorlegt.
Viertens. Der vereinfachten Verwaltungszusam-menarbeit zwischen den Behörden muss ein möglichstbreiter Anwendungsbereich eingeräumt werden, damitdas Ziel der Entbürokratisierung auch wirklich erreichtwerden kann. Dabei muss das Prinzip der Gegenseitig-keit zwischen den Ländern gelten. Die Vereinfachungenmüssen auch inländischen Wettbewerbern nutzbar ge-macht werden.
Der Vorschlag des Binnenmarktausschusses garantiertnun dem Zielstaat, dass er seine Gemeinwohlinteressenwirkungsvoll sichern kann. Im Ergebnis bekommen wirkeine unbeschränkte, sondern eine kontrollierte Dienst-leistungsfreiheit. Wer jetzt noch das Gespenst des So-zial- und Umweltdumpings an die Wand malt, der willoder kann nicht verstehen, was wirklich Sache ist.
Auch der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregie-rung hinkt mit der Forderung nach einer weiteren Über-arbeitung dem aktuellen Stand ein wenig hinterher. Ichhabe den Eindruck, dass Herr StaatssekretärWuermeling, der noch im November des letzten Jahresdie Position des Binnenmarktausschusses zu Recht ge-lobt hat, ihn nicht mehr Korrektur gelesen hat. Laut ei-nem Gutachten des Kopenhagen-Instituts können durchdie Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie kurzfristigbis zu 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze in Europa – da-von allein 100 000 in Deutschland – geschaffen werden.Können wir es uns wirklich leisten, darauf zu verzich-ten?
Es geht nicht – das ist ein beliebtes Argument, dasauch in einem Antrag steht – um die Interessen vonGroßunternehmen. Vielmehr geht es hier um die Ver-wirklichung der Dienstleistungsfreiheit vor allem derkleinen und mittleren Unternehmen, des Mittelstandesalso, der in den Sonntagsreden ständig so sehr gelobtwird. Große Unternehmen haben zumeist Niederlassun-gen im Ausland und brauchen diese Richtlinie am aller-wenigsten.
Gerade der deutsche Mittelstand mit seiner bekanntenQualität hat hier die Chance, grenzüberschreitend zu ex-pandieren, ohne durch absolut widersinnige Hürden be-hindert zu werden.Nicht protektionistische Ängstlichkeit, sondern Mutzu Wettbewerb und Bürokratieabbau ist das Gebot derStunde. Wenn wir nicht einmal in Europa diesen Mutaufbringen, wie wollen wir dann eigentlich im Wettbe-werb mit anderen dynamischen Regionen der Welt be-stehen?
Lassen Sie mich abschließend an die Adresse derBundesregierung und insbesondere an die des Wirt-schaftsministers Glos sagen: Verbauen Sie dem Mittel-stand und den Arbeitsuchenden bei uns, aber auch in an-deren Ländern diese Chance nicht! Stehen Sie zu dem,was Ihre Parteifreunde gemeinsam mit den Liberalen imEuropaparlament umgesetzt haben! Reden Sie nicht nurvon mehr Freiheit, sondern handeln Sie auch danach!Auf unsere Unterstützung können Sie dabei zählen.
Das Wort hat nun der Kollege Garrelt Duin, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Selten hat ein Richtlinienentwurf der EU-Kommission für so viel Aufmerksamkeit gesorgt wiedieser; das hat gute Gründe. Ich möchte vorab anmerken,dass es sich künftig lohnen würde, hier und in der deut-schen Öffentlichkeit noch öfter und rechtzeitig über sol-che Richtlinienentwürfe intensiv zu diskutieren.
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Garrelt DuinDie Dienstleistungsrichtlinie hat in den vergangenenzwei Jahren zu regelrechten Proteststürmen geführt, weildie hinter diesem Entwurf stehende Denkweise – ich bingeneigt, zu sagen: die Ideologie, seinerzeit durch HerrnBolkestein verkörpert und heute vom Kollegen Zeil nocheinmal vorgetragen – Kern des Problems ist.
Welches Europa wollen wir? So ist die Frage richtiggestellt. Aber im zweiten Schritt geht es um die Fragen:Bedeutet Europa eigentlich mehr als Markt, Markt undnochmals Markt? Überlassen wir Europa denjenigen, dieglauben, dass das freie Spiel der Kräfte alles zum Gutenwenden wird und dass alleine der Markt die Dinge re-geln kann? Diese Fragen und die damit verbundenenÄngste haben unter anderem dazu geführt, dass die Re-ferenden in Frankreich und den Niederlanden negativausgegangen sind.
Immer wieder stoßen wir auf diese Denkweise, zuletztbeim Port Package II. Wir können unseren Kolleginnenund Kollegen aus dem Europäischen Parlament nur gra-tulieren, dass sie diesen Angriff auf die Beschäftigten inunseren Häfen abgewehrt und das Port Package II ver-senkt haben.
Wenn wir Europa so gestalten wollen, dass es von denMenschen, den europäischen Bürgerinnen und Bürgerngetragen wird, dann brauchen wir neben dem intensivenBemühen um Wettbewerbsfähigkeit auch den sozialenZusammenhalt in Europa. Sozialer Zusammenhalt ver-kommt zur Worthülse, wenn wir nicht in der Normset-zung, in der Gesetzgebung, wie jetzt hier ganz konkretbei der Dienstleistungsrichtlinie, darauf achten und ihrGeltung verschaffen. Diese Verbindung von dem Bemü-hen um Wettbewerbsfähigkeit und dem sozialen Zusam-menhalt ist unser Anliegen.Natürlich braucht der Wirtschaftsraum der EU einenintensiveren Austausch von Dienstleistungen, sowohlzur Stärkung der Wirtschaftskraft insgesamt, als auchum dem Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse,der Kohäsion, näher zu kommen. Die grenzüberschrei-tende Erbringung von Dienstleistungen ist wesentlichesElement des Binnenmarktes und der Abbau von Hinder-nissen ist für die Wirtschaftsentwicklung dieses Sektorsund nicht zuletzt für die Verbraucher von grundlegenderBedeutung. Aber – auch das hat Frau Merkel in Davosgesagt – diese Freiheit braucht Regeln.
Ohne oder mit falschen Regeln wird es einen ruinö-sen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne, die nied-rigsten Sozialstandards und die niedrigsten Umweltstan-dards geben. Wir dürfen dabei in der Tat – Herr Meyerhat es angesprochen – nicht vergessen, dass der Dienst-leistungsbinnenmarkt mit all seiner Unzulänglichkeit be-reits existiert und der Europäische Gerichtshof ihn mitseinen Urteilen gestaltet, allerdings – das will ich hinzu-fügen – nahezu ungetrübt von der Logik des freien Wett-bewerbs.Ruinöser Wettbewerb schadet nicht nur den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch denkleinen und mittelständischen Unternehmen. So ist esnämlich zu erklären, dass die Proteste der Gewerkschaf-ten nahezu wortgleich auch von vielen Verbänden, zumBeispiel dem Zentralverband des Deutschen Handwerks– es gab sogar eine Preisverleihung durch mittelständi-sche Unternehmen an die sozialdemokratische Bericht-erstatterin –, unterstützt werden. Das können Sie nichteinfach wegwischen und sagen, der Mittelstand sei da-von begeistert. Das entspricht nicht den Tatsachen.
Die Kommission hat mit der Vorlage der Dienstleis-tungsrichtlinie eine große Chance vertan, weil sie mitder Brechstange des Herkunftslandprinzips versucht,eine Überliberalisierung des Binnenmarktes zu errei-chen. Das führt zu praxisfernen Ergebnissen und sozial-und wirtschaftspolitischen Verwerfungen. Die Kommis-sion hätte der Sache einen viel besseren Dienst erweisenkönnen, wenn sie einen anderen, einen bescheidenerenAnsatz gewählt hätte. Es wäre ausreichend gewesen, diezahlreichen Vorschläge zur Erleichterung der grenzüber-schreitenden Dienstleistungserbringung zu systematisie-ren und praxisgerecht auszugestalten.Die Bundesregierung ist zurzeit genauso wie die imEuropäischen Parlament vertretenen maßgeblichen Par-teien dabei, nach Möglichkeiten zu suchen, diesen Be-denken Rechnung zu tragen. Ich bin der Überzeugung,dass dort, sowohl in der Bundesregierung als auch beiden maßgeblichen Vertretern im Europäischen Parla-ment, ein guter Weg gefunden werden kann, wenn wirvon den zwei folgenden Eckpunkten ausgehen. Der erstePunkt ist, dass der Anwendungsbereich klar definiertwird, und der zweite Punkt ist – Bezug nehmend auf das,was wir im Koalitionsvertrag geschrieben haben –, dassdas Herkunftslandprinzip à la Bolkestein nicht die Richt-schnur dieser Richtlinie sein kann.
Bezüglich des Anwendungsbereiches muss klar sein,dass sektorale Richtlinien Vorrang vor der Dienstleis-tungsrichtlinie haben. Als zentrales Beispiel nenne ichhier die Entsenderichtlinie. Sie ist ein, wie ich finde,sehr gutes Instrument, von dem wir in Deutschland – dassei zugegeben – noch zu wenig Gebrauch machen. Viel-leicht – so ist jedenfalls meine Hoffnung – kommen wirim Rahmen der Diskussion über den Niedriglohnsektorbei dem Thema Mindestlöhne dort noch ein Stückchenweiter. Aber vom Regelungsansatz her – das muss mansich vor Augen führen – steht das Herkunftslandprinzipder Entsenderichtlinie diametral entgegen. Während dieEntsenderichtlinie gerade die Anwendbarkeit inländi-scher Normen auf ausländische Dienstleistungserbringerbezweckt, verfolgt das Herkunftslandprinzip den genauentgegengesetzten Ansatz.
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Garrelt DuinWarum dennoch in Art. 24 und 25 der Dienst-leistungsrichtlinie der Versuch unternommen wurde,Teilaspekte der Entsendung von Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern zu regeln, bleibt nach wie vor unver-ständlich. Es ist doch inzwischen jedem klar, dass eineKontrolle aus dem Herkunftsland des Dienstleistungser-bringers heraus nicht stattfinden wird und somit die Ge-fahr eines rechtsfreien Raumes besteht. Deswegen kanndas unsere Zustimmung nicht finden.
Es muss ebenso geklärt werden, dass alle Bereicheder Daseinsvorsorge unter die Gestaltungshoheit derMitgliedstaaten fallen. Der gesamte Bereich der öffentli-chen Daseinsvorsorge, also Gesundheit, Bildung, Was-ser, Abwasser, Abfall und öffentlicher Verkehr, gehörtgenauso wie die sozialen Dienstleistungen nicht in eineRichtlinie, die vor allem kommerzielle Dienstleistungenregeln soll. Mit der Einbeziehung aller Dienstleistungen,für die Entgelte erhoben werden, wird die sehr unter-schiedliche Praxis in diesem Bereich in den 25 Mitglied-staaten völlig ignoriert.Ebenso wichtig ist – Herr Meyer, ich bin Ihnen fürIhre Aussage zu diesem Punkt sehr dankbar –, dass dergesamte Gesundheitssektor von dieser Richtlinie aus-geschlossen wird. Wichtig ist also, dass nicht nur der öf-fentliche Bereich ausgeschlossen wird, wie es von man-chen – auch von ehemaligen Abgeordneten desEuropäischen Parlaments, die jetzt in anderer Funktionganz nah bei uns sind – gefordert wird. Ich mag mir je-denfalls die Auswirkungen des alten Richtlinienent-wurfs, zum Beispiel auf private Pflegedienste, nicht aus-malen. Deswegen sollten wir dafür eintreten – ichwiederhole –, dass der gesamte Gesundheitssektor undnicht nur der öffentliche Bereich von dieser Richtlinieausgeschlossen wird.
Das Herkunftslandprinzip widerspricht allen Bemü-hungen, Standards, die das soziale Europa ausmachen,zu harmonisieren. Ich bin aber der Überzeugung, dassHarmonisierung ein wesentlich besserer Weg ist als einWettlauf um die geringsten Standards. Die Berichterstat-terin im Europäischen Parlament will unterscheiden– darauf ist schon hingewiesen worden – zwischen demZugang einerseits und der tatsächlichen Erbringungeiner Dienstleistung andererseits, die dann dem Ziel-landprinzip unterliegen müsste. Der Zugang kann dem-nach nach den Regeln des Herkunftslandes erfolgen, so-lange klar ist: Dort, wo die Dienstleistung erbracht wird,gelten die Bedingungen ebendieses Ortes. Die Herkunftdes Erbringers spielt dann keine Rolle und die Behördenvor Ort kontrollieren die Erbringung der Dienstleistung,nichts anderes.
Ich glaube, dass diese klare Unterscheidung sowohlim Sinne der anbietenden Unternehmen wie auch derBeschäftigten und der Verbraucher wäre. Dies gilt umsomehr, wenn uns ein deutlicher Abbau von Dokumenta-tionspflichten und Verwaltungsaufwand gelingt.Diese Linie hat – so sind alle Informationen – im Eu-ropäischen Parlament eine realistische Chance auf eineMehrheit. Sie ist konstruktiv, nach vorne gerichtet. Vonuns sollte heute das Signal ausgehen, dass wir alle unter-stützen, die in diesem Sinne agieren: für einen funktio-nierenden Binnenmarkt, aber eben auch für ein Europades sozialen Zusammenhalts, das die Interessen von Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Verbraucherinnenund Verbrauchern wie auch von kleinen und mittlerenUnternehmen erkennbar schützt. Das verloren gegan-gene Vertrauen in Europa kann zurückgewonnen werden– ich habe auf die Referenden Bezug genommen –, wennwir mit dieser Frage verantwortungsvoll umgehen.Vielen Dank.
Herr Kollege Duin, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich und
wünsche Ihnen für die weitere Arbeit alles Gute.
Nun hat das Wort die Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Tat-sächlich hat noch nie ein Vorhaben der EuropäischenKommission in der deutschen Öffentlichkeit eine sobreite gesellschaftliche Diskussion ausgelöst wie dieEU-Dienstleistungsrichtlinie. Die Zeit, in der weitrei-chende Entscheidungen hinter verschlossenen Türen inBrüssel getroffen werden konnten, ist vorbei. Menschenmischen sich für ein soziales und ökologisches Europaein und das begrüßen wir ausdrücklich.
Folgerichtig stößt diese Richtlinie bei Gewerkschaf-ten, Verbänden der kleinen und mittleren Unternehmen,Sozialverbänden, kommunalen Arbeitgebern und vielenanderen auf einhellige Ablehnung. Doch auf diesem Ohrist die konservativ-liberale Mehrheit im Europaparla-ment taub. Das gilt auch für Sie, Herr Meyer. Mit denbisher beschlossenen Änderungsvorschlägen – auch Siehaben sie hier eben im Großen und Ganzen als Ihre vor-getragen – soll das Herkunftslandprinzip nämlich nur ab-gemildert, aber nicht abgeschafft werden. Länder sollenauf Einhaltung ihrer nationalen Bestimmungen dann be-stehen können, wenn dies für den Schutz der öffentli-chen Ordnung, der Gesundheit oder der Umwelt uner-lässlich ist. Dazu frage ich Sie, Herr Meyer: Werbestimmt das denn dann?
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Ulla Lötzer
Gerade damit wird doch die politische Gestaltung Euro-pas an den Europäischen Gerichtshof abgetreten.Verbraucherschutz, Qualitätsstandards, Leih- undZeitarbeit sollen weiterhin dem Herkunftslandprinzipunterliegen. Auch mit den aktuellen Änderungsvorschlä-gen tickt die Bombe für einen uneingeschränkten Dum-pingwettbewerb zulasten der Löhne und der Arbeits-bedingungen, der Sozial-, Verbraucher- undUmweltstandards weiter.Mit der völligen Deregulierung des Niederlassungs-rechts und den Einschränkungen für kommunale Aufga-ben werden demokratische Rechte der Kommunen ge-rade in der kommunalen Selbstverwaltung und deröffentlichen Daseinsvorsorge ausgehöhlt. Unternehmenaus Ländern mit hohen Standards werden diskriminiert.Entweder werden dann die Vorschriften geschliffen oderdie Unternehmen flaggen aus; Briefkastenfirma genügt.Genauso werden kleine und mittlere Unternehmen aufder Verliererstraße enden und nicht profitieren.Die Ersetzung des Herkunftslandprinzips durch dieGesetze, Standards und das Tarifrecht des Landes, indem die Dienstleistung erbracht wird, ist und bleibt Mi-nimum einer sozialverträglichen Lösung.
Nach wie vor sollen auch große Teile der öffentli-chen Daseinsvorsorge von der Richtlinie erfasst wer-den. Sie haben einige Ausnahmen genannt, Herr Meyer.Aber zum Beispiel der Bildungsbereich soll nach wievor erfasst werden.
Das hat die Europäische Kommission in der Anhörungausdrücklich bestätigt. Die Vertreterin der Kultusminis-terkonferenz hat dies als nicht tragbar abgelehnt. Rechthat sie. Das ist mit einem demokratischen und sozialenBildungswesen tatsächlich unvereinbar. Genauso gilt dasfür die Pflege und für andere soziale Dienstleistungen.Einzelne Ausnahmen und Erweiterungen der Ausnah-men reichen nicht aus. Die Herausnahme der gesamtenöffentlichen Daseinsvorsorge aus dem Geltungsbereichder Richtlinie ist unverzichtbar.
Die Daseinsvorsorge hat im Geltungsbereich dieserRichtlinie nichts zu suchen.
Die Regierung hat das mit in der Hand. Ohne ihre Zu-stimmung im Europäischen Rat wird es keine Richtliniegeben. Vor der Wahl haben SPD und auch die Grünen,Frau Dückert, im Bundestag beschlossen, die EU-Kom-mission aufzufordern, die Richtlinie zurückzuziehen– diese Aufforderung kreiden Sie uns in unserem Antragjetzt als Boykott an –;
eine Folgenabschätzung sollte her; das Herkunftsland-prinzip wurde abgelehnt.Auch Sie, Herr Duin, lehnen das Herkunftslandprin-zip ab. Gleichzeitig ruft der Vorsitzende Ihrer Fraktionim EU-Parlament, Herr Schulz, in den letzten Tagen zurBereitschaft zum Kompromiss mit den Konservativenauf, damit die Dienstleistungsrichtlinie auf jeden Fallverabschiedet wird. Das nenne ich Nebelkerzen werfen.
Ihr Parteivorstand ruft zur Demo auf. Das freut uns.Aber dann müssen Sie auch im EU-Parlament und in derRegierung klare Positionen vertreten.
Herr Meyer, unter Federführung der Hessischen Lan-desregierung hat sich der Bundesrat komplett gegen dasHerkunftslandprinzip ausgesprochen. Ihre Abgeordnetenim Europäischen Parlament aber sind es, die die Ableh-nung des Herkunftslandprinzips bisher verhindern unddas auch am 15. Februar weiter tun wollen.Frau Merkel war am Montag bei Herrn Chirac. Mansolle doch eine gemeinsame Position finden, umarmt sieihn – aber nicht, um die Richtlinie mit ihm gemeinsamabzulehnen, sondern mit dem Ziel, ihn von seiner konse-quenten Ablehnung abzubringen. Das teilen wir nicht.Dieser Entwurf ist insgesamt noch immer schlecht fürdie Menschen, auch in der aktuellen Fassung, auch mitIhren Änderungsvorschlägen. Deshalb fordern wir Sienach wie vor auf – wie es auch in unserem Antragsteht –: Kehren Sie zu Ihrer alten Position zurück, Kolle-ginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen! Leh-nen Sie die Richtlinie ab! Statt Herkunftslandprinzip undPrivatisierung brauchen wir einen Prozess der Harmoni-sierung von sozialen und ökologischen Standards inEuropa sowie Rahmenrichtlinien für die öffentlicheDaseinsvorsorge, die sie vor Privatisierung und Liberali-sierung schützen.
Dafür werden jedenfalls wir am 11. Februar in Berlinund dann auch in Straßburg mit vielen Menschen auf dieStraße gehen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die Demo wirddie Aufmerksamkeit für diese Forderung noch erhöhen.
Das Wort hat nun die Kollegin Lena Strothmann,CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
1008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Selten ist über den Entwurf einer Richtlinie so intensivund emotional diskutiert worden. Im Augenblick wird,so kann man sagen, alles in den Ring geworfen, was nurden Anschein von Dienstleistungsfreiheit hat. Viele se-hen einen Zusammenhang mit den Fleischerkolonnenaus Osteuropa und den berühmten Fliesenlegern. InFrankreich und den Niederlanden hat der Entwurf sogardie Zustimmung zur EU-Verfassung verhindert.Gemeinsam spiegeln all diese Diskussionen vor allenDingen die Angst um die Arbeitsplätze wider. Ich binder Auffassung, dass es grundsätzlich gut ist, diese Dis-kussion zu führen. Es ist positiv, weil dadurch im Vor-feld eines europäischen Beschlusses ausführliche Bera-tungen stattfinden. Im Klartext heißt das: Es bestehenEinflussmöglichkeiten bezüglich der EU-Vorgänge. Dasist gut so.
Ich bin auch froh, dass wir heute mit dieser Debattezur Versachlichung des Themas beitragen können. Sach-lichkeit ist notwendig; denn die Aufgeregtheit um dieDienstleistungsrichtlinie verhindert einen Blick auf dieFakten. Die Dienstleistungsrichtlinie stellt den letztenTeil der Verwirklichung der vier Grundfreiheiten dar.Nach den entsprechenden Regelungen für Personen, Wa-ren und Kapital sollen nun Erleichterungen bei denDienstleistungen folgen.Die Dienstleistungsfreiheit ist auch eingebunden inden Lissabonprozess. Die Lissabonstrategie strebt einenDreiklang von Beschäftigung, Wirtschaftsreform und so-zialem Zusammenhalt – Stichwort: europäisches Sozial-modell – an. Auch hier lautet ein Ziel: Schaffung vonArbeitsplätzen.Das Potenzial dafür ist da. 70 Prozent unseres Brutto-inlandsprodukts sind mittlerweile Dienstleistungen. Dergrenzüberschreitende Teil daran aber ist gering. BeimGüterexport sind wir Weltmeister; auch Fußballwelt-meister wollen wir werden.
Aber wir wollen und müssen auch beim Export vonDienstleistungen stärker werden.Leider ist es so, dass zwischen den Mitgliedstaatenviele Hindernisse bestehen. Viele dienen der Abschot-tung. Die Kommission hat dies aufgrund einer Reihevon Beschwerden festgestellt. Zwei Beispiele dazu: EinAachener Gärtnereibetrieb hatte in England einen Auf-trag zur Dachbegrünung. Dafür wurde ein zwölfstündi-ger Baustellenabsicherungskurs verlangt. Ein Elektroin-stallationsauftrag bei der niederländischen Armee istnicht zustande gekommen, da zuvor eine Prüfung gefor-dert wurde. Das besondere Problem dabei war, dass siein holländischer Sprache gefordert wurde.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Dienstleistungs-richtlinie ist als Rahmenrichtlinie konzipiert, die nachaußen einen Orientierungsrahmen setzt und nach innenviele Möglichkeiten zulässt. Sie war letztlich unaus-weichlich und ist in jedem Fall besser als Dutzende vonSektorenrichtlinien, die sich möglicherweise widerspre-chen.Unnötige Hemmnisse gilt es also abzubauen. Eines istklar: Standards und Vorschriften müssen sein. Eines abermuss nicht sein: Schikanen, die zur Abschreckung vonMitbewerbern oder gar zur Marktabschottung miss-braucht werden.
Ausländische Dienstleister haben es bei uns relativleicht, in den Markt zu kommen; das muss man feststel-len. Wir dagegen haben es im Ausland erheblich schwe-rer. Daher wäre unser Nutzen von einer Dienstleistungs-richtlinie erheblich größer. Hier liegen die Chancen fürunsere Betriebe und deren Mitarbeiter.Deshalb müssen wir uns in die Gestaltung der Dienst-leistungsrichtlinie konstruktiv einbringen. Auf dem ur-sprünglichen Kommissionstext, dem Bolkestein-Ent-wurf, herumzureiten, macht dabei eigentlich keinen Sinnmehr.
Die grundsätzlichen Kritikpunkte sind bekannt: der An-wendungsbereich, das Herkunftslandprinzip, der Um-fang der bestehenden Beschränkungen und die Kontroll-möglichkeiten vor Ort.Nun hat der Binnenmarktausschuss des Europaparla-ments am 22. November 2005 über 1 000 Änderungs-anträge beraten. Mein Kollege Meyer hat eben ausführ-lich darüber berichtet. Am 14./15. Februar wird dasEuropaparlament entscheiden. Es wird sicherlich nochVeränderungen geben; das steht fest. Auch die Mei-nungsbildung im Deutschen Bundestag läuft noch. An-zunehmen ist aber, dass der Vorschlag des Binnenmarkt-ausschusses die künftige Linie des Parlaments undwahrscheinlich auch die der Kommission sein wird.Die Änderungen bedeuten – ich sage das der Vollstän-digkeit halber –: Unser Arbeitsrecht, unser Sozialrechtund die Anerkennung unserer Berufsabschlüsse bleibenstehen. Auch die Entsenderichtlinie bleibt unberührt. DieDaseinsvorsorge bleibt in unserer Hoheit. Der gesamteGesundheitsbereich bleibt ausgeklammert. Steuern undinternationales Privatrecht werden ausgenommen. Wirkönnen unsere Standards, was Sicherheit und Umweltangeht, einfordern. Briefkastenfirmen können dieDienstleistungsrichtlinie nicht als Schlupfloch nutzen.Das heißt, den Sorgen über Sozial- und Lohndumpingwurde Rechnung getragen.Der Handlungsbedarf für eine Verwirklichung desBinnenmarkts für Dienstleistungen ist durch etliche Ur-teile des EuGH bestätigt. Würde die Kommission dieDienstleistungsrichtlinie ersatzlos zurücknehmen – wieviele das fordern –, bestünde die Gefahr, dass all die be-stehenden Probleme über Einzelklagen gegen jedes ein-zelne Land in jedem einzelnen Fall gerichtlich geklärtwerden. Gerichtsverfahren würden in dem Falle zuneh-mend zum Korrektiv der Politik. Das kann doch tatsäch-lich keine Lösung sein.
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Lena Strothmann
Die Akzeptanz der Menschen für die europäische Sa-che würde nochmals abnehmen. Deshalb lassen Sie unsgemeinsam an der Verwirklichung des Dienstleistungs-binnenmarktes arbeiten!Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute konnten wir lesen, dass laut Eurobarometer mittler-weile 64 Prozent der Deutschen die europäische Eini-gung als negative Entwicklung ansehen. Bei Themenwie der Dienstleistungsrichtlinie manifestieren sich ent-sprechende Ängste. Ich glaube, wir alle sind gut beraten,wenn wir solche Sorgen sehr ernst nehmen.Ich will die Gelegenheit nutzen, einige Punkte klarzu-stellen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt dieWeiterentwicklung der Europäischen Union. Wir haltendiese auch im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer sowie der Bürgerinnen und Bürger für not-wendig. Wir sind aber sehr skeptisch, wenn in der Euro-päischen Union falsche Instrumente entwickelt und zumHandlungsprinzip erhoben werden. Deswegen sage ich:Wir sind für die Öffnung von Dienstleistungsmärkten,aber gegen die Bolkestein-Richtlinie, weil damit der fal-sche Weg eingeschlagen wird und die Ängste inDeutschland wie in allen anderen Mitgliedstaaten derEU weiter verstärkt werden.
Herr Zeil, ich will kurz auf Sie zurückkommen. Siekennen wahrscheinlich andere kleine und mittelständi-sche Unternehmen als die, mit denen meine Kollegen inihren Wahlkreisen zu tun haben. Es mag sein, dass Siezum Handwerk einen anderen Zugang haben. Ich kannIhnen nur sagen, dass die Rechtsanwälte geschützt sind.Aber sie bilden nicht den Mittelstand. Schauen Sie sichalso die Situation sehr genau an!Auch in Ihrem Bereich, Frau Strothmann, die Sie Prä-sidentin der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe zuBielefeld sind, wird über dieses Thema sehr intensiv dis-kutiert. Die Unternehmen haben zum Teil sehr begrün-dete Ängste. Es ist daher richtig, dass wir der Entbürokra-tisierung bei bestimmten Verfahrensweisen zustimmen,aber nicht der Einführung von Prinzipien, die mit derBolkestein-Richtlinie in ihrer originären Form vorgese-hen waren. Denn diese führen dazu, dass Unternehmen,die sich an Regeln und Standards halten, unter Druck ge-raten. Das ist eine Form von Inländerdiskriminierung unddamit eine sehr reale Gefahr.
– Ich glaube, dass Sie sich die Berichte des Binnen-marktausschusses und der anderen Ausschüsse des EPsehr genau anschauen sollten, bevor Sie so etwas sagen.Auch wenn man Ausnahmen bildet, hat man nach wievor ein gültiges Prinzip, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
Ich sage ganz klar: Keine Aushöhlung von Arbeitneh-merrechten, keine Aushöhlung von Tarifautonomie,keine Verletzung des Tarifvertragsrechts und keine Ab-senkung von Standards. Ich füge hinzu: Die Proteste derGewerkschaften gegen die vorliegende Fassung derKommission und gegen bestimmte Aspekte, die in ein-zelnen Ausschüssen des Parlaments behandelt wurden,sind berechtigt.Ich will hier deutlich machen: Es geht darum, eineklare Aussage gegen die Aushöhlung der Daseinsvor-sorge zu machen. Herr Kollege Meyer, vielleicht nocheine Ergänzung: Das Prinzip der Daseinsvorsorge istnicht nur von allgemeinem Interesse, sondern aus unse-rer Sicht natürlich auch von wirtschaftlichem Interesse.
Ich hätte kein Verständnis dafür, wenn man etwa eineAbwasseranlage installieren will und es dafür noch nichteinmal eine Niederlassung in Deutschland gibt. Ichglaube, in der Diskussion haben sich die Dinge verscho-ben. Diese Entwicklung ist in Brüssel entstanden.Die PDS macht es sich wie immer relativ leicht undsagt: Wir sind dagegen. Wenn man in der Rolle der To-talverweigerung dagegen ist, kann man hinterher immersagen, man habe das moralische Recht. Ich glaube, dasGegenteil ist der Fall. Sie geraten in ein moralisches Un-recht, wenn das Herkunftslandprinzip durch EuGH-Urteile dauerhaft bestätigt wird.
An der Totalverweigerung, wie sie etwa im EP auf dereinen Seite bei den Rechtspopulisten, zum Beispiel beider Independence Party aus Großbritannien, und auf deranderen Seite bei den Linkspopulisten, also in Teilen Ih-rer Fraktion, existiert, kann man sehen, dass das Gegen-teil von gut nicht immer schlecht ist. Manches ist gut ge-meint und in Ihrem Fall auch taktisch. Ich halte diesePosition für höchst gefährlich. Über 30 beim EuGH an-hängige Verfahren haben gute, brauchbare Anknüp-fungspunkte, das Herkunftslandprinzip durchzusetzen.Deshalb ganz klar: Wir sollten zwischen dem Zugangzur und der Erbringung und Kontrolle der Leistung un-terscheiden. Es kann nicht sein, dass die Erbringungnach Standards anderer Länder erfolgt und Unterneh-men, die hier qualifiziert ausbilden und hohe Standardsentwickelt haben – dies ist übrigens auch ein Wettbe-werbsvorteil für den Standort Deutschland –, unterDruck kommen, weil sie mit unzulässiger Konkurrenzkonfrontiert werden.
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Kurt Bodewig
Es gibt im Deutschen Bundestag nach den Beschlüs-sen vom 9. Juni des letzten Jahres eine klare Position.
Auch der Bundesrat hat immerhin mit einer 16 : 0-Ent-scheidung gegen das Herkunftslandprinzip votiert. Ichglaube, das ist eine Verpflichtung. Ich würde michfreuen, wenn wir bei der Abstimmung am 13. bzw.14. Februar im Europäischen Parlament auch die Kolle-gen der EVP in Gänze dafür gewinnen könnten, unserenVorschlägen zu folgen.
Frau Gebhardt hat mit der Unterscheidung zwischendem Zugang unter Anerkennung des Herkunftslands-prinzips und der Erbringung und Kontrolle nach denStandards des Ziellands einen wichtigen Anstoß für denDiskussionsprozess gegeben. Das entspricht der Inten-tion des Koalitionsvertrages, also unserer gemeinsamenPosition.
Insofern bin ich sehr zuversichtlich. Es wird sich eineMenge bewegen.Gleichzeitig sage ich aber auch: Wir sollten dieÄngste der Menschen ernst nehmen. Die Proteste derGewerkschaften sind begründet. Wir müssen alles Not-wendige dafür tun, dass aus Ängsten keine Realitätenwerden. Das können wir, wenn wir gemeinsam konse-quent handeln. Dies dient dem Standort Deutschland.Für Europa ist eine europäische Harmonisierung diebeste Lösung. Sie führt dazu, dass sich die Menschennicht hinter Gräben verschanzen, sondern zusammen-kommen
und sagen: Wir wollen gemeinsame europäische Rechteentwickeln.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/373 und 16/394 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 13:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Hans-Joachim Otto
, Christian Ahrendt, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Die Modernisierung des Urheberrechts muss
fortgesetzt werden
– Drucksache 16/262 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Urheberrecht ist Eigentumsrecht. Der Schutz
durch das Urheberrecht ist eine wesentliche Garantie da-
für, dass sich kreative Leistung lohnt. Das Urheberrecht
muss deshalb wirksam geschützt werden. Die Notwen-
digkeit für einen solchen Schutz besteht gerade im Um-
feld der digitalen Medien.
Im Koalitionsvertrag, Herr Staatssekretär, lesen wir,
dass die große Koalition das Urheberrecht zu einem
Schwerpunkt ihrer Arbeit machen möchte. Die FDP un-
terstützt dies ausdrücklich. Mit unserem Antrag nehmen
wir die Koalition beim Wort; denn es gibt noch einiges
aufzuarbeiten.
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Arbeiten
am so genannten Zweiten Korb – heute mit einer inter-
nen Anhörung im Justizministerium – aufgenommen
hat. Wir wollen, dass der Bundestag schnellstmöglich ei-
nen Gesetzentwurf vorgelegt bekommt, der die Rechts-
stellung der Urheber und ausübenden Künstler im digita-
len Umfeld wirklich stärkt.
Das Justizministerium hat Anfang des Monats den
Referentenentwurf aus der vergangenen Legislatur-
periode wieder hervorgeholt. Es war nicht mehr mög-
lich, ihn weiter zu beraten. Er hatte damals schon in
einigen Punkten heftige Kritik erfahren. Ich sage aus-
drücklich: Wir begrüßen einige Regelungspunkte in die-
sem Referentenentwurf. Ich darf hier die Regelungen zu
den unbekannten Nutzungsarten, zum Verzicht auf Ces-
sio legis bei den Filmherstellern und zum Pressespiegel
erwähnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zentrale Punkte, die wir kritisieren, sind unverändert.
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Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerDas gilt etwa für die Bagatellklausel, die wir dezidiertablehnen.
Es ist rechtspolitisch verfehlt, rechtswidrige Vervielfälti-gungen in geringer Zahl von vornherein von der Straf-barkeit auszunehmen. In der öffentlichen Wahrnehmungkäme die Bagatellklausel einer faktischen Legalisierungprivater Urheberrechtsverletzungen gleich. Wenn wiruns aber darüber einig sind, dass wir das Urheberrechtstärken wollen, dann wäre genau dies das falsche Signal.
Niemand käme doch auf die Idee, den Diebstahl vonBüchern in geringer Anzahl für straflos zu erklären,wenn der Täter die Bücher nur für den eigenen Gebrauchstiehlt. Mit dieser absurd klingenden Begründung willjetzt das Justizministerium die Schlechterstellung desgeistigen Eigentums gegenüber dem Sacheigentumrechtfertigen.Wir hoffen, dass es angesichts der kontroversen De-batte zu diesem Punkt innerhalb der Bundesregierungdoch noch zu einer Änderung im Entwurf kommt. Kul-turstaatsminister Neumann hat sich ausdrücklich unsererHaltung angeschlossen.
Deshalb fordere ich Sie auf: Streichen Sie diese Klauselaus Ihrem Referentenentwurf und legen Sie uns dannden Gesetzentwurf vor.
Ich hoffe, dass wir ansonsten eine entsprechende Kor-rektur mit einer Mehrheit hier im Hause vornehmen kön-nen.Das zweite Thema unseres Antrages ist das Urheber-vertragsrecht. Es wurde vor knapp vier Jahren umfas-send geändert, um die Stellung der Urheber und der aus-übenden Künstler zu stärken. Wir, die FDP, haben auchin der Opposition dieses Anliegen immer unterstützt.Wir haben aber zugleich immer zu bedenken gegeben,dass der Gesetzgeber bei einer Beschränkung der Privat-autonomie auf einem schmalen Grat wandert.Auch die Bundesregierung hat das neue Urheberver-tragsrecht seinerzeit als „juristisches Neuland“ bezeich-net. Aus diesem Grund brauchen wir einen soliden Zwi-schenbericht über die ersten praktischen Auswirkungendes neuen Urhebervertragsrechts. Wir wissen: Es liegenerste Urteile dazu – einige Verfahren sind auch noch an-hängig in nächsten Instanzen – vor. Der Gesetzgeber, wirals Parlamentarier müssen in die Lage versetzt werden,mögliche Fehlentwicklungen rechtzeitig zu erkennenund auch zu korrigieren.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dem Bun-destag einen solchen Bericht über das Urhebervertrags-recht vorzulegen. Am liebsten wäre es uns, wenn Ihnendas bis zum Sommer gelingen würde.
Es wird gewiss eine Zeit dauern, bis sich Routine beider Anwendung des neuen Urhebervertragsrechts ein-stellt. Manche Fragen müssen durch die Gerichte geklärtwerden. Eine nachträgliche Anpassung des vertraglichVereinbarten durch die Gerichte muss aber auch im Ur-heberrecht die Ausnahme bleiben. Das neue Urheberver-tragsrecht baut auf die Vernunft und den Respekt der Be-teiligten vor den legitimen Interessen des jeweilsanderen. Deshalb würden weder die prinzipielle Verwei-gerung der einen Seite noch überzogene Forderungender anderen Seite dem Anliegen des neuen Urheberver-tragsrechts gerecht.Da die große Koalition dieses Thema zu einemSchwerpunkt ihrer Arbeit macht, bin ich mir sicher, dassjetzt auch Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, unse-ren Antrag in den Beratungen unterstützen werden.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Günter Krings,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Dem Antragsteller gebührt zunächstDank dafür, dass er das Urheberrecht nach fast drei Jah-ren der parlamentarischen Abstinenz wieder einmal zumGegenstand einer Debatte in diesem Hohen Haus ge-macht hat.
Die politische Aufmerksamkeit für dieses komplizierteGebiet kann gar nicht hoch genug sein; denn das geistigeEigentum ist sowohl kulturpolitisch als auch wirtschafts-politisch, aber nicht zuletzt auch rechtspolitisch vonhöchster Bedeutung.
Wenn wir den Wohlstand unseres Landes erhaltenwollen, werden wir dies nicht allein damit erreichenkönnen, dass wir Kohle fördern, Stahl produzieren, unsgegenseitig die Haare schneiden oder die Pizza nachHause bringen. Es sind die Köpfe, die Ideen und geisti-gen Leistungen der Menschen in Deutschland, die unse-ren Reichtum ausmachen und auf denen unsere wirt-schaftlichen Chancen im 21. Jahrhundert ruhen.
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Dr. Günter KringsDie Aufgabe der Politik ist daher nicht mehr und nichtweniger, als geeignete Rahmenbedingungen für kreativeLeistungen, aber auch für ihre wirtschaftliche Verwer-tung zu schaffen.Sosehr ich mich deshalb zunächst über den FDP-An-trag gefreut habe, so war ich beim Durchlesen der zweimageren Textseiten dann doch etwas enttäuscht.
Viel Neues hat der Antrag nun wirklich nicht zu bieten.Statt inhaltlicher Aussagen verbrauchen Sie viel Tinte,um die Chronologie des Urheberrechts aus den ver-gangenen Jahren nachzuerzählen.
Vielleicht war das auch nötig und aus Ihrer Sicht gebo-ten, um den Parlamentsneulingen eine gewisse Einfüh-rung in das Thema Urheberrecht zu geben. Wenn das dieAbsicht war, dann verstehe ich das natürlich.Hinter Ihre erste und offenbar zentrale Forderung, dieArbeiten am so genannten Zweiten Korb der aktuellenUrheberrechtsnovelle wieder aufzunehmen, können wirallerdings einen Haken machen. Ihrer Aufmerksamkeitist offenbar entgangen, dass die Arbeiten hieran längstwieder unter Dampf stehen. Die betroffenen Verbändehaben den Referentenentwurf zur Stellungnahme erhal-ten. Gerade heute Morgen hat wenige hundert Meter vonhier im Bundespresseamt eine große Verbändeanhörungdazu stattgefunden. Der Kollege Manzewski und ich wa-ren dort zugegen und haben uns mit dem Thema nocheinmal eingehend befasst.Umgekehrt vermisse ich im Antrag jeden Hinweis aufdie notwendige Umsetzung der Durchsetzungsricht-linie der Europäischen Union. Diese Richtlinie fordertdie Staaten der Europäischen Union bekanntermaßenauf, den Opfern von Verletzungen des geistigen Eigen-tums einen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch zu ge-währen. Auskunft erteilen muss danach insbesondere einInternetprovider, dessen Portal für die Rechtsverletzunggenutzt wurde. Die Einführung eines solchen Anspruchsist eine ebenso berechtigte wie dringende Forderung derUrheberrechtswirtschaft. Es wird daher auch auf die ge-naue Ausgestaltung des Anspruches ankommen. Wennwir gerade nicht wollen, dass der Staatsanwalt bei allenUrheberrechtsverletzungen tätig wird, so brauchen dieOpfer ein effektives Mittel des zivilrechtlichen Schutzesihrer Rechte.
Unser Verständnis als Unionsfraktion ist es jedenfallsnicht, Eigentumspositionen nur gesetzlich zu definieren.Ich hoffe, jetzt für das ganze Haus sprechen zu können:Wir wollen Eigentumspositionen nicht nur gesetzlich de-finieren, sondern den Berechtigten auch die Mittel an dieHand geben, sie gegenüber Störern durchzusetzen undzu verteidigen.Mit Ihren Ausführungen zum Urhebervertragsrechtsprechen Sie immerhin ein vor allem für den deutschenBuchmarkt wichtiges aktuelles Thema an. Wenn Sie al-lerdings laut Ihrem Antrag bis zur Jahresmitte von derBundesregierung Berichte haben wollen, zum Beispielüber die bislang ergangene Rechtsprechung, den Ab-schluss gemeinsamer Vergütungsregeln oder über dieBewertung der Gesetzesänderung durch die betroffenenKreise, so frage ich mich schon, ob Sie mit einem simp-len Rechercheauftrag an den Wissenschaftlichen Dienstnicht eher und besser etwas erreicht hätten.
Ihnen scheint es hier offenbar weniger um politischeals um Wissensfragen zu gehen. Dabei bleibt das Urhe-bervertragsrecht natürlich auch in der aktuellen Wahl-periode ein hochsensibles Thema. Dessen rechtstatsäch-liche Entwicklung müssen wir sorgfältig verfolgen. DerGesetzgeber hat mit dem Anspruch auf angemesseneVergütung vor vier Jahren – Sie haben es eben zitiert,Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger – auch nachAussagen der damaligen Bundesregierung gesetzgeberi-sches Neuland betreten. Die Frage nach der angemesse-nen Vergütung ist letztlich die ganz alte, aber ungelösteFrage nach dem gerechten Preis. Den Gesetzgeber trifftdaher umso mehr die Pflicht, zu beobachten, was diePraxis aus einer solch allgemeinen Vorgabe macht.Wir sind als Bundestag gut beraten, auch die Sorgender Verlagswirtschaft bei diesem Thema ernst zu neh-men. Die jüngsten Gerichtsentscheidungen zur Frage derÜbersetzerhonorare können vor allem manch kleinerenVerlag in Bedrängnis bringen. Profitieren werden letzt-lich wohl eher die wenigen Übersetzer, die das Glück ha-ben, einen Bestseller zu übersetzen.Zu befürchten ist hingegen der Rückgang fremd-sprachlicher Übersetzungen auf dem deutschen Buch-markt. Dann könnten die Mischkalkulationen vieler Ver-lage untergraben werden, wonach gut verkaufte Bücherviele unrentable Projekte mittragen müssen. Ich finde esjedenfalls kulturpolitisch allemal sympathischer, dassVerlage in Deutschland ihr Programm selbst quer sub-ventionieren statt nach staatlichen Subventionen zu ru-fen.
Dass die Übersetzerhonorare nach der Novelle desJahres 2002 tendenziell steigen, kann wiederum nieman-den ernsthaft überraschen. Denn immerhin hatte schondie Begründung des Regierungsentwurfes ausdrücklichauf die vermeintlich mangelnde Angemessenheit derÜbersetzervergütung hingewiesen. Ich würde mir aberwünschen, dass Verlage und Übersetzer in den nächstenMonaten noch einmal einen ernsthaften Versuch ma-chen, zu fairen und vernünftigen Regeln zu kommen.
Bundestag und Bundesregierung sind gut beraten, dieseBemühungen positiv zu begleiten.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 1013
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Dr. Günter KringsEin kurzfristiges Eingreifen der Gesetzgebung wirdes in dieser Frage daher nicht geben können. Das fordertder Antrag der FDP – das will ich Ihnen zugestehen – zuRecht nicht. Für den Bundestag sollte die erste Prioritätjetzt darin bestehen, den bis zum Rand gefüllten ZweitenKorb der Urheberrechtsnovelle und die Einführung einesAuskunftsanspruches zu einem guten Abschluss zu brin-gen.Der Referentenentwurf aus dem Justizministeriumbietet eine gute Grundlage für die Beratungen. DenFachleuten aus den Ministerien gebührt bereits jetzt un-ser Dank für die hochkomplexe schwierige Arbeit, einengesetzgeberischen Pfad durch den Dschungel der mitun-ter sehr gegensätzlichen Interessen im Urheberrecht zuschlagen. Erfreulich ist etwa, dass der Entwurf davon ab-sieht, aus der Erlaubnis der Privatkopie ein durchset-zungsstarkes Recht auf Privatkopie zu machen. Der Re-ferentenentwurf markiert aber natürlich nicht das Ende,sondern den Beginn einer politischen Diskussion, die imBundeskabinett und dann vor allen Dingen auch hier imDeutschen Bundestag geführt werden muss.Das gilt insbesondere – aber nicht nur – für die so ge-nannte Bagatellklausel.
Ich begrüße es sehr, dass unser KulturstaatsministerBernd Neumann vor einigen Tagen sehr klare Worte zumWert des Urheberrechts im Allgemeinen, aber auch zurProblematik dieser Klausel gefunden hat.
Diese Klausel nützt meines Erachtens niemandem sorichtig, schadet aber dem geistigen Eigentum.
Schon heute und nach geltendem Recht – das ist wichtig,festzuhalten – klagen die Staatsanwaltschaften Urheber-rechtsverletzungen zu Recht gar nicht an, wenn sie nurein geringes Ausmaß annehmen. Die Bagatellklauselkönnte allerdings die Rechtsunsicherheit vertiefen unddies in einem Bereich, in dem die Grenze zwischenRechts- und Unrechtsbewusstsein – das wissen wir alle –schon sehr verschwommen ist.Die von Raubkopien betroffenen Unternehmen habenin der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen unter-nommen, um die Menschen für strafbare Handlungen imBereich des Urheberrechts zu sensibilisieren. Diese Ar-beit darf der Gesetzgeber nicht konterkarieren, indem ermit der Einführung einer Bagatellklausel bestimmte Ur-heberrechtsverletzungen als Kavaliersdelikt darstellt.
Das Signal wäre nämlich ebenso eindeutig wie pro-blematisch, ja sogar falsch: Geistiges Eigentum wäre da-nach eben doch nicht so richtig Eigentum. Niemandwürde ernsthaft auf den Gedanken kommen, beispiels-weise eine vergleichbare Bagatellklausel für den Dieb-stahl beweglicher Sachen zu fordern. Ein § 242 a Straf-gesetzbuch zum Beispiel, der etwa den Diebstahl vonOberhemden straffrei stellt, wenn der Täter sie anschlie-ßend selber trägt oder allenfalls an enge Freunde ver-schenkt, würde zu Recht als Niederlage des Rechtsstaa-tes gewertet werden.
Es ist ganz offensichtlich und, wie ich finde, auch ab-solut in Ordnung, dass es innerhalb unserer großenKoalition hierzu noch einiges zu besprechen gibt. Ich binzuversichtlich, dass uns eine Einigung vielleicht auch– hören Sie gut zu – über die große Koalition hinaus ge-lingen kann. Auch beim Ersten Urheberrechtskorb in derletzten Wahlperiode lagen die Positionen anfangs weitauseinander. Aber es ist uns dennoch gelungen, zwi-schen Regierung und Opposition einen Kompromissauszuhandeln. Wir sind damit der langen parlamentari-schen Tradition gefolgt, gerade im Bereich des Urheber-rechts zu möglichst konsensfähigen Lösungen zu kom-men. Ich will aber auch an eines erinnern: Eine Partei istdamals ausgeschieden. Die FDP hat diese Traditiondurchbrochen und sich dafür entschieden, Profilierungvor die Suche nach einem Kompromiss zu setzen.
Ich hoffe einmal, dass der Antrag, den Sie jetzt hiervorlegen, nicht die Fortsetzung dieser Strategie ist. Eswäre schon wichtig, dass wir gemeinsam den Versuchstarten, einen sachgerechten Kompromiss zu finden.
Ich gestehe Ihnen freimütig zu: Es ist ein gut gemeinterAntrag. Nur leider wissen wir alle, dass gut gemeint oft-mals das Gegenteil von gut ist.Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Frau Dr. Lukrezia
Jochimsen, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auchdie Fraktion Die Linke begrüßt den gut gemeinten An-trag der FDP und stimmt den darin genannten Argumen-ten größtenteils zu. Das Urheberrecht muss modernisiertwerden – keine Frage. Allerdings: Geistiges Eigentumim digitalen Zeitalter zu schützen, lässt sich natürlichleicht fordern, ist aber nur äußerst schwer durchzusetzenin einem Land, in dem über 40 Prozent der Haushalteüber einen CD- und DVD-Brenner und 60 Prozent derBürger über einen Internetzugang verfügen.
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Dr. Lukrezia JochimsenWofür sind wir? Wir sind für ein Recht auf Privat-kopie
– ja, natürlich –, wohlgemerkt zum privaten, nicht zumgewerblichen Gebrauch. Aber was machen wir ange-sichts des massenhaften Kopierens zu nicht gewerbli-chen Zwecken, das es ja auch gibt? Wir wollen die Mil-lionen Kinder und Jugendlichen, die das tun, nichtkriminalisieren. Aber es muss etwas geschehen, wennsie massenhaft auf CDs oder DVDs kopierte Musik undFilme nutzen und weitergeben; denn wir sind natürlichgegen den Diebstahl geistigen Eigentums. Wir wollen,dass Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Auto-ren sowie Übersetzerinnen und Übersetzer eine ange-messene Vergütung für ihre Werke bekommen.Mit einem kommen wir dabei auf keinen Fall weiter:mit der Einführung einer Bagatellklausel.
Sie würde genau das schwächen, was unsere Gesell-schaft dringend braucht: das Rechtsbewusstsein, wel-ches geistiges Eigentum respektiert und es nicht zu ei-nem x-beliebigen Schnäppchen degradiert, welches mansich jederzeit zum Nulltarif besorgen kann.
Das Beispiel mit den Hemden wurde bereits angespro-chen. Dem könnte ich hinzufügen: Dann könnten wirauch gleich „Ladendiebstahl unter 20 Euro“ legalisieren.Mit der Einführung einer Bagatellklausel kommen wirhier auf keinen Fall weiter.Die Novelle des Urhebervertragsrechts aus demJahr 2002 war ein erster Schritt, die verfassungsrecht-lich gebotene angemessene Vergütung der Urheberdurchzusetzen.
Die PDS hat diesem Gesetzentwurf zugestimmt, vor al-lem deshalb, weil in ihn auch der Rechtsanspruch auf an-gemessene Vergütung aufgenommen worden war.In einem Entschließungsantrag haben wir damalsweiter gehende Forderungen aufgestellt. Wir hattennämlich Zweifel daran, dass es zwischen Urhebern undVerwertern tatsächlich zu einem fairen Interessenaus-gleich kommen würde. Die Entwicklung hat gezeigt,dass unsere Zweifel vollkommen berechtigt waren. Un-ser Entschließungsantrag wurde damals übrigens abge-lehnt.
Nun muss ein Ordnungsrahmen geschaffen werden,der Kreativität und Innovation fördert und damit zum Er-halt und Wachstum unserer nationalen und der europäi-schen Kunst beiträgt. Wir meinen, dass eine Stärkungder Rechte und Wirkungsmöglichkeiten der Kunstschaf-fenden dringend notwendig ist, wobei die öffentlicheZugänglichkeit ihrer Werke natürlich gewährleistet blei-ben muss. Dabei sind wir uns im Klaren, dass es ohneVerwerter nicht möglich ist, für die öffentliche Zugäng-lichkeit der Werke zu sorgen. Aber in seinem Kern mussein Urheberrecht ein Recht für die Urheber bleiben undkein Recht für die Verwerter sein. Der Staat darf sichnicht für die Durchsetzung der Partikularinteressen derMedienindustrie, der Entertainmentkonzerne und derComputer- und Druckerhersteller einspannen lassen.
In diesem Sinne hoffen wir auf eine gründliche Dis-kussion mit allen Beteiligten und unterstützen insbeson-dere die Forderung nach einer bilanzierenden Berichter-stattung über die Folgen der jetzigen Regelung.Danke schön.
Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari-
sche Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.
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Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolle-ginnen! Liebe Kollegen! Ich rede heute für das Bundes-justizministerium und möchte gleich vorweg eines sa-gen: Da ich möchte, dass der Konsens aller fünfFraktionen bestehen bleibt, verzichte ich auf eine Be-wertung dessen, was bisher gesagt worden ist; denn ichglaube, das ist besser.
Verehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dem An-trag, den die FDP-Fraktion eingebracht hat, können wirallerdings nicht zustimmen.
Ich will auch begründen, warum: Erstens. Wenn Sie dieletzten Jahre einmal an sich vorüberziehen lassen undsich erinnern, werden Sie feststellen, dass die Bundesre-gierung wiederholt in verschiedenen Ausschüssen desDeutschen Bundestages über die Arbeiten am Referen-tenentwurf zum so genannten Zweiten Korb des Urhe-berrechts berichtet hat. Wir haben diesen Entwurf aller-dings nicht mehr ins Kabinett gebracht, weil ab MaiWahlkampf war und wir eben eine konsensfähige Ent-scheidung wollten; wir wollten ihn uns nicht im Wahl-kampf zerreden lassen.
Selbstverständlich ist und bleibt die zügige Moderni-sierung des Urheberrechts das Ziel dieser Bundesregie-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 1015
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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbachrung; das haben wir ja gesagt. Ich kann mich jetzt sehrkurz fassen, weil Herr Krings bereits etwas dazu gesagthat und vermutlich auch Herr Manzewski noch etwasdazu sagen wird. Heute hat eine Anhörung stattgefun-den, die genau in diese Richtung weist. Ich denke, wiralle werden zu einer vernünftigen Regelung kommen.
Deswegen ist Ihre Aufforderung, dass wir etwas tun sol-len, völlig überflüssig, so überflüssig wie ein Kropf;wieder einmal tragen Sie Eulen nach Athen.
– Seien Sie nicht so neugierig, Herr Koppelin.
Kommen wir zum nächsten Punkt, zum Urheberver-tragsrecht. Es ist richtig, dass wir mit dem Urheberver-tragsrecht etwas Neues gemacht haben: Wir wollten vorallen Dingen, dass die Vertragsparteien nicht irgendwoeine starre Gebührentabelle haben, wie wir das von denArchitekten und den Anwälten kennen, sondern dass siedie Honorare aushandeln, dass die Kreativen eine ge-rechte Entlohnung bekommen – aber auch die Verlagehaben ihr Existenzrecht. Nur so können wir Kultur undKunst in Deutschland am Leben erhalten. Für die Belle-tristik ist eine einvernehmliche Regelung ja bereits ge-lungen. Zurzeit verhandeln Übersetzer und Verleger mit-einander und sie haben bekundet, dass auch sie nach wievor an einer einvernehmlichen Lösung interessiert sind.Deshalb bieten wir an, wenn es gewünscht wird, wiederals Mediator aufzutreten, wie wir das als Bundesministe-rium der Justiz schon einmal getan haben.Aber schon jetzt, nach einer so kurzen Zeit, zu evalu-ieren, ergibt keinen Sinn. Dann würden wir möglicher-weise die eine Seite bevorzugen, was die Konsensfähig-keit, die wir wollen, wieder konterkarieren würde.Sie haben uns aufgefordert, auf europäischer Ebenefür die Stärkung eines Urheberrechts einzutreten. Ver-ehrte Frau Kollegin, das ist so selbstverständlich, dasswir dazu nicht erst aufgefordert werden müssen.
Wir können höchstens sagen: Wir unterstützen die Bun-desregierung sehr gern.Ein Letztes. Unser Altmeister Hucko, Ministerialdi-rektor und langjähriger Abteilungsleiter, hat einmal ge-sagt: Das Urheberrecht ist eine ewige Dombaustelle. –Wir wollen doch etwas erreichen. Dann fordere ich Siealle auf: Fühlen Sie sich als Dombaumeister! Ich will Ih-nen gerne dabei helfen.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jerzy
Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Kollege Dr. Krings, nicht al-les, was Sie gesagt haben, verdient und bekommt meineUnterstützung. Aber da, wo Sie Recht haben, sage ichaus vollem Herzen und gerne: Ja, richtig!Zu dem Antrag der FDP, über den wir heute zu disku-tieren haben, ist zu sagen: Er ist zu 50 Prozent überholt,weil die Bundesregierung schon gemacht hat, was Siehier einfordern; sie hat die Arbeit bereits aufgenommen.
Es ist der jetzigen Koalition leicht gefallen, das zu tun,weil sie auf gute und weit reichende Vorarbeiten der al-ten Regierung, von Rot-Grün, hat zurückgreifen können.Die andere Hälfte Ihres Antrags ist eine Aufforderung.Dazu ist ja schon gesagt worden: Das hätte man auch miteiner schlichten Abfrage machen können.Aber nutzen wir die Gelegenheit, einmal über das Ur-heberrecht zu reden und weisen wir darauf hin, dass dasUrheberrecht nicht nur die eine Seite im Blick habenkann, nämlich die Urheber von geistigem Eigentum:Wissenschaftler, Künstler, Schauspieler, Übersetzer oderwen auch immer. Sie alle schaffen geistiges Eigentumdoch aus dem Grund, damit andere daran teilhaben kön-nen. Sie schaffen es für die Nutzer, für die Konsumen-ten, für die Rezipienten ihrer Werke.Zwischen diesen beiden Seiten stehen die wirtschaft-lich Mächtigen: die Verwertungsgesellschaften und diegroße Geräteindustrie, die die Mittlergeräte bereitstellt.Meine Damen und Herren von der FDP, Ihr Antragkrankt daran, dass Sie bei der Gestaltung des Urheber-rechts nach Ihren Vorstellungen den Nutzer von geisti-gem Eigentum überhaupt nicht im Blick haben. Er istnicht Bittsteller auf dem Markt, sondern muss in einermodernen Wissensgesellschaft auch eine Rechtspositionhaben. Ich will hierzu nur einen Satz aus Ihrem Antragzitieren. Sie schreiben:Auch bei der künftigen Weiterentwicklung und Mo-dernisierung des Urheberrechts müssen die Interes-sen der Urheber und Leistungsschutzberechtigtendeshalb stets im Zentrum der rechtspolitischenÜberlegungen stehen.Ich sage Ihnen: Nein, das reicht nicht aus. Auch diejeni-gen, die die Werke rezipieren, diejenigen, für die dieWerke gemacht werden, müssen Rechte haben.In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dassim vorliegenden Referentenentwurf in einem Punkt Ver-besserungsbedarf besteht – das werden wir in den Bera-tungen noch zur Sprache bringen –: Im Ersten Korb ha-ben wir, und zwar einvernehmlich bis auf die FDP, diePrivatkopie – damit meine ich nicht die illegale Raub-kopie – als eine erlaubte Kopie rechtlich ausgestaltet.
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Jerzy Montag
– Aber selbstverständlich. Sie kennen das Gesetz nicht.Sie haben an der Arbeit offensichtlich nicht mitgewirkt.Wir haben die Privatkopie im Urheberrecht ganz klarals eine legale Kopie definiert. Nun müssen wir in derdigitalen Welt auch dafür sorgen, dass das durchgesetztwerden kann und dass die Menschen das Recht nicht nurauf dem Papier bekommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Otto?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Herr Kollege
Otto, wir werden darüber noch in den Ausschüssen zu
reden haben.
Deswegen ist es wichtig, dass die Bundesregierung
und die große Koalition bei der Bagatellklausel bleiben.
Hier habe ich Befürchtungen und Hoffnungen gleicher-
maßen. Wir müssen uns darüber klar werden, was damit
tatsächlich gemeint ist: Darunter fällt nicht die massen-
hafte Herstellung von Raubkopien, sondern die Herstel-
lung von Kopien durch Kinder, Jugendliche und junge
Menschen, die eine andere Beziehung zu CDs haben.
Wir Grünen wollen nicht, dass die Polizei und die Staats-
anwaltschaften auf die Schulhöfe gehen und dort mit
dem Mittel des Strafrechts agieren. In diesem Fall bedarf
es anderer Mittel.
Wir werden uns in den Ausschüssen darüber noch zu
unterhalten haben. Ich glaube, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU, dass wir auch in diesem Punkt zum
Schluss einen guten Kompromiss finden werden. An uns
soll es jedenfalls nicht scheitern.
Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege
Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um esgleich vorweg deutlich zu sagen: Herr Kollege Otto, ichhabe relativ wenig Verständnis für den heute hier debat-tierten Antrag der FDP-Fraktion.
Von Ihnen wird die weitere Modernisierung des Urhe-berrechts angemahnt. Dabei weiß die FDP doch ganz ge-nau, dass die Arbeiten hierzu kurz vor dem Abschlussstehen. Bereits Ende der letzten Legislaturperiode lagder erste Referentenentwurf vor. Wäre es nicht zu dervorgezogenen Bundestagswahl gekommen, stünden wirvermutlich kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes.Herr Kollege Otto, die neue Bundesregierung hat die-ses Gesetzgebungsverfahren zügig aufgegriffen – dasmuss man positiv werten – und den ersten Referenten-entwurf überarbeitet. Auch dieser zweite Referenten-entwurf ist den Fraktionen bereits zugegangen.Es ist schon angesprochen worden, dass im Bundes-presseamt vor einigen Stunden die letzte großeVerbandsanhörung hierzu endete. Frau KolleginLeutheusser-Schnarrenberger, anstatt Anträge zu stel-len, hätte man vielleicht die Angebote, die das BMJ anuns alle gerichtet hat, annehmen sollen. Dann wäre mannämlich hervorragend über den Stand des Gesetzge-bungsverfahrens informiert gewesen.
Ich gehe davon aus, dass es in Kürze zu Ressortab-stimmungen kommen wird und dass der Entwurf inKürze auch dem Kabinett vorgelegt wird.
Da das alles der FDP bekannt ist, kann ich die Kritiküberhaupt nicht nachvollziehen – dies umso weniger, alsman ganz genau weiß, wie komplex das Thema Urheber-recht ist und wie vielfältig die Interessen der Beteiligtensind. Auch deshalb halte ich persönlich gar nichts davon,jetzt einen Einzelpunkt wie die Bagatellklausel heraus-zugreifen und hier zu debattieren.
Das wird sicherlich ein Streitpunkt sein, über den wirspäter intensiv diskutieren müssen.Auch ich habe meine Bedenken, ob es immer richtigist, die Probleme auf die Justiz zu schieben, anstatt ge-setzgeberisch konsequentere Lösungen zu suchen. Ichmeine aber, dass wir dieses Problem im Gesamtkontextbehandeln müssen. Deshalb gehört dieser wichtigeStreitpunkt auch zu der umfassenden Diskussion überden so genannten Zweiten Korb und nicht hierhin. Siemögen dann Ihre entsprechenden Anträge stellen.Soweit die FDP mit ihrem Antrag quasi eine Evaluie-rung des Urhebervertragsrechts begehrt, sind die Gründedafür für mich nun wirklich nicht ersichtlich. Zumindestmeine ich, dass ein solcher Antrag verfrüht ist.Als wir das Urhebervertragsrecht geschaffen haben,waren wir uns alle darin einig, dass die Entlohnung derUrheber angemessen zu sein hat. Ich kann mich jeden-falls nicht daran erinnern, dass die FDP damals eine an-dere Auffassung vertreten hat. Durch § 36 Urheberge-setz haben wir es den Beteiligten freigestellt – der HerrStaatssekretär hat es deutlich gemacht –, sich zusam-menzusetzen und entsprechende gemeinsame Vergü-tungsregeln als Indiz für eine solche Angemessenheitaufzustellen. Das macht auch Sinn, da die entsprechen-den Leistungen derart vielschichtig und vielseitig sind,
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Dirk Manzewskidass sich der Gesetzgeber insoweit tunlichst heraushal-ten sollte.Leider haben es die Verbände in der Folgezeit zu-nächst nicht geschafft, hier auf einen gemeinsamen Nen-ner zu kommen. Erst mithilfe des BMJ als Mediator istes im letzten Jahr zumindest zwischen den Autoren undden Verlagen der Belletristik zu einer einvernehmlichenLösung gekommen. Diese Vorgehensweise soll, sovielich weiß, auch zwischen den Verlagen und den Überset-zern angedacht sein. Schon deshalb kommt Ihr Antragetwas zu früh.
Kollege Otto, selbst wenn wir als Gesetzgeber solcheVergütungsregeln festsetzten, würden sie nicht vor Ge-richtsverfahren schützen. Wenn man sich Ihren Antraggenau durchliest, erkennt man, dass genau diese Kritikdarin enthalten ist. Wenn sich ein Autor oder ein Über-setzer trotz gemeinsamer Vergütungsregeln unterbezahltfühlt, kann er dies gleichwohl gerichtlich klären lassen.Das war bereits vor In-Kraft-Treten des Urheberver-tragsrechts so – das müssten Sie eigentlich wissen – undwird auch immer so sein. Wenn die Gerichte in einigenFällen in der Vergangenheit festgestellt haben, dass diebeanstandete Entlohnung im Einzelfall nicht angemes-sen gewesen ist, sollten die Verlage dies nicht einfachmonieren, sondern sich einmal Gedanken darüber ma-chen, ob sie ihren Übersetzern in dem einen oder ande-ren Fall nicht vielleicht doch zu wenig gezahlt haben.Ich habe in den streitbefangenen Fällen, die ich alledurchgearbeitet habe, nicht den Eindruck erlangt – denBereich der Nebenrechte nehme ich einmal aus, da ichhier eine etwas andere Auffassung vertrete als die der-zeitige Rechtsprechung –, dass die Verlage durch dieseEntscheidung überobligatorisch belastet worden sind. ImÜbrigen – Sie haben es selbst angesprochen – liegenmeines Wissens bislang nur erstinstanzliche Entschei-dungen vor. Ich meine, wir sollten ruhig abwarten, bissich eine gefestigte Rechtsprechung herausgebildet hat.Ich gehe nicht davon aus, dass die Justiz damit großeProbleme hat, weil das ihren originären Bereich betrifft.Alles in allem sehe ich derzeit keinen Handlungsbe-darf. Wir werden Ihren Antrag deshalb zurückweisen.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/262 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Thilo Hoppe, Undine Kurth , wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Für starke soziale und ökologische Standards
in der Internationalen Finanz-Corporation
der Weltbank
– Drucksachen 16/374, 16/466 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernward Müller
Gabriele Groneberg
Hellmut Königshaus
Michael Leutert
Ute Koczy
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich könnte fast genauso anfangen wie dervorherige Redner. Ich habe vom Grundsatz her Verständ-nis für den vorliegenden Antrag der Fraktion vonBündnis 90/Die Grünen, weil es für die jetzige Oppositi-onsfraktion natürlich verführerisch ist, die Beschlüssedes Bundestages der letzten Wahlperiode, die wir zusam-men gefasst haben, zu nehmen und daraus einen neuenAntrag zu formulieren, um das Ganze zu toppen. Ichmuss aber ganz ehrlich zugeben, dass mein Verständnisda auch schon aufhört. Bei den Inhalten stellt man näm-lich fest, dass die Forderungen in weiten Teilen bereitserfüllt sind oder sich auf Befürchtungen beziehen, diesich in der vorangegangenen Diskussion als nicht stich-haltig erwiesen haben, weil sie durch entsprechendesHandeln widerlegt worden sind.Einig sind wir uns sicherlich insoweit, als das obersteZiel der IFC als Teil der Weltbankgruppe die Armutsbe-kämpfung durch Förderung einer nachhaltigen Ent-wicklung sein soll. Dies ist ausdrücklich als Ziel der IFCdefiniert worden; denn die Überarbeitung der Umwelt-und Sozialstandards, der Safeguard-Policies, um die eshier geht, soll dazu beitragen, eine bessere Orientierungzur Entwicklungspolitik zu erreichen.Einig sind wir uns sicherlich auch insoweit, als eineÜberarbeitung der sozialen und ökologischen Standards,ebendieser Leitlinien, zwingend notwendig ist.
Gerade weil es in der Vergangenheit von den unter-schiedlichsten Seiten Kritik an den Safeguard-Policiesgegeben hat, gerade weil man bei der Weltbank und
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Gabriele Gronebergihren Töchtern erkannt hat, dass eine bessere Balancezwischen ökologischen, ökonomischen und sozialenZielsetzungen herzustellen ist, ist eine Neufassung derSafeguards so wichtig. Selbstverständlich muss mansehr wohl darauf achten – Frau Koczy, da sind wir unseinig –, dass man nicht hinter das bisher verbindlicheRegelwerk für die Projekte der IFC zurückfällt.Das strategische Rahmenwerk, das hier entwickeltwird, soll die alten Safeguards ersetzen. Nach breit ange-legten Konsultationsprozessen werden die bisherigenEntwürfe des Rahmenwerkes überarbeitet. Der dritteund endgültige Entwurf wird vermutlich erst Ende Fe-bruar vorliegen.
Wir haben gestern im Ausschuss darüber gesprochen,dass wir uns dann mit diesem Entwurf ausführlich be-schäftigen werden.Selbstverständlich haben wir uns bereits mit derÜberarbeitung der bisherigen Richtlinien befasst. Esist ja nicht so, als wären sie vom Himmel gefallen. Be-reits im Jahre 2004 haben wir uns mit dem von der Welt-bank in Auftrag gegebenen Untersuchungsbericht zurWirksamkeit von Projekten der Weltbank im BereichRohstoff- und Energiepolitik auseinander gesetzt.
Die Ergebnisse unserer Beratungen haben wir in einemBeschluss des Bundestages festgehalten, den wir ge-meinsam gefasst haben. Die damit verabschiedeten For-derungen sind auch für unsere Beratungen zu den neuenRichtlinien aktuell und nicht etwa überholt; sie geltennach wie vor.
– Frau Koczy, Sie wissen doch ganz genau, dass unserePositionen im laufenden Diskussionsprozess eingebrachtworden sind.
– Natürlich hat es etwas genützt; das können wir dochfeststellen. Ich werde Ihnen das gerne noch einmal erläu-tern.Uns und bestimmt auch Ihnen – es ist ja nicht so, dassnur wir diese Informationen bekommen; auch Sie wer-den sie erhalten haben – liegen zu den kritischen Punk-ten, die Sie vorgetragen haben, schriftliche Aussagen desBMZ und des deutschen Vertreters bei der Weltbank,Herrn Eckhard Deutscher, vor, die Ihre Befürchtungenentkräften. Demnach sind bei den Beratungen der IFCfolgende Punkte vom BMZ und von Herrn Deutscher alsunabdingbar deutlich gemacht worden – ich will sie kurznennen, weil dadurch deutlich wird, worum es geht –:Erstens. Die allgemeine Konsistenz von IFC- undWeltbank-Safeguards muss sichergestellt bleiben und esdarf kein Absenken der Standards erfolgen. Die Stan-dards – darin sind wir uns einig – müssen sozial undökologisch ausgewogen sein.Zweitens. Die im Rahmen des Extractive IndustriesReview vereinbarten Empfehlungen müssen Berücksich-tigung finden.
Darin sind wir uns ebenfalls einig.Drittens. Bei den Fragen der Umsiedlung und Kom-pensation muss weiterhin das Prinzip gelten, dass da-durch kein Betroffener schlechter gestellt wird.
Auch darin sind wir uns einig.Viertens. Durch explizite Bezugnahme auf einschlä-gige internationale Abkommen und Konventionen sollenDefinitionen präzisiert und internationales Recht ge-stärkt werden. Auch dagegen ist nichts einzuwenden.Fünftens. Die Umsetzungsvorschriften zu den Perfor-mance-Standards müssen eindeutige Definitionen undBenchmarks enthalten. Auch dagegen ist nichts zu sa-gen.Ich stelle deshalb fest: Wir alle wollten einen Revi-sionsprozess. Die neue Bundesregierung setzt sich mas-siv dafür ein, dass das neue strategische Rahmenwerkeine positive Weiterentwicklung der alten Safeguardssein wird. Insofern kann ich Ihre Sorge nicht teilen, liebeFrau Koczy, dass zum Beispiel die Änderung, die Um-welt- und Sozialverträglichkeit von vornherein als Ziel-vorgabe zum überprüfbaren Bestandteil von Projektenzu machen, statt sie wie bisher durch Auflagen sicherzu-stellen, zwangsläufig dazu führen wird, Standards im so-zialen und ökologischen Bereich zu schleifen.Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es jetzt offen-sichtlich erstmalig gelingen wird, im Performance-Stan-dard Nr. 2 „Labor and Working Conditions“ einschlä-gige ILO-Konventionen zu verankern. Das war bishernicht gegeben. Ich frage mich, wie Standards verwässertwerden können, wenn bei der Berücksichtigung derRechte indigener Bevölkerung im Performance-Stan-dard Nr. 5 Entschädigungen auch für Personen vorgese-hen werden, die keinen Landtitel vorweisen können?Diese Befürchtung haben Sie in unserer gestrigen Dis-kussion vehement zum Ausdruck gebracht.Ebenso unberechtigt finde ich Ihr tiefes Misstrauengegenüber der Privatwirtschaft. Warum soll nicht auchder Investor eine umfassende Abschätzung und Überprü-fung im Hinblick auf soziale und umweltrelevante Be-lange vornehmen? Sicherlich muss man dann – das istdoch der Knackpunkt – bei der Überprüfung dessen, waser vorgelegt hat, durchaus kritisch vorgehen. Bei dieserÜberprüfung, die anschließend durch das IFC erfolgt– das ist doch sichergestellt – muss darauf geachtet wer-den, dass das Vorhaben auch anständig ist.
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Gabriele Groneberg
Wie im Übrigen auch Herrn Trittin bekannt ist, sindbei Bauprojekten in Deutschland ähnliche Verfahrens-weisen üblich. Der Investor legt Unterlagen zur Prüfungvor und muss gegebenenfalls noch einmal nacharbeiten.
Ich frage mich allen Ernstes, ob Sie wollen, dass sohohe Hürden für Projekte errichtet werden, dass sie sichfür einen Investor wirtschaftlich nicht mehr lohnen. Daskönnte durchaus passieren.
Ich gebe Ihnen zwar Recht, Frau Koczy, dass die Prü-fung durchaus zum Drahtseilakt werden kann, aber dannmuss eben eine Abwägung unter Berücksichtigung allerInteressen erfolgen.Dass hier Rolle und Verantwortlichkeiten zwischender IFC und dem Kunden klar definiert und getrenntwerden, kann ich nicht als negativ empfinden. Wichtigist in jedem Fall – das will ich gern noch einmal beto-nen – die kritische Überprüfung der eingereichten Ana-lysen. Ich denke, die klarere Trennung der Verantwort-lichkeiten wird dabei hilfreich sein.Die Einführung des Development-Impact-Repor-ting, des jährlichen Berichts über den Entwicklungsbei-trag der IFC-Aktivitäten, ist positiv zu bewerten. Ichdenke, dieser Bericht wird zukünftig von allen interes-sierten Seiten mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnisgenommen werden und die notwendige Transparenzschaffen.Im Übrigen teile ich nicht Ihre Auffassung, dass dervon Ihnen vorgelegte Antrag eine Konkretisierung oderPräzisierung – wie auch immer – des damals von uns ge-meinsam erarbeiteten Antrags zur nachhaltigen Roh-stoff- und Energiepolitik der Weltbank darstellt. Da lie-gen wir nicht auf einer Linie.Ihr Antrag ist im Prinzip als erledigt zu betrachten. Eswird Sie deshalb sicherlich nicht wundern, dass wir ihnablehnen.Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! SeitApril 2003 überarbeitet die IFC ihre Sozial- und Um-weltstandards. In diesen fast drei Jahren hat die Welt-banktochter mit Umweltaktivisten, Menschenrechts-gruppen und Gewerkschaften, aber auch mit ihrenPartnern, den Banken, Investoren und Verbänden, ge-sprochen und die Standards diskutiert.Der Diskussionsprozess wurde in aller Breite öffent-lich geführt. Die IFC und alle Gremien waren daran inte-ressiert, dass er auch von politischer Seite begleitetwurde. Der Termin, bis zu dem Vorschläge erbeten wa-ren, war der 25. November 2005. Nun kommt eine Wo-che, bevor die Ergebnisse des Diskurses bekannt gege-ben werden sollen, aber nach dieser Frist, eineIdeensammlung der Grünen. Wenn man polemisch seinwollte, würde man sagen: Guten Morgen, liebe Freun-dinnen und Freunde! Schön, dass Sie aufgewacht sind!Darauf hat die Welt gewartet.
Wieso kommen Sie erst jetzt mit Ihren Vorschlägen?Sie waren doch all die Jahre in der Regierung. Warumhaben Sie dort nicht damals das umgesetzt, was Sie jetztso ausdrücklich fordern? Wir sind offenbar fraktions-übergreifend – zu diesem Schluss kommt man, wennman sich an die Ausschussberatung erinnert – der Auf-fassung, dass wir Ihrem Antrag nicht folgen sollten. Wirwollen erst einmal abwarten, was der dritte Entwurfbringen wird.
– Natürlich warten wir. – In ihm werden Standards bei-spielsweise in den Bereichen Soziales, Umwelt und Ar-beitsbedingungen – ich will nicht alle aufzählen; das istnur eine Auswahl – und in einem ergänzenden Papier dieentsprechenden Sanktions- und Überwachungsmöglich-keiten beschrieben. Warum wollen Sie also vorab drauf-satteln, abgesehen davon, dass sich niemand darumkümmerte, was wir jetzt beschließen würden, wenn wires denn täten?Ich vermute Folgendes: Die IFC fördert und finan-ziert vor allem privatwirtschaftliche Investitionen inEntwicklungsländern. Ich glaube, dass das der eigentli-che Grund ist, warum Sie noch einmal draufsatteln wol-len. Ihnen ist das Ganze schon aus ideologischen Grün-den suspekt. Jedenfalls hat man den Eindruck, dass esIhnen nicht darum geht, in der Sache voranzukommen,sondern darum, die Arbeit der IFC zu erschweren. Siewollen mehr Bürokratie, obwohl wir gerade in diesemBereich eine Entbürokratisierung bräuchten. Genau dasist das Problem: Überbürokratisierung und Aufblähungder Apparate. Das, was Sie wollen, ist nichts anderes alsein Beschäftigungsprogramm beispielsweise für Consul-tants und Anwälte. Dann kann man gleich eine Behördeschaffen, die gängelt, überprüft und überwacht. Ich habeden Eindruck, dass Sie, die Grünen, die privaten Anlegerund Investoren mehr überwachen wollen als unsere Part-ner in der Bundesregierung und bei den Nachrichten-diensten.
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Hellmut Königshaus– Wieso ist das eine Unverschämtheit? Sie wollen kei-nen Untersuchungsausschuss, wohl aber, wie wir gehört,Coca-Cola zunehmend strengeren Assessments unter-werfen. Erledigen Sie hier erst einmal Ihre Aufgaben!Verstehen Sie eigentlich nicht, dass gerade die priva-ten Investitionen in den Entwicklungsländern von beson-derer Bedeutung sind?
Denn gerade diese sind es doch, die dauerhafte Arbeits-plätze schaffen, die Menschen in Lohn und Arbeit brin-gen sowie einen sozialen Aufstieg ermöglichen.
Die privaten Investitionen dürfen nicht behindert, son-dern müssen gefördert werden.Es ist beinahe unverantwortlich, dass Sie nun auchnoch die Nutzung der innovativen Technologien inden Entwicklungsländern einschränken und Ihren Stan-dards, die ja nicht denjenigen der Entwicklungsländerentsprechen, unterwerfen wollen. Vor allem das von Ih-nen geforderte Verbot der grünen Gentechnik ist im Hin-blick auf die Entwicklungsländer abwegig.
Die EU hat sich ja um die betreffenden Fragen schon ge-kümmert. Sicherlich wird uns das in Europa noch eini-ges bescheren. Auch das ist auf Ideologie zurückzufüh-ren. Aber Ideologie muss man sich leisten können. Ichglaube, dass die Entwicklungsländer das nicht können.Wir lehnen Ihren Antrag ab. Kehren Sie zur Sachar-beit zurück und hören Sie auf, draufzusatteln!Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Bernward Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fordert inihrem Antrag die Einführung stärkerer sozialer und öko-logischer Standards bei der Internationalen Finanzgesell-schaft, der IFC, einem Tochterunternehmen der Welt-bank.Da meine Kollegin Groneberg schon auf bestimmteKritikpunkte eingegangen ist, die Sie gestern im Aus-schuss angesprochen haben, habe ich nun die Möglich-keit, einige andere Aspekte in den Focus zu bringen. Ei-nerseits möchte ich meine Sorge darüber zum Ausdruckbringen, wie Sie gestern – das machen Sie sicherlichauch nachher – diesen Antrag vorgetragen und begrün-det haben, um nicht zu sagen, mit welcher „Urgewald“Sie zu Werke gegangen sind. Urgewalt kann man mit doder t schreiben; Sie wissen, was ich meine.
Das läuft meiner Ansicht nach alles wieder nach dem al-ten Schema ab: Sie zeichnen ein Horrorbild, Sie schürenÄngste, Sie schüren Misstrauen und dann kommen Siemit Ihren Lösungen. Die Lösungen heißen einfach im-mer: mehr Kontrolle, mehr Staat, mehr Aufwendungenfür die Unternehmen, letztendlich auch teurere Aufwen-dungen.
Eines muss ich Ihnen sagen – Herr Kollege Trittin istja auch da –: Wir haben auf nationaler Ebene bereits er-lebt, dass diese Wege nicht zu Lösungen führen. Denkenwir an das Beispiel Ökoaudit. Wir haben das Ökoauditin Deutschland eingeführt und waren in Europa, was dieTeilnehmerzahl angeht, das führende Land. Die Teilneh-merzahl hat sich erheblich reduziert – das lässt sichnachweisen –, als für die Unternehmen der Eindruck ent-stand, dass es zu einer zusätzlichen Belastung und zukeiner Entlastung bei der Kontrolle kommt. Somit hattenwir nicht ein Mehr an Ökologie, sondern letztendlicheine Flucht aus der Ökologie bzw. eine Flucht in niedri-gere Standards. Ich denke, das wollen auch Sie nicht.Das wollen wir alle nicht.
Ich habe zum anderen auch die Gelegenheit, hier ei-nige Aspekte unserer entwicklungspolitischen Arbeit,der Arbeit der Fraktionen und der Bundesregierung, dar-zulegen. Unser Ziel ist es, die Wirksamkeit der deut-schen Entwicklungspolitik zu steigern. Dazu gehört aucheine effizientere Gestaltung der bi- und multilateralenOrganisationsstrukturen und Instrumente. Zur Verbesse-rung der kooperativen Bewältigung der globalen Heraus-forderungen wollen wir die Weiterentwicklung interna-tionaler Einrichtungen und weltweit gültiger Regelwerkevoranbringen. Dazu gehört auch, dass die Reformen derInstitutionen der Weltbank fortgesetzt werden.
Ende der 90er-Jahre hat die Weltbank angefangen,neue ökologische und soziale Standards und neue Prüf-verfahren einzuführen. Diese Politik soll Umwelt undMenschen und, weil Sie gerade die indigenen Völker an-sprachen, auch das Naturerbe vor Zerstörung und denAuswirkungen von Projekten schützen, die in den 80er-Jahren berechtigte Kritik hervorgerufen haben.
– Sie wissen doch ganz genau, dass diese Kritik das aus-lösende Moment für das Umdenken bei den Institutionender Weltbank war.
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Bernward Müller
Heute müssen sich private Investoren und Exporteurean den von der Weltbank gesetzten Standards messen.Sie lassen sich messen und das bringt ihnen Vorteile;denn das ökologische und soziale Siegel der Weltbankauf ihren Projekten eröffnet ihnen Wege zu neuen Finan-zierungsmöglichkeiten. Ich nenne hier als Beispiel dieHermesbürgschaften. Die Fortentwicklung dieser Richt-linien ist in unserem Interesse, da wir uns den effizientenEinsatz der vorhandenen Mittel zum Ziel gesetzt haben.Die Weltbank hat die Erkenntnisse aus dem so ge-nannten Salim-Report umgesetzt. Dr. Emil Salim emp-fahl, eine Balance zwischen ökologischen, ökonomi-schen und sozialen Zielsetzungen herzustellen. Dazusollte die Weltbank unter anderem ihre Umwelt- und So-zialstandards reformieren und effektiv umsetzen. GuteRegierungsführung und Achtung der Menschenrechtesowie Korruptionsverhinderung sollten im Bereich derFirmen und Regierungen Fördervoraussetzung werden.Die Forderungen aus dem Salim-Report decken sichmit den Leitvorstellungen, die im Koalitionsvertrag for-muliert sind und zu denen wir uns bekennen. Die dreiSäulen nachhaltiger Entwicklungsarbeit – Umwelt, Wirt-schaft und Soziales – sind gleichberechtigte und grund-legende Faktoren entwicklungspolitischen Handelns.Dazu wollen wir dem Aspekt der guten Regierungsfüh-rung ein stärkeres Profil geben. Die Stärkung von GoodGovernance ist das zentrale Bestimmungselement unse-rer künftigen Entwicklungszusammenarbeit.
Nachhaltige Entwicklung kann nur dort stattfinden,wo gute Regierungsführung die Grundlage für die Ent-faltung der Selbsthilfekräfte in einer Gesellschaft legt.Doch auch für die Fälle von Bad Governance müssenwir uns im Rahmen einer pragmatischen Entwicklungs-politik rüsten. „Transformation“ ist ein wichtiges Stich-wort, wenn es um den Umgang mit Gewaltökonomienund Projekten in Bürgerkriegsländern geht. Die Unionbegrüßt daher, dass Weltbank und IFC planen, am21. Februar 2006 die im Salim-Report geforderten Maß-nahmen zu beschließen.Zu Ihrem Antrag ganz konkret: Es ist eine Neuauflagedes schon erwähnten Antrags aus dem Jahre 2004. WasSie vorlegen, ist zwar gut gemeint; aber sowohl im sach-lichen Bereich als auch in Bezug auf neue Ansätze kannich keine wesentlichen Unterschiede zu dem bereits ge-nannten Antrag erkennen.
Ich sehe daher weder in der Sache noch in der politi-schen Dimension eine Neuerung gegenüber der gegen-wärtigen Beschlusslage des Deutschen Bundestages undder Regierungspraxis. Aus diesem Grunde lehnen wirdiesen Antrag ab.Ich möchte noch zwei Punkte erwähnen: Erstens. Wasnützen uns Standards, wenn wir sie nicht kontrollieren?Die Bundesregierung wird in Zukunft die Aufgabe ha-ben, die sozialen und ökologischen Standards auf ihreEffektivität und auf ihre Umsetzbarkeit hin zu überprü-fen. Dazu brauchen wir auch ein Monitoring. Das habenSie in Ihrem Antrag gar nicht erwähnt. Die Bundesregie-rung ist also gefordert, auch auf dem Gebiet des Control-lings tätig zu werden.
Zweitens; damit nehme ich Bezug auf einen Antrag,den die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits in derletzten Legislaturperiode gestellt hat. Ich sehe ein Miss-verhältnis von finanzieller und personeller BeteiligungDeutschlands an den internationalen Institutionen. Ichwiederhole hier, was ich gestern gesagt habe: Deutsch-land stellt 2,7 Prozent des Personals der Weltbank, wäh-rend die Beitragsquote Deutschlands bei 4,5 Prozentliegt. Ein Vergleich mit den Vereinigten Staaten: DerenPersonalquote liegt bei 25 Prozent, während die Kapital-quote bei 16,9 Prozent liegt. Auch diesen Aspekt müssenwir beleuchten, auch das dürfen wir nicht aus dem Augeverlieren, um deutsche Interessen angemessen vertretenzu können.Es bleibt festzuhalten, dass die Reform der Umwelt-und Sozialstandards der Weltbank und ihrer Institutionenein großer Schritt für die Wirksamkeit entwicklungspoli-tischer Arbeit sein wird. Die Bundesregierung ist aufge-rufen, diese Fortentwicklung unterstützend zu begleitenund die Umsetzung der neuen Maßstäbe kontinuierlichzu überprüfen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich,
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die IFC hat ihre Aufgabe, die Förderung vonPrivatinvestitionen in Entwicklungsländern zum Zweckeder Armutsreduzierung, in der Praxis bisher nicht ausrei-chend erfüllt. Zu ihren Geschäftspartnern und Nutznie-ßern gehören vornehmlich Großkonzerne wie Coca-Cola, Exxon Mobil oder Halliburton.Wie das prägnante Beispiel der Tschad–Kamerun-Öl-pipeline zeigt, wird die Weltbank ihren eigenen bisheri-gen Standards nicht gerecht. Es sollte ein Musterprojektwerden, um Ölreichtum in direkten Nutzen für dieArmen umzusetzen. Das Gegenteil ist erreicht: bisherentschädigungslose Enteignungen, rapide steigende Ge-sundheitsprobleme der Bevölkerung und erneute Ar-beitslosigkeit der Wanderarbeiter, die die Pipeline ge-baut haben. Auf eine von der Weltbank selbst geforderteUmweltverträglichkeitsstudie wurde bei der Projektrea-lisierung verzichtet. Der Plan für die Einrichtung von
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Alexander Ulrichzwei Nationalparks als Kompensation für die beim Bauder Pipeline geschädigten Waldgebiete existiert nur aufdem Papier. Seit Juli 2003 fließt Öl durch die Pipeline.Die Ziele der Armutsreduktion wurden nicht hinreichendverfolgt. Für den Tschad ist zudem eine dramatischeVerschlechterung der Menschenrechtslage zu beobach-ten.Wie dieses Beispiel eindrucksvoll zeigt, ist die Welt-bank nur vordergründig eine Institution zur Finanzierungentwicklungsorientierter Projekte. Das genannteBeispiel ist leider kein Einzelfall. Die Nichteinhaltungder Umwelt- und Sozialstandards ist vielmehr typischfür IFC-Projekte. Die Profite, die Interessen der privatenKreditnehmer stehen an erster Stelle; Menschen undUmwelt geraten in den Hintergrund.Die IFC will nun am 21. Februar einen neuen Regel-entwurf verabschieden. Bisher liegen uns ebenso wiedem Bundesministerium nur die so genannten Perfor-mance-Standards vor. Wir sehen in dieser Neuabfas-sung der Standards eine völlige Abkehr von bisherigenNormen und Regeln. Die neuen Standards übertragensehr viel Verantwortung auf die Kunden der IFC, sprich:auf die Konzerne, und lassen dem IFC-Management er-hebliche Spielräume in der Interpretation dessen, wasdas Minimalerfordernis bei jedem einzelnen Projekt ist.Es ist absurd, der Industrie selbst die Entscheidungdarüber zu überlassen, ob ihre eigenen profitorientiertenProjekte im entwicklungspolitischen Interesse sind.
Das aber ist der Kern der neuen Performance-Standards.Die IFC wird demgemäß künftig auf unabhängige Um-welt- und Sozialverträglichkeitsprüfungen verzichten. Inder Konsequenz bedeutet das eine Anpassung der Stan-dards an die bisherige entwicklungsfeindliche Praxis.Die Regierungsparteien aber tun so, als läge über-haupt kein Problem vor. Sie wollen uns auf einen drittenEntwurf vertrösten, den sie uns bis heute nicht vorlegenkönnen und dessen Inhalt ihnen selbst nicht geläufig ist.Sie sagen uns: Vertraut der IFC! Die IFC sagt: Vertrautden Investoren! – Das ist die Kapitulation der Bundes-entwicklungspolitik.
Wir stimmen mit der Kritik von Ihnen, Frau Koczy,an der IFC-Praxis in der gestrigen Ausschusssitzung völ-lig überein. Doch warum schreiben Sie das, was Sie hierverurteilen, nicht auch so in Ihrem Antrag nieder? DerAntrag der Grünen verschweigt, dass es sich bei denProfiteuren der IFC-Kredite um Großkonzerne handelt.In Ihrem Text suggerieren Sie sogar, sich ganz im Ein-klang mit dem Bundesministerium für wirtschaftlicheZusammenarbeit zu befinden, als stünde nicht die Ver-schlechterung der Standards, sondern ihre Verbesserungauf der Tagesordnung. Warum erwähnen Sie in ihremAntrag mit keinem Wort die Performance-Standards, dieSie zu Recht so lautstark kritisieren?Wir, die Fraktion der Linken, haben den Grünen vor-geschlagen, eine entsprechende Änderung in ihrem An-trag vorzunehmen. Wir schlagen vor, dass das zustän-dige Bundesministerium den deutschen Exekutivdirektorim Verwaltungsrat der Weltbank anweist, Verschlechte-rungen, wie sie die vorliegenden Performance-Standardsvorsehen, abzulehnen. Leider haben Sie diesen Vor-schlag nicht angenommen. Ihr Ziel scheint zu sein, diezuständige Ministerin und die Bundesregierung insge-samt – trotz aller verbalen Kritik – aus der praktischenVerantwortung zu entlassen. Wir können Ihrem Antrag,dem Antrag der Grünen, deshalb nicht zustimmen. Sie,die Grünen, sollten endlich in Ihrer Rolle als Opposi-tionspartei ankommen!Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Ulrich, das war Ihre erste Rede in die-
sem Haus. Herzlichen Glückwunsch dazu und weiterhin
alles Gute.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort
die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zu später Stunde ein schwerer Antrag, einAntrag, der die Zukunft der Weltbankpolitik bestimmenund Weichen stellen kann, aber nicht wird, weil dieMehrheit – alle vier übrigen Fraktionen – aus unter-schiedlichen Gründen, die ich nicht nachvollziehenkann, dagegen ist.Unser Antrag ist sehr konkret. Er macht pointiert Vor-schläge, und zwar explizit zum vorliegenden zweitenEntwurf, zu den Performance-Standards der Internatio-nal Finance Corporation. Wir stehen damit in der Konti-nuität dessen, was der Bundestag beschlossen hat; hierist darüber diskutiert worden. Mit unserem Antrag set-zen wir diese Kontinuität fort und konzentrieren uns aufdas, was nun ansteht.
Wir greifen damit vor der Sitzung der Exekutivdirek-toren am 21. Februar in Washington die Anregung desSalim-Reports auf, der ernsthafte Verbesserungen derStandards in der Weltbank fordert, wenn es um die För-derung von Rohstoffen geht. Dass wir ein Problem mitder Rohstoffförderung haben, das werden Sie, meine Da-men und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen ausdem Ausschuss, wohl nicht bestreiten können.
Sie tun hier so, als würde auf diesem Politikfeld eineheile Welt existieren. Kein Wort der Kritik haben wirvon Ihnen gehört.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 14. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. Januar 2006 1023
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Ute Koczy
Eigentlich müssten Sie anders reagieren. Ich erwarte vonIhnen einen Gegenantrag, einen Antrag zu dem, was dieExekutivdirektoren beschließen müssen; denn das, waseiner Sitzung der Exekutivdirektoren verteilt wird. Ichgehe nicht davon aus, dass wir ihn so rechtzeitig bekom-men, dass wir ihn hier tatsächlich beraten können.Meine Damen und Herren, wir haben doch schlechteErfahrungen in Ländern wie Nigeria, Tschad, Kamerunund Ecuador gemacht. Wir sind misstrauisch, weil wirder Meinung sind, dass wir in dem Augenblick, wo wirUnternehmen einfach erlauben, ohne Referenzrahmen,uns vorliegt, wird all dem, was Sie hier in schönen Wor-ten formuliert haben, einfach nicht gerecht.
Bislang gehörten die Standards der Weltbank, wasSchutz und Unterstützung von Mensch und Tier angeht,zur Champions League. Damit wird es jetzt vorbei sein,wenn die Performance-Standards so, wie sie uns vorlie-gen, die Verantwortung dafür in die Hand der Unterneh-men legen, und zwar ohne Referenzrahmen.Herr Bernward Müller, Sie haben zu Recht daraufhingewiesen, dass wir Controlling brauchen. Das istrichtig. Aber dieses Controlling fehlt in dem zweitenEntwurf. Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, dasses klare Kriterien gibt, mit denen man arbeiten kann.Denn Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, unser Anlie-gen sei allein von NGO-Interessen geleitet. Es liegt imInteresse der Länder, die gegen Armut und für den Auf-bau von Infrastruktur kämpfen, und im Interesse der Un-ternehmen, die für die Durchsetzung der IFC-Standardsin ihrer Unternehmensphilosophie nachhaltige Kriterieneingeführt haben.Selbstverständlich liegen verbindliche, transparenteund rechtlich durchsetzbare Kriterien auch im Interesseder benachteiligten Völker, die keine Chance hätten,eine faire Entschädigung zu erhalten, wenn sie sich nichtdurch internationales Recht geschützt wüssten.Nicht erwähnt haben Sie, dass vor kurzem219 Nichtregierungsorganisationen einen Brief geschrie-ben haben, in dem sie darauf hingewiesen haben, dassdieser zweite Entwurf schlecht ist.
Diese Nichtregierungsorganisationen haben in tieferSorge auf den Weg der Weltbank reagiert, weil sie be-fürchten, dass da einiges aus dem Ruder läuft, zum Bei-spiel was die Zwangsumsiedlung, den Schutz der indige-nen Völker und die Biodiversität angeht. Was jetztkommen wird, bedeutet einen Rückschritt.Hier wird auf den dritten Entwurf verwiesen. Norma-lerweise ist es so, dass ein Entwurf erst drei Wochen vorohne Controlling und ohne klare Standards in die Länderzu gehen, etwas zulassen, was den Entwicklungsinteres-sen dieser Länder widerspricht. Das ist die Mahnung, diehinter diesem Antrag steht. Eigentlich – dieser Auffas-sung bin ich – können Sie gar nicht anders, als diesemAntrag zuzustimmen.Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Koczy, für Sie war es ebenfalls die
erste Rede in diesem Haus. Auch Ihnen gilt unser Glück-
wunsch, verbunden mit den besten Wünschen für die
weitere Arbeit.
Ich schließe nun die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung auf Drucksache 16/466 zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Für starke soziale und ökologische Standards in der In-
ternationalen Finanz-Corporation der Weltbank“.
Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung des Kollegen
Alexander Ulrich vor, die zu Protokoll gegeben wird.1)
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
16/374 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist
die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung al-
ler anderen Fraktionen des Hauses angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 8. Februar 2006, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.