Gesamtes Protokol
Guten Tag, liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir mit unserer Arbeit beginnen, darf ich Sie bit-
ten, sich zu erheben.
Fassungslos und nahezu sprachlos, weil uns die Worte
fehlten, erfuhren wir am 11. September 2001 von den
terroristischen Angriffen auf das World Trade Center in
New York und auf das Pentagon in Washington. Erst in der
Folgezeit wurde uns klar, dass diese ungeheuerlichen Ver-
brechen nicht nur New York und Washington, nicht nur
den USA, sondern der gesamten zivilisierten Welt galten.
Die schrecklichen Bilder, mit denen wir wieder und
wieder konfrontiert wurden, haben sich tief und unaus-
löschlich in unser aller Bewusstsein eingegraben.
Wir gedenken heute der über 3 000 Menschen, die bei
diesen furchtbaren Anschlägen am 11. September 2001
ihr Leben verloren, sei es als Passagier in einem der ent-
führten Flugzeuge, sei es in den Büros des World Trade
Center oder des Pentagon oder als Feuerwehrleute. Wir
gedenken der Toten, aber auch ihrer Angehörigen, die ur-
plötzlich mit dem Unfassbaren konfrontiert wurden, und
wir gedenken derer, die noch heute der Behandlung be-
dürfen, weil sie mit dem erlittenen Trauma nicht fertig
werden.
Der Deutsche Bundestag hat bereits unmittelbar nach
den terroristischen Anschlägen deutlich gemacht, dass wir
alle es als unsere ureigene Aufgabe ansehen, den Ver-
einigten Staaten von Amerika im Kampf gegen den Terro-
rismus beizustehen, und haben unsere Solidarität mit ihnen
zum Ausdruck gebracht. Diese Solidarität gilt weiterhin
uneingeschränkt.
Der Jahrestag dieser auch heute in ihrer ganzen Be-
deutung noch immer unfassbaren Ereignisse gibt uns al-
len, Amerikanern wie Europäern, Gelegenheit, im Geden-
ken an die Opfer und in unserer Verantwortung für die
Zukunft die möglichen Konsequenzen zu bedenken, die
für die Sicherung einer menschenwürdigen Zivilisation
für alle Menschen zu ziehen sind.
Sie haben sich zu Ehren der Toten erhoben. Ich danke
Ihnen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Beratung der Beschlussfassung des Ausschusses nach Art. 77
des Grundgesetzes zu dem Fünften
Gesetz des Bundesfernstraßengesetzes
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
2 Beratung der Beschlussfassung des Ausschusses nach Art. 77
des Grundgesetzes zu dem Ersten
Gesetz zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
3 Beratung der Beschlussfassung des Ausschusses nach Art. 77
des Grundgesetzes zu dem Gesetz
zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unter-
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sammelübersicht 412 zu Peti-tionen
Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.Zunächst möchte ich den Vorsitzenden der UMP-Frak-tion in der Assemblée Nationale, Herrn Jacques Barrot,herzlich in unserem Hause begrüßen. Seien Sie uns will-kommen!
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest-stellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus-haltsjahr 2003
– Drucksache 14/9750 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss25459
252. SitzungBerlin, Donnerstag, den 12. September 2002Beginn: 10.00 Uhrb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungFinanzplan des Bundes 2002 bis 2006– Drucksache 14/9751Überweisungsvorschlag:HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieheutige Aussprache im Anschluss an die Einbringung desHaushalts fünfeinhalb Stunden vorgesehen. Für Morgenist eine vierstündige Debatte zum Etat des Bundeskanz-leramtes und weiterer Geschäftsbereiche vereinbart. –Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der Bun-desminister der Finanzen, Hans Eichel.
sehr verehrten Damen und Herren! Als das Bundeskabinettam 19. Juni den Haushaltsplanentwurf für das Jahr 2003verabschiedete, konnte niemand mit der Flutkatastropherechnen, die im vergangenen Monat so viel zerstört hat.Wir wissen immer noch nicht, wie hoch der Schaden letzt-lich sein wird. Aber bereits jetzt steht eine zweistelligeMilliardensumme als Hilfe für die Betroffenen bereit.
Die Schäden erreichen Dimensionen, die wir nicht al-lein der enormen Spendenbereitschaft der Bevölkerungsowie der Selbsthilfe und Nachbarschaftshilfe der Betrof-fenen überlassen können. Hier muss der gesamte Staathelfend eingreifen. Ich bin froh, dass es in diesem Punktezwischen den politischen Parteien keinen Dissens gab.Die Deutschen in Ost und West standen und stehen zu-sammen wie selten zuvor. Wir alle haben auf beein-druckende Art gelernt, wie weit die deutsche Einheit wie-derhergestellt ist, viel weiter, als mancher Skeptikerbefürchtet hat. Solidarität wurde von vielen durch Spen-den und direkte Hilfe praktiziert. Niemand hat zuerst ge-fragt: Bin ich betroffen? Im Gegenteil, alle haben gefragt:Wo kann ich helfen? Dafür ist allen zu danken.
Jetzt müssen wir schnell den Weg zurück zur Norma-lität finden. Die Beseitigung der Flutschäden ist bereits invollem Gange. Die Gelder des Staates fließen in die be-troffenen Regionen und an die Geschädigten. Anpackenstatt verzagen, lautet jetzt die Devise. Aus dieser Situationkönnen eine neue Chance und ein neuer Anschub für denAufbau in den betroffenen Regionen entstehen.
Bei allem Konsens: Große Unterschiede gab und gibtes in der Art und Weise, wie die einzelnen Parteien dasstaatliche Hilfspaket finanzieren wollen. Selten zuvor tra-ten die prinzipiellen Unterschiede in der Finanzpolitik soklar hervor wie bei dieser Gelegenheit. Die Bundesregie-rung setzt auf eine solide Finanzierung unter Verzicht aufneue Schulden. Die Opposition wollte auf das Instrumentzurückgreifen, das dieses Land in den 90er-Jahren in eineenorme finanzpolitische Schräglage gebracht hat: auf im-mer mehr Schulden.
Die Verschuldungspolitik, durch die bis 1998 beimBund ein Schuldenberg von rund 750 Milliarden Euro an-gehäuft wurde, wäre nach dem Willen der Union und derFDP fortgesetzt worden, wenn wir das zugelassen hätten.Schulden sind ein süßes Gift. Wie Süchtige sind ihmUnion und FDP verfallen.
– Ich weiß, dass Sie an dieser Stelle jedes Mal unruhigwerden. Sie werden noch an anderen Stellen unruhig wer-den, wenn ich Ihnen den Spiegel vorhalte.
Wir dürfen die für den Schuldenberg Verantwortlichennicht schon wieder ans Werk lassen.
Die schleichende Vergiftung fortzusetzen hat unser Landnicht verdient. Würden wir den Finanzierungsvorschlagder Opposition akzeptieren, käme uns das sehr teuer zustehen. Die zusätzlichen Schulden hätten pro Jahr400 Millionen Euro an Zinsen zur Folge, und zwar fürviele Jahre. Das sind jahrein, jahraus mehr als 1 Mil-lion Euro pro Tag. Davon ließen sich jeden Tag fünf sehrschöne Einfamilienhäuser bezahlen. Dieses Geld würdenwir sozusagen nachträglich in die Fluten werfen und esdamit zusätzlich zu den bereits entstandenen Schäden ver-nichten. Das kann kein vernünftiger Mensch wollen.
Herr Stoiber hat mit seiner Behauptung, Zinsen zu zah-len sei besser, als Steuern nicht zu senken, Unrecht.
Das Gegenteil stimmt! Niedrige Schulden sind die Vo-raussetzung für niedrige Zinsen und einen stabilen Euro.
Auch Zinsen müssen schließlich aus Steuern bezahlt wer-den. Das ist nicht, wie Sie vielleicht früher gedachthaben, erst ab morgen, sondern ab sofort notwendig.Höhere Zinsausgaben heute erzwingen höhere Steuernmorgen.Meine Damen und Herren von der Opposition, ichziehe aus Ihren Vorschlägen eine entscheidende Schluss-folgerung: Sie haben den europäischen Stabilitäts- und
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Präsident Wolfgang Thierse25460
Wachstumspakt zwar herbeigeführt, ihn aber nicht ver-standen.
– Seien Sie vorsichtig! Ich kenne eine ganze Reihe Fi-nanzminister in Europa, die dem konservativen Lager an-gehören und Sie als ein Risiko für den europäischen Sta-bilitäts- und Wachstumspakt ansehen.
– Fragen Sie die europäischen Finanzminister aus IhremLager,
was sie von Ihren Vorschlägen in diesem Wahlkampf hal-ten!Die Fluthilfe muss solide finanziert werden. Deswegenwerden wir die für das nächste Jahr geplante Entlastungbei der Einkommensteuer um ein Jahr verschieben undparallel dazu, auf ein Jahr befristet, den großen Unterneh-men durch eine Anhebung des Körperschaftsteuersatzesum 1,5 Prozentpunkte einen Solidarbeitrag abverlangen.Die dadurch frei werdenden Mittel stehen zur Beseitigungder Schäden der Flutkatastrophe zur Verfügung.Die Flutkatastrophe erfordert eine Änderung des Bun-deshaushalts an einigen wenigen Stellen. Zur Bündelungder Mittel wird der Fonds „Aufbauhilfe“ gegründet. Trotzder Zahlungen in diesen Fonds wird die Nettokreditauf-nahme des Bundes in den nächsten Jahren, wie angekün-digt, weiter sinken. Nach 21,1 Milliarden Euro in diesemJahr bleibt es bei der für 2003 geplanten Neuverschuldungin Höhe von 15,5 Milliarden Euro. An diesem Wert wer-den wir festhalten.
Unser Land ist leistungsfähig. Wir können die entstan-denen Schäden überwinden, ohne zukünftige Generatio-nen in die Pflicht zu nehmen. Der Schaden ist jetzt ent-standen und wir müssen ihn jetzt beseitigen. Wenn dieVersicherungen, die bereits jetzt eine Zunahme der Schä-den konstatieren, mit ihrer Voraussage Recht haben, dasses künftig noch mehr solcher Schäden geben wird, frageich Sie: Wollen Sie diese Schäden jedes Mal wieder durcheine Neuverschuldung finanzieren? Wohin soll dasführen, meine Damen und Herren?
Zukünftige Generationen werden eigene Herausforde-rungen zu meistern haben, die vor allem aus einer altern-den Bevölkerung und aus sinkenden Bevölkerungszahlenresultieren. Wir können den zukünftigen Generationennicht auch noch unsere Lasten aufbürden. Deshalb wird esmit uns keine Schuldenlösung geben.
Deshalb bleibt es bei dem eingeschlagenen Konsolidie-rungskurs mit dem Ziel, im Jahr 2006 einen Haushaltohne neue Schulden vorzulegen. Er wird durch die Flut-katastrophe nicht gefährdet, weil wir die Schadensbesei-tigung solide finanzieren.Mit dem Bundeshaushalt 2003 haben wir die Netto-kreditaufnahme im Vergleich zu 1998 fast halbiert. Dieeingeplanten 15,5 Milliarden Euro stellen den niedrigstenWert seit der Wiedervereinigung dar.Alles, was unsere Finanzpolitik auszeichnet, ist für dieUnion ein Fremdwort: Solidität, Nachhaltigkeit, Ausga-benkontrolle und Rückführung der Neuverschuldung.Das lässt sich belegen, wenn man einen Blick zurück-wirft: Von 1995 bis 1998 – in den letzten vier Jahren, dieSie zu verantworten hatten – hat der Bund rund 230 Mil-liarden Euro neue Schulden gemacht. Das ist eine gewal-tige Summe: 230 Milliarden Euro. Von 1999 bis 2002 wa-ren es nur – dabei lasse ich an dieser Stelle die Erlöse ausder Versteigerung der UMTS-Lizenzen außen vor, weilsie nicht eingeplant waren – 80 Milliarden Euro. Das istein Unterschied von mehr als 150 Milliarden Euro, unddas trotz der riesigen Schulden- und Zinsbelastung, dieuns die Regierung Kohl hinterlassen hat.
Umso froher bin ich darüber, dass wir die Entschei-dung durchgesetzt haben, die nicht geplanten Erlöse ausder Versteigerung der UMTS-Lizenzen für die Schulden-tilgung einzusetzen. Wie ich Sie kenne, hätten Sie auchdiese Mittel noch ausgegeben.
Mindestens 2,5 Milliarden Euro weniger Zinsen jedesJahr sind die Konsequenz dieser Entscheidung. Die durchunsere Ausgabendisziplin gesparten Zinsen nutzen wirjetzt für Zukunftsinvestitionen. Wir können uns wiederetwas mehr leisten. Ohne den Regierungswechsel 1998wäre Deutschland heute ärmer.
Von 1994 bis 1998 hat der Bund im Durchschnitt13 Prozent seiner Ausgaben durch Schulden finanziert.Von 1998 bis 2001 – ich lasse dabei die UMTS-Erlöse wie-der außen vor – waren es nur rund 10 Prozent. In diesemJahr werden es nur noch rund 8,5 Prozent sein. Das ist derniedrigste Stand seit 1989. Der Bundeshaushalt 2003 siehteine Schuldenquote von nur noch 6,3 Prozent vor. Inner-halb von fünf Jahren haben wir also die Schuldenquote fasthalbiert. Das ist der niedrigste Wert seit 1974.
Das bedeutet rund 14 Milliarden Euro – ich betone:14 Milliarden Euro – weniger Schulden. Eine ganze
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Bundesminister Hans Eichel25461
Kreisstadt könnte so Millionär werden, ohne sich den Fra-gen von Günther Jauch aussetzen zu müssen.
Diesen Schuldenrückgang haben wir erreicht, obwohlder Anteil des Bundes am Steueraufkommen insgesamtgesunken ist. 1994 bekam der Bund noch 48 Prozent dergesamten Steuereinnahmen. 2002 waren es nur nochknapp 43 Prozent. So viel zu der Mär, dass wir den Bun-deshaushalt auf Kosten der Länder und Gemeinden sa-niert hätten!
Die volkswirtschaftliche Steuerquote wird in diesemJahr mit 21,5 Prozent einen historischen Tiefststand errei-chen. Wir haben nicht über die Einnahmeseite konsoli-diert, wie Sie nicht müde werden, als Märchen im Landezu verbreiten. Wir haben vielmehr die Ausgaben kontrol-liert. Nach unserer Finanzplanung werden die Ausgabenim Jahr 2003 trotz zusätzlicher finanzieller Belastungendurch den Wiederaufbau in den Katastrophengebieten– ich betone das – unter dem liegen, was wir 1999 im Zu-kunftsprogramm 2000 hinsichtlich der Konsolidierunggeplant hatten.
Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Das ist dasErgebnis unserer harten Arbeit, das man nicht mit der ein-maligen Aufstellung eines Haushalts erreichen kann. DieBundesregierung und der Bundeskanzler haben zum Bei-spiel bei den Verhandlungen über die Agenda 2000 er-reicht, dass das, was Deutschland an den EU-Haushaltabführen muss, gesenkt worden ist. Auch das war eine derHypotheken, die wir von Ihnen übernommen haben.
Außerdem hat der beständige Kampf mit allen Betei-ligten darum, dass der EU-Haushalt nicht in so starkemMaße wächst, dazu geführt, dass Deutschland weniger andie EU abführen muss. Sie wollen nun die Mittel, die ausdem EU-Haushalt in den Bundeshaushalt zurückgeführtwerden, für neue Ausgaben einsetzen. Davor kann ich Sieallerdings nur warnen. Denn diese Mittel sind erstens inden Steuerschätzungen schon berücksichtigt. Zweitensmuss man bedenken, dass noch nicht alle Mittel der Struk-turfonds ausgezahlt worden sind. Hier werden in dennächsten Jahren noch Ausgaben auf uns zu kommen. Weralso heute die aus dem EU-Haushalt zurückgeführtenMittel ausgeben will, wird später doppelt so viele Pro-bleme haben.
Es war des Weiteren ein großer Kampf – hier hat derBundeskanzler persönlich außerordentlich viel erreicht –,Russland dazu zu bringen, seine Situation im PariserClub so zu sehen wie jedes Land, das wirtschaftlich starkist und seinen Verpflichtungen voll nachkommt. Das hilftuns natürlich. Ich muss keine zusätzlichen Ausgaben ein-planen, wenn Russland ein solider Schuldner ist und seineSchulden bedient.Wenn ich nur daran denke, welche Sorgen uns dieserTage Brasilien bereitet hat! Hier kommt wieder eine Auf-gabe auf uns zu, die wir erledigen müssen. Deswegen istdie deutsche Bundesregierung im IWF intensiv tätig ge-wesen; denn wenn dort etwas passierte, hätten wir wie-derum ein Haushaltsrisiko in Höhe von mehreren HundertMillionen Euro Jahr für Jahr zu tragen. Wer also mit derKonsolidierung vorankommen will, muss in der Tat dasganze Jahr über an den Positionen des Haushalts arbeiten.Mit allen Konsolidierungsbemühungen haben wir zu-gleich in die Zukunft investiert, wobei nicht nur das, wasin Beton und Asphalt, sondern auch das, was in die Köpfeinvestiert worden ist, als Investitionen anerkannt werdenmuss.
Aber selbst wenn ich den herkömmlichen Investitionsbe-griff zugrunde lege, ist festzustellen, dass die Investi-tionsquote 1998 bei 11 Prozent lag und im nächsten Jahrschon bei 12,7 Prozent liegen wird. Allein die Verkehrs-investitionen steigen – ich betone das – von 1998 bis 2003um fast 32 Prozent.
All diese Zahlen belegen, auf welchem finanzpolitischenTreibsand die Unionskonzepte aufgebaut sind. Schuldenschaden!Die Vorschläge der FDP sind auch nicht besser. Sie ru-fen gerne laut nach pauschalen Subventionskürzungen,trauen sich aber nicht, auch nur eine Maßnahme konkretzu nennen.
Allenfalls verlangen Sie – das haben Sie in der Vergan-genheit immer wieder getan – die Kürzung der Steinkoh-lesubventionen. Ich sage Ihnen dazu nur: Diese Subven-tionen – die haben wir von Ihnen geerbt – werden alsEinzige immer stärker abgebaut. Wir mussten dafür sor-gen, dass der Vertrag, den Sie in diesem Zusammenhanggeschlossen hatten, eingehalten wird.
Schaut man diesbezüglich in die Vergangenheit, dann weißman auch, warum Sie keine Vorschläge machen. An derVorgängerregierung war schließlich auch die FDPbeteiligt.Von 1994 bis 1998 stiegen die im Haushalt veran-schlagten Subventionen um 1,8Milliarden Euro. Seit wiran der Regierung sind, sanken sie um mehr als 3 Milliar-den Euro. Wir reden nicht nur, wir handeln.
Die finanzpolitischen Kennzahlen sprechen eine eindeu-tige Sprache. Bis 1998 gab es viel finanzpolitisches Ge-rede. Ab 1999 war die Zeit für Taten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Bundesminister Hans Eichel25462
– Sehen Sie, so kann sich Ihr eigener Wahlkampfslogangegen Sie kehren, meine Damen und Herren. Sie hattendoch 16 Jahre Zeit für Taten und das weiß auch die Be-völkerung.
Den Wiederaufbau der hochwassergeschädigten Re-gionen bezahlen wir parallel zu den Leistungen im Rah-men des Solidarpakts II. Von 2005 bis 2019 wird der Bundden ostdeutschen Ländern insgesamt rund 156 Milliar-den Euro zum Abbau der teilungsbedingten Sonderlastenzur Verfügung stellen. Danach müsste die teilungsbe-dingte Infrastrukturlücke zum Westen geschlossen sein.Ab 2005 übernimmt der Bund außerdem die Verbind-lichkeiten des Fonds „Deutsche Einheit“. Mit Ablauf desJahres 2019 wird der Fonds aufgelöst. Den Aufbau Oststellen wir damit auf eine verlässliche finanzielle Grund-lage und sorgen durch den neuen Aufbaufonds dafür, dassder Aufbau Ost nicht gefährdet wird.
Wir werden die Schäden schnell beseitigen. Das Hoch-wasser soll den Aufholprozess Ostdeutschlands nicht ge-fährden. Das Entscheidende aber ist das Vertrauen derMenschen; denn sie müssen es machen. Wir können ihnenbeistehen. Wir können finanzielle Rahmenbedingungenschaffen. Dafür schnell, klar und solidarisch zu sorgen istunsere gemeinsame Aufgabe. Auch das muss heute hierentschieden werden.
Auch wenn es am Bau noch immer Probleme gibt, undzwar erhebliche, so kommt dieser Aufholprozess insge-samt doch gut voran. Die Industrieproduktion wuchs inOstdeutschland von 1997 bis 2001 dreimal schneller alsin Westdeutschland. Die internationale Konkurrenzfähig-keit ist gleichzeitig enorm gestiegen. Der Exportanteil amUmsatz stieg von 14,6 Prozent auf 23,2 Prozent. In derostdeutschen Industrie gibt es heute rund 50 000 Be-schäftigte mehr als 1997.Wir haben im Einzelplan für den Verkehr als Folge derHochwasserkatastrophe Umstrukturierungen vorgesehen.Die hochwassergeschädigten Regionen werden zusätzlich1 Milliarde Euro bekommen. Das ändert aber nichts amGesamtvolumen. Die Verkehrsträger erhalten in 200312 Milliarden Euro für Investitionen. Bis 2006 steigt dieSumme auf 12,3Milliarden Euro. Damit besteht über einelängere Zeit Planungssicherheit.
Erstmals sind auch die Einnahmen aus der LKW-Maut imHaushalt berücksichtigt. Damit kann das Anti-Stau-Pro-gramm anlaufen, mit dem volkswirtschaftlich schädlicheEngpässe auf den Autobahnen beseitigt werden.Der Bundeswehreinsatz an den Deichen wird vomBund bezahlt. Der Verteidigungsminister wird Mittel ausseinem Einzelplan dafür einsetzen. Im Jahr 2003 wie inden folgenden Jahren bis 2006 stehen für den Verteidi-gungshaushalt je 24,6Milliarden Euro zur Verfügung. Die767 Millionen Euro für Antiterrormaßnahmen, die wirauch in diesem Jahr eingeplant hatten, werden in denVerteidigungshaushalt integriert. Das Geld reicht für dieFortführung der Bundeswehrreform aus.Der Aufschwung in Deutschland hat bereits eingesetzt.
– Zahlen dazu werde ich Ihnen gleich vorhalten. Darankann man richtig schön studieren, wie Sie mit der Realitätumgehen, nur weil Sie sich einen Wahlkampfvorteil da-von versprechen.
Für das Gesamtjahr 2002 erwarte ich weiterhin einereale Wachstumsrate von einem Dreiviertelprozent. Da-mit liegen wir in der Mitte des Prognosespektrums.Wer hat denn dem Unionskandidaten aufgeschrieben,wir hätten in Deutschland ein Minuswachstum? Davonkann überhaupt keine Rede sein. Jetzt werde ich Ihneneinmal vorführen, was Sie an dieser Stelle betreiben: Wirhatten zweimal ein Minus im Vergleich zum Vorquartal,nämlich im dritten und vierten Quartal des vergangenenJahres. Seit dem ersten Quartal dieses Jahres wächst dieWirtschaft wieder: im ersten Quartal und auch im zweitenQuartal um jeweils 0,3 Prozent im Vergleich zum jeweili-gen Vorquartal. Anders sieht der Vergleich mit dem Vorjahraus: Im ersten Quartal dieses Jahres waren es im Vergleichzum ersten Quartal 2001 minus 1,2 Prozent. Sie sprechendavon, im ersten Halbjahr seien es minus 0,4 Prozent ge-wesen. Das ist auch nicht verkehrt; Sie unterschlagen nureines: Bereits im zweiten Quartal dieses Jahres liegen wirim Wachstum mit 0,5 Prozent wieder über dem zweitenQuartal des vergangenen Jahres. Wir befinden uns also aufeinem gesicherten Wachstumspfad. Nur, Sie können dasfür Ihre Propaganda nicht gebrauchen.
Da Sie die Zahlen nicht bestreiten können, müssen Siezu dem Kunstgriff greifen, den Unterschied zwischendem zweiten Quartal 2001 und dem zweiten Quartal 2002zu kaschieren. Mit diesem Kunstgriff behaupten Sie, wirsteckten noch im Minus. Tatsächlich liegen wir im Wachs-tum bereits wieder deutlich über dem vergangenen Jahr.Machten Sie eine verantwortliche Wirtschaftspolitik,würden Sie die Fakten nicht derart leugnen, meine Damenund Herren, sondern auch die andere Hälfte, die etwas mitPsychologie zu tun hat, ernst nehmen.
Ihre Methode aber ist die folgende: erst das Land schlechtregieren und dann, wenn Sie nicht mehr regieren dürfen,das Land schlechtreden. So, meine Damen und Herren,darf man mit diesem Land nicht umgehen.
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Bundesminister Hans Eichel25463
Damit alle wissen, wo wir stehen, füge ich hinzu: Auchim vergangenen Jahr war bei uns das Wachstum stärkerals in den Vereinigten Staaten und in Japan. Das haben Sienoch gar nicht zur Kenntnis genommen; aber das solltenSie sich einmal zu Gemüte führen. Das einzig Bemer-kenswerte in Amerika ist dabei, wie schön am Anfang dieStatistiken aussehen und was wirklich herauskommt,wenn sie hinterher bereinigt sind.Ich wiederhole: In den letzten beiden Quartalen gab esein reales Wachstum. Es war genau so stark wie imDurchschnitt der Europäischen Union. Vom Wiederverei-nigungsboom 1992 bis 1996 hat uns eine unionsgeführteBundesregierung an das Ende der Wachstumstabelle inEuropa gebracht und dort verankert. Aufgrund unsererPolitik sind wir im Moment wieder mitten im Geleitzugund können weiter nach vorn kommen.
– Ich weiß, das tut Ihnen weh. Ihnen wäre es am liebsten,die Geschichte begänne erst mit diesem Jahr und Sie könn-ten verschleiern, in welchem Zustand sich diese Republik1998 befand, als Sie die Regierung verlassen haben.
Damit diese Debatte endlich einmal zu Ende gebrachtwird, mache ich Sie auf das „Handelsblatt“ von gesternaufmerksam. Dort heißt es:Unter den führenden Industrienationen bleibt Italienwie schon nach den definitiven Zahlen des erstenQuartals das Schlusslicht. In Deutschland und denUSA war das Wachstum mit jeweils 0,3 Prozentetwas größer als in Italien.So viel zu Ihrer Schlusslichtdebatte, meine sehr verehrtenDamen und Herren!Wir kommen weiter nach vorne. Die Preise sind stabil.Im August hatte Deutschland die niedrigste Preissteige-rungsrate in der Europäischen Union und im Euroraum.Deutschland ist überhaupt der Stabilitätsanker in der Eu-ropäischen Union.
– Die Zahlen sind jedenfalls immer dieselben.Der Export lief bislang recht gut. Noch im Mai gab esungewöhnlich viele Auslandsaufträge, während sich imJuni und Juli erste Bremsspuren aufgrund der gestiegenenweltwirtschaftlichen Risiken zeigten. Die Inlandsaufträgehaben dagegen das zuvor erreichte Niveau annähernd be-hauptet. Die Industrieproduktion ist im Zweimonats-durchschnitt um 1,1 Prozent gewachsen.
– Das sind alles offizielle Zahlen.Ohne die Hochwasserkatastrophe, die im Osten dieStimmung gedrückt hat, wäre auch die Einschätzung derWirtschaftslage sicherlich positiver. Dabei besteht imOsten kein Grund zur Beunruhigung.
Mit den Hilfsprogrammen, die wir solide finanzieren,wird ein Abrutschen der betroffenen Gebiete vermiedenund entsteht neue Wachstumsdynamik.
Gefährdet ist der Aufschwung nur, wenn der Irak-konflikt eskaliert. Dann könnte der Ölpreis explodierenund viele Planungen über den Haufen werfen. Die Ent-wicklung des Ölpreises, die wir jetzt erleben, resultiertbereits aus dieser Diskussion und hat keine realenGründe in den Fördermengen und in der Nachfrage amÖlmarkt.
Die Bundesregierung wird sich jedenfalls dafür einsetzen,dass es nicht so weit kommt. Wir nehmen die Warnungendes Internationalen Währungsfonds an dieser Stelleaußerordentlich ernst.
Meine Damen und Herren, der Unionskanzlerkandidatspricht öffentlich von hohen Investitionen deutscher Un-ternehmen im Ausland und begründet damit seine Be-hauptung, wir hätten ein schlechtes Wirtschaftsumfeld. Soist das, wenn man auf einem Auge blind ist; das ganz Bildkann man dann wohl nicht sehen. Im vergangenen Jahrhaben Ausländer mehr in Deutschland investiert als je zu-vor. Es gibt einen neuen Rekord bei den Direktinvestitio-nen.Sehen Sie sich die Zahlen noch einmal an: Von 1994bis 1998 erfolgten in Deutschland ausländische Direkt-investitionen in Höhe von 53 Milliarden Euro; von 1999bis 2001 waren es 300 Milliarden Euro. Selbst wenn Vo-dafone nicht einbezogen wird, stiegen die ausländischenDirektinvestitionen in Deutschland während unserer Re-gierungstätigkeit enorm an.
1998 wurden 58 Milliarden Euro mehr von Deutschenim Ausland investiert als von Ausländern in Deutschland,weil die Union das Land in den Reformstau getriebenhatte. Allein im ersten Halbjahr 2002 haben Ausländer20 Milliarden Euro mehr in Deutschland investiert alsDeutsche im Ausland. Das heißt: Arbeitsplätze entstehenhier und nicht im Ausland, wie es zu Zeiten der Unions-regierung der Fall war.
Das zeigt das verbesserte Umfeld an. Dafür haben wir ge-sorgt, insbesondere mit der Steuerreform, mit der Haus-haltskonsolidierung und mit der Rentenreform.
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Bundesminister Hans Eichel25464
Zu einem weiteren Fehler des Unionskanzlerkandida-ten: In diesem Jahr gibt es über 1,1Millionen Beschäftigtemehr als 1998 und keinesfalls weniger.
Sie versuchen das kleinzureden, indem Sie völlig bewusstdie sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und dieBeschäftigten verwechseln. Es gab 1,1 Millionen Be-schäftigte mehr.
Das hat nichts mit der Umstrukturierung der geringfügi-gen Beschäftigungsverhältnisse zu tun.
Das Arbeitsvolumen, das in Ihrer Zeit zurückgegan-gen ist – im ersten Halbjahr 1998 im Vergleich zum ers-ten Halbjahr 1994 um 884 Millionen Arbeitsstunden –, istin unserer Zeit wieder gestiegen. Im ersten Halbjahr 2002lag das Arbeitsvolumen um 190 Millionen Stunden überdem Arbeitsvolumen des ersten Halbjahres 1998, das Sienoch zu verantworten hatten.
Innerhalb der letzten vier Jahre sind im Vergleich zu denvier Jahren davor, in denen die Union regierte, mehr alszehnmal so viel neue Arbeitsplätze entstanden.
Dabei müsste eigentlich zusätzlich berücksichtigt wer-den, dass die Regierung Kohl die Zahl der ABM-Stellenvor den Wahlen um 280 000 über den heutigen Stand hi-naus erhöhte, um die Arbeitslosenstatistik zu schönen.Solche Tricks machen wir nicht.
Im nächsten Jahr erwarten wir wie alle Prognostiker,dass die Zahl der Arbeitslosen wieder zurückgehen wird.Gleichzeitig steigt die Zahl der beschäftigten Arbeitneh-mer wieder an. Das führt zu höheren Beitragseinnahmenund niedrigeren Ausgaben für das Arbeitslosengeld. Ne-ben der verbesserten Konjunktur ist dies auf arbeitsmarkt-politische Maßnahmen der Bundesregierung zurückzu-führen.
Das Job-AQTIV-Gesetz, das Mainzer Modell und die Re-form der Bundesanstalt für Arbeit tragen hier ihre Früchte.Diese Erfolge werden durch die schnelle Umsetzungdes Hartz-Konzepts unterstützt.
„Fördern und fordern“ ist der Grundgedanke desKonzepts. Die Vermittlung wird verbessert; die Zumut-barkeitsregeln werden im Gegenzug verschärft. Auf pau-schale Leistungskürzungen brauchen wir nicht zurückzu-greifen, individuelle sind aber möglich. Eine Vielzahl vonMaßnahmen wird den Arbeitsmarkt beleben und entlas-ten. Die Wirtschaft behauptet, sie habe um die 1,5 Milli-onen unbesetzte Stellen. Diese können wir schnell beset-zen. Ich appelliere an die Unternehmen, freie Stellenschnell zu melden, und ich appelliere an die Fortbil-dungsinstitutionen, ihre Arbeit so auszurichten, dass siesich wirklich an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ori-entiert.
Im Übrigen: Es ist schon bemerkenswert, wie Sie mitdem Konzept der Hartz-Kommission umgehen. Das istdasselbe Hin und Her, wie wir es bei allen zentralen Fra-gen der letzten Wochen erlebt haben. Mal sind Sie dafür,mal sind Sie dagegen und dann halten Sie wiederum ein-zelne Dinge für ungeeignet. Man weiß überhaupt nicht,wo Sie eigentlich hin wollen.
Das, was Ihr Kanzlerkandidat gemacht hat, geht nun wirk-lich überhaupt nicht. In dieser Kommission saßen Vertre-ter der Wirtschaftsverbände, der Unternehmen und desArbeitgeberlagers sowie Gewerkschaftler, Landes- undKommunalpolitiker und Wissenschaftler, also Leute überalle gesellschaftlichen Gruppengrenzen und über Partei-grenzen hinweg. Diese haben es in der heißen Phase desWahlkampfes fertig gebracht, ein gemeinsames Konzeptzu präsentieren. Das hat eine andere Antwort verdient alsdie von Herrn Stoiber, der das mit dem Wort „Gequat-sche“ vom Tisch gewischt hat. Damit disqualifiziert mansich selbst, wenn man Kanzler werden will.
Es hat mich auch überrascht, mit welcher Nonchalanceder Unionskanzlerkandidat die Bundesregierung für dieArbeitslosigkeit verantwortlich macht, die in der Regie-rungszeit Kohl entstanden ist.
Den stärksten regionalen Anstieg der Arbeitslosigkeit ver-zeichnet schon seit Monaten Bayern.
– Ich weiß, dass Sie das alles nicht gerne hören. Es kannIhnen aber nicht erspart werden.Allein im letzten Monat stieg dort die Zahl der Arbeits-losen gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres weitüberdurchschnittlich um 19,5 Prozent an. Das muss einemSorgen machen.
Die bayerische Wirtschaftspolitik verschlechtert die Ar-beitsmarktzahlen für ganz Deutschland. Daran sollten Siearbeiten.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Bundesminister Hans Eichel25465
Noch etwas muss deutlich gesagt werden: Konserva-tive und Liberale fordern ständig eine wesentlich stärkereFlexibilisierung des Arbeitsmarktes,
ohne jedoch präzise zu werden, wenn man nachfragt,was damit eigentlich gemeint ist. Sehen wir uns einmaldie Vereinigten Staaten mit einem völlig flexibilisiertenArbeitsmarkt an. Ich bin dafür, genau hinzusehen. Inden USA ist die Arbeitslosigkeit von Juni 2001 bis Junidieses Jahres um 1,3 Prozentpunkte angestiegen, alsoum ein Vielfaches im Vergleich zu den Zahlen inDeutschland und den meisten Ländern der EuropäischenUnion.
Die Unionsvorschläge zur Flexibilisierung des Arbeits-marktes würden bei jeder konjunkturellen Delle massen-haft Arbeitslosigkeit produzieren. Wir sollten deutscheund europäische Errungenschaften nicht vorschnell überBord werfen. Unser deutscher Weg ist gerade in der Sozi-alpolitik nicht der schlechteste; das zeigt sich in diesenTagen.
Meine Damen und Herren, größter Ausgabenblock imBundeshaushalt bleibt der Zuschuss zur Rentenversiche-rung. Mit 77,2 Milliarden Euro finanziert der Bund imJahr 2003 fast 37 Prozent der Rentenausgaben.
Wir sind bei der Rente also längst bei der Drittelparität:Bund, Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanzieren dieRente zu etwa gleichen Teilen.Ein Teil des Bundeszuschusses stammt aus der Öko-steuer. Ohne sie wären die Rentenversicherungsbeiträgeund sicherlich auch die Arbeitslosigkeit deutlich höher.Herr Seehofer kennt die Mechanik, musste sie aber offen-sichtlich auf Weisung von Herrn Stoiber leugnen. Alleindie Aussetzung der nächsten Stufe der Ökosteuer würde ei-nen Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge um 0,2 Pro-zentpunkte bedeuten.
Ich habe gelesen, dass Sie das über die Bundesanstalt fürArbeit refinanzieren wollen. Im Bundeshaushalt 2003gibt es keinen Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeitmehr. Das ist eine Konsequenz der Umsetzung des Job-AQTIV-Gesetzes und der Vorschläge der Hartz-Kommis-sion.
Meine Damen und Herren, wie Sie Geld aus der Bun-desanstalt für Arbeit in die Rentenversicherung bringenwollen, müssen Sie uns einmal erzählen.
Ich denke, rechtlich ist es gar nicht möglich. Wenn über-haupt, geht das nur über eine Steigerung des Arbeitslo-senversicherungsbeitrages. Das müssten Sie dann aber ir-gendjemand anderem erzählen.Mit der Rentenreform ist der Einstieg in die private Al-tersvorsorge gelungen. Das ist der größte Fortschritt seitEinführung der umlagefinanzierten Rente und es ist eingroßer Schritt auf dem schwierigen Weg, die Lohnneben-kosten zu senken.Der Bund fördert den Aufbau der privaten Altersvor-sorge. Die Förderung ist dort am stärksten, wo sie amnötigsten ist: bei Familien und bei den Beziehern kleinerEinkommen. Natürlich sind auch die Mindereinnahmenaus der steuerlichen Förderung im Haushalt berücksich-tigt.Massiv steuerlich entlastet wurde in den vergangenenJahren der Mittelstand. Neben Familien und Arbeitneh-mern zählt er zu den großen Gewinnern unserer Steuer-politik.
Alle Experten bestätigen das: der Sachverständigenrat,die Bundesbank, Arthur Andersen im Auftrag des „Han-delsblattes“, Professor Wagner vorgestern in der „Süd-deutschen Zeitung“ und Herr Braun, der Präsident desDeutschen Industrie- und Handelskammertages. Mit die-sem Herrn muss man zwar manchmal streiten; aberfalsche Behauptungen setzt er nicht in die Welt. Das mussanerkannt werden.
Herr Braun sagt klar: Es gibt keine Benachteiligung desMittelstandes in unserer Steuerreform. Wie sollte dasübrigens der Fall sein, wo doch der Steuerexperte desDeutschen Industrie- und Handelskammertages, HerrKühn, der Vorsitzende der Kommission für die Erarbei-tung der Unternehmensteuerreform gewesen ist? Er hätteseinen Job beim DIHK verloren, wenn er einen Vorschlagpräsentiert hätte, der den Mittelstand gegenüber dengroßen Gesellschaften benachteiligt.
Ungeachtet dessen fahren Sie durch das Land und be-haupten das Gegenteil. Sie sagen den Menschen vorsätz-lich die Unwahrheit, um daraus politische Vorteile zu zie-hen.
Im Übrigen müssen Sie sich schon entscheiden: Entwederist die Steuerreform gut, dann sollten Sie für ihre Umset-zung stimmen, oder sie ist schlecht, dann kann für Sie die
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Verschiebung der zweiten Stufe der Steuerreform um einJahr wirklich kein Problem sein.
Ein wahrheitswidriges Propagandagebäude ist nochnie so schnell zusammengebrochen wie in dem Augen-blick, als das Bundeskabinett entschieden hat, zurFinanzierung des Aufbaus in den durch die Flutkatastro-phe geschädigten Gebieten die zweite Stufe der Steuerre-form um ein Jahr zu verschieben. Über Nacht war die Ver-schiebung der Steuerreform – diese Reform war vorherein Teufelswerk und bedeutete eine Benachteiligung desMittelstandes – um ein Jahr für 200 000 Entlassungen undfür 25 000 Pleiten im Mittelstand verantwortlich, wie HerrPhilipp sagte. Ja, was denn nun? Soll diese Reform für denMittelstand vor der Flutkatastrophe etwa schlecht undhinterher gut gewesen sein? Sie haben nicht erwartet, dassSie noch vor der Wahl den Beweis für die Wahrheit Ihrerhaltlosen Propaganda antreten müssen.
Wir haben die Tür weit aufgemacht, um Ihnen die Zu-stimmung zu einer soliden Finanzierung des Aufbaus inden Katastrophengebieten zu ermöglichen. Wir haben ge-sagt: Wenn Sie mit unseren Plänen Probleme haben, dannlegen Sie Vorschläge auf den Tisch.
Ihre erste Forderung war: Die Körperschaften müssen be-teiligt werden. Diese Forderung hat dann auch der BDI er-hoben. Dem sind wir nachgekommen. Hinterher habenSie gesagt: Das haben wir aber nicht gewollt.
Ansonsten hat es Ihrerseits überhaupt keine Vorschlägegegeben. Das Propagandamärchen, dass die Steuerreformden Mittelstand benachteiligt – Sie hatten die Möglich-keit, eigene Vorschläge zu machen –, ist bereits vor derWahl zusammengebrochen. Kein vernünftiger Mensch indiesem Lande glaubt Ihnen mehr.
Fest steht: Die Steuersätze aller Steuerzahler sind ge-sunken. Keiner will das Steuerrecht von 1998 zurück;sonst würde er nämlich viel mehr Steuern zahlen müssen.Die Besserstellung der Personengesellschaften ist aucham Gründungsgeschehen abzulesen. Die weitaus über-wiegende Zahl wählt die Personengesellschaft als Organi-sationsform auch deshalb, weil es – das wissen Sie ganzgenau – die steuerlich bessere Alternative ist.Der bayerische Ministerpräsident verdreht die Realität,wenn er behauptet, den Menschen gehe es heute schlech-ter als vor vier Jahren.
Das Gegenteil ist richtig. Zwischen 1994 und 1998 sinddie verfügbaren Nettoeinkommen der Arbeitnehmer jähr-lich real um 1,5 Prozent gesunken. Das entspricht930 Euro pro Arbeitnehmer. Seit 1998 steigen die Netto-einkommen wieder um durchschnittlich 1,2 Prozent proJahr. Die Nettolöhne lagen 2001 im Durchschnitt um580 Euro über dem Niveau des Jahres 1998. Das gehtauch auf unsere Steuerpolitik und unsere Politik der so-zialen Gerechtigkeit zurück.
Die Union hat die Arbeitnehmer mit ihrer Politik in den90er-Jahren ärmer gemacht. Das ist die statistische undauch die gefühlte Wahrheit.
Wir geben den Menschen das jetzt Stück für Stück zurück.Wenn wir am 22. September dieses Jahres um ein neuesMandat bitten und dafür kämpfen, dann tun wir das auch,damit wir ihnen in der nächsten Wahlperiode erst einmalall das zurückgeben können, was Sie ihnen in den 90er-Jahren abgenommen haben.
Es geht den Menschen in Deutschland – auch wenn wiralle Sorgen haben, die wir übrigens auch behalten werden;denn es wird in der Weltgeschichte nur wenige Schön-wetter-Perioden geben – heute besser als vor vier Jahren.Es gibt mehr Arbeitsplätze, nämlich 1,1 Millionen mehrBeschäftigte – das habe ich vorhin schon erwähnt –, undhöhere Einkommen bei stabilen Preisen. Es gibt mehr Kin-dergeld und niedrigere Steuern. All dies können Sie über-haupt nicht bestreiten. Wir arbeiten dafür, dass es auch inZukunft weiter aufwärts geht. Wenn ich den bayerischenMinisterpräsidenten über dieses Thema sprechen höre,denke ich manchmal: Er liest Akten und verdreht Fakten.
Meine Damen und Herren, bei aller Finanznot undtrotz bzw. wegen strenger Ausgabenkontrolle ist es unsgelungen, neue Schwerpunkte zu setzen. Der wichtigsteist, denke ich, die Familienpolitik. 1998 hat der Bund fürFamilien 40,2 Milliarden Euro bereitgestellt. In diesemJahr sind es über 59 Milliarden Euro. Das ist eine Steige-rung um 45 Prozent.
Dreimal haben wir das Kindergeld erhöht. Jetzt be-kommt eine Familie mit zwei Kindern 1 920 DM bzw.knapp 1 000 Euro netto. Das ist für viele, insbesondere inOstdeutschland, wo die Einkommen noch niedriger sind,das 13. Monatsgehalt. Das hat es nach dem Zweiten Welt-krieg noch nie in einer Wahlperiode in der alten Bundes-republik und bisher auch nicht im wiedervereinigtenDeutschland gegeben.
Im Haushalt 2003 ergänzen wir diesen Ansatz durchverstärkte Investitionen in die Betreuungsinfrastruktur.
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Wir wollen es den jungen Menschen ermöglichen, Fami-lie und Beruf besser zu vereinbaren. Es ist doch einDrama, das wir in Deutschland zu vertreten haben, dasswir die jungen Frauen, statt ihnen die Möglichkeit zu bie-ten, Beruf und Familie zu vereinbaren, vor die Frage stel-len: Wollt ihr das eine oder das andere? Wer heute mit denjungen Frauen diskutiert, dem wird gesagt: Das größte Pro-blem ist nicht mehr das finanzielle, sondern die Frage: Wo-hin soll mein Kind, wenn es mittags aus der Schule kommt?Wir stellen daher 4 Milliarden Euro bereit, damit jede vierteSchule in Deutschland die Ganztagsschule anbietet. Das istunsere Antwort für die nächste Wahlperiode.
Wir halten sonntags keine schöne Reden darüber, wiewichtig es für das ganze Land ist, dass die Frauen Kinderbekommen und großziehen – übrigens wäre es auch gut,wenn sich die jungen Männer ein bisschen stärker daranbeteiligten, als das in unserer Generation üblich war –,
und zwingen die Frauen montags, nur eine halbe Stelle an-zunehmen oder ganz aus dem Beruf auszuscheiden, umihnen am Ende des Berufslebens nur eine geringe Rentezukommen zu lassen – als Dank des Vaterlands dafür, dasssie Kinder großgezogen haben. Meine Damen und Her-ren, das ist keine gerechte Gesellschaft und so wird manauch keine kinderfreundliche Gesellschaft.
Ein weiterer Schwerpunkt dieses Haushaltes sind dieAusgaben für Forschung und Bildung. 1998 hat die Vor-gängerregierung dafür 7,3 Milliarden Euro bereitgestellt;das war übrigens weniger als noch ein paar Jahre zuvor.Für nächstes Jahr planen wir 9,3 Milliarden Euro ein, also2 Milliarden Euro mehr als im Jahre 1998, dem letztenHaushalt, den Sie von der CDU/CSU und der FDP zu ver-antworten hatten. Das ist der größte Forschungs- und Bil-dungshaushalt Deutschlands seit der Wiedervereinigung.
Wir wollen Deutschland auch langfristig an die Spitzevon Forschung und Technologie marschieren sehen undden in den letzten Jahren erreichten hervorragenden Wett-bewerbsplatz halten. Allein an den Patentanmeldungengemessen, gibt es nur noch drei kleine Länder in Europa,die etwas besser sind als wir. Wir stehen in diesem Be-reich vor allen großen Ländern und an der Spitze derG-7-Industrienationen.
Die Ausgaben für Forschung und Bildung sind Zu-kunftsinvestitionen. Wer hier spart, gefährdet den Wohl-stand unserer Kinder. Darüber hätten Sie nachdenken sol-len, als Sie, doch wohl auch billigend, hingenommenhaben, dass sich die Zahl der durch BAföG gefördertenStudenten von 650 000 im Jahre 1990 auf 340 000 imJahre 1998 fast halbiert hat. Das ist die schlimmste Un-terlassung, die Sie hinsichtlich Zukunftsinvestitionen zuverantworten haben.
Deswegen haben wir die BAföG-Reform gemacht; des-wegen werden heute schon wieder 100 000 Studentinnenund Studenten mehr durch BAföG gefördert. Man kannnicht in drei Jahren all das, was Sie acht Jahre vorher ab-gebaut haben, wieder aufbauen. Man kann aber, meineDamen und Herren, die Weichen umlegen und in die rich-tige Richtung stellen. Danach muss man den eingeschla-genen Weg konsequent weiter gehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Opposi-tion orientiert ihre Politik neuerdings ja an Quoten. Siescheint mir geradezu quotenfixiert. Aber selbst an diesenzweifelhaften Maßstäben gemessen, ist unsere Politiküberaus erfolgreich. Gegenüber 1998 haben wir dieStaatsquote, die Abgabenquote und die Steuerquote ge-senkt. Das waren Nebenprodukte unserer Politik, mit derwir die Grundlage für eine erfolgreiche Zukunft gelegthaben, indem wir mit Investitionen in die Verkehrsinfra-struktur, die Familienförderung und die Bildung die Basisfür künftiges Wachstum gelegt haben.
Sehen wir uns dagegen einmal Ihre dreimal 40 an: Dieersten 40 Prozent betreffen die Senkung der Staatsquote;das ist in überschaubarer Zeit völlig unrealistisch. In heu-tigen Zahlen heißt das: Der gesamte Bundeshaushalt wirddichtgemacht, es bleiben nur noch Zinszahlungen übrig –völlig unrealistisch.
Wenn Sie, meine Damen und Herren, das dann noch miteiner Politik, die Neuverschuldung forciert, kombinieren,ist damit das Ende jeglicher Handlungsfähigkeit des Staa-tes erreicht.
Wenn man Quoten senken will, muss man zuerst dafürsorgen, dass der Staat handlungsfähig ist. Man kann nied-rigere Quoten anstreben, aber nur dann, wenn man vorherdie Verschuldung gesenkt hat. Sonst wird der Staat hand-lungsunfähig.Die Senkung der Lohnnebenkosten auf 40 Prozent isteine ganz richtige Zielsetzung. Ich sehe hier nur ein Pro-blem: In den 16 Jahren, als Sie an der Regierung waren,sind die Lohnnebenkosten nur gestiegen. Erst in der jetzi-gen Legislaturperiode unter dieser Regierung sinken siezum ersten Mal wieder.
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Sie können nun sagen, das bisher Erreichte reiche nicht.Das ist in Ordnung. Uns reicht das auch nicht. Aber Sie,die das dauernde Steigen der Lohnnebenkosten zugelas-sen haben, haben nicht das Recht, uns an dieser Stelle zukritisieren.
Die Logik desjenigen, der auf die Idee gekommen ist,neben den wichtigen Fragen der Senkung der Staatsquoteund der Lohnnebenkosten – wobei ich glaube, dass Sie ineinem Punkt falsch liegen – die Senkung des Spitzensteu-ersatzes zum dritten wichtigen Staatsziel zu erklären, er-schließt sich mir nicht. Das alleine charakterisiert voll-ständig Ihre Steuerpolitik, meine Damen und Herren!
Im Übrigen möchte ich Ihnen, da wir schon so viel überQuoten diskutieren, zwei weitere 40-Prozent-Quoten ansHerz legen: zum einen die der Abiturientinnen und Abi-turienten in Bayern pro Jahrgang. Diese liegt gerade ein-mal bei 29 Prozent. Das ist 7 Prozent unter dem bundes-deutschen Durchschnitt. Mit solchen Quoten sind wir inEuropa nicht konkurrenzfähig; da müssen Sie eine Mengetun.
– Nein, dort gibt es mehr Schlaue, verehrter HerrDr. Gerhardt. In Bayern kommt diese Quote ja auf demLande zustande. Kinder, die in Bayern auf dem Landeleben, sind nicht dümmer als anderswo, sie haben nurweniger schulische Chancen.
Man könnte auch über die Frauenquote reden; auchdiese ist bezeichnend: 18 Prozent in Ihrer Bundestags-fraktion und 13 Prozent in der CSU-Landesgruppe. Siehaben noch einen weiten Weg vor sich, ehe Sie tatsächlichden Frauen klar gemacht haben, dass Sie ihnen die glei-chen Rechte in der Gesellschaft zugestehen wollen wieden Männern.
Meine Damen und Herren, wir haben die Staatsver-schuldung eingedämmt. In Zukunft wird die Verfolgungdieses Zieles nicht leichter; das lässt keine Schönwetter-politik zu, sondern erfordert unter jeweils verändertenRahmenbedingungen immer wieder neue schwierige Ent-scheidungen. Die Situation ist schwierig: Es gibt Zusatz-belastungen, die aber, wenn wir uns anstrengen, be-herrschbar sind.Wir stehen trotz aller Finanzenge fest zum europä-ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Bei der Unionhabe ich da meine Zweifel und – ich wiederhole es – auchin Brüssel sind die Zweifel sehr ausgeprägt. Auch da über-legt man sich sehr genau, welcher Wahlausgang inDeutschland welche Konsequenzen für den europäischenStabilitäts- und Wachstumspakt haben wird.Wer vollmundig ein Sofortprogramm ankündigt, dasdem Staat zusätzliche Schulden aufhalsen würde – ichwill, Herr Merz, gar nicht darüber streiten, ob es 10 oder20 Milliarden Euro sind; ich werde Ihnen aber Zahlennennen –, steht in Wirklichkeit nicht hinter dem europä-ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Mit diesem Pro-gramm reißt Deutschland die Latte garantiert.Die solide Finanzierung der Hochwasserhilfen will dieUnion kippen – Kosten: 7Milliarden Euro. Die Ökosteuersoll ausgesetzt werden – zusätzliche 3 Milliarden Euro.Der Niedriglohnbereich soll mit 3 Milliarden Euro sub-ventioniert werden. Die Gewerbesteuerumlage wollen Siesenken; das macht 2 Milliarden Euro. Für die Abschrei-bungsvergünstigungen benötigen Sie wiederum 2,5Milli-arden Euro. Und so geht es weiter. Den Bundeswehretatwollen Sie aufstocken, vorsichtshalber nennen Sie keineZahl. Auf diese Weise sind wir in kürzester Zeit weit überden von Ihnen behaupteten 10 Milliarden Euro – obwohles bei diesen Größenordnungen schon fast nicht mehr da-rauf ankommt.
Alles ist mit Luft finanziert und genährt von der Hoff-nung, die US-amerikanische Wirtschaft komme schnellerauf die Beine, wenn ein Bayer von München nach Berlinumzieht. Wer soll das ernst nehmen?
Wir bieten dagegen die Fortführung unserer solidenHaushaltspolitik an. Wir sind auf dem Weg zu einem ge-samtstaatlichen Haushalt ohne neue Schulden und zu ei-nem Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung. Das erfor-dert große und jedes Mal wieder neue Anstrengungen,weil wir das in durchaus schwierigen Zeiten hinbekom-men müssen. Wenn wir das erreicht haben, können wirdamit beginnen, den Schuldenberg Schritt für Schritt ab-zubauen.Wir haben soziale Gerechtigkeit wieder zu einemLeitmotiv der Politik gemacht. Deutschland ist in den ver-gangenen vier Jahren deutlich vorangekommen und wirwerden es weiter stärken.
Der Bundeshaushalt 2003 ist eine wichtige Zwi-schenstation. Mit ihm geht es weiter auf dem Weg derBekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Bekämpfung derStaatsverschuldung und der besseren Versorgung der ge-samten Bevölkerung.Wir halten auch in der nächsten Legislaturperiode anunserem finanzpolitischen Kurs der Sanierung der
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Staatsfinanzen fest. Das ist die Voraussetzung dafür, dasswir unsere Arbeit bezüglich der Modernisierung unseresLandes erfolgreich fortführen können. Dafür haben wiruns in den kommenden Jahren noch viel vorgenommen.Wir werden den Arbeitsmarkt durch die Umsetzung derHartz-Vorschläge – sie hat bereits begonnen – in Ordnungbringen. Die nötige Gemeindefinanzreform ist in Vor-bereitung. Wir werden weitere Schritte zur Reform desGesundheitswesens unternehmen.
Den Kapitalmarkt haben wir reformiert; er wird weitermodernisiert und den veränderten Bedingungen ange-passt. Der Aufbau Ost behält seine hohe Priorität. Daraufkönnen die ostdeutschen Länder und die Menschen in je-nen Ländern setzen.
Das Wichtigste: Unser Haushalt schafft die Grundlagefür Wachstum und Beschäftigung. Die Investitionensind wieder gestiegen, die Zukunftsbereiche werden ge-stärkt, die Verlässlichkeit schafft Vertrauen – Vertrauen,das sich auszahlt, für Unternehmen genauso wie für Ar-beitnehmer, Familien, Jung und Alt.Wer wie Sie bei der ersten unvorhergesehenen grö-ßeren Maßnahme wieder nichts anderes weiß, als in alteSchuldenpolitik zurückzufallen, der kann in schwierigenZeiten nicht verlässlich das Land führen.
Wer in solchen Zeiten klaren Kurs hält, dabei weiß, dassnichts einfach ist, dass Politik keine Schönwetterveran-staltung ist und dass man jedes Jahr vor neuen schwieri-gen Entscheidungen steht, der kann das Land führen. DieMenschen haben gespürt, dass es diese Bundesregierungunter der Führung von Bundeskanzler Schröder schafft.
Ich bin sehr optimistisch, dass genau das am Anfang dernächsten Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestagwieder sichtbar werden wird. Sie bleiben in der Oppositionund wir werden unseren konsequenten Kurs fortsetzen.
Bevor ich den nächs-ten Redner aufrufe, will ich Geburtstagsglückwünschenachholen. Der Kollege Detlef Parr feierte am 8. Sep-tember und der Kollege Volker Neumann
feierte am 10. September jeweils den 60. Geburtstag. Ichgratuliere den Kollegen nachträglich sehr herzlich.
Wir beginnen die Haushaltsberatungen mit den Ge-schäftsbereichen des Bundesministeriums der Finanzenund der Bundesministerien für Arbeit und Sozialordnung,für Wirtschaft und Technologie sowie für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen. Außerdem rufe ich in Verbindungmit den Einzelplänen 08, 11, 09 und 12 die Tagesord-nungspunkte 2 a und b sowie 3 a bis d auf:2.a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung steuerrechtlicher Vorschriftenund zur Errichtung eines Fonds „Aufbauhilfe“
– Drucksache 14/9894 –
– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktionder PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszum Ausgleich der von der Hochwasserkatastro-phe im August 2002 verursachten Eigentums-schäden
– Drucksache 14/9895 –
aa) Beschlussempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
– Drucksache 14/9934 –Berichterstattung:Abgeordnete Jörg-Otto SpillerHeinz SeiffertOswald Metzger
– Drucksachen 14/9935, 14/9936 –Berichterstattung:Abgeordnete Dietrich AustermannHans Georg WagnerOswald MetzgerJürgen KoppelinDr. Uwe-Jens Rösselb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses
– zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUSchnelle Hilfe für die Flutopfer– zu dem Antrag der Fraktion der PDSStärkere Beteiligung von Großunternehmenan der Bewältigung von Hochwasserschädendurch Körperschaftsteuer auf Veräußerungs-gewinne– zu dem Antrag der Fraktion der PDSStärkere Beteiligung von Kapitalgesellschaf-ten an der Bewältigung von Hochwasserschä-den durch Erhöhung derKörperschaftsteuer-sätze– zu dem Antrag der Fraktion der PDSBewältigung der Flutkatastrophe gerecht fi-nanzieren – Vermögensabgabe erheben– zu dem Entschließungsantrag der AbgeordnetenDr. Günter Rexrodt, Dr. Hermann Otto Solms,
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Bundesminister Hans Eichel25470
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPzu der Abgabe einer Regierungserklärungdurch den BundeskanzlerDen Opfern helfen – Gemeinsinn stärken:Maßnahmen zur Bewältigung der Hoch-wasserkatastrophe– Drucksachen 14/9905, 14/9899, 14/9900,14/9901, 14/9908, 14/9934 –Berichterstattung:Abgeordnete Jörg-Otto SpillerHeinz SeiffertOswald Metzger3.a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Brüderle, DirkNiebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPHandeln für mehr Arbeit – sinnvolle Reform-vorschläge der Hartz-Kommission jetzt bera-ten und umsetzen– Drucksache 14/9891 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrandner, Franz Thönnes, Doris Barnett, weitererAbgeordnter und der Fraktion der SPD sowie derAbgeordneten Dr. Thea Dückert, Ekin Deligöz,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENNeue Beschäftigung – schnelle Vermittlung –erstklassiger ServiceReformvorschläge der Hartz-Kommission un-verzüglich umsetzen– Drucksache 14/9946 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstSeehofer, Peter Rauen, Günter Nooke, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUZeit für Taten – Offensive für mehr Beschäfti-gung– Drucksache 14/9944 –d) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolandClaus, Dr. Christa Luft, Dr. Klaus Grehn, UrsulaLötzer und der Fraktion der PDSNeue Arbeitsplätze statt Druck auf Arbeits-lose – Beschäftigungspolitik mit sozialem Augen-maß tut Not– Drucksache 14/9940 –Zum Entwurf eines Flutopfersolidaritätsgesetzes liegtein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat KollegeFriedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.Friedrich Merz (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Man muss vermutlich in den Proto-kollen des Deutschen Bundestages lange zurückblättern,um eine Rede eines Bundesfinanzministers anlässlich derEinbringung des zukünftigen Haushalts zu finden, diemehr als zur Hälfte aus Beschimpfung und Kritik an derOpposition im Deutschen Bundestag bestanden hat.
Herr Eichel, was Sie heute Morgen abgeliefert haben, warnicht die Einbringungsrede eines Finanzministers, dervoller Tatendrang auf die nächsten vier Jahre blickt, son-dern es war die Bewerbungsrede des zukünftigen Opposi-tionsführers.
Lassen Sie mich zu Beginn einige Bemerkungen zudem machen, was Sie zur wirtschaftlichen Lage und auchzu einzelnen Ländern gesagt haben. Sie haben hier wie-derholt über den Reformstau gesprochen, den Sie nach derBundestagswahl 1998 auflösen mussten.
Nach vier Jahren Rot-Grün reicht Ihnen zur Erklärung dereigenen Probleme immer noch der Rückgriff auf diese16 Jahre.
Herr Bundesfinanzminister und Herr Bundeskanzler, eswar zwar nicht alles gut und es ist nicht alles gelungen,insbesondere am Ende dieser 16-jährigen Amtszeit vonHelmut Kohl und seiner unionsgeführten Bundesregie-rung. – Diese Regierung war übrigens nicht einfach so16 Jahre im Amt, sondern sie wurde gegen fünf Kanzler-kandidaten der SPD viermal wiedergewählt.
Aber eines muss ich Ihnen auf der Regierungsbank schonsagen: Diese 16 Jahre waren im Großen und Ganzen nichtnur gute, sondern außergewöhnlich glückliche Jahre fürDeutschland. Jedes dieser 16 Jahre war besser als die vierJahre Rot-Grün, die wir Gott sei Dank bald hinter uns ha-ben.
Vielleicht fehlt Ihnen das Erinnerungsvermögen insbe-sondere an die erste Halbzeit dieser 16 Jahre. In den Jah-ren zwischen 1983 und 1990 hat es in Deutschland einenBeschäftigungsaufbau gegeben, von dem Sie doch nurträumen können. In diesen Jahren hat es über 2 Millionenechte neue Arbeitsplätze gegeben
und nicht neue Arbeitsplätze, die nur dadurch entstandensind, dass aus sozialversicherungsfreien Beschäftigungsver-hältnissen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs-verhältnisse gemacht wurden. Das ist nämlich der Weg,den Sie gegangen sind, Herr Eichel.
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Präsident Wolfgang Thierse25471
Ich muss Ihnen nun etwas zu Bayern und zum Arbeits-markt sagen – zur Bildungspolitik komme ich später noch –:Herr Eichel, in Bayern beträgt die Arbeitslosigkeit5,9 Prozent. Das sind zwar 5,9 Prozent zu viel. Aber wennSie in ganz Deutschland 5,9 Prozent hätten, dann hättenSie nicht 4 Millionen Arbeitslose, dann hätten Sie nicht3 Millionen Arbeitslose, sondern dann hätten Sie 2,5 Mil-lionen Arbeitslose in Deutschland. Der Bundeskanzler derBundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder, würdesich heute mit einer Sänfte in den Saal tragen lassen, wenner eine solche Bilanz wie die Bayerische Staatsregierungvorlegen könnte.
Die tatsächliche Lage auf dem Arbeitsmarkt und inderWirtschaft in Deutschland nach vier Jahren Rot-Grünhaben Sie mit kaum einem Wort wirklich erwähnt. Wir ha-ben 4 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das spielt inIhrer Rede keine Rolle.
Wir haben 40 000 Unternehmenskonkurse in diesemJahr – ein einsamer Pleitenrekord in der Nachkriegsge-schichte.Meine Damen und Herren, heute Morgen geht die Mel-dung durch die Nachrichten, dass sich das UnternehmenMobilcom beim Bundeskanzler gemeldet hat. Vermutlichspricht er gerade auch darüber mit dem Generalsekretärder SPD. Es meldet sich ein Unternehmen bei Politikern,dessen Inhaber sich über Jahre die Taschen voll gestopfthat und jetzt im Bundeskanzleramt um Hilfe ruft. Ich ver-mute und bin mir ziemlich sicher, diese Hilfe wird ihm indiesen Stunden auch angeboten.Herr Finanzminister, in Deutschland gehen jede Stundevier Unternehmen in Konkurs; alle 15 Minuten macht einUnternehmen Pleite.
In der Zeit, in der Sie hier geredet haben – knapp eineStunde –, hat es demnach vier Konkurse gegeben.
Diese Konkurse betreffen Unternehmen, deren NamenSie nicht kennen, deren Namen in Berlin nicht ankom-men, getreu dem Motto: Wenn der Große Pleite geht,kommt der Bundeskanzler, wenn der Kleine Pleite geht,kommt der Konkursverwalter. Das ist die Wirtschafts-politik nach vier Jahren Rot-Grün.
Sie haben davon gesprochen, dass wir angeblich einezunehmende Zahl von Arbeitsplätzen in Deutschland ha-ben. Herr Bundesfinanzminister, im Jahresvergleich– selbst ohne Ihre sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigungsverhältnisse, die früher einmal geringfügigewaren – hat die Beschäftigung in Deutschland zwischen2001 und 2002 um über 200 000 abgenommen. Wir habeneine abnehmende Beschäftigung, eine zunehmende Ar-beitslosigkeit, eine in erheblichem Umfang zunehmendeZahl an Sozialhilfeempfängern in Deutschland. Das istdie wahre Bilanz nach vier Jahren Rot-Grün. Deutschlandist Schlusslicht in der Europäischen Union beim Wachs-tum, Deutschland ist Schlusslicht in der EuropäischenUnion bei der Bewältigung der hohen Arbeitslosigkeit.Sie sind allerdings, wie auch im letzten Jahr, Spitzenrei-ter bei der Neuverschuldung. Sie werden das im Jahr2002 noch einmal toppen. Herr Bundesfinanzminister,die Grundsatzabteilung, die Sie in Ihrem Hause haben,müsste während Ihrer Rede in hellen Scharen das Hausverlassen haben und schnell wieder auf die andereStraßenseite wechseln, weil das, was Sie hier gesagt ha-ben, mit der Wirklichkeit dieses Landes nichts zu tunhat.
Wir wollen diejenigen, die uns hier heute zuhören,nicht mit zu vielen Zahlen belasten.
Als Sie die Regierung übernommen haben, betrug dasDefizit 2,2 Prozent. Im letzten Jahr waren es 2,7 Prozent.Es ist doch nicht die Opposition, sondern es ist der haus-haltspolitische Sprecher der Fraktion der Grünen – derhier heute seine Abschiedsrede halten wird –, der gesternin einem Interview gesagt hat: Jawohl, wir werden 3 Pro-zent deutlich überschreiten. – Ihre Mitarbeiter sagen Ih-nen das seit Wochen. Das Statistische Bundesamt hat dasbereits für das erste Halbjahr festgestellt. Deutschlandwird Spitzenreiter bei der Defizitüberschreitung sein.
Hören Sie doch auf, uns, die Opposition, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zu kritisieren. Das Problem, das Eu-ropa hat, hat einen Namen. Der Name ist Hans Eichel undseine Finanzpolitik. Sie gefährden den Stabilitäts- undWachstumspakt!
Hören Sie doch auch bitte auf, weiter das Märchen zuverbreiten, dass wir in Deutschland wirklich auf dem Wegder Reduzierung der Neuverschuldung vorangekom-men wären und dass Sie die Zinsausgaben wirklich ge-senkt hätten. Herr Bundesfinanzminister, es gab ein Jahrin Ihrer vierjährigen Amtszeit, in dem die Zinsausgabenwirklich einmal zurückgegangen sind: Das war das Jahr2001. Das war das Jahr, in dem Sie über 50 MilliardenEuro UMTS-Lizenzerlöse eingenommen haben. DieserBetrag war der Umsatz einer ganzen Branche, die sichheute in einer sehr schwierigen Situation befindet.
Sie werden in diesem Jahr 1,2 Milliarden Euro mehr Zin-sen aus dem Bundeshaushalt zahlen als im letzten Jahr.Die so genannte Zins-Steuer-Quote hat sich praktischnicht verändert. Wenn sie kleiner geworden ist, liegt dasnur daran, dass die Steuereinnahmen gestiegen sind, undnicht etwa daran, dass die Zinsausgaben gesunken sind.Das ist die Wahrheit nach vier Jahren. Sie machen sichselbst und der deutschen Öffentlichkeit etwas vor. Sieoperieren hier mit falschen Zahlen. Das hält einer Über-
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Friedrich Merz25472
prüfung nicht stand. Ihre Grundsatzabteilung weiß das,Herr Bundesfinanzminister.
Lassen Sie uns eine kurze Betrachtung der Lage derSozialversicherung in Deutschland vornehmen. Sie ha-ben eben die Zahlen genannt, wie hoch jetzt der Bundes-zuschuss für die Rentenversicherung ist. Dieser Bun-deszuschuss ist doch Ausweis der ungelösten Probleme inder Rentenversicherung. Herr Bundesfinanzminister, einebeitragsfinanzierte Rentenversicherung, die sich mittler-weile zu mehr als einem Drittel aus Steuereinnahmen fi-nanziert, bietet keine beitragsfinanzierte und leistungsori-entierte Rente mehr. Vielmehr geht man damit den Weg indie Staatsrente und eine Staatsrente ist in der Tatmanipulationsanfällig. Das haben Sie in den letzten zwei-einhalb Jahren mehrfach unter Beweis gestellt.
Es kommt noch schlimmer: Die Rentenversicherungs-beiträge werden aufgrund der Ökosteuer nicht etwa sin-ken – so haben Sie es zugesagt –, sondern jetzt tritt beidesein: Sie wollen die fünfte Stufe der Ökosteuer in Kraft set-zen und gleichzeitig steigen die Rentenversicherungs-beiträge, wenn Ihre Politik fortgesetzt wird. Der Streit, derdarüber ausgetragen wird, geht nur noch um die Höhe derSteigerung und nicht mehr darum, ob die Beiträge we-nigstens so bleiben, wie sie im Moment sind. Wir müssenmit Ihnen darüber streiten, ob sie von heute 19,1 Prozentauf 19,3 Prozent, 19,5 Prozent oder – so ist mittlerweilevon den Schätzern Ihres Hauses, Herr Riester, zu hören –auf bis zu 20 Prozentpunkte ansteigen werden. Das ist dietatsächliche Lage in der Rentenversicherung, die Sie ver-schleiern, weil Sie sich über den Wahltag retten wollen.Danach wird es ein böses Erwachen für die Rentnerinnenund Rentner und die Beitragszahler in Deutschland geben.
– Ich werde Ihnen gleich einiges dazu sagen.Meine Damen und Herren, wir haben gerade über Erb-lasten gesprochen, daher frage ich: Was ist mit der Kran-kenversicherung? – Sie haben in der Krankenversiche-rung einen Überschuss in Höhe von 800 Millionenübernommen. Im ersten Halbjahr 2002 lag das Defizit dergesetzlichen Krankenversicherung bei 2,4 MilliardenEuro. Wir stehen vor massiven Beitragssatzerhöhungen inder Krankenversicherung zum 1. Januar 2003. Sie habendazu kein Wort in dieser Debatte gesagt, weil Sie sich überden Wahltag am übernächsten Sonntag hinwegretten wol-len. Danach gibt es für alle Beteiligten ein böses Erwachen.Was ist mit der Arbeitslosenversicherung und der Bun-desanstalt für Arbeit? Dazu gab es kein Wort in IhrerRede. Sie haben in den laufenden Haushalt einen Zu-schuss in Höhe von 2 Milliarden eingestellt. Die Bundes-anstalt für Arbeit hat jetzt schon ein Defizit – Herr Riesterweiß das – in Höhe von über 4 Milliarden Euro. Der Zu-schussbedarf wird wahrscheinlich dreimal so hoch seinwie der, den Sie in den laufenden Haushalt eingestellt ha-ben.Die Lage der Arbeitslosenversicherung und der Bun-desanstalt für Arbeit ist doch schier katastrophal und Siesagen hier, dass es mit der Neuorganisation der Bundes-anstalt für Arbeit kräftig aufwärts geht. Es ist unglaublich,was Sie uns hier vormachen!
Dabei spekulieren Sie offensichtlich nur auf die Vergess-lichkeit oder das kurze Gedächtnis der Menschen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben im Frühjahr einen neuenVorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit insAmt eingeführt – er ist ein enger Freund von Ihnen, einWegbegleiter, ein früherer Sozialminister in Rheinland-Pfalz –, den Sie als Wunderwaffe bezeichnet haben. Eshieß: Jetzt geht es mit der Neuorganisation der Bundesan-stalt für Arbeit los, die Arbeitslosigkeit wird gesenkt undder Personalbestand der Bundesanstalt für Arbeit dras-tisch reduziert. Wenn ich es richtig im Kopf habe, war so-gar von einer Halbierung des Personalbestandes die Rede.Was ist in den letzten sechs Monaten mit der Bundes-anstalt für Arbeit passiert? – Nichts ist passiert. Nur dasGehalt des Vorstandsvorsitzenden wurde verdoppelt unddie Gewerkschaften fordern eine Aufstockung des Perso-nals. Das ist ein unglaublicher Vorgang.
Jetzt wollen Sie uns allen Ernstes sagen, dass die Pro-bleme in Deutschland mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission gelöst werden. Natürlich ist das eine oderandere, das von ihr geschrieben wurde, richtig. Es wurdeja von Vorschlägen, die wir in dieser Wahlperiode mehr-fach gemacht haben und die Sie immer wieder abgelehnthaben, abgeschrieben.
In Wahrheit sind die 13 Module der Hartz-Kommissioneine schallende Ohrfeige für die Politik der rot-grünen Bun-desregierung; denn das, was Sie uns jetzt als große Zu-kunftshoffnung vermitteln wollen, ist zum Teil das glatteGegenteil von dem, was Sie vier Jahre lang gemacht haben.
Meine Damen und Herren, über die Pflegeversiche-rung haben wir in den letzten Wochen selten und heutenoch gar nicht gesprochen. Was ist in der Pflegeversiche-rung, der vierten Säule unserer Sozialversicherung, los?Dort werden in rapidem Tempo die Reserven aufgezehrt.Spätestens zur Mitte der nächsten Legislaturperiode ste-hen massive Beitragssatzerhöhungen oder massive Leis-tungskürzungen bevor. Auch darüber wollen Sie vor derWahl nicht reden, weil Sie sich über den nächsten Sonn-tag hinwegretten wollen. Danach gibt es für die Betroffe-nen ein böses Erwachen.Sie reden über die Investitionsquote in den öffentlichenHaushalten. Herr Bundesfinanzminister, ich weiß nicht, obSie noch die Wirklichkeit in diesem Land wahrnehmen,
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ob Sie manchmal durch Städte und Gemeinden gehen, umzu sehen, was dort investiert – oder besser: was nicht in-vestiert – wird. Es gibt leer stehende Ladenlokale, es gibtdie größte Pleitewelle im Mittelstand. Es handelt sich umdie größte Krise im Einzelhandel seit 1949. Das sind nichtmeine Worte, sondern das sagen die Geschäftsinhaberaller Branchen. Wir haben einen Investitionsstau in denGemeinden. Dort können die vorhandenen Infrastruktu-ren kaum noch erhalten werden, geschweige denn neueerrichtet werden. Gerade auf der kommunalen Ebene ha-ben wir einen Investitionsstau, wie wir ihn in Deutschlandnoch nie gehabt haben.Weil Sie dies alles genau wissen, Sie aber kein Inte-resse daran haben, dass im Wahlkampf über diese Themendiskutiert wird, versuchen Sie jetzt durch andere Themendavon abzulenken und an anderer Stelle schöne Fernseh-bilder zu machen.Ich will in aller Ruhe und Deutlichkeit sagen: Wirsind uns mit Ihnen darin einig, dass wir den Opfern derFlutkatastrophe helfen müssen. Dies darf auch nichtGegenstand einer Wahlkampfauseinandersetzung wer-den.
– Wie bitte? Meine Damen und Herren, ich habe geradegesagt, dass wir uns mit Ihnen darin einig sind, dass wirhelfen wollen. Wir werden aber Sie, Herr Bundeskanzler,vor der Wahl und auch nach der Wahl nicht aus Ihren Ver-sprechen entlassen, die Sie dort gemacht haben. Bei derMinisterpräsidentenkonferenz in Magdeburg haben Sie
– nein, nein – dem zukünftigen Oppositionsführer HansEichel
– wer auch immer dies wird, wahrscheinlich wird esFischer – und den Menschen dort Versprechungen ge-macht, die nicht zu halten sind. Dies wissen Sie auch. Wirwerden Ihnen dies bis zur Wahl jeden Tag sagen. Ihr Ge-neralsekretär hat versucht, Ihre Worte etwas zu relativie-ren, aber Sie haben wörtlich gesagt: Niemand soll nachder Flut schlechter dastehen als vor der Flut.Herr Bundeskanzler, Sie wissen, dass diese Zusagenicht einzuhalten ist. Sie wissen, dass Sie Versprechungenmachen, die Sie schon jetzt nicht halten, weil Sie auch denBetrieben diese Garantie nicht geben können. So entstehtin Deutschland Politikverdruss,
wenn Versprechungen gemacht werden, die von Anfangan nicht einzuhalten sind.
Herr Bundeskanzler, ich will auch an die Debatte erin-nern, die wir genau vor einem Jahr, am 12. September2001, in diesem Hause geführt haben. Wir haben heuteMorgen und gestern völlig zu Recht der Opfer der Ter-roranschläge von Washington und New York gedacht.Herr Bundeskanzler, Sie haben vor genau einem Jahr vondieser Stelle aus eine Regierungserklärung abgegeben,haben uneingeschränkte Solidarität mit Amerika zugesagtund haben in dieser Regierungserklärung – ich habe mirdas Protokoll noch einmal angesehen – wörtlich weiterausgeführt:Der gestrige terroristische Angriff hat uns noch ein-mal vor Augen geführt: Sicherheit ist in unserer Weltnicht teilbar. Sie ist nur zu erreichen, wenn wir nochenger für unsere Werte zusammenstehen und bei ih-rer Durchsetzung zusammenarbeiten.– Ende des Zitats.Herr Bundeskanzler, was hat sich daran in den letztenWochen eigentlich geändert? Warum ist aus uneinge-schränkter Solidarität erst prinzipielle Solidarität und jetztein deutscher Weg geworden? Da Sie morgen sprechenwerden, Herr Bundeskanzler, möchte ich gerne an Sie dieFrage richten, ob Sie wenigstens das teilen, was der fran-zösische Staatspräsident heute in der UNO als Initiativevorträgt, dass nämlich ein Ultimatum an den Diktator desIraks gerichtet wird, wenigstens die Inspektoren wieder indas Land zu lassen,
und ob diese Haltung von der Bundesregierung der Bun-desrepublik Deutschland weiter geteilt wird.Herr Bundeskanzler, Sie setzen sich nicht ohne Grunddem Verdacht aus, dass Sie die Auseinandersetzung mitdiesem Thema instrumentalisieren, es zu einem innenpo-litischen Thema machen.
Ich sage Ihnen: Mein Eindruck ist, dass Sie innerlichkeine Grenze haben, von der an das Staatsinteresse unse-res Landes wichtiger ist als das MachterhaltungsinteresseIhrer Partei.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sehe den Kolle-gen Klose heute Morgen bei dieser Debatte nicht. Ichhätte mir schon gewünscht, dass Sie Ihren Regierungs-sprecher angesichts einer unglaublichen Äußerung, die ergestern gemacht hat, in die Schranken weisen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deut-schen Bundestages hat gestern auf einer großen Veran-staltung gesagt, notwendig sei eine Drohkulisse. Das istauch unsere Auffassung. Er sagte zu Ihrer Regierungs-politik: Da sträuben sich einem als Außenpolitiker dieNackenhaare.
Der Kommentar Ihres Regierungssprechers über den Vor-sitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen
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Bundestages lautete wörtlich, Klose sei nicht ernst zu neh-men.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei so etwas feixend aufder Regierungsbank sitzen, dann sage ich Ihnen: Das, wasSie sich leisten, ist eine Unverschämtheit dem gesamtenDeutschen Bundestag gegenüber.
Herr Bundeskanzler, dies ist ein auch von uns hoch ge-schätzter Kollege, mit dem wir bei weitem nicht immereiner Meinung sind.
Aber so ein Umgang mit dem Parlament ist nicht in Ord-nung. Wir erwarten, dass Sie das morgen hier von dieserStelle aus richtig stellen.
Diese Bundesregierung geht den notwendigen Verän-derungen und Reformen in Deutschland aus dem Weg.Deswegen will ich Ihnen in sechs kurzen Punkten sagen,welche Anstrengungen in Deutschland notwendig sind,damit wir aus der Wachstums- und Beschäftigungskriseunseres Landes wieder herauskommen:Erstens. Wir müssen den Arbeitsmarkt in Deutsch-land wieder in Ordnung bringen. Das heißt im Klartext:Wir müssen die starren Regelungen des Betriebsverfas-sungsgesetzes und des Tarifvertragsgesetzes, wenn nötigauch gegen den erbitterten Widerstand der Tarifvertrags-parteien, so ändern, dass betriebliche Bündnisse für Ar-beit in Deutschland möglich sind. Wir werden das tun.
Mein zweiter Punkt betrifft auch den Arbeitsmarkt. DieAllgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgendarf nicht weiterhin die Regel sein, sondern muss in Zu-kunft wieder Ausnahme werden.Bund, Länder und Gemeinden müssen in der Wahr-nehmung ihrer Aufgaben und in der Finanzierung ihresöffentlichen Dienstes ein wesentlich höheres Maß an Un-abhängigkeit voneinander aufweisen.
Für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger und Leis-tungsempfänger muss wieder der Grundsatz gelten, dassderjenige, der arbeitet, mehr Geld verdient als derjenige,der nicht arbeitet. Mit unserer Reform wird kein Sozial-hilfeempfänger, der arbeiten kann, mehr eine Leistungohne Gegenleistung bekommen.
Drittens. Wir müssen hinsichtlich der zweiten Phasedes Aufbaus Ost eine große Kraftanstrengung unterneh-men. Herr Bundeskanzler, nachdem Sie den Aufbau Ostzur Chefsache erklärt hatten, haben Sie vorgestern auchnoch den gesamten Arbeitsmarkt zur Chefsache erklärt.Das kann man vor dem Hintergrund der Lage im Ostennur als blanke Drohung an alle Arbeitslosen in Deutsch-land empfinden; denn nachdem Sie den Aufbau Ost zurChefsache erklärt haben, haben wir im Osten die höchsteArbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Das ist übri-gens ein Sachverhalt, der in der Rede des Finanzministerszur Einbringung des Haushalts mit keinem Wort erwähntworden ist. Das Thema Ostdeutschland und das ThemaAufbau Ost finden in Ihren Köpfen keinen Platz.
Ja, wenn aber schöne Fernsehbilder zu stellen sind,dann sind Sie da.
Natürlich, diese Gelegenheit lässt sich keiner von Ihnenentgehen. Die Schecks werden mittlerweile ja schon ein-zeln durch eine Regierungsdelegation nach Sachsen undnach Sachsen Anhalt gebracht. Wahrscheinlich tauchenSie dort nächste Woche auch noch im Wetterbericht aufund versprechen das Blaue vom Himmel.Meine Damen und Herren, für den Osten ist etwas an-deres notwendig: Die ostdeutschen Bundesländer müsseneine Ermächtigung bekommen, in Landesgesetzen vonRegelungen abzuweichen, die in Bundesgesetzen gelten.Wir werden das ändern, damit sich diese Länder ein Stückweit von der Bürokratie befreien können, die wie Mehltauüber diesem Lande liegt.
Viertens. Wir werden nach dem Regierungswechseldas rot-grüne Zuwanderungsgesetz nicht in Kraft tretenlassen. Unabhängig davon, wie die Entscheidung vor demBundesverfassungsgericht in Karlsruhe ausgeht, lautetunsere Antwort klar und deutlich: Wir brauchen ange-sichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt bei 4 Millionen Ar-beitslosen in Deutschland nicht noch mehr Zuwanderungaus nicht europäischen Ländern auf den deutschen Ar-beitsmarkt. Dieses Gesetz tritt mit einer unionsgeführtenRegierung nicht in Kraft.
In diesem Zusammenhang möchte ich, Herr Bundesin-nenminister, erwähnen, dass das Ganze auch ein Aspekt derinneren Sicherheit in unserem Land ist. Sie wissen dochso gut wie Ihre Innenministerkollegen in den Ländern, dass
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ein wesentlicher Teil der Bedrohung der inneren Sicher-heit in Deutschland durch die gewaltbereiten, zum Teilterroristischen Islamisten ausgeht. Deswegen wird es mituns eine Änderung auch der Gesetze, die die Sicherheitbetreffen, geben. Wir werden dafür sorgen, dass biometri-sche Daten, dass Fingerabdrücke in die Pässe aufgenom-men werden.
Herr Bundeskanzler, da haben Sie am Sonntagabend inder Fernsehdebatte schlicht die Unwahrheit gesagt, als Siebehauptet haben, Fingerabdrücke dürften nur dann in Päs-sen oder in Visa aufgenommen werden, wenn es dazu eineeuropäische Regelung gibt. Das ist falsch, Herr Bundes-kanzler. Diese Regelung scheitert nicht an Europa, son-dern an Rot-Grün in Deutschland. Sie wollen das nicht,wir werden das machen.
Wir werden in diesem Zusammenhang auch das ma-chen, was Sie bis jetzt immer abgelehnt haben, nämlichdie Verdachtsausweisung derjenigen, die terroristischenoder kriminellen Vereinigungen angehören. Wir werdennicht darauf warten, dass erst eine rechtskräftige Verurtei-lung zu mehreren Jahren Freiheitsstrafe ausgesprochenwird. Die Verdachtsausweisung wird mit einer unionsge-führten Bundesregierung schnell umgesetzt.Fünftens. Das Entscheidende für den Arbeitsmarkt ist,dass wir sowohl das Steuersystem als auch die sozialenSicherungssysteme grundlegend reformieren. Für dasSteuersystem sage ich: Die Spielräume in den öffent-lichen Haushalten sind nach vier Jahren Rot-Grün sehrklein geworden.
Vor zwei Jahren wäre das noch anders gewesen.
Hätten wir heute nur ein Drittel des Körperschaftsteuer-aufkommens des Jahres 2000, dann würden wir uns überdie Finanzierung der Folgen der Flutkatastrophe nicht indiesem Umfang streiten müssen, wie wir das gegenwärtigtun. Es ist unglaublich, was Sie hier hinterlassen haben.
Hätten wir noch ein weiteres Drittel des Körper-schaftsteueraufkommens, dann wären wir auch in derLage, den Mittelstand in Deutschland wesentlich mehr zuentlasten, als dies heute möglich ist. Ich sage Ihnen: DieFinanzierung der Folgen der Flutkatastrophe – um aufdieses Thema noch einmal zu sprechen zu kommen –müsste ein leistungsstarkes Land wie Deutschland eigent-lich ohne Steuererhöhungen und ohne die Streckung derSchuldentilgung bewältigen können.
Sie aber haben es so in den Abgrund gewirtschaftet,
dass Sie, Herr Bundesfinanzminister, bereits zum zweitenMal innerhalb eines einzigen Jahres zur Bewältigung ei-nes unvorhergesehenen Problems zu Steuererhöhungengreifen.
Nach dem 11. September 2001 war Deutschland daseinzige Land auf der Welt, das zur Finanzierung der Anti-terrorpakete die Steuern erhöht hat. Jetzt ist Deutschlandwieder in einer schwierigen Lage. Die einzige Antwort,die Ihnen in diesem Zusammenhang einfällt, sind Steuer-erhöhungen.
Angesichts der Lage unserer Volkswirtschaft, der Lageauf dem Arbeitsmarkt und der Lage der kleinen und mitt-leren Betriebe in Deutschland sind Steuererhöhungen dasabsolut falsche Mittel. Sie lösen damit kein Problem, ver-schärfen aber ein anderes, vorhandenes Problem in un-verantwortlicher Weise.
Zu den notwendigen Reformen gehören Reformen dersozialen Sicherungssysteme, nicht nur der Rentenversi-cherung, sondern auch der Krankenversicherung. Ichsage an die Adresse der SPD: Wir haben Vorschläge ge-macht. Sie sind nicht sehr spektakulär und vielleicht auchnicht populär, sondern anspruchsvoll und schwierig.
Sie fordern die Menschen ein Stück heraus. Ihre Antwortdarauf ist, das sei der Weg in die Zweiklassenmedizin.
Wer das behauptet, übersieht, dass wir seit der Regie-rungsübernahme von Rot-Grün mitten in der Zweiklas-senmedizin sind. Das ist die Wahrheit.
Wie lange wollen Sie eigentlich den Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern in Deutschland erklären, dass siefür ständig steigende Beiträge immer schlechtere Leis-tungen bekommen und dass Sozialhilfeempfänger, dienicht krankenversichert sind und keine Beiträge zahlen,das volle Spektrum des Leistungsumfangs unseres Ge-sundheitssystems erhalten?
Dieser Auseinandersetzung können Sie nicht aus demWege gehen.
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Sechstens. Wir müssen und werden in der Bildungs-politik große Anstrengungen unternehmen. Übrigensauch hierzu ein offenes und klares Wort: Die Menschen inDeutschland müssen wissen, dass aus den öffentlichenHaushalten für Bildung, Alters- und Gesundheitsvorsorgein den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht weniger,sondern mehr Geld zur Verfügung gestellt werden muss.Das betrifft auch die privaten Haushalte.Herr Bundesfinanzminister, da Sie mit Abiturquotenargumentiert haben, möchte ich Ihnen darauf eine deut-liche Antwort geben. Wir wollen Bildungs- und Leis-tungseliten, nicht Geld- und Herkunftseliten. Es gehörtin diesem Land auch derjenige zur Bildungs- und Leis-tungselite, der eine Lehre oder eine Berufsausbildungmacht, eine Meisterschule besucht, einen Betrieb grün-det oder übernimmt und anschließend Arbeitsplätzeschafft.
Der Mensch fängt nicht erst beim Abiturienten an. Er er-fährt nicht erst als Akademiker seine Vollendung – auchdann nicht, wenn er Lehrer in Kassel geworden ist.
Wer eine erfolgreiche Berufsausbildung gemacht hat,gehört mindestens genauso zur Bildungselite wie derje-nige, der Abitur gemacht hat und anschließend 20 Semes-ter Philosophie studiert.
Deswegen lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen, HerrBundeskanzler, was Sie zu dem Problem unserer Bil-dungslandschaft gesagt haben. Das ist doch kein Problemder föderalen Ordnung, wie Sie es an dieser Stelle darge-stellt haben. Die Probleme, die in Deutschland – insbe-sondere in den SPD-geführten Ländern: in Niedersachsen,Nordrhein-Westfalen, früher in Hessen und Bremen – be-stehen, sind vielmehr die Ergebnisse der 30-jährigenExperimentierkolchosen der Sozialdemokraten. DieseAntwort werden wir Ihnen geben.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Eine neueBundesregierung wird dafür sorgen, dass Deutschlandwieder ein verlässlicher Partner in Europa und in der Weltwird. So ramponiert wie unter Ihrer Führung, Herr Bun-deskanzler, ist das Ansehen unseres Landes in der Außen-und in der Europapolitik noch nie gewesen.
Sie teilen nur noch Fußtritte gegen unsere Partner in derEuropäischen Union aus, kritisieren an der EU-Kommis-sion herum und üben Kritik an den amerikanischen Part-nern. – Wenn Sie schon lesen wollen, Herr Bundeskanz-ler: Ich glaube, Sie halten das Blatt verkehrt herum.
Zum Ernst des Themas zurück:
Wenn Ihnen mitten im Wahlkampf die Zeit bleibt, für einefünfminütige Rede auf der Weltklimakonferenz nachJohannesburg zu fahren, dann hätten wir von Ihnen er-wartet, dass Sie in der schwierigen Lage, in der wir unsbefinden, auch wenigstens fünf Minuten Zeit finden, ummit unseren Partnern in der Europäischen Union zu spre-chen und vielleicht sogar mit dem amerikanischen Präsi-denten zu telefonieren. So, wie Sie mit unseren Partnernund wichtigsten Verbündeten umgehen, geht es nicht.
Wir stehen in Deutschland vor einer Chance, aus derKrise herauszukommen. Das wird ein sehr schwierigerWeg. Dabei werden auch Besitzstände infrage zu stellensein und Widerstände überwunden werden müssen. Daswird nicht einfach. Aber die Mehrheit der Bevölkerung inDeutschland traut Ihrer Regierungsmannschaft, HerrBundeskanzler,
den Trittins, den Künasts, den Müllers, den Riesters, denBodewigs und den Schmidts, die hier auf der Regierungs-bank sitzen und die dieses Land so heruntergewirtschaftethaben, die Lösung der Probleme dieses Landes nicht mehrzu. Wir haben aber die Chance, am 22. September einebessere Regierung für dieses Land zu bekommen. DasLand hat es verdient.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Joachim Poß von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Es sagt viel über den Zustand der CDU/CSUaus, wenn eine solch billige Wahlkampfpolemik einensolchen Beifall erhält.
Das ist ein Hinweis darauf, dass Sie nervös geworden sindund wild um sich schlagen.Wollte man im Übrigen auf alle Fakten eingehen, dannkäme man zu dem Ergebnis, dass Herr Merz schneller dieUnwahrheit sagt, als ein Rennpferd laufen kann.
Deswegen kann man nur beispielhaft auf einige Punkteeingehen, was ich auch tun werde.Herr Merz ist zudem der lebende Beweis dafür, dassein Schnellredner nicht unbedingt auch ein Schnelldenkersein muss.
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Aber das, was mir bei seinem Auftritt besonders aufge-stoßen ist, ist Folgendes: Wenn jemand den Karren so inden Dreck gefahren hat wie CDU/CSU und FDP, verbie-tet es sich eigentlich, hier so aufzutreten, wie Sie es heuteMorgen getan haben.
So jemand sollte sich vor solchen Auftritten eigentlich hü-ten. Wir müssen doch seit vier Jahren jeden Tag denSchutt wegräumen, den Sie hinterlassen haben, meine Da-men und Herren von der Opposition.
Es wurde beklagt, dass wir den Bundeszuschuss zurRentenversicherung erhöht haben. Warum haben wir ihnerhöht? – Wir haben ihn erhöht, weil wir damals, als wiran die Regierung gekommen sind, versicherungsfremdeLeistungen in Höhe von 25 Milliarden DM übernommenhaben. Auch die Erhöhung des Bundeszuschusses waralso eine notwendige Reparaturmaßnahme.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch an Folgen-des: Der Beitragssatz zur Rentenversicherung lag in derAmtszeit von Minister Blüm bei 20,3 Prozent. Es bestandsogar die Gefahr, dass er auf 21 Prozent erhöht werdenmuss. Nur mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer habenwir das gemeinsam abwenden können.Ich stelle also fest: Immer dann, wenn man die kon-kreten Beispiele von Herrn Merz genau untersucht, wirddeutlich, wie falsch gewickelt er ist und mit welch billigerPolemik die CDU/CSU derzeit die Wählerinnen undWähler einzufangen versucht.
Wenn wir über die Bundesanstalt für Arbeit spre-chen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass von Stingl bisJagoda nur CDU/CSU-Leute an der Spitze dieser Bun-desanstalt waren. Das ändert natürlich nichts daran, dassdort kräftig aufgeräumt werden muss. Das ist ja nicht zuleugnen. Aber man darf nicht aus den Augen verlieren,wer in der Vergangenheit Verantwortung bei der Bundes-anstalt für Arbeit getragen hat. Die ökonomischen und diegesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die Sie zu verant-worten haben, korrigieren wir Schritt für Schritt in dierichtige Richtung. Das können wir Punkt für Punkt bele-gen.
Ich finde es zynisch, wenn Herr Merz die Flutkatastro-phe zum Anlass für Bemerkungen über Scheckübergabenund anderes mehr nimmt. Wenn Herr Müller und anderekeine Schecks übergeben hätten, dann wäre bis jetzt nochkeine Hilfe vor Ort! Das Problem ist doch, dass andere ausUnfähigkeit oder taktischen Gründen nicht so zügig ar-beiten, wie es erforderlich wäre, um den Betroffenen vorOrt zu helfen.
Die Rede von Herrn Merz hat deutlich gemacht, dassdas Rezept der Union aus unfinanzierbaren Versprechun-gen besteht sowie massives Schuldenmachen, massivenSozialabbau – das ist besonders deutlich geworden – unddas Beschneiden der Arbeitnehmerrechte vorsieht. Dashat Herr Merz heute Morgen angekündigt. Dazu sagenwir: Wer es mit unserer Gesellschaft gut meint und den ge-sellschaftlichen Zusammenhalt bewahren will, der mussjetzt die Sozialdemokratie unterstützen; denn dieser Zu-sammenhalt soll – so hat es Herr Merz heute Morgen an-gekündigt – von den Schwarzen zerstört werden.
Wir lassen jedenfalls keine gesellschaftliche Spaltung zu.Wer jetzt Mängel beim Aufbau Ost beklagt, der solltenicht verschweigen, wer damals als Erster zum Bundes-verfassungsgericht gelaufen ist, weil angeblich zu viel fürden Aufbau Ost gezahlt wird. Das war nämlich EdmundStoiber.
Wer sich von dem Katastrophengerede der Union nichtbeeindrucken lässt, der wird feststellen, dass die Bundes-regierung unter Gerhard Schröder und die sie tragendenKoalitionsfraktionen genau das machen, was für eine dau-erhaft gesunde Ökonomie in Deutschland richtig undwichtig ist, nämlich verlässliche wirtschaftliche und so-ziale Rahmenbedingungen zu schaffen sowie stetig unddauerhaft die Wachstumskräfte zu stärken. Zu dieser Po-litik – das hat die Rede von Herrn Merz deutlich gemacht –gibt es keine ernst zu nehmenden Alternativen.
Es stehen sich zwei klar unterscheidbare Konzepte ge-genüber, über die am 22. September entschieden wird:Auf der einen Seite gibt es realistische Maßnahmen undWeichenstellungen auf der Grundlage detaillierter Pla-nungen und Festlegungen der Bundesregierung. Auf deranderen Seite gibt es ein Sammelsurium von vollmundi-gen Ankündigungen und politischen Versprechungen derOpposition, wobei bereits alles vom bayerischen Minis-terpräsidenten und Kanzlerkandidaten der Union untereinem generellen Finanzierungsvorbehalt wieder einge-sammelt worden ist. Bei der Diskussion über die Kon-zepte zur Finanzierung der Behebung der Flutschäden istaußerdem deutlich geworden, dass die Union in ihr altesPolitikmuster zurückgefallen ist, das darin besteht, die öf-fentlichen Haushalte durch höhere Schulden zu finanzie-ren. Sie knüpft an die alten Rezepte an. Zur Bewältigungder Zukunftsaufgaben brauchen wir aber moderne Kon-zepte, nicht die alten kohlschen Konzepte.
Wir haben erschwerte Bedingungen. Der wirtschaftli-che Abschwung seit dem Frühjahr 2001 ist nicht zu leug-nen. Aber wir halten auch bei besonderen Problemlagen,wie sie sich etwa durch die Hochwasserkatastrophe er-geben haben, Kurs. Bis heute bleibt unklar, warum dieUnion den von uns vorgestellten Finanzierungsweg fürdie Flutschadenshilfen akzeptiert, obwohl sie diesen Wegöffentlich ständig verdammt. In diesem Zusammenhangwill ich nicht unerwähnt lassen – ich spreche hier auch zudem Gesetzentwurf –, dass die FDP es noch nicht einmal
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für nötig gehalten hat, an den Ausschussberatungen zumFlutopfersolidaritätsgesetz teilzunehmen.
Das zeigt meines Erachtens die beispiellose Gleichgültig-keit dieser Partei gegenüber den Sorgen und Problemender betroffenen Menschen und Regionen.
Zehn Tage vor der Wahl bekommt die Wahlkampfin-szenierung der Union Risse. Die Wahlkampagne derUnion entpuppt sich zusehends als eine systematische Ab-folge von Wählertäuschungen und erstaunlichen Rea-litätsverzerrungen; der Finanzminister hat dafür Belegebeigebracht. Die stärkste Realitätsverweigerung findetdabei statt, wenn Sie Deutschland als Armenhaus undSchlusslicht verunglimpfen – eine Behauptung, die imMittelpunkt des Wahlkampfs von Union und FDP steht.Meine Damen und Herren von der Opposition, glaubenSie wirklich, den Menschen in Deutschland ginge esschlechter als den Menschen in Frankreich, England, Por-tugal oder Italien? Derartige Behauptungen sind nicht nurlächerlich, sie sind auch verantwortungslos.
Aus purer Wahltaktik nehmen Sie in Kauf, durch Ihresystematische Schlechtrederei die im Konjunkturauf-schwung nötige Zuversicht von Investoren und Konsu-menten zu zerstören. Ich wiederhole: Das ist verantwor-tungslos.
Die Menschen in diesem Land brauchen keine undwollen keine Schlechtredner und Katastrophenapostel; siewissen selbst genau, wie die Lage ist. Die Menschen wol-len aber wissen, wem sie vertrauen können und was dieParteien und Kandidaten zur Lösung der Probleme ganzkonkret und glaubhaft tun wollen. Das ist offensichtlichder Grund dafür, dass der Zuspruch zu Gerhard Schröderund zur SPD täglich zunimmt. Die Menschen verstehenzunehmend, dass die oppositionellen Parteien in weitenBereichen gar keine Alternativen zur Politik der Regie-rungskoalition anbieten. Die Menschen haben erkannt,dass Union, FDP, auch PDS ständig nur Versprechungenmachen, ohne zu sagen, wie sie diese realisieren wollen.
Das sieht man beim Thema Umweltschutz und Klima-politik: Da ist es zu hektischen Ergänzungen des Sofort-programms der Union gekommen. Das sieht man bei derwirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenz: Was istdenn von der wirtschafts- und finanzpolitischen Kompe-tenz einer Partei zu halten, die, wie die Union, für diehöchste Steuer- und Abgabenbelastung, für die höchsteöffentliche Verschuldung und auch für die höchste Ar-beitslosigkeit der letzten 20 Jahre verantwortlich ist?
Auch nach dem Wechsel in der Parteiführung von Kohlüber Schäuble zu Merkel werden, wie der Wahlkampfdeutlich zeigt, wieder nur die alten Rezepte von Sozialab-bau, massivem Schuldenmachen und platter Deregulie-rung – wir haben es gehört – angeboten. Deswegen ist dieUnion 1998 abgewählt worden.
Ist das alles schon vergessen worden?Im Mittelpunkt der steuerpolitischen Programmatikder Union steht, wie gehabt, die Absenkung des Spitzen-steuersatzes bei der Einkommensteuer. Es heißt jetzt „un-ter 40 Prozent“. Auf ihrem Parteitag hat die CDU sogar„höchstens 35 Prozent“ beschlossen – höchstens 35 Pro-zent! Da können sich Stoiber und Merz, da kann sich dieCDU/CSU insgesamt noch so sehr zieren und noch soviele Nebelkerzen werfen: Zur Finanzierung dieses Steu-ervorteils für Spitzenverdiener soll unter anderem die teil-weise Steuerfreiheit für Zuschläge für Sonntags-, Feier-tags- und Nachtarbeit gestrichen werden. Das ist unterBerufung auf die Petersberger Beschlüsse immer wiedervon Ihnen bestätigt worden. Die Petersberger Beschlüssewaren und sind fester Bestandteil all Ihrer steuerpoliti-schen Überlegungen.Sie verweisen in diesem Zusammenhang immer wie-der auf die angebliche Blockierung Ihrer Steuerreformvon 1997 durch die Sozialdemokraten. Lassen Sie micheinmal auflisten, was Ihr Steuerreformkonzept unter an-derem enthielt: die erhöhte Besteuerung der Lohnersatz-leistungen, beispielsweise von Arbeitslosen- und Kran-kengeld; die Streichung der Kilometerpauschale für dieersten 15 Kilometer; die Absenkung des Arbeitnehmer-pauschbetrages für Werbungskosten und eben auch dieStreichung der teilweisen Steuerfreiheit für die Zuschlägebei Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit.Die Steuerreform von 1997 hat die gesamte Union hierim Bundestag beschlossen. Auch der bayerische Minis-terpräsident Stoiber hat ihr im Bundesrat mit voller Über-zeugung zugestimmt. Das alles soll heute nicht mehr gel-ten? Kurz vor der Wahl wird das alles in Abrede gestellt?Herr Merz, Herr Stoiber, erklären Sie doch einmal ver-bindlich und ohne die bekannten Hintertürchen, dass alldas heute nicht mehr zur Finanzierung der von Ihnen vor-gesehenen Senkung des Spitzensteuersatzes herangezo-gen werden soll. Ihre Steuerreform von 1997 wurde vonder Mehrheit des Bundesrates zu Recht verhindert, da sieim Endeffekt eine massive Umverteilung von unten nachoben mit sich gebracht hätte.Im Übrigen: Bis zum 25. August 2002 hat die Unionunter Berufung auf die Petersberger Beschlüsse im Inter-net für diese Vorschläge geworben. Dies zeigt, dass Sieeine massive steuerliche Zusatzbelastung vor allem fürArbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen immer wollten undimmer noch wollen, um Ihre Klientel bedienen zu können.
Ich habe dies bewusst so ausführlich dargestellt, umdeutlich zu machen, wie unglaubwürdig Herr Stoiber unddie gesamte Union sind, wenn sie dem Bundeskanzler undder SPD eine unsoziale Steuerpolitik vorwerfen. Wir,
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Joachim Poß25479
SPD und Grüne, haben eine bedeutsame steuerpolitischeTrendwende eingeleitet.
Millionen von Arbeitnehmern, Familien mit Kindern undMittelständler wurden von uns steuerlich massiv entlastet.Bei Ihnen jedoch waren sie die Lastesel der Nation.
Das macht den Unterschied zwischen uns aus: Wir stellenschrittweise mehr Steuergerechtigkeit her. Das gehtnicht von heute auf morgen. Wir stellen schrittweise mehrsoziale Gerechtigkeit her.
Sie dagegen kündigen an, all das wieder einreißen zu wol-len. Unter unserer Verantwortung zahlen Einkommensmil-lionäre wieder Einkommensteuer. Das war zwischen 1994und 1998 nur selten der Fall. Auch das unterscheidet uns.
Wenn es konkret wurde, haben Sie heute Morgen im-mer gekniffen. Herr Merz hat viele elegante Kurven ge-macht, um bestimmte Themen überhaupt nicht anpackenzu müssen. Er hat nicht gesagt, wie er das Aussetzen derletzten Stufe der sozial-ökologischen Steuerreform, dasFamiliengeld und die Aufstockung des Bundeswehretatsfinanzieren will. Hier wird nur mit Floskeln gearbeitet.Das lassen wir Ihnen heute Morgen nicht durchgehen.
Sie müssen heute Morgen hier für die Union und für dieFDP erklären, wie Sie Ihre Vorstellungen realistischer-weise umsetzen wollen. Es kann doch nicht hingenommenwerden, dass Sie vor der Wahl nur täuschen und tricksen.Wo sie unsicher sind, setzt sich Herr Stoiber die Tarnkappeauf, um nicht konkret werden zu müssen. Die Wählerinnenund Wähler haben es aber verdient, dass Sie Ihre Absich-ten ungeschminkt darstellen, damit sie eine echte Alterna-tive haben. Dazu fordern wir Sie heute Morgen auf.
Ich hoffe, dass Sie wenigstens so viel Glaubwürdigkeitgegenüber den Wählerinnen und Wählern aufbringen.Meine Damen und Herren, wir freuen uns auf die Aus-einandersetzung in den nächsten beiden Tagen. Sie ist dieletzte Gelegenheit, den Wählerinnen und Wählern in derBundesrepublik Deutschland klar zu machen, bei wem siegut aufgehoben sind. Wir nutzen diese Gelegenheit, ins-besondere den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so-wie den Familien mit Kindern deutlich zu machen, dasswir in den letzten vier Jahren für sie Politik gemacht ha-ben, die wir fortsetzen wollen.
Ich erteile Kollege
Günter Rexrodt das Wort, dem ich zu seinem heutigen Ge-
burtstag herzlich gratuliere.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Herzlichen Dank, Herr Präsident, fürIhre guten Wünsche. Mit der Finanzpolitik von HerrnEichel kann ich heute dennoch nicht nachsichtiger umge-hen, denn dieser Bundesfinanzminister hatte sich am An-fang der Legislaturperiode viel vorgenommen.
Er hatte sich die schrittweise Rückführung der Nettoneu-verschuldung zum Ziel gesetzt; im Jahr 2004 wollten Sieeinen nahezu ausgeglichenen Haushalt vorlegen, HerrEichel.Ich habe hier im Bundestag anfangs übrigens durchausanerkennend wiederholt gesagt: Es war gar nicht selbst-verständlich, dass ein sozialdemokratischer Finanzminis-ter ein solches Ziel proklamiert, hat sich doch sozialde-mokratische Politik über Jahre und Jahrzehnte dadurchausgezeichnet, dass immer dann, wenn ein ausgaben-wirksames Programm in diesem Hause zu beschließenwar, von Ihrer Seite eher draufgesattelt worden ist. DieGrundlinie Ihrer Politik – so habe ich damals gesagt – istdurchaus richtig; das war nicht selbstverständlich.Heute aber, Herr Bundesfinanzminister, ist nicht dieStunde der Zielvorgabe, sondern die Stunde der Wahrheit.Sie müssen sich an dem messen lassen, was Ihr Anspruchwar und was Realität ist.
Bei der Bestandsaufnahme müssen wir mit Ihrem High-light beginnen, dem finanzpolitischen Globalziel, dieNettoneuverschuldung zu reduzieren. Herr Eichel, wassind Sie durch die Lande gezogen, was haben Sie lamen-tiert, die alte Regierung habe Ihnen einen finanziellenScherbenhaufen hinterlassen! Dabei haben Sie wohlweis-lich immer die Wiedervereinigung verschwiegen, diesessäkulare Ereignis, um dessen Finanzierung Sie sich schonals hessischer Ministerpräsident gedrückt hatten. Immerwaren Sie dabei derjenige, der darauf geachtet hat, dassder Beitrag der Länder – insbesondere Ihres Landes –möglichst minimal angesetzt wird.Herr Eichel, Sie tun so, als ob es in der politischen undder wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes in den16 Jahren unserer Regierung kontinuierlich bergab ge-gangen sei: Wir haben in den 80er-Jahren die Bürger unddie Unternehmer enorm entlastet. Wir haben die Staats-quote von 49 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. In den 90er-Jahren war es aufgrund dieses säkularen Ereignissesnatürlich nicht zu umgehen, dass die Schulden stiegen,dass ein Solidarzuschlag eingeführt werden musste.Aber dies nun nebeneinander zu stellen und als einePolitik der Verschuldung des Staates zu kennzeichnen isteinfach nicht fair. Sie haben jetzt vier Jahre Zeit gehabt,die Dinge in Ordnung zu bringen. Angekündigt hatten Sievier Jahre des Erfolges und der Bereinigung. Tatsächlich
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Joachim Poß25480
ist Deutschland heute das Land mit dem geringsten wirt-schaftlichen Wachstum in Europa. Sie zeigen sich hierstolz auf 0,4 Prozent Wachstum.In den letzten Jahrzehnten gab es in Deutschland im-mer wieder Perioden, in denen es in wirtschaftlicher Hin-sicht schnell und solche, in denen es weniger schnell auf-wärts ging. Deutschland schnitt aber im Vergleich zuseinen Nachbarn immer günstiger ab. Heute sind wirSchlusslicht in der wirtschaftlichen Entwicklung. DieGründe dafür liegen nicht in den schlechten weltwirt-schaftlichen Bedingungen, sondern sind hausgemacht.Sie liegen in Ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik.
Was Ihre Ankündigung angeht, im Jahr 2004 einen aus-geglichenen Haushalt vorweisen zu können: Momentansieht es so aus, als könne Deutschland nicht einmal dieKriterien von Maastricht einhalten. In diesem Zusam-menhang führen Sie die Flutkatastrophe an, die viel Geldkostet, für den Bund in den nächsten zwei Jahren mögli-cherweise 5 Milliarden. Dieser Betrag ist hoch, aber ge-messen am Gesamtvolumen des Haushaltes eine Mar-ginalie. Wegen der Gefahr der Verletzung der Kriterienvon Maastricht sind Ihre Beamten offensichtlich gehalten,die entsprechenden Zahlen nicht nach Brüssel zu melden –mit dem einzigen Ziel, den blauen Brief vor dem22. September zu vermeiden.
Herr Bundesfinanzminister, in der Wirtschaft würde mandas als Konkursverschleppung bezeichnen.Das Verdienst rot-grüner Finanzpolitik bleibt die For-mulierung eines ehrgeizigen Zieles, eines Anspruchs.Dass Sie das Ziel nicht erreichen, liegt nicht an der Flut,dem Hochwasser, sondern an drei gewichtigen anderenUrsachen:Die erste Ursache ist das massive Versagen bei derWirtschafts- und Finanzpolitik.
Die zweite Ursache ist eine den Mittelstand verunsi-chernde Steuerpolitik.
Die dritte Ursache ist Ihr Unvermögen,
die strukturellen Probleme unseres Haushalts – struktu-relle Probleme auf der Ausgabenseite, eine katastrophaleAusweitung der konsumtiven Ausgaben und eine stetigeMinimierung der Investitionsausgaben – anzupacken undsie dauerhaft zu beseitigen.Herr Bundesfinanzminister, in Ihrer Rede sind Sie aufdie eine oder andere Haushaltsposition eingegangen, beider Sie gespart haben oder bei der Sie, politisch bedingtund erforderlich, oben draufgelegt haben. Niemand willIhnen solche Korrekturen und Erfolge – wir führen einefaire Diskussion – im Detail absprechen. Das ist aberfinanzpolitische Routinearbeit. Solche Erfolge hat jederFinanzminister in jeder Legislaturperiode vorzuweisen.Am Ende zählt die Gesamtbilanz.Ich komme zum Komplex Wirtschafts- und Arbeits-marktpolitik zurück. In der Wirtschafts- und Arbeits-marktpolitik stehen wir vor einem Scherbenhaufen, undzwar nicht, weil es der Weltwirtschaft schlecht geht – un-sere Exportquote ist hoch –, sondern weil wir entschei-dende Reformen entweder versiebt oder versäumt haben.
Wir stehen in erster Linie so schlecht da, weil Sie dasDickicht der Arbeitsmarktvorschriften nicht gelichtethaben. Im Gegenteil: Vor allem im Interesse der Gewerk-schaften haben Sie bei der Funktionärsmitbestimmungdraufgesattelt und im Kündigungsrecht die Schwellen-werte so verändert, dass dieses Recht eine Einstellungs-barriere darstellt. Bei der Förderung der Selbstständigkeithaben Sie versagt. Sie haben diejenigen ins Gesicht ge-schlagen, die etwas dazuverdienen wollten.
Ich komme zum zweiten Komplex, der Steuerpolitik.Nach Hunderten von Begegnungen mit mittelständischenUnternehmern und Gewerbetreibenden – auch jetzt imWahlkampf – kann ich nur immer wieder sagen: HerrEichel, viele Menschen, die parteipolitisch nicht gebun-den sind und die auch keine Vorurteile gegenüber der ei-nen oder anderen Partei haben, sind verbittert, enttäuschtund verärgert.
Sie sind über die Tatsache verärgert, dass es in Ihrer Steu-erreform eine so massive Ungerechtigkeit zwischen derBesteuerung der Großunternehmen, der Körperschaften,und jener der mittelständischen Unternehmen gibt.Sie unterstellen uns, unsere Politik im Zusammenhangmit der Flutkatastrophe sei unglaubwürdig, weil wir unsgegen die Verschiebung der Steuerreform ausgesprochenhaben. Wer von unserer Seite hat denn je gesagt, dass wireine Entlastung des Mittelstandes nicht für richtig halten?Wir haben immer nur gesagt, dass sie unzulänglich ist.Selbst diese unzulängliche Entlastung wird nun noch da-durch verschärft, dass Sie mit Blick auf die Flutkatastropheeine falsche Maßnahme ansetzen, nämlich die Verschie-bung der Entlastung des Mittelstandes, also der kleinen undmittleren Unternehmen. Dies ist eine falsche Politik.
Die Mittleren und Kleinen investieren nicht mehr; siewollen nicht mehr. Mehltau hat sich über dieses Land ge-legt.
Meine Damen und Herren, wer ehrlich ist, sagt, dass erdas überall und immer wieder feststellt. Die pessimisti-sche Stimmung setzt sich im Übrigen bei der Konsumnei-gung fort und zeigt sich in einer katastrophalen Situationim Einzelhandel.
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Dr. Günter Rexrodt25481
Dieser Haushalt enthält enorm viele Risiken. Die Til-gungsleistungen beim Fonds „Deutsche Einheit“ werdennochmals um 200Millionen Euro gesenkt. Verglichen mitdem Jahr 2001 bedeutet das eine Verringerung um 1 Mil-liarde Euro. Das ist mit einer Verschiebung der Lasten aufspätere Generationen gleichzusetzen.Niemand kann letztlich übersehen, dass Ihre Sparan-strengungen nur deshalb überhaupt erwähnenswert ge-worden sind, weil Sie die Lasten zu großen Teilen auf dieKommunen und auf die Länder verschoben haben.Für den Haushalt sind Steuermindereinnahmen von4 Milliarden Euro zu erwarten. Die Bundesanstalt für Ar-beit braucht mindestens weitere 1,5 bis 2Milliarden Euro.Die Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe werden um min-destens 2 Milliarden Euro steigen. Die Rentenversiche-rung braucht zusätzlich 0,5 Milliarden Euro. Um dies auf-zufangen, bedarf es eines neuen Sparpakets; anderenfallsist die Verfassungsmäßigkeit des Haushalts nicht mehrgegeben.
Herr Bundesfinanzminister, Ihre Finanzpolitik – einstein Asset der Politik der rot-grünen Regierung; herausge-stellt, gefeiert, was auch für Sie persönlich gilt – ist ge-scheitert. Die Blase ist geplatzt. Wir haben von der Handin den Mund gelebt. Das Land ächzt unter den Belastun-gen durch die Ausgaben für den Arbeitsmarkt. Die Steuer-einnahmen bleiben aus, weil der Mittelstand verdrossenund verärgert ist. In Ihrem Zahlenwerk gibt es ein funda-mentales Ungleichgewicht. Die Bestätigung dafür werdenwir in Kürze erhalten, und zwar in Form eines blauenBriefes aus Brüssel. Der einzige Trost, Herr Eichel, be-steht darin, dass Sie nicht mehr der Empfänger diesesBriefes sein werden.
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Oswald Metzger für die Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn Tage vorder Bundestagswahl befindet man sich in einer Situation,in der man holzschnittartig argumentiert. Auch ich werdedas in einem Teil meiner Rede tun. Neben dem Pflicht-teil – so etwas gibt es für einen Parlamentarier – wirdmeine Rede einen Kürteil enthalten, in dem ich versuche,die Strukturreformen darzustellen, die in dieser Gesell-schaft auf allen Ebenen nötig sind, um die öffentlichenHaushalte in Ordnung zu bringen, eine Überlastung derSteuerpflichtigen, also der Bürger und der Wirtschaft indiesem Land, zu verhindern und mehr Beschäftigung undWachstum zu generieren. Das ist eine Herkulesarbeit, diewir in den vergangenen vier Jahren angegangen sind,während die Union sie in den 16 Jahren ihrer Regierungs-zeit und die FDP in den 29 Jahren ihrer Regierungszeitsträflich vernachlässigt haben. Das will ich jetzt belegen.
Schauen wir uns doch die harten Fakten an: Im Jahr1969 – die FDP trat damals in eine sozialliberale Regie-rung ein – lag die Nettokreditaufnahme bei 1Million DMim Jahr. Die höchste Neuverschuldung dieser Republik ineinem Jahr gab es unter einer schwarz-gelben Regierung,nämlich im Jahr 1996, und zwar mit 78,172 Milliarden DM.Eine Partei, die sich aufspielt und sagt: „Wir sind“– dassteht im Wiesbadener Parteiprogramm – „gegen Neuver-schuldung“, obwohl sie ständig das Gegenteil getan hat,kommt mir wie der Versicherungsvertreter eines Groß-konzerns vor, der mit Renditeversprechungen Lebens-versicherungen an Frau und Mann bringt, obwohl dieAblaufleistungen, deren Höhe man beispielsweise in „Fi-nanztest“ nachlesen kann, statt mit den versprochenen6 Prozent oder 7 Prozent Rendite mit 3 Prozent oder nochviel weniger errechnet werden. So geht auch die FDP vor.
Das Gleiche gilt für den Bereich der Sozialversiche-rungen. Ständig wird die Höhe der Lohnnebenkosten vonden Liberalen und von der Union kritisiert. Schauen Siesich doch einmal an: In den 29 Jahren, in denen die FDPununterbrochen an der Regierung war, und in den 16 Jah-ren, in denen CDU und CSU ununterbrochen an der Re-gierung waren, sind die Beiträge ständig gestiegen. In den29 Jahren, in denen die FDP ununterbrochen an der Re-gierung war, sind sie um sage und schreibe 16,7 Prozentgestiegen.In der Regierungszeit der Union, die kürzer war, sind sie,obwohl es zwischenzeitlich ein paar Jahre gab, in denender Rentenversicherungsbeitrag sank, um sage undschreibe 9 Prozent gestiegen. Allein von 1993 bis 1998 istdieser Beitrag um 4,8 Prozent gestiegen. Trotzdem kriti-sieren Sie uns. Aber wir haben unter dem Strich, zumin-dest bei der Rente, bis heute eine Absenkung der Beiträgeum 1,2 Prozent erreicht, und zwar mit dem gleichen Fi-nanzierungsinstrument der Mehrwertsteuer, das Ihre Ko-alition noch im Jahre 1998 beschlossen hatte. Auch dieMehrwertsteuer ist eine Verbrauchsteuer, nur trifft sie alleund hat keine ökologische Lenkungswirkung.
Denn wenn man einkauft, zahlt man Steuern. Wennman aber Energie verbraucht, kann man die Kosten durcheffiziente Nutzung individuell steuern. Wir haben dieBeiträge in unserer Regierungszeit gesenkt. Selbst derAnstieg der Krankenversicherungsbeiträge kompensiertnicht den Erfolg dieser Legislaturperiode, dass nämlichdie Sozialversicherungsbeiträge zum ersten Mal in derGeschichte dieses Landes in vier Jahren nicht gestiegensind.
Der gleiche Befund zeigt sich nach 29 Jahren liberaler Po-litik bei der Staatsverschuldung bzw. beim Schulden-stand. Im Jahre 1969 betrug er 59 Milliarden DM. Nach29 Jahren FDP-Regierungsbeteiligung war der Betrag25-mal höher. Er betrug nämlich sage und schreibe 1,5Billionen DM. Diese FDP ist die Partei, die Sicherheit
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Dr. Günter Rexrodt25482
verspricht, die Steuern senken will und der egal ist, wasdie Zukunft bringt und wie die Steuersätze sich ent-wickeln, wenn man schuldenfinanziert staatliche Finanz-politik betreibt. Ich sage nur: Die Wählerinnen undWähler werden übernächsten Sonntag klug genug sein,diese Heilsversprechungen nicht zu glauben; auch denLiberalen nicht. Denn Manna fällt nicht vom Himmel,sondern die Steuerzahler in dieser Republik bezahlen dieöffentlichen Leistungen.
Wie sieht es bei der Deregulierung aus? Natürlich be-schreibt dieses Wort den Streit um Besitzstände. Ich bindurchaus der Meinung, wie es auch heute im gemeinsa-men Antrag der Koalitionsfraktionen geschrieben steht –dieser Satz hat mich persönlich gefreut –: „Flexible Ar-beitsmärkte und soziale Gerechtigkeit müssen kein Ge-gensatz sein.“ Mehr Flexibilität in den Arbeitsmärktenkann mehr Beschäftigung schaffen. Das ist gut für die Ar-beitslosen. Wir dürfen nämlich Arbeitsmarktpolitik nichtnur aus der Sicht der Arbeitsplatzbesitzer machen. Aberdie Regulierungen der Vergangenheit sind doch in Zeitengeboren worden, in denen Liberale 29 Jahre lang in Re-gierungsverantwortung waren. Wollen Sie dem deutschenVolk klar machen, dass Rot-Grün in vier Jahren praktischeine Fortsetzung dieser Politik betrieben hat, obwohl wirin wichtigen Bereichen mit einer Veränderung begonnenhaben?Ich meine beispielsweise die Nettokreditaufnahme, diewir seit 1998 – das Jahr 1999 war unser erstes eigenes Jahr –tatsächlich Jahr für Jahr zurückgeführt haben, und zwarin den Ist-Zahlen und nicht in den beabsichtigten Zahlen.Ich spreche auch von der Herkulesarbeit, die 100 Milli-arden DM UMTS-Versteigerungserlöse – gegen die Ver-suchungen der deutschen Öffentlichkeit und auch derOpposition – wirklich zur Tilgung zu verwenden und mitden ersparten Zinsausgaben Investitionen zu finanzie-ren.
Allein im Verkehrsbereich haben wir die Investitionsaus-gaben um 32 Prozent erhöht, für die Schiene – das sageich an meine Fraktion gerichtet – um sage und schreibe 70Prozent. Denn die alte Koalition hat nie das Versprechen,das sie der Bahn AG gegeben hatte, eingehalten, nach derformalen Privatisierung, der Ausgliederung und der Grün-dung einer Aktiengesellschaft die gleichen Investitionenzur Verfügung zu stellen wie für die Straße. So sieht dieWirklichkeit in diesem Land aus. Man darf hier kein Zerr-bild zeichnen.Stichwort „Steuerquote“. Die volkswirtschaftlicheSteuerquote hat der Finanzminister angesprochen. Sie hatüber lange Zeit bei 23 bzw. 24 Prozent gelegen. Heute istsie niedriger. Das freut zwar nicht alle Finanzminister,übrigens auch nicht den bayerischen, aber es ist ein Fak-tum. Noch viel wichtiger ist Folgendes – das sage ich andie Steuersenkungsparteien auf der Oppositionsseite –:Sie hatten 16 Jahre bzw. 29 Jahre lang die Gelegenheit, dieSteuern zu senken. Herr Brüderle, während der 29 Jahre,in denen die FDP an der Regierung beteiligt war, lag derSpitzensteuersatz, der Ihnen ja sehr am Herzen liegt,zunächst bei 53 Prozent.
Das war in den Jahren 1969 bis 1975. Dann stieg er bis1989 auf 56 Prozent. Danach sank er auf 53 Prozent. Aufdiesem Niveau haben wir ihn übernommen. Heute zahlendie Steuerpflichtigen bei einer etwas reduzierten Propor-tionalzone 48,5 Prozent. Jetzt kommt der entscheidendePunkt: Wir haben Steuern gesenkt, und zwar nicht nur denSpitzensteuersatz. Der Eingangssteuersatz wurde um 6Prozent gesenkt. Der Grundfreibetrag und auch die sozia-len Leistungen für Familien wurden angehoben.
Damit haben wir unter Beweis gestellt, dass wir die Bür-gerinnen und Bürger, obwohl wir konsolidieren, an dieserKonsolidierungsrendite beteiligen wollen, aber bitte nichtzulasten schuldenfinanzierter Steuernachlässe, sondernim Einklang mit dem Erfordernis der Konsolidierung deröffentlichen Haushalte.
Aus diesem Grunde rate ich allen Wählerinnen undWählern: Messt die Parteien an ihren Taten! Wir habeneine zweite Chance mehr als verdient, weil wir positiveWeichenstellungen vorgenommen haben,
und zwar nicht nur im Bereich der Finanz- und Steuerpo-litik, sondern auch bei der Rente.Wo bitte hat da die alteKoalition etwas gemacht, die ständig bei Veranstaltungenvon Arbeitgeberverbänden herumgeturnt ist und gesagthat: Natürlich wissen wir alle, dass ein umlagefinanzier-tes Rentensystem angesichts der demographischen Ent-wicklung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Klar: Ge-wusst haben Sie es, aber gemacht haben Sie nichts. Siehaben im letzten Jahr Ihrer Regierungszeit die Einführungeines demographischen Faktors beschlossen, der erst1999 wirksam geworden wäre, weil Sie im WahljahrSchiss hatten, dass eine geringere Rentenerhöhung Pro-bleme machen könnte.Wir aber haben die Rente reformiert und auf neue Füßegestellt. Wir haben in der Rentenformel nicht nur die Al-terung der Bevölkerung mit einer neuen, generationenge-rechten Lastenverteilung zwischen Jung und Alt ab-gebildet, sondern wir haben auch die Kapitaldeckungeingeführt. Das ist eine Riesenleistung, für die uns heuteÖkonomen und Leute aus der Wirtschaft loben, wenn sienicht gerade bei FDP-Veranstaltungen als Referenten auf-treten. So sieht es in diesem Land doch aus.
Deshalb: Mit vollen Hosen ist gut stinken bzw. zu un-ken und schlechte Stimmung zu verbreiten. Klopfen Siesich deshalb bitte selber an die Brust und überlegen Siesich, welche Bilanz Sie tatsächlich für die Zeit vorzu-weisen haben, in der Sie regierten. Ich rede deshalb ausÜberzeugung von einer zweiten Chance und spüre auch
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Oswald Metzger25483
als jemand, der nicht mehr so wie die Kollegen, die sichum einen Platz im nächsten Parlament bemühen, imWahlkampf steht, dass die Bevölkerung in der Endphasedieses Wahlkampfes genau diese zweite Chance zu gebenbereit ist und entsprechend wählen wird. Auch ist Ihnenvon der Opposition der Mut ein wenig abhanden gekom-men. Vor einem halben Jahr haben Sie hier anders ge-klappert, allerdings mit anderen Umfrageergebnissen imHintergrund; auch das ist keine Frage.
Zu dem, was Sie, Union wie FDP, in Ihren Sofortpro-grammen ankündigen – der Finanzminister hat es dochdeutlich gemacht –, kann ich nur sagen: Als grüner Poli-tiker brauche ich mich nicht von Ihnen als Kronzeugemissbrauchen zu lassen, dass wir bei der Defizitquote die3 Prozent schrammen oder gar darüber liegen könnten.Wenn es schlecht läuft, liegen wir darüber; das ist keineFrage, so ehrlich bin ich. Aber wenn wir das tun, was Siewollen, dann liegen wir bei einer Defizitquote von 5 Pro-zent und nicht von 3 Prozent. So sieht doch die Wirklich-keit aus!
Können wir dann tatsächlich ernsthaft und glaubwürdigfür die Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktesstreiten?Ich bin heute noch froh, dass der ehemalige Bundes-finanzminister Waigel und die damalige Regierung diesenPakt den Partnern aufs Auge gedrückt haben. Für einenFinanzpolitiker ist das nämlich die einzige relativ objek-tive Benchmark für die haushaltspolitische Solidität derMitgliedstaaten. Wenn wir nicht so Angst gehabt hätten,dass die eigene Bevölkerung den Euro ablehnt, weil siebefürchtete, dass der Euro zu einer weichen Währungwird, hätte man, Herr Waigel, das damals wohl auch nichtim deutschen Parlament durchgebracht. Nun bin ich aberfroh, dass es ihn gibt und wir als Deutsche sollten allestun, um diesen Stabilitätspakt tatsächlich einzuhalten.Jede Aufweichung hieße, ihn zu beerdigen.
Nun ein paar Sätze zum Thema Glaubwürdigkeit:Herr Merz, Sie haben in Ihrer dem Wahlkampf gemäß po-lemischen Rede beispielsweise gesagt,
wir hätten die Zinsausgaben in unserer Regierungszeiterhöht. Das ist falsch.
Wir haben die Zinsausgaben – Rechnungsergebnis Ende2001 gegenüber Rechnungsergebnis 1998 – um 1,6 oder1,7 Milliarden Euro gesenkt. Das ist klar die Folge derSondertilgung aufgrund der UMTS-Erlöse; auch das zusagen gehört zur Wahrhaftigkeit. Die Zinsausgaben desStaates hängen natürlich mehr vom Kapitalmarktniveauab – Herr Merz, das wissen Sie selber – als von der absolu-ten Schuldenhöhe; denn eine Erhöhung des Kapitalmarkt-zinses um 1 Prozent macht bei einer Gesamtverschuldungvon bald 800 Milliarden Euro für die Refinanzierung desStaates schon einmal 8 Milliarden Euro mehr Zinsausga-ben aus. Wenn ich ganz ehrlich vorgehe, muss ich natür-lich nur die Bruttoneuverschuldung berücksichtigen,dann sind es aber trotzdem noch 2 bis 2,5Milliarden Euro.Trotzdem können Sie nicht behaupten, die Zinsausgabenseien gestiegen; sie sind gesunken.Zum Abschluss – ich sehe auf der Uhr, dass ich nochsieben Minuten habe – so etwas wie einen Kürteil.
– Ich will weitermachen, Kollege Austermann, aus gutemGrund. – Das ist der Part, den man in Wahlkampfzeitennormalerweise nicht bringt, nämlich der nachdenklicheTeil. Ich bin überzeugt, dass wir alle, die wir hier sitzen,egal aus welchem politischen Lager, gut genug wissen,dass die Kosten der sozialen Sicherungssysteme aus de-mographischen Gründen überdurchschnittlich steigen;die Wachstumsrate ist weit höher als das, was wir anvolkswirtschaftlichem Wachstum generieren können.Deshalb werden wir Strukturreformen brauchen,nicht nur beim Arbeitsmarkt, sondern auch bei der Ge-sundheit. Wir brauchen mehr Kostentransparenz, auch fürdie Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung.Ebenso benötigen wir Wahltarife und mehr Eigenverant-wortung bei der Gesundheit, wie wir es bei der Rente mitdem Einstieg in die Kapitaldeckung erreicht haben. Da-rüber hinaus müssen wir in der gesetzlichen Krankenver-sicherung einen Kapitaldeckungsanteil einführen, derauch die zunehmende Alterung der Gesellschaft abbildet,die zu mehr Ausgaben führen wird.Daran werden alle Industriegesellschaften zu nagenhaben. Diesen Umsteuerungsprozess wirklich seriös zugestalten, nicht nur in Wahlkampfzeiten, sondern auchdann, wenn Politik konkret wird, wird eine Herkules-arbeit, weil man gegen viele Besitzstände angehen muss.Die Leute, die auf der einen Seite nichts hergeben wollen,beklagen sich auf der anderen Seite, wenn sie die Rech-nung in Form von schuldenfinanzierter sozialer Transfer-leistung präsentiert bekommen, die sie dann wieder überSteuererhöhungen bezahlen müssen.Der demographische Wandel stellt für alle Industrie-gesellschaften auf diesem Globus ein Grundproblem dar,das noch nirgends wirklich überzeugend angegangenworden ist; denn das würde einerseits bedeuten, der Be-völkerung sagen zu müssen, dass sie vorsorgesparen stattkonsumieren müsse.
Andererseits hoffen wir als Politiker immer noch auf mehrökonomisches Wachstum, damit die Mehrausgaben überhöhere Einnahmen abgedeckt werden können und wirkeine grundsätzliche Strukturänderung brauchen. Hierbesteht ein Zusammenhang. Für dieses Problem gibt eskeine einfache Lösung. Die Lösung kann auch nichtheißen, dass wir ansparen und in den produktiveren Ent-wicklungsvolkswirtschaften auf diesem Globus Wachs-
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Oswald Metzger25484
tumsraten generiert werden, die dazu führen, dass wir imAlter von an fremder Stelle mit unserem Kapitaleinsatzerwirtschaftetem Einkommen leben können.Das ist eine Grundfrage, über die wir nachdenken müs-sen. Diese Frage können Sie heute in diesem Land Gottsei Dank auch in Wahlveranstaltungen stellen, weil inDeutschland der bequemste Weg, den wir lange gehenkonnten, nämlich die Verschuldung, inzwischen diskredi-tiert ist. Dieses Verdienst hat Hans Eichel.
Deshalb bin ich froh, dass dieser Bundesfinanzministersein Amt ausgefüllt hat. Ich hoffe, dass er auch nach dem22. September Bundesfinanzminister bleibt.
Neben dem demographischen Problem noch ein Stich-wort zum Thema Arbeitsmarkt, Arbeitslosenhilfe, So-zialhilfe. Herr Merz, Sie haben in diesem Bereich – jetztlassen wir einmal den Wahlkampf und die Positionierungaußen vor – durchaus den Finger in Wunden gelegt. Wennman das Ganze nicht nur holzschnittartig diskutiert, weißjeder von uns, auch die Sozialdemokraten und wir Grüne,dass man ohne Veränderungen, beispielsweise bei der Ar-beitslosenhilfe – deshalb gibt es eine Gemeindefinanz-reformkommission – mit der ganz klaren Absicht, sie län-gerfristig in etwa auf Sozialhilfeniveau zu bringen, indemdie beiden Systeme zusammengelegt werden, keine Sy-nergieeffekte und keine Einsparung erzielen kann.Das ist klar. Warum? Schauen Sie sich den Finanzplandieser Regierung an. Von 2004 bis 2006 steht im Plan vonWalter Riester eine globale Minderausgabe mit 3 Milli-arden Euro. Das zeigt, dass wir den Handlungsbedarf, dortdurch Strukturmaßnahmen im konsumtiven Bereich Ein-sparungen zu erzielen, durchaus sehen. Das werden dieKoalitionsparteien aus meiner Sicht nach der Wahl schul-tern müssen, gemeinsam mit dem Bundesrat und vor al-lem mit den Kommunen, denen wir einen Ersatz anbietenmüssen, damit sie keine Angst haben müssen, dass aus derjetzt bundesfinanzierten Arbeitslosenhilfe Lasten der Ge-meinden und Landkreise durch Sozialhilfeausgaben wer-den. Nicht alles, was an Regulierung des Arbeitsmarktesim Arbeitsrecht verankert ist, und nicht alles, was Ar-beitsrichter in diesem Land an Recht sprechen – auch dasRichterrecht kann sich oft beschäftigungshemmend aus-wirken –, wird in dieser Gesellschaft Bestand haben. Da-rauf wette ich meinen Kopf, mit dem ich normalerweisevorsichtig umgehe.
Eine letzte Bemerkung. Ich war acht Jahre im Parla-ment und war acht Jahre Haushaltssprecher meiner Frak-tion. Ich war gerne im Haushaltsausschuss und habe vieleKollegen der SPD, der Union, der FDP, der PDS und mei-ner eigenen Fraktion kennen und schätzen gelernt. In die-sem Parlament habe ich viel gelernt. Ich wünsche mirauch in der neuen Legislaturperiode aufrechte Parlamen-tarier.Vielen Dank.
Herr Kol-lege Metzger, Ihre Fraktion hat mich darauf hingewiesen,dass dies Ihre letzte Rede im Parlament war, jedenfalls fürdie nächsten vier Jahre. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeitund wünsche Ihnen persönlich im Namen des Hauses al-les Gute für die Zukunft.
Nun gebe ich der Kollegin Dr. Christa Luft das Wort fürdie Fraktion der PDS.Dr. Christa Luft (von der PDS mit Beifall be-grüßt): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Mit scheint völlig sicher zu sein – so sicher wie dasAmen in der Kirche –, dass von dem Zahlenwerk, das dieBundesregierung für 2003 präsentiert, kaum etwas Be-stand haben wird. Das liegt nicht nur an den Folgen derunvorhergesehenen, verheerenden Flutkatastrophe, dieschnell – auch wir haben uns zu einer schnellen Hilfe be-kannt – bewältigt werden müssen. Das liegt auch vor al-lem an dem Prinzip Hoffnung, auf dem der Haushaltsent-wurf von Hans Eichel beruht. Mit Wahrheit und Klarheithat dieser jedenfalls nichts zu tun.Von 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum im kommen-den Jahr gehen nicht einmal unverbesserliche Optimistenaus. Beschäftigungsimpulse von dort wird es also nichtgeben. Die veranschlagten Steuereinnahmen stehen inden Sternen.Eine schwere Hypothek hinterläßt das laufende Jahr.Die Arbeitslosigkeit verharrt auf deprimierend hohemNiveau. Im zwölften Jahr der deutschen Einheit haben wirin den neuen Ländern eine offizielle Arbeitslosenquotevon 17,6 Prozent. Was wollen wir diesen Menschen mitdem jetzt vorliegenden Haushalt vermitteln?Die Bundesanstalt für Arbeit wird 2002 mindestensdoppelt so viel Zuschuss benötigen wie geplant. Wer da-ran glaubt, dass man im Jahr 2003 ohne Zuschuss aus-kommen könne, der muss auf einem anderen Stern leben;denn vor allen Dingen die Großunternehmen kündigenpausenlos Stellenabbau an. Auf der anderen Seite errei-chen die Unternehmensinsolvenzen einen neuen Rekord-stand. Herr Minister, was die Unternehmensinsolvenzenanbetrifft, haben wir in diesem Lande in der Tat einenWachstumspfad beschritten. Aber das kann ja wohl nie-mand wollen.
Über 130 000 junge Leute suchen zurzeit noch eineLehrstelle trotz kostspieliger staatlicher Programme. Wieallerdings Herr Merz erreichen will, dass die Wirtschaftihrer Verpflichtung endlich nachkommt, mehr Ausbil-dungsplätze zur Verfügung zu stellen, damit es alle jun-gen Menschen, die es möchten, schaffen, zur Leistungs-und Bildungselite zu gehören, hat er hier leider nicht ge-sagt.
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Oswald Metzger25485
Die Kluft zwischen Ost und West nimmt zu. Der Kanz-ler wird es hoffentlich noch dementieren, dass dies dasErgebnis seiner Chefsache Ost gewesen ist. Herr Bundes-finanzminister, der Verweis darauf, dass es einen Soli-darpakt II gibt, der ab dem Jahr 2005 greift, und dass nuneine gesicherte Perspektive für die Angleichung der wirt-schaftlichen Verhältnisse der neuen Länder an die der al-ten Länder gegeben sei, klingt so, als wenn man einem Er-trinkenden zurufen würde, dass in zwei Stunden Hilfekäme. Das kann wohl nicht der Ausweg sein.
Ein Ruhmesblatt ist das, was ich hier an wenigen Fak-ten benennen konnte, nicht.Nun sollen die panikartig vorgelegten, unausgegorenenVorschläge der Hartz-Kommission den Durchbruch beiBeschäftigung und Ausbildung bringen. Ich finde, dass dieIdeen zur Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände im-mer abenteuerlicher werden. Nach „Tanken für die Rente“und „Rauchen für die Sicherheit“ heißt es nun „Arbeits-plätze auf Kredit“ und „Lehrstellen per Scheck von Omaund Opa“. Wo soll das eigentlich noch hinführen?
Nach meinen Erfahrungen stellen Unternehmen zusätz-liches Personal nur dann ein, wenn sie Aufträge haben.Dafür aber wäre gerade die Ausweitung öffentlicher In-vestitionen und die Stärkung der Binnenkaufkraft not-wendig.
Davon steht allerdings im Hartz-Papier kein Wort. DerKanzler will das Papier aber 1:1 umsetzen.Verfeinerte Vermittlungstechniken soll es geben. Ichfrage mich, wo die im Osten irgendetwas bewirken sollen.Auch in strukturschwachen Gebieten der alten Länderwerden sie nichts bewirken, weil es dort zu wenige Un-ternehmen gibt, die Arbeitsplätze anbieten. Familiär un-gebundene Arbeitslose sollen zu einer Art Nomadenda-sein verpflichtet werden. Sie sollen dorthin gehen, wo sie– auch unter ungünstigen Konditionen – Arbeit finden. Soetwas wird unsere Zustimmung nicht finden.
Wir glauben, dass wir aus dem Tal der Beschäftigung– auch was die Ausbildungsplätze angeht – nicht heraus-kommen, wenn nicht endlich öffentliche Investitionenaufgestockt werden und insbesondere auch Kommunengrößere finanzielle Spielräume bekommen.
Eine empfindliche Lücke klafft zwischen dem SPD-Wahlprogramm und dem Haushaltsentwurf. Vonder mittelfristig versprochenen Kindergelderhöhung auf200 Euro ist keine Rede mehr. Statt der angekündigten1 Milliarde Euro jährlich für Ganztagbetreuung in Schu-len finden sich in dem wichtigen Startjahr 2003 ganze300 Millionen Euro. Der Beitrag zur Rentenversicherungwird trotz öffentlicher Stabilitätsbeteuerung bereits mit19,3 Prozent, also 0,2 Prozent mehr als bisher, eingeplant.Bis 2007, so ist im Wahlprogramm der SPD zu lesen, sol-len Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst der neuenLänder an die in den alten Ländern angeglichen sein. Wirhaben dazu natürlich keinen Widerspruch. Im Haushaltwiderspiegelt sich das aber nicht. Ich frage: Was nützenverbale Bekundungen, wenn sie keine entsprechende fi-nanzielle Flankierung erfahren?
Der Haushaltsentwurf 2003 reflektiert, wie auch schondie drei vorangegangenen, meiner Meinung nach falscheWeichenstellungen rot-grüner Finanz- und Haushaltspoli-tik. Ich erinnere mich sehr gut: Die heutigen Koalitions-parteien haben zu ihren Oppositionszeiten die damaligenRegierungsparteien, Union und FDP, zu Recht hart dafürkritisiert, dass diese die deutsche Einheit kredit-, alsoschulden- statt steuerfinanziert hätten und daher großeVerantwortung für den aufgehäuften Schuldenberg trü-gen. Völlig unverständlich war und ist aber, dass Rot-Grün nach Übernahme der Regierungsverantwortung nundiejenigen nicht in besonderer Weise zur Schuldentilgungherangezogen hat, die über lukrativste Steuerabschrei-bungsmodelle und großzügige Fördermittelvergabe amstaatlichen Schuldenmachen privat massiv verdient ha-ben. Stattdessen war eine der ersten Handlungen vonRot-Grün, für hohe Einkommensbezieher den Spitzen-steuersatz zu senken, für Kapitalgesellschaften den Kör-perschaftsteuersatz zu reduzieren und die Wiedererhe-bung der Vermögensteuer von der Tagesordnung zunehmen.Die PDS hat das von Anfang an für falsch gehalten.Das ist auch heute unsere Position; denn das Ergebnis sindempfindliche Löcher in den Bundes-, Länder- und kom-munalen Kassen, mit fatalen Folgen für die Investi-tionstätigkeit und die Finanzierung öffentlicher Daseins-vorsorge. Zugleich müssen zur Aufbringung der Zinsenfür die aufgenommenen Schulden die Lohn- und Ein-kommensteuerzahler anteilig am meisten beitragen. Diesevon Schwarz-Gelb verursachte Schieflage hat Rot-Grünverstärkt. Deshalb fordern wir heute noch einmal: SetzenSie die zweite Stufe der Steuerreform nicht nur nicht aus,sondern nutzen Sie die Gelegenheit, um sozial gerechteKorrekturen an dieser Steuerreform vorzunehmen!
Das, Herr Poß, gehört im Übrigen zu den Finanzierungs-vorschlägen, die die PDS für die Projekte, die sie gernumsetzen möchte, gemacht hat.Allzu lang sind die neuen Koalitionsfraktionen der Lo-sung der Union und der FDP „Steuersenkungen für Un-ternehmen sind das Hauptmittel, um die Konjunktur an-zukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen“ auf den Leimgegangen. Praktische Beweise für die Richtigkeit dieserLosung kann niemand vorlegen. Auch die FDP tut sich da-mit schwer. Ganz im Gegenteil: Die großen Unternehmenhaben die Vorteile der Steuerreform kassiert, die Regie-rung aber im Regen stehen lassen. Die Regierung hat zu-geschaut, wie sich die Großen von der Ausbildung jungerMenschen mehr und mehr verabschieden und die Kostendafür der Allgemeinheit aufbürden. Es ist höchste Zeit,dass sich die Politik wieder gegenüber der Wirtschaftemanzipiert.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Dr. Christa Luft25486
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies war meineletzte Rede vor dem Deutschen Bundestag. Ich möchteallen, die an der weiteren Beratung des Haushalts 2003beteiligt sein werden, ein gutes Augenmaß bei den anste-henden Entscheidungen wünschen, sodass sie sozial ge-recht ausfallen. Bei all jenen, mit denen ich acht Jahrelang in der eigenen Fraktion und vor allem im Haushalts-ausschuss zusammenarbeiten konnte, bedanke ich michherzlich.Vielen Dank.
Frau Kolle-
gin Luft, auch bei Ihnen möchte ich nicht versäumen, Ih-
nen im Namen des Hauses unsere guten Wünsche für Ihr
weiteres nicht parlamentarisches Leben auszusprechen.
Ich gebe nun für die SPD-Fraktion dem Kollegen Hans
Georg Wagner das Wort.
Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Auch ich möchte einWort des Dankes voranstellen. Ich möchte OswaldMetzger danken, der mit mir zusammen die Hauptlast derArbeit am Haushaltsplan getragen hat. Die Zusammenar-beit hat hervorragend funktioniert. Wir konnten dem Bun-desfinanzminister immer wieder melden, dass wir denKonsolidierungskurs mit ihm zusammen fortführen unddie Nettoneuverschuldung herabgesetzt wird. Das hat biszum Haushaltsentwurf 2003 funktioniert. Ich bin dankbar,dass ich in Oswald Metzger einen sachverständigen Part-ner hatte, der geholfen hat, diese Ziele zu erreichen.
Auch Christa Luft möchte ich ein Wort des Dankes sa-gen. Sie war zwar in der Opposition, aber es gab trotzdemeine angenehme Zusammenarbeit im Haushaltsausschussdes Deutschen Bundestages. Auch dich, liebe Christa, wer-den wir vermissen. Wir werden dich aber hoffentlich nichtaus den Augen verlieren. Dir wie Oswald Metzger, der ge-rade in den Saal hineinkommt, ein herzliches Dankeschön.
Zurück zur Debatte. Ich habe zu der Rede von HerrnMerz das eine oder andere anzumerken. Ich habe zumBeispiel nicht verstanden, warum er hier scheinheilig ge-sagt hat, der Bundeskanzler möge bitte den Regierungs-sprecher rügen, weil er Herrn Klose angegriffen habe,während er gleichzeitig kein Wort darüber verloren hat,dass der ehemalige Bundeskanzler Kohl den amtierendenBundestagspräsidenten Wolfgang Thierse mit einem derschlimmsten Verbrecher der deutschen Geschichte vergli-chen hat. Dazu hatte ich ein Wort der Entschuldigung desFraktionsvorsitzenden der CDU/CSU erwartet.
Ich möchte jetzt zur Flutkatastrophe und der Finan-zierung ihrer Folgen kommen. Warum – das frage ich denFraktionsvorsitzenden der CDU/CSU – bleibt die sächsi-sche Staatsregierung auf dem Geld sitzen und zahlt esnicht an die Betroffenen aus?
Alle anderen Länder haben das gemacht. Es ist eine Un-verschämtheit, auf dem Rücken der Opfer in SachsenZinsersparnisse aus dem Geld herauszuwirtschaften, dasder Bund längstens überwiesen hat.
Dies ist nicht einzusehen und ist eine Unverschämtheitden Menschen in diesem Land gegenüber!
Herr Merz hat zwar das Sofortprogramm der Union nichtverkündet – wahrscheinlich hat er sich nicht getraut –, aberich hätte gerne gehört, was er den Wählerinnen undWählern versprochen hätte. Dann hätte ich gefragt: Wieist die konkrete Finanzierung Ihres Programms? Ich sage:Es geht – ich will es über den Daumen peilen – um eineMehrwertsteuererhöhung auf 17 bis 20 Prozent. Das be-deutete die Umsetzung des Programms der Union; aber eswird ja nicht zum Tragen kommen, weil die Wählerinnenund Wähler schlau genug sind, das Desaster, das sich da-mit andeutet, zu verhindern.Herr Merz hat gesagt, die Zinsen seien gestiegen. Ichweiß nicht, welche Berechnungsbeispiele man ihm an dieHand gegeben hat oder er sich selbst vorgenommen hat.1999 hatten wir 44,1 Milliarden Euro an Zinsen zu zah-len, im Jahre 2002 sind dies 41,5 Milliarden Euro. Nachmeiner Rechnung sind dies 2,6 Milliarden Euro wenigerals 1999 und nicht mehr, wie er behauptet hat. Vielleichthat er sich auf meinen Nachredner, den KollegenAustermann, verlassen. Dann wäre er in der Tat verlassen.Von Herrn Rexrodt ist gesagt worden, die Bundesrepu-blik Deutschland sei Schlusslicht in Europa. Dies ist ab-solut falsch. In den Jahren, in denen Sie, Herr KollegeRexrodt, auch persönlich an der Regierung beteiligt wa-ren, lag Deutschland immer auf dem 14. oder 15. Platz.Dies ist nachweisbar. Diese Aussage basiert nicht auf un-seren Berechnungen; dies haben ganz andere zu berech-nen.Im Gegenteil haben wir jetzt erreicht, dass etwa dieExporte der deutschen Wirtschaft seit 1998 um 30,5 Pro-zent auf 637 Milliarden Euro gestiegen sind. Ausländi-sche Direktinvestitionen in Deutschland, Herr Rexrodt,beliefen sich im Jahre 1998 – dies war während Ihrer Re-gierungszeit – auf 31 Milliarden Euro. Im Jahre 2001 wa-ren dies 321 Milliarden Euro. Diese enorme Steigerungzeigt das Vertrauen, welches das Ausland in Investitionenin Deutschland hat. Dies ist ein Erfolg dieser Bundes-regierung und dieser Koalition.
Jetzt betteln Sie schon wieder öffentlich um den so ge-nannten blauen Brief aus Brüssel. Vor einem halben Jahr
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Dr. Christa Luft25487
haben Sie schon einmal darum gebettelt, aber er kamnicht. Ich weiß nicht, warum Sie die Bettelei jetzt schonwieder aufnehmen, denn der zuständige Kommissar unddie Haushaltskommissarin haben beide versichert, erstehe nicht bevor. Deutschland sei kein Anwärter auf ei-nen blauen Brief.
Jetzt können Sie ihn vielleicht noch herbeibeten, aber her-beireden können Sie ihn nicht.
Dass Sie ein Problem mit den Spitzensteuersätzen ha-ben, Herr Kollege Rexrodt, ist mir klar. Wenn man in15 Aufsichtsräten sitzt und die Tantiemen versteuert wer-den müssen, ist es schon unangenehm, wenn der Spitzen-steuersatz oben bleibt.
Darauf können wir aber keine Rücksicht nehmen und dieSteuersätze so anheben oder absenken, wie Sie das gernehätten.
Herr Stoiber hat neulich gesagt, es sei besser, Zinsenzu zahlen, als Steuern nicht zu senken. Diese Aussagemuss man genau untersuchen. Es geht dabei um die Zu-kunft unserer Kinder und Enkelkinder. Der Betrag, denwir in diesem Jahr für Zinsen aufbringen müssen, fehltdiesen bei ihrer Zukunftsgestaltung. Kein vernünftigerMensch kann wollen, dass wir permanent durch die Er-höhung der Verschuldung, wie sie die Union derzeit vor-schlägt, unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinderund Enkelkinder belasten.
Voraussetzungen für die Gestaltung der Umwelt unse-rer Kinder und Kindeskinder sind eine solide Haushalts-politik und die Zurückführung der Schulden. Das machenwir. Wir haben für das Jahr 2003 eine Nettokreditauf-nahme in Höhe von 15,5 Milliarden Euro vorgesehen.Dies ist die geringste seit Jahrzehnten in Deutschland. Siehaben Erhöhungen der Nettokreditaufnahme um bis zu80 Milliarden DM beschlossen.
Wir haben diese durch unseren Konsolidierungskurs ab-gesenkt.Wir wissen natürlich – das ist heute berichtet worden –,dass unser Haushalt Risiken birgt. Die Ölpreise ziehenan. Das ist aber nicht die Schuld dieser Bundesregierung.Schuld ist das Gerede eines Mannes, der sagt: Den Irakmüssen wir überfallen – Der Irak hat die Preise erhöht.Der Chefvolkswirt Michael Hüther von der Deka-Bankhat heute erklärt: Wenn es zu einem Überfall auf den Irakkommt, stürzen wir in die Rezession. Die deutsche Wirt-schaft ist zu labil. Einen weiteren Schock kann sie nichtverkraften. Er sagte weiter: Ein Angriff Amerikas hätteschlimmere Folgen als der Golfkrieg Anfang der 90er-Jahre. Diese Aussagen müssen wir ernst nehmen, weil sievon Ökonomen aus unserem Land kommen, die die Lagegenau und richtig beurteilen können.Noch etwas anderes, was dieser Tage passiert ist, hatmich gewundert: Der wirtschaftskompetente Mensch imKompetenzteam hat plötzlich von dem Verkauf der Tele-kom-Aktien gesprochen, und zwar sofort.
Dies hat erst einmal einen Kurssturz bewirkt. Darüber hi-naus ist das gegen die Interessen aller Kleinaktionäre ge-richtet; denn der Aktienkurs würde noch weiter herunter-gehen, wenn man die Aktien, die der Bund oder die KfWhält, auf den Markt bringen würde. Das ist also völlig kon-traproduktiv und im Gegensatz zu dem, was eigentlich ge-macht werden müsste.Ich möchte nun einige Anmerkungen zu Bildung undForschungmachen. Nach einer Untersuchung der OECDbelegte die Bundesrepublik Deutschland 1992 mit8,5 Prozent für diesen Bereich den letzten Platz aller un-tersuchten Staaten. Von 1993 bis 1998 haben Sie den For-schungshaushalt um 360 Millionen Euro gekürzt. 2002umfasste der Forschungsetat 8,8 Milliarden Euro. Das istder größte Forschungsetat, seit es das Forschungsministe-rium in Deutschland gibt. Darauf sind wir stolz, HerrMinister Eichel.
Im Vergleich zu 1998 sind die Ausgaben um 28 Prozentgestiegen. Wenn Sie einen Zeugen dafür brauchen, dannverweise ich Sie auf Ihren forschungspolitischen Antragvom 25. Juni 2002. Dort heißt es:Der Zuwachs bei den Ausgaben im Haushalt des Bun-desministeriums für Bildung und Forschung von ca.20 Prozent in vier Jahren ist durchaus beachtlich ...Das stellt die CDU/CSU fest. Ich danke den Forschungs-politikern Ihrer Partei, die offenbar erkannt haben, dasshier der richtige Weg beschritten worden ist.Erfreulich ist auch, dass die Wirtschaft mitgezogen hat.Sie hat die Anteile die Forschung betreffend ebenfalls ge-steigert, und zwar um 21 Prozent; wir liegen bei 28 Prozent.Ich komme auf die neuen Länder zu sprechen. Die Spit-zenforschung ist allein in den neuen Ländern mit 1,5 Milli-arden Euro bedient worden. Jede vierte Fördermark für Bio-technologie geht in die neuen Länder. Es ist also erkennbar,dass wir den Aufbau Ost auch in diesem Bereich ernst neh-men und in Zukunft weiter fortsetzen wollen.
Ich hätte noch gerne gewusst, wie der Kandidat aufeine Anzeige in der „Süddeutschen Zeitung“ von heutereagiert, in der steht, dass durch die Abschaffung desDosenpfands 250000 Arbeitsplätze gefährdet werden. Icherwarte morgen auch darauf eine Antwort; denn es ist un-vorstellbar, dass mit einer einzigen Aktion 250000 Arbeits-plätze vernichtet werden. Dies ist nicht hinzunehmen undmit uns auch nicht zu machen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Hans Georg Wagner25488
Ich bin dankbar, dass Dirk Fischer ehrlich gesagt hat,was Sie mit dem öffentlichen Personennahverkehr inDeutschland vorhaben: Sie wollen ihn radikal vernichten.Nach dem Papier, das uns vorliegt, haben Sie mit dem öf-fentlichen Personennahverkehr nichts mehr im Sinn. Des-halb ist die Bevölkerung gut beraten, Ihnen nicht auf denLeim zu gehen, sondern eine klare Position zu beziehenund dieser Koalition das Weiterregieren zu ermöglichen.Schönen Dank.
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dietrich
Austermann.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Der Kollege Wagner hat in sei-ner letzten Rede im Bundestag die Dinge wie üblich ver-dreht. Das will ich an dem Beispiel der Fluthilfe in Sach-sen deutlich machen. Herr Kollege Wagner, Sie habenheute hier gesagt, in Sachsen kämen die Flutgeschädigtendeshalb nicht rechtzeitig zu ihrem Geld, weil die Staats-regierung nicht in der Lage sei, das Bundesgeld auszuge-ben.
Das ist erwiesenermaßen falsch. Als Sie das Gleiche heuteMorgen um 8 Uhr in der Sitzung des Haushaltsausschus-ses behauptet haben, hat Ihnen der zuständige Staatsse-kretär der Bundesregierung, Herr Gerlach, die Situationganz klar beschrieben. Ich fordere Sie auf, nachher hier zusagen, dass Sie etwas Falsches behauptet haben. DasGanze habe ich noch durch eine Aussage des zuständigenStaatssekretärs aus dem sächsischen Finanzministeriumverifiziert. Danach sind Infrastrukturmittel des Bundesbisher nicht eingegangen. Sachsen hat gestern 203 Milli-onen Euro Barmittel und Verpflichtungsermächtigungenin Höhe von 237 Millionen Euro für Infrastruktur freige-geben. Herr Wagner, Sie haben die Unwahrheit gesagt undversuchen, den Menschen in den neuen Bundesländern,die besonders geschädigt sind, damit Sand in die Augenzu streuen. Das ist unanständig.
Das ist auch deshalb unanständig, weil auf der Basisdessen, was als Haushaltsentwurf heute vorliegt, ganzklar ist: In den nächsten vier Jahre haben die Menschen inden neuen Bundesländern von Ihnen nichts zu erwarten.Die Leistungen sind dramatisch verschlechtert worden,sogar bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben Siein den neuen Bundesländern gespart. Sie haben die Mittelfür Forschungsförderung, für den Mittelstand wie auchfür viele andere Bereiche gekürzt. Jetzt habe ich von derKollegin Jaffke erfahren, dass die geschädigten Land-wirte durch höhere Pacht ihren eigenen Flutschaden be-zahlen sollen. Ich glaube, das setzt dem Fass die Kroneauf. So kann man mit den Geschädigten, mit den Opfernnicht umgehen.
– Herr Thönnes, haben Sie das nicht verstanden? Ja, dassetzt dem Fass die Krone auf. Herr Thönnes, haben Sie esjetzt verstanden?
Jawohl, Kronenbier, Herr Thönnes, Kronenbier!Ein Weiteres: Die ganzen Leistungen, die Sie bisher imHaushalt für das kommende Jahr vorgesehen haben, las-sen ganz eindeutig erkennen, dass die für die neuen Bun-desländer und die Fluthilfe vorgesehenen Mittel in dennächsten Tagen versickern werden. Bisher basieren sieauf 400 Millionen Euro außerplanmäßige Ausgaben. Daserste frische Geld kommt erst im Januar nächsten Jahres.Um diesen Zeitraum zu überbrücken, brauchen Sie Milli-arden, die nicht bereitstehen. Deswegen sage ich: DerKnall kommt nach der Wahl, wenn feststeht, dass der Bundden Mund zu voll genommen hat und das Geld nicht da ist.Ich möchte etwas zu den Daten dieses Haushalts sa-gen. Dieser Haushalt ist reine Makulatur; denn die Basisist falsch. Wirtschaftswachstum, Steuereinnahmen, Ar-beitsmarktausgaben, Privatisierungserlöse – nichts stimmtmehr. Die Investitionen werden gedrosselt. Die Konsum-ausgaben des Bundes steigen. Deshalb muss man sichüber die Situation nicht wundern.Sie haben das Jahr 1998 als Messlatte genommen. Icherinnere daran, dass Schröder im Mai 1998 sagte, dies seisein Aufschwung, die Leute freuten sich auf den Regie-rungswechsel. Im Jahre 1998 gab es einen Rückgang derArbeitslosigkeit um 400 000. In diesem Jahr gibt es imvergleichbaren Zeitraum eine Zunahme der Arbeitslosig-keit um 250 000. Damit ist ziemlich klar, dass eine Per-spektive fehlt. Damit ist aber auch klar, dass der Haushaltdurch zusätzliche Belastungen in den kommenden Jahrenin Form von Mehrausgaben beim Arbeitsmarkt und Min-dereinnahmen bei den Steuern auf schwankendem Bodensteht.Statt Wachstum wie im Jahre 1998 herrscht heuteStagnation oder allenfalls Kümmerwachstum. Das wirktsich in Form von Firmenpleiten aus. Das wird verstärkt,weil Sie glauben, in diesem Jahr die Steuern erhöhen zumüssen. Eine Steuererhöhungspolitik mitten im Auf-schwung ist genau das falsche Mittel. Am 1. Januar sollendie Steuern noch einmal um 12 Milliarden Euro erhöhtwerden. Eine weitere Stufe der Ökosteuer tritt in Kraft.Die nächste Stufe der Steuerreform wird verschoben.Hinzu kommt die LKW-Maut. All das ist kontraproduktiv.Herr Kollege Wagner, Sie haben die Energiepolitik an-gesprochen. Es hat noch nie so hohe Spritpreise wie zur-zeit gegeben.
1 Liter Sprit kostet 30Cent mehr als im Jahre 1998. Ich mul-tipliziere diese Zahl mit dem Verbrauch in Deutschland.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Hans Georg Wagner25489
Damit wird klar, weshalb die Taxifahrer in Berlin heuteauf die Straße gegangen sind. Damit wird klar, weshalbdie Menschen für den Konsum kein Geld mehr in der Ta-sche haben. Das Geld wird ihnen durch eine falsche Ener-giepolitik – mindestens die Hälfte dieser steigenden Aus-gaben beruht auf der Ökosteuer – aus der Tasche gezogen.
Man soll Politik an den Ergebnissen messen. In diesemFall sind das die Arbeitslosenzahlen. Ich habe die Ver-gleichszahl für 1998 genannt. Ich möchte unterstreichen,weshalb die Politik, die Sie gemacht haben, unsozial undungerecht ist. Das, glaube ich, trifft Sozialdemokraten be-sonders stark. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuerbetrugen im ersten Halbjahr 1998 9,7 Milliarden Euro. Indiesem Jahr liegen sie bei minus 1,3 Milliarden Euro. DieEinnahmen aus der Lohnsteuer von 1998 sind genausohoch wie in diesem Jahr. Dabei ist die Zahl der Lohnsteu-erzahler in diesem Jahr etwas geringer geworden. Dasheißt, die etwa gleiche Zahl von Lohnsteuerzahlern zahltheute mehr Steuern als vorher, die großen Körperschaftenbekommen Geld vom Staat zurück. Das Finanzamt ist zurAuszahlungsstelle geworden. Das kennzeichnet, mit wel-chem unbegründeten sozialen Anspruch Sie heute auftre-ten.
Ich könnte auch die Besteuerung des Mittelstandes an-führen. Ich könnte die Besteuerung der Alleinerziehendenerwähnen. Ich könnte die Abfindungen der Arbeitnehmernehmen, die nach einem Sozialplan aus dem Unterneh-men ausscheiden. Sie werden nämlich steuerlich schlech-ter behandelt. Andere Beispiele sind die Stellung der Wit-wen in der Rentenreform und die Kürzung bei Alters-beiträgen. Was ich vor allem für wichtig halte, ist die Si-tuation der Gemeinden. An vielen Stellen kreist über denGemeinden der Pleitegeier. Das hat Auswirkungen auf dieJugendarbeit, die Arbeit von Volkshochschulen und diefreiwilligen Leistungen insgesamt. Bei dieser Entwick-lung müssen wir uns nicht wundern, wenn wir in abseh-barer Zeit die Scherben dieser falschen, gemeindelastigenPolitik werden aufsammeln müssen.
Statt Entlastung haben wir steigende Abgaben. Deswe-gen will ich noch einmal das Thema Maastricht anspre-chen. 1998 lag das gesamtstaatliche Defizit bei 1,7 Pro-zent. In diesem Jahr liegt es bei etwa 3,5 Prozent. So vielzum Thema blauer Brief. Dass Frau Schreyer von denGrünen sagt, ein blauer Brief stehe noch nicht im Raum,sagt überhaupt nichts aus. Tatsache ist: Die finanzielle Si-tuation bei der Rentenversicherung, der Krankenver-sicherung, der Pflegeversicherung, in den Gemeinden undin den Ländern stellt sich, ergänzt um das Defizit des Bun-des, so dar, dass ein Milliardendefizit von weit über60 Milliarden Euro zusammenkommt, womit das 3-Pro-zent-Kriterium überschritten wird.Lassen Sie mich mit einem Beispiel belegen, warumman feststellen muss, dass dies offensichtlich überall dortder Fall war, wo die Sozialisten die Regierung gestellt ha-ben. In Portugal hat die Regierung gewechselt, die Sozia-listen wurden abgewählt. Die neue Regierung hat einenKassensturz gemacht und festgestellt, dass die Sozis nichtmit Geld umgehen können; wahrscheinlich ist ein blauerBrief fällig.
In Frankreich war der Sachverhalt der gleiche: Die Re-gierung hat gewechselt und die neue Regierung sagt jetzt,man müsse über Stabilitätskriterien nachdenken. DieSituation in Deutschland ist die gleiche, Herr Thönnes: DieSozis werden abgewählt und wir werden hinterher denblauen Brief für Ihre Versäumnisse bekommen. Ich meine,es ist klar: Der Wähler wird entsprechend entscheiden.
Sie haben eine Wachstumsschwäche verursacht unddafür gesorgt, dass die Investitionen in Deutschlandzurückgehen. Wenn man sich die verschwiegenen Risikenim Haushalt, die ich beschrieben habe, ansieht, werdenSie nicht bestreiten können, dass das, was für das kom-mende Jahr angekündigt wird, um eine Nettokreditauf-nahme in einem zweistelligen Milliardenbetrag ergänztwerden muss.Wie Sie vorgehen, kann man an dem Beispiel Anti-Stau-Programm deutlich machen. Sie haben mit großemBrimborium verkündet, dass zusätzliche Mittel für denStraßenbau bereitstehen. Ein Blick in den vorliegendenHaushaltsplanentwurf aber zeigt, dass Sie genau an derStelle gestrichen haben, an der Sie zusätzliche Mittel ein-stellen wollten. Das bedeutet, dass netto die Investitions-ausgaben im kommenden Jahr zurückgehen. Die Maut istebenso wie die Ökosteuer ein reines Abkassiermodell.Ich möchte als weiteren Punkt die Privatisierungs-erlöse ansprechen, weil das Thema Mobilcom bereits eineRolle gespielt hat. Das, was Herr Eichel bzw. die Bundes-regierung im Bereich Telekommunikationsunternehmendurch Privatisierung mit der Brechstange gemacht haben,hat zu einer gewaltigen Geldvernichtung bei Kleinak-tionären geführt. Es hat dazu geführt, dass viele Men-schen, die für ihre Alterssicherung Aktien erworben ha-ben, heute Verluste verbuchen müssen, weil sich der Bundbei Telekommunikationsunternehmen durch UMTS-Li-zenzen bereichert hat. Zurzeit stellt sich die Situation sodar, dass zwar mit den 51 Milliarden Euro vielleicht einHaushaltsloch für eine Weile gestopft worden ist, aber dieUnternehmen vor großen Schwierigkeiten stehen.
Das Problem, das bei der Mobilcom in Schleswig-Hol-stein zurzeit besteht, hat die Telekom in gleicher Weise.So kann Privatisierungspolitik nicht betrieben werden.Ich weise darauf hin, dass auch die Bundesdruckereieine solche Form der Privatisierung durchlaufen ist undjetzt für 1 Euro verkauft worden ist. Dass ein solches Un-ternehmen, das für Pässe bzw. für Ausweise verantwort-lich ist, für 1 Euro verkauft worden ist, sagt doch alles.Ich könnte das Gleiche zum Verteidigungsetat aus-führen. Dort stehen wir vor einer Fülle von Beschaf-
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Dietrich Austermann25490
fungsruinen und Scheinprivatisierungen. Ich könnte Glei-ches auch zu dem Thema feststellen, dass die neuen Län-der an den Rand gedrückt werden.Das entscheidende Thema bei den Haushaltsberatun-gen aber scheint mir zu sein: Jeder Haushalt soll mit dermittelfristigen Finanzplanung eine Perspektive liefern.Dieser Haushalt, das heißt auch diese Regierung, beinhal-tet aber keine Perspektive. Sie weisen in die falsche Rich-tung. Sie weisen in Richtung weniger Beschäftigung undmehr Arbeitslosigkeit bei steigenden Steuereinnahmen.Deswegen stelle ich fest: Diese Regierung und dieserHaushalt gehören in den Orkus.Herzlichen Dank.
Ich erteile
der Kollegin Antje Hermenau für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich vonDresden nach Berlin fahren will, dann geht das zwar wie-der mit der Bahn, aber nur gerade so. Das ist der kleineRadius, den ich in Sachsen mit der Bahn von Dresden ausnoch habe: Ich kann nach Polen oder nach Berlin fahren,aber ich komme nicht mehr nach Chemnitz, München,Frankfurt am Main oder Leipzig. Ich komme auch nichtnach Prag, jedenfalls nicht mit der Bahn.Damit Sie eine Vorstellung von den Schäden bekom-men – ich könnte Zahlen und Kilometerstrecken nen-nen –, stellen Sie sich doch einmal vor, was es für eineLandeshauptstadt bedeutet, wenn sie per Bahn nur nocheinen solch eingeschränkten Verkehrsradius hat. Damitsind wir schon bei dem eigentlichen Problem angelangt.Im Erzgebirge sieht es noch schlimmer aus. Wir redendavon, dass Pendler nicht zu ihren Arbeitsplätzen gekom-men sind, und zwar tage- und wochenlang. Wir reden da-von, dass ein Gebiet, das sehr stark vom Tourismus lebt,keine Gäste mehr empfangen kann, wenn sie nicht ir-gendwelche abgelegenen Waldwege finden, über die siemit dem Bus in das Gebiet gelangen können. Das Problemaber ist: So schnell man auch versucht, diese Struktur-schäden zu beheben, damit alle Ortschaften wieder auf ver-nünftigen Wegen erreichbar werden, es hat sich herumge-sprochen, dass man nach Sachsen verkehrstechnisch nichtdurchkommt. Die Buchungen bleiben aus und der Schadenwird noch vergrößert. Neben dem Flutschaden entstehtnun der Ausfallschaden, gerade im Tourismus.In Sachsen sind über 10 000Unternehmen von der Flutbetroffen. In der Innenstadt von Döbeln ist jedes Ge-schäft – ich betone: jedes – zerstört. Nur noch die Bäcke-reien, die auf einem Berg liegen, funktionieren. Wennman sieht, dass mindestens die Hälfte aller Sachsen direktin ihren Wohnorten, dass 15 von 21 sächsischen Land-kreisen und dass auch die Landeshauptstadt in massiverWeise von dem betroffen sind, was uns Anfang Augustheimsuchte, dann muss man feststellen, dass das für Sach-sen ein Desaster und für Deutschland eine nationale Auf-gabe ist. Darüber reden wir heute.
Ich habe den Zeitfaktor bereits angesprochen. Es gehtnatürlich darum, alles Notwendige sehr schnell auf denWeg zu bringen. Das hat auch etwas mit unbürokrati-schem Vorgehen zu tun. Ich halte aber die Behauptung,dass die Gelder nicht schnell genug abflössen, weil derBund auf ihnen sitze, für Wahlkampfgetöse, für eineNickeligkeit und für den Ausdruck von Nervosität; denndiese Behauptung ist nicht wahr. Wenn man Gesprächemit Vertretern der Sächsischen Wiederaufbaubank führt,dann stellt man fest, dass dort Buchungswege genutztwerden, die erst nach drei Tagen über Städte in Baden-Württemberg und Leipzig nach Sachsen führen, weil mandie Dienste der Tochtergesellschaft einer Westbank in An-spruch nehmen möchte.Ein weiteres Problem ist, dass jede Verwaltung, auchwenn sie zwölf Jahre lang nach westlichem Vorbild auf-gebaut worden ist, bei der Bewältigung eines solchen na-tionalen Desasters wie in Sachsen, dessen Dimensionenich skizziert habe, überfordert ist. Hier muss Verwaltungs-hilfe geleistet werden. Genau diese leistet der Bund. Wirhaben am letzten Montag eine Verwaltungsvereinbarungmit Sachsen abgeschlossen. Es wird zum Beispiel da-durch geholfen, dass so einfache Sachen wie die richtigeSoftware zur Verfügung gestellt werden. Tätige Verwal-tungshilfe findet also statt.
Herr Austermann, Ihre Behauptung, der Bund rückedie Mäuse nicht heraus, finde ich, ehrlich gesagt, ziemlichfrech.
Denn es ist doch klar geworden, wo die Probleme liegen.Ich halte nichts davon, sich hier gegenseitig Nickeligkei-ten vorzuwerfen. Ich wette mit Ihnen, dass nach dem22. September kein Mensch mehr solche Vorwürfe erhe-ben wird, weil sie für den Wahlkampf nichts mehr brin-gen.Was haben wir Sachsen in den letzten Wochen ge-merkt? – Wir haben gemerkt, dass die BundesrepublikDeutschland ein handlungsfähiger Staat ist. Der Bund warin der Lage, innerhalb von sieben Tagen ein solidesFinanzierungskonzept vorzulegen. Der Freistaat Sach-sen, der übrigens schwarz regiert wird, wagt es sogar,große Summen im Vorgriff auf das nächste Haushaltsjahrvorzuziehen, weil er sich auf das Finanzkonzept der Bun-desregierung verlässt und dem Bund zutraut, dieses Kon-zept solide finanziert zu haben.
Das ist es auch. Alles ist fix und fertig beschlossen. Nichtswird nebulös vertagt oder wird in Zukunft im Streit mit
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Dietrich Austermann25491
irgendwelchen Länderfürsten auszuhandeln sein. Es be-steht Vertrauen. Der Aufbauwille der Bevölkerung ist an-genommen worden und wird auch in der Arbeit des Bun-des reflektiert. Es gibt ganz klare Ankündigungen. Besserkann man gar nicht regieren.
Die Handlungsfähigkeit des Bundes – Sie haben inder heutigen Debatte versucht, das in Abrede zu stellen –rührt daher, dass wir seit Jahren konsequent dieselbe Po-litik verfolgen, und zwar nicht nur im Finanzbereich, son-dern auch in anderen Politikbereichen. Dazu sage ich Ihnennachher noch mehr. Die Finanzpolitik ist, wie gesagt, einerklaren Linie gefolgt. Sie hat auch in stürmischen Zeitenbzw. dann, wenn es Schicksalsschläge gab, standgehalten.Ich bin sehr stolz darauf, dass die Koalition diesen Wegnicht nur beschritten, sondern auch durchgehalten hat.
Die Opposition fährt dagegen einen Zickzackkurs. Siewollen nicht nur die alten Sünder wieder in die Regie-rungsverantwortung bringen, sondern versuchen auch,ganz alte Themen aufzuwärmen. Herr Stoiber hat vor dreiWochen das 3-Prozent-Kriterium für nicht so wichtig er-klärt, obwohl er sich ein paar Tage länger Zeit gelassen hatals die Bundesregierung. Er wollte lieber die Bundes-bankgewinne verfrühstücken, die wir brauchen, um dieSchulden zu tilgen.
Sie wissen genau, dass die Schulden die Steuern von mor-gen sind. Sie wollen bei der Finanzierung der Beseitigungder Hochwasserschäden genau das Konzept anwenden,das sie schon früher beim Aufbau Ost ausprobiert haben.Das würde genauso fehlschlagen wie damals. Jetzt kom-men Sie mit Ihren ollen Kamellen wieder. Der einzige Un-terschied zu früher ist, dass Sie jetzt Herrn Waigel nichtals Finanzminister ins Auge gefasst haben.
Die FDP, diese ökonomischen Fundis der Besserver-dienenden,
macht Vorschläge für riesengroße Einsparungen im Haus-halt. Das hört sich für mich nach Grundrente und Senkungder Sozialbeiträge an. Das alles kennen wir bereits. Ichsage Ihnen eines: Sie von der FDP hätten 1997 – damalshat noch Schwarz-Gelb regiert; es war ein richtig schwe-res Jahr – zeigen können, wie Sie im Bundeshaushalt ganzlocker mehrere Milliarden Euro einsparen. Das hätte ichmir gerne angesehen. Stattdessen haben Sie damals denHaushalt an die Wand gefahren.
Sie fordern des Weiteren, dass die Subventionen abge-baut werden müssen. Nun ist Herr Lambsdorff nicht mehrMitglied Ihrer Fraktion. Trotzdem stelle ich die Frage:Welcher Bursche hat denn damals die Kohlesubventionenaus der Taufe gehoben? – Das war der damalige Wirt-schaftsminister Lambsdorff. Wer hat 1997 – da hat nochSchwarz-Gelb regiert – den Kohlekompromiss ausgehan-delt? – Rexrodt, Schäuble und Herr Clement, ein Länder-fürst; das sei konzediert. Sie haben das alles ausgekaspertund Sie wissen ganz genau, dass der Vertrag bis 2005 gilt.Sie wollen Subventionen kürzen oder ganz streichen, dieim nächsten Jahr gar nicht disponibel sind.Sie haben keine solide Gegenfinanzierung für die Maß-nahmen zur Bekämpfung der Schäden der Hochwasser-katastrophe. Keine solide Gegenfinanzierung!
Sie wollen noch Erlöse erzielen. Wollen Sie Telekom-Aktien verkaufen? Die haben gerade einen mächtig gutenKurs. Prima, eine Superlösung!
Auf so etwas kann sich niemand verlassen. Die Leutebrauchen in ihrer Not jetzt klare Ansagen und die habensie von uns bekommen. Sie vertreten hier nebulöse Kon-zepte und halten das sogar noch für Finanzpolitik. Dakann ich ja nur lachen.Jetzt stehen Sie im Wahlkampf und tun so, als hättenSie etwas dazugelernt. Der Kanzlerkandidat Stoiber hatvor ein paar Wochen im Bundestag gesagt – ich fasse eseinmal zusammen –: Ich bin ein Grüner. – Wir alle sindganz erschrocken gewesen. Nun einmal ernsthaft: WennSie eine solche Politik machen wollen – dass sie notwen-dig ist, haben sogar Sie begriffen; sonst hätten Sie dasThema im Wahlkampf nicht aufgegriffen –, dann müssenSie sie jahrelang verfolgen. Das kann Ihnen nicht vonheute auf morgen mal eben einfallen. Nach der Wahl ver-gessen Sie es wahrscheinlich wieder. Eine solche Politikmuss man jahrelang konsequent betreiben.Damit sind wir beim neuen Aufbau Ost. Zumindestder Freistaat Sachsen hat in dieser tiefen Krise, in demDesaster, das uns getroffen hat, eine Chance. Der FreistaatSachsen kann den Wiederaufbau Ost auch als Chance be-trachten, nämlich als eine Chance zu einem zweiten Auf-bau Ost in Sachsen, der besser gemacht wird, weil die rot-grüne Regierung in den letzten vier Jahren in vielenPolitikbereichen Rahmenbedingungen gesetzt hat, die ei-nen modernen Aufbau möglich machen. Das wird keinmuffeliger Nachbau West alt.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, in Sachsen neue Wegezu beschreiten.
– Nun meckern Sie doch nicht so herum! – Das geht beimVerkehr los. Wir werden uns sehr genau ansehen, welcheBahnstrecken wieder aufgebaut werden. Wenn es nachuns geht, alle. Das hat mit Tourismus und auch mit Pend-lern zu tun.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Antje Hermenau25492
– Sie können hier ruhig herumbrüllen!Zum Thema Energie. Ihr FDP-Bürgermeister im Erz-gebirge ist der Ansicht, dass er dezentrale Energielösun-gen braucht und nicht irgendwelche Netze, bei denen dieKabel bei der nächsten Flut wieder weggespült werden.Das heißt, wir reden über Kavernenkraftwerke, wir redenüber Windkraft, wir reden über Solarenergie. Es wird sichherausstellen, dass die Leute einfach praktisch danach ent-scheiden werden, wo die Rahmenbedingungen für die Zu-kunft gut gesetzt werden. Und das ist bei Rot-Grün der Fall.
Für dieFDP-Fraktion spricht nun der Kollege Rainer Brüderle.Rainer Brüderle (von Abgeordneten der FDPmit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen undHerren! Der Bundeshaushalt von Grün-Rot ist nicht dasPapier wert, auf dem er gedruckt ist.
Verheerender kann die Schlussbilanz einer Regierungnicht ausfallen.
Den blauen Brief haben Sie bis nach der Bundestagswahlweggedrückt. Der Meldepflicht kommen Sie nicht nach,um diesen Brief zu vermeiden. Sie haben auch nicht denMumm, Ihr Versagen öffentlich zu bekennen. Sie habenden Haushalt an die Wand gefahren.
Das Kernproblem ist, dass Sie die Wirtschaft behinderthaben und nicht in Gang gebracht haben. Die Massen-arbeitslosigkeit besteht unverändert fort. Wenn Sie mirnicht glauben, zitiere ich Helmut Schmidt, sozialdemo-kratischer Bundeskanzler der Vergangenheit.
– Sie schreien hier ohne Grund angesichts Ihrer schlech-ten Politik. Sie sollten täglich schreien, aber machen Siees bei sich zu Hause; da fällt es nicht so sehr auf. Sie soll-ten im Parlament noch ein bisschen Kultur wahren undsich nicht so verhalten, als seien Sie hier auf dem Abtritt.
Wenn Sie sich zu Hause so benehmen, ist das ihr Bier,aber hier sollten Sie es lassen.
Helmut Schmidt sagte wörtlich: „Die Arbeitslosigkeithat nichts mit Globalisierung zu tun. Sie ist vollständighausgemacht.“
Ich habe den Artikel dabei. Ich lese nur die Überschriftenvor. Helmut Schmidt: „Der Flächentarif muss fallen.“ –„Die Vorschläge der Hartz-Kommission sind für den Ar-beitsmarkt unzulänglich.“ Das alles können Sie in der„Zeit“ nachlesen. Helmut Schmidt ist vielleicht noch je-mand, dem Sie ein bisschen Respekt entgegenbringen undden Sie nicht als jemanden bezeichnen, der völlig unfähigist oder nur Unsinn erzählt.Damit ist der Kernpunkt angesprochen: Sie haben demArbeitsmarkt keinen Spielraum gegeben.
Die Hartz-Kommission ist ein Beleg dafür, dass Sie vierJahre lang alles à la Riester, also falsch gemacht haben.Jetzt versprechen Sie kurz vor der Wahl, es à la Hartz zumachen, um davon abzulenken, dass Sie die Dinge ver-schlechtert haben.
Sie haben Handlungsspielräume weggenommen undkeine Freiräume eröffnet. Sie haben das genaue Gegenteildessen gemacht, was Helmut Schmidt in der „Zeit“ zuRecht herausstellt.Sie müssen den Arbeitslosen eine Chance geben. InDeutschland haben die Arbeitslosen keine Lobby, weil dieGewerkschaften mit starren Regeln die Chancen fürmehr Beschäftigung in Deutschland verhindern. Sie müs-sen mehr Spielräume erlauben. Die Betriebe müssen ei-gene Regelungen treffen können. Wir brauchen mehrMitarbeitermitbestimmung im Betrieb und wenigerFremdbestimmung durch Funktionäre, die nicht mehrwissen, wie Arbeitsplätze entstehen.
Dass der DGB in jedem Jahr 400 000 bis 500 000 Mit-glieder verliert, ist ein Beleg dafür, dass die Menschen ander Basis sagen, die Funktionäre wüssten nicht mehr, wiedie Realität aussieht. Dann wird fusioniert: ÖTV, HBV,DAG zu Verdi, im nächsten Jahr vielleicht Verdi mit derIGMetall zu Puccini und die dann mit dem Rest zuToskana.
Weil die Gewerkschaften nicht mehr wissen, wie die Rea-lität in den Betrieben aussieht, und das Gegenteil von demmachen, was notwendig ist, wird mit den Füßen abge-stimmt. Die Opfer dieses Prozesses sind diejenigen, diedraußen stehen und auch die Hoffnung haben, ein Stückvom Kuchen abzubekommen.
Dasselbe gilt allerdings auch für weite Teile der Ar-beitgeberverbände. Im Osten sind 80 Prozent der Unter-nehmen aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten, weilsie genauso starr sind.Die beiden Kartellbrüder können es nicht und deswe-gen muss das Kartell ein Stück geöffnet werden, damit an-dere Lösungen möglich werden. Das können Sie bei je-dem Wirtschaftsforschungsinstitut, bei der Bundesbank,
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Antje Hermenau25493
bei der OECD und bei der Europäischen Union nachlesen.Nur wir machen bei uns das Gegenteil: Sie haben die Mit-bestimmung verschärft; der deutsche Mittelstand mussnoch mehr DGB-Funktionäre durchfüttern. Sie haben dieZwangsteilzeit zulasten der Arbeitsmarktchancen vonFrauen eingeführt. Sie haben die 630-Mark-Verträge fürhaushaltsnahe Dienstleistungen abgeschafft. Jetzt schlägtdie Hartz-Kommission 500-Euro-Verträge vor. Als wirseinerzeit sagten, es sei nicht unanständig, Menschen eineChance zu geben, bei einem älteren Ehepaar oder bei Be-hinderten mitzuhelfen, haben Sie das als Dienstmädchen-privileg diffamiert. Jetzt kostümieren Sie das über dieHartz-Kommission, weil Sie erkannt haben, dass Sie ei-nen Irrweg eingeschlagen haben.
Genauso ist es mit dem Scheinselbstständigengesetz.Nun kommen Sie mit der Ich-AG, statt zuzugeben, dassdie früheren Entscheidungen Quatsch waren. Auch hier istes wieder schön kostümiert. Jetzt können die Menschen50 000 DM bei einer 10-prozentigen Pauschalbesteuerungverdienen. Oder der Jobfloater: Es ist doch eine Witz-nummer, zu glauben, es werde jemand eingestellt, weilder einstellende Betrieb Kredite bekommt. Er stellt je-manden ein, wenn er Aufträge hat und etwas verkaufenkann, wenn er Absatzchancen hat. Sie aber bieten den Be-trieben im Osten, die bis zur Dachkante verschuldet sind,für den Fall, dass sie Leute einstellen, weitere Verschul-dungsmöglichkeiten an. Das ist nicht die Lösung.Sie müssen die Wirtschaft in Gang bringen. Die Leutewollen etwas verkaufen, sie wollen Geld verdienen.
Arbeitsplätze entstehen in einer sozialen Marktwirtschaft,indem Frauen und Männer Geld in die Hand nehmen, et-was unternehmen und dazu andere Frauen und Männerbrauchen, nicht aber durch Parolen und durch Konzepte,die Sie dann propagieren, wenn Sie sie nicht mehr umset-zen können.
Nun zur Steuerpolitik. Warum ist die Arbeitslosigkeitin Großbritannien, Holland und Schweden halb so hochwie in Deutschland? – Weil man dort den Mut hatte, einenanderen Kurs einzuschlagen und Steuern zu senken. Siesagen, wir könnten uns Steuersenkungen nicht leisten.Ich sage Ihnen: Wir können es uns nicht leisten, Steuer-senkungen nicht vorzunehmen, weil wir anders die Wirt-schaft nicht in Gang bekommen.
Wir müssen den Menschen die Möglichkeit geben zu kon-sumieren und zu investieren. Sie haben die Haushalts-misere, weil Sie nichts für das Wachstum getan haben undfolglich hohe Sozialausgaben haben. Sie haben dieschlechten Steuereinnahmen, weil Sie der Wirtschaft nichtdie Chance gegeben haben, etwas umsetzen zu können.Ihr Einwand, das alles sei nicht finanzierbar, ist ein Mär-chen. Es ist natürlich dann nicht finanzierbar, wenn Sie eineAngsthasen- und Weicheipolitik machen. 48,5 ProzentStaatsanteil! Wir haben Ihnen konkret vorgerechnet, wieSie ein Steuersystem mit Steuersätzen von 15, 25 und35 Prozent einführen können. Sie bekommen die Wirt-schaft nur mit einem großen Befreiungsschlag in Gang,wie es auch die anderen getan haben. Mit einem Heft-pflaster hier und Schräubchendrehen dort bekommen Siesie nicht in Gang.
Wir sind in Deutschland doch trotz Grün-Rot nicht blö-der oder fauler als früher. Wir sind falsch aufgestellt. Des-halb kommt die Wirtschaft nicht in Gang.
Helmut Schmidt hat Recht: Das ist hausgemacht. Es istdas Ergebnis Ihrer verfehlten Politik, dass heute die Ar-beitslosen draußen stehen, dass die Haushalte an dieWand gefahren sind, dass Sie keine Möglichkeiten haben,die Wirtschaft richtig in Gang zu setzen.Inzwischen lachen die Ausländer über Deutschland.Der „Economist“ schreibt in einer großen Analyse derWirtschaft Europas über Deutschland, es sei die Schlaf-mütze Europas. Das resultiert daraus, dass Sie keineFlexibilität geschaffen und keine Spielräume gegeben ha-ben, sondern den Arbeitsmarkt weiter „verriestert“ habenund die Deutschen daran hindern, ihre Fähigkeiten undihre Einsatzbereitschaft umzusetzen.Sie drangsalieren den Mittelstand mit tausend Hand-schellen, obwohl er der Hoffnungsträger ist. Bei dengroßen Konzernen bekommen Sie nicht mehr Arbeits-plätze.
Herr Kol-
lege Brüderle, es ist schwer, Sie zu unterbrechen, aber Sie
müssen jetzt zum Schluss kommen. Sie haben weit über-
zogen.
Ich komme zum letzten Satz. –
Bei den großen Konzernen werden keine neuen Arbeits-
plätze geschaffen; dort werden sie im Gegenteil durch den
Einsatz von Robotern und durch Automatisierung weiter
abgebaut. Neue Arbeitsplätze können Sie nur vom Mittel-
stand bekommen, den Sie bis zum Letzten drangsalieren.
Aber der Mittelstand wird auch Sie überleben. Er ist der
eigentliche Hoffnungsträger.
Herr Kol-
lege Brüderle, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Am 22. September ist Frei-
heitstag; an diesem Tag kann man eine bessere Politik
wählen.
Für dieFraktion der PDS spricht der Kollege Roland Claus.
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Rainer Brüderle25494
Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Einen Monat nach der Flut-
katastrophe müssen sich nun die Regierenden fragen las-
sen, was aus ihren Versprechen geworden ist.
Um nicht missverstanden zu werden: Alles, was wirk-
lich hilft, ist willkommen. Deshalb wird die PDS-Fraktion
auch dem Gesetzentwurf der Koalition zur Beseitigung
der Hochwasserschäden zustimmen. Ein besseres Gesetz
wäre aber möglich gewesen. Statt kleine und mittlere Un-
ternehmen zu belasten, hätten Sie eine Vermögensabgabe
auf große Vermögen als Einmalabgabe einführen können.
Sie hätten bei Berücksichtigung des PDS-Gesetz-
entwurfs die Gelegenheit gehabt, eine exzellente Aus-
führungsgrundlage für die tatsächliche Hilfe und Ent-
schädigung einzuführen. Sie hätten die Chance gehabt, in
dieser Situation, wie es unsere österreichischen und tsche-
chischen Nachbarn getan haben, auf die Anschaffung teu-
ren Rüstungsgeräts teilweise zu verzichten, um die dafür
vorgesehenen Mittel für die Hilfe an Hochwassergeschä-
digte zu verwenden.
Wer wie der Kanzler militärische Abenteuer nicht will,
der braucht auch nicht das Gerät dafür.
Wir alle hatten zahlreiche Kontakte mit Menschen, die
von der Flut betroffen sind. Ob in Wittenberg, Bitterfeld,
Dresden, Grimma oder in Passau, inzwischen ist eine
große Unsicherheit zu spüren, was wirklich verfügbar
sein wird. Dabei ist leider eines festzustellen: Die Büro-
kratie nach der Flut ist nicht geringer als die Bürokratie
vor der Flut. Bekanntlich hat der Kanzler in Magdeburg
gesagt, keinem solle es nach der Flut schlechter gehen als
vorher. Das bedeutet volle Zeitwertentschädigung. Wir
haben sehr darauf geachtet; diese Äußerung wurde hier im
Bundestag wiederholt, aber die Ankündigung wurde nicht
umgesetzt.
Nach der Wasserflut kam die Flut der Versprechungen.
Deshalb muss die Befürchtung ernst genommen werden,
dass es zu einer Flut der Empörung führt, wenn die Ver-
sprechungen jetzt nicht eingehalten werden. Daher finden
wir es wirklich unredlich von Ihnen, den Gesetzentwurf
der PDS zur vollen Zeitwertentschädigung nicht zumin-
dest insoweit gewürdigt zu haben, als er mit Ihrem Gesetz
hätte verbunden werden können.
Wir haben uns die Mühe einer Überprüfung gemacht
und festgestellt: Wenn wir die Versicherungen einbezie-
hen, die die Betroffenen ja haben, dann gibt es auch Re-
gelungsmöglichkeiten, um die Schadensfälle schnell zu
regulieren. Wenn wir über die Kreditanstalt für Wieder-
aufbau eine schnellere als die sonst übliche Finanzierung
einleiten, wird den Leuten wirklich geholfen. Ich sage
jenseits aller Rechthaberei: Alle konkreten Informatio-
nen, die ich jetzt aus dem vom Hochwasser betroffenen
Gebiet erhalte, bestätigen, dass das PDS-Gesetz zur Ent-
schädigung die Lösung gewesen wäre. Ich nenne es eng-
stirnig, dass Sie dieses Gesetz von vornherein nur deshalb
überhaupt nicht ernsthaft in Erwägung gezogen haben,
weil es von der PDS kommt.
Jetzt ist die Hochwasserhilfe so ähnlich wie der übliche
Förderdschungel organisiert. Die Leute mit guten Bezie-
hungen zur Verwaltung werden die Nase vorn haben. Im
Übrigen ermuntern Sie Trittbrettfahrer; das muss ich lei-
der auch sagen.
Eines sei hier deutlich gesagt: Es kann nicht hinge-
nommen werden, dass sich die großen Banken – die Spar-
kassen einmal ausgenommen – inzwischen aus ihrer Ver-
antwortung zurückziehen. Den betroffenen Handwerkern
helfen jetzt keine Zusagen für neue Kredite; sie brauchen
einen Schuldenerlass und die Aussetzung von Tilgungen.
Meine Damen und Herren, auch angesichts der Flut
gilt: Wer Stoiber nicht will und Schröder nicht traut, dem
bleibt nur, die PDS zu wählen.
Herzlichen Dank.
Ich erteilenunmehr das Wort dem Bundesminister für Arbeit und So-zialordnung, Walter Riester.Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So-
Meine Herren! Der Einzelplan 11, also der Haushaltsplandes Bundesministerium für Arbeit und Soziales, umfasstinsgesamt 93,4 Milliarden Euro, die wir in die Sicherungunserer Sozialsysteme und den Arbeitsmarkt investieren.Wenn wir über die Sozialsysteme reden und die aktu-elle Diskussion richtig einordnen wollen, kommen wir al-lerdings nicht umhin, aufzuzeigen, welche Bilanz wir vor-gefunden haben.
In den 16 Jahren der alten Regierung
haben sich die Sozialversicherungsbeiträge von 34 auf42,4 Prozent hochgeschaukelt. Ein Punkt, warum Sie ab-gewählt wurden, waren zusätzliche Sozialausgaben inHöhe von 8 Prozent.Ich wundere mich schon, dass sich Herr Brüderle hierechauffiert und über Steuersenkungen spricht. HerrBrüderle, als Ihre Partei nach 29 Jahren abgetreten ist, hat-ten wir die höchsten Steuersätze, die es in Deutschlandjemals gegeben hat.
Selbst in Wahlkampfzeiten gehört schon viel Chuzpedazu, anzunehmen, dass das alles vergessen ist.
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Schauen wir in der Sozialpolitik und bei den sozialenKosten aber nach vorne. Was erwartet uns? Ich denke,wenn die Ankündigungen der Union Wirklichkeit wür-den, ginge es erneut und im gleichen Schritt mit steigen-den Sozialausgaben weiter. Es wird angekündigt, dieletzte Stufe der Ökosteuer rückgängig zu machen. Waswürde das bedeuten? Das würde zu einem 3-Milliarden-Loch in der Rentenkasse führen. Die Rentenversiche-rungsbeiträge müssten sofort angehoben werden.
– Herr Seehofer hat noch etwas ganz anderes angekün-digt. Er hat angekündigt, es gebe einen Seehofer-Nach-schlag für die Rentenzahlungen des Jahres 2000 – nach-dem Stoiber ihn gebremst hatte, schränkte er ein –, wennes sich finanzieren lasse und rechtlich gehe. HerrSeehofer, wir haben es einmal durchgerechnet. Sie müss-ten 2,5 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen.
Er hat nicht gesagt, woher er sie nimmt. Wenn das durcheine zusätzliche Erhöhung der Rentenversicherungs-beiträge finanziert werden soll, wären wir schon bei einerErhöhung von 0,6 Prozent.
Als Nächstes kündigen Sie an, dass die Regelungen fürMinijobs auf Nebentätigkeiten ausgeweitet werden. Manmuss dann nicht nur dem Facharbeiter sagen, warum erfür die Überstunden Steuern und Sozialversicherungs-beiträge zahlen muss, sondern auch zur Kenntnis nehmen,dass damit fast 3 Milliarden Sozialversicherungsbeiträgewegfallen. Die Verwirklichung allein dieser Vorhabenhätte zur Folge, dass der Rentenversicherungsbeitragselbst unter Berücksichtigung all der positiven Effekte un-serer Reformen steil nach oben ginge.Herr Seehofer, deswegen wundert es mich nicht, dasseine ihrer ersten Ankündigungen lautete, dass die Renten-versicherungsbeiträge wieder steigen werden. Herr Stoiberhat Sie dann etwas zurückgepfiffen. Gleichzeitig haben Siegesagt, am Anstieg werde sich auch nichts ändern, wennSie gewählt würden. Ich frage mich, wer Sie wählen soll.
Das kann ich nicht erkennen. Die Umsetzung dieser Vor-schläge würde uns erneut in den alten Zustand zurückfal-len lassen, dass Beiträge steigen und Leistungen sinken.Ich kann Ihnen sagen: Die jetzige Regierung steht davor;das wird nicht passieren.
Wir werden stattdessen weiterhin auf die Stabilisierungder Alterssicherung setzen.
Wir werden wie bisher den Weg weitergehen, wonach alleversicherungsfremden Leistungen steuerfinanziert wer-den. Das haben wir getan; die Dinge sind bereinigt. Wirwerden es nicht mehr zurückdrehen lassen. Diese Belas-tungen dürfen nicht auf den Betrieben und den Beitrags-zahlern liegen, sondern sie müssen steuerfinanziert wer-den. Die Sozialkassen dürfen nicht laufend genutztwerden, um zum Beispiel den Aufbau Ost und Ihre Wahl-geschenke zu finanzieren. Wir brauchen eine klare undsaubere Grundlage. Diese ist jetzt geschaffen worden undwir werden sie erhalten.
Wir haben mit der Grundsicherung, die es ab dem1. Januar nächsten Jahres geben wird, dafür gesorgt, dassdie Bezieher von Minirenten – das sind insbesondereFrauen und dauerhaft Erwerbsunfähige; sie waren bisherhäufig auf Sozialhilfe angewiesen – den Weg zum Sozial-amt nicht mehr antreten müssen. Ich halte es für eine un-würdige Politik, im Stillen darauf zu spekulieren, dassMenschen aufgrund sozialer Scham nicht zum Sozialamtgehen. Es sind insbesondere über 250 000 alte Frauen, de-nen wir diesen unwürdigen Gang ersparen. Dennoch er-klärt die Union: Diese Regelung wird sofort gestrichen.Ich halte das für unanständig gegenüber diesen Frauen,die in ihrem Leben viel geleistet haben.
Diese Frauen haben den Aufbau vorangetrieben und Kin-der erzogen. Sie geben vor, für diese Frauen einzutreten;doch Sie würden sie in schändlicher Weise erneut in dieSozialämter treiben. Nicht mit uns!
Auch was den Arbeitsmarkt, den zweiten großenBlock, angeht, ist es wichtig, aufzuzeigen, was war undwas wir daraus gemacht haben. Auf Wahlkampfplakatender CDU steht: „4 Millionen Arbeitslose – ein Armuts-zeugnis für die SPD“. Das finde ich schon pikant. Sie tunso, als wären Sie die letzten 20 Jahre gar nicht da gewesen.
Sie tun so, als wären Sie 1998, als es 4,8 Millionen Ar-beitslose gab,
gar nicht da gewesen. Sie verschweigen, wie viele Men-schen auf dem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt –Stichwort ABM – beschäftigt waren. Das hat Sie natürlichnicht daran gehindert, anschließend über ABM zu schimp-fen.
Rund 525 000 Menschen waren im Herbst 1998 in ABMund SAM. Damit haben Sie in einer einzigartigen Weisedie Statistik frisiert.
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Bundesminister Walter Riester25496
Nein, diesen Weg gehen wir nicht.
Wir gehen mit den Zahlen offen um; wir stehen zu ihnen.Außerdem tun wir etwas dafür, dass mehr Menschen ei-nen Job bekommen.
Steuerreform, Haushaltskonsolidierung und Rentenreformwaren die Basis dafür, dass bis 2000 – damals war dieweltwirtschaftliche Situation noch ordentlich – 1,2 Milli-onen neue Arbeitsplätze entstanden sind.
Trotz der weltwirtschaftlichen Verwerfungen, die durchdas radikale Einbrechen des US-Marktes entstanden sind,haben wir 1,1 Millionen dieser zusätzlichen Arbeitsplätzehalten können.
Das ist die Bilanz.
Es gibt Menschen, sogar ganze Gruppen, denen Wirt-schaftswachstum allein keinen Arbeitsplatz verschafft. Ichdenke beispielsweise an schwerbehinderte Menschen.Es ist ein Erfolg der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik, dassdie Arbeitslosigkeit unter den Schwerbehinderten um21 Prozent gesunken ist.
Über das JUMP-Programm haben wir 451 000 jungenMenschen – als Sie regierten, hatten viele Jugendlichekeine Chance auf einen Ausbildungsplatz und blieben aufder Straße – die Chance auf einen Arbeitsplatz eröffnet.70 Prozent von ihnen befanden sich anschließend in Aus-bildung, in Weiterbildung oder in einem festen Arbeits-verhältnis. Das ist ein Ergebnis der rot-grünen Arbeits-marktpolitik. Sie haben diese Leute vergessen!
Dass es unter den Schwerbehinderten und unter denLangzeitarbeitslosen, die am schwierigsten zu vermittelnsind, 280 000 weniger Arbeitslose als 1998 gibt, ist ebenfallsein Erfolg sozialdemokratisch-grüner Arbeitsmarktpolitik.
Herr Minis-ter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenDr. Seifert?
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozial-ordnung: Entschuldigung, Herr Seifert, jetzt nicht. JedesMal, wenn ich spreche, möchten Sie eine Zwischenfragestellen. Ich möchte jetzt gerne in meiner Rede fortfahren.Wir haben also, auch mit dem Job-AQTIV-Gesetz,wichtige Schritte unternommen. Dies führen wir jetzt kon-sequent weiter. Die Regierung hat schon jetzt beschlossen,dass wir – als Schnellvermittlung – folgenden Schritt ge-hen werden: Wir werden den Vermittlungsprozess nochwährend der Zeit des Ausspruchs der Kündigung und vorder Beendigung des Arbeitsverhältnisses – im Regelfallsind dies drei bis vier Monate – beginnen lassen.
– Doch, bei Ihnen gab es das nicht. – Damit besteht dieChance, ein Drittel der Fluktuationsarbeitslosigkeit nochwährend der Arbeitszeit zu bereinigen. Das sind Vor-schläge, mit denen wir an den Kern der Sache gehen.Meine Damen und Herren, was mich an der Reaktioneiniger – auch heute habe ich das schon wieder gehört –etwas entsetzt, ist Folgendes: Das Programm „Kapitalfür Arbeit“, das heisst, das Vorhaben, die Eigenkapital-ausstattung gerade des Mittelstandes zu fördern, Finanz-mittel, die ja häufig nur mit sehr hohen Zinsen zu bekom-men sind, dann zu geben, wenn Beschäftigung aufgebautwird, wird jetzt von Ihnen kritisiert.
Das, was der Mittelstand dringend braucht, um investie-ren zu können, wird jetzt diskreditiert.
Wir werden jährlich ein Kreditvolumen von bis zu10 Milliarden Euro für eine bessere Finanzausstattungund bessere Investitionstätigkeiten einsetzen. Aber, HerrFuchtel, das Neue ist: Wir werden dies mit Beschäfti-gungsaufbau verbinden und nicht mit der leichten Handdes Schuldenmachens. Das ist entscheidend.
Nun höre ich das Wort Schwarzarbeit. Ja, es gibtweite Bereiche der Schwarzarbeit. Aber die sind nicht neuentstanden. Im Haushaltsbereich gibt es wahrscheinlichrund 3 Millionen Arbeitsverhältnisse – zumindest sind sienicht angemeldet –, die „schwarz“ sind.
Wir werden sie aus dieser Situation herauslösen. Deswe-gen nehmen wir den Vorschlag der Hartz-Kommissionauf, Minijobs in diesem Bereich brutto für netto auszu-zahlen, um die Schwarzarbeit zu beseitigen.
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Bundesminister Walter Riester25497
Hier nehmen wir die Vorschläge auf.
In diesem Bereich haben Sie in den letzten 16 Jahrennichts gemacht.
Meine Damen und Herren, vom Fraktionsvorsitzendender Union sind zwei Aussagen gemacht worden, die ichnicht unwidersprochen stehen lassen möchte. Die erstezeigt, dass er von Tarifpolitik offensichtlich nichts ver-steht. Er hat hier erklärt: Er möchte, wenn er – was nichtgeschehen wird – das Mandat bekommt, wieder ein-führen, dass die Tarifverträge lediglich Tarifverträge,nicht aber allgemein verbindliche sind. Dazu nenne ichIhnen zwei Zahlen. Es gibt 54 940 gültige Tarifverträge.Davon sind 535, also rund 1 Prozent, allgemein verbind-lich. Nun kann ich nur annehmen: Entweder weiss er esnicht
oder er sagt bewusst das Unwahre.Nun komme ich zum zweiten Punkt. Herr Merz erklärthier, aus meinem Hause sei ihm vermittelt worden, dass derRentenversicherungsbeitrag auf 20 Prozent steigen werde.
Ich habe mich erkundigt. Es gibt niemanden, der das be-stätigt. Solange Herr Merz hier nicht Ross und Reiternennt, muss er es sich gefallen lassen, dass man ihm un-terstellt, dass er bewusst das Parlament belogen hat. Des-wegen möchte ich, dass er Ross und Reiter nennt.
Denn das sind die Touren, mit denen, ohne etwas zu be-legen, Stimmung gemacht wird. Das ist mit uns nicht zumachen.
Wir stehen für die Politik, dass wir die Erneuerung derSozialsysteme mit den Menschen durchführen. Wir ste-hen für die Politik, dass wir Beschäftigung aufbauen undArbeitslosigkeit, auch unter schwierigen Bedingungen,abbauen.Weiterhin stehen wir für die Politik der Erneuerung. Aberwir stehen nicht für eine Politik, die die Menschen belügt.Herzlichen Dank.
Ich erteilenunmehr das Wort dem Ministerpräsidenten des LandesSachsen-Anhalt, Herrn Professor Dr. Wolfgang Böhmer.
und Herren! Da Sie die zweite Lesung zum Flutopfer-solidaritätsgesetz mitten in eine vorhersehbar hochkon-troverse Haushaltsdebatte gelegt haben, muss ich es jetztriskieren, dass ich unter Ihnen wie ein Fremdkörperwirke. Ich bitte einfach um Verständnis dafür, dass es ausder Sicht eines betroffenen Landes in diesem Zusam-menhang auch noch einige andere Aspekte zu benennengibt als die Kontroversen, die Sie verständlicherweisevorgetragen haben.
Obwohl das Hochwasser von Elbe und Mulde abge-flossen ist, haben wir – das müssen wir bekennen – immernoch keinen abschließenden Überblick über die Höhe derSchäden. Nur eines wissen wir: Sowohl in Sachsen alsauch bei uns werden sie wesentlich größer sein, als dasswir selbst in der Lage wären, sie zu beheben oder ent-sprechende Entschädigungen zu zahlen. Deswegen sindwir – das ist häufig genug gesagt worden – auf Hilfe an-gewiesen.Herr Poß, da ich heute von Ihnen den – mir bisher nichterklärlichen – Satz gehört habe, dass wir möglicherweiseaus taktischen Gründen Fördermittelbescheide nicht ver-geben würden,
lassen Sie mich bitte ganz schlicht und einfach eines sa-gen: Länderminister verteilen genauso gerne Fördermit-telbescheide, wie ich es jetzt von Bundesministern erlebe.Das ist so unter uns.
Ich will auch sagen, dass wir in beeindruckender WeiseSolidarität undHilfe erfahren haben. In diesen Tagen hates einen spontanen und von niemandem geplanten Soli-darpakt der Menschen in Deutschland gegeben, der unsalle überrascht hat und für den wir dankbar sind.
Der vielleicht schon ein wenig abgegriffene Satz „Wirsind ein Volk“ hat an den durchnässten Deichen von Elbeund Mulde und in den überfluteten Gebieten eine völligneue Bedeutung bekommen; das konnten wir alle erleben.Sowohl für mein Land als auch für das sicher nochmehr betroffene Land, den Freistaat Sachsen, darf ich sa-gen, dass wir dankbar für eine schnelle und zügige Bera-tung und Verabschiedung dieses Gesetzes und auch für dieSoforthilfe sind, die – das ist ganz unzweideutig – auch inSachsen bereits ausgezahlt wird. Wenn es an der einenoder anderen Stelle von dem einen oder anderen Bürger-meister Kritik geben sollte – ich habe das ja auch gelesen –,will ich dazu nur eines sagen: Ich habe noch nie einenFinanzminister erlebt, der alle Kommunen gleichzeitig
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Bundesminister Walter Riester25498
glücklich machen konnte. Das ist angesichts des kompli-zierten Verwaltungsgeschehens auch anders nicht zu er-warten.Ich möchte Sie gerne auf einen Umstand hinweisen:Das Gesetz regelt in nur allgemeiner Formulierung dieZweckbindung der Mittel und dafür ausführlicher dieRefinanzierung. Dass es darüber zwischen den ParteienStreit gibt, wissen wir ja. Deswegen will ich ganz beson-ders jenen danken, die zwar andere Vorstellungen voneiner richtigen Refinanzierung haben, aber trotzdem im In-teresse der Betroffenen das Gesetz nicht aufhalten werden.
Ich sage ganz deutlich: Diejenigen Bürger, die durch dasHochwasser alles oder fast alles verloren haben, hättenauch kein Verständnis dafür, wenn am Ende alle helfenwollten, aber die Hilfe blockiert würde, weil man sich nurüber diesen Teil der Refinanzierung uneinig ist.
Es steht mir sicher nicht zu, dazu ausführlich etwas zusagen. Aber eines bitte ich doch in aller Offenheit zu be-denken: Alle Aussagen zur Notwendigkeit der zweitenStufe der Steuerreform und zu den sich daraus ergeben-den Impulsen für die wirtschaftliche Entwicklung wa-ren vor der Flut und der Hochwasserkatastrophe richtigund sind dadurch mit Sicherheit nicht falsch geworden.
Die Erklärung, dass die jetzt ausgeschütteten Finanzmit-tel ja sofort in den Wirtschaftskreislauf kommen und Auf-träge auslösen, träfe auf jede Finanzsumme zu, aus wel-chem Topf sie auch immer kommt. Wenn sich dann dieseunterschiedlichen Wirtschaftsimpulse noch überschnei-den würden, wäre das für die betroffenen Bundesländer,die sich jetzt in einer besonderen Bredouille befinden,sicherlich günstig und nötig.Ich will auf ein weiteres Thema hinweisen, das mirwichtig erscheint: Für die Umsetzung des Gesetzes wich-tige Fragen werden nicht im Gesetz selbst geregelt, son-dern es heißt dort, dass sie in einer Rechtsverordnunggeregelt werden sollen, auf deren Grundlage dann Ver-waltungsabkommen abgeschlossen werden. Darüber wirdschon jetzt verhandelt. Das ist auch nicht falsch, denn wirsind alle daran interessiert, dass das Geld so schnell wiemöglich fließt. Aber dabei werden – das erschwert dieVerhandlungen und zögert sie hinaus – Probleme deutlich,auf die ich schon im Gesetzgebungsverfahren hinweisenmöchte.Ziel des Gesetzes sind – so heißt es im Gesetz – die Be-seitigung von Schäden und der Wiederaufbau zerstörterInfrastruktur. Inwieweit die kommunalen und staatlichenInfrastrukturmaßnahmen einbezogen werden, ist offen-sichtlich nicht zu Ende diskutiert und unter uns auf denverschiedenen Ebenen noch strittig. Für die Gemeindenwäre es überlebenswichtig, dass Maßnahmen zur Scha-densabwehr und zur Schadensminimierung mit abgegol-ten werden können, weil sie zur Wiederherstellung einernormalen Infrastruktur gehören. Viele Gemeinden sagen,wenn sie dies jetzt alles begleichen müssten, wären siepleite; dann bräuchten sie gar nicht mehr zu rechnen; daswürde weit über das hinausgehen, wozu sie selbst in derLage seien.Das heißt, für die Umsetzung des Gesetzes und für dasam Ende notwendige Finanzvolumen ist außerordentlichwichtig, wie wir den Schadensbegriff definieren. Dies istnoch unklar.Der Bundeskanzler selbst hat hohe Maßstäbe gesetzt.Ich saß neben ihm, als er auf der Pressekonferenz in Mag-deburg erklärt hat, dass „nach der Flut niemand materiellschlechter gestellt sein darf als vor der Flut“. Ich habe ihmschon damals gesagt, dass das aus meiner Sicht eine sehrmutige Erklärung ist. Widersprochen habe ich ihm nicht;ich fand das gut.
Aber es war eine sehr mutige Erklärung. Zwei Tage spä-ter hat uns die Presseabteilung des Bundeskanzleramtesmitgeteilt, dass diese Äußerung nur auf Unternehmen be-zogen zu verstehen sei und nicht verallgemeinert werdenkönne. Das haben wir schriftlich bekommen.
Aber wenige Tage später hat der Bundeskanzler in Dres-den erklärt, dass seine Erklärung selbstverständlich ingleicher Weise für die Privaten gelte und dass sie sich da-rauf verlassen könnten.
Ich sage das nur deswegen, weil die Betroffenen jetztnatürlich von uns als den auf der Landesebene Zuständi-gen erwarten, dass wir für die Erfüllung dieser Ver-heißung eintreten. Wir tun es gern, wenn uns die Mitteldafür zur Verfügung gestellt werden. Das ist außer jederDiskussion.Aber für die Begriffsdefinition in der Rechtsverordnungbedeutet das, dass außer den unmittelbaren Schäden auchdie häufig noch größeren mittelbaren Schäden berücksich-tigt werden müssen. Wo wir dort eine definitorische Grenzefinden werden, das weiß zurzeit noch niemand endgültig.Das wird noch lange diskutiert werden müssen.
Ein überfluteter Betrieb mit direktem Wasserschadenund dadurch bedingtem Strom- und Produktionsausfall istals Schadensfall relativ eindeutig; da wird es keine Diskus-sionen geben. Aber bei einem unmittelbar benachbartenBetrieb, der vielleicht das Glück hatte, dass das Wasser nurbis zur Schwelle reichte, und der keinen direkten Wasser-schaden hatte, aber auch Strom- und Produktionsausfallusw. hinnehmen musste, wird es schon schwieriger werden.Es gibt Bereiche – Sie haben das Tourismusgewerbe ge-nannt –, bei denen die Abgrenzung zu dem, was mit demBegriff „allgemeines unternehmerisches Risiko“ wegge-drückt werden soll, ausgesprochen schwierig werden wird.Ich will auf ein weiteres Problem hinweisen. Jeder vonIhnen weiß, dass schnelle Hilfe doppelte Hilfe ist. Wir
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haben das immer gesagt und geben uns da gegenseitigRecht. Alle Sofortprogramme sind von uns mit Dank-barkeit aufgenommen worden; es sind zurzeit etwa 18.An diesen kann man schon erleben, wie schwierig dieUmsetzung ist und dass man Computerprogrammebraucht, um zu sehen, welches Programm für welchen Be-troffenen zutrifft. Wenn wir aber eine Flut von Insolven-zen vermeiden wollen, müssen jetzt rasch Wiederaufbau-programme folgen.
Obwohl der Bund – da kommt ein Problem auf uns zu, aufdas ich hinweisen möchte – die Gelder nach der bisheri-gen Refinanzierungsabsicht selbst erst im Laufe desnächsten Jahres einnehmen wird, ist uns eine rascheVorfinanzierung durch den Bund versprochen worden.Das ist ein erhebliches Problem.
Wir werden dazu allein nicht in der Lage sein.Ich höre von den Kollegen in Sachsen, dass sie, wennder Zufluss der Bundesmittel zu lange dauert, versuchenwerden, wenigstens partiell mit einer Vorfinanzierung zubeginnen. Ich muss für mein Land bekennen, dass wir diesnicht schaffen werden. In Sachsen-Anhalt ist in den letz-ten Jahren eine Finanzpolitik gemacht worden, die uns zu-sätzliche Spielräume völlig verwehrt.
Deshalb ist es wichtig, dass wir möglichst rasch dieseRechtsverordnung bekommen und dass wir uns gemein-sam auf eine Definition des Schadensbegriffes einigen,damit wir Rechtssicherheit bei der Anwendung der Be-griffe haben und damit wir mit dem Aushandeln der Ver-waltungsvorschriften und der Verwaltungsvereinbarun-gen weiterkommen. Ich will Ihnen an dieser Stelle ganzdeutlich sagen: Von dem Erfolg unserer Bemühungenwird es abhängen, ob der jetzt geplante Fonds ausreichtoder nicht.Zur Wiederherstellung der Infrastruktur in Sach-sen-Anhalt gehört eben nicht nur die Reparatur von35 Deichbruchstellen, sondern auch die Sanierung völligaufgeweichter Deiche an Elbe und Mulde mit einer Längevon mehreren Hundert Kilometern. Bevor ich heute frühnach Berlin gefahren bin, war ich in Dessau-Waldersee.Die Menschen dort demonstrieren jetzt, weil sie es satt ha-ben, tatenlos zuzusehen, bis das nächste Hochwasser dieHäuser wieder unter Wasser setzt. Wir stehen da in einerPflicht, der wir uns nicht entziehen wollen. Diese Pro-bleme werden wir aber nur mit einer raschen Vorfinanzie-rung lösen können.
Da das nächste Frühjahrshochwasser mit Sicherheitkommt, haben wir – das wissen wir alle – nicht mehr allzulange Zeit.Es gibt noch andere Probleme. Die Schäden bei den un-terspülten Straßen werden wir erst nach dem nächstenFrost erkennen. Aber diese Schäden sind jetzt schon vor-hersehbar. Wir brauchen also eine Definition, die imGrunde genommen keinen Schlussstrich zieht, sonderndie das Einbeziehen von Schäden, die erst später erkenn-bar sind, wenigstens nicht ausschließt.Ich bitte ganz herzlich um Verständnis für folgendenPunkt: Wenn sich Hilfe jetzt nur auf die Wiederherstel-lung des Anlagevermögens konzentrieren würde, be-stünde die Gefahr, dass es bald viele Betriebe gibt, diezwar restauriert, aber in der Zwischenzeit betriebswirt-schaftlich ruiniert sind. Dies müssen wir vermeiden; denndann würde es tatsächlich so sein, wie es Pessimisten vor-hergesagt haben, nämlich dass die Hochwasserflut diebisherigen Erfolge beim Aufbau Ost einfach hinwegge-spült hätte.Wer dies verhindern will – ich denke, das wollen wiralle –, der darf den Schadensbegriff eben nicht unverhält-nismäßig einengen, sondern muss die mittelbaren Schä-den und die Absicherung der betriebswirtschaftlichenStabilität in einer solchen Krisenzeit mit erfassen, damitwir den Betrieben entsprechend helfen können. Bis jetzt,so denke ich, sind wir da auf einem guten Weg. Die Um-setzung dieses Gesetzes und die Interpretation der nochoffenen Begriffe werden darüber entscheiden, ob dieHochwasserflut den von uns gemeinsam getragenen Auf-bau Ost nur gestört oder tatsächlich entscheidend unter-brochen hat.Wir in Sachsen-Anhalt – ich bin sicher, dass dies auchfür Sachsen und die anderen betroffenen Bundesländergilt – haben uns bisher nicht entmutigen lassen. Wir glau-ben fest daran, mithilfe vieler auch die Folgeproblemedieser Hochwasserkatastrophe lösen zu können. Auf dieSolidarität des Bundes und der anderen Bundesländerwerden wir nun allerdings länger angewiesen sein, als esbisher vorauszusehen war.Der Wille, mit dem erlittenen Schicksal fertig zu wer-den, ist groß. Die erlebte Solidarität hat Mut gemacht. Mitder Verabschiedung dieses Gesetzes können Sie für alle einZeichen dafür setzen, dass es sich lohnt, weiterzumachen.Vielen Dank.
Bevor ichdem nächsten Redner das Wort erteile, gestatten Sie mirein kurzes persönliches Wort. Wenn gleich der Wechselim Vorsitz erfolgen wird, dann war es das letzte Mal, dassich die Ehre hatte, eine Sitzung des Deutschen Bundesta-ges zu leiten.Ich bin dankbar, dass ich diesem Hause 33 Jahre an-gehören durfte, einem Parlament, das einen entscheiden-den Beitrag zur Entwicklung unseres Landes hin zu einerso stabilen, verlässlichen, freiheitlichen, rechtsstaatlichenund sozial orientierten Demokratie geleistet hat. Ich habein diesen vielen Jahren, insbesondere auch in dieser Le-gislaturperiode als Vizepräsident des Bundestages, invielfacher Weise eine gute Zusammenarbeit mit den Frak-tionen und viele freundschaftliche Begegnungen erlebt.
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Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer
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Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen – denen,die mit mir ausscheiden, und denen, die wiederkommen –alles Gute.Ich danke Ihnen, dass Sie mir Gelegenheit gegeben ha-ben, zum Abschluss meiner parlamentarischen Arbeit die-ses kurze Wort des Abschieds an Sie zu richten.
– Vielen Dank.Ich gebe nunmehr das Wort dem Bundesminister fürWirtschaft und Technologie, Werner Müller.Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Lieber Herr Seiters, den Glückwünschen schließe ichmich an. Es ist nun ein Zufall, dass die letzte Rede, die Siehören, von jemandem gehalten wird, der im Emsland zurSchule gegangen ist und auch bei Ihrem Bruder Unterrichtgenossen hat.
Vielleicht ist das ja noch ein Vergnügen für Sie.Meine Damen und Herren, ich sitze jetzt seit 10 Uhrhier und ich kann immer wieder feststellen: Der Wahl-kampf treibt manchen Redner zu merkwürdigen Formeln.Es wird der Eindruck erweckt, in diesem Lande sei allesunheimlich schlecht,
die Regierung habe überhaupt keinen wirtschaftspoliti-schen Sachverstand. Wir haben hier vor 14 Tagen – wennSie sich vielleicht erinnern wollen – einmal demonstriertbekommen, was denn wirtschaftspolitischer Sachver-stand in Wahrheit ist. Ich darf eine zentrale Aussage vonHerrn Stoiber in Erinnerung rufen: Höhere Zinsen sind al-lemal besser als Steuern.
Wenn das der wirtschaftliche Sachverstand ist, der dannkünftig regieren soll – nach dem Motto: besser Schuldenauftürmen als Steuern zahlen –, dann wird mir, ehrlich ge-sagt, ein bisschen Angst.
Insofern ist es auch sachlogisch völlig richtig, dass sichder Kanzlerkandidat der Opposition von vornherein imLande umgesehen hat, wo denn wirtschaftspolitischerSachverstand gefunden werden könnte, Späth hat er einengefunden. Seit dem Frühjahr ist also mein Herausforderermit Namen bekannt. Ich hatte mich schon auf mehrere an-dere eingestellt; Herr Schäuble war auch schon einmal inder Rolle. Nun frage ich mich: Bekommen wir jetztirgendwie wirtschaftspolitischen Sachverstand zu hören?Herr Stoiber hat ja gesagt: Flutschäden durch Schulden-finanzierung. Eine Woche später hat Herr Späth gesagt,das wäre allerdings nicht richtig. Da hat er Recht. Er hatdann vorgeschlagen, wir sollten zur Finanzierung derFlutschäden beispielsweise sofort alle Telekomaktien ver-kaufen, aber natürlich nicht zum heutigen Kurs.
Da weiß ich nun auch nicht, wie das gehen soll; denn ichmuss Ihnen ehrlich sagen: Ich kenne kaum jemanden, derPapiere teurer kauft, als sie an der Börse notiert sind;allenfalls vielleicht die eine oder andere betriebliche Ren-tenkasse, aber das ist ein anderes Thema.Ich will einmal grundsätzlich sagen: Den Satz „InDeutschland geht es heute überall schlechter als vor vierJahren“ kann man eigentlich nur
satirisch nehmen;
denn ich weiß: Wir haben in unserem Land ganz erhebli-che „Rückschritte“ erzielt. Überlegen Sie einmal, wel-cher Rückschritt dahinter steht, dass 1 Million mehrMenschen beschäftigt sind. Oder der Rückschritt, dasswir 13 Milliarden Euro mehr für Familienförderung aus-geben! Der vielleicht größte Rückschritt ist, dass gegen-über 1998 jede Familie 2 000 Euro netto mehr hat. Dassind Rückschritte, die man als solche kennzeichnenmuss.
Ich frage mich: Aus welcher Denke heraus kommt denndie Klassifizierung als Rückschritt? Ich will Ihnen nochein paar dieser komischen Rückschritte nennen: Wir ha-ben die Körperschaftsteuer auf 25 Prozent gesenkt,
den Eingangsteuersatz von 26 auf 19,9 Prozent gesenkt,wir haben den Spitzensteuersatz von 53 auf 48,5 Prozentgesenkt
und – wahrscheinlich der größte Rückschritt – wir habendie Gewerbesteuerbelastung abgeschafft. Ich will auchdeutlich sagen, wo diese Klassifizierung als Rückschrittherkommt: Wer 16 Jahre lang nur Steuern erhöht hat, fürden sind Steuersenkungen ein Rückschritt. So erklärt sichdas für mich.
„In unserem Land ist alles schlechter geworden.“
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Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters25501
– Ach, unwürdig!
– Ich wundere mich, dass Sie über meine Würde urteilenkönnen. Das überlassen Sie mal mir.
Ich bin dabei, das wörtlich zu nehmen, was ich heuteMorgen von Herrn Merz gehört habe. Er sagte: Alles istschlechter geworden. Also ist es doch wohl auch einRückschritt, wenn wir 300 000 Menschen aus dem zwei-ten Arbeitsmarkt in den ersten transferiert haben. Dann istes natürlich auch ein Rückschritt, dass das Kindergeld indiesen vier Jahren um 47 Prozent erhöht wurde. Rück-schritt ist auch, dass 320 000 neue Teilzeitarbeitsplätzeentstanden sind. Rückschritt ist, dass wir die installierteWindkraftleistung vervierfacht haben und sie jetzt bei un-gefähr 10 000 MW liegt.
Rückschritt ist, dass wir bei der Nutzung der Sonnenener-gie über 100 000 neue Arbeitsplätze im handwerklichenBereich geschaffen haben.
Jetzt will ich Ihnen noch einen ganz fulminanten Rück-schritt nennen: In den letzten vier Jahren – stellen Sie sichdiese Katastrophe vor! – sind die Rechnungen für Stromund Telefon um 25Milliarden Euro gesunken. Das ist alsoein Rückschritt in wirklich eklatantem Ausmaß.
Es geht noch weiter: Wir werden demnächst das erste Malseit 51 Jahren die Postporti um annähernd 5 Prozent sen-ken.
Wenn Ihnen die Zahl der Rückschritte in diesem Landnoch nicht genügt, dann will ich Ihnen noch ein paarRückschritte nennen: In den letzten vier Jahren haben wirall Ihren Unkenrufen zum Trotz die Zahl der Selbststän-digen um über 120 000 auf 760 000 erhöhen können, undzwar weil es sich ja nicht lohnt, in diesem Land zu arbei-ten.
Wir haben die Garantiezeit für Produkte per Gesetz aufzwei Jahre verlängert. Auch das ist ein Rückschritt.
Wir haben das BAföG und das Meister-BAföG mit demErgebnis neu gestaltet, dass sich inzwischen die Zahl der-jenigen, die Meister werden wollen, verdoppelt hat.
Für die Juristen gibt es noch einen ganz besondersmerkwürdigen Rückschritt. Stellen Sie sich vor: Wir ha-ben die digitale Signatur verrechtlicht. Das ist eine Kata-strophe! Wir haben daneben das Rabattgesetz und die Zu-gabenverordnung abgeschafft, damit Händler undKunden wieder mehr Freiheit haben. Das ist natürlich einRückschritt, wenn man weiß, dass das 30 Jahre währendeliberale Politik verhindert hat.
Wir haben es durch eine ganz konsequente Förderungdes Exportes – durch Abschluss von Hermesbürgschaften,durch Investitionenschutzverträge mit vielen Ländern unddurch gewaltige politische Flankierungen – tatsächlichgeschafft, dass der Export von 1998 bis heute um über30 Prozent auf 640 Milliarden Euro gestiegen ist. Dasheißt nichts anderes, als dass unser angeblich so marodesLand in den letzten vier Jahren die gesamte internationaleWettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen hat, die es vorherverloren hatte.
Zum Schluss muss ich mich fragen: Ist es bescheuert,dass Sie unser Land – von mir aus wegen des Wahlkamp-fes, trotzdem muss man es deutlich sagen – so schlechtre-den, oder nicht? Sind diejenigen bescheuert, die in unse-rem Land sage und schreibe über 350 Milliarden Euro inden letzten vier Jahren investiert haben?
Wir wissen, wer in diesem Land sein Geld anlegt, wirdwahrscheinlich diesen Standort im Wettbewerb derStandorte der Welt ausgesucht haben. Deswegen will ichganz ehrlich sagen: Ich glaube nicht, dass diejenigen, diein den letzten vier Jahren achtmal mehr in Deutschland in-vestiert haben als in den 90er-Jahren unter Ihrer Regie-rung, alle bescheuert sind. Bescheuert ist Ihre Beschrei-bung dieses Landes!
Herr Bun-desminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-ordneten Schauerte?
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie: Herr Schauerte, ich weiß ehrlich gesagt
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Bundesminister Dr. Werner Müller25502
nicht, was die Perspektive des Sauerlandes damit zu tunhat, wenn ich über internationale Investoren rede.
– Ich gebe zu, dass das, was ich sage, aus Ihrer Sichtclownhaft klingt, aber ich will doch nur das, was Sie ge-sagt haben, wörtlich nehmen.
Zurück zum Text: Die internationalen Investoren inves-tieren in unserem Land in ungeahntem Ausmaß. Sie habennämlich Vertrauen in die Wirtschafts- und Finanzpolitikdieses Landes wiedergewonnen.
Mein Haushalt beispielsweise trägt entscheidend zurSolidität der Finanzpolitik bei, weil ich konsequent jedesJahr Subventionen in der Größenordnung von vorher1 Milliarde DM und jetzt einer halben Milliarde Euro ausdem Haushalt gestrichen habe. Mein Haushalt ist – wiegesagt – vom Subventionsabbau gekennzeichnet.
Von diesem Subventionsabbau entfällt gut die Hälfte aufdie Kohle und etwas weniger als die Hälfte auf die sons-tigen Subventionen für die Wirtschaft.Dennoch wird der Haushalt den notwendigen Zu-kunftsaufgaben gerecht. Einen Schwerpunkt haben wirbeispielsweise bei der Förderung des Exportes gesetzt.Ich kann nicht alle Einzelheiten darstellen, möchte abereinen Punkt herausgreifen: Wir haben ein neues Export-förderprogramm zur Förderung des Exportes regenerati-ver Energien mit 20 Millionen Euro dotiert.
Wir werden zusammen mit dem Entwicklungsministe-rium eine große Konferenz über die Nutzung regenerati-ver Energien in den Entwicklungsländern veranstalten.Dies hat zunächst einmal einen klimatologischen Hinter-grund, soll zum Schluss aber auch der deutschen Export-wirtschaft nützen.Wir werden die Probleme hinsichtlich Basel II ernstnehmen. Wir haben im Haushalt einen Kleingründerkre-dit stehen. Wir werden uns auch konsequent dem Büro-kratieabbau zuwenden. Eine der größten bürokratischenBelastungen
betrifft die Statistikbelastung der Unternehmen. DieseStatistikbelastung der Unternehmen werde ich in dennächsten vier Jahren relativ einfach halbieren,
indem wir die Erhebungszeiträume verlängern, indem wirdie Stichprobenerhebungen ausdehnen und die eine oderandere Statistik schlicht streichen.
Ich werde dies machen, auch wenn der BDI bereits Pro-test dagegen erhoben hat, dass wir die Statistikbelastungder Wirtschaft reduzieren wollen; ausgerechnet der BDI.
Da wir beim Thema Bürokratie sind, möchte ich aufdie Rede von Herrn Böhmer eingehen, die sehr angenehmanzuhören war.
Ich frage mich, wieso die Auszahlung der Fluthilfe nurin einem Bundesland so bürokratisch abläuft, dass die Be-troffenen schier verzweifeln. Ich will ganz deutlich sagen:Mir fällt auf, dass ich mit Herrn Rehberger bestens zu-sammenarbeite. Ich glaube, ich habe keinen einzigenKlagebrief aus Sachsen-Anhalt bekommen. Ich habe aberHunderte aus Sachsen bekommen.
– ja, das ist schon merkwürdig, denn auch Sachsen-Anhalthat 2 000 bis 3 000 geschädigte Betriebe. Dies ist keinekleine Zahl.Damit gar kein Verdacht aufkommt, will ich deutlichmachen: Ich habe schon vor 14 Tagen, am 29. August2002, an dieser Stelle gesagt: Die Gelder stehen ab jetztoder ab Freitag Vormittag vor 14 Tagen definitiv zur Ver-fügung. Dies gilt für alle Gelder, die für die Schadensre-gulierung der Unternehmen vorgesehen sind. Der KollegeBodewig hat am 30. August 2002 ein Rundschreiben desInhalts erlassen, dass beispielsweise im Wege des sogenannten HKR-Verfahrens alle Länder sofort Zugriffhaben, und diese Gelder stehen ab dem 2. September,7.15 Uhr, allen Ländern zur Verfügung.
An der Auszahlung oder am Zugriff auf die Gelder kannes also nicht liegen.
Ich möchte einen weiteren Punkt kritisch anmerken.Wir haben das Geld nicht auf die Landeskonten überwie-sen, damit es sich dort verzinsen soll,
sondern damit es als Soforthilfe unmittelbar an die Opferausgezahlt wird.
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Bundesminister Dr. Werner Müller25503
Diese Spielerei mit der angeblich fehlenden Verwaltungs-vereinbarung soll nur vertuschen, dass die Auszahlung– warum auch immer –
nicht funktioniert.
Ich will dem Land Sachsen eines ernsthaft zu bedenkengeben: Das Land Sachsen möge bitte vermeiden, dass derVerdacht entsteht, man würde Schäden bis zum 22. Sep-tember deshalb nicht bezahlen, um den Ärger auf die Bun-desregierung zu lenken.
Eines ist klar: Die Gelder stehen zur Verfügung undsollen benutzt werden, um die Schäden zu regulieren.Ein Satz zu den Unternehmen. Es wird – dafür steheich gerade – durch die Schäden keinem Unternehmennach dem Wiederanfang – auch wenn das einen völligenNeuanfang bedeutet – finanziell schlechter gehen als vor-her. Das ist die Richtschnur dafür, wie reguliert wird.
Es ist auch klar, dass wir uns dem Thema „mittelbareSchäden“ annehmen müssen. Darüber bin ich mit HerrnRehberger im Gespräch; wir haben schon vor einer Wo-che darüber gesprochen. Es gibt beispielsweise Betriebe,die evakuiert worden sind oder die von behördlicherSeite geschlossen worden sind. Auch dadurch sind Schä-den entstanden, die, wie ich denke, reguliert werden müs-sen.Alles in allem lassen Sie mich sagen: Herr Böhmer, Siebrauchen nichts vorzufinanzieren. Seien Sie dessen versi-chert! Die Behauptung, dass dies nicht so ist, ist ein Am-menmärchen. Ich weiß nicht, woher Sie das haben. Eswird Ihnen das, was in den Ländern zur Schadensregulie-rung ausgegeben werden muss, zur Verfügung stehen. Ins-gesamt kann ich nur sagen: Mit dem Land Sachsen-Anhalthabe ich noch nie Probleme gehabt.
Ich will nun meine Rede beenden. Ich bitte um Nach-sicht, wenn Sie von der Opposition sie als clownhaft undsatirisch empfunden haben. Ich wollte nichts anderes, alsIhnen das Empfinden eines Bürgers vorführen, da Sie jaimmer sagen, in diesem Land sei in den letzten Jahren al-les schlechter geworden. Wissen Sie, was schlechter ge-worden ist? – Ihre Oppositionsarbeit.
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Hartmut
Schauerte das Wort.
Herr MinisterMüller, wie Sie als Minister ohne Abgeordnetenmandateine fair vorgetragene Bitte um eine Zwischenfrage mitder Diskriminierung einer ganzen Region beantwortenkönnen, ist unter Niveau.
Das ist so sehr unter Niveau, dass ich überlegt habe, ob ichSie mit „Herr Minister Müller“ ansprechen soll oder – dashabe ich mir für die Zukunft vorgenommen – nur noch mit„Herr Müller“.
Es hat wirklich keinen Zweck.Ich darf Sie daran erinnern, dass in meinem Wahl-kreis, der in Nordrhein-Westfalen bzw. im Sauerlandliegt, die geringste Arbeitslosigkeit herrscht, dass diesauerländischen Arbeitnehmer und Unternehmer ausge-sprochen erfolgreich sind, und das trotz Ihrer miserablenWirtschaftspolitik.
Ich habe mich aber eigentlich gemeldet, um Sie Fol-gendes zu fragen: Halten Sie es für einen Fortschritt – ichgehe dies einmal auf diese Weise an; außerdem bin ich derMeinung, die Lage in Deutschland ist so ernst, dass sie fürdie Satire eines Bundesministers, der seit vier Jahren Ver-antwortung trägt, keinen Platz lässt –,
dass Sie aus seinerzeit 5 Millionen 630-Mark-Jobs 1 Mil-lion haben werden lassen, die Sie nun als Erfolg der Stei-gerung der Zahl von Arbeitsplätzen in Deutschland dar-stellen? Das sind nämlich 1 Million 630-Mark-Jobs, dieSie nun versicherungspflichtig gemacht haben.
Ich will Sie fragen, ob Sie es für einen Erfolg halten,dass aus der viel zu hohen Zahl von 27 000 Konkursen,die wir im letzten Jahr der Regierung Kohl hatten, nun40 000 Konkurse geworden sind?
Ist das ein Fortschritt, den man hier loben kann, auf denman stolz sein kann? Das könnte man annehmen, so wieSie sich hier hingestellt haben.
Ich darf bei dieser Gelegenheit betonen, dass diese 40 000Konkurse in Deutschland zweieinhalbmal so viel kosten– auch an Arbeitsplätzen – wie die Beseitigung der Schä-den der Flutkatastrophe. Das ist eine weitere nationaleKatastrophe, die Sie selber herbeigeführt haben.
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Bundesminister Dr. Werner Müller25504
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie das Wirtschafts-wachstum auf nahezu null gedrückt haben, dass Sie dafürgesorgt haben, dass Deutschland beim Wirtschaftswachs-tum auf dem letzten Platz in Europa liegt. Nennen Sie dasFortschritt?
Und ich frage Sie zum Schluss: Sie sprechen davon– so weit ist Ihre Propaganda verkommen –, dass Sie beider Bekämpfung der Verschuldung des Staates Fort-schritte erreicht hätten. Die nackten Fakten sind aber fol-gende – ich darf aus der „Wirtschaftswoche“ dieser Wo-che zitieren –: Im letzten Jahr der Regierung Kohl/Waigellag das Staatsdefizit bei 42,8 Milliarden Euro. Im letztenJahr der Regierung Schröder/Müller/Eichel liegt es bei65Milliarden Euro. – Das ist eine Steigerung um mehr als50 Prozent. Nennen Sie das einen verantwortbaren Fort-schritt? Das ist nahe an der Katastrophe, Herr Müller.
Herr Minister, Sie ha-
ben das Wort zur Erwiderung.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie: Herr Schauerte, wenn ich bei Ihnen den
Eindruck erweckt haben sollte, das Sauerland beleidigt zu
haben, dann tut mir das Leid. Ich wollte gewiss nicht alle
Sauerländer beleidigen. Ich hatte nur einen im Auge.
Ich will zu dem kommen, was Sie so erregt vorgetra-
gen haben. Sie haben gesagt, unter der Regierung Kohl
habe es nie 40 000 Konkurse gegeben. Ich weiß nicht auf
Anhieb, ob das stimmt.
Was im Moment gemeldet wird, sind Insolvenzzahlen. In
diesen Insolvenzzahlen ist auch das enthalten, was zwar
schon die Regierung Kohl veranlasst hatte, nämlich die
Erfassung privater Insolvenzen, was aber mangels sinni-
ger Durchführung praktisch nie wahrgenommen werden
konnte. Sie müssen also erst einmal die 10 000 privaten
Insolvenzen herausrechnen.
Im Übrigen sage ich Ihnen: Das neue Insolvenzrecht
haben Sie gemacht, damit es nicht als allerletztes Mittel,
ehe das Unternehmen völlig kaputt ist, wahrgenommen
wird. Das Insolvenzrecht – das war der Zweck – soll die
Zahl der Insolvenzanmeldungen erhöhen. Wissen Sie,
was für den Wirtschaftsminister wichtig ist? Dass jedes
Jahr einige 10 000 Unternehmen mehr gegründet werden
als sterben.
Diese 40 000 Insolvenzen sind nicht das, was am Markt
verschwindet. Am Markt sterben – ich muss sagen: lei-
der – jedes Jahr 450 000 bis 460 000 Unternehmen. Das
war in dieser Größenordnung schon immer so. Wichtig
ist, dass unverändert 530 000 bis 540 000 Unternehmen
neu gegründet werden. Ich habe Ihnen vorher dargestellt,
dass sich zum Beispiel die Zahl der Freiberuflichen in un-
serer Regierungszeit kräftig erhöht hat.
Jetzt kommt Ihr altes Wachstumsmärchen. Das ist der
Grund, warum ich Zwischenfragen von Ihnen so ungern
annehme. Sie verbreiten jedes Mal dieselben Unwahrhei-
ten.
Sie wissen haargenau, dass das Wachstum von 1992 bis
1998, also unter der Regierung Kohl, im Durchschnitt
1,3 Prozent betragen hat. Das ist die geringste Durch-
schnittsrate aller EU-Länder. Unser Land ist seit 1993/94
beim Wachstum das Schlusslicht der EU.
– Warum schreien Sie „falsch“? Ich habe Ihrem Frak-
tionsvorsitzenden einmal einen Brief geschrieben und
ihm zu allem, was er in diesem Zusammenhang gesagt
hat, die entsprechenden Zahlen geliefert. Ich habe niemals
eine Antwort bekommen.
Noch einmal: In diesen vier Jahren, in denen wir regiert
haben – damit Sie das richtig verstehen: das sind die ers-
ten vier Jahre der Regierung Schröder –,
lag das durchschnittliche Wachstum bei etwa 1,6 Prozent.
Das ist nicht sehr viel mehr, aber etwas mehr. Dieses
höhere Wachstum erzielten wir, obwohl in den letzten vier
Jahren, im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit in den 90er-
Jahren, eine Baukrise herrschte. Hinzu kam eine ganz ein-
malige Entwertung der Kapitalien an der Börse. Ich erin-
nere auch an die Ereignisse vom 11. September 2001, über
dessen mittel- und langfristige Verunsicherungswirkung
auf Wachstum und Investoren wir noch gar nicht Bescheid
wissen.
Trotz all dieser Faktoren und trotz der Tatsache, dass in
diesem Lande alles so schlecht ist, wie Sie sagen, haben
wir eine höheres Wachstum erzielt. Aber ich sage deut-
lich: Es war nicht das Wachstum, das ich erzielen wollte,
als ich als Wirtschaftsminister angetreten bin. Deswegen
werde ich daran weiterarbeiten.
Nun erteile ich demKollegen Franz Thönnes für die SPD-Fraktion das Wort.
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Hartmut Schauerte25505
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Nachdem der Wirt-schaftsminister der Opposition noch einmal erklärt hat,welche Fortschritte sie als Rückschritt sieht, muss aucheinmal deutlich gemacht werden, was ein wirklicherRückschritt in diesem Land wäre. Ein wirklicher Rück-schritt wäre nämlich, wenn die Opposition mit ihrer fi-nanziellen Konzeptionslosigkeit und ihrer Uneinigkeitwieder an der Stelle anknüpfen könnte, an der sie 1998aufhören musste. Das wird am 22. September nicht ge-schehen.
Wir haben vor einigen Wochen schon einmal über dieVorschläge der Hartz-Kommission diskutiert. Seinerzeitgab es in den Reihen der Opposition, ähnlich wie beimRennhunderennen, ein Hecheln in den Boxen und jederwollte als Erster auf die Startbahn kommen. Heute fällt Ih-nen nichts Besseres ein, als die Konzeption der Kommis-sion zu zerreden und sie schlecht zu machen. Die Regie-rungskoalition macht aber mit ihrem heute vorliegendenAntrag deutlich, dass sie auf die breite Allianz der Ver-nunft setzt, die im Hartz-Bericht in dem einstimmigen Vo-tum der Vertreterinnen und Vertreter von Wirtschaft, Po-litik, Wissenschaft und Gewerkschaften zum Ausdruckkommt. Für uns sind flexible Arbeitsmärkte und sozialeGerechtigkeit keine Gegensätze, sondern zwei Seiten einund derselben Medaille.
Wir lassen uns unsere Arbeit nicht von Ihnen schlecht-reden. Es ist schon mehrfach festgestellt worden und wirbleiben dabei: Der Aufwuchs von 1,1 Millionen Beschäf-tigten ist ein gutes Ergebnis. Wir hätten uns gern mehr ge-wünscht. Aber die Behauptung, dies seien alles geringfü-gige Beschäftigungsverhältnisse, ist schlichtweg falsch.Darunter sind 800 000 neue Vollzeitjobs. Das ist dieWahrheit und das ist ein Fortschritt.
Hören Sie auf, das Land schlechtzureden! Wir brau-chen keine Miesmacher und Schlechtredner, sondernMenschen wie Peter Hartz und die Mitglieder seinerKommission, die Vorschläge erarbeiten, die wir alsChance begreifen, gemeinsam die Verantwortungwahrzunehmen und die Arbeitslosigkeit in den kom-menden Jahren deutlich zu senken. Wer das als „Ge-quatsche“ abqualifiziert, wie es Ihr Kanzlerkandidat tut,auf den fällt der Vorwurf des Gequatsches selbst zurück.Wir packen das jetzt an, anstatt dieses Land schlechtzu-reden.
Monat für Monat bis zum Mai des letzten Jahres ist dieArbeitslosigkeit in diesem Land gesunken. In IhrerAmtszeit von 1994 bis 1998 stiegen die Arbeitslosenzah-len – teilweise sogar bei einer besseren amerikanischenKonjunktur – um 700 000. Wenn wir heute abrechnen,liegen wir um 100 000 Arbeitslose unter der Zahl, die wirvon Ihnen übernommen haben. Wenn wir Ihre Tricksereiund Täuscherei mit dem Aufwuchs an Beschäftigungdurch ABM und SAM noch hinzurechnen, würden wir ei-gentlich um 400 000 darunter liegen. Das ist die Wahrheit.
Deswegen geht es jetzt darum, Schnelligkeit und Dy-namik in den Arbeitsmarkt zu bringen. Wir haben nach derEinführung des guten Job-AQTIV-Gesetzes feststellenmüssen, dass die Vermittlung in den Arbeitsämtern nichtso schnell vorangeht, wie wir das wollen. Wir haben fest-gestellt, dass arbeitslose Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer häufig nicht über die Qualifikation verfügen, diein den Betrieben nachgefragt wird. Trotz des Engage-ments der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundes-anstalt für Arbeit stellen wir fest, dass nicht genügendSpielraum vorhanden ist, damit ihre Arbeit auch wirklicherfolgreich ist. Deswegen ist es gut, dass mit dem Entwurfder Hartz-Kommission nun Vorschläge zu einer neuenOrdnung auf dem Arbeitsmarkt vorgelegt werden.
Das Prinzip, das wir mit dem Job-AQTIV-Gesetz ein-geführt haben, nämlich zu fördern und zu fordern, ent-spricht der Grundlinie der Vorschläge dieser Kommission.An dieser Stelle muss einmal deutlich gesagt werden, dasseiner der Vorschläge, der die Situation unserer Sozialhil-feempfänger wirklich radikal verändern wird, darin be-steht, dass jeder erwerbsfähige Arbeitslose zukünftig auchAnspruch auf die Leistungen der Arbeitsförderung hat.Dies gilt insbesondere für erwerbsfähige Sozialhilfeemp-fänger. Dabei handelt es sich um eine qualitative Besser-stellung, die Sie nie zustande bekommen haben.
Die Einführung von Jobcentern wird dazu führen, dassden Menschen endlich Hilfe aus einer Hand gewährt wird,dass endlich Schluss ist mit dem Verschiebebahnhof bzw.mit dem Rennen von Pontius zu Pilatus. Es wird ein Ser-viceangebot für diejenigen entstehen, die Arbeit suchen,und diejenigen, die Arbeit zu bieten haben, für Mittelstandund Handwerk.Die Personal-Service-Agenturen werden den hohensozialen Anspruch, den wir in diesem Land eigentlichhaben, verwirklichen, nämlich Arbeitslosigkeit zu ver-hindern, das heißt, Menschen die Möglichkeit zu geben,entweder im Rahmen eines Leiharbeitsverhältnisses zuarbeiten oder sich für eine neue Arbeit qualifizieren zulassen. Die soziale Ausgewogenheit der Vorschläge vonPeter Hartz und seiner Kommission wird dadurch deut-lich, dass neue Formen der Beschäftigung mit neuen For-men sozialer Sicherheit einhergehen, dass endlich Tarif-verträge den Bereich der Leiharbeit regeln und damit eineverlässliche Grundlage für die Arbeitgeber und für dieArbeitnehmer sind.
Ebenso wichtig ist der Einstieg in neue Formen derSelbstständigkeit, mit deren Hilfe man gleichzeitig ver-sucht, die Schwarzarbeit abzubauen. Genau dies wird pas-
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sieren, wenn wir die Beschäftigungspotenziale nutzen,die es bei den hauswirtschaftlichen Dienstleistungen gibt.Wir wollen den Menschen die Chance geben, neue For-men der Selbstständigkeit auszuprobieren. Im Rahmeneines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-hältnisses soll gewährleistet werden, dass man bis zueinem Einkommen von 500 Euro im Bereich der Privat-haushalte arbeiten kann. Das soll mit einer Steuerabzugs-möglichkeit oder mit einer steuerfinanzierten Zulage fürdie Arbeitgeber gefördert werden. Auch das wird ein so-zialpolitischer Fortschritt sein.Wenn man sich die Vorschläge anschaut, die wir imBereich der Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozial-hilfe aufgreifen, dann stellt man fest, dass es zukünftig einFördergeld für alle erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängergeben wird, das heißt, dass diese Menschen nicht längerdiskriminiert werden. Sie erhalten in den Beschäftigungs-förderungsgesellschaften und den Personal-Service-Agen-turen Angebote. Damit wird endlich der Satz eingelöst,dass Solidarität keine Einbahnstraße sein muss. Die Men-schen erhalten eine Beschäftigungsperspektive und wer-den auf keinen Fall unter Ihren Vorschlägen leiden müs-sen, wonach die Arbeitslosenhilfe auf das Niveau derSozialhilfe gekürzt werden soll. Ihnen ist schlichtwegnichts anderes als Kappen und Kürzen eingefallen. Daswird es mit dieser Regierung nicht geben.
Wie verhält sich nun die Arbeitgeberseite? – Wennüber Drückebergerei in diesem Land geredet wird, dannmöchte ich an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen, dassdie Arbeitgeber jetzt aufgefordert sind, den privaten Ver-mittlern und der Arbeitsverwaltung alle offenen Stellen zumelden. Sie sind des Weiteren aufgefordert, endlich die1,7 Milliarden Überstunden schrittweise in neue Arbeits-plätze umzuwandeln. Mit dieser Drückebergerei in unse-rem Land muss endlich Schluss sein!
Nun möchte ich auf das Verhalten der Opposition zusprechen kommen. Stoiber hat am 11. August in Celle zuden Vorschlägen der Hartz-Kommission gesagt: All dasHartz-Gequatsche nützt uns nichts. Herr Späth hat gesagt:Das Papier stellt keine Basis dar, auf der wir aufbauenkönnen. Frau Merkel hat einen Tag später gesagt: Es istdoch ganz unstrittig, dass alles, was der Bekämpfung derArbeitslosigkeit dient – und das sagte sie für die gesamteUnion –, natürlich von uns übernommen wird. Der „Süd-deutschen Zeitung“ fällt dazu nichts anderes als Folgen-des ein – ich denke, sie hat völlig Recht –:Das Hartz-Konzept enthüllt trotz mancher Schwächenvor allem eines: Der Union fällt noch weniger gegenArbeitslosigkeit ein.Der „Tagesspiegel“ setzt noch einen drauf: Statt dassdie Union über Lösungen debattiert, „statt Unterschiedeaufzuzeigen, wo es sie gibt, und Gemeinsamkeiten geltenzu lassen, spielt sie“ – das haben auch wir heute erlebt –„in Klamauk. Und das sollen nun die ernsten Leute für dieernsten Zeiten sein?“ Ich sage: Das waren 1998 diefalschen Leute! Und das sind auch 2002 die falschenLeute!
Mit Ihrem Oppositionsprogramm – schlechtreden stattanpacken, Finanzierung auf Pump, Abbau sozialer Leis-tungen und Attacken auf die Arbeitnehmerrechte – wür-den wir in die Zeit der Regierung Kohl zurückgehen. Daswäre ein wahrer Rückschritt. Das, was in Ihrem Pro-gramm steht, bedeutet Kappen und Kürzen sowie Dema-gogie und Druck. Sie stellen den Flächentarifvertrag undden Kündigungsschutz infrage.
Sie wollen unsere Reformen des Betriebsverfassungs-gesetzes zurückdrehen. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis:Auch für die Wirtschaft in Deutschland wird gelten, dassdie Demokratie nicht vor den Betriebstoren Halt macht.
Sie können ganz sicher sein, dass die Demokratie am22. September eine klare Entscheidung treffen wird. DerGeneralsekretär des Zentralverbandes des DeutschenHandwerks, Hanns-Eberhard Schleyer, hat zu Ihrer ab-lehnenden Haltung gegenüber den Hartz-Vorschlägen – erist Mitglied dieser Kommission – deutlich gesagt: DieUnion sollte aufpassen. Sie sollte nicht in altes Schub-ladendenken verfallen. Ich denke, er hat Recht.Bleiben Sie in Ihrer Schublade! Richten Sie sich dort gutein! Auf dem Schild, das nach dem 22. September auf IhrerSchublade sein wird, wird „Opposition“ stehen. Damit wirdganz deutlich: Die Täter von gestern taugen nicht als Sa-nitäter für morgen, wenn es darum geht, dieses Land zu mo-dernisieren und dabei soziales Augenmaß walten zu lassen.
Ich erteile dem Kolle-
gen Singhammer das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr KollegeThönnes, Sie können so laut und so schnell reden, wie Siewollen; eines können Sie nicht wegreden, nämlich dassSie im zentralen Politikbereich der Bekämpfung der Ar-beitslosigkeit gescheitert sind.
All Ihre Versprechungen in Bezug auf die Bekämpfungder Arbeitslosigkeit und die Schaffung von mehr Be-schäftigung haben Sie nicht eingelöst. Die SchlussbilanzIhrer rot-grünen Bundesregierung ist ein dramatischerVerlust an Beschäftigung.
Weil immer weniger in Arbeit und Brot sind, entgleitenIhnen die Sozialversicherungssysteme, die Renten-, dieKranken-, die Pflege- und die Arbeitslosenversicherung.
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Franz Thönnes25507
Entscheidend ist: Sie sind in einem zentralen Punkt ge-scheitert. Der Minister für Arbeit, Herr Riester, muss nachdieser Bilanz den Titel „Minister für Arbeitslosigkeit“tragen.
Herr Kollege
Thönnes, Sie können antworten. – Bitte sehr.
Werter Kollege Singhammer,
es war klar, dass Sie das Wort zu einer Kurzintervention
ergreifen mussten. Denn es ist Ihnen nicht gelungen, auf
die Rednerliste Ihrer Partei zu kommen.
Ich will Ihnen noch einmal deutlich sagen: Angesichts
von 1,2 Millionen mehr Beschäftigten, der höchsten Be-
schäftigtenzahl seit der deutschen Wiedervereinigung,
nämlich im Jahr 2001, angesichts eines Abbaus der Ar-
beitslosenzahlen bei den älteren Arbeitnehmern um gut
400 000, einer Reduzierung der Arbeitslosenzahlen bei
den Schwerbehinderten um gut 36 000 und der Schaffung
einer neuen Perspektive für junge Menschen, die sonst
keine Ausbildung bekommen hätten – wir haben ihnen
mit dem JUMP-Programm geholfen, Arbeit und Ausbil-
dung zu finden; das betrifft gut 451 000 –, brauchen wir
uns Ihre Unwahrheiten, Ihre Demagogie und Ihr Schlecht-
reden in diesem Parlament nicht gefallen zu lassen.
Es ist auch überhaupt kein Fehler, wenn wir sagen: Wir
haben uns mehr vorgenommen. Schauen Sie sich einmal
die Prognosen all der Wirtschaftsinstitute an, die Anfang
2001 Prognosen abgegeben haben! Alles war darauf aus-
gerichtet, dass es mit guten Wachstumsraten weitergeht.
Das ist so nicht eingetreten. Wir könnten heute ja einmal
darüber streiten, warum die Arbeitslosenrate rund um
München rapide ansteigt, und darüber, ob das etwas mit
der Staatsregierung in Bayern zu tun hat, ob das etwas mit
der Bundesregierung zu tun hat oder ob das auch etwas
mit weltwirtschaftlichen Einflüssen auf den neuen Markt
und an den Börsen zu tun hat.
Eines ist aber klar: Wer in Bayern mit 1,2 Milliarden
Euro an der Kirch-Pleite beteiligt ist, der sollte hier
schweigen; denn er sollte eigentlich etwas für seine struk-
turschwachen Regionen in Franken, vor allem in Ober-
franken, und in anderen Gegenden tun. Dort hat Ihr Kan-
didat versagt. Dort haben Sie als weiß-blaue Partei
versagt. Es gäbe noch genügend andere Beispiele, die wir
hier anbringen könnten.
Ich sage Ihnen abschließend noch einmal: Die Täter
von gestern taugen nicht als Sanitäter für morgen.
Bevor wir die Haus-haltsberatungen fortsetzen, kommen wir zu einer Reihevon Abstimmungen. Ich bitte vor allem die Geschäftsfüh-rer um Aufmerksamkeit, damit wir alles richtig machen.Tagesordnungspunkt 2 a. Wir kommen zur Abstim-mung über den von den Fraktionen der SPD und desBündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf einesFlutopfersolidaritätsgesetzes auf Drucksache 14/9894.Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 14/9934, den Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – DieGegenprobe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen derFDP bei Stimmenthaltungen ist der Gesetzentwurf inzweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Gegen die Stim-men von FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU ist derGesetzentwurf angenommen.Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-tion der PDS auf Drucksache 14/9941. Wer stimmt fürdiesen Entschließungsantrag? – Die Gegenprobe! – DerEntschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS ab-gelehnt.Abstimmung über den Entwurf eines Hochwasser-schaden-Ausgleichsgesetzes der Fraktion der PDS aufDrucksache 14/9895. Der Finanzausschuss empfiehlt un-ter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 14/9934, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ab-gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnungdie weitere Beratung.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 2 b: UnterBuchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss die Ableh-nung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-sache 14/9905 mit dem Titel „Schnelle Hilfe für dieFlutopfer“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Die Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSUbei Enthaltung der FDP angenommen.Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss dieAblehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Druck-sache 14/9899 mit dem Titel „Stärkere Beteiligung vonGroßunternehmen an der Bewältigung von Hochwasser-schäden durch Körperschaftsteuer auf Veräußerungs-gewinne“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Die Gegenprobe! – Die Beschlussempfehlung ist gegendie Stimmen der PDS angenommen.Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss dieAblehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Druck-sache 14/9900 mit dem Titel „Stärkere Beteiligung vonKapitalgesellschaften an der Bewältigung von Hochwas-
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Johannes Singhammer25508
serschäden durch Erhöhung der Körperschaftsteuer-sätze“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Die Beschlussempfehlung ist ge-gen die Stimmen der PDS angenommen.Unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss dieAblehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Druck-sache 14/9901 mit dem Titel „Bewältigung der Flutka-tastrophe gerecht finanzieren – Vermögensabgabe erhe-ben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Die Beschlussempfehlung ist gegendie Stimmen der PDS angenommen.Unter Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss dieAblehnung des Entschließungsantrags der Fraktion derFDP auf Drucksache 14/9908 zu der Regierungserklärungdes Bundeskanzlers zu den Maßnahmen zur Bewältigungder Hochwasserkatastrophe. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist gegen dieStimmen der FDP bei Stimmenthaltung der CDU/CSUangenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a: Ab-stimmung über den Antrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 14/9891 mit dem Titel „Handeln für mehr Ar-beit – sinnvolle Reformvorschläge der Hartz-Kommis-sion jetzt beraten und umsetzen“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Gegen dieStimmen der FDP ist der Antrag abgelehnt.Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPDund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf Druck-sache 14/9946 mit dem Titel „Neue Beschäftigung –schnelle Vermittlung – erstklassiger Service – Reform-vorschläge der Hartz-Kommission unverzüglich umset-zen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Gegen die Stimmen von PDS,CDU/CSU und FDP ist der Antrag angenommen.Abstimmung über den Antrag der Fraktion derCDU/CSU auf Drucksache 14/9944 mit dem Titel „Zeitfür Taten – Offensive für mehr Beschäftigung“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Bei Enthaltung der FDP ist der Antraggegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS aufDrucksache 14/9940 mit dem Titel „Neue Arbeitsplätzestatt Druck auf Arbeitslose – Beschäftigungspolitik mitsozialem Augenmaß tut Not“. Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-trag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
– Drucksachen 14/8448, 14/8911, 14/9535,14/9795, 14/9888, 14/9937 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Norbert WieczorekMir wurde mitgeteilt, dass eine Berichterstattung zudiesem sowie zu den folgenden Vermittlungsergebnissennicht gewünscht wird. Wird das Wort zu Erklärungen ge-wünscht? – Das ist nicht der Fall.Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschussesauf Drucksache 14/9937? – Wer stimmt dagegen? – Allestimmen zu. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
rung des Telekommunikationsgesetzes– Drucksachen 14/9194, 14/9237, 14/9711,14/9793, 14/9889, 14/9938 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Norbert WieczorekHerr Dr. Wieczorek wünscht nicht das Wort zur Be-richterstattung. – Ich sehe auch keine Wortmeldungen zuErklärungen. Wir können somit abstimmen.Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt-lungsausschusses auf Drucksache 14/9938? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Gegen die Stimmen derPDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.Ich rufe nun Zusatzpunkt 3 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
eines Registers über unzuverlässige Unterneh-men– Drucksachen 14/9356, 14/9710, 14/9794, 14/9798,14/9939 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Norbert WieczorekAuch hierzu wird weder zur Berichterstattung noch zuErklärungen das Wort gewünscht. Deswegen kommen wirzur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäߧ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen ge-meinsam abzustimmen ist.Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt-lungsausschusses auf Drucksache 14/9939? – Wer stimmtdagegen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDPist die Beschlussempfehlung angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie Zu-satzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassungzu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 7 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Vizepräsidentin Anke Fuchs25509
– zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENReform durch Verfassung: Für eine demo-kratische, solidarische und handlungsfähigeEuropäische Union– zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze,Christian Schmidt , Michael Stübgen,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUNotwendige Reformen für die zukünftige EU:Forderungen an den Konvent– zu dem Antrag der Abgeordneten SabineLeutheusser-Schnarrenberger, Ina Albowitz,Hildebrecht Braun , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPDie Zukunft Europas liegt in den Händen desKonvents– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Hiksch,Dr. Klaus Grehn, Roland Claus und der Fraktionder PDSEin anderes Europa ist möglich – Im Konventdie Weichen für eine demokratische, solida-rische und zivile Europäische Union stellen– Drucksachen 14/9047, 14/8489, 14/9044,14/9046, 14/9500 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael Roth
Peter HintzeChristian SterzingDr. Helmut HaussmannUwe HikschDer Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-sache 14/9047 mit dem Titel „Reform durch Verfassung:Für eine demokratische, solidarische und handlungs-fähige Europäische Union“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU undFDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung desAntrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa-che 14/8489 mit dem Titel „Notwendige Reformen für diezukünftige EU: Forderungen an den Konvent“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der FDP istdie Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung desAntrags der FDP auf Drucksache 14/9044 mit dem Titel„Die Zukunft Europas liegt in den Händen des Konvents“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung derCDU/CSU ist die Beschlussempfehlung gegen die Stim-men der FDP angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss für die Angele-genheiten der Europäischen Union unter Nr. 4 seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 14/9500 die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksa-che 14/9046 mit dem Titel „Ein anderes Europa ist mög-lich – Im Konvent die Weichen für eine demokratische,solidarische und zivile Europäische Union stellen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da-gegen? – Damit ist die Beschlussempfehlung gegen dieStimmen der PDS angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 7 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 13 aüber die dem Deutschen Bundestag zugeleitetenStreitsachen vor dem Bundesverfassungsge-richt– Drucksache 14/9932 –Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Alle haben dafür gestimmt; damit istdie Beschlussempfehlung angenommen.Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 4:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 412 zu Petitionen– Drucksache 14/9915 –Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9947 vor, über den wir zuerst ab-stimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU? –Wer stimmt dagegen? – Damit ist der Änderungsantragabgelehnt.Wer stimmt für die Sammelübersicht 412 auf Drucksa-che 14/9915? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ist die Sam-melübersicht angenommen.Wir setzen die Haushaltsberatungen mit der Beratungüber die Einzelpläne der Geschäftsbereiche des Bundes-ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit, des Bundesministeriums für Verbraucherschutz,Ernährung und Landwirtschaft und des Bundesministeri-ums für Gesundheit fort. Außerdem rufe ich Tagesord-nungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstSeehofer, Karl-Josef Laumann, WolfgangLohmann , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSUKlarheit über finanzielle Situation in der ge-setzlichen Renten- und Krankenversicherungvor der Bundestagswahl schaffen– Drucksache 14/9945 –Wir beginnen nun mit der Debatte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Vizepräsidentin Anke Fuchs25510
– Das Thema ist interessant genug, Sie dürfen gerne hierbleiben.
Wer hier bleibt, möge sich hinsetzen.Nun hat der Bundesumweltminister, Herr Trittin, dasWort.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die Umwelt- und Naturschutz-verbände dieses Landes haben sich im Vorfeld der Bun-destagswahl mit den Alternativen, die zur Wahl stehen,beschäftigt.
Sie haben eine klare Bilanz gezogen. Der Naturschutz-bund Deutschland sagt wörtlich:Die vergangenen vier Jahre waren für die Umwelt-und Klimaschutzpolitik die erfolgreichste Legisla-turperiode überhaupt.
In all diesen Jahren müssen Sie von der Opposition in ei-nem anderen Land gelebt haben, weil Sie – ausweislichIhrer blauen Plakate – jetzt die Zeit für Taten gekommensehen.
Bei der ökologischen Modernisierung Deutschlandshat es in den vergangenen vier Jahren keinen Reformstaugegeben. Klimaschutz, Energiewende, Naturschutz – wirhaben unsere Ziele durchgesetzt. Die einzigen, die indieser Zeit versucht haben, solche Reformen zu stauen,sind die gleichen, die nach wie vor daran festhalten,Donau und Elbe stauen zu wollen, nämlich die Unionvon Edmund Stoiber und die Neoliberalen von GuidoWesterwelle.
Diese umweltpolitische Ignoranz verwundert natürlichnicht. Seit Helmut Kohl den letzten namhaften Umwelt-politiker ins damalige Umzugsministerium strafversetzthat, klafft bei den Schwarzen in der Umweltpolitik eingroßes schwarzes Loch. So brauchten Laurenz Meyer undWolfgang Schäuble drei Tage Klausur – es hat von Mitt-woch bis Freitag gedauert –, um noch eine umweltpoliti-sche Forderung in das Sofortprogramm der Regierunghineinzubekommen. Ein bahnbrechender Vorschlag istdabei herausgekommen: Sie wollen das Dosenpfand ab-schaffen.
Die kleinen und mittelständischen Brauereien, dieBrunnen, der Getränkeeinzelhandel und die 250 000 Be-schäftigten in dieser Branche haben Ihnen heute die Ant-wort auf diesen Vorschlag gegeben. In Anzeigen und Ak-tionen in fast allen größeren Zeitungen fordern sie Sie auf,das Dosenpfand für den Schutz ihrer Investitionen, fürden Schutz ihrer Arbeitsplätze und für den Schutz derLandschaft endlich einzuführen und von diesem Kurs ab-zukehren.
Stattdessen habe ich lesen müssen, dass CDU/CSU undFDP der Auffassung sind, das Verwaltungsgericht Düs-seldorf habe ein kluges Urteil gefällt, als es gesagt habe,dass es an der Rechtsgrundlage für die Verordnungs-ermächtigung fehle. Meine Damen und Herren von derrechten Opposition, Sie haben sich ein wenig zu früh ge-freut. Was kritisiert nämlich das Verwaltungsgericht Düs-seldorf? Es kritisiert CDU/CSU und FDP. CDU/CSU undFDP haben Anfang der 90er-Jahre die Verpackungsver-ordnung beschlossen, CDU/CSU und FDP haben Anfangder 90er-Jahre das Kreislaufwirtschaftsgesetz beschlos-sen und CDU/CSU und FDPhaben noch 1998 die Rechts-grundlage vom Töpfer-Pfand zum Merkel-Pfand umge-wandelt.In einem Punkt kann ich Sie beruhigen: Der grüne Bun-desumweltminister wird das von Ihnen geschaffene Rechtauch gegen die Dosenlobby aus Warstein und Bitburg undgegen die Aldis und Metros verteidigen. Er hat dabei guteKarten; denn er hat eine große Zahl der Gerichtsentschei-dungen auf seiner Seite.
An diesem Punkt setzen wir auf eine schnelle Ent-scheidung, weil wir der Auffassung sind, dass der Vor-marsch von Plastik und Dosen zulasten der Umwelt unddes Mittelstandes ein Ende haben muss. Vor allem aberhaben wir bei dieser Politik die übergroße Mehrheit derBevölkerung auf unserer Seite; sie erwartet von uns näm-lich, endlich Maßnahmen gegen die zunehmende Vermül-lung unserer Parks und Landschaften durch Plastikfla-schen und Dosen zu ergreifen.
„Zeit für Taten“, dieses Motto haben wir schon ernstgenommen, bevor Sie ein Plakat mit der entsprechendenAufschrift entworfen hatten.
Wir haben die Reduktion von Treibhausgasen in vier Jah-ren von 15 auf über 19 Prozent erhöht. Jetzt trennen unsnoch 2 Prozent von dem Ziel, das wir 2012 erreichen sol-len. Wir waren gerade in den Sektionen sehr erfolgreich,in denen unter Ihrer Regierung nie etwas passiert ist. AlsSie regierten, sanken in diesen Sektionen die Emissionennicht, sondern stiegen. Wir haben dafür gesorgt, dass dieTreibhausgasemissionen im Verkehr erstmals zurückge-gangen sind: 2000 um einen Prozentpunkt, 2001 um ein-einhalb Prozentpunkte.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Vizepräsidentin Anke Fuchs25511
Wir haben in den vergangenen vier Jahren dafür ge-sorgt, dass die Treibhausgasemissionen der privatenHaushalte sogar um 18 Prozentpunkte gesunken sind. Daswäre ohne die Ökosteuer nicht möglich gewesen. Daswäre auch ohne massive Investitionen nicht möglich ge-wesen. Wir haben allein 1 Milliarde Euro in die energeti-sche Gebäudesanierung investiert. Als wir von Ihnen dieRegierung übernahmen, war da eine große schwarze Null.Wir haben in den vergangenen vier Jahren den Anteil dererneuerbaren Energien von 4,5 auf 8 Prozent gesteigert.Wir haben die Mittel des Marktanreizprogramms fürerneuerbare Energien von 48 Millionen Euro auf540 Millionen Euro aufgestockt.Das alles sind Taten. Die Ergebnisse können Sie heutesehen. Die installierte Solarkollektorfläche haben wir invier Jahren verdreifacht. Sie haben im Schnitt pro Jahr300 000 Quadratmeter neue Fläche zustande gebracht.Wir werden allein in diesem Jahr 1 100 000 Quadratme-ter Fläche verlegen. Anders gesagt: Das, wofür Sie vierJahre gebraucht haben, haben wir in einem Jahr geschafft.Wir haben den Umfang der Neuinstallierung bei der Pho-tovoltaik verfünffacht und die Leistung der Windkraftverdreifacht. Das sind Taten.Im gleichen Zeitraum ist der Primärenergieverbrauchzurückgegangen. Sie, also auch Herr Stoiber, schreiben inIhrem Sofortprogramm:Wir werden das Erneuerbare-Energien-Gesetz ver-bessern.Fragen Sie einmal in der Branche der erneuerbaren Ener-gien herum! Da wird diese Ankündigung als Drohung auf-gefasst.
Was die erneuerbaren Energien angeht, weiß man, dassBayern Schlusslicht bei der Nutzung der Windenergieist. Man weiß, dass sich Frau Merkel offensiv gegen dieEinspeisevergütung bei der Windenergie ausgesprochenhat. In dieser Branche weiß man auch, was in Dänemarkpassiert ist, nachdem eine Koalition von Konservativenund Rechtspopulisten die Regierung übernommenhatte.
Dänemark, das auf dem Gebiet der Windenergie ein Vor-reiter war, hinkt nun nach. Die Windenergiebranche, diedort einstmals boomte, ist völlig zusammengebrochen.Unsere Politik war an dieser Stelle nicht nur für dieUmwelt, sondern auch für die Unternehmen und den Ar-beitsmarkt gut. Allein der Umsatz der Photovoltaik hatsich versiebenfacht. Allein die Zahl der Arbeitsplätzeim Bereich der Windenergie hat sich verdreifacht. Wirhaben mit der Energiewende 60 000 neue Arbeitsplätzeallein auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien ge-schaffen, wobei der Schwerpunkt in Ostdeutschlandlag.
Diese Erfolge sind in Gefahr, wenn Sie darangehen, dasErneuerbare-Energien-Gesetz rückgängig zu machen; Siehaben es „verbessern“ genannt.
Das DIW prognostiziert 250 000 neue Arbeitsplätzeallein durch die ökologische Steuerreform bis 2003. Siewollen auch da nicht mitmachen. Prognos rechnet mitknapp 200 000 neuen Arbeitsplätzen, wenn wir bis 2040die CO2-Emissionen um 40 Prozent senken. Dieses40-Prozent-Ziel, meine Damen und Herren von derUnion, würde Ihr Wahlprogramm wirklich schmücken.
Wir haben gezeigt, dass man mit einer energiepoliti-schen Wende tatsächlich Arbeit schaffen kann. Wir habenallein auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien mehrArbeitsplätze geschaffen, als es im Bereich der von Ihnenso gehätschelten Atomindustrie je gegeben hat. Es gehtam 22. September auch darum, ob die ältestenReaktoren in Stade, Obrigheim und Neckarwestheim end-lich vom Netz gehen oder ob, wie es die CDU in Baden-Württenberg fordert, ihre Laufzeiten verlängert werden.
Auch geht es darum, ob in Zukunft wieder Steuermilliar-den verschwendet werden, um Ihre Fiktion vom Bau von50 bis 70 neuen Atomkraftwerken hier in Deutschland of-fen zu halten.
Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu einem wei-teren Punkt machen, bei dem wir etwas getan haben,woran Sie gescheitert sind. Wir haben die Fläche der Na-turschutzgebiete in den neuen Ländern verdoppelt undmit dem neuen Bundesnaturschutzgesetz eine Regelungfür einen modernen Naturschutz geschaffen. Sie wissen,dass der von mir geschätzte Klaus Töpfer daran geschei-tert ist, weil Sie von der CDU/CSU ihn daran gehinderthaben.
Sie haben auch dieses neue Gesetz bekämpft. Sie ha-ben angekündigt, es rückgängig zu machen. Aber waszeigte sich während der Flut? War es etwa nicht richtig,dass wir auf der Basis dieses Gesetzes darangegangensind, Deiche rückzuverlegen, zum Beispiel an der Saale,der Elbe in der Prignitz mehr Raum zu geben?
War und ist es nicht vernünftig, durch einen Biotopver-bund Auwälder wiederherzustellen, damit das Wasser inden Auwäldern bleibt, anstatt in Passau oder Dresden indie Keller zu fließen?
Ich habe noch das Gejohle in den Ohren,
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Bundesminister Jürgen Trittin25512
als ich hier davon gesprochen habe, dass in das Bundes-naturschutzgesetz eine Regelung für die gute, fachlichePraxis der Landwirtschaft gehört. Schauen Sie sich ein-mal die untere Havel an! Ist es nicht etwa wahr, dass derTod von 10 Millionen Fischen dieser Tage hätte verhin-dert werden können, wenn in den Überschwemmungs-poldern nicht Mais angebaut worden wäre? Wo wird dasfür die Zukunft untersagt? Im neuen Bundesnaturschutz-gesetz. Auf Überschwemmungsflächen betreibt man kei-nen Ackerbau, sondern Grünland. Das ist gute fachlichePraxis. Das haben wir im Gesetz festgeschrieben.
Meine Damen und Herren, heute weiß jeder: Guter Na-turschutz ist die beste Vorsorge gegen Hochwasser.Nein,das stimmt nicht: Nicht jeder weiß das. Ich habe mich ge-fragt, warum der Möchtegern-Kanzlerkandidat von derSpaßpartei sich nie auf den Deichen hat sehen lassen. Wardie Zeit dafür nicht reif, liebe Kolleginnen und Kollegen?Oder hat der Autopilot vom „Guidomobil“ versagt?
– Herr Koppelin, bevor Sie sich aufregen, sage ich Ihnen:Ich weiß jetzt, warum Sie nicht dort waren. Ich habe näm-lich nachgesehen. Die Erklärung findet sich in etwas, vondem viele glauben, dass es die FDP nicht hat, nämlich imWahlprogramm
In diesem Wahlprogramm lautet die zentrale umweltpoli-tische Forderung:In der Schifffahrt müssen Maßnahmen gegen denniedrigen Wasserstand auf den Bundeswasserstraßenergriffen werden.
Mit diesem Programm hätte ich mich an Guidos Stelleauch nicht an der Bundeswasserstraße Elbe blicken las-sen, während dort Sandsäcke gefüllt worden sind.
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Nein.
Wissen Sie, Herr Koppelin: Diese Politik erinnert mich
ein bisschen an den Manta-Fahrer, der im Krankenhaus
aufwacht, nachdem er gegen eine Mauer gefahren ist, und
der vom Arzt gefragt wird: Haben Sie denn die Mauer
nicht gesehen? Er sagt: Klar, habe ich sie gesehen. Ich
habe sogar gehupt.
Meine Damen und Herren, am 22. September geht es
auch um die Alternative zwischen solcher umweltpoliti-
scher Ignoranz, die noch im Angesicht des Hochwassers
dafür plädiert hat, neue Staustufen an die Elbe und an die
Saale zu bauen, und einer Politik der ökologischen Mo-
dernisierung. Umweltschutz – das haben wir bewiesen –
schafft Arbeitsplätze und sichert Exportchancen. Umwelt-
schutz ist ein Garant für Wettbewerbsfähigkeit. Wir schaf-
fen dadurch Gerechtigkeit zwischen gesellschaftlichen
Gruppen. Umweltschutz, ernsthaft betrieben, schützt auch
vorbeugend vor Katastrophen.
Ökologische Modernisierung wird es nur mit dieser
Koalition geben. Das wissen die Bürgerinnen und Bürger
im Lande. Deswegen wird der heutige Haushalt nicht der
letzte sein, den wir einbringen, und schon gar nicht der
letzte, den wir hier verabschieden werden.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Kollegin Homburger.
– Diese männliche Reaktion auf die Worterteilung an eine
Kollegin finde ich nicht ganz in Ordnung.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Präsi-dentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte andieser Stelle eines festhalten, Herr Trittin: Sie lesen jaWahlprogramme anderer Parteien sehr kursorisch undbehaupten alles Mögliche, zum Beispiel, dass wir rege-nerative Energien nicht mehr fördern wollten. Sie sagennatürlich nicht, dass wir ein anderes Fördermodell undandere Dinge vorgeschlagen haben. Wir haben in der Tatgesagt, dass wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz sonicht wollen, aber wir haben einen Vorschlag für einmarktwirtschaftliches Fördermodell gemacht. Ichwürde das an Ihrer Stelle einfach einmal zur Kenntnisnehmen.
Dann würde mich interessieren, warum Sie, Herr Kol-lege Trittin, wenn die Klimapolitik der Bundesregierungso wunderbar ist, wie Sie sie beschrieben haben, eigentlichdie ganze Zeit nur noch von europäischen Klimaschutz-zielen bis 2012, nämlich minus 21 Prozent reden. Warum
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Bundesminister Jürgen Trittin25513
reden Sie eigentlich nicht mehr vom nationalen Ziel, bis2005 eine Reduzierung von 25 Prozent zu schaffen?
Die letzte Bemerkung an Herrn Trittin bezieht sich aufden Vorwurf, dass der Bundesvorsitzende der FDP nichtinHochwassergebieten gewesen wäre. Das trifft die Tat-sache nicht. Herr Westerwelle war da, aber er war ohnePressetross da und hat sich ein entsprechendes Bild ge-macht. In einer solch außergewöhnlichen Situation, HerrTrittin, ist es sicherlich richtig, dass der Bundeskanzler,der Bundespräsident und der Ministerpräsident vor Ortsind. Aber dass da alle möglichen Minister mit Pressetrossanreisen und nur verursachen, dass diejenigen, die vor Orthelfen wollen, teilweise von den Hilfsmaßnahmen abge-zogen werden müssen, um aufzupassen, dass Sie nicht insWasser fallen, ist nicht die Art von Solidarität, die wirbrauchen.
Herr Minister, ich er-
teile Ihnen das Wort zu einer Erwiderung.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Liebe Frau Homburger, Sie
müssen einen Küstenbewohner nicht davor bewahren, ins
Wasser zu fallen. Ich habe schon auf Deichen gestanden,
da waren Sie vielleicht noch gar nicht geboren. Insofern
bedarf es dieser Fürsorge nicht. Ich muss allerdings auf
zwei Dinge nachdrücklich hinweisen:
Erstens. Ich habe nicht selektiv zitiert, sondern – ich
lese Ihnen gerne den Auszug aus dem Internet vor – im
Programm der FDP steht:
In der Schifffahrt müssen Maßnahmen gegen den
niedrigen Wasserstand auf den Bundeswasserstraßen
ergriffen werden.
Ich habe darauf hingewiesen und mich in Kenntnis der
Pressemitteilung Ihres Spaßkandidaten, dass er nicht an
die Deiche fahren wolle, gefragt, warum er sich nicht dort
hat blicken lassen. Diese Begründung leuchtet mir unmit-
telbar ein; Sie haben sie noch einmal bestätigt. Wenn Sie
jetzt sagen, er sei dennoch gefahren, dann habe ich keinen
Anlass, das infrage zu stellen. Ich als für Hochwasser zu-
ständiger Bundesminister jedenfalls musste mir natürlich
vor Ort ein Bild machen.
Ich habe aber auch zur Kenntnis genommen, gnädige
Frau, dass wir zu der Stunde, als wir die Pressemitteilung
Ihres Vorsitzenden bekamen, dass er nicht an die Deiche
fahren wolle, und wir gerade an den Deichen angekom-
men waren, eine Kollegin von Ihnen getroffen haben,
nämlich die Fraktionsvorsitzende im Landtag von
Sachsen-Anhalt, Frau Pieper.
Alles, was Sie eben von diesen Menschen gesagt haben,
beziehen Sie bitte auch auf Frau Pieper.
– Ich habe da doch gar nichts kritisiert. Ich weiß gar nicht,
warum Sie sich so aufregen. Sie sind ganz schrecklich
aufgeregt, nur weil ich Ihnen vorhalte, dass sich Frau
Pieper nicht so verhält, wie Ihr Spaßkanzlerkandidat öf-
fentlich in Pressemitteilungen verkündet, wie sich die
FDP verhalten würde.
– Darf ich ausreden, Herr Koppelin? Für diejenigen, die
es offensichtlich nötig haben, hier ihre Nervosität und
Aufgeregtheit zu demonstrieren, sind Sie außerordentlich
ruhig.
Bleiben wir bei folgender Feststellung:
Die FDP – Frau Pieper vorneweg – hat angesichts des
Hochwassers erklärt, sie wolle zusätzliche Staustufen an
der Saale und der Elbe. Genau das ist der politische Kon-
flikt. Deswegen sage ich Ihnen: Diese Ignoranz ange-
sichts des Hochwassers ist schwer erträglich. Den um-
weltpolitischen Offenbarungseid wollte ich Ihnen hier
nicht ersparen.
Für die CDU/CSU-
Fraktion hat jetzt der Kollege Austermann das Wort.
Frau Präsiden-tin! Meine Damen und Herren! Das letzte Mal, dass ichim Zusammenhang mit dem Thema Flut an Herrn Trittingedacht habe, war im Jahre 1981. Da war ich Stadtdirek-tor in Göttingen und wir mussten ihm mit dem Wasser-werfer Rechtsstaat beibringen. Da gab es eine ordentliche,kräftige Wasserflut.
Herr Trittin, Sie haben heute hier die Leistungen derRegierung bei dem Thema erneuerbare Energien gelobt.Wir haben schon Windmühlen an der Küste gebaut, alsSie politisch noch Hemd und Hose aus einem Stück an-hatten.
Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel. Deutschland war1998 Weltmeister bei der Windenergie und bei der Solar-zellenproduktion.
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Birgit Homburger25514
Bei einer Windparkeinweihung vor wenigen Tagen habeich festgestellt: Die Genehmigung für diesen Windpark,der jetzt in Betrieb genommen wurde, wurde 1997 bean-tragt. Sicher war der grüne Umweltminister Müller daranbeteiligt, dass das Ganze nicht schneller umgesetzt wurde.Umweltpolitik und das Thema erneuerbare Energiensind in den letzten Legislaturperioden ganz entscheidendangegangen worden.
Der Unterschied ist, dass wir uns bemüht haben, imJahre 1990 beim Einspeisegesetz Grüne und andere miteinzubeziehen, während Sie sich im Jahre 2000, als dasEEG verabschiedet werden sollte, ganz einseitig in einebestimmte Richtung begeben haben. Wir haben gesagt:Wir warnen vor dem Gesetz – nicht vor der Vergütungs-höhe, aber vor der Tatsache, dass der Mittelstand dabeiunter die Räder kommt, weil die großen Energieversor-gungsunternehmen eine bedeutendere Rolle spielen.Es muss auch Ihnen, wenn Sie heute von Umwelt-schutz reden, klar sein, dass dieser mit Verordnungen zumCO2-Ausstoß und zu Großfeuerungsanlagen sowie derEinführung des Katalysators und des grünen Benzins undvielen anderen Dingen mehr, die in den 16 Jahren unse-rer Regierungszeit geschaffen worden sind, begonnenhat. Es ist töricht, jetzt die Behauptung aufzustellen, un-sere Energiepolitiker hätten gesagt, wir wollten 40 oder50 neue Kernkraftwerke bauen. Davon steht in unseremProgramm nichts, wie Sie feststellen können, wenn Sie essich anschauen.Ich sage Ihnen aber etwas über die Wirkung unsererPolitik. Dabei beziehe ich mich auf befreundete Organi-sationen und Gutachter. Das DIW hat vor kurzem Fol-gendes festgestellt: Beim Ausstoß von CO2 hat es in denJahren bis 1998 eine Reduktion um 15 Prozent gegeben.Gemessen daran – so hat das DIW, das ich politisch eherder SPD zuordnen würde, mit Sicherheit nicht der Union,festgestellt – ist die Schadstoffreduktion in der Zeit von1998 bis 2002 kümmerlich gewesen; etwas Vergleichba-res habe es nicht gegeben.Nun können Sie sagen, das liegt an der Rezession; eswird weniger Schadstoff ausgestoßen und weniger Ener-gie verbraucht. Sie können auch sagen, es lag am mildenWinter. Aber Faktum ist: Es ist mehr CO2 ausgestoßenworden und dem Ziel, eine Reduktion um 25 Prozent zuerreichen – eine Vorgabe aus unserer Regierungszeit –,sind Sie nicht näher gekommen.
Ich will Ihnen ein Letztes zum Thema erneuerbareEnergien in Schleswig-Holstein sagen. Natürlich gibt esin Bayern mehr Wasserkraft als Windmühlen und an derNordseeküste mehr Windmühlen. Das ist ganz klar, dashängt auch mit der Landschaft zusammen. Aber unterhal-ten Sie sich bitte einmal mit Ihrem Umweltminister undmit der Landwirtschaftsministerin in Schleswig-Holsteinüber die Vorbedingungen, die Sie jetzt für Offshorewind-parks geschaffen haben! Wir unterstützen Offshore, Re-powering, erneuerbare Energien und wegen der CO2-Wir-kung auch Kernenergie, was aber nicht heißt, dass wir denBau neuer Kraftwerke wollen. Bevor Sie sich jedoch nichtüber die Bedingungen für neue Offshoreanlagen unterhal-ten haben, brauchen Sie hier in Sachen erneuerbare Ener-gien oder Umweltschutz die Backen nicht aufzublasen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktionspricht jetzt der Kollege Michael Müller.Michael Müller (SPD) (von der Abg.Dr. Margrit Spielmann mit Beifall begrüßt): MeineDamen und Herren! Der Umweltschutz ist nicht nur des-wegen wichtig, weil wir eine Verantwortung für die Le-bensbedingungen zukünftiger Generationen haben. Er istauch deshalb wichtig, weil die ökologische Modernisie-rung mit der Globalisierung einen sehr viel weitergehen-den Stellenwert bekommen hat.Wenn man die Arbeit der Regierung der letzten vierJahre bewertet, dann liegt der zentrale Unterschied zwi-schen der Regierung und der Opposition darin, dass dieeine Seite die ökologische Modernisierung vorantreibtund die andere Seite sie bremst. Auf diesem Unterschiedbasiert die Auseinandersetzung, die wir erleben.
Schauen Sie sich beispielsweise die 18 klimaschutzre-levanten Maßnahmen seit 1998 an. Die Opposition hat ge-gen alle diese Maßnahmen gestimmt. Nicht bei einerMaßnahme hat sie weitergehende Forderungen gestellt.Realität ist, dass Sie gebremst haben. Das ist eine völligandere Situation als in früheren Legislaturperioden, indenen Sie an der Regierung waren und von der Opposi-tion getrieben wurden, weitergehende Positionen durch-zusetzen. In den letzten vier Jahren haben Sie nur ge-bremst oder versucht zu verhindern. Darin liegt derentscheidende Unterschied. Trotz Ihres Widerstandes ha-ben wir viel erreicht, auf das wir stolz sein können.
Weil sich aufgrund der Globalisierung die Perspektivefür eine ökologische Modernisierung erweitert hat, müs-sen wir versuchen, die beiden großen Herausforderungender Zukunft, nämlich die Bekämpfung der Massenar-beitslosigkeit einerseits und die Bewahrung der natürli-chen Lebensgrundlagen andererseits, in einer Politik zu-sammenzuführen und diese Politik sozial verträglich zugestalten. Das ist die Richtungsentscheidung, um die esgeht, und das ist auch die Aufgabe, für deren Bewältigungwir in den nächsten vier Jahren wieder werben werden.Eine Politik der ökologischen Modernisierung ist keinLuxus. Es handelt sich auch nicht um eine Politik, die mannur macht, wenn es einem gut geht oder wenn eine Katas-trophe vor der Tür steht. In dieser Politik liegt vielmehr diegroße Chance, die Zukunftsaufgaben zu bewältigen; dennjede Maßnahme zur Verbesserung der Öko-Produktivität
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Dietrich Austermann25515
und damit zur Senkung des Energie- und Ressourcenver-brauchs bedeutet in der Konsequenz, neue Märkte zu er-schließen, die Umwelt zu schützen, mehr Arbeitsplätze zuschaffen und einen wesentlichen Beitrag für die Entwick-lung der Welt zu leisten. Wir wissen doch: Nach dem heu-tigen Modell des Energie- und Ressourcenverbrauchs darfsich die Welt nicht entwickeln, weil das in den Kollapsführen würde.
Die Wahrheit ist, dass Sie dieses Thema verdrängt ha-ben, weil es Ihnen unbequem ist und weil Sie bei diesemThema nicht viel zu bieten haben. Das Hochwasser hat Siebei diesem Defizit offen gelegt. Um es auf den Punkt zubringen: Das Hochwasser hat deutlich gemacht, dass Siein der Ökologie einen blinden Fleck haben, der jetzt zurChefsache geworden ist. Aber das ändert nichts. Denn wokeine Kompetenz ist, kann man auch nichts ändern.Der Satz, dass die Attraktivität der Politik der ökologi-schen Modernisierung zurückgeht, wenn die Flut zurück-geht, darf sich deshalb nicht bewahrheiten.
Überall in der Welt nehmen nämlich die Alarmsignale zu.Wir hatten beispielsweise in Australien in diesem Jahr dielängste Dürreperiode seit 200 Jahren. Seit Anfang der60er-Jahre schreitet die Wüstenbildung Jahr für Jahrvoran. Wir erkennen, dass in immer zahlreicheren Mee-resregionen die kritische Temperatur von 27 Grad – diesist der Kumulationspunkt für Sturmfluten – in den Deck-schichten überschritten wird. Es gibt Hinweise, dass Endedes Jahres wieder der El Niño auftreten wird.Es geht jetzt um konkrete Hilfe in unserem Land. DasProblem, um das es geht, hat aber Auswirkungen weitüber unser Land hinaus. Die Frage, die sich uns stellt, ist,ob moderne Industriegesellschaften fähig sind, Ökono-mie und Ökologie zu versöhnen. Wir müssen unsere Po-litik weiter verfolgen, weil wir auf diesem Feld ein Vor-reiter sind und ein Vorreiter bleiben wollen.
Wir wollen nicht, dass die Umweltpolitik durch kurzeZyklen bestimmt wird.Die Vorschläge der Opposition zur Umweltpolitik sindaus meiner Sicht mit drei Begriffen zu charakterisieren:unklar, widersprüchlich und rückwärts gewandt. Ich willzu allen dreien etwas sagen.Herr Stoiber kündigt an, dass er einen Umweltpaktankündigen will. Was ist das für eine Umweltpolitik? Erkündigt an, dass er einen ankündigen will. Als er, nach-dem er das groß in der Zeitung verkündet hatte, das auf ei-ner Konferenz hätte tun können, hat er gesagt, er wird ihnankündigen. Das ist Versagen vor einem Zukunftsthema.Anders kann man das nicht nennen.
Stichwort Energiepolitik: Frau Merkel und auch an-dere haben gesagt, sie wollten die Option Atomenergieoffen halten. Wir fragen uns natürlich, warum dieCDU/CSU in der Enquete-Kommission Spielchen betreibt,wie beispielsweise die Forderung nach 50 bis 70 neuenAtomkraftwerken aufzustellen. Ich frage Sie: Machen Siedas als rein theoretisches Spiel oder was steht dahinter?
– Ich weiß, Sie haben da einen Fehler gemacht. Dadurchist deutlich geworden, was bei Ihnen dahinter steht.
Ich sage Ihnen: Selbst die Option auf Atomenergie ist Un-sinn; denn Sie haben nicht begriffen, dass die Frage derEnergieträger und die Frage der Effizienz einen unmittel-baren Zusammenhang bilden. Sie werden mit Atomener-gie keine Effizienz und keine Solarstrukturen aufbauenkönnen. Das ist technologisch und organisatorisch nichtzu vereinbaren. Es geht nicht um den Austausch vonEnergieträgern, es geht vielmehr um ein System, bei demso wenig Energie wie möglich verbraucht wird. Das ist einvöllig anderer Ansatz.
Folgerichtigerweise haben Sie auch das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz abgelehnt. Es enthält nämlich eine andereEnergiephilosophie, eine, die besagt: Vor dem Hintergrundder begrenzten Ressourcen und auch der unzureichendenTragfähigkeit der Ökosysteme besteht moderne Energiepo-litik darin, so wenig Energie wie möglich einzusetzen undnicht einfach nur die Energieträger auszutauschen. Das istgenau der Ansatz, den wir vertreten.
Sie wollen zurück in Dinosauriertechnologien. Wir sagen:Nur eine dezentrale effiziente und die solare Energiever-sorgung kann sich die Welt leisten. Oder wollen Sie bei-spielsweise die alten Großtechnologien in der DrittenWelt aufbauen? Wer soll die eigentlich bezahlen? Wirbrauchen intelligente, dezentrale Systeme.Zweitens. Ihre Umweltpolitik ist widersprüchlich.Herr Stoiber sagte am 18. September 1997 in Sorge überdie Zunahme der Getränkedosen, die seinem Verständnisvon Umweltschutz entgegensteht – ich zitiere –:Wir drängen die Bundesumweltministerin,– sprich: Angela Merkel –das Instrumentarium der Verpackungsverordnung– sprich: Dosenpfand –konsequent anzuwenden.Das ist gerade fünf Jahre her. Seitdem hat sich die Quotezulasten von Mehrweg noch verschlechtert. WelchenGrund sollte es geben, das von Herrn Töpfer eingeführteInstrumentarium heute nicht einzusetzen?
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Michael Müller
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Das kann doch nur Opportunismus sein, nichts anderes.
Der neue Weg sieht so aus, dass Sie eine Quote vorschla-gen, die weit unter der heutigen Mehrwegquote liegt unddamit das Instrument auch ökonomisch völlig uninteres-sant macht. Das wissen Sie doch ganz genau. Ist das denneine verlässliche Politik gegenüber dem Mittelstand, derim Vertrauen auf dieses Gesetz investiert hat? Wie kannman auf der einen Seite behaupten, man sei die Mittel-standspartei, und auf der anderen Seite so eklatant die In-teressen des Mittelstandes verletzen? Das geht nicht zu-sammen, meine Damen und Herren.
Ich will mit der Rückwärtsgewandtheit Ihrer Politik ei-nen dritten Punkt nennen. Die Novelle des Naturschutz-gesetzes ist gegen Sie durchgesetzt worden. Sie warennicht für den Stopp des Baus der Staustufen an der Donau.Sie haben das KWK-Gesetz verhindert. Auch in der Ver-braucherpolitik ist von Ihnen nichts außer den alten Kla-motten zu hören. Wir brauchen doch eine moderne Ver-braucherpolitik, die nicht nur ökologisch orientiert ist,sondern die vor allem auch den Verbraucher stärkt. Mit ei-ner modernen Verbraucher- und Landwirtschafts-politik kann man auch in der globalisierten Welt deutlichmachen, dass man mit einem anderen Umgang mit derNatur die Ernährungsprobleme lösen und gleichzeitig dienatürlichen Lebensgrundlagen schützen kann. Der Verlustvon jährlich 5 bis 6 Millionen Hektar landwirtschaftlicherFläche ist ein dramatisches Alarmzeichen, das auch hin-sichtlich bestimmter Anbaumethoden, die in der Weltpraktiziert werden, gesehen werden muss. ÖkologischeModernisierung bedeutet auch eine neue Landwirt-schaftspolitik. Diese andere Landwirtschaftspolitik liegtauch im Interesse der Landwirtschaft.
Diese drei Kriterien zeigen, dass hier zentrale Unter-schiede zwischen Opposition und Regierungsparteien lie-gen.Wie geht es aus unserer Sicht bei der ökologischenModernisierung weiter? Wir wollen in der nächsten Le-gislaturperiode drei große Aufgaben vorantreiben. Dieerste Aufgabe ist: Wir wollen Arbeit und Umwelt mehrmiteinander verbinden. Mit einer Reduktion des Material-und Energieeinsatzes in unserer Volkswirtschaft könnennicht nur die Importkosten für die Ressourcen und damitdie entsprechenden Kostenbelastung bei den Unternehmenin einer Größenordnung von etwa 80 Milliarden Euro ge-senkt, sondern gleichzeitig zwischen 500 000 und 800 000neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Das sind die Erfah-rungen, die wir mit dem Energiesparen gemacht haben.Dies ist der richtige Weg, um Arbeit und Umwelt mitei-nander zu verbinden. Das ist der Weg, den wir weiterge-hen werden.
Die zweite Aufgabe ist: Wir wollen die ökologischeModernisierung zum Markenzeichen der Entwicklungder Europäischen Union machen. Zum Profil der Euro-päischen Union in der Globalisierung muss die ökologi-sche Modernisierung werden. Das ist die große Chance,die sie gegen die Spekulationsblasen, die es überall in derWelt gibt, hat. Damit kann es gelingen, Produktivität, Ar-beit und globale Friedenspolitik miteinander zu verbin-den.
Hier tragen wir Verantwortung und dieser Verantwor-tung können wir nur nachkommen, wenn die Bundesre-publik weiter Vorreiter bei der ökologischen Modernisie-rung bleibt.
Mein letzter Punkt: Wir müssen mehr Partnerschaftfür die Eine Welt praktizieren. Ökologie heißt, ein ande-res Verständnis von der Einen Welt zu haben.Deshalb lassen Sie mich zusammenfassen: Politikmuss vor allem die langen Ketten beachten; in der Beach-tung der langen Ketten liegt der fundamentale Unter-schied zwischen Regierung und Opposition.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Kollegin Bulling-
Schröter.
Kollege Müller hat hiergeäußert, die Opposition habe 18 sozialökologischen Pro-jekten die Zustimmung verweigert. Die PDS zählt sichauch zur Opposition, zur linken Opposition. Um einigenLegenden vorzubeugen, möchte ich klarstellen: Die PDS-Fraktion im Bundestag hat das Erneuerbare-Energien-Ge-setz unterstützt. Wir haben den Atomkonsens allerdingsnicht unterstützt, weil wir nach wie vor für einen soforti-gen Atomausstieg sind.Wir haben einen eigenen Antrag zur Erhöhung des An-teils der Kraft-Wärme-Kopplung eingebracht. Wir habeneine eigene Novelle des Naturschutzgesetzes eingebracht.Der Antrag zum sanften Donauausbau war von uns,während die CDU/CSU etwas anderes vorhatte. Sie habenunseren Antrag abgelehnt, während wir Ihrem zuge-stimmt haben.Wir möchten, dass die Ökosteuer umgewidmet und dasganze Ökosteueraufkommen in den ökologischen Umbaugesteckt wird. Wir haben Anträge eingebracht, um denRückzug der Bahn aus der Fläche zu verhindern. Wir ha-ben ferner den Antrag eingebracht, die ICE-Strecke Nürn-berg–Erfurt–Berlin nicht so auszubauen, dass ökologi-sche Substanz zerstört wird.Schließlich haben Sie von der Partnerschaft mit derDrittenWelt gesprochen.Nachwie vor steht die Forderungim Raum, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Ent-wicklungshilfe aufzuwenden. Ein diesbezüglicher Antrag
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Michael Müller
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ist von uns eingebracht worden; er wurde von Ihrer Seiteabgelehnt.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem Ausflugin die Umweltpolitik, der zweifellos sehr interessant war,möchte ich nun zur Sozialpolitik zurückkehren.
In der vorigen Debatte haben wir die Sozialpolitik abge-schlossen. Deshalb möchte ich mit dem Thema Gesund-heit wieder in die Debatte einsteigen.Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt heute: „Debatte überein Phantom“. Sie meint damit das, was sich in diesen bei-den Tagen hier im Plenarsaal abspielt. Recht hat sie. Eshandelt sich in der Tat um die Debatte über ein Phantom;denn dieser Haushalt – das wurde schon mehrfach ausge-führt – ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist.Er ist Makulatur.
Dass Sie aber, um zu vertuschen und zu verschönern,vor nichts zurückscheuen, hat der Kollege Franz Thönnesin seiner Rede noch einmal deutlich gemacht. HerrThönnes hat mit großer Emphase behauptet, 1998, alsRot-Grün die Regierung übernommen hat, habe es4,8 Millionen Arbeitslose gegeben. Herr Thönnes weiß,dass das falsch ist. Dies ist die Unwahrheit, die auch durchständige Wiederholung nicht richtiger wird.Im September 1998 war die Zahl der Arbeitslosenschon niedriger als heute. Im Oktober 1998 war sie nocheinmal um 200 000 niedriger, das heißt, sie war deutlichniedriger als heute.
Dies macht deutlich, worum es Ihnen, meine Damenund Herren, geht: Sie wollen verschleiern, dass es in derReformpolitik in den vergangenen vier Jahren Stillstandgegeben hat, dass diese Jahre ein Rückschritt waren undwir im Grunde ganz von vorne anfangen müssen.
Das „Handelsblatt“ schreibt heute: Das größte Pro-blem, vor dem wir stehen, ist der Reformstau. Man mussdie Augen wirklich schon sehr fest vor der Wirklichkeitverschlossen haben, wenn man sich wie Herr Riesterheute Morgen hier hinstellt und sagt: Wir haben unser Re-formprogramm abgearbeitet.
Diese Bundesregierung hat wirklich nichts erreicht. Siehaben Bewegung gemacht, damit sich ja nichts verändert.Dies ist genau der falsche Weg.
Bevor ich eine Bemerkung zur Krankenversicherungmache, möchte ich noch etwas zu einigen anderen Punk-ten ausführen: Die Beitragssätze in der Rentenversiche-rung stehen heute bei 19,1 Prozent. Es ist völlig klar, dassdies nicht ausreicht. Herr Riester sagte dazu in seinerRede kein Wort. Es stellt sich nur noch die Frage, ob derBeitragssatz auf 19,5 Prozent oder noch darüber steigt.
In der Krankenversicherung sind die Beiträge geradeüberall auf im Schnitt circa 14 Prozent angehoben wor-den. Trotzdem liegt das Defizit der gesetzlichen Kran-kenkassen im zweiten Halbjahr 2002 schon wieder bei2,4 Milliarden Euro. Das bedeutet, dass zum Ende desJahres die Beitragssätze schon wieder angehoben werdenmüssen.Was aber sagt diese Bundesregierung dazu? Die Mi-nisterin hat dazu noch die Chance, aber bisher hat dieBundesregierung in dieser Debatte versucht, sich über alldiese Probleme hinwegzumogeln, um die Wähler mög-lichst hinter die Fichte zu führen. Wir werden nicht zulas-sen, dass Sie damit Erfolg haben.
Wenn ich diese beiden Dinge zusammennehme und dieAbgabenquote ausrechne – Sie waren ja so stolz darauf, dieAbgabenquote durch die Einführung der Ökosteuer ge-senkt zu haben –, also das, was unausweichlich vor unsliegt, zusammenrechne, komme ich auf eine Abgabenquotevon 42,2 Prozent. Diese ist höher als diejenige am 31. De-zember 1998, als Sie die Regierung übernommen haben,
und dies, obwohl Sie mit der Ökosteuer eine falsche Ab-gabenquotensenkung von 0,8 Prozent dort hineingemo-gelt haben. Sie sind mit allem, was Sie sich vorgenommenhaben, gescheitert.
Mindestens genauso schlimm sind die unsozialen Aus-wirkungen dieser Politik.
Jeder Arbeitnehmer wird durch diese erhöhten Beitrags-sätze im nächsten Jahr mit circa 50 Euro im Monat zu-sätzlich zur Kasse gebeten.
Wenn man all dies zusammennimmt – verschobene Steu-erreform, eine zusätzliche Stufe der Ökosteuer und die
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Eva Bulling-Schröter25518
steigenden Beiträge in der Renten- und Krankenversiche-rung –, zeichnet sich jetzt schon ab, dass alle Bürger imnächsten Jahr netto deutlich weniger im Portemonnaiehaben werden. Sie aber hatten ihnen genau das Gegenteilversprochen.
Genau das Gegenteil ist aber auch notwendig. Die Bür-ger brauchen mehr Geld, damit sie mehr konsumierenkönnen. Dies bekommt man aber nur, wenn man eine an-dere als Ihre verfehlte Politik macht.
Sie dürfen nicht weiter in der Verantwortung bleiben.
Die Situation in der Krankenversicherung ist in der Tatkatastrophal. Trotz steigender Beiträge werden Operatio-nen verschoben. Kassenpatienten müssen notwendige Arz-neimittel selbst bezahlen, weil im Budget nichts mehr ist.
Dies bedeutet Zweiklassenmedizin. Sie sind die Unsozia-len, die den Bürgern zusätzliche Dinge aufbürden.
Insofern ist es auch kein Wunder, dass deutlich mehr alsdie Hälfte der Bürger sagt, die rot-grüne Gesundheitspo-litik wollen sie nicht haben, weil sie verfehlt ist.
Bisher habe ich von der Ministerin weder zu den kurz-fristigen noch zu den langfristigen Problemen wirklichkonkrete Vorschläge gehört, mit denen die Misere beho-ben werden könnte. Heute Morgen in der Ausschusssit-zung wusste sie sich offensichtlich nicht anders zu helfen,um den Fragebedarf der Opposition abzuwehren, alslange Zahlenkolonnen vorzutragen, denen man wirklichnichts entnehmen kann. Es war ein Bild der Hilflosigkeit,weil sie sich nicht getraut hat, Antworten auf die konkre-ten Fragen zu geben, die uns beschäftigen.
Wir haben nichts von ihr darüber gehört, was sie tun will,um die Beitragsmindereinnahmen in den ostdeutschenBundesländern, die durch das Flutereignis entstandensind, aufzufangen. Wir haben nichts von ihr gehört, wieman in den ostdeutschen Bundesländern, wo bald ganzeLandstriche ohne ärztliche Versorgung dastehen, zu einerVerbesserung der Situation kommen kann. Diese Ent-wicklung haben Sie durch Ihre unselige Budgetierung zuverantworten.
Deswegen ist es dringend notwendig, dass diese abge-schafft wird.
Wir brauchen eine Neuausrichtung des Gesundheitswe-sens.
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt kurz an-sprechen. Ich möchte nachfragen: Frau Ministerin, ist eseigentlich richtig, dass in den vergangenen Wochen inIhrem Ministerium über 30 Stellen angehoben wordensind, und zwar Stellen, die im Wesentlichen, nicht überall,aktive Sozialdemokraten innehaben?
Frau Ministerin, ist es richtig, dass Sie im Gegenzug ausden Mitteln für Prävention und Aufklärung bei Aids undDrogenkrankheiten 1 Milliarde DM abgezogen habenbzw. noch abziehen wollen?
Dies dient angeblich den Flutopfern, hat ganz sicher aberden bereits genannten Hintergrund, da eine andere Mög-lichkeit der Finanzierung dieser Stellenanhebungen nichtgegeben ist.
Frau Kollegin, den-
ken Sie an Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheitspolitik
braucht eine neue Ausrichtung, ohne Bürokratie, ohne
Zwang, mit mehr Vertrauen für die Patienten und für die-
jenigen, die ihre Leistungen erbringen. Das werden wir
tun.
Ich danke Ihnen.
Für die PDS-Fraktion
hat jetzt die Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ob mandiese Debatte wirklich ernst nehmen kann, würde ich in-frage stellen;
denn die Politikfelder Umwelt, Verbraucherschutz undGesundheit werden hier in einer Debatte von einer StundeDauer abgehandelt. Dabei sind alle diese drei Politikfel-der problembeladen. Darum hätte auch jedes einzelneFeld eine eigene Diskussion verdient.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Dr. Irmgard Schwaetzer25519
Ich habe nur fünf Minuten Redezeit. Deswegen halteich es so wie meine Vorrednerin und konzentriere michauf die Gesundheitspolitik. Es werden ja noch zwei her-vorragende Redner nach mir sprechen.Meine Damen und Herren, wenn es wirklich stimmt,dass Haushalt in Zahlen gegossene Politik ist, dann siehtes für den Einzelplan 15 wahrlich nicht rosig aus. DieBundesausgaben für pflegerische Zwecke werden gegen-über den Vorjahren weiter gekürzt. So geschehen ist diesbei den Geldern des Bundes für Modellmaßnahmen zurbesseren Versorgung Pflegebedürftiger, und zwar von19,6 Millionen Euro auf 13,6 Millionen Euro. Ebensowerden die Zuschüsse für die Errichtungs- und Ausstat-tungskosten für Modellpflegeeinrichtungen von 16 Milli-onen Euro auf 10 Millionen Euro gesenkt.Frau Ministerin, wenn im Pflegebereich in unseremLand wirklich alles in Ordnung wäre, dann könnte mandiese Kürzungen irgendwie noch rechtfertigen; denn För-derungen für Modellprojekte sind meistens – das wissenwir alle – zeitbezogen. Genau das Gegenteil ist aber derFall. Niemand, der die täglich größer werdenden Pro-bleme im Pflegebereich aus der Praxis kennt, kann dieseVorgehensweise nachvollziehen und schon gar nicht mit-tragen,
vor allem deswegen nicht, weil die Einführung der Fall-pauschalen im Krankenhaus zukünftig einen Mehrbedarfan pflegerischen Leistungen bedeutet, auf den der ambu-lante Sektor überhaupt nicht vorbereitet ist.Auch die großen Finanzschwierigkeiten in der ge-setzlichen Krankenversicherung halten an. Im erstenHalbjahr ist ein Defizit von 2,4 Milliarden Euro aufgetre-ten. Auch wenn erfahrungsgemäß damit zu rechnen ist,dass sich das Defizit im zweiten Halbjahr etwas verrin-gert, sind und bleiben die wiederkehrenden Defizite Aus-druck vieler ungelöster Probleme. Richtig ist, meine Da-men und Herren von der Union – ich glaube, HerrSeehofer wird das nachher wiederholen –: Die Politik derletzten vier Jahre ist der Lösung der Probleme nicht vielnäher gekommen. Aber auch Ihr heutiger Antrag wird esnicht richten. Er ist blanker Wahlpopulismus; denn außerdem Loblied auf Ihre vergangene Regierungszeit enthälter keinen einzigen zukunftsweisenden Vorschlag.
In Ihrem Wahlprogramm machen Sie Vorschläge – dassind alles alte Hüte –, die in der Praxis schon gescheitertwaren. Sie locken wieder einmal mit freiwilliger Abwahlbzw. Zuwahl von Leistungen. Sie versprechen Beitragser-mäßigungen bzw. Selbstbehalte nach dem Kaskoprinzip.Meine Damen und Herren von der Union, wenn Sie inIhrem Programm immer noch davon reden, den solidari-schen Ausgleich als tragendes Element erhalten zu wol-len, dann sind Sie es und kein anderer, der den WählernSand in die Augen streut. Die Wahrheit ist: Ihr Wahlfrei-heitskonzept setzt das Solidarsystem Schritt für Schrittaußer Kraft.
Die FDPmit Herrn Möllemann an der Spitze ist da ehr-licher, aber deshalb nicht besser. Heute hat zwar FrauSchwaetzer und nicht Herr Möllemann gesprochen, abereinen großen Unterschied habe ich nicht gemerkt. Sie re-den gemeinsam offen über die Abschaffung der so ge-nannten Zwangsmitgliedschaft in der GKV und fordernden Abbau des Solidarsystems zugunsten der Marktwirt-schaft. Ein klein bisschen Soziales lässt die FDP nochübrig.
– Ich habe sehr genau gelesen, Frau Schwaetzer. Lesenkann ich noch, auch wenn ich aus dem Osten komme.Für einkommensschwache Menschen soll der Staat fürdie dringendsten medizinischen Grundleistungen sorgen.Dazu sage ich Ihnen, Frau Schwaetzer: Ihr Programm istgesundheitliche Versorgung nach dem Sozialhilfeprinzip.Das hat mit sozialer Marktwirtschaft, so wie sie imGrundgesetz steht, überhaupt nichts zu tun.
Ich will auf die Probleme der gesetzlichen Kranken-versicherung, die niemand kleinreden will, zu sprechenkommen: Wir alle wissen, dass dem Ausgabenproblemseit Jahren ein noch größeres Einnahmenproblem ge-genübersteht, das mit zunehmender Arbeitslosigkeit im-mer größer wird. Wer auf diese Einsicht nicht mit prakti-schen Politikvorschlägen antwortet, wird auch in derZukunft mit seiner Gesundheitspolitik scheitern.Folgendes gehört dazu, wenn wir über die Finanzsitua-tion reden: Es waren die sozialpolitischen Verschiebe-bahnhöfe, die die Situation der Kassen erst richtig ver-schärft haben. Leider – ich betone das – hat sich nach derKohl-Regierung auch Rot-Grün an dieser Politik beteiligt.Ich sage es ehrlich und offen: Es ist zu befürchten, dass esim neuen Bundestag zu Mehrheiten kommen kann, die ei-nen weiteren Privatisierungsschub bei den Krankheitskos-ten wollen und je nach Konstellation vorantreiben wer-den.Wir als PDS sagen: Unabhängig von der Zusammen-setzung der neuen Regierung wird entscheidend sein, inwelchem Umfang und mit welchem Gewicht sich außer-parlamentarische Kräfte formieren und das Solidarsys-tem verteidigen werden. Wir als PDS werden dem zu-nehmenden Druck in Richtung Entsolidarisierung undÖkonomisierung immer Widerstand entgegensetzen unddiesen außerparlamentarischen Widerstand auch hier imPlenum vertreten. Auch wenn die Umfrageergebnisse einanderes Ergebnis nahe legen, müssen Sie sich damit ab-finden, dass wir wieder in den Bundestag hineinkommen.Wir werden uns mit Ihnen auseinander setzen. Wir wer-den verhindern, dass es zu dieser Entsolidarisierungkommt.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wortder Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Dr. Ruth Fuchs25520
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauSchwaetzer, ich finde es schon sehr bemerkenswert, dassSie über eine Ausschusssitzung berichten, an der Sie sel-ber nicht teilgenommen haben.
Ich darf Ihnen sagen: Mich haben Ihre Kollegen aus derFDPaufgefordert, etwas zur Finanzentwicklung in der ge-setzlichen Krankenversicherung zu sagen. Finanzen ha-ben immer etwas mit Zahlen zu tun. Sie müssen sich dieseZahlen dann schon anhören und sich mit unseren Vor-schlägen auseinander setzen. Wir wollen strukturell ver-ändern, indem wir die Qualität der Versorgung verbes-sern. Wir haben das Ziel, mehr Gesundheit für das gleicheGeld zu erreichen.
– Es geht nicht um Gesundbeten.
Noch ein Wort zu dem, was Sie zu den Mitarbeiternund Mitarbeiterinnen meines Hauses gesagt haben. WennSie schon nicht das lesen, was wir schreiben, wenn Sienicht zuhören, wenn wir hier über Gesundheitspolitik re-den, wenn Sie die Reformen, die wir auf den Weg ge-bracht haben, nicht zur Kenntnis nehmen, halte ich es fürunwürdig, auf Kosten von Mitarbeitern und Mitarbeite-rinnen, die schon lange vor meiner Zeit und vor 1998 imBundesgesundheitsministerium beschäftigt waren
und ein Anrecht auf Regelbeförderungen und Höhergrup-pierungen haben, so zu tun, als hätten diese Menschen dieHöhergruppierungen nicht aufgrund der Leistungen, diesie erbringen, sondern aufgrund des Parteibuches erhal-ten. Ich verstehe Demokratie so – auch in meiner Leitungdes Ministeriums –, dass es für mich völlig uninteressantist, welches Parteibuch der Einzelne mitbringt.
Vielmehr achte ich darauf, welche Leistungen erbrachtwerden. Ich habe engste Mitarbeiter und Mitarbeiterinnenvon Herrn Seehofer, von Frau Bergmann-Pohl und aucheinige von Herrn Blüm übernommen, die sich in genaudenselben Funktionen befinden wie zuvor.
Ich halte Ihr Lachen für ungebührlich im Hinblick auf dieMenschen, die in diesem Ministerium arbeiten.
Etwas Respekt vor den Leistungen der Frauen und Män-ner in dem Ministerium hätte ich mir schon gewünscht.Lassen Sie uns jetzt zur Gesundheitspolitik kommen.Die CDU/CSU hat heute einen Antrag vorgelegt, in demsie Vorschläge dazu fordert, wie die finanzielle Situa-tion der gesetzlichen Krankenversicherung stabilisiertwerden kann und gleichzeitig eine qualitativ hoch ste-hende Versorgung garantiert wird. Die Vorschläge lie-gen vor. Die Vorschläge, die wir unterbreitet haben, set-zen bei der Qualität an, und zwar bei der Qualität derLeistungserbringung. Dabei gehen wir vor allen Din-gen davon aus, dass wir uns auf Dauer kein System er-lauben können, in dem Leistungen nicht aufeinander ab-gestimmt werden, in dem weiterhin eine strikteTrennung zwischen ambulanter und stationärer Versor-gung besteht
und in dem Parallelbehandlungen erfolgen, ohne dass eineBeratung erfolgt, jemand die Fäden in der Hand hält undprüft, ob die Behandlungen zueinander passen. Wir kön-nen uns auf Dauer auch kein System leisten, in dem beider Behandlung der großen Volkskrankheiten – dies hatim Übrigen auch der Sachverständigenrat festgestellt, derzu Beginn dieser Legislaturperiode entsprechende Unter-suchungen durchgeführt hat – nur die Hälfte aller chro-nisch kranken Menschen in diesem Land nach den neues-ten internationalen Standards behandelt werden. Daraufhaben wir mit den Programmen zur besseren Versorgungchronisch kranker Menschen reagiert, die derzeit aus po-litischen Gründen blockiert werden. Immer dann, wenn esdarum geht, die Qualität der Leistungserbringung zu he-ben und die Gesundheit der Patientinnen und Patienten inden Mittelpunkt zu stellen, reden Sie alles schlecht undreagieren Sie mit einer Blockade. Das ist doch Ihre Poli-tik.
Sie wollen mit Ihrer Politik genau an der Stelle weiterma-chen, wo Sie 1998 aufgehört haben.Wenn Sie von Beitragssatzsteigerungen reden, so istfestzustellen: In vier Jahren rot-grüner Bundesregierungsind die Beiträge um 0,35 Prozentpunkte angehoben wor-den, auf nunmehr 13,99 Prozent. In Ihrer letzten Legisla-turperiode waren es 0,5 Prozentpunkte.
In den Jahren 1991 bis 1998 unter Seehofer betrugen dieBeitragssatzsteigerungen 1,34 Prozentpunkte. Unter IhrerPolitik wurde es für die Menschen immer teurer, ihre Ge-sundheit zu erhalten, weil die Zuzahlungen für Arzneimit-tel verdreifacht und immer mehr Leistungen ausgeschlos-sen wurden. Der heute vorgelegte CDU/CSU-Antrag zeigt,dass Sie genau dahin wieder zurück wollen. Das ist diePolitik, die die Menschen nach dem 22. September vonIhnen zu erwarten haben. Jeder ist gut beraten, dann eindickes Portemonnaie mitzubringen, wenn er zum Arztoder ins Krankenhaus geht. Denn das ist die Politik derCDU/CSU.
Zur FDP will ich mich nicht weiter äußern. Mir wurdegesagt, dass es in einzelnen Regionen schon zu Hamster-käufen in den Apotheken gekommen ist, ausgelöst allein
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durch die Ankündigung, dass Möllemann Gesundheitsmi-nister werden will –,
Die CDU/CSU fordert ein Ende der einnahmenorien-tierten Ausgabenpolitik. Sie meint, dass alle Budgets auf-gehoben werden müssten; dies löse alle Probleme. Sie hataber noch nicht angegeben, wie das bei stabilen Beiträgenfunktionieren soll. Ich sage Ihnen: Das wird nur funktio-nieren, wenn die Menschen privat immer mehr zuzahlen.In Ihrem Antrag werfen Sie uns vor, dass die Koalitionvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Erhöhung derBeitragssätze verursacht habe, indem sie im Zusammen-hang mit der Gesundheitsreform 2000 ausgabenstei-gernde Maßnahmen beschlossen habe. Wie sahen denndiese von Ihnen so bezeichneten Maßnahmen aus? Wirhaben chronisch kranke Menschen bei der Zuzahlung zuArzneimitteln entlastet, die sie regelmäßig erhalten müs-sen.
Wir haben das getan, weil wir der Meinung sind: Werchronisch krank ist, darf nicht auch noch finanziell über-fordert werden. Wir haben des Weiteren die Regelungzurückgenommen, wonach ein „Eintrittsgeld“ von 10 DMpro Stunde gezahlt werden musste, wenn man eine psy-chotherapeutische Behandlung in Anspruch nahm. Wirhaben die Zuzahlungen insgesamt gekürzt.
Wir haben außerdem Maßnahmen, die der Prävention undder Gesundheitsvorsorge dienen – diese Begriffe führenSie heute immer im Mund –, wieder zu Kassenleistungengemacht.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass Mutter-Kind-Kurenzu Regelleistungen der Kassen wurden und voll bezahltwerden müssen.Das alles bezeichnen Sie als ausgabensteigernde Maß-nahmen. Ich sage Ihnen Folgendes dazu: Alles, was wirgemacht haben, dient dem Erhalt der Grundlage der soli-darischen Krankenversicherung. Alles, was die FDPoffenfordert – Herr Seehofer wird uns heute sicherlich wiedernicht sagen, was Sie von der CDU/CSU machen wollen –,hat dagegen nur eines zum Ziel: Sie wollen die solidari-sche Krankenversicherung in der Form, in der sie sich seitJahrzehnten in unserem Land bewährt hat, Schritt fürSchritt aushöhlen. Sie sprechen nicht die Frage an, wie dieMittel effizienter und effektiver eingesetzt werden kön-nen. Sie reden einzig und allein über die Frage, wie die Ar-beitgeber entlastet werden können. Es geht aber um dieparitätische Finanzierung der Gesundheitskosten, da-mit kein Mensch in diesem Land zum Beispiel einen Arzt-besuch oder einen Krankenhausaufenthalt nicht machenkann, weil ihm das notwendige Geld oder die notwendigeVersicherung fehlt.
Weil Sie, Herr Seehofer, nie offen sagen, was die Men-schen von Ihnen wirklich zu erwarten haben, scheuen Sienicht davor zurück, sich auf Kosten der Sozialhilfeempfän-ger zu profilieren. Einmal geht es um Grund- und Wahlleis-tungen; dann wiederum reden Sie von Abwahl- und Zu-satzleistungen; einmal handelt es sich um das Programmder CDU, ein anderes Mal um ein Papier, das Sie mit HerrnStoiber ausgearbeitet haben; es gibt viele Varianten.
Ich sage Ihnen eines: 80 Prozent aller Sozialhilfeempfän-ger und Sozialhilfeempfängerinnen sind krankenversi-chert. Die restlichen 20 Prozent sind nicht krankenversi-chert, weil es keine Einigung mit den Kommunen über dieHöhe der Beiträge und deren Finanzierung gab. Im Gesetzsteht, dass kein Arzt und keine Ärztin einem Sozialhilfe-empfänger oder einer Sozialhilfeempfängerin mehr zu-kommen lassen darf als den Versicherten der gesetzlichenKrankenversicherung. Der Vorsitzende der Kassenärztli-chen Bundesvereinigung, die ja nicht unbedingt zu denWahlhelfern der SPD gehört, sagt, die Behauptung, dievon Ihnen immer wieder zulasten der Schwächeren in die-ser Gesellschaft aufgestellt wird, sei schlichtweg falsch.Ich zitiere den KBV-Vorsitzenden:Mit solchen Klischees werden Sozialhilfeempfän-ger, die ohnehin schon gestraft sind, in eine Ecke ge-drängt, in die sie nicht gehören.Ich sage Ihnen – Wahlkampf hin oder her –: Hören Sie auf,Politik zulasten derjenigen zu machen, die sich nicht weh-ren können! Diskutieren Sie stattdessen über die Inhalte,um die es wirklich geht!
Am 22. September entscheiden die Bürger in diesemLand auch über die Frage – es wird eine Richtungswahlsein –, ob weiterhin jeder Versicherte der gesetzlichenKrankenversicherung ohne Ansehen der Person, derVorerkrankungen und der Höhe der geleisteten Beiträgeden gleichen Anspruch auf gesundheitliche Leistungenhat oder ob der Arzt oder die Ärztin erst fragen muss, wel-ches Paket der Patient in der gesetzlichen Krankenversi-cherung gewählt hat, ob er zusatzversichert ist oder nicht,und ob Menschen gesundheitliche Leistungen vorenthal-ten werden, weil sie nicht das richtige Versicherungspakethaben. Ich sage Ihnen: Wir wollen das nicht.
Wir werden durch eine Hebung der Qualität und eine Ver-besserung der Abstimmung der Leistungen dafür sorgen,dass jeder das bekommt, was er braucht, wenn er krank istoder wenn seine Schmerzen gelindert werden müssen.Anders als Sie wollen wir nicht, dass es vom Geldbeutelabhängt, ob jemand eine vernünftige gesundheitliche
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Bundesministerin Ulla Schmidt25522
Leistung erhält oder nicht. Die Politik machen wir nicht.Das werden die Bürger und Bürgerinnen bei ihrer Ent-scheidung zu bedenken wissen.Vielen Dank.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Parr das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Zu der heutigen Sondersitzung des Gesund-
heitsausschusses, die die FDP-Fraktion beantragt hatte,
möchte ich ein paar Bemerkungen machen.
Frau Ministerin, als Sie noch stellvertretende Frakti-
onsvorsitzende waren, haben Sie ständig über Ausschuss-
sitzungen geredet, an denen Sie nicht teilgenommen ha-
ben. Insofern sollten Sie der Kollegin Schwaetzer diesen
Vorwurf nicht machen.
Die FDP hatte beantragt, heute über die Auswirkungen
der Defizite der Krankenkassen in Höhe von mehr als
2Milliarden Euro informiert zu werden und Ihre konkreten
Maßnahmen gegen diese desaströse Entwicklung kennen
zu lernen. Stattdessen haben Sie seitenlang Zahlenkolon-
nen aus Presseerklärungen vorgetragen, die wir bereits
14Tage kannten und über die wir bestens informiert waren.
Der Ausschuss ist daran gehindert worden, Fragen zu stel-
len. Das war ein unmögliches Verhalten, das wir hier kri-
tisieren wollen.
Sie haben zum Beispiel keine Antwort auf die Frage
gegeben, wie Sie die Einnahmeverluste kompensieren
wollen, die aus der Flutkatastrophe entstanden sind, weil
Beiträge gestundet werden, weil es Kurzarbeit gibt usw.
Sie haben auf die Probleme im Osten hingewiesen, aber
Sie haben keine Antwort auf die Frage gegeben, wie Sie
dem wachsenden Ärztemangel, der im Osten besonders
schmerzhaft spürbar ist – es gibt nicht genug Nachfolger
für Praxen; Praxen drohen leer zu stehen –, begegnen wol-
len, wie Sie den jungen Medizinern wieder solche Ar-
beitsbedingungen geben wollen, dass nicht ein Drittel de-
rer, die ihr Studium absolviert haben, davon absieht, in
den Arztberuf zu gehen. Diese Angelegenheiten sind zu
diskutieren. Darüber muss es Aufschluss geben. Alle, wir
im Parlament und die Wählerinnen und Wähler draußen,
wollen hören, wie Sie diese Probleme lösen wollen.
Zu den angeblichen Hamsterkäufen in Apotheken
möchte ich nur Folgendes sagen: Frau Ministerin, Sie ha-
ben angekündigt, die Versicherungspflichtgrenze anzuhe-
ben und damit den Zugang zur privaten Krankenversiche-
rung zu erschweren. Ergebnis: Scharenweise verlassen
die Menschen die gesetzliche Krankenversicherung.
Herzlichen Glückwunsch zu einer Gesundheitspolitik, die
sich ständig ins eigene Knie schießt!
Frau Ministerin, Sie
können darauf antworten. Bitte sehr.
Vie-len Dank. – Herr Kollege Parr, ich habe sehr große Ach-tung vor dem Parlament. Wenn Sie als FDP beantragen,dass ich in der Ausschusssitzung etwas zur Finanzent-wicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung vor-trage, dann tue ich das selbstverständlich. Dazu gehörtauch die Auseinandersetzung mit den Zahlen.Wir haben heute Morgen aber noch über mehr gespro-chen. Ich habe Ihnen gesagt, welches die Hauptsektorensind, die die Ausgaben verursachen.
Ich habe Ihnen erstens dargelegt, dass wir entgegen dem,was Frau Kollegin Schwaetzer eben gesagt hat, das Arz-neimittelbudget aufgehoben und gleichzeitig mit demArzneimittelsparpaket der Bundesregierung steuernd ein-gegriffen haben. Dieses Paket befasst sich vor allem mitden strukturellen Problemen in der Arzneimittelversor-gung. Wir haben einen Weg gefunden: Die Arzneimittel-hersteller senken ihre Preise, damit sie bei der Regelungfür das untere Preisdrittel dabei sind. Ich habe Ihnen aberauch gesagt: Das reicht nicht. In Deutschland werden zuviele hochpreisige Arzneimittel verschrieben, ohne dassderen medizinischer Zusatznutzen nachgewiesen ist. Umdiese Probleme wirklich in den Griff zu bekommen, brau-chen wir eine Regelung, die sicherstellt, dass Arzneimittelnur dann wirklich als Innovation gelten, wenn der erhöhtetherapeutische Nutzen sichergestellt ist. Den derzeitigenZustand, null Prozent mehr Nutzen, aber 300 ProzentPreissteigerung, kann sich auf Dauer kein Gesundheitssys-tem erlauben.
Zweitens. Die Programme zur besseren Versorgungchronisch kranker Menschen werden dazu führen, dasszum Beispiel Frauen mit Brustkrebs in diesem Lande end-lich die Behandlung erhalten, die nach internationalenStandards und Leitlinien notwendig ist, um die Therapie-erfolge zu verbessern, die Zahl der Brustamputationen zuverringern und, sofern es notwendig ist, zu mehr brust-erhaltenden Operationen zu kommen sowie sicherzustel-len, dass nur die besten Operateurinnen und Operateuredie Operationen und die anschließende Behandlung vor-nehmen. Die Tatsache, dass 4 000 Frauen in Deutschlandmehr an Brustkrebs sterben, als es nach dem neuestenStand der medizinischen Kenntnisse notwendig ist, wirduns nicht ruhen lassen, diese Programme voranzubringen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Bundesministerin Ulla Schmidt25523
Ergebnis wird sein: geringere Mortalitätsrate, weniger Fol-geerkrankungen und die Vermeidung überflüssiger Brust-amputationen. Wir werden zeigen, dass eine höhere Qua-lität und mehr Gesundheit für dasselbe Geld möglich sind.
Dasselbe gilt für die Krankenhausreform und die Ein-führung der Gesundheitskarte.Drittens. Wir haben die Approbationsordnung für Ärz-tinnen und Ärzte verändert und dafür gesorgt, dass dieÄrztin bzw. der Arzt im Praktikum abgeschafft werdenkann.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass in den Kranken-häusern Geld zur Verfügung steht, damit dort ein neuesArbeitszeit- und Arbeitsorganisationskonzept auf denWeg gebracht werden kann. Das zusätzliche Geld wirdbenötigt, um Ärztinnen und Ärzte einstellen zu können.Viertens. Was die von Ihnen angesprochene Situationin den neuen Bundesländern angeht, bin ich sehr dafür,dass wir uns darüber Gedanken machen, wie es gelingt,dass nicht jeder Arzt in die Verschuldung gerät. Die jun-gen Ärzte und Ärztinnen würden sehr viel lieber in Ge-sundheitszentren arbeiten, wie sie in Brandenburg be-stehen.
Dort haben sie ihre Praxis und zahlen für die Infrastruktureine Art Leasinggebühr, sodass sie sich nicht selbst bisüber beide Ohren verschulden müssen und dann das Ge-fühl haben, die Investitionen vielleicht nicht wieder her-einholen zu können, weil nicht genügend kranke Men-schen zu ihnen kommen.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Horst Seehofer.
Horst Seehofer (von der CDU/CSU mitBeifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren!
Von der Ministerin haben wir gerade den Satz „MehrGesundheit für dasselbe Geld“ gehört. Er beweist, dassder Realitätsverlust bei der Gesundheitsministerin zwi-schenzeitlich vollkommen ist.
Noch nie in der Geschichte der gesetzlichen Kranken-versicherung haben die Menschen in Deutschland so hoheBeiträge wie zurzeit bezahlt und noch nie gab es so vieleVersorgungsmängel für chronisch kranke Menschen.
Wir haben jetzt einen durchschnittlichen Krankenver-sicherungsbeitrag von 14 Prozent mit weiter steigenderTendenz. Vor acht Tagen hat die Ministerin erklärt, dasalles werde sich im zweiten Halbjahr ausgleichen. Sieglaubte tatsächlich, dass sich alles, was die Regierung ver-säumt hat, im Oktober und November egalisieren werde.
Heute erreichte uns die Nachricht, dass im Juli, alsoschon im zweiten Halbjahr, die Arzneimittelausgaben inDeutschland um sage und schreibe 8,2 Prozent gestiegensind. Eine Sicherheit gibt es im Gesundheitswesen: KeinePrognose von Frau Schmidt hält länger als 24 Stunden.
Meine Damen und Herren, die Beitragssteigerungensind schon schlimm genug, weil den Menschen dadurchimmer mehr Geld aus der Tasche gezogen wird. Für michnoch viel schlimmer ist aber, dass sich in den vier Jahrender rot-grünen Regierung die medizinische Versorgungder Menschen in Deutschland rapide verschlechtert hat.Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Das beginnt mit den chronisch Kranken.
Sie selbst bestreiten mittlerweile nicht mehr, Frau Minis-terin, dass die chronisch Kranken in Deutschland geradenoch zu 10, 20 bzw. 25 Prozent eine innovative Medizin,eine medizinische Versorgung nach dem heutigen Stan-dard bekommen. Alle anderen chronisch kranken Men-schen fallen durch den Rost und werden lediglich durch-schnittlich oder unterdurchschnittlich versorgt.Ganze 4 Prozent der Osteoporosekranken in Deutsch-land bekommen die innovativste medizinische Behand-lung. Sie haben eine Situation herbeigeführt, dass mansich in Deutschland als Osteoporosekranker erst die Kno-chen brechen muss, um wieder die modernste Medizin zubekommen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Obgleich Ihre Staatssekretärin Vizepräsidentin derDeutschen Rheuma-Liga ist, wird jetzt von den Kranken-kassen das Funktionstraining für die Rheumakranken ge-strichen – eine Behandlung, die für sie im Hinblick auf dieSchmerzlinderung und auf die Erleichterung der Krank-heitsfolgen ein Segen ist. Die an Alzheimer Erkrankten er-
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Bundesministerin Ulla Schmidt25524
halten im Moment nicht einmal zu 10 Prozent die not-wendige medizinische Versorgung.
Es geht aber nicht nur um die chronisch Kranken,sondern auch um die Pflegebedürftigen. Sie haben dieBehandlungspflege zunehmend aus der Krankenversiche-rung herausgenommen und zum Bestandteil der Pflege-versicherung gemacht.
Weil Sie dort aber genauso in den roten Zahlen sind, mu-ten Sie den Menschen zu, dass sie notwendige Behandlun-gen aus ihrem Pflegegeld bezahlen. Ergebnis ist, dass sieimmer weniger von der Pflegeversicherung bekommen.
Gehen Sie doch einmal jetzt im Wahlkampf in dieFußgängerzonen! Da kommen die Leute und beklagensich, dass sie die Stützstrümpfe jetzt selber bezahlen müs-sen. Sie erzählen, dass Dekubituskranke so lange keineVersorgung als Pflegebedürftige erhalten, wie sie nichtwirklich großflächig am ganzen Körper wundgelegensind. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
– Das, was ich hier beschreibe, ist die Realität.Selbst die Kinder sind Opfer Ihrer Budgetierung.
Ein Vertreter der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-chen hat in der „Süddeutschen Zeitung“ erklärt: Wenn IhrPreissystem für die Krankenhäuser in Kraft tritt – Siewollen die Behandlung von schwerkranken Menschenunabhängig von der Dauer des Krankenhausaufenthaltesvergüten, also nur eine Pauschale zahlen –, wird bei-spielsweise für ein leukämiekrankes Kind, das eine Kno-chenmarkstransplantation erhalten hat, ein Pflegesatz von130 000 Euro statt bisher 230 000 Euro fällig, also 40 Pro-zent weniger.
Meine Damen und Herren, es geht doch nicht an, dassflächendeckend in Deutschland Aktionen zur Typisierungdes Blutes sowie Spendenaktionen der Menschen zur Fi-nanzierung der Transplantation bei leukämiekranken Kin-dern stattfinden
und Sie die Zuzahlung über die Krankenkasse um 40 Pro-zent kürzen. Es ist schäbig, wenn Sie eine solche Ge-sundheitspolitik für die Kinder betreiben.
Was haben Sie alles im Hinblick auf den Zahnersatzangekündigt, obwohl der Zahnersatz für Jugendliche eineabsolute Ausnahme ist und wir gesagt haben, bei Krankheitund bei Unfall soll der Zahnersatz weiter bezahlt werden!
Sie hingegen haben bei der Kieferregulierung, einem Re-gelfall der medizinischen Versorgung, in den von Ihnengenehmigten kieferorthopädischen Richtlinien festgelegt,dass die Eltern und die Kinder bei bestimmten Indika-tionen 1 500 Euro für diese Zahnregulierung zu bezahlenhaben. Das kennzeichnet die soziale Schieflage in der Ge-sundheitspolitik: Gerade die schwerkranken Menschenmüssen mehr bezahlen und bekommen immer weniger.
Die chronisch Kranken, die Kinder, die Pflegebedürftigensind Opfer Ihrer Politik.
Wie Sie hier immer wieder die Unwahrheit über dieVergangenheit sagen:
Ich bin mit einem Defizit von 10 Milliarden DM ange-treten. Dann haben wir in diesem Hause parteienübergrei-fend eine Gesundheitsreform verabschiedet.
Sie trat am 1. Januar 1993 in Kraft; zu diesem Zeit-punkt betrug der Beitragssatz 13,5 Prozent. Als ich meinAmt abgab, betrug der Beitragssatz immer noch 13,5 Pro-zent, gab es jährliche Überschüsse von 1 Milliarde DMund beliefen sich die Rücklagen in der Krankenversiche-rung auf über 8 Milliarden DM.
Diese Rücklagen haben Sie verschustert; Sie stecken tiefin den Defiziten. Sagen Sie den Menschen vor der Wahldie Wahrheit: Wenn Sie es könnten, müssten Sie die Bei-tragssätze nach der Wahl erneut erhöhen. Das ist dieWahrheit über Ihre Gesundheitspolitik.Ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben den Menschenimmer mehr Geld aus der Tasche gezogen und Sie habendie Versorgung der chronisch Kranken verschlechtert.Trotzdem stellen Sie sich hier hin und sagen, das alles seieine soziale Politik.Sie führen Brustkrebs und Diabetes an. Ich halte Ih-nen entgegen, dass alle medizinischen Fachgesellschaften– ohne Ausnahme – öffentlich erklärt haben: Wenn dieseBehandlungsprogramme Realität werden, wird die Be-handlung der chronisch Kranken in Deutschland hinterden jetzigen Standard zurückfallen
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Horst Seehofer25525
und werden zum Beispiel chronisch kranke Diabetikermehr Risiken für Nierenkrankheiten, Amputationen undErblindungen haben. Das ist das Ergebnis der schmidt-schen Gesundheitspolitik. Frau Schmidt, Sie haben aufder ganzen Linie versagt.
Dafür ist eine ganze Kette von Fehlern verantwortlich.Ich beginne damit, dass Sie der Krankenversicherungdurch politische Maßnahmen Geld entzogen haben. Ers-tens haben Sie beschlossen, dass Arbeitslosenhilfebezie-her geringere Beiträge an die Krankenversicherung leis-ten müssen. Das hat den Krankenversicherungen einigeHundert Millionen entzogen. Zweitens haben Sie – dashaben Sie wahrscheinlich schon wieder vergessen – dieRenten den Inflationsraten und nicht den Löhnen ange-passt. Das hat den Krankenversicherungen eine weitereMilliarde entzogen.Ihre miserable Wirtschafts- und Sozialpolitik mit im-mer mehr Arbeitslosen hat drittens dazu geführt, dassdie Einnahmen der Krankenversicherungen praktischstagnieren.
Ich bin schon lange im Bundestag, aber erst jetzt habe ichfolgende Welturaufführung erlebt: Die Regierung hat amEnde ihrer Wahlperiode ein Dokument aufgelegt – Stich-wort: Hartz-Kommission –, aus dem sich amtlich ergibt,was sie in den vier Jahren vorher falsch gemacht hat.
Übrigens: Der Bericht der Hartz-Kommission ist derbeste Beweis gegen die These, das sei alles weltwirt-schaftlich bedingt. Der Vorsitzende der Kommission– Mitglieder Ihrer Regierung haben diese Argumentationübernommen – sagt, dass die Arbeitslosigkeit in Deutsch-land in den nächsten drei Jahren halbiert wird, wenn seineVorschläge zum Arbeitsmarkt jetzt realisiert werden.
In dem Bericht stehen ausschließlich Maßnahmen, die wirnational realisieren können und die mit der Weltwirtschaftso viel zu tun haben wie eine Schildkröte mit dem Stab-hochsprung.Meine Damen und Herren, der Vorsitzende der Kom-mission spricht von der Halbierung der Arbeitslosigkeit.Ich bewerte nicht, ob das zutrifft oder ob das nicht eher ei-nem Märchen zuzuordnen ist. Er verspricht eine massiveReduzierung der Arbeitslosigkeit. Das ist der beste Belegdafür, dass die Schutzargumente der Regierung, die im-mer vom 11. September und von internationalen Heraus-forderungen spricht, falsch sind. Sie haben die Misere derSozialsysteme selbst verschuldet, indem Sie Ihre Haus-aufgaben in den Sozialreformen nicht erledigt haben. Da-rauf ist es zurückzuführen.
Ich nenne Ihnen zwei Blöcke: Die Arzneimittelaus-gaben in Deutschland sind in drei Jahren um 25 Prozentoder um 8,5 Milliarden gestiegen. Die Verwaltungskostenin der Krankenversicherung sind in ebenfalls drei Jahrenum 10 Prozent oder um 1,5 Milliarden gestiegen. Der Zu-wachs bei den Arzneimittelausgaben in Höhe von 8,5Mil-liarden DM gründete sich übrigens nicht darauf, dass dieÄrzte mehr verordnet haben, sondern darauf, dass die Pa-tienten auf die Fehler der Regierung reagiert haben;
ich nenne nur die Stichworte Arzneimittelbudget und Struk-tur der Arzneimittel. Insgesamt kommt man für diese zweiAusgabenblöcke aufgrund kardinaler politischer Fehler– Sie haben durch immer mehr Paragraphen, Richtlinienund Gesetze Bürokratie veranlasst und das Arzneimittel-budget aufgehoben, ohne eine anständige Gesundheitsre-form zu machen – auf 10 Milliarden in drei Jahren.
Deshalb brauchen wir jetzt gar nicht groß über Dingein zehn oder 20 Jahren zu reden. Das Wichtigste ist, dassdie Wirtschaft wieder flott wird; denn dann sprudeln dieEinnahmen für die Krankenversicherungen wieder. Dasgeschieht nur mit unserer Politik.
Darüber hinaus muss die Bürokratie, die Sie den Kran-kenversicherungen auferlegt haben und die uns Milli-arden kostet, beseitigt werden.
Mehr Geld für die kranken Menschen und nicht mehrGeld für die Bürokratie, das ist unser Gegenentwurf zu Ih-rer Gesundheitspolitik.
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit, Herr Kollege!
Als Letztes möchte ichFolgendes sagen: Frau Kollegin Schmidt, auch Sie sindmittlerweile auf die Idee gekommen, dass es populär seinkönnte, die Patienten in die politischen Entscheidungeneinzubeziehen. Vor 48 Stunden hat die Ministerin denVorschlag gemacht, dass es in Deutschland künftig einenPatientenberater gibt.
Frau Schmidt, die Patienten wollen nicht als Bittstellerauftreten, sondern sie wollen, dass die Patientenverbändekünftig in die Entscheidungen der Krankenkassen undder Gesundheitspolitik einbezogen werden, wie wir esvorhaben.
Die Patienten sollen nicht als Bittsteller, sondern als Bei-tragszahler auftreten. Kranke Menschen müssen künftigin die Entscheidungen der Gesundheitspolitik einbezogenwerden. Da unterscheiden wir uns diametral:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Horst Seehofer25526
Herr Kollege, ich
möchte Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Sie wollen mit der Mi-
nisterialbürokratie und mit Paragraphen Politik machen,
während unsere Politik auf die kranken Menschen ausge-
richtet ist.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin Pfaff das
Wort.
Herr Kollege Seehofer, dieje-
nigen, die erwartet haben – ich gehöre zu ihnen –, dass Sie
nach persönlichen Erlebnissen – auch ich hatte solche Er-
lebnisse – heute mehr Distanz, mehr Sachlichkeit und we-
niger Verklärtheit an den Tag legen, sind schwer ent-
täuscht. Was wir heute erlebt haben, war ein Musterstück
an blanker Demagogie.
Lieber Herr Kollege Seehofer, Ihr Fehler ist, dass Sie
die Menschen unterschätzen. Die Mütter mit Brustkrebs
wissen sehr wohl, dass die Leitlinien, die umgesetzt wer-
den, zusammen mit den Fachgesellschaften entwickelt
wurden. Auch die Mütter mit Kindern wissen, dass ihre
Versorgung in jüngerer Zeit nicht gelitten hat, weil keine
der von uns getroffenen Maßnahmen ihre Lage ver-
schlechtert hat. Die chronisch Kranken wissen sehr wohl,
dass sie von Zuzahlungen befreit worden sind. Sie, Herr
Kollege Seehofer, täuschen etwas in der Erwartung vor,
dass die Menschen das nicht durchschauen.
Was Sie über den Zahnersatz gesagt haben, das schlägt
dem Fass wirklich den Boden aus. Sie waren derjenige,
der den Zahnersatz für bestimmte Altersgruppen vollstän-
dig privatisiert hat, und zwar für immer und nicht nur ein-
mal. Sie wollten Prävention und Ähnliches als Regelleis-
tungen abschaffen.
Sie haben Verschiebebahnhöfe in einem viel größeren
Umfang zu verantworten. Ich muss schon sagen: Ich per-
sönlich bin etwas enttäuscht; denn reine Demagogie, wie
Sie sie hier offensichtlich vorgetragen haben, ist kein Er-
satz für die Qualität der Argumente.
Lieber Herr Kollege Seehofer, im Hinblick auf das,
was Sie zu den Beitragssätzen gesagt haben, empfehle
ich, einmal nachzulesen, was Herr Rebscher, der Chef der
Ersatzkassenverbände, gesagt hat. Alle Fachleute wissen,
dass die Mitte des Jahres ausgewiesenen Defizite nur ein
Artefakt, also ein Kunstprodukt, sind, weil sie schlicht
und einfach nur auf Schätzungen beruhen, die wahr-
scheinlich nicht zutreffen, weil die Defizite im Laufe des
Jahres wieder ausgeglichen werden. Das sollten gerade
Sie wissen. Herr Rebscher sagt: Wenn man eine betriebs-
wirtschaftlich korrekte Berechnung durchführte, dann
käme man zu dem Ergebnis, dass ein Überschuss von
38 Millionen Euro entstanden ist. Das sollten gerade Sie
den Menschen sagen.
Zum Abschluss möchte ich darauf hinweisen, Herr
Kollege Seehofer, dass es mich am meisten enttäuscht hat,
dass Sie das Solidarprinzip so gering schätzen. Sie spre-
chen zwar vom Solidarprinzip, aber Sie wollen Regel-
und Wahlleistungen einführen, auch wenn Sie das, was
Sie vorhaben, so nicht nennen.
Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass Sie die Politik
der Privatisierung – Sie haben sie nach Lahnstein leider
begonnen; damit haben Sie den gemeinsamen Weg ver-
lassen – fortsetzen wollen, was bedeutet, dass Sie die
Menschen mit einem Teil ihrer Probleme allein lassen. Sie
verlassen damit den Weg einer sozialen Krankenversiche-
rung, die – das sollten eigentlich alle erkannt haben – so-
wohl kosteneffektiver als auch verteilungsgerechter ist.
Das werfe ich Ihnen am Ende meines letzten Redebeitrags
in diesem Hohen Hause vor.
Sie haben auf
die Sekunde genau die Ihnen zur Verfügung stehende Re-
dezeit von drei Minuten ausgeschöpft. Da zeigt sich die
Übung.
Herr Kollege Seehofer, Sie haben das Wort zu einer Er-
widerung.
Herr Professor Pfaff,was die Zuzahlungen betrifft, gegen die Sie immer pole-misieren: Unter dieser Regierung – sie ist mittlerweile fastvier Jahre im Amt – gelten die Zuzahlungen weiterhin;beim Zahnersatz liegen sie bei 40 bis 50 Prozent der Kos-ten, bei Krankenhausaufenthalten liegen sie bei 9 Euro.Während Ihrer Regierungszeit haben Sie für die Menschenin den neuen Bundesländern die Zuzahlung bei Kranken-hausaufenthalten sogar erhöht. Sie gilt für die physikali-sche Therapie – hier sind es unverändert 15 Prozent –,
für die Kuren und für die Arzneimittel. Am Beginn IhrerRegierungszeit haben Sie ja 1 Euro bzw. 50 Cent erlassen.Man kann doch nicht in der Öffentlichkeit gegen dieZuzahlung polemisieren und sie in der politischen Ver-antwortung kassieren, weil man sie braucht. Sie haben dieZuzahlung beibehalten. Deshalb sollten Sie, auch in ei-nem Wahlkampf, dazu stehen.
Mein zweiter Punkt: die Regel- und Wahlleistungen.Die Schweiz ist für die Einführung von Regel- und
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Wahlleistungen mit dem „Deutschen Gesundheitspreis2000“ ausgezeichnet worden. In der Begründung hieß es,es sei an der Zeit, den Menschen im 21. Jahrhundert mehrMitbestimmungsmöglichkeit bei der Gestaltung ihresLeistungskatalogs zu geben.
Herr Professor Pfaff, jetzt nenne ich Ihnen das ein-stimmige Votum der SPD – damals gehörte noch HerrDreßler der Kommission an – und des Bundesgesund-heitsministeriums zu den Regel- und Wahlleistungen undzum Gesundheitspreis für die Schweiz:Das Schweizer Krankenversicherungsgesetz ist bei-spielhaft für eine Gesetzesinitiative, die Rahmenbe-dingungen für hohe soziale Sicherheit und gleichzei-tig regulierten Wettbewerb im Gesundheitswesenherzustellen versucht. Die erhöhten Wahlmöglich-keiten für die Versicherten entsprechen den gestiege-nen Ansprüchen nach individueller Angebotserstel-lung im digitalen Zeitalter.
Es stellt somit einen ausgezeichneten Weg dar, umherausragende Ergebnisse im Umfeld eines sozial-verträglichen Wettbewerbs zu erreichen.
So lautete das Urteil des Bundesgesundheitsministeriumsund der SPD in dieser Kommission, die, auch mit meinerStimme, einstimmig entschieden hat, dass die Schweizden „Deutschen Gesundheitspreis 2000“ für die Ein-führung von Regel- und Wahlleistungen erhält.Herr Professor Pfaff, als SPD bzw. als Bundesgesund-heitsministerium das Ausland auszuzeichnen und im In-land mit ungeheurer Polemik gegen diejenigen zu Feldezu ziehen, die im Inland das einführen wollen, was imAusland prämiert worden ist, ist heuchlerisch. Das mussich leider so sagen.
Mein dritter Punkt. Weil Sie mein Patientendasein an-gesprochen haben und die Erwartung geäußert haben,dass ich meine politische Tätigkeit einstellen werde, sageich Ihnen: Nein, ich habe aber die Überzeugung gewon-nen, dass zwischen dem, worüber die Gesundheitspoliti-ker und Gesundheitsfunktionäre diskutieren, dem, wasaktuell an Gesundheitspolitik betrieben wird, und den Be-dürfnissen der kranken Menschen in der Ambulanz und inKrankenhäusern Lichtjahre liegen. Von Frau Schmidtwird eine theoriebesessene Gesundheitspolitik betrieben,
die keine Rücksicht auf das nimmt, was die kranken Men-schen und diejenigen, die die kranken Menschen betreuen,als Ansprüche an dieses Gesundheitswesen anmelden.
Herr Kollege
Seehofer, ihre drei Minuten sind jetzt überschritten.
Deshalb bin ich so
emotional. Denn ich möchte endlich Schluss mit dieser
theoriebehafteten Politik machen und die praxisbezogene
Gesundheitspolitik, die Rücksicht auf Ärzte, Therapeuten
und Patienten nimmt, in Deutschland realisieren.
Das Wort hatjetzt die Frau Bundesministerin Renate Künast.Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher-schutz, Ernährung und Landwirtschaft: Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ich finde, die bis-herige Debatte in diesem Themenblock war sehr erhellend.Ich habe zwei Dinge gelernt. Der erste Punkt ist: Die CDUhat immer noch keinen Redner für das Thema Umwelt.
Das ist ja nicht unwichtig.
Sie haben immer gesagt: Umweltpolitik ist Chefsache.Ich habe hier aber weder den Chef reden hören – dieseMöglichkeit hätte es ja gegeben – noch habe ich – auchdiese Möglichkeit hätte es gegeben – Frau Merkel, diefrühere Bundesumweltministerin, reden hören. Stattdes-sen hat uns Herr Austermann hier beglückt. Seine Redewar zeitlich knapp, aber gut. Aber Herr Austermann ist jain Wahrheit derjenige, der noch im letzten Jahr sagte: „DieRegierung wirft mit vollen Händen Geld zum Fenster hi-naus – das ist pure Verschwendung.“ Dies ist ein Original-zitat von Herrn Austermann zum Thema Photovoltaik. –So viel zum Thema Umwelt in Ihrer Fraktion und IhrenParteien.
Der zweite Punkt, den ich hier gelernt habe, ist, dassHerr Seehofer immer noch in der Lage ist, sehr engagierteund sehr echauffierte Redebeiträge zu leisten.
Ich muss Ihnen aber der Ehrlichkeit halber sagen, dass ichdiese Debatte hier und heute eigentlich zu schade dafürfinde, dass von Ihnen unionsinterne Machtkämpfe ausge-tragen werden. Ihr Operieren mit falschen Zahlen, HerrSeehofer, und Ihren Populismus an dieser Stelle kann mansich nur damit erklären, dass Sie immer noch die Abgren-zung zu Späth betreiben, also dazu, wer für Arbeitsmarktund anderes zuständig ist. Ansonsten lässt sich das nichterklären.
Auch wie Sie in Ihrer Kurzintervention mit falschenZahlen operiert haben, ist aufschlussreich. Sie haben die
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Schweiz genannt. Sollen wir jetzt daraus schließen, dassSie die beitragsfreie Mitversicherung, wie wir sie inDeutschland haben, aufgeben wollen und wie in derSchweiz Kinder zu eigenen Versicherungsbeiträgen zwin-gen wollen?
Die Leute draußen werden mit Interesse gehört haben,was Sie gerade ausgeführt haben.
Vielleicht können wir auch einmal wieder versuchen,zum Thema dieser Debatte zu reden
und ein paar Zahlen, die stimmen, zu nennen. Ich will ein-mal mit der Flutkatastrophe und dem, was da zu tun ist,anfangen, weil dieses Problem im Augenblick die Land-wirtschaft und den ländlichen Raum akut beschäftigt. Eskommt an dieser Stelle darauf an, dass wir den Menschensofort und schnell helfen. Ich meine, dass die rot-grüneBundesregierung mit dem Modell, das sie ihnen angebo-ten hat, die wirksamste Methode gefunden hat, um denWirtschaftsbetrieben wieder auf die Beine zu helfen.
Wir haben an dieser Stelle klar gesagt: Jetzt wird nichtlange herumgezappelt und überlegt, wo man etwas strei-chen könnte, sondern wir stellen die Summen zur Verfü-gung, die einen Neuanfang wieder möglich machen.Wir haben Soforthilfen für existenzgefährdete Be-triebe vorgesehen und darüber hinaus ein Sofortpro-gramm für die Landwirtschaft aufgelegt, das für hoheSchadenssummen bei zerstörten Geräten und Gebäuden,die aber zur weiteren Arbeit nötig sind, aufkommt. Wirhaben da, wo selbst das für einzelne Betriebe nicht aus-reichen sollte, damit angefangen, betriebsbezogene rundeTische zusammen mit den Bundesländern und den Ban-ken einzurichten, weil wir sehen, dass die Betriebsinhabernicht monatelang Zeit haben, von Pontius zu Pilatus – vonBehörde zur Bank und zurück zur Behörde – zu laufen,sondern tatsächlich konkrete Hilfe brauchen. Das heißtfür uns, dass wir uns nicht nur bei denen melden, sonderndorthin fahren und dafür sorgen, dass diese runden Tischewirklich auf den Höfen stattfinden. Das bringt positive Er-gebnisse; das geht jedenfalls aus den Reaktionen hervor.
Wir haben darüber hinaus ganz aktuell Mittel zurDeichsanierung zur Verfügung gestellt. Das heißt, wirwollen auf das Winterhochwasser vorbereitet sein. DasTHW und die Bundeswehr haben bisher geholfen. Jetzthat die Regierung mit der Bereitstellung von 50MillionenEuro die Möglichkeit eröffnet, bis zu 4 000 arbeitsloseMenschen mit unterschiedlichsten beruflichen Qualifika-tionen, auch aus dem Bereich Statik, nicht nur für Hilfs-arbeiten, sondern auch zur Sanierung der Deiche in denBundesländern einzusetzen. Damit sind wir auf kom-mende Ereignisse gut vorbereitet; denn die Deiche wur-den ziemlich stark belastet.Wir haben – das ist der vierte Punkt – für den ländli-chen Raum im nächsten Jahr eine Aufbauhilfe von320 Millionen Euro vom Bund, hinzu kommen 200 Mil-lionen von den Ländern, durch die Verschiebung der Steu-ersenkung um ein Jahr zur Verfügung stellen können. Da-mit ist klar – ich denke, das Geld wird reichen –, dass wirdie Schäden, die eingetreten sind, beseitigen können. Dasheißt, wir geben damit das klare Signal: Wir helfen euchbeim Neuanfang und wackeln nicht lange hin und her unddiskutieren nach dem 22. September nicht wieder neu.Wir packen also alle Kraft zusammen, um die Schlamm-und Wassermassen zu beseitigen und mit dem Neuaufbauzu beginnen.
Neben dieser konkreten und akuten Hilfe geht es auchdarum – das ist klar –, wie wir das Ganze weiterent-wickeln können und was weiter für die Zukunft zu tun ist.Da freue ich mich darüber, Ihnen sagen zu können, dasswir auf der Agrarministerkonferenz in einem ganz an-deren Stil diskutiert haben, als wir das jetzt hier und heutetun. Wir haben uns auf der Agrarministerkonferenz letzteWoche zum Beispiel gemeinsam, also A- und B-Länder,für den naturnahen Gewässerausbau entschieden. Da-mit ist klar, dass es in Zukunft einen anderen Deichbau ge-ben soll: Nur noch in Ausnahmefällen sollen Deiche er-höht werden, ansonsten sollen Deiche verlegt undÜberschwemmungsflächen geschaffen werden. Auch derUmgang der Landwirtschaft mit dem Boden, der auch da-rüber entscheidet, wie viel Wasserhaltekapazität vorhan-den ist, soll verbessert werden.An dieser Stelle kann man eines festhalten: Es gibt eingemeinsames Arbeiten für die Menschen auf dem Lande,für die Bäuerinnen und Bauern, auch im Bereich Hoch-wasserschutz.Das heißt ganz klar, dass jetzt Schluss ist mit derScheu, wenn es darum geht, immer mehr Grünflächenentlang der Flussbetten in Ackerland umzuwandeln. Ichweiß, dass der bayerische Ministerpräsident das neueBundesnaturschutzgesetz streichen möchte. Das würdezum Beispiel dazu führen, dass diese Umwandlung wei-ter möglich wäre. Es würden immer mehr Maisfelder ent-stehen und damit wäre der Boden schutzlos jeder Erosiondurch Wasser ausgeliefert. Ich freue mich, dass die A- undB-Länder dem jetzt einen Riegel vorschieben.
Ich muss ehrlich sagen, dass mich nicht nur die Nicht-haltung der FDP zu diesem Thema verwundert,
sondern mir auch die Sprache wegbleibt angesichts des-sen, was ich an verschiedenen Stellen von der CDU/CSUhöre. Ich kann Ihnen ein Zitat nicht ersparen. Einer von
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Ihnen, Herr Gauweiler, der im Bereich Umweltschutzwohl einer der kompetenten Personen aus der CDU/CSUist, hat sich vor circa einer Woche dazu herabgelassen, imZusammenhang mit der Frage der Versiegelung von Bö-den und dem Schutz vor Hochwasser zu sagen, dass dasProblem der Versiegelung in Deutschland schlicht undeinfach darin liege, dass einige in Deutschland diesesLand zu einem Dauereinwanderungsland machen woll-ten. Er meinte tatsächlich, das Problem der zunehmendenVersiegelung liege darin, dass pro 100 000 Einwandererder Flächenbedarf der Stadt Würzburg benötigt werde,und kritisierte das. Auf eine solche Idee muss man ersteinmal kommen.
Stellen Sie sich doch einmal den Aufgaben, die im Be-reich Landwirtschaft vor uns liegen! Die Aufgabe heißtmeines Erachtens nicht nur Schadensbeseitigung, die wirjetzt auf den Weg gebracht haben und, wie ich denke, aucherreichen werden, sondern im Übrigen auch Planungssi-cherheit. Jetzt ist natürlich die Frage: Was ist Planungssi-cherheit?
Planungssicherheit heißt nicht, mit alten so genanntenKompetenzteams alte Konzepte, die schon gescheitertsind, durchzusetzen, sondern Planungssicherheit heißt,dass man sich gemeinsam mit der Landwirtschaft über-legt: Wo geht die Reise hin? Was werden die Bedingungensein, die durch die WTO und die Erweiterung der Europä-ischen Union geschaffen werden? Das ist entscheidend,wenn man Planungssicherheit herstellen will. Man darfnicht an alten, falschen Auslaufmodellen festhalten, son-dern muss mit den jungen Landwirtinnen und Landwirtenüberlegen, wo es langgeht, und für sie in Berlin und inBrüssel die Fördertatbestände schaffen, die ihnen helfen,ihre Betriebe frühzeitig auf neue Bedingungen einzustel-len.
Wir haben gemeinsam mit den Bundesländern neuePrioritäten in der Gemeinschaftsaufgabe geschaffen. Wirhaben Vorschläge für Brüssel gemacht. Siehe da: Sie fin-den dort sogar ihren Niederschlag. Das gilt zum Beispielfür die Vorschläge zur Entkoppelung der Prämienzahlungvon der Produktion, die Direktzahlungen an Landwirteüberhaupt WTO-kompatibel macht,
sonst würden sie nämlich in drei, vier Jahren der gesam-ten Streichung anheim fallen, weil sie dann nicht mehr indie so genannte Greenbox passen würden.Ich weiß natürlich, dass manche von Ihnen in der Ver-gangenheit gesagt haben: Die Künast hat immer so komi-sche Modelle; gut, dass es den Kommissar Fischler gibt.Ich sage Ihnen zwei Dinge ganz klar. Sie haben Fischlerimmer gelobt und von mir abgegrenzt. Ich wundere mich,wo Sie und auch der Deutsche Bauernverband gebliebensind, als Fischler im Sommer dieses Jahres genau die Vor-schläge gemacht hat, die auch die rot-grüne Bundesregie-rung gemacht hat.
Was sagte der Bauernverband? „Wir sind überrascht“ –mehr nicht.Sie haben immer gesagt, Fischler sei ein sehr erfahre-ner Agrarier. Dann stimmen Sie doch bitte den Fischler-Vorschlägen zu! Er hat genau darauf geachtet, wie die in-ternationalen Bedingungen sein werden und wie das Geldbei der Landwirtschaft, sozusagen für eine multifunktio-nale Landwirtschaft, für unterschiedliche Einkommens-quellen in der Landwirtschaft, gehalten werden kann.Ich freue mich darüber, dass wir auf der Agrarminis-terkonferenz in der letzten Woche in diesem Zusammen-hang ein sehr interessantes Papier hatten. Der einzige Un-terschied zu mir, den ich noch sehe, betrifft die Frage, obdas Ganze 2004 oder 2006 beginnen soll. Ansonsten istdas ein exzellentes Papier.Ich sage insbesondere den Kolleginnen und Kollegenvon den Koalitionsfraktionen: Das Papier enthält an zweiStellen den Originaltext unseres Kabinettsbeschlusses ausdem Juli dieses Jahres, den wir als Stellungnahme zu denFischler-Vorschlägen gefasst haben. Das Papier ist so gut,dass selbst Bayern zugestimmt hat.
Man sieht also: Wir stehen auf der richtigen Seite. Wirsagen, dass Grünland nicht mehr wie in der Vergangenheitdiskriminiert werden darf. Auf der anderen Seite sagenwir, dass die Kappungsgrenze, die Fischler vorgeschlagenhat, mit uns nicht zu machen ist, weil für uns das Krite-rium Arbeitsplätze immer eine Rolle spielen wird undweil wir nicht wollen, dass Arbeitsplätze verloren gehen.
Wir wollen eine gute Produkt- und Prozessqualität inDeutschland. Unsere Landwirte und die Lebensmittelin-dustrie, die viele Arbeitsplätze schaffen, können dieseguten Produkte in Deutschland, auf dem europäischenBinnenmarkt und international vermarkten.Hinsichtlich Tierschutz und Umweltschutz sage ichIhnen: Es muss Behörden geben, die den Tierschutz undden Umweltschutz sicherstellen. Deshalb haben wirzwei neue Institute eingerichtet: das Bundesinstitut fürRisikobewertung und das Bundesamt für Verbraucher-schutz. Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Ab dem23. September geht das Verbraucherinformationsgesetz indie nächste Runde. Dann kommt Butter bei die Fische,meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Sie haben sich gedrückt. Im Bundesrat haben einigeB-Länder gesagt, das Gesetz gehe zu weit. Andere habengesagt, es gehe nicht weit genug. Die Position der B-Län-
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Bundesministerin Renate Künast25530
der ging also in zwei entgegengesetzte Richtungen. Alswir konkrete Vorschläge von Ihnen eingefordert haben,haben Sie geantwortet, dass Sie noch einige Monate brau-chen werden. Dann koppeln Sie sich eben ab. Ich weißjetzt, was ich von Aussagen über Demokratie, wie sie HerrSeehofer vorhin getroffen hat, zu halten habe: Sie meinenes damit nicht ernst.Verbraucherinnen und Verbraucher wollen informiertwerden und wollen wissen, was in den Produkten enthal-ten ist. Wir brauchen eine umfangreiche Kennzeichnungauch der Lebensmittel, damit der Verbraucher die Freiheitder Entscheidung hat.Lieber Herr Seehofer – er ist anscheinend schon weg –,ich hätte mir fast gewünscht, dass Sie zum Thema Ver-braucherschutz und Landwirtschaft reden. Ich will Ihnenauch sagen, warum. Sie haben zwar viel über Präventiongeredet. Aber Sie müssen sich auch zu den Fragen äußern,wie wir beispielsweise mit Pflanzenschutzmitteln umge-hen und wie wir es schaffen, unsere Produkte und die Pro-dukte, die nach Deutschland eingeführt werden, nochgesünder zu machen.Das ist, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,nicht nur eine Kontrollaufgabe der Bundesländer, sondernes ist auch eine Bundesaufgabe, an dieser Stelle dafür zusorgen, dass möglichst wenig Rückstände in den Le-bensmitteln enthalten sind. Dabei ist es unerheblich, ob essich um Pflanzenschutzmittel oder um bestimmte Pro-dukte der Lebensmittelindustrie wie Convenience-Pro-dukte handelt, die immer mehr Fett enthalten und die zuchronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu Diabetesund zu Erkrankungen des Bewegungsapparates führenkönnen. Wenn wir die Krankenkassen entlasten wollen,dann dürfen wir nicht nur in den Kategorien des Gesund-heitsressorts denken. Dazu müssen wir eine gute Land-wirtschaftspolitik machen und vernünftige Rahmenbedin-gungen für die Lebensmittelindustrie in der Republikschaffen.
An dieser Stelle fängt Prävention an. Aber dazu gibt eskein einziges Wort von Ihnen.
Ich freue mich, dass sich die Lebensmittelindustrie andieser Debatte schon längst beteiligt. Ich freue mich auchdarüber, dass die „FAZ“ zu den Fischler-Vorschlägen vorkurzem gesagt hat, das sei die Brüsseler Agrarwende. Siesehen also, Berlin und Brüssel haben ein gemeinsamesZiel. Deshalb kann unsere Politik nicht so falsch sein.Am 22. September geht es darum, ob es die Agrar-wende nach vorne oder die Rolle rückwärts in die Traum-welt der Lobbyisten gibt. Ich weiß aber, dass 82MillionenVerbraucherinnen und Verbraucher in der Republik schonwissen, was sie wollen.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Carstensen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Frau Künast, angesichts der Tatsache, dassSie von Respekt in der Debatte sprechen, hätte ich er-wartet, dass Sie sich während der Rede von HorstSeehofer ordentlich benommen und nicht die ganze Zeitmit Ihren Ministerkollegen demonstrativ gequasselt hät-ten.
Wenn Sie sagen, dass Sie bei der Flutkatastropheschnelle Hilfe gegeben haben, dann darf ich Sie daran er-innern, dass die schnelle Hilfe, von der Sie gesprochenhaben, sich in den letzten Wochen häufig verändert hatund dass andere Sie zum Jagen tragen mussten. Zum Bei-spiel musste der Minister Backhaus Sie auffordern, sichendlich um die Flutopfer zu kümmern, Frau MinisterinKünast.
Vielleicht hätten Sie auch einmal etwas zu denjenigenBauern sagen sollen, die auch Flutopfer geworden sindund nicht unter das Gesetz fallen, weil sie nämlich ihreSchäden im Juli und nicht im August gehabt haben. WennSie nach Niedersachsen gehen – zum Teil betrifft das auchMecklenburg und Schleswig-Holstein –, dann werden Siefeststellen, dass dort Existenzen bedroht sind, um die Siesich überhaupt nicht kümmern, Frau Künast.
Wenn Sie hier dann auch noch falsche Behauptungenaufstellen und sagen, wir würden das Bundesnatur-schutzgesetz streichen wollen, dann muss ich Sie fragen:Wie kommen Sie eigentlich auf einen solchen Unsinn?Wir werden uns das Bundesnaturschutzgesetz vorneh-men, weil Sie nämlich mit diesem Gesetz dafür gesorgthaben, dass die Bauern keine Lust mehr auf Umwelt-schutz haben. Sie haben nicht einmal den Vertragsnatur-schutz mit in das Gesetz aufgenommen. Die gute fachli-che Praxis hat in Ihrem Gesetz keinen Stellenwert mehr.Daher ist es doch notwendig, dass wir die Leute wiederfür den Naturschutz begeistern und ihnen auch die Mög-lichkeit geben, wieder an einem Bundesnaturschutzgesetzmitzuarbeiten.
Sie haben die Planungssicherheit angesprochen. Ichglaube, die Ministerin weiß gar nicht, dass 40 Prozentder landwirtschaftlichen Betriebe, 40 Prozent der Bau-ern im Moment keine Lust haben zu investieren. Sie ha-ben keine Lust zu investieren, weil sie von Ihnen eben
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Bundesministerin Renate Künast25531
nicht Planungssicherheit bekommen, weil sie nicht wis-sen, wohin die Reise geht.
– Die hoffen, dass wir drankommen, genauso ist es.
– Ich habe Sie schon richtig verstanden. – Die hoffen, dasswir drankommen. Wenn Sie zu einer Bauernversammlunggehen und denen nur zwei Sätze sagen, dann bekommenSie einen Riesenapplaus, und zwar wenn Sie sagen: We-niger Bürokratie und die Künast muss weg. Was meinenSie, was dann bei den Bauern los ist!
Die hoffen, dass wir drankommen, weil sie wieder eineordentliche Agrarpolitik haben wollen.Das Eigenartige, lieber Herr Kollege, ist – das habenSie doch bei dem Applaus Ihrer Fraktion bei der Rede vonFrau Künast gemerkt –, dass Ähnliches auch von Ihren so-zialdemokratischen Politikern draußen gesagt wird. Diesagen: Wir sind nicht mehr in der Lage, noch einmal vierJahre lang Künast zu halten.
Kolleginnen und Kollegen von Ihnen halten Vorträge undsagen dort: Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht. –Jawohl, die Grenzen der Belastbarkeit mit Frau Künastsind wirklich erreicht.
Auch Ihre Aussage, dass Bluebox-Maßnahmen nichtmöglich und nicht kompatibel mit der WTO seien, istfalsch. Bluebox-Maßnahmen unterliegen nicht der Frie-denspflicht nach Marrakesch. Bluebox-Maßnahmen wer-den sicherlich in die Diskussion mit hereinkommen; dasgebe ich Ihnen gerne zu. Aber zu sagen, dass es nicht mög-lich wäre, mit Bluebox-Maßnahmen zu arbeiten, istfalsch. Ich will Ihnen auch sagen, Frau Künast: Wenn Sieschon davon sprechen, sagen Sie bitte den Bauern in Ost-deutschland, in welcher Art und Weise Sie eine Kap-pungsgrenze anerkennen würden. Sie haben gesagt: So,wie die Kappungsgrenze im Moment dort steht, wird sievon uns nicht anerkannt. Sagen Sie uns bitte, in welcherArt und Weise Sie das machen wollen.Wenn Sie den Unterschied zu uns kennen lernen wol-len: Der besteht darin, dass wir uns vorstellen und wissen,dass die bäuerlichen Betriebe bei uns in DeutschlandWirtschaftsbetriebe sind, die Rahmenbedingungen brau-chen, um wirtschaften zu können, um Eigenkapital zu bil-den und um Investitionen zu tätigen. Sie sind nicht bereit,diese Rahmenbedingungen den wirtschaftenden Betrie-ben bei uns zu geben.
Wenn Sie von Verbraucherschutz sprechen, frage ichmich: Was hat es eigentlich mit Verbraucherschutz zu tun,dass sich bei uns die Importe von Nahrungsmitteln – auchvon Weizen, zum Beispiel aus der Ukraine und aus Russ-land – in den letzten Jahren verzehnfacht haben? Was ha-ben die jetzigen Weizenpreise und Milchpreise mit Ver-braucherschutz zu tun? Sie haben in der Debatte zumAgrarbericht immer davon gesprochen, die guten Preiseaus dem letzten Jahr wären der Künast-Effekt. Meine Da-men und Herren, 8,50 Euro für den Doppelzentner Weizensind der Künast-Effekt. Die schlechten Preise bei der Milchsind der Künast-Effekt. Wenn sich Frau Künast dann auchnoch hier hinstellt und für 5 bis 6 Millionen Tonnen Im-portweizen aus der Ukraine wirbt, dann muss ich sagen:Das hat mit Verbraucherschutz überhaupt nichts zu tun.
Es hat nichts mit Verbraucherschutz zu tun, wenn wirdie Ansprüche höher schrauben und Importe wie Erdbee-ren aus Spanien und Argentinien oder Putenfleisch ausBrasilien und Thailand diese unterlaufen. Verbraucher-schutz ist unteilbar.Hier könnten Sie klatschen. Das ist das, was UweBartels, SPD-Landwirtschaftsminister in Niedersachsen,vorgestern auf dem Bauerntag in Münster gesagt hat. Ichfinde, er hat Recht.
Er hat hinzugefügt: Zu keiner Zeit waren die Qualität unddie Sicherheit von Lebensmitteln so hoch wie heute beiuns. Auch darin hat er Recht, auch dazu könnten Sie,meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,Applaus spenden.
Wir werden die Agrarpolitik wieder in vernünftigeBahnen lenken
und wollen dafür sorgen, dass diejenigen, die Agrarpoli-tik betreiben, auch etwas davon verstehen.
Seitdem Sie, Frau Künast, das Ministerium führen, bin ichzutiefst davon überzeugt, dass ein wenig Sachverstandnicht schaden würde.
Deswegen wollen wir zur Erhaltung der flächen-deckenden Landwirtschaft dafür sorgen, dass unsere Be-triebe wieder Perspektiven erhalten. Wir wollen den Stel-lenwert der Agrarpolitik wieder erhöhen. Das hat nicht nurdamit zu tun, dass wir im Landwirtschaftsministerium –das Ministerium wurde von der SPD aufgegeben – etwastun wollen, sondern wir wollen auch die Rückendeckungdes Bundeskanzlers. Diese ist jetzt nicht vorhanden.
Wenn ein Bundeskanzler sagt: „Warum sollen wir uns umeuch kümmern, ihr wählt uns ja doch nicht“, dann nimmter die Aufgaben, die er als Bundeskanzler hat, nicht wahr.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Peter H. Carstensen
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Wir werden dafür sorgen, dass Ihre unsinnigen Modu-lationsvorstellungen – in Rheinland-Pfalz führen sie dazu,dass 800 000 DM in die Kasse des Landes kommen, aber1,3 Millionen DM für Verwaltungsaufwand verbrauchtwerden, und in Bayern kommen 8 Millionen in die Kasse,wobei Bayern schon 800 Millionen DM für den Natur-schutz im landwirtschaftlichen Bereich ausgegeben hat –nicht fortgeführt werden.
Herr Kollege
Carstensen, achten Sie bitte auf die Redezeit, Sie haben
sie schon um eine Minute überschritten.
Ich
könnte noch lange reden, aber ich will mich daran halten,
Frau Präsidentin.
Das tun Sie dann
auf Kosten Ihrer Kollegen aus der eigenen Fraktion.
Ich
könnte das insbesondere deswegen, weil Sie zu denjeni-
gen gehören, Frau Präsidentin, die früher einmal im
Agrarausschuss gewesen sind und sicherlich ein Interesse
an diesem Thema haben.
Ich bitte Sie,
mich nicht zu bestechen. Ich muss bei der Redezeit kor-
rekt bleiben.
Wir
wollen dafür sorgen, dass die Agrarpolitik wieder den
richtigen Stellenwert in der Politik bekommt. Wir wollen
den Bauern eine Zukunftsperspektive geben. Das kann
mit Frau Künast nicht laufen.
Herzlichen Dank.
Wir sind damitam Schluss dieses Debattenabschnitts und kommen zurAbstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSUauf Drucksache 14/9945 mit dem Titel „Klarheit überfinanzielle Situation in der gesetzlichen Renten- undKrankenversicherung vor der Bundestagswahl schaffen“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenprobe! – Enthal-tungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen vonCDU/CSU und FDP abgelehnt worden.Wir setzen die Haushaltsberatungen mit den Ge-schäftsbereichen des Bundesministeriums für Bildungund Forschung und des Bundesministeriums für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend fort. Das Wort hatzunächst die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Herren und Damen! Bildung und Forschungspielen die wichtigste Rolle für unsere Zukunft. Wir sind1998 angetreten, um den heillosen Rückstand und dieMittelkürzungen wieder wettzumachen, die Sie, meineDamen und Herren von der Opposition, in 16 Jahren ver-ursacht hatten.
Bei Ihnen, meine Herren und Damen von der Unionund der FDP, ist der Schlingerkurs aus der Vergangenheitnach wie vor Programm. Wo diese Bundesregierung ent-schlossen handelt, gehen Sie weiterhin einen Schritt nachvorn und sofort wieder zwei Schritte zurück. Mit genaudieser Gangart haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regie-rungszeit in der Bildungs- und Forschungspolitik jedenFortschritt verhindert. Sie haben viel von Zukunft gere-det, gleichzeitig aber mit Ihrer Politik die Zukunft unse-res Landes gefährdet.
Sie haben Innovationen angekündigt, stattdessen aber ei-nen gewaltigen Reformstau verursacht. Sie haben Investi-tionen versprochen, stattdessen aber den Etat für Bildungund Forschung wirklich in Grund und Boden gestampft.Damit aber haben wir seit 1998 endlich Schluss ge-macht.
Diese rot-grüne Bundesregierung hat mit einem beispiel-losen Kraftakt den Etat für Bildung und Forschung Jahrfür Jahr erhöht. Allein im kommenden Jahr werden9,3 Milliarden Euro für Bildung und Forschung zur Ver-fügung stehen.
Seit dem Regierungswechsel haben wir die Ausgaben umfast 30 Prozent erhöht. Dies sind mehr als 2 MilliardenEuro zusätzlich. Dies ist eine zukunftsorientierte Politik.Dies ist eine Politik, die sich dadurch auszeichnet, dassnicht nur geredet, sondern wirklich gehandelt wird.
Nachhaltigkeit ist für uns ein Leitfaden für alle Poli-tikbereiche. Es geht eben nicht, dass wir auf Kosten unse-rer Kinder leben. Deshalb haben wir den Marsch in denSchuldenstaat gestoppt, gleichzeitig in Bildung und For-schung investiert
und damit diesen Politikbereich endlich wieder in dasZentrum der Politik gerückt. Wir haben mit einer PolitikSchluss gemacht, in der Bildung und Forschung unter„ferner liefen“ gelandet waren. Dies war bei Ihnen leiderder Fall. Dies hat sich seit 1998 endlich wieder geändert.
Frau Flach, auch die FDP hat 16 Jahre lang bei der Po-litik mitgemacht,
Bildung und Forschung unter „ferner liefen“ zu behan-deln,
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Peter H. Carstensen
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diesen Etat systematisch zu kürzen und in Grund und Bo-den zu fahren. Dafür tragen Sie genauso wie die CDU Ver-antwortung. Sie haben mitgemacht.
Wer morgen Innovationen will, der muss heute für daskreative Potenzial der Menschen sorgen, der muss dafürsorgen, dass dieses kreative Potenzial wirklich gewecktwird, der muss vor allen Dingen für mehr Menschen bes-sere Bildungschancen schaffen, und zwar gerade auchfür junge Menschen aus ganz normalen Arbeiter- und An-gestelltenfamilien. Für unser Land sind gut ausgebildeteMenschen so wichtig wie die Luft zum Atmen.
Wir haben dies verstanden und deshalb 1998 eine Politikbegonnen, die die Voraussetzungen dafür schafft, dass dieMenschen in unserem Land endlich eine gute, eine bes-sere Bildung und Ausbildung erhalten. Dies gilt – das sageich ganz klar – für eine Berufsausbildung genauso wie füreine akademische Ausbildung.
Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur. Hier zählenaber nicht nur Worte, sondern auch Taten. Deshalb habenwir mit dem JUMP-Programm und dem Ausbildungs-konsens die Jugendlichen von der Straße geholt, die in denJahren Ihrer Regierungsverantwortung keine Chance aufberufliche Ausbildung hatten.
Ich habe nicht vergessen, dass wir 1998 1,3 Millionenjunge Menschen ohne Ausbildung hatten, die keine Zu-kunft, die keine Chance hatten.
Wir haben diesen Jugendlichen wieder eine Chance gege-ben. Ich finde, das war richtig. Die jungen Leute haben sieauch genutzt. Über 450 000 junge Leute haben dieseChance genutzt.
Wenn ich von der CSU höre, Frau Flach, dass HerrStoiber sagt, das sei Aktionismus, dann kann ich dazu nursagen: Einem Menschen, dem es egal ist, ob diese jungenLeute im Abseits stehen oder nicht, will ich meine Zu-kunft nicht in die Hand legen. Ich bin davon überzeugt,dass dies auch viele andere Menschen in unserem Landnicht wollen.
Wir schaffen die Berufe von morgen. Eine gute Be-rufsausbildung nutzt beiden Seiten: Sie nutzt den jungenMenschen, für die eine gute Berufsausbildung einen er-folgreichen Start ins Berufsleben darstellt, und sie nutztden Unternehmen, weil sie nur über eine gute Berufsaus-bildung an die Fachkräfte kommen, die sie benötigen.
Deshalb haben wir in den letzten vier Jahren 56 Ausbil-dungsordnungen modernisiert und 18 neue Berufe in wach-senden Beschäftigungsfeldern geschaffen. 70 000 neueAusbildungsplätze allein in IT-Berufen zeigen, dass diesePolitik greift.
Wir haben es in den Jahren 2000 und 2001 geschafft,dass alle Jugendlichen in Deutschland einen Ausbil-dungsplatz erhalten haben. Das muss uns auch in diesemJahr wieder gelingen.
Dazu darf man sich aber nicht einfach hier hinstellen, sowie Sie das jetzt wieder tun, und fragen, wo die Ausbil-dungsplätze denn sind. Ich gehe in die Betriebe und for-dere sie auf, dass sie Ausbildungsplätze bereitstellen. Ichfrage nicht nur, wo die Ausbildungsplätze sind, sonderngehe auch in die Betriebe. Ich erwarte von jedem einzel-nen Kollegen hier in diesem Parlament, nicht nur Fragenzu stellen, sondern zu handeln.
Auch beim neuen Meister-BAföG verstehe ich nicht,meine sehr geehrten Herren und Damen von der Opposi-tion, warum Sie hier nur meckern und mosern.
Sie haben in der ersten Hälfte der 90er-Jahre das Meister-BAföG abgeschafft. Weil das Land Niedersachsen undandere Länder gegen die Abschaffung protestiert haben,haben Sie ein Flickwerk verabschiedet, das zu dem Er-gebnis geführt hat, dass die Leistungen nicht in Anspruchgenommen wurden. Wir haben dieses Gesetz endlich wie-der auf gesunde Füße gestellt – mit Erfolg. Denn die Zahlderjenigen, die dieses Gesetz in Anspruch nehmen wol-len, die Nachfrage nach diesem neuen, echten Meister-BaföG, ist allein im ersten Halbjahr 2002 im Vergleichzum Vorjahreszeitraum um 145 Prozent gestiegen. Daszeigt: Diese Reform ist ein Erfolg.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, ein export-orientiertes Hightechland wie Deutschland braucht abernicht nur gut ausgebildete Fachkräfte, sondern auch mehrund besser ausgebildete Hochschulabsolventen. Heutekönnen wieder alle begabten jungen Menschen studieren,auch wenn ihnen keine goldene Kreditkarte in die Wiegegelegt wurde.
Dafür haben wir mit der BAföG-Reform, mit der Ein-führung von Bildungskrediten und dem Verbot von Stu-
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Bundesministerin Edelgard Bulmahn25534
diengebühren für das Erststudium gesorgt. Das war drin-gend notwendig, nachdem Sie, meine Herren und Damenvon der Opposition, über Jahre hinweg das BAföG inGrund und Boden gewirtschaftet haben.
Wir haben es mit diesem BAföG geschafft, dass heutewieder rund 150 000 Schülerinnen und Schüler sowieStudierende BAföG erhalten und dass die Studierenden-quote in vier Jahren um 5 Prozent gestiegen ist. Das müs-sen Sie erst einmal nachmachen. Dazu werden Sie aberdie Chance nicht bekommen, weil wir unsere Arbeit fort-setzen werden. Das ist auch die Erfolgsgarantie.
Wer heute die Einführung von Studiengebühren for-dert, so wie das die CDU tut, der schreckt nicht nur jungeLeute vom Studium ab, sondern der will auch keine breiteBildungselite. Der will eben keine Leistungselite, sonderneine elitäre Bildung für Wenige.
Mit uns wird es deshalb keine Studiengebühren für dasErststudium geben. Das ist im Gesetz so festgeschrieben.Mit uns bleibt das auch so.
Nach Jahren des Stillstands bewegt sich an unserenHochschulen endlich wieder etwas. Das ist wirklich zuspüren. Wir haben den Innovationsstau beim Hochschul-bau aufgelöst. Mehr als 1 500 Bachelor- und Masterstu-diengänge machen Deutschland heute wieder zu einemweltweit attraktiven Studienstandort. Wir haben die Mit-tel für den wissenschaftlichen Nachwuchs um mehr als35 Prozent aufgestockt. Auf neu eingerichteten Junior-professuren können junge Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler jetzt auch in Deutschland endlich selbststän-dig lehren und forschen, das was sie in anderen Ländernschon seit langem konnten. Unsere Hochschullehrerinnenund -lehrer werden endlich nach Leistung bezahlt. Wemzu all dem nichts anderes einfällt, außer zu sagen, er wolleStudiengebühren und die Habilitation wieder einführen,dem muss ich sagen: Er hat nicht begriffen, worum es anunseren Hochschulen eigentlich geht.
Der schert im Übrigen nicht nur aus der internationalenGemeinschaft aus, der will auch noch zurück ins vorletzteJahrhundert. Das ist mit uns nicht zu machen.
Um die Zukunft unseres Landes geht es bei der Neu-ausrichtung der Forschungspolitik. Forschung für denMenschen, Forschung für Innovation und Wachstum, For-schung für wirtschaftliche Stärke und für zukunftssichereArbeitsplätze, das sind die Ziele dieser Bundesregierung.Deshalb stärken wir die kleinen und mittleren Unterneh-men. Allein die Zahl der kleinen und mittleren Unterneh-men, die durch mein Ministerium gefördert werden, istvon 1998 bis 2002 von 55 auf 65 Prozent gestiegen. DieFördersumme, die diese Unternehmen erhalten, ist sogarum 35 Prozent gestiegen. Auch da ist klar: Wir handeln,Sie reden.
Die Mittel für die Gesundheitsforschung und Krank-heitsbekämpfung durch Genomforschung haben wir ver-doppelt. Vor allen Dingen haben wir dafür gesorgt, dassneue Forschungsergebnisse schneller in die Arztpraxen undzu den Patienten kommen. Es war die rot-grüne Bundes-regierung, die dafür gesorgt hat, dass Deutschland in derBiotechnologie heute zur Weltspitze gehört und in Europaführend ist. Letztes Jahr überstieg der Umsatz der deut-schen Biotechnologieunternehmen erstmals die 1-Milli-arde-Euro-Marke.
Das Wachstum lag bei über 35 Prozent. Hören Sie endlichauf, den Standort Deutschland schlecht zu reden.
Deutschland ist ein innovationsfreudiges Land. Das solles auch bleiben.Das gilt im Übrigen auch für die Umwelttechnologie,einen Bereich, den Sie in Ihrer Regierungszeit immer ver-nachlässigt haben. Heute sind wir in Deutschland bei For-schung und Entwicklung der Vorreiter.
Hier haben wir richtig geklotzt und die Mittel für um-weltgerechte nachhaltige Entwicklung seit 1998 um fast30 Prozent erhöht.
Die Hochwasserkatastrophe hat uns noch einmal sehrdeutlich gezeigt, wie wichtig gerade dieses Forschungs-feld ist.Wir konzentrieren uns darauf, die Innovationskraft ge-rade und besonders in den neuen Ländern zu stärken. Un-sere Forschungsoffensive Ost ist ein ganz wichtiger Im-pulsgeber für Wirtschaftskraft und neue Arbeitsplätze. Siesorgt nicht nur dafür, dass neue Unternehmen entstehen,sondern auch dafür, dass kleine Unternehmen wachsenkönnen. Mit dieser Forschungsoffensive Ost haben wir inden letzten vier Jahren längst das erreicht, was dieCDU/CSU in ihrem Programm noch immer ankündigt.Alleine für Inno-Regio haben wir die Mittel für 2003 ge-genüber diesem Jahr mehr als verdoppelt. Wir reden alsonicht nur vom Aufbau Ost, wir tun auch etwas dafür.
Aus meinem Haushalt werden knapp 2 Milliarden Euro inden neuen Bundesländern investiert,
also das Doppelte dessen, was Sie fordern. Dazu kann ichnur sagen: Jeder weiß nun, wie er sich entscheiden muss.
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An dieser Stelle möchte ich auf einen Punkt zu spre-chen kommen, der mir besonders am Herzen liegt. Wennwir unser Land noch weiter nach vorne bringen wollen,dann brauchen wir auch eine umfassende Reform unseresSchulsystems. Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen,dass wir nicht so weitermachen können wie bisher.
Wir brauchen eine neue Schulkultur. Wir brauchenSchulen, die mitten im Leben stehen.
Man kommt dabei nicht mit Kirchturmspolitik weiter. Vorallen Dingen kommt man nicht weiter, wenn man sichselbstgefällig auf die Schulter klopft.
Kein einziges Bundesland hat Grund, sich selbstgefälligauf die Schulter zu klopfen. Wer das noch immer tut, HerrRachel, der hat den Ernst der Lage wirklich nicht begriffen.
Unser Ziel ist es, dass wir die bestmögliche Bildung füralle Kinder in unserem Land erreichen. Wir wollen, dassalle Kinder in allen Bundesländern die gleichen Bildungs-chancen bekommen. Deshalb brauchen wir eine nationaleKraftanstrengung, so wie ich das seit Monaten und Jahrenimmer wieder fordere. Wir brauchen keine sächsischeoder niedersächsische Mathematik, sondern wir brauchenbundesweite Leistungs- und Bildungsstandards,
die für alle Bundesländer gleichermaßen gelten und ver-bindlich sind. Wer sich hier verweigert, der schadet nichtnur unserem Land, sondern der verbaut auch unseren Kin-dern die Chance auf eine gute Zukunft.Die Bundesregierung stellt für die Einrichtung vonGanztagsschulen 4Milliarden Euro zur Verfügung. Damitgeben wir eine wichtige und wirksame Antwort auf die ent-scheidenden Schwächen unseres Schulsystems, nämlichdie zu geringe individuelle, frühe Förderung von Kindern.Genau das können wir mit Ganztagsschulen besser leisten.
Genau deshalb handeln wir so. Deshalb haben wir be-schlossen, nicht über Zuständigkeiten zu diskutieren, son-dern wir packen an. Deshalb haben wir angekündigt, dasswir – obwohl es eine riesige Kraftanstrengung ist – 4 Mil-liarden Euro zur Verfügung stellen, und wir können imnächsten Jahr beginnen.
Ich sage aber auch deutlich: Mehr Ganztagsschulen wirdes nur mit uns geben,
weil die CDU wieder nicht weiß, was sie will. Der einesagt Ja, der andere Nein. Das ist wieder das typische Hüund Hott.Meine sehr geehrten Herren und Damen, Deutschlandsteht am Scheideweg. Am 22. September wird entschie-den: Wollen wir die alten Rezepte und die alten Männer,die 16 Jahre lang nicht funktioniert haben, wieder ausgra-ben oder wollen wir, dass der Reformmotor weiter läuft?Wollen wir das ergebnislose Hickhack in der Schulpolitikfortsetzen oder wollen wir unseren Kindern wirklich diebestmögliche Bildungspolitik bieten?
Wollen wir zulassen, dass Innovation und Kreativität inunserem Land wieder kaputtgespart werden
oder wollen wir weiter in die Zukunft investieren?Diese Bundesregierung steht für Investitionen in Bil-dung und Forschung.
Sie steht für eine exzellente Forschung und sie steht auchdafür, dass alle Menschen in unserem Land eine hervor-ragende, wenn nicht die beste Chance auf eine gute Bil-dung haben.
Vielen Dank.
Das Wort hatjetzt die Frau Ministerin für Wissenschaft, Forschung undKunst des Landes Thüringen, Frau Professor Schipanski.Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin (vonder CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Meine sehr verehrteFrau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Haushaltsdebatten werden gemeinhin als Sternstun-den des Parlaments bezeichnet. Deshalb habe ich eben mitviel Interesse diese Sternstunde für die deutsche Bildungs-forschung bzw. für die Bildung und Forschung verfolgt.
Die Bundesregierung hat die Bedeutung dieser Berei-che immer wieder betont – das ist richtig –, aber ichmeine, dass die Ergebnisse doch ein wenig anders ausse-hen, als sie uns dargestellt worden sind.
Beginnen wir mit dem Hickhack der Bildungspolitik,das eben angeführt worden ist.
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Die Ergebnisse der PISA-Studie sind uns allen wohl be-kannt. Sie waren ein heilsamer Schock für Deutschland,wie ich feststellen konnte, und haben die Bildungspolitikin den Fokus der Öffentlichkeit gebracht, was ich außer-ordentlich begrüße. Ich meine, die Ergebnisse dieser Stu-die haben den Ruck ausgelöst, den Roman Herzog seiner-zeit in seiner Rede gefordert hat.
Aber jetzt kommt es darauf an, konkrete Schritte zu un-ternehmen.
Immer neue Studien und Gremien, die gefordert werden,führen uns nicht weiter. Denn wir haben in Deutschlandkeinen Erkenntnisstau, sondern einen Entscheidungsstaugehabt.
Diesen Entscheidungsstau haben die Kultusminister derLänder sofort erkannt
und sie haben Bildungsstandards beschlossen. Die uni-onsgeführten Länder haben Bildungsstandards vorgelegt,nämlich die Bildungsstandards, die Sie eben wieder ge-fordert haben, Frau Bulmahn. Sie werden zurzeit bearbei-tet und es gibt einen Plan, wann sie in den nächsten Jah-ren in den einzelnen Ländern eingeführt werden.
Hinzu kommt, dass Sie eben gesagt haben, Sie gäbenuns 4Milliarden Euro zum Ausbau von Ganztagsschulen.
Das sind Wahlgeschenke, die von Ihrer verfehlten Finanz-und Steuerpolitik ablenken sollen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, Länder undKommunen finanziell so auszustatten, dass diese ihre ur-eigenen Aufgaben im Schul- und Kulturbereich erfüllenkönnen und nicht in den Ruin getrieben werden.
Selbstverständlich werden wir mit der Bundesregierungüber die 4 Milliarden Euro reden,
aber entscheidend ist nicht die Ganztagsschule in ihrerStruktur, sondern der Inhalt, der dort gelehrt wird.
Den ganzen Tag in einer schlechten Schule – da lernt mansehr viel! Wir müssen zuerst die Qualität verändern. Daswerden wir mit unseren Bildungsstandards auch tun.Dazu brauchen wir weder die Aufforderung der Bundes-regierung noch eine Kopplung der Bundesregierung oderein neues Institut.
Ich möchte Sie nur an die Ergebnisse der PISA-Studieerinnern. Bei dieser Studie haben Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen gut abgeschnitten.Die Schlusslichter bilden Mecklenburg-Vorpommern,Bremen und Brandenburg. Lassen Sie mich in diesem Zu-sammenhang auf einen Punkt besonders hinweisen: Dieneuen Bundesländer haben in den letzten zehn Jahrendurch Umstrukturierung ein neues Schulsystem geschaf-fen. Wie sieht es heute aus? Selbst nach zehn Jahren derUmstrukturierung merken Sie deutlich, dass die unions-geführten Länder vorne stehen und dass die SPD-geführ-ten und die unter PDS-Beteiligung regierten Länder dieSchlusslichter in der Rangliste sind.
Zwischen den Schülern, die in Bayern lernen – der Frei-staat ist Spitzenreiter unter den deutschen Bundeslän-dern –, und den Schülern, die in Bremen lernen, besteht einBildungsunterschied, der sich in anderthalb bis zweiSchuljahren ausdrücken lässt. Das können wir nicht ak-zeptieren. So geht es nicht. Tatsache ist aber, dass dieunionsgeführten Länder eine konsequente Politik in denletzten Jahren gemacht haben.
Diese Politik zeichnete sich durch klare Werte und Über-zeugungen aus. Wir von der Union betonen immer Leis-tung und Leistungsbereitschaft. Unsere Bildungspolitikfordert nicht nur die Leistungsstärkeren, sondern fördertauch die Leistungsschwächeren angemessen. Das Ergeb-nis unserer Politik hat sich in der PISA-Studie gezeigt.
ImWahlprogramm 1998 hatte die SPD die Verdopp-lung der Investitionen in Bildung und Forschung an-gekündigt. Fakt ist: Der Plafond des BMBF wurde nur umrund 20 Prozent erhöht.
Das ist durchaus ein positiver Ansatz, Frau Bulmahn.Aber er bleibt deutlich hinter den Ankündigungen zurückund weist nach wie vor gravierende Mängel auf. Zum Ers-ten wurde die Mittelsteigerung nur mithilfe einer ver-deckten Kreditaufnahme erreicht. So werden die BAföG-Darlehen inzwischen von der Deutschen Ausgleichsbankgezahlt.
Zum Zweiten wäre dieses Ergebnis ohne die Erlöse ausdem Verkauf der UMTS-Lizenzen nie erreicht worden; daswissen wir alle. Die Bundesregierung hat sich aber bei die-sem Verkauf auf Kosten der Länder profiliert; denn durchdie Abschreibungsmöglichkeiten der Telekommunika-tionsfirmen ist das Steueraufkommen der Länder drama-tisch gesunken. Darunter leiden die Länder ganz besonders.
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Was ist mit den UMTS-Erlösen gemacht worden? Be-fristet auf drei Jahre standen der Bundesbildungsministe-rin jährlich 300 Millionen zusätzlich zur Verfügung.Diese Mittel wurden nahezu ausschließlich in große, pres-tigeträchtige Forschungsvorhaben investiert, die unseben vorgestellt worden sind. Auf der Strecke gebliebenist dabei die Grundlagenforschung in denjenigen Berei-chen, mit denen weniger Publicity erzielt werden kann alsmit Forschungsvorhaben in der Bio- und Gentechnologiesowie mit der Umweltschutzforschung. Dabei wissen wiralle, dass eine breite, fundierte Forschung in allen Berei-chen Grundlage für einen modernen und innovationsfähi-gen Staat ist.
Schwerpunkte dürfen nicht so einseitig gesetzt werden,wie Sie es getan haben.
Was nutzen 65 Millionen Euro für einige wenige Spitzen-forscher aus dem Ausland, wenn die Anschlussbedingun-gen von den Ländern finanziert werden müssen? Es wäreviel besser, wenn wir strukturelle Voraussetzungen inDeutschland schaffen würden, damit unsere Wissen-schaftler dauerhafte Stellen vorfinden.
Herr Kollege
Tauss!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war eben ein Beispiel, Herr Tauss. Offenbar habenSie nicht zugehört.Der Faktenbericht zum Bundesbericht Forschung 2002belegt, dass die Ausgaben für andere richtungsweisendeForschungsfelder wie die Weltraumforschung, die Fusions-forschung und die Kernenergieforschung gekürzt oder ein-gefroren und damit real gesenkt wurden. Das Einschränkender Forschung über die Strahlungssicherheit, meine sehrverehrten Damen und Herren von den Koalitionfraktionen,ist eine Unterlassungssünde gegenüber den kommendenGenerationen. Wir wollen nicht mehr wissen, wie wir bes-ser entsorgen können und was wir in diesem Bereich andersmachen sollen. Es gibt ganz neue Forschungsfelder, in denWerkstoffwissenschaften zum Beispiel. Dort könnten wireine Verbindung zur Kernforschung herstellen. Das sindneue Möglichkeiten, über die man gar nicht nachgedachthat. Man hat die Mittel abgesenkt.
Der von der Bundesregierung beschlossene Ausstiegaus der Kernenergie führt dazu, dass Deutschland seinengroßen technologischen Vorsprung auf diesem Gebietüber kurz oder lang verlieren wird.
Die sichersten Kernkraftwerke der Welt werden abge-schaltet, während wir von unzuverlässigen Kraftwerkenumgeben sind. Wir leben in einer globalisierten Wirt-schaft und Wissenschaft. Eine Bundesregierung, die im-mer wieder betont, wie modern sie ist – wir sehen es jetztjeden Tag an den Straßen –, müsste wissen, dass man ineiner globalisierten Welt keine Alleingänge unternehmenkann.
Gerade in den letzten Monaten ist das Ansehen rot-grüner Forschungspolitik rapide gesunken;
denn schließlich hat die Bundesregierung der deutschenWissenschaft nicht nur ab und zu mehr Geld, sondernauch eine Flut neuer Vorschriften beschert, die die Frei-heit von Wissenschaft einengt.
Der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaftstellte dazu in einer Überschrift in der „Zeit“ fest: „Wirverjagen unsere Forscher.“ Sein Nachfolger stellte beider Amtsübergabe nüchtern fest: „Wir haben im inter-nationalen Vergleich viel zu restriktive Gesetze.“ Nahezugleichlautend äußerte sich der Präsident der DeutschenForschungsgemeinschaft: Die gesetzlichen Rahmenbedin-gungen für die Forschung in Deutschland seien ver-schlechtert worden.
Eine solche Politik verpasst nicht nur viele Zukunfts-chancen, sie beschädigt auch das Ansehen und die Anzie-hungskraft Deutschlands in der internationalen Wissen-schaftlergemeinschaft.
Lassen Sie mich zum Haushalt zurückkommen. DieDifferenz zwischen Wahlversprechen und Wirklichkeitfällt noch größer aus, wenn man berücksichtigt, dass imHaushalt des BMBF nur rund zwei Drittel der For-schungsmittel des Bundes veranschlagt sind. In anderenBereichen, in denen Forschung vom Bund finanziert wird,im Technologiesektor zum Beispiel, ist fast unbemerktgekürzt worden. Der Bund hat in dieser Legislaturperiodedie Ausgaben für Forschung und Entwicklung mal geradeum magere 10 Prozent erhöht, eigentlich also nur dieGeldentwertung ausgeglichen. Von einer Verdoppelungder Mittel keine Spur.
Noch eines, meine Damen und Herren Abgeordnete:Frau Bulmahn hat eben so hervorgehoben, was sie für dieneuen Länder getan hat. Die neuen Länder sollten Chef-sache des Bundeskanzlers sein. Gemerkt haben wir davonnichts.
Die Schere zwischen Ost und West geht weit auseinander.
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Dies ist natürlich zuerst ein ökonomisches Problem. Es istaber auch ein psychologisches Problem; denn ohne rascheAngleichung der Lebensverhältnisse werden wir die in-nere Einheit Deutschlands eben nicht vollenden können.Ministerpräsident Bernhard Vogel hat schon vor einemJahr ein Sofortprogramm für die neuen Länder im Um-fang von rund 20 Milliarden Euro für die nächsten Jahregefordert und wir haben auch Deckungsvorschläge dazugemacht.
Wir haben fünf konkrete Projekte ausgearbeitet, mit de-nen die Infrastruktur in den neuen Ländern ausgebautwerden sollte. Wir haben unter anderem die Bildung vonKompetenz- und Innovationszentren für die Forschungvorgeschlagen. Nach wie vor, Frau Bulmahn, verfügendie neuen Länder über zu wenig Großforschungseinrich-tungen und über zu wenig Institute, die vom Bund antei-lig finanziert werden.
Die Forschungsabteilungen der großen Unternehmenbefinden sich überwiegend in den alten Ländern. DieBundesregierung hat durch Kürzungen und Haushalts-sperren im Bereich des Wirtschaftsministeriums die ausden Forschungsabteilungen der DDR-Kombinate hervor-gegangenen Forschungs-GmbHs nachhaltig geschwächt.Das ist durch die Förderung, die Sie jetzt für die KMUsgeben, nicht aufzuholen. Wir brauchen überhaupt erst ein-mal kleine und mittelständische Betriebe, die gefördertwerden können. Jetzt sind unsere kleinen und mittelstän-dischen Betriebe von Insolvenzen bedroht. Da nützt IhreFörderung nichts mehr.
Was nützt es uns in den neuen Bundesländern, wennein Teil der UMTS-Erlöse zur Förderung von Forschungund Technologie eingesetzt wurde, die Voraussetzungenzur Teilnahme an diesem DFG-Schwerpunktprogrammaber so hoch angesetzt worden sind, dass am Ende keinesdieser hoch dotierten Projekte in die neuen Länder ging?Im Übrigen ist bis heute noch nicht festgelegt, ob dieseProjekte weitergeführt werden können. Das heißt, wirbrauchen in den neuen Bundesländern nicht nur eine Pro-jektförderung, sondern vor allem strukturelle Hilfen.
Außerdem brauchen wir Unterstützung, damit unsere jun-gen Nachwuchswissenschaftler bei uns bleiben. Wir brau-chen diese Innovationszentren, damit sie bei uns Arbeits-plätze finden und nicht in die alten Bundesländer oder insAusland gehen müssen. Dauerhafte Arbeitsplätze müssenwir schaffen, nicht nur vorübergehende Arbeitsmöglich-keiten im Rahmen von Projekten.
Frau Ministerin,
ich darf Sie zwar nicht unterbrechen, aber ich möchte Sie
darauf hinweisen, dass Sie jetzt schon vier Minuten im
Regime Ihrer nächsten Rednerin sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann komme ich zum Ende.
Meine Damen und Herren, Bildung, Wissenschaft und
Forschung sind die Voraussetzungen für ein modernes,
wirtschaftlich stabiles und innovationsfähiges Deutsch-
land.
Die Bundesregierung hat es verpasst, dafür dauerhafte
Voraussetzungen zu schaffen. Die Union hat in ihrem Re-
gierungsprogramm klare Alternativen aufgezeigt. Wir
sind verlässliche Partner für Wissenschaft und Forschung.
Das werden wir Ihnen beweisen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Der Haushalt, den uns Ministerin Bulmahnvorlegt, sieht eine Steigerung von 2,6 Prozent vor. WennSie die Zahlen zusammen mit denen des Wirtschaftsmi-nisteriums ein bisschen schönrechnen,
kommen Sie über die vier Jahre auf ein Plus von 28 Pro-zent. Meine Stärke war nie die Mathematik, aber 100 Pro-zent sind es nun wirklich nicht, Frau Bulmahn. Das heißt,wir müssen am Ende Ihrer Regierungszeit konstatieren,dass Sie 100 Prozent versprochen, aber nur 28 Prozent ge-halten haben. Das ist entschieden zu wenig.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch inter-national vergleichen. Bei den Bildungsausgaben liegenwir nach wie vor deutlich unter dem OECD-Durch-schnitt; bei den Bruttoinlandsausgaben für Forschungund Entwicklung werden die Abstände zu den USA undJapan sogar von Tag zu Tag größer.
Bei uns sind es 2,4 Prozent, bei den Amerikanern 2,6 Pro-zent und in Japan 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Da-bei sind für uns als stark exportabhängige Nation Forschungund Entwicklung natürlich von besonderer Bedeutung.
Bei uns ist jeder dritte Arbeitsplatz vom Export abhängig,in Japan nur jeder siebte. Wir müssten also internationalbei Forschung und Entwicklung mindestens gleichziehen;
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Ministerin Dr. Dagmar Schipanski
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dies gilt gerade vor dem Hintergrund der derzeit stark ein-brechenden Exportzahlen.
Frau Bulmahn, Sie haben beim Etat etwas dazugelegt.
Aber auch hier gilt: Geld allein macht, wie wir alle wis-sen, nicht glücklich. Es muss effizient und mit einemKonzept eingesetzt werden. Daran mangelte es bei Ihnenin den gesamten vier Jahren.
Lassen Sie mich kurz auf das BAföG eingehen. Ichhabe noch gut in Erinnerung, Frau Bulmahn, wie Sie hierangetreten sind und uns ein elternunabhängiges BAföGversprochen haben.
Wir haben heute aber nur ein Plus von 40 Euro in derSpitze. Wo sind da die Vergleichsmaßstäbe und wie kom-men die Erfolgsmeldungen zustande, die Sie hier geradeverbreitet haben?
Zur Frage eines effizienten Mitteleinsatzes nehme ichein Beispiel aus dem Hochschulbereich. Sie finanzieren ausUMTS-Geldern Transferstellen zur Vermarktung von Ent-wicklungen der Hochschulen, ohne dass dafür – das sageich ganz deutlich – ein durchdachtes Konzept vorliegt.
Es reicht eben nicht aus, liebe Frau Bulmahn – gehen Siedoch einmal in die Unis –, dass Büroräume und ein PCvorhanden sind und dann eine Person dort sitzt, die war-tet, bis jemand mit einem vermarktungsfähigen Produkthereinkommt.
– Genau das läuft derzeit in den Transferstellen ab. Das istnicht das, was wir unter offensivem Transfer verstehen.Vielmehr bezeichnen wir diesen Einsatz deutscher For-schungsgelder als Gießkannenpolitik.
Das zweite Beispiel betrifft den Bereich Schule. Siewollen 4 Milliarden Euro für Ganztagsangebote ausge-ben. Darin stimmen Ihnen die Liberalen natürlich zu, auchwenn Sie gerade eben das Gegenteil behauptet haben.Aber wo ist denn das pädagogische Konzept? Wie stellenSie sicher, dass sich die Länder nicht erst einmal bedie-nen, bevor sie Mittel weitergeben, zum Beispiel das LandNordrhein-Westfalen, das zurzeit an seinem Not leiden-den Etat sozusagen zusammenbricht?Genau dieser Punkt betrifft zurzeit die Not leidendenGemeinden, denen Sie nicht durch eine begleitende Ge-meindefinanzreform die Luft geben, das Geld so einzu-setzen, wie es sein müsste. Sie haben ihnen außerdem einGeschenk gemacht, das anschließend zusätzliche Kostenin Höhe von 30 Prozent dieses Geschenkes verursachenwird. Woher soll dieses Geld für die Ganztagsschulenkommen?
Einen solchen Schritt hätte zwingend eine Gemeinde-finanzreform begleiten müssen. Frau Bulmahn, es war eingrober Fehler, dies zu unterlassen.
Wirkliche Qualitätsverbesserungen in der Bildung kön-nen nicht durch Geldsegen per Gießkanne erreicht werden,sondern nur durch ein durchdachtes Konzept, das vor Ortdauerhaft wirkt und langfristig finanziell gesichert ist.
Lassen Sie mich kurz nach links gucken und an dieAdresse von Frau Schipanski sagen – sie ist zwar geradein ein Gespräch mit Frau Professor Schuchardt vertieft –:Leistungsstandards wollen wir natürlich alle. Sie äußertenschon zum zweiten Mal hier im Deutschen Bundestag dieMeinung, die KMK habe in diesem Punkt schnell reagiert.Bei aller Liebe, es ist für mich keine schnelle Reaktion,bis 2004 bundeseinheitliche Qualitätsstandards für unsereSchulen zu erreichen.
Damit sich der Bund stärker engagieren, damit erInnovationen anstoßen und begleiten kann, haben wir, dieLiberalen, eine Bundesstiftung Bildung vorgeschlagen,deren Modell sich an dem der Bundesstiftung Umweltorientiert. Das Stiftungskapital soll aus Privatisierungs-erlösen aufgebracht werden; aus den Zinserträgen sollenBildungsprojekte gefördert werden, zum Beispiel bei dervorschulischen Bildung.Ich sage es ganz explizit und deutlich: Die FDP willKindergärten und Kindertagesstätten zu Orten mit einemersten Bildungsauftrag aufwerten und Ganztagsschulenausbauen.
Damit streben wir selbstverständlich auch das Ziel an, dieVereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.Die Erwerbsquote von Frauen ist bei uns im internationa-len Vergleich zu gering, auch deshalb, weil wir dieser seitJahrzehnten am besten ausgebildeten Frauengenerationnicht die Möglichkeit geben, ihren Beruf auszuüben undgleichzeitig ihre Kinder in qualitativ hochwertigen Ein-richtungen unterzubringen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Ulrike Flach25540
Zu diesem Thema gehört aber auch die Reform der Aus-und Fortbildung. Da erwarte ich natürlich mehr als nur guteWorte; dafür sind keinerlei Bundesmittel angekommen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch kurzetwas zum JUMP-Programm sagen.
Das geht immer wunderschön durch die Medien, aber nichtin dem Sinne, Frau Bulmahn, wie Sie das gerade wiederdargestellt haben. Sehen Sie sich das an: „Deutlich mehrJugendliche auf Arbeitsuche“. Die durchschnittliche Zahljugendlicher Arbeitsloser ist höher als 1999. Das heißt, Siehaben hier ein Programm auf die Schiene gesetzt, in dessenRahmen Sie ganz offensichtlich Menschen lediglich inQualifizierungsmaßnahmen hineinschubsen, ihnen abernicht den Weg zum ersten Arbeitsmarkt eröffnen.
Die FDP ist ja leider in ihrer Redezeit etwas be-schränkt.
– Ich weiß, dass Sie das nicht bedauern, Herr Tauss. Spä-testens nach PISAhaben die Menschen erkannt, dass es inDeutschland mit der Bildung nicht zum Besten steht. DieSchuld hierfür – darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu –muss natürlich in erster Linie bei den Ländern gesuchtwerden. Aber selbstverständlich können Sie als Bundauch Flagge zeigen. Das haben wir bei Ihnen in dieser Le-gislaturperiode vermisst.
Sie haben sich bei der härtesten Debatte dieser Wahl-periode, die sich mit der Stammzellforschung befasste,bedeckt gehalten. Sie haben die Chance vertan, Bildungals das Megathema dieses Jahrhunderts nach vorn zu brin-gen. Das BMBF ist bei Ihnen nach wie vor reiner Verwal-tungsapparat. Wir Liberalen wollen ein Innovationsminis-terium; dafür werden wir kämpfen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Der Einzelplan 30 soll weiter an-wachsen.
Ich erkenne an, dass Rot-Grün mit der jahrelangen Plün-derung der Bildungs- und Forschungsausgaben unter derVerantwortung von CDU/CSU und FDP tatsächlichSchluss gemacht hat.
Im Jahre 2004 soll dieser aber um 2,8 Prozent gekürztwerden.
Ich finde es unredlich, heute wahlkampfwirksam eineweitere Steigerung des BMBF-Etats für 2003 zu präsen-tieren, die Pläne für massive Einschnitte ab 2004 aberlängst in der Schublade zu haben.Frau Ministerin Bulmahn, vor vier Jahren sprachen Sienoch von einer Verdoppelung der Bildungs- und For-schungsausgaben. Sie möchten unter dem Eindruck desPISA-Schocks punkten. Das kann ich ja verstehen. Siehaben die Hoffnung, dass niemand genauer hinsieht,wofür das Geld ausgegeben wird. Ich habe genau hinge-sehen: Der Löwenanteil entfällt nach wie vor auf die For-schungs- und Technologieförderung.Allein über 7 Mil-lionen Euro werden im Weltraum verpulvert. DieFörderung umstrittener Vorhaben in der Genforschungwird massiv aufgestockt. Die Ausgaben für die berufli-che Bildung und für die Weiterbildung werden aber um15 Prozent gekürzt. Das Sonderprogramm zur Schaffungzusätzlicher Ausbildungsplätze in den neuen Ländern sollinnerhalb von vier Jahren auf weniger als die Hälftezurückgefahren werden, ohne dass sich die Ausbildungs-platzsituation in Ostdeutschland wirklich verbessert hätte.Das halte ich für einen Skandal.
Ich habe ebenfalls kein Verständnis dafür, dass dieBundesregierung die Ausgaben für den Hochschulbaueinfrieren möchte. Der Bund investiert bereits jetzt eineviertel Milliarde Euro zu wenig in den Aus- und Neubauvon Hochschulen. Damit aber nicht genug. Mit den knap-pen Mitteln sollen in Zukunft auch noch Privathochschu-len finanziert werden. Bund und Länder müssen derGemeinschaftsaufgabe Hochschulbau endlich den Stel-lenwert geben, den sie braucht.Die PDS wurde für den Vorschlag, ein Bund-Länder-Sonderprogramm „Schuloffensive 2003 – 2006“ aufzu-legen, mit Verweisen auf die Zuständigkeit der Länderbelächelt. Inzwischen macht der Bundeskanzler persön-lich mit einem Bundesprogramm zur Finanzierung vonGanztagsschulenWahlkampf.
Persönlich erfüllt es mich ja mit etwas Genugtuung, dasssich die Bundesregierung als beweglich erwiesen hat.
Schade nur, Herr Tauss, dass Wahlkampfversprechen undpolitische Wirklichkeit etwas auseinander klaffen.
Statt der versprochenen Milliarden sind im Bundeshaus-halt 2003 erst 300 Millionen Euro zu finden. Wie derKanzler damit 10 000 zusätzliche Ganztagsschulen finan-zieren will, bleibt offensichtlich sein persönliches Ge-heimnis.
Meine Damen und Herren, bei den öffentlichen Inves-titionen in Bildung hat Deutschland im Vergleich zu an-deren Industrieländern einen erheblichen Nachholbedarf.Wenn wir die Finanzierung der Zukunftsaufgabe Bildung
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Ulrike Flach25541
nicht endlich sichern, wird Deutschland bei der nächstenStudie auf dem letzten Platz landen. Es kann nur hilfreichsein, den Entscheidungsstau in der Kultusminister-konferenz endlich aufzubrechen. Hier gebe ich meinerKollegin Frau Flach Recht. Ich hätte mir schon ge-wünscht, dass das nach so langer Zeit ein wenig schnellergeht und dass es nicht erst im Jahre 2004 beginnen soll.
Das Wort hatjetzt Frau Bundesministerin Christine Bergmann.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!Die letzten vier Jahre waren für die Familien in unseremLand gute Jahre.
Wir haben Deutschland kinder- und auch familienfreund-licher gemacht. Wir haben gehandelt und den Reformstauaufgelöst. Das kann man ziemlich gut belegen.Wir haben die finanziellen Leistungen für Familien er-höht.
Im Jahre 2002 sind es 13 Milliarden Euro mehr als 1998.Mit den Karlsruher Beschlüssen haben wir die Quittungfür Ihr Nichthandeln bekommen. Das wollen wir hierauch einmal festhalten.
Wir haben das Kindergeld dreimal erhöht. Die Familienprofitieren von der Steuerreform, vom BAföG und vonder Wohngeldreform. Überall wurden familienfreund-liche Maßnahmen eingeleitet.Mit der Elternzeit und dem Rechtsanspruch auf Teil-zeitarbeit haben wir aber auch die Rahmenbedingungenfür Familien deutlich verbessert. Von der CDU/CSU ha-ben wir schon gehört, dass sie diesen Rechtsanspruchüberhaupt nicht will.Mit der Schaffung des Rechts auf gewaltfreie Erzie-hung haben wir nachweisbar dafür gesorgt, dass der Um-fang der Gewalt in den Familien zurückgegangen ist.
Ich bedanke mich bei allen, die zum Zustandekommendieses Gesetzes beigetragen haben.Sie, die Abgeordneten der CDU und der CSU, wolltendieses Gesetz nicht. Sie haben gesagt: Das hat ja alles kei-nen Sinn. Vielleicht wollten Sie das elterliche Züchti-gungsrecht noch ein bisschen aufrechterhalten. Bei dervon uns gestarteten Aktion haben viele mitgemacht. Ichbin wirklich sehr froh, sagen zu können, dass die Begleit-untersuchung zeigt: Was wir wollten, ist in der Gesell-schaft angekommen; es zahlt sich aus, wenn die Politikganz massiv versucht, ein gesellschaftliches Leitbild zuverändern. Das hilft den Kindern und verbessert das ganzeKlima in unserem Land.
Wie gesagt, Sie haben immer blockiert. Sie wollen dasTeilzeitgesetz abschaffen usw. Sie werden keine Zeit fürUntaten bekommen. Dafür werden wir sorgen.
Wir werden unsere moderne, zeitgemäße Familien-politik fortsetzen. Unsere Familienpolitik orientiert sichan den Lebenswünschen der Menschen. Sie schreibt ihnennicht vor, wie sie leben sollen.
Nach unseren Vorstellungen haben Frauen das gleicheRecht auf Erwerbsarbeit wie Männer. Wir unterstützenVäter, die sich der Erziehungsarbeit stärker widmen wol-len. Wir helfen jungen Menschen, Frauen und Männern,dabei, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen.
Das wird akzeptiert. Nicht umsonst haben wir, was dieEinschätzung der Kompetenz angeht, in der Familien-politik einen großen Vorsprung vor allen anderen in die-sem Haus.
Zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört füruns eine gute, familienfreundliche Infrastruktur, damit El-tern wirklich Wahlfreiheit haben.Frau Reiche, Ihnen ganz persönlich herzlichen Glück-wunsch zum Nachwuchs!
Ich wünsche, dass er gut gedeiht. Das ist immer wichtig.Frau Reiche, Sie kommen aus einem Bundesland, indem man Familie und Beruf gut vereinbaren kann. InBrandenburg gibt es nämlich ein Kitagesetz. Dieses Ge-setz enthält einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungs-platz in einer Kindertagesstätte von der Geburt bis zursechsten Klasse. Der Anteil der Krippenplätze liegt beiknapp unter 50 Prozent. Die Situation dort ist also wun-derbar.Wir wissen aber, dass der Alltag in Deutschland andersaussieht. Beispielsweise kann eine Mutter in Bayern, diein Ihrer Situation ist, nur auf ein wesentlich schlechteresKrippenplatzangebot zurückgreifen. In Bayern liegt derAnteil der Krippenplätze bei 1,3 Prozent. Wenn dieseMutter einen Ganztagsplatz in einer Kita sucht, dann stellt
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Maritta Böttcher25542
sie fest: Es ist äußerst schwierig. Der Anteil der Kitas mitGanztagsbetreuung liegt nämlich nur bei 20 Prozent. Aufdas Thema Ganztagsschule komme ich später zu spre-chen. So sieht die Wirklichkeit in unserem Land aus. DieKompetenz auf diesem Gebiet liegt bei uns und wir wer-den unsere Politik fortsetzen.
Wir brauchen den Ausbau der Ganztagsangebote.Das Zukunftsprogramm „Bildung und Betreuung“, indas viel Geld fließt, trägt dem Rechnung. Bekanntlichheißt es: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Es heißtnicht: An ihren Sprüchen über ihre Taten sollt ihr sie er-kennen.
In dieses Programm fließen 4 Milliarden Euro. Wir wol-len erreichen, dass ein zusätzliches Angebot zur Verfü-gung steht. Dahinter steckt natürlich ein pädagogischesKonzept. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sich an-dere auf diesem Gebiet zurückhalten können. Kommunenund Länder, Wohlfahrtsverbände und Unternehmen, siealle haben das Ihre zu tun, damit auch das Angebot in denanderen Bereichen verstärkt wird. Frau Lenke, dafürbrauchen wir natürlich den Betreuungsgipfel.
Wir werden ihn veranstalten, um zu verbindlichen Zusa-gen zu kommen.
Wir wissen: 70 Prozent der Mütter in den alten Bun-desländern, die ein Kind oder Kinder unter zwölf Jahrenhaben und derzeit nicht erwerbstätig sind, wünschen eineErwerbsarbeit.
Sie können ihren Wunsch allerdings nicht realisieren, weildie Betreuung ihres Nachwuchses nicht gewährleistet ist.Ungefähr 50 Prozent dieser Mütter möchten ihre Arbeits-zeit zwar ausdehnen, können es aber nicht, weil ihnenkeine Ganztagsbetreuungsangebote zur Verfügung ste-hen.Natürlich geht es uns nicht nur um die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf, sondern auch um die Chancen-gleichheit, um Bildungsangebote für Kinder. PISA hatuns auch gelehrt – da sind wir uns ja einig –, dass wir sehrviel mehr auf die frühkindliche Bildung und Erziehungsetzen müssen.
Bildung beginnt nicht erst im Schulalter. Deswegen habenwir schon Vorarbeiten geleistet, um in der nächsten Le-gislaturperiode mit einem nationalen Bildungsplan fürden vorschulischen Bereich, die Kindertagesstätten, an-zufangen.
– Die Eltern gehören dazu. Das ist selbstverständlich undgar nicht das Thema. Darüber müssen wir uns nicht strei-ten.
Wir haben eine nationale Qualitätsinitiative gegründet,die für uns schon viele Vorarbeiten geleistet hat. Hier kön-nen wir einsteigen und dazu beitragen, dass wirklich füralle Kinder, nicht nur für die Kinder der Begüterten, Chan-cengleichheit in unserer Gesellschaft umgesetzt wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch etwas zuden Vorschlägen der Hartz-Kommission sagen, die ichsehr begrüße. Zu Herrn Seehofer – er ist leider nicht mehranwesend – kann man nur sagen: Offensichtlich hat ervieles von dem, was in dieser Legislaturperiode getanwurde, nicht mitbekommen. Ich meine zum Beispiel dasJob-AQTIV-Gesetz, das genau in die Richtung der Vor-schläge zielt, die die Hartz-Kommission vorgelegt hat.
Die Punkte, die die Hartz-Kommission von uns über-nommen hat, zum Beispiel die Zusammenführung vonArbeitslosen- und Sozialhilfe, hilft gerade Frauen, diejetzt als nicht vermittelbar gelten und Sozialhilfe beziehen,von Vermittlungs- bzw. Arbeitsmarktangeboten Gebrauchzu machen. Berufstätige Mütter werden vorrangig vermit-telt. Außerdem haben wir – darauf werde ich noch zurück-kommen – die Zusage, dass wir auch im kommunalen Be-reich mit den Mitteln, die jetzt die Bundesanstalt ausgibt,im individuellen Fall Betreuungsangebote ausbauen kön-nen. Das ist wunderbar. Ich begrüße die Vorschläge sehr.
Meine Damen und Herren, die Flutkatastrophe hat unsgezeigt, dass wir nicht in einer Egogesellschaft leben unddass es viel Solidarität gibt. Ich möchte nur auf die Soli-darität und die Hilfe der Jugendlichen eingehen. Wir ha-ben gesehen, wie Jugendliche, die ja sehr gerne verdammtwerden, als ob sie sich nur um ihr Vergnügen kümmernwürden, hier zugepackt haben. Auch jetzt kommen immernoch Jugendliche zu uns und fragen: Was können wir tun?Wir haben sehr schnell gehandelt. Neben den großenMilliardenprojekten, die zur Unterstützung dieser Regio-nen zur Verfügung gestellt wurden, haben wir das Pro-gramm „Jugend hilft“ aufgelegt. Zusätzlich haben wir dieMöglichkeit geschaffen, in den betroffenen Regionen1 000 zusätzliche Freiwilligenplätze für ein sozialökolo-gisches Jahr einzurichten. Die Träger vor Ort wissen das.
Wir können dort bis zu 3 000 Zivildienstplätze realisieren.
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann25543
Es gibt bereits Nachfragen. Das finde ich toll. Die Jugend-lichen fragen ja schon, ob sie dort arbeiten können. Wir ha-ben in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundes-jugendring bis zu 3 000 Plätze geschaffen, um jungenLeuten die Möglichkeit zu geben, eine Woche oder14 Tage – je nachdem, wie viel Zeit von ihrem Urlaub siedarauf verwenden möchten – aufzubringen, um vor Ortmitzuhelfen und mit aufzubauen. Das ist doch toll.
Da es um Engagement geht, möchte ich noch Folgen-des sagen: Wir haben mit unserer Beteiligungsbewegungviele Möglichkeiten erschlossen, auch solche zu experi-mentieren. Es gibt hervorragende Vor-Ort-Aktionen, beidenen Jugendliche bzw. Kinder in der Kommune beteiligtwerden. Ich kann Sie nur ermuntern, das vor Ort mit zuunterstützen.Was mich in den letzten beiden Jahren aber am meistenüberzeugt hat, war das Engagement der Jugendlichen inunserem Programm „Jugend für Demokratie und Tole-ranz“.
In diesem Rahmen haben wir über 2 500 Projekte ge-fördert. Es ist schon sehr beeindruckend zu sehen, wie dieJugendlichen vor Ort auch einmal die Älteren, die ein sol-ches Projekt vielleicht nicht besonders wichtig finden,überzeugen, mitzumachen. Dieses Programm ist auch imHaushalt 2003 mit einem Betrag von 45 Millionen Euroeingeplant.
Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ichnoch einige Sätze sagen. Zurzeit findet im AuswärtigenAmt eine große internationale Tagung statt. Dabei handeltes sich um eine UNECE-Ministerkonferenz, bei der es umdas Thema demographischer Wandel geht. Wir wollenden Weltaltenplan, der im April dieses Jahres in Madridbeschlossen worden ist, umsetzen und implementieren.Wir haben sehr dafür gekämpft – die entsprechenden Ab-geordneten wissen das –, um diese Tagung hier stattfindenzu lassen, um das Thema in den Vordergrund zu rückenund um uns auf diesen demographischen Wandel, beidem es um das Bild der Älteren in der Gesellschaft undum ihre bessere Einbeziehung geht, vorzubereiten.Dazu möchte ich zwei Punkte nennen. Zunächst zurEinbeziehung in den Arbeitsmarkt. Nur 35 Prozent derMenschen, die über 55 Jahre alt sind, sind noch im Ar-beitsmarkt. Hier hat das Bündnis für Arbeit Weichen ge-stellt. Hier finden Sie auch in den Vorschlägen der Hartz-Kommission genau die richtigen Wege, Menschen nichtso früh aus dem Arbeitsmarkt auszusondern, sondern siedort zu belassen, weil wir sie brauchen.Ich muss noch einen Satz sagen, weil Herr Seehoferhier vorhin ziemlichen Unsinn geredet hat.
– Ich kann es gleich belegen. – Es muss auch gesagt wer-den, was mit Menschen geschieht, die pflegebedürftigsind. Irgendwo muss Ihnen entgangen sein, dass wir indieser Legislaturperiode einen riesigen Reformstau ab-gebaut haben, um die Qualität der Pflege zu verbes-sern:
Heimgesetz, Pflege-Qualitätssicherungsgesetz und Pfle-geleistungs-Ergänzungsgesetz, durch das insbesonderebei Demenzerkrankungen Angehörige und BetroffeneHilfe bekommen.Nun sage ich noch etwas, wo Sie eigentlich aufschreienmüssten: Die bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung,die so notwendig ist, um Pflegequalität zu sichern und zuverbessern,
wird meines Wissens von Bayern vor dem Bundesverfas-sungsgesetz seit einem Jahr blockiert.
Herr Seehofer hätte das ja zurückziehen können; es istnämlich nur Bayern, das hier blockiert.Bayern hat aber auch ganz erhebliche Probleme mitder Pflege, denn man zieht durch die neuen Bundeslän-der und wirbt dort Altenpflegerinnen ab. So kann manseine Probleme auch lösen, aber das ist nicht gerade sehrfair.Wenn wir schon bei dem Thema sind –
Frau Ministerin,Sie hatten gesagt: nur noch drei Sätze.Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend: – ja, ich sage denletzten Satz –, darf dann der Kandidat gleich die Klagegegen den Risikostrukturausgleich der Krankenkas-sen – das sage ich an die Adresse von Frau Schipanski –zurückziehen. Eine Änderung desselben würde nämlichdie neuen Bundesländer unwahrscheinlich belasten.
Ich denke, wir wollen eine Gesellschaft, in der dieMenschen solidarisch miteinander umgehen, in der Chan-cengleichheit für Kinder besteht, in der Frauen und Män-ner ihr Leben selbstbestimmt gestalten können, in der ge-nerationenübergreifende Solidarität bewahrt wird und alledie Hilfe bekommen, die sie brauchen. Das wollen wir.Die Menschen wissen, dass wir die entsprechende Kompe-tenz haben. Deshalb arbeiten wir daran nach dem 22. Sep-tember auch weiter.
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann25544
Danke schön.
Zu einer Kurz-
intervention erhält jetzt die Kollegin Lenke das Wort.
Also, Frau Bergmann, ich möchte
Aussagen von Ihnen zitieren: Wir haben den Reformstau
aufgelöst,
bei uns haben Frauen das gleiche Recht auf Erwerbstätig-
keit, Familie und Beruf. Was aber haben Sie gemacht?
Nichts! Sie haben in den vier Jahren keinen einzigen Kin-
dergartenplatz geschaffen.
1998 – daran möchte ich Sie erinnern – hat Herr Schröder
in seiner Regierungserklärung gesagt, wir brauchen mehr
Ganztagsbetreuung für Kinder. Sie aber haben nichts
gemacht. Erst als die Legislaturperiode zu Ende ging, fin-
gen Sie mit dem Betreuungsgipfel an. Dieser Betreuungs-
gipfel, Frau Bergmann, hat erstens in dieser Legislaturpe-
riode nicht stattgefunden und zweitens bringt er in dieser
Legislaturperiode keinen Betreuungsplatz. Wenn Sie,
liebe Frau Bergmann, sagen, 70 Prozent der Frauen mit
Kindern wollen arbeiten gehen, warum haben Sie denn
dann 1998 nach der Regierungserklärung nicht entspre-
chende Möglichkeiten geschaffen? Sie haben nichts ge-
macht.
Wenn dann Frau Bulmahn sagt, für Bildung in der
Schule werden 4 Milliarden Euro ausgegeben,
möchte ich einmal wissen, Frau Bergmann: Werden von
den 4 Milliarden Euro auch die Bildungskosten für Kin-
der in Kindergärten bezahlt? Wird davon auch mehr Be-
treuung subventioniert? Ich habe das Gefühl, hierbei han-
delt es sich nur um einen Verschiebebahnhof. Sie sagen:
Wir wollen das Geld für die Betreuung von Kindern in
Kindergärten. Frau Bulmahn sagt: Wir brauchen das Geld
in der Schule. Ich habe an Sie eine schriftliche Anfrage
gerichtet; die wird von Ihnen noch in dieser Legislaturpe-
riode schriftlich beantwortet werden müssen.
Dann möchte ich noch etwas zu anderen Verschiebe-
bahnhöfen sagen: Um 30 DM mehr Kindergeld zu er-
möglichen,
haben Sie den Alleinerziehenden den Haushaltsfreibetrag
gestrichen.
– Da können Sie sich aufregen, aber das steht in Ihrem
zweiten Familienfördergesetz. Sie haben die Steuer-
erleichterungen für haushaltsnahe Dienstleistungen, die
Haushaltshilfen, gestrichen. Sie haben den steuerlichen
Freibetrag für Eltern, deren Kinder auswärts studieren, zu-
sammengestrichen. Dann aber kommt Frau Bulmahn hier-
her und sagt, es gebe mehr BAföG. – Da frage ich mich: Ist
das denn kein Verschiebebahnhof? Als Opposition müssen
wir hier wesentlich mehr aufklären, was für Verschiebe-
bahnhöfe Sie während Ihrer Regierungszeit – in die eine
Tasche bei den Familien hinein und aus der anderen Tasche
bei den Familien wieder heraus – errichtet haben.
Sie waren auch überhaupt nicht hilfreich, was Tages-
mütter und Aupairmädchen anbelangt. Sie hätten die Au-
pairmädchen fast vom Markt verschwinden lassen,
wenn Herr Niebel nicht aus der Opposition heraus dafür
gesorgt hätte, dass für Aupairmädchen keine Renten- und
Krankenversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen.
Wenn Sie ein schlechtes Gedächtnis haben – meines ist
sehr gut.
Frau Kollegin
Lenke, die Zeit für eine Kurzintervention beträgt drei Mi-
nuten.
Frau Ministerin, auch Sie haben drei Minuten.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich antworte gerne,
Frau Lenke, weil ich denke, dass auch Ihnen klar ist, dass
die Aufgabe, Kinderbetreuungseinrichtungen zu finan-
zieren und vorzuhalten, primär Sache der Länder und
Kommunen ist.
– Ja, natürlich, das ist so. – Wir haben den Ländern und
Kommunen nicht erst jetzt, sondern schon früher dafür
mit dem Zweiten Gesetz zur Familienförderung Geld zur
Verfügung gestellt. Nehmen Sie das doch einmal zur
Kenntnis!
Als es beim Zweiten Gesetz zur Familienförderung um
das Kindergeld ging, kam der eine oder andere Minister-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das können wir gar nicht bezahlen,wir müssen Kinderbetreuungseinrichtungen ausbauen.Darauf haben wir geantwortet: Na schön, baut die Ein-richtungen aus, wir übernehmen dafür einen Teil euresAnteils am Kindergeld. Das waren 2 Milliarden DM, diebeim Zweiten Gesetz zur Familienförderung an die Ländergegangen sind. Hier haben wir Geld umgelenkt und dasmuss Ihnen klar sein.
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann25545
Jetzt geben wir noch einmal 4 Milliarden Euro aus,weil wir wollen, dass es schneller geht.
Das ist auf die Jahre verteilt und muss erst einmal ab-fließen. Wenn mehr benötigt wird, werden wir auch dafüreine Möglichkeit finden; davon bin ich überzeugt.Deswegen ist der Betreuungsgipfel so wichtig; denn eskann natürlich nicht sein, dass der Bund alle Lückenschließt.
– Ich war immer gut in Mathematik, keine Sorge. – Wirmüssen alle anderen mit am Tisch haben. Natürlich dür-fen die Kommunen nicht sparen, wenn es jetzt nicht soviele Drei- bis Sechsjährige gibt, sondern sie müssen dasGeld für die Zweijährigen einsetzen oder in die Ganz-tagsschule oder Ähnliches investieren.
Das Geld dafür fällt ja nicht vom Himmel. Auch die Wirt-schaft darf sich daran beteiligen. Wenn wir jetzt nochPartner bei den Arbeitsämtern haben, ist das wunderbar.Zu dem zweiten Punkt, den wir hier ebenfalls schonhundertmal rauf- und runterdiskutiert haben, dem Haus-haltsfreibetrag. Sie wissen, dass wir einen Beschluss desBundesverfassungsgerichts haben,
der uns aufgegeben hat, die Ungleichbehandlung zu be-seitigen.
Da niemand 25 Milliarden hinlegen kann, um mit der an-deren Seite gleichzuziehen, blieb uns gar nichts anderesübrig. Wir haben als Ausgleich die steuerliche Absetzbar-keit von Kinderbetreuungskosten. Aber das wissen Sie jaalles; ich wollte es hier nur noch einmal sagen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katherina Reiche.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Zunächst, Frau Ministerin, be-danke ich mich für die Glückwünsche, die ich unabhän-gig vom Wahlkampf gut gebrauchen kann.
„Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auchendlich Taten sehn“, schrieb ein großer Klassiker. Tatenmöchten auch die Familien endlich sehen. Allein das istein Grund für einen Regierungswechsel.
Während die SPD bekundet, dass sie die Partei derFamilie sei, zeigt der Haushaltsentwurf ganz deutlich,dass die Familienministerin 2003 weniger Geld zur Ver-fügung hat. Ihr Haushalt schrumpft. Das zeigt IhreSchwäche.
Das verwundert aber nicht weiter. Dem Ministeriumfür – da zitiere ich Bundeskanzler Schröder – „Frauen undGedöns“
– Sie können es nicht mehr hören, er hat es aber gesagt –wurde in den vergangenen vier Jahren nicht viel Beach-tung geschenkt. Erst nachdem eine breite gesellschaftspo-litische Debatte zur Bedeutung von Familien und Frauenin Deutschland aufbrach, hat die Regierung diese Bedeu-tung erkannt. Man erklärte das Feld flugs zur Chefsacheund schon musste die Ministerin beiseite treten.Die familienpolitische Bilanz von Rot-Grün steht inkrassem Widerspruch zu Ihren Ankündigungen und zudem, was Sie eben gesagt haben. Sie erhöhen auf der ei-nen Seite das Kindergeld, auf der anderen Seite aber kom-men die Ökosteuer und gestiegene Verbrauchsteuernhinzu und belasten die Familien.
Haushaltsbezogene Dienstleistungen sind seit derSteuerreform gestrichen. Das Bundesverfassungsgerichthat nicht gefordert – wie eben gesagt wurde –, den Be-treuungsbetrag für Alleinerziehende zu streichen. Es gingvielmehr um eine Gleichstellung. Aber Ihnen fehlte diepolitische Fantasie und der Gestaltungswille, um zu einervernünftigen Lösung zu kommen.
Die Union war schon immer Familienpartei. Es warnämlich die Union, die die wesentlichen familienpoliti-schen Leistungen wie Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub,den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz oderauch die Anerkennung von Kindererziehungszeiten beider Rente – zum Teil gegen Ihren Widerstand – durchge-setzt hat. Keine dieser Maßnahmen wurde von der SPDangestoßen.
Auch die vollmundig angekündigte Kindergelderhöhungist seit dem letzten Wochenende vom Tisch. Dies ist einweiteres gebrochenes Versprechen von Rot-Grün.
Sie glauben offensichtlich nicht einmal mehr Ihrem eige-nen Wahlprogramm. Passen Sie Ihr Programm an diewahren Absichten an! Sonst wäre es schon jetzt ein doku-mentierter Wahlbetrug.
Es geht hier um mehr als nur um einen Rückzieher; esgeht um unterschiedliche Konzepte. Sie setzen auf Ver-
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Bundesministerin Dr. Christine Bergmann25546
staatlichung der Erziehung; wir setzen mit dem Familien-geld auf eine echte Wahlfreiheit.
Eltern sollen entscheiden können, ob und in welchemUmfang sie sich der Betreuung ihrer Kinder widmen oderob sie Betreuung außer Haus möchten. Diesen familien-politischen Wünschen stehen wir allemal näher als Sie, da90 Prozent der jungen Paare in den ersten drei Jahren ihreKinder selbst betreuen wollen.
Aus Mangel an Konzepten versuchen Sie zudem noch,die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Frauen gegen-einander auszuspielen.
In der Welt von Rot-Grün existiert halt nur die halbtags-beschäftigte Mutter als gesellschaftspolitisches Ideal.
Wir schreiben den Menschen nicht vor, wie sie zu lebenhaben.
Sie diffamieren das Familiengeld als Gebärprämie. Sietun damit Frauen Unrecht, die Familienarbeit leisten, undpreisen stattdessen die Ganztagsschule als Allheilmittel.Auch hier zeigt sich Ihr ideologischer Tunnelblick, nachdem Motto: Der Staat wird es schon irgendwie richten.
Wir vertrauen den Menschen unser Familiengeld an.Wir holen damit nicht nur 1 Million Kinder aus der So-zialhilfe. Wir entlasten damit auch die Länder und Kom-munen. Es war Ihre Steuerreform, die die Kommunen fi-nanziell ausbluten ließ, sodass sie momentan keinefinanziellen Spielräume haben, Betreuungsmöglichkeitenanzubieten.
Zur Wahlfreiheit zählen natürlich auch ein flexiblesund qualitativ hochwertiges Betreuungsangebot und einefamilienfreundliche Arbeitswelt. Aber Sie haben versagt.Sie brauchen nicht den Betreuungsgrad von angeblich1,3 Prozent für unter 3-Jährige in Bayern zu nennen.Falsche Zahlen werden nicht richtiger, wenn man sie öf-ter zitiert. Es sind nämlich 3,5 Prozent. In Rheinland-Pfalz sind es nur 1,4 Prozent. Hier zeigen sich schon Un-terschiede. In den neuen Bundesländern sind es Sachsenund Thüringen, die die höchsten Betreuungsraten auf-weisen.Wir brauchen natürlich mehr Betreuungsangebote ge-rade in den alten Ländern. Das ist völlig unbestritten. Aberes geht nicht nur um Quantität. Es geht vor allem um Qua-lität, zum Beispiel auch um eine verlässliche Grundschulemit Unterrichtsgarantie.
Sie denken an Ganztagsschulen. Aber den Kindern ist mitZwangsverschulung nicht gedient.
Wir wollen ein vielfältiges Angebot schaffen, das denBedürfnissen der Kinder entspricht.
Betreuung schließt eben auch Erziehung und Werte-vermittlung ein. Der Begriff Wertevermittlung kam beiIhnen überhaupt nicht vor. Nur ein wertegebundenes Be-treuungsangebot, das gemeinsam mit den Eltern den Mutzur Erziehung beweist, wird Kindern helfen, zu verant-wortungsbewussten und selbstständigen Persönlichkeitenzu werden.
Die vergangenen vier Jahre waren zudem verloreneJahre für die Schaffung einer familienfreundlichen Ar-beitswelt.Es gab Regulierungswut und Zementierung desArbeitsmarktes. Wir sind nicht gegen einen Teilzeitan-spruch für Frauen oder für Personen, die Familienan-gehörige pflegen. Wir sind nur gegen einen generellenTeilzeitanspruch.
Es ist schon ein Unterschied, ob sich jemand um sein Kindkümmert oder ob er sein persönliches Freizeitkonto auf-möbeln möchte.
Ich halte den Weg der Kooperation mit den Betrieben fürden einzig richtigen. Es geht nur mit einem partnerschaft-lichen Miteinander.Was nützt übrigens der Anspruch auf Teilzeit, wennFrauen keinen Arbeitsplatz finden? Das ist das eigentlicheProblem in diesem Land. Bei der Bekämpfung der Frau-enarbeitslosigkeit haben Sie versagt. Im Vergleich zumMonat Juli ist die Arbeitslosigkeit von Frauen nämlich um2 Prozent gestiegen.
Jede zehnte Frau in Deutschland, die arbeiten möchte,kann nicht arbeiten. In Ostdeutschland ist es sogar jedefünfte Frau.
Die Arbeitslosigkeit ist eine Geißel – das wissen Sie –für Familien, für Frauen, für Alleinerziehende und fürjunge Menschen. Seit 1998 gibt es 56 000 jugendlicheArbeitslose mehr in Deutschland. Die Abwanderungsbe-wegung von Ost nach West hat dramatische Ausmaßeangenommen. Jährlich wandert eine Kleinstadt, nämlich
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Katherina Reiche25547
44 000 junge Menschen, von Ost nach West ab. Sie tunnichts dagegen.
Das Vorzeigeprojekt JUMP war wenig effektiv. Von770 000 Teilnehmern hat nicht einmal jeder Zweite einereguläre Ausbildung bekommen. JUMP war für viele Ju-gendliche der Sprung ins Leere, ja der Sprung ins Abseits.Was liest man auf den Internetseiten von JUMP: Es wür-den momentan keine Zahlen über das Sofortprogrammveröffentlicht.
Wenn die Wirklichkeit also nicht so ist, wie Sie sie habenwollen, dann stellen Sie das eben anders dar.Familienpolitik in Deutschland muss zur Familienvor-rangpolitik werden. Die Zukunft der Familie ist eineFrage der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Die demo-graphische Entwicklung ist eine tickende Zeitbombe.Ohne Kinder sind wir ein Land ohne Zukunft und ohneKreativität. Wir haben ein Gesamtkonzept für Familien-politik vorgelegt. Es ist eine Wirtschafts-, Steuer-, Sozial-und Gesellschaftspolitik aus einem Guss. Wir brauchenvor allem einen gesellschaftlichen Mentalitätswechsel.Der geht alle an, Tarifpartner und Kommunen, Eltern undKinderlose, Bildungseinrichtungen und -institutionen,Verbände und Kirchen. Eine familienfreundliche Gesell-schaft zu schaffen ist auch Aufgabe der Politik. Das wol-len wir mit einer neuen Regierung nach dem 22. Septem-ber erreichen.
Zu einer Kurz-
intervention erteile ich der Abgeordneten Ekin Deligöz
das Wort.
Liebe
Frau Reiche, liebe Katherina, auch ich wünsche dir – von
Mutter zu Mutter sozusagen – alles Gute zum Kind. Ich
möchte aber gleichzeitig ein paar Punkte anmerken, die
jetzt im Wahlkampf gesagt wurden und die anscheinend
bei Ihnen noch nicht angekommen sind.
Ich komme aus Bayern und bereise natürlich gerade in
dieser Zeit des Wahlkampfes viel das Land und habe da-
bei sehr viel zu tun mit Elterninitiativen, Kindergärten
und Kinderläden. Ich bekomme immer wieder eines zu
hören. Ich war zum Beispiel bei dem Projekt „Mini
MAXI“ in Lindau, wo sich Eltern aus Eigeninitiative eine
Kinderkrippe geschaffen haben, in der die Kinder unter
drei Jahren für zwei oder drei Stunden zusammenfinden
können, und zwar nicht aus dem Rabenmuttergedanken
heraus, sondern aus dem Gedanken der sozialen Kompe-
tenz heraus: Mein Kind soll so früh wie möglich mit an-
deren Kindern zusammenkommen.
Diese Elterngruppe hat aus Eigenmitteln das ganze Haus
renoviert, hat wahnsinnig viel investiert, bezahlt qualifi-
zierte Kräfte selber. Sie hat um Zuschüsse der bayerischen
Landesregierung gebeten und hat schriftlich die Antwort
bekommen: Es ist ja schön und gut, dass Sie so etwas ma-
chen; es wird politisch von uns aber nicht unterstützt.
Das war die Begründung der bayerischen Landesregie-
rung,
weshalb es keinen Pfennig Zuschuss für diese Initiative
gab. Das nenne ich Ehrenamt fördern auf bayerisch.
Punkt Zwei: JUMP – viel kritisiert, nicht gemocht von
der Opposition. Ich weiß auch, warum: Weil JUMP
schlichtweg ein Erfolgsmodell ist.
JUMPhat 400 000 Jugendliche erreicht und zur Arbeit ge-
bracht. Das waren übrigens die Jugendlichen, die vor vier
Jahren noch auf der Straße waren.
Das waren die Jugendlichen, die ignoriert wurden. Das
waren die Jugendlichen, die nicht ernst genommen wur-
den. Wir nehmen die Jugendlichen ernst. Daran gibt es
nichts zu kritisieren.
Ein letzter Punkt: das Modellprojekt mit 300 Euro Kin-
dergeld. Das ist in der Rede ein bisschen zu kurz gekom-
men, deshalb muss ich Ihnen schon noch einmal die
Wahrheit ins Gesicht sagen. Vor kurzem gab es hier eine
Debatte zur Familienpolitik. Dort hat Friedrich Merz ge-
sagt – ich zitiere das ganz gerne, ich habe mir diesen
Spruch gemerkt –: Wir fassen Arbeitslosenhilfe und So-
zialhilfe zusammen, sparen 20 Milliarden Euro – das
wären die gesamten Kosten in diesem Bereich – ein und
investieren das in die Familienpolitik; das ist unsere Ant-
wort auf die Arbeitslosigkeit, dann können Frauen endlich
einmal zu Hause bleiben. – Das nenne ich eine „Zuhause-
bleibprämie“ und nichts anderes. Das ist keine politische
Antwort, sondern das ist frauenfeindlich.
Frau Deligöz, es gibtin Bayern das Netz für Kinder, das von der bayerischenLandesregierung gefördert wird und genau solche Initia-tiven unterstützt. Zudem hat die bayerische Landesregie-rung 300 Millionen Euro bis 2006 zur Verfügung gestellt:für Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren undGanztagsbetreuung.Ich möchte jetzt etwas zur so genannten Gebärprämiesagen: Wenn sich 90 Prozent der Eltern wünschen, in denersten Lebensjahren des Kindes das Kind selbst zu be-
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Katherina Reiche25548
treuen, dann sollten wir den Wunsch respektieren und ih-nen das Geld in die Hand geben.
Ich möchte nicht, dass mir der Staat vorschreibt, wohinmein Kind zu gehen hat. Ich möchte selber entscheiden,ob ich es in einen Elternladen, zu einer Elterninitiative, ineinen Kindergarten, in eine Krabbelgruppe, in einen Mi-niklub oder in einen konfessionell gebundenen Kinder-garten, einen Montessori- oder Waldorfkindergarten gebe.Ich möchte mir das nicht vom Staat vorschreiben lassen.
– Doch, genau das wollen Sie. Sie wollen durch staatli-che Lenkung vorschreiben, welches Betreuungsangebotinfrage kommt. Das ist Verstaatlichung der Erziehung.Ich habe das bereits ausgeführt. Das ist nicht unser Mo-dell.
Das Wort hat
jetzt die Frau Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Die größten politischen Herausforde-rungen in der Familienpolitik, vor denen wir nach wie vorstehen, sind, die Bedingungen für die Vereinbarkeit vonBerufstätigkeit und Familie zu verbessern, die wachsendeVerarmung von Kindern zu verhindern und die geringeBeteiligung von Vätern an der Alltagsbetreuung ihrerKinder zu ändern.
Das sind drei zentrale Probleme, die die PDS konsequentangegangen ist und auch weiterhin angehen wird.Erstens. Es besteht kein Zweifel mehr: Um Beruf undFamilie vereinbaren zu können, bedarf es in erster Linieeiner qualitativ hochwertigen, flexiblen, flächendecken-den und langfristig auch kostenfreien Kinderbetreuungbis zum 14. Lebensjahr des Kindes, und zwar mit Rechts-anspruch.
Davon – das wissen wir alle aus der Praxis – sind wirhierzulande noch weit entfernt. Die PDS hat deshalbschon vor geraumer Zeit ein Modell zum Ausbau eines be-darfsgerechten und öffentlich geförderten Betreuungs-und Freizeitangebots für Kinder bis zum 14. Lebensjahrvorgeschlagen.Frau Bergmann hat die Zahlen bereits genannt. 70 Pro-zent der nicht erwerbstätigen Mütter im Westen und90 Prozent derer im Osten wünschen eine Erwerbsarbeit,aber es mangelt im Westen an Betreuungsmöglichkeitenund im Osten bekanntlich an Arbeitsplätzen. Frau Kolle-gin Reiche, das hat nichts mit Vorschriften zu tun, sondernmit Bedingungen für Wahlfreiheit, die so noch nichtexistieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange das öffentli-che Kinderbetreuungsangebot für Kinder unter bis zu dreiJahren bundesweit nur 5,5 Prozent beträgt und 80 Prozentaller Kindergartenplätze im Westen nur Teilzeitplätzeohne Über-Mittag-Betreuung sind, kann von Chancen-gleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeits-markt keine Rede sein.
Im Übrigen: Das hiesige Defizit an Kinderbetreuungs-plätzen ist auch vor dem Hintergrund internationaler Stu-dien nicht mehr nachvollziehbar. Diese belegen, dassKinderbetreuung nicht nur bezahlbar ist, sondern sichfür Kommunen und Staat sogar lohnt, da die Gelder inForm von Steuereinnahmen und nicht zu zahlender So-zialhilfe an den Staat zurückfließen, und das mindestensim Verhältnis 1 : 4.Zweitens. Die traurige Bilanz des Armutsberichts derBundesregierung lautete: Über 1 Million Kinder lebenvon Sozialhilfe. Damit verbunden sind Chancenungleich-heiten und psychosoziale Belastungen. Wir sagen: KeinKind darf mehr in Armut aufwachsen.
Um Kinderarmut abzuschaffen, fordert die PDS eine fi-nanzielle Grundsicherung für alle Kinder. Wir habendiesbezüglich ein Modell unter dem Motto „GerechteChancen am Start – Kinderarmut bekämpfen“ vorgelegt.Drittens. Damit sich Väter mehr an der Alltagsversor-gung ihrer eigenen Kinder beteiligen – ich sage: können –,ist eine andere Weichenstellung für die Vereinbarkeit vonBeruf und Familie vonnöten. Da Männer im Schnitt im-mer noch ein Viertel mehr als ihre Partnerinnen verdie-nen, können Familien meist nicht auf das Einkommen desBesserverdienenden verzichten. Der Hauptgrund für denMissstand, dass Männer nur zu 2 Prozent Kinderpauseund das im Schnitt auch nur für zweieinhalb Jahre ma-chen, ist, dass es keine Lohnersatzleistung bei der Eltern-zeit gibt. Deshalb fordert die PDS Elternzeit mit Lohn-ausgleich. Wir haben unseren Antrag zur Vereinbarkeitvon Beruf und Kinderbetreuung für Frauen und Männervorgelegt. Dieser Antrag sieht zwölf Monate Freistellungmit Lohnersatzleistungen und sechs Monate mit einerGrundsicherung vor.
Die PDS steht für konsequent kinder- und geschlech-tergerechte Familienpolitik. Dabei setzen wir auf die An-erkennung und Gleichstellung aller Familienformen undLebensweisen, auf Kinderförderung statt Eheförderungebenso wie auf den Ausbau des Solidarprinzips und die ei-genständige ökonomische Existenz von Frauen.Am 22. September 2002 haben die Wählerinnen undWähler in der Tat eine familienpolitische Weichenstellungvorzunehmen. Sie können sicher sein: Die PDS wird sichall den genannten Herausforderungen auch in Zukunft of-fensiv stellen.Danke.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Katherina Reiche25549
Danke schön.
Weitere Wortmeldungen zu diesen Einzelplänen liegen
nicht vor.
Wir kommen nun zu den Geschäftsbereichen des Bun-
desministeriums des Innern und des Bundesministeri-
ums der Justiz.
Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister Otto
Schily.
Frau Präsi-dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Deutschlandist im internationalen Vergleich – ich glaube, das kann je-der bestätigen – eines der sichersten Länder der Welt. Diesverdanken wir zuallererst der guten Arbeit der Polizei-beamtinnen und -beamten in Bund und Ländern.Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
Ich glaube, das ist auch der guten Zusammenarbeitzwischen dem Bundesministerium des Innern – dies sageich ausdrücklich in Anwesenheit des Kollegen Beckstein,der nach mir das Wort ergreifen wird – und den Ländernzu verdanken. In den vergangenen Jahrzehnten – dies be-tone ich besonders – hat sich bewährt, dass wir in derKonferenz der Innenminister der Länder, bei der auch derBundesminister zugegen ist, immer im Konsens entschei-den. Wir sollten diesen Konsens im Kernbereich derinneren Sicherheit nach Möglichkeit wahren. Über Ein-zelheiten können wir dann immer noch streiten.Ich meine, dass man an den Zahlen der Haushaltsent-wicklung in meinem Ressort sehr deutlich ablesen kann,dass die Gewährleistung der inneren Sicherheit für dieBundesregierung einen sehr hohen Rang einnimmt.
Wir haben ungeachtet der Tatsache, dass auch wir unsselbstverständlich an der Haushaltskonsolidierung beteili-gen mussten, die Haushaltspositionen für die Sicherheits-institutionen ständig erhöht. Die Steigerungsrate beimBundesgrenzschutz liegt bei 11 Prozent, die beim Bun-deskriminalamt liegt bei 36 Prozent, die beim Bundesamtfür Verfassungsschutz liegt bei 34 Prozent und die Steige-rungsrate beim Bundesamt für Sicherheit in der Informa-tionstechnik liegt sogar bei 56 Prozent.
Das sind Zahlen, an denen man hervorragend ablesenkann, wie ernst wir es mit der inneren Sicherheit meinen.Bei diesem Punkt muss ich doch meine Bitte und mei-nen Appell an die Opposition richten: Wenn Ihre Pro-gramme ernst genommen würden,
würde dies zu einer Verarmung der Staatsfinanzen führen,die dramatische Ausmaße annehmen würde. Die Mög-lichkeiten, die notwendigen Mittel für die Gewährleistungder inneren Sicherheit bereitzustellen, würden dadurcheingeschränkt. Ihr Vorschlag mit einer Staatsquote inHöhe von 40 Prozent würde zu Ausfällen in Höhe von170 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Gemeindenführen. Die vorgeschlagene Senkung des Spitzensteuer-satzes auf unter 40 Prozent würde zu Einnahmeausfällenin Höhe von 29 Milliarden Euro führen.
Ihre Vorschläge – aber Sie haben ja heute die Möglichkeit,sie zurückzunehmen – sind mit der Gewährleistung derinneren Sicherheit nicht zu vereinbaren.
Eine solche Programmatik ist in der Tat eine Gefahr fürdie innere Sicherheit. Dies wollen Sie doch sicherlichnicht auf sich sitzen lassen. Deshalb sollten Sie hier Klar-heit schaffen. Diese Bitte ist heute Vormittag schon ein-mal an Sie gerichtet worden. Sagen Sie uns in der erstenLesung zum Bundeshaushalt 2003 doch einmal, an wel-chen Stellen Sie die Positionen auf der Ausgabenseite er-höhen bzw. reduzieren wollen und wie die Positionen aufder Einnahmenseite aussehen! Nennen Sie uns dazu aberbitte konkrete Zahlen; machen Sie keine wolkigen Aussa-gen! Sagen Sie uns, wie Sie es mit der Verschuldung hal-ten wollen. Dann können wir uns auseinander setzen.Kommen Sie hier aber nicht mit irgendwelchen allgemei-nen globalen Zahlen!
Meine Damen und Herren, die gute finanzielle Aus-stattung des Bundesgrenzschutzes hat uns in die Lageversetzt, die Sollstärke um 1 450 Beamtinnen und Beamtezu erhöhen, um auch die neu hinzugekommenen Aufga-ben des Bundesgrenzschutzes wahrzunehmen. Hierzuzählen sehr wichtige Bereiche, die wir angesichts der Be-drohung durch den weltweiten islamistischen Terrorismusneu haben schaffen müssen: den der Flugsicherheitsbe-gleiter und der Entschärfergruppen. Zusätzliche Aufgabenergeben sich bei den Schutzmaßnahmen für Bundesor-gane und Botschaften. Nicht zu vergessen ist, welche wei-teren Aufgaben wir im internationalen Bereich leistenmüssen. Hierzu zählen – das sage ich noch einmal – all-gemeine Luftsicherheitsaufgaben sowie im Bereich derinternationalen Zusammenarbeit der Einsatz von Verbin-dungsbeamten in zahlreichen Ländern.Ich möchte mich besonders bei dem ehemaligen In-spekteur des Bundesgrenzschutzes, Herrn Sperner, be-danken, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, nachEintreten in den Ruhestand als Berater in Rumänien – dasLand zählt ja zu den Beitrittskandidaten – für die Verbes-serung beim dortigen Aufbau des Grenzschutzes zu sor-gen. Daran sieht man: Qualitative Arbeit, die in Deutsch-land gemacht wird, ist auch im Ausland gefragt.
Deshalb war es, wie ich glaube, auch richtig, dass wirdafür gesorgt haben, dass sich die Beförderungssituationim Bundesgrenzschutz erheblich verbessert hat. Wir ha-ben inzwischen erreicht, dass bis Ende 2002, also bisEnde dieses Jahres, jede zweite Beamtin bzw. jeder zweiteBeamte befördert werden kann. Das hat natürlich zu ei-nem Motivationsschub innerhalb des Bundesgrenz-schutzes geführt.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 200225550
Es freut mich im Übrigen, dass wir mit fast allen Bun-desländern eine Kooperationsvereinbarung zwischenBundesgrenzschutz und den Länderpolizeien zustandegebracht haben. Ich bin ganz sicher, Herr KollegeBeckstein, dass wir zu einer solchen Vereinbarung auchmit dem Freistaat Bayern – das ist das einzige Land, dasnoch fehlt – kommen werden. Damit hier kein falscherEindruck entsteht, möchte ich betonen, dass auch zwi-schen der Länderpolizei Bayerns und dem Bundesgrenz-schutz eine hervorragende Zusammenarbeit, insbeson-dere in der Landeshauptstadt München, besteht.DasBundeskriminalamt hat ebenfalls mehr Mittel er-halten. Ich glaube, dass gerade angesichts der terroristi-schen Bedrohung durch den islamistischen TerrorismusVerständnis dafür besteht, dass wir diesen Aufwuchs voll-ziehen mussten. Ähnliches gilt für andere Sicherheitsin-stitutionen wie das Bundesamt für Verfassungsschutz unddas schon erwähnte Bundesamt für Sicherheit in der In-formationstechnik.Wir sollten uns nicht in einen Wettbewerb darüber be-geben, ob die Gefahr durch den islamistischen Terroris-mus von der einen oder der anderen Seite etwas sachteroder etwas schärfer beurteilt wird. Ich glaube, dass beideSeiten – ich beziehe die Opposition selbstverständlich mitein – diese sehr reale anhaltende Gefahr erkennen undwissen, dass wir ihr begegnen müssen.Man kann sich, wie gesagt, über einzelne Details strei-ten. Ich bitte jedoch, darauf hinweisen zu dürfen, dass wirnach dem 11. September 2001, aber auch schon davor,eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet haben,die uns in die Lage versetzen, diese Erscheinungsform desTerrorismus besser zu bekämpfen, als es vorher der Fallwar, und zwar schon im Vorfeld. Ich erinnere daran, dasses uns gelungen ist, das so genannte Religionsprivileg imVereinsrecht zu streichen, was keine ganz einfache Auf-gabe war. Aber immerhin ist es uns gelungen.
Sie, Herr Kollege Beckstein, haben sich schon früher da-rum bemüht, haben sogar den einen oder anderen Briefgeschrieben; das will ich nicht verkennen. Aber in der al-ten Regierung, Herr Marschewski, haben Sie das nicht er-reicht. Vielmehr haben wir das durchgesetzt. Sie wissen jaauch, wo zuerst die Widerstände waren. Ich bin froh da-rüber, dass wir das geschafft haben und auf diese Weiseden Kalifatstaat verbieten konnten.
Ich will nicht alles erwähnen – dazu habe ich gar nichtdie Zeit –, welche erweiterten Befugnisse für unsere Si-cherheitsinstitutionen wir im Sicherheitspaket haben un-terbringen können. Das war und ist wichtig, damit unsereInstitutionen besser in der Lage sind, Frühaufklärung zubetreiben und terroristische Strukturen früher zu erken-nen.Nun freue ich mich darüber, welch beträchtlichen Ehr-geiz Sie an den Tag legen, um mich dabei zu unterstützen,wie man biometrische Merkmale auch bei der Identifi-zierung besser verwenden kann. Dafür bin ich Ihnendankbar, Herr Kollege Beckstein. Wir müssen aber auf deranderen Seite sehen, dass wir uns richtig verhalten; denneiniges können wir nur im europäischen Verbund tun,
zum Beispiel die Implementierung von biometrischenMerkmalen über das Lichtbild hinaus. Das können wir inder Tat nur durch eine europäische Entscheidung errei-chen.Das, was wir im europäischen Verbund schon jetzt ma-chen können, das leisten wir bereits heute. Das sieht dannso aus, dass wir in der Visamarke das Lichtbild integrie-ren. Dadurch ist ein gewisser Fortschritt erzielt worden.Wir werden eines der ersten Länder sein, das dies erreicht.Übrigens sind wir auch bei der Fälschungssicherheit vonDokumenten weit fortgeschritten. Ich habe hier einenPass neuer Machart, wie wir ihn in der Bundesdruckereiherstellen. Sie können hier sehen, wie diese Folie, dieerste Passseite, aussieht. Dieser Pass ist nahezu hundert-prozentig fälschungssicher; denn wenn man diese Folieauflöst, dann zerstört sie sich von selber.Wir sollten die Institutionen einmal dafür loben, wassie zustande gebracht haben.
Man kann das eine oder andere beklagen und Verbesse-rungen fordern. Aber ich denke, es ist gut, dass wir aucheinmal Lobenswertes hervorheben.Im Übrigen werden wir – auch das haben Sie eingefor-dert, Herr Kollege Beckstein – im nächsten Jahr damit be-ginnen, bei so genannten Problemstaaten, inklusive dervon Ihnen namentlich genannten Staaten Sudan und Je-men, Fingerabdrücke außerhalb der Visamarke – das kön-nen wir nach nationalem Recht so handhaben – zu neh-men. Auf längere Frist werden wir uns darauf einstellenmüssen – das haben wir gesetzlich schon ermöglicht –,biometrische Merkmale in Pässe, in Ausweise zu inte-grieren.In diesem Zusammenhang bin ich allerdings der Mei-nung, dass wir das im internationalen Verbund gestaltenmüssen. Es hat keinen Zweck, dass wir Insellösungenschaffen, die nachher mit anderen Lösungen nicht zusam-menpassen. Ich habe zusammen mit den US-Amerikanern– ich habe mich mehrfach mit dem Governor Tom Ridgegetroffen, um unsere Bemühungen abzustimmen – eineArbeitsgruppe gebildet, damit wir ähnliche Verfahren ha-ben, die auch kompatibel bleiben. Ähnliches machen wirin der EU oder auch mit Russland. In diesem Zusammen-hang habe ich mich bereits mit meinem KollegenGryslow, dem russischen Innenminister, getroffen.Herr Kollege Beckstein, Sie haben ferner in jüngsterZeit beanstandet, dass wir bei der Bekämpfung des inter-nationalen Terrorismus und Extremismus – damit mussman sich auseinander setzen – die Aufmerksamkeit stärkerauf die Möglichkeit, entweder die Einreise zu verweigernoder den Aufenthalt zu beenden, richten müssten. Es istdem Grundsatz nach nicht zu beanstanden, wenn Sie dasfordern. Ich finde nur, Sie müssten von den vorhandenenMöglichkeiten, so wie sie im Gesetz stehen, Gebrauch ma-chen. In den §§ 8 und 45 des Ausländergesetzes steht:
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Bundesminister Otto Schily25551
Wenn jemand eine Gefahr für die innere Sicherheit undOrdnung darstellt, dann kann er gemäß § 45 entweder aus-gewiesen werden oder es kann ihm gemäß § 8 die Einreisebzw. ein Aufenthaltstitel verweigert werden. Das mussman dann umsetzen.Wenn Sie der Meinung sind, dass sich diese Möglich-keiten in der Anwendungspraxis noch nicht herumge-sprochen haben, dann lasse ich mit mir darüber reden, obwir die Ausführungsvorschriften verändern müssen. Ichjedenfalls bin der Meinung, dass jemand, der Terrorismusim Sinne von Bin Laden propagiert, eine Gefahr für dieinnere Sicherheit und Ordnung ist und nicht in unseremLand bleiben sollte. In diesem Fall müssen wir also vondem Gesetz, das wir schon haben, Gebrauch machen.Deshalb schlage ich vor, sich an dieser Stelle darüber zuverständigen, wie wir den Gesetzesvollzug besser gestal-ten, ehe wir zu neuen Gesetzen kommen, die nach meinerMeinung überflüssig sind.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sylvia Bonitz?
Ich habe nur
noch sehr wenig Zeit. Aber ich kann Ihnen das einfach
nicht abschlagen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also doch?
Frau Bonitz,
Sie haben immer so intelligente Zwischenfragen.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr
Minister. – Sie haben ausgeführt, dass dieses Gesetz kon-
sequent angewendet werden soll. Sie gehen doch sicher-
lich mit gutem Beispiel voran, wenn ich an Metin Kaplan
erinnern darf. Nachdem die Türkei nun entschieden hat,
die Todesstrafe abzuschaffen, entfällt ein Abschiebe-
hemmnis. Werden Sie jetzt dem Auslieferungsersuchen,
das die Türkei jüngst an die Bundesrepublik Deutschland
gerichtet hat, nachkommen und Herrn Kaplan, der ein ge-
fährlicher Mensch ist, abschieben?
Sie habenrichtig erkannt, dass das Auslieferungsgesuch der Türkeiund die Frage der Ausweisung bzw. der Vollzug der Aus-weisung durch Abschiebung zwei verschiedene Dingesind. Nach unserem Recht geht das Auslieferungsgesuchvor. Deshalb muss darüber entschieden werden. Ichmeine, dass sich die Voraussetzungen, das Auslieferungs-gesuch positiv zu bescheiden, durch diese Entscheidungdeutlich verbessert haben. Bekanntlich sind aber in derTürkei noch Bemühungen in Gange, diesen Parlaments-beschluss wieder aufheben zu lassen. Dann ergäbe sicheine andere Lage.Ich hatte versucht, noch in den nächsten Tagen in dieTürkei zu reisen. Das hat sich aber nicht mehr einrichtenlassen. Ich werde jedoch demnächst in die Türkei reisenund die Lage dort erkunden. Das Auslieferungsverfahrenliegt bei den Justizbehörden und wird auch gerichtlichüberprüft werden. Meine – optimistische – Erwartung istaber, dass wir die Voraussetzungen schaffen können, dassHerr Kaplan in die Türkei zurückkehrt. Die Vorausset-zung dafür ist, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird.Das ist durch diesen Parlamentsbeschluss ermöglichtworden.
Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen, der auchnoch zur Debatte steht. Dabei handelt es sich um die Regel-anfrage bei den Verfassungsschutzbehörden. Diese wird in-zwischen von allen Ländern praktiziert. Meiner Meinungnach bedarf es dafür keines zusätzlichen Gesetzes.Wir sollten noch einen Punkt herausstellen, nämlichdass wir auch die Infrastrukturen verbessert und im Be-reich der Katastrophenschutzhilfe – dafür sind allerdingsnicht wir originär zuständig, sondern die Länder – dieHilfsmaßnahmen sehr erfolgreich gestaltet haben. Bei derFlutkatastrophe waren mehr als 70 000 Kräfte vonseitendes Bundes – Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Tech-nisches Hilfswerk – eingesetzt. Ich will diese Debattenicht vorübergehen lassen, ohne besonders den Men-schen, die zu meinem Ressort zählen, nämlich dem Bun-desgrenzschutz und dem Technischen Hilfswerk, meineBewunderung für das, was sie geleistet haben, auszuspre-chen.
Aufgrund der Tatsache, dass der Bundesgrenzschutzmehr als 2 000 Menschen im Rahmen sehr schwierigerHubschraubereinsätze aus unmittelbarer Not befreit unddas Technische Hilfswerk vorbildliche Arbeit geleistethat – in der Kürze der Zeit kann ich nicht alles im Einzel-nen aufführen –, war es richtig, dass wir den Finanzmittel-einsatz an diesen Stellen verstärkt haben.Wir werden uns – das kann ich aus Zeitgründen aller-dings nur noch kurz ansprechen – aber auch darum küm-mern müssen, einige Konsequenzen aus den gemachtenErfahrungen zu ziehen. Bei allem Respekt, allem Dankund aller Anerkennung für das, was geleistet worden ist,werden wir uns mit Bund und Ländern in der Rahmen-konzeption, die wir schon beschlossen haben, auch darü-ber zu verständigen haben, wie wir diese Zusammenarbeitkünftig gestalten werden. Dafür haben wir gute Ansätzegewählt. Wir müssen den Informationsfluss, die Warnsys-teme, die Ausbildung usw. verbessern. Wir müssen auchdas Ressourcenmanagement besser gestalten. Ich meine,dass wir auf der Basis dessen, was in bewundernswerterWeise geleistet worden ist, zu guten Schlussfolgerungenkommen werden. In diesem Sinne können wir sicherlichdie erforderliche Arbeit leisten.Lassen Sie mich zum Schluss anmerken: Durchaus zumeiner Überraschung bin ich nach knapp vier JahrenAmtszeit der dienstälteste Innenminister der Europä-ischen Union und ich arbeite daran, es auch zu bleiben.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Bundesminister Otto Schily25552
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat derStaatsminister des Inneren des Freistaates Bayern,Dr. Günther Beckstein.Dr. Günther Beckstein, Staatsminister (vonder CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr KollegeSchily, ich bestätige Ihnen gerne, dass Sie nicht nur derdienstälteste, sondern auch der älteste Innenminister inEuropa sind.
Trotzdem sind Sie nach meiner Meinung – ich habe Ihnendas schon anlässlich Ihres 70. Geburtstags geschrieben –das am jüngsten wirkende Mitglied der Bundesregierung.Alle anderen Mitglieder wirken im Vergleich zu Ihnennoch viel älter.
Herr Kollege Schily hat in seiner Rede hervorgeho-ben, dass die Forderung der Union „3 mal 40“ die innereSicherheit gefährde. Ich bin der Meinung – das möchteich mit aller Deutlichkeit sagen –, dass Sie selber, HerrKollege Schily, dies nicht ernsthaft argumentativ vortra-gen wollten. Wir wollen – Sie wissen, dass das für unsein zentraler Punkt ist – wirtschaftliches Wachstumschaffen und die Arbeitslosigkeit reduzieren. Wenn wirdas tun, verfügen wir auch über die notwendigen Res-sourcen, um den Standort Deutschland vernünftig zu ge-stalten.
Hätte der Kanzler sein Versprechen, dafür zu sorgen,dass es nur noch 3,5Millionen Arbeitslose in Deutschlandgeben wird, tatsächlich gehalten und nicht gebrochen– Sie alle wissen, dass 500 000 Arbeitslose mindestens10Milliarden Euro kosten –, dann würde nicht nur die Be-seitigung der Flutschäden, sondern auch die Umsetzungdessen, was wir fordern, ohne jede Schwierigkeit zu fi-nanzieren sein.
Ich möchte jetzt einen Punkt aus der Innenpolitik an-sprechen, den Sie leider nicht erwähnt haben und der auchsonst nie in Ihren Überlegungen auftaucht, der aber nachmeiner Meinung neben den Fragen der inneren Sicherheiteine zentrale Aufgabe auch für den Bundesinnenministerist. Er muss dafür sorgen, dass die Kommunen funk-tionsfähig bleiben.
Der Bundesinnenminister sollte sowohl im Bund als auchgegenüber den Ländern als Anwalt der Kommunen auf-treten. In dieser Beziehung – ich muss das so deutlich sa-gen – haben Sie total versagt.
Die Kommunen befinden sich in der tiefsten Finanz-krise. Das, was 1998 in der Koalitionsvereinbarung fest-gelegt worden ist, nämlich die kommunalen Finanzen aufeine sichere Grundlage zu stellen, ist nicht umgesetzt wor-den. Stattdessen sind die kommunalen Finanzen durch dieSteuerreform 2002 ruiniert worden. Die Einnahmen derKommunen sind weggebrochen.
– Sie können nicht zuhören, weil Ihnen das, was ich sage,wehtut. Aber Sie können durch Ihr Geplärre meine Argu-mente nicht übertönen.
Tatsache ist jedenfalls, dass Rot-Grün, insbesondereSchröder und Eichel, die tiefste Krise der kommunalen Fi-nanzen seit dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat.Ich möchte in diesem Zusammenhang den SPD-Oberbür-germeister Ude zitieren, der gesagt hat, dass unter IhrerRegierungsverantwortung Deutschland, insbesondere dieKommunen und die Großstädte, zu einer Steueroase fürdie internationalen Konzerne geworden sei, währendgleichzeitig der Mittelstand und die kleinen Leute stärkerin Anspruch genommen würden.
Wenn wir an die Regierung kommen, werden wir einenanderen Umgang mit den Kommunen pflegen. Wir wer-den sie nicht über alle Maßen ausnehmen. Wir werdendafür sorgen, dass der Begriff der kommunalen Selbst-verwaltung nicht zu einer hohlen Hülse verkommt, wie esunter Ihrer Regierungsverantwortung geschehen ist.
Auch im Bereich der inneren Sicherheit ist eine solcheSelbstgerechtigkeit, wie Sie, Herr Kollege Schily, sie– heute in moderater und gestern in unverschämter Form –an den Tag gelegt haben, nicht am Platz. Ich möchte aufFolgendes deutlich hinweisen: Wer weiß, wie die Fahr-zeuge des THW aussehen, der wird nicht behaupten, dassalles in Ordnung sei. Viele Fahrzeuge des THW und derKatastropheneinrichtungen der Länder sind nämlich in ei-nem desolaten Zustand.
Es ist natürlich erfreulich, dass Sie dort, wo Sie Wahl-kampf machen, ein Bundesfahrzeug übergeben.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Sie in viel mehrdeutschen Gemeinden – das gilt auch für Bayern – Wahl-kampf machen. Ich muss auch feststellen, dass in diesemBereich schon früher viel zu wenig getan worden ist.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002 25553
Aber in der laufenden Legislaturperiode sind die Anstren-gungen noch einmal drastisch reduziert worden.
Erst nach dem 11. September 2001 hat man wieder be-gonnen, hier etwas zu unternehmen.Was den Bereich der Zuwanderung angeht, so hat dieBundesregierung – das haben Sie nicht erwähnt – MitteAugust mit einer Kampagne, die mehr als 2,5 MillionenEuro gekostet hat,
in einer, wie ich meine, schamlosen Weise Steuergelderveruntreut,
um damit Wahlkampf zu machen.
Meine Juristen sagen mir, ein ernsthafter Zweifel daran,dass die vom Bundesverfassungsgericht beschriebenenGrenzen zur Informationstätigkeit im Wahlkampf über-schritten worden sind, sei nicht möglich.
– Die können es mit Ihnen allemal aufnehmen.
Deswegen sage ich auch hier vor dem Parlament: Dasist politische Veruntreuung von Steuergeldern und
– das müssen Sie sich sagen lassen – politische Verun-treuung.
Sie müssen sich auch sagen lassen, dass es nicht nur einerechtswidrige Ausgabe war, sondern dass es darüber hi-naus eine bewusste Desinformationskampagne ist. Diessind Lügenkampagnen auf Steuerzahlers Kosten.
Darin wird dargestellt, dass das Ziel ist, die Zuwande-rung zu reduzieren. Dazu muss ich aus der amtlichen Be-gründung des Gesetzentwurfes zitieren. In der amtlichenBegründung heißt es:Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatzzum geltenden Ausländergesetz nicht länger eineübergeordnete ausländerpolitische einseitige Grund-entscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder derAnwerbestopp.
Es ist also völlig eindeutig, dass es darum geht, Zuwan-derung zu erweitern. Wir aber wollen Zuwanderung redu-zieren, und zwar auf ein sozialverträgliches Maß.
Ein zweiter Punkt, Herr Kollege Schily. Sie sind sostolz auf das, was an Integrationsleistungen erbrachtwird. Ich weise darauf hin, dass Integrationsleistungen fürdie Hunderttausende, die nicht integriert sind, obwohl siehier leben, leider nicht finanziert werden und auch keineAnsprüche darauf bestehen.
Wir wollen aber nicht die Zuwanderung erweitern, umdann die zukünftig Einwandernden nur mäßig mit Kursenzu versorgen und auch sonst für die Integration zu wenigzu tun,
sondern wir wollen dafür sorgen, dass diejenigen, die hierleben, aber noch nicht angekommen sind, besser integriertwerden. Dafür wird zu wenig getan.
Ich will deutlich darauf hinweisen, dass von allen In-nenministern der Länder in der Bundesrepublik Deutsch-land, auch der SPD-Länder, mehrere Beschlüsse gefasstworden sind, nach denen ein Rückführungskonzept für af-ghanische Flüchtlinge zu erstellen ist. Der UN-Beauf-tragte hat in den Niederlanden erklärt, dass 80 Prozent derafghanischen Flüchtlinge aus den Niederlanden bzw. ausEuropa zurückkehren könnten. Alle Innenminister derLänder haben Sie mehrfach beauftragt, Rückkehrkon-zepte zu entwickeln, wie es sie früher für Bosnien und dasKosovo gegeben hat. Dazu ist nichts getan worden. Siewollen offensichtlich den Grünen nicht allzu sehr auf dieFüße treten.
Jetzt will ich noch etwas zu den Fragen des Sicher-heitspakets sagen. Ich behaupte nicht, dass da Falschesgemacht worden ist.
Ich habe die Sicherheitspakete I und II immer begrüßt.Weil sie unserer Meinung entsprachen, haben wir diesenPaketen in Bundestag und Bundesrat auch zugestimmt.Aber ich sage Ihnen: Sie sind nur halbherzig umgesetztworden.
Herr Kollege Schily, Sie haben in der Frage der Bio-metrie Behauptungen aufgestellt und einen schönen Passgezeigt. Ich will Ihnen ein Ausweispapier zeigen, das ichmir mit Datum vom 29.August habe ausstellen lassen und
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Staatsminister Dr. Günther Beckstein
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für das Sie keine internationale Vorschrift haben verän-dern müssen, nämlich den Personalausweis. Dieser Per-sonalausweis ist präzise in derselben Form ausgestelltworden, wie er vor 15 Jahren ausgestellt worden ist. Dabesteht kein Anlass zu Selbstgerechtigkeit. Ich bleibe beimeiner Behauptung: Nicht einmal in der Frage der ein-deutigen Identifizierung der Personen, die aus Gefährder-staaten kommen, ist etwas getan worden.
Heute haben Sie die Erklärung des Bundeskanzlers vomSonntagabend schon wieder zur Hälfte zurückgenommen.Schröder hat erklärt, ab 1. Januar 2003 werde die Biome-trie für die Identifizierung der Besucher aus den Gefähr-derstaaten eingesetzt. Sie haben heute gesagt, es werde imLaufe des nächsten Jahres erfolgen. Wir glauben nicht,dass dies in dieser Zügigkeit erfolgt, weil man hier bisherin erheblichem Umfange geschludert hat und nichtschnell genug vorgegangen ist, obwohl es von zentralerBedeutung ist.
Ich bleibe dabei, dass England und Italien in diesen Be-reichen weiter sind. Über Italien wurde gestern in den Zei-tungen detailliert berichtet; die Zeit reicht nicht aus, esdarzustellen.
Eines lasse ich mir nicht gefallen, auch wenn Sie heutesehr moderat waren: dass Sie Unwahrheiten darstellenund auch heute wieder dargestellt haben.
Sie behaupten, Herr Schily, dass die Regelanfrage in al-len Ländern durchgeführt werde. Das ist falsch. Die Re-gelanfrage wird – –
Eine Regelanfrage bedeutet – ich nehme an, dass nichtalle dies wissen; aber Herr Kollege Schily weiß es –, dassdie Anfrage beim Verfassungsschutz in allen Fällen er-folgt. So lautete auch die Empfehlung des Bundesrates. InSchleswig-Holstein wird die Regelanfrage von der Zu-stimmung des Betroffenen abhängig gemacht.
In Nordrhein-Westfalen ist die Regelanfrage auf die Ge-fährderstaaten beschränkt. Seit dem Vorfall in Heidelbergwissen wir, dass auch die Türkei unter allen Umständenerfasst werden muss.
In Berlin bezieht sich die Regelanfrage nur auf einen Ka-talog von Straftaten. Ich fordere Sie auf, sich hier öffent-lich zu entschuldigen, dass Sie mir gestern vorgeworfenhaben, in diesem Punkt die Unwahrheit zu sagen,
während Sie selber mit Unkenntnis bzw. mit der Unwahr-heit arbeiten.
Das gilt auch für einen weiteren Fall: Ich klage an, dassdiese Regierung und diese Koalition
die bloße Sympathiewerbung für terroristische Organisa-tionen straflos gestellt haben.
Wer mit einem Schild „Lang lebe Osama Bin Laden!“durch Deutschland läuft, kann dank Rot-Grün nicht mehrbestraft werden. Ich halte dies für einen Skandal.
In diesem Zusammenhang haben wir einen Streit hin-sichtlich eines Gewaltvideos.
– Ja, das ist richtig. Ich habe es an die „Bild“-Zeitunggeschickt. Das ist auch in Ordnung.
Ich kann Ihnen nur sagen: Entgegen der Behauptung vonHerrn Schily – ich weise seine anders lautende Darstellunghier dezidiert als unwahr zurück – hat am 23. August einmir namentlich bekannter Mitarbeiter meines Hauses denAbteilungsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutzangerufen und am selben Tag hierüber eine Aktennotiz er-stellt. Am 28. August hat darüber ein weiteres Gesprächstattgefunden, dessen Inhalt dezidiert dargestellt wordenist. Der Abteilungsleiter hat darauf hingewiesen, dass dasBundesamt schon mehrere ähnliche Videos selbst in Besitzhat. Die Videos wurden dann ausgetauscht.Ich lasse es nicht zu, dass Sie sich hier moderat gebenund zugleich außerhalb dieses Saales mit Unwahrheitenarbeiten.
Herr Kollege Schily, ich muss Ihnen sagen, dieser Fall er-innert mich an den Fall der NPD, bei dem Ihre Mitarbei-ter offensichtlich auch nicht den Mut hatten, mit Ihnenehrlich zu reden, weil Sie mit ihnen genau so umgehen,wie Sie mit mir gestern auf der Pressekonferenz umge-gangen sind.
– Das müssen Sie sich schon anhören. – Sicherheit istTeamarbeit. Deswegen muss man auch mit Kolleginnenund Kollegen der Polizei teamfähig sein und darf sie nichtin einer Art und Weise behandeln, dass sie sich nicht ein-mal mehr trauen, dem Chef die Wahrheit zu sagen, son-dern lieber mit irgendwelchen Ausflüchten kommen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Staatsminister Dr. Günther Beckstein
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Meine Damen und Herren, ich schließe mit einem Dankan Polizei, BGS und Hilfsorganisationen, die in der TatGroßartiges leisten. Sie haben nicht nur bloße Worte ver-dient, sondern es ist Zeit für Taten. Diese Taten werden wirvollbringen, wenn uns der Wähler den Auftrag dazu gibt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen! Hier im Bundestag diskutieren wir zuRecht sehr kontrovers über die Innenpolitik, gerade auchüber die Gesetzespakete, die in den letzten zwölf Mona-ten beschlossen wurden. Die FDP hat zu ihnen auch klarPosition bezogen. Bisher haben wir hier aber noch keineDebatte darüber geführt, die in erster Linie aus Vorwürfenbestand, es seien Lügen und Unwahrheiten geäußert wor-den. Deshalb erlaube ich mir, jetzt wieder zu den Sach-verhalten zurückzukehren.
Die Haushalte des Bundesministeriums des Innern undder Justiz weisen ebenso wie im vergangenen Jahr einenAnstieg auf. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Institutio-nen in Deutschland, die sich mit der Anwendung der Ge-setze zu befassen haben, gestärkt werden. Dies unterstüt-zen wir, denn wir treten dafür ein, dass die Kernaufgabendes Staates von dessen Verwaltungen und Einrichtungeneffizient wahrgenommen werden.
Deshalb sagen wir auch klar: Das dafür erforderliche Geldmuss vorhanden sein. Wir stehen allerdings als Einzigedazu, dass infolgedessen an anderen Stellen gespart wer-den muss. Das ist keine angenehme Mitteilung, sondernbittere Medizin, aber wir sagen dies den Bürgerinnen undBürgern schon vor dem 22. September deutlich.
In der nächsten Legislaturperiode muss es darum ge-hen, die Effizienz der Verwaltung zu stärken, den Ge-setzesdschungel zu lichten, die Bürokratie an den Stellenso weit wie möglich zu verringern, an denen wir sie in die-ser Form nicht brauchen, und Zuständigkeitsüberschnei-dungen wie zum Beispiel zwischen Zollfahndung undBundeskriminalamt abzubauen.Die FDP wird sich jedoch an einen weiteren Wettlaufum die Verschärfung bestehender Gesetze zum Schutz derinneren Sicherheit und um die immer weitere Ausdeh-nung der Kompetenzen nicht beteiligen.
In diesem Punkt halten wir es mit dem Vorsitzenden derEuropäischen Gewerkschaft der Polizei Hermann Lutz,der gestern unmissverständlich erklärt hat, wir hätten inDeutschland zu viele Gesetze, die die Exekutive schonnicht mehr bewältigen könne; er kennt die Situation sehrgut aus seiner früheren Tätigkeit als Vorsitzender der Ge-werkschaft der Polizei in Deutschland. Er hat sich auchklar zur Aufnahme biometrischer Merkmale in Ausweis-papiere geäußert, indem er gesagt hat, dies allein tragenicht zu mehr Sicherheit in Deutschland bei.
Herr Bundesinnenminister, ich begrüße, dass Sie dergleichen Meinung sind. Als wir diese Bedenken bei denBeratungen im letzten Jahr angemeldet haben, haben Sieuns vorgeworfen, wir leisteten damit dem TerrorismusVorschub. In diesem Bereich brauchen wir eine interna-tionale Sicherheitsarchitektur, die mit den europäischenPartnern abgestimmt ist.
Dazu bedarf es noch intensiver Überzeugungsarbeit, geradegegenüber den Franzosen. Für die Zusammenarbeit auf die-sem Gebiet muss das deutsch-französische Verhältnis nachdem 22. September wieder besser funktionieren. In diesemZusammenhang kommt es auch uns in den nächsten Mona-ten darauf an, dass die Bedingungen für die Erteilung vonVisa und für die Feststellung der Identität von Visaantrag-stellern aus Problemstaaten im Schengen-Raum einheitlichgestaltet werden. Anderenfalls zeitigt dies nicht die erwarte-ten Erfolge, denn wir alle wissen: Wenn man über einSchengen-Land einreist, dann hat man die Möglichkeit, sichin diesem Raum frei zu bewegen.Die FDP hat sich immer der Verantwortung gestellt, dieMaßnahmen gegen Kriminalität und Terrorismus zu ergrei-fen, die geeignet, notwendig und mit dem Wertefundamentunserer Gesellschaft, also mit den Grundrechten in unsererVerfassung, vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund hat dieFDP im letzten Jahr der Abschaffung des Religionsprivi-legs im ersten Sicherheitspaket zugestimmt.Insofern haben wir darüber durchaus diskutiert, HerrBeckstein. Es ist nicht leicht, eine solche Entscheidung zutreffen; sie bedarf intensiver Diskussion mit den Kirchen.Das ist in dieser Situation erfolgt. Deshalb waren die da-raufhin eingeleiteten Maßnahmen und Entscheidungengegenüber dem Kalifatsstaat richtig.
Diese Regelungen sind auch wirkungsvoll, wenn es umandere Organisationen geht, beispielsweise um Hamasund Hisbollah. Wenn es Anhaltspunkte in Form konkreterTatsachen gibt, dass extremistische Bestrebungen imGange sind, dann kann mit dem geltenden Recht dagegenvorgegangen werden.
Ich sage hier klar für die FDP: Vage Verdachtsmomentereichen für uns nicht aus, um Verbote von Vereinigungenund Ausweisungen von Ausländern vorzunehmen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Staatsminister Dr. Günther Beckstein
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Diese Anforderungen an rechtsstaatliche Garantien dür-fen und wollen wir Liberale in unserer Demokratie nichtabschaffen.
Lassen Sie mich auch ein Wort zur Zuwanderung sa-gen: Zuwanderung liegt im Interesse unseres Landes.Deshalb wollen wir, dass sie gesteuert und die Integrationgefördert wird. Wir halten nichts von einem generellenAnwerbestopp oder von dem diskriminierenden Zuwan-derungsausschluss von Menschen aus bestimmten Regio-nen, zum Beispiel aus dem asiatischen oder arabischenRaum. Die gesteuerte Zuwanderung für einen Arbeits-platz, der nach intensiver Prüfung eben nicht von inländi-schen Arbeitskräften besetzt werden kann, ist geboten.Deshalb brauchen wir Regelungen zur Steuerung und dür-fen nicht dahin zurückfallen, dass wir anfangen, darüberzu diskutieren, ob Deutschland nun ein Einwanderungs-land ist oder nicht.
Wir müssen auch verstärkte Anstrengungen bei derIntegration unternehmen. Ein Schwachpunkt im Ein-wanderungsgesetz ist, dass es die eingetragenen An-sprüche auf den Sprachunterricht zwar für zukünftige Mi-grantinnen und Migranten gibt, aber nicht für die hierlebenden Menschen aus anderen Ländern. Eines ist unsdoch ganz klar: Wenn wir das friedliche Miteinander wol-len, müssen wir auch mehr in die Menschen investieren,die schon hier leben und bei denen Integration in diesemUmfang bisher nicht erfolgt ist.
– Mich interessiert nicht, wer was wann versäumt hat. Dasbringt den Menschen überhaupt nichts.
Deshalb sage ich, was wir in der nächsten Legislaturperi-ode in diesem Bereich tun wollen und auch tun werden.
Natürlich gehört für uns der interreligiöse und interkultu-relle Dialog dazu, der gerade nach dem 11. September in-tensiviert werden musste. Dieser wird von den Kirchen in-tensiv geführt und von der Politik insgesamt unterstütztund gefördert.Die FDP-Bundestagsfraktion hat in der Rechtspolitikeinige positive Ansätze der Bundesregierung unterstütztund ihre eigenen Änderungsvorschläge eingebracht. Dort,wo wir sie durchsetzen konnten, haben wir ein gutes Er-gebnis erzielt; ich denke zum Beispiel an das Urheber-vertragsrecht. Wir sehen aber auch eine Notwendigkeitzur Korrektur. Ich habe leider nicht genug Zeit, das imEinzelnen auszuführen. An erster Stelle nenne ich dasMietrecht, in dem wir wieder ein ausgewogenes Verhält-nis zwischen den Mieterinteressen und den Interessen derInvestoren und Eigentümer brauchen.
Natürlich gibt es auch ungelöste Fragen im Urheberrecht,im Wirtschaftsrecht, beim Sanktionensystem, im Straf-recht und bezüglich der trotz Ankündigung noch nichtumgesetzten Neugestaltung der Rechtsanwaltsvergü-tung.
In der Rechts- und Innenpolitik gelten für die FDP inder nächsten Legislaturperiode folgende Maximen:Klasse statt Masse, Analyse vor Aktionismus, Bürger- undFreiheitsrechte verteidigen sowie die wirkungsvolle An-wendung von Gesetzen verbessern.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich würde hier auch gerne den Stilvon Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nämlich einen et-was sachlicheren, zum Vortrag bringen. Zu den letztenvier Wünschen kann ich für die PDS-Fraktion beinahe Jasagen.
– Das war sehr allgemein gehalten, weswegen ich Ja sa-gen kann; Sie ja vielleicht auch.Ich will mich in der Debatte auf den Haushalt für dieöffentliche Sicherheit konzentrieren. Das ist nach demgestrigen 11. September wahrscheinlich auch verständ-lich. Zu Beginn will ich zwei Dinge feststellen, die dasganze Haus wahrscheinlich einen:Erstens. Wir fühlen mit denjenigen, die nach dem11. September Angst haben, denen die schrecklichen Bil-der noch vor Augen stehen und die die Traumatisierungennoch nicht überwunden haben oder bei denen sie wiederaufbrechen können.Meine zweite Feststellung: Ja, der Staat hat die Auf-gabe, die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten.Dafür hat er das Gewaltmonopol. Ich freue mich darüber,dass selbst die FDP mehr Staat fordert.So weit zur Einigkeit. Danach beginnen aber die Un-terschiede. Die Bundesregierung und die konservative Op-position verfolgen weiterhin die traditionelle Politik derinneren Sicherheit, die reine Gefahrenabwehr und die Auf-rüstung von Polizei und Geheimdiensten zulasten der Bür-gerrechte. Die PDS tritt dagegen für öffentliche Sicherheitin einer offenen Gesellschaft, für inneren Frieden, für ge-sellschaftlichen Ausgleich und für soziale Gerechtigkeit,
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger25557
aber nicht für den Abbau von Freiheit und Selbstbestim-mung ein.
Öffentliche Sicherheit bedeutet, Demokratie und Frei-heitsrechte zu stärken, sie nicht zu reduzieren. Menschenverschiedener Herkunft und Kultur müssen als gleich-wertig anerkannt werden. Der interkulturelle Dialog, dieinterkulturelle Bildung sind auf allen Ebenen zu stärken.Zur öffentlichen Sicherheit gehört auch, dass man dieUrsachen dafür, dass sich Menschen in dieser Gesell-schaft von ihr abwenden und Straftaten begehen, begreiftund bekämpft. Öffentliche Sicherheit setzt entsprechendeBedingungen im Wohnumfeld und an vielen Stellen vo-raus. Öffentliche Sicherheit ist also eine gesellschaftspo-litische Aufgabe und keine Aufgabe von Polizei und Ge-heimdienst.Es sei erlaubt, hier den Bundesinnenminister als Kron-zeugen zu zitieren. Otto Schily hat in einem Interview mitder „Frankfurter Rundschau“ gesagt:Man muss beim Schutz der offenen Gesellschaft auf-passen, dass der Schutz nicht darin besteht, die of-fene Gesellschaft aufzugeben.Doch mit seinen Sicherheitspaketen wird genau das Ge-genteil getan. Die offene und freiheitliche Gesellschaftwird Stück für Stück demontiert, Bürgerrechte werden be-schnitten. Nehmen Sie als Beispiel das Sicherheitsüber-prüfungsgesetz mit seinen Nebenbestimmungen! Jeder,der vor zehn Jahren einmal ein Flugblatt mit falschen In-formationen verteilt hat – das kann auch für manchen derhier Anwesenden gelten – und nun in einem sicherheits-sensiblen Bereich arbeitet, ist in der Gefahr, seinen Ar-beitsplatz zu verlieren; denn er kann für unzuverlässig er-klärt werden. Die Gründe dafür braucht man nichtmitzuteilen. Das heißt, dieser Mensch kann sich nichtwehren, obwohl er seinen Job verliert. Heribert Prantl hatdazu in der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt, die Sicher-heitsgesetze „operieren mit einem Generalverdacht undsie geben einer rechtsstaatlichen Kontrolle der neuen Be-fugnisse wenig Raum“.
Die Sicherheit wird immer mehr in die Hände der Ge-heimdienste gegeben. Doch da wird der Bock zum Gärt-ner gemacht. Wir brauchen uns nur die V-Leute-Skandaleder letzten Monate anzuschauen, um zu erkennen, wassich für finstere Gestalten, denen man nicht über den Wegtrauen mag, bei den Geheimdiensten herumtreiben. Selbstden Grünen ist das mittlerweile unheimlich geworden;heute wollen sie zu diesem Thema gar nicht reden. Sie for-dern eine bessere Kontrolle der Geheimdienste. Die34 Prozent mehr an Mitteln für den Verfassungsschutzsind kein Ruhmesblatt. Man könnte einmal die Frage stel-len, wie viel davon direkt an die NPD geht.
Im Übrigen zeigt das Beispiel Heidelberg sehr schön,dass manches anders funktioniert. Dort war es ganz nor-male polizeiliche Arbeit, die Schlimmes verhütet hat.Kein Verfassungsschutz und kein Nachrichtendienst wa-ren dazu nötig.Die eigentlichen Hausaufgaben hat die Bundesregie-rung nicht gemacht. Maßnahmen, die zu mehr Sicherheitführen können, sind unterblieben. Wichtige Schritte, zumBeispiel bei der Flughafensicherung, sind bis heute nichtgemacht worden. Auf diesem Gebiet erwarten die Men-schen zu Recht eine Verstärkung der Sicherheit. Was aberist geschehen? Die Privatisierung der Sicherheitsaufgabenin Flughäfen – die Tendenz geht zu Billiglohnfirmen –geht unverändert weiter. Bei der Auftragsvergabe an sol-che Firmen wird nach Gewerkschaftsangaben weder aufdie Einhaltung von Tarifverträgen geachtet noch gibt esein einheitliches Ausbildungsniveau. Entsprechend ist dieMotivation dieser Beschäftigten. Auf diesem Gebiet lie-gen die eigentlichen Aufgaben, nicht in einem noch wei-teren Aufbau der Wasserköpfe in den Geheimdiensten.Da meine Redezeit bald abgelaufen ist, bitte ich Sie,mir unbedingt zu gestatten, auf einen Punkt einzugehen,der mit dem Haushalt direkt zu tun hat. Der Bundeskanz-ler hat – das steht sogar im SPD-Wahlprogramm – von derAngleichung der Lebensverhältnisse im Osten und imWesten gesprochen. Außerdem ist ein Zeitplan für dasVorgehen bis 2007 vorgeschlagen worden. Die Forde-rung, einen solchen Zeitplan vorzulegen, erhebt die PDSseit vielen Jahren. Bis 2007 soll also eine hundertprozen-tige Lohn- und Gehaltsangleichung erreicht sein.Wie ist die Realität des Haushalts? Kein einziger Centist dafür eingestellt. Es ist offensichtlich so wie bei derChefsache Ost: Erst einmal wird etwas verkündet und inder Praxis passiert dann nichts. Es kann nicht sein, dass indieser Angelegenheit in der Realität nichts passiert. Dazukommt, dass in den Ländern und Kommunen wirklichkeine finanziellen Handlungsspielräume mehr vorhandensind. Dieser Punkt ist absolut zu kritisieren.Auf dem Gebiet der inneren Sicherheit hat es in denletzten vier Jahren einen Wettlauf von Herrn Schily undHerrn Beckstein gegeben. Gewonnen hat keiner; verlorenhaben wir alle.
An einigen Punkten ist die Verfassung demontiert wor-den.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt spricht die Bun-desministerin der Justiz, Dr. Herta Däubler-Gmelin.Dr. Herta Däubler-Gmelin,Bundesministerin der Jus-tiz: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich will nicht nur zur Rechtspolitik der letzten vier Jahre,sondern auch zum Haushalt 2003, der diese Rechtspolitikunterstreicht, Stellung nehmen. Alles, was ich sage, stelleich unter den Obersatz: Die Rechtspolitik der letzten vierJahre war durch einen klaren Reformkurs geprägt. DerHaushaltsentwurf 2003 ist die Grundlage für dessen kon-sequente Fortsetzung.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Dr. Dietmar Bartsch25558
Der Reformkurs unserer Rechtspolitik beruht auf dreiSchwerpunkten: zum Ersten auf der Hilfe und Unterstüt-zung für Schwächere durch Recht, zum Zweiten auf derModernisierung von Recht und Justiz und zum Dritten– dieser Bereich wird ja, wie wir wissen, immer wichtiger –auf der Verbesserung der europäischen und der darüberhinaus reichenden internationalen Kooperation zur Stär-kung der Grund- und Menschenrechte, zur Stärkung derStärke des Rechts, also der Rule of Law – das ist geradejetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts und im Zuge der be-ginnenden Globalisierung, weltweit eine ganz wichtigeForderung und Aufgabe –, zur Verbesserung im Kampfgegen Verbrechen sowie zur Herstellung eines einheitli-chen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.Lassen Sie mich mit dem ersten Schwerpunkt begin-nen. Viele von Ihnen, die sich für diese Fragen interessie-ren – ich sehe, auf der Bundesratsbank sind nicht mehrviele anwesend –,
werden wissen, dass schon die römische Zwölftafel-Ge-setzgebung 450 vor Christus den Satz kannte: Recht dientdem Schutz der Schwachen.
Recht ist der Schutz der Schwachen. Dieses Verständnisberuht auf alter europäischer Tradition. Wenn man– das ist meine einzige Kritik an Ihrer Rede, verehrte FrauLeutheusser-Schnarrenberger – die wirtschaftlich Privile-gierten so einseitig in den Vordergrund stellt, sollte mandarüber, glaube ich, ein bisschen nachdenken.
Hilfe und Unterstützung für Schwächere durch Rechtbrauchen wir auf vielen Gebieten. Wir haben dies in denvergangenen vier Jahren in den Vordergrund gestellt. ImBereich der Kinder, die dies in besonderer Weise brau-chen, haben wir bei der Ächtung von Gewalt in der Er-ziehung eine Menge erreicht – leider Gottes nicht mit Zu-stimmung der Opposition.
Aber die FDP hat zugestimmt. Das möchte ich der Ob-jektivität halber sagen.Es ging auch um den zusätzlichen Schutz der Kindervor sexuellem Missbrauch.
Hier haben wir viel erneuert. Heute sind die Durch-führung und der Vollzug, durch Gerichte und in den Län-dern, noch ein großes Problem. Unsere Initiativen aberschlagen sich positiv nieder: Die Straftaten gerade in die-sem Bereich konnten zurückgedrängt werden, obwohl wirwissen, dass das Anzeigeverhalten bei sexuellem Miss-brauch im unmittelbaren Nahbereich – das ist ja leider derHauptbereich – zunimmt.Gewalt zurückzudrängen war auch in diesem Bereicheine wichtige Aufgabe. Wir haben es geschultert,während andere vor uns darüber geredet, aber nichts ge-tan haben.
Als Stichwort nenne ich das Gewaltschutzgesetz, das proJahr 44 000 Frauen nützt, die vor ihren prügelnden Män-nern von zu Hause in ein Frauenhaus fliehen mussten undvon denen zwei Drittel Kinder haben.
Es geht doch nicht an, dass in einer Gesellschaft, die aufihre Rechtsstaatlichkeit stolz ist, geduldet wird, dasssich Gewalt durch einen Stärkeren noch lohnt – da-durch, dass er die gemeinsame Wohnung und das Um-feld behalten kann –, während die Schwächere und Ge-schlagene mit den Kindern in ein Frauenhaus gehenmuss.
Meine Damen und Herren, wir haben dieses Gesetz be-schlossen. Ich weiß, das war Neuland. Aber es ist wirklichärgerlich, dass beispielsweise Hessen, Sachsen oder Sach-sen-Anhalt ihre geänderten Landespolizeigesetze immernoch nicht in Kraft gesetzt haben, mit denen dieser ersteAbschnitt des Wegweisungsrechtes und der Wegwei-sungsmöglichkeiten im polizeilichen Vorabvollzugtatsächlich gewährleistet werden kann.
Meine Bitte geht dahin, dass dies endlich einmal passiert.
Es ist außerordentlich wichtig, dass wir hier den Voll-zug anmahnen und dass wir da, wo wir Einfluss haben– in einigen dieser Länder haben Sie Einfluss, verehrteKollegen von der CDU/CSU; deswegen habe ich mich,auch wenn jetzt niemand mehr da ist, vorher an denBundesrat gewandt –, dafür sorgen, dass dies getanwird.Ein weiterer Bereich betrifft die Opfer von Straftaten.Hier sind zum Beispiel die Verstärkung des Täter-Opfer-Ausgleichs und die Verbesserung des Strafvollzuges, undzwar durch die Stärkung der Resozialisierung als vorbeu-genden Opferschutz, zu nennen, auch der Fonds für dieOpfer von rechtsextremistischen Gewalttaten und dieschnelle Hilfe für die Opfer des Terrorismus bei dem ent-setzlichen Anschlag auf die jüdische Synagoge auf Djerbaoder in New York. Hier hat die Bundesregierung, übrigensgenauso wie bei der Fluthilfe, verlässlich, mit Augenmaßund sehr schnell gehandelt und geholfen.Das meinen wir, wenn wir von Hilfe und Unterstützungfür Schwächere sprechen. Danach haben wir uns in denvergangenen vier Jahren gerichtet. Das war richtig. Die-sen Kurs werden wir mit der Reform des Sanktio-nensystems und einer Abführung von 10 Prozent derGeldstrafen für Zwecke der Opferhilfe, durch Verfahrens-änderungen und Stärkung der Opferrechte im Rahmen derStrafprozessreform und durch eine Veränderung desAdhäsionsverfahrens, das bisher einfach nicht praktikabel
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Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin25559
ist, fortsetzen. Wir wollen mit Letzterem erreichen, dassfür durch Straftaten geschädigte Opfer nur ein Verfahren
und eben nicht zwei Verfahren nötig sind. Ich glaube, dawäre es ganz gut, wenn auch die Teile der Opposition, dieim nächsten Bundestag vertreten sein werden, ihren bis-herigen ablehnenden Standpunkt überdenken.
Aber den Grundsatz, dass das Recht die Stärke derSchwächeren ist oder ihnen helfen soll, haben wir auch invielen anderen Bereichen verwirklicht. Ich möchte hiereinige Stichworte nennen: die Integration von Behinder-ten, die Hilfen für Verbraucher und Immobiliengeschä-digte, die Stärkung der Verbraucherrechte durch dieSchuldrechtsmodernisierung. Lassen Sie mich auch aufdie Reform des Urhebervertragsrechtes hinweisen. Ichhabe mich sehr gefreut, dass letztendlich auch aus denReihen der Union und der FDP Zustimmung gekommenist, weil der Grundsatz, dass einzelne Freiberufliche jetztdurch einen Zusammenschluss auf gleicher Augenhöhemit den Verbänden der wirtschaftlichen Partner die Ver-gütungen aushandeln können, richtig ist. Auch er ent-spricht unserer europäischen Rechtstradition. Deswegenwerden wir auch hier weiterarbeiten.Meine Damen und Herren, zum zweiten Schwerpunkt,nämlich der Modernisierung von Recht und Justiz,willich Ihnen einige Stichworte nennen, die Sie sehr wohlkennen. Man glaubt es nicht, aber es war Rot-Grün – Siehaben es ja vorher nicht gemacht –, die die rechtlichenGrundlagen für die Verwendung der Informations- undKommunikationstechnologien im Rechts- und Geschäfts-verkehr geschaffen haben. Wir haben das Mietrecht aus-gewogen reformiert und modernisiert. Das war seit Mitteder 70er-Jahre eine Forderung des Deutschen Bundesta-ges. Die Forderung nach einer Modernisierung desSchuldrechts bestand seit Anfang der 80er-Jahre. Die Ver-fahrensreform, die wir mit der ZPO begonnen haben, wer-den wir ebenfalls weiterführen.
Lassen Sie mich noch einen fünften Punkt erwähnen: Überdie Juristenausbildung haben wir in diesem Haus und ge-rade unter Fachleuten x-mal geredet. Nach langem Still-stand und – das ist, wie ich glaube, ganz wichtig zu sagen –nach guter Vorbereitung haben wir sie endlich reformiert.
Ich bin übrigens sehr zufrieden, dass es gelungen ist– dafür habe ich letztendlich ja auch die Unterstützung desganzen Hauses bekommen –, das Deutsche Patent- undMarkenamt durch Einführung von moderner EDV undSchaffung zusätzlicher Stellen zu modernisieren. Patentesind nun einmal Ausweis für die Leistungsfähigkeit einesLandes und die steigt bei uns. Für die Bearbeitung der Pa-tentanträge brauchen wir auch adäquate Verfahren.Meine Damen und Herren, zur internationalen Zu-sammenarbeit:Hier geht es in der Tat darum, die Rule ofLaw durchzusetzen, also Rechtsstaatlichkeit, Bürgerfrei-heiten und Bekämpfung von Kriminalität, auch von orga-nisierter Kriminalität, und Terrorismus. Es gibt sehr vieleund Gott sei Dank gute Beispiele, dass dies in Europamehr als früher gelungen ist: vom europäischen Haftbe-fehl bis zur gemeinsamen Bekämpfung des Terrorismus inEuropa. Wir stehen – lassen Sie mich das an diesem Tagenoch einmal sagen – auf der Seite der Vereinigten Staaten,wenn es um die Bekämpfung des Terrorismus geht.
Die Zusammenarbeit ist gut. Ich freue mich sehr, dasszum Beispiel der amerikanische Justizminister dieses aus-drücklich auch in persönlichen Schreiben immer wiederanerkennt. Das BMJ hat eine Oberstaatsanwältin vomGeneralbundesanwalt ständig nach Washington ge-schickt. Ihnen allen ist bekannt, dass Rechtshilfe und Aus-lieferung natürlich umso besser funktionieren, je selbst-verständlicher die bisher von beiden Seiten praktiziertenanerkannten Grundsätze und rechtsstaatlichen Prinzipien– das werden die europäischen Justizminister mit U.S. At-torney General Ashcroft am Samstag besprechen – einge-halten werden, und das bedeutet, dass die Dokumente, diewir übergeben, weder zur Androhung noch zur Verhän-gung von Todesstrafen, noch zur Exekution genutzt wer-den dürfen.
Ich freue mich sehr, dass der Internationale Strafge-richtshof, unterstützt von allen Seiten des Hauses – ichdarf das ausdrücklich sagen –, trotz Schwierigkeiten mitden USA seine Arbeit aufnehmen konnte und dass imkommenden Frühjahr die ersten Fälle behandelt werdensollen. Auch die Arbeit des Menschenrechtsinstituts, dieVerstetigung der Arbeit des Instituts für internationaleRechtszusammenarbeit – das jetzt auf ständigen Haus-haltsbeschlüssen des Deutschen Bundestags aufbaut –sind hervorragend und weiterführend. Die Arbeit der IRZzeigt, dass unsere rechtspolitsche Arbeit gerade in denletzten vier Jahren zu einem Exportschlager geworden ist.Die wollen und werden wir fortführen.
Der Haushaltsplan 2003 ist darauf ausgerichtet. Erweist mithilfe des Gutachtentitels auch aus, dass und wowir eine Menge vorhaben. Das reicht von der Charta derPatientenrechte über die Reform des Versicherungs-vertragsgesetzes, die Fortführung der Erweiterung derTransparenz in Unternehmen und des Schutzes der Anle-ger in Verbindung mit der Kodexkommission bis zur Re-form des Betreuungsrechtes und der einheitlichen Gestal-tung der Unterhaltsprinzipien.Lassen Sie mich noch hinzufügen: Ich denke, wir soll-ten uns für die kommenden vier Jahre auch gemeinsamdie Rechtsbereinigung vornehmen. Das habe ich vor. Ichfreue mich auf den konstruktiven Streit mit Ihnen von derOpposition, allerdings auch auf Ihre Unterstützung dabeiin den nächsten vier Jahren.Herzlichen Dank.
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Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin25560
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner des
heutigen Tages ist der Kollege Wolfgang Bosbach für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Ich möchte nur zu zwei The-men etwas sagen, weil sie in den vergangenen Jahren vongroßer Bedeutung waren und wir gemeinsam der Über-zeugung sind, dass sie auch in der Zukunft von Bedeutungsein werden: Zuwanderung und innere Sicherheit.
Minister Beckstein hat die Bundesregierung meinesErachtens noch zu milde behandelt, zu wenig kritisiert;
denn das, was vor wenigen Wochen geschehen ist, ist injeder Hinsicht unbegreiflich. Genau in den Tagen, in de-nen die gesamte Nation aufgefordert worden ist, für dieFlutopfer zu spenden und den Menschen zu helfen, greiftdie Bundesregierung in die Kasse, nimmt das Geld desdeutschen Steuerzahlers, 2,6 Millionen Euro, und zwarnicht etwa um die Bevölkerung über das neue Zuwande-rungsgesetz zu informieren,
sondern um die Bevölkerung über den Inhalt dieses Ge-setzes zu täuschen.
Das ist nicht nur wegen der kurzen Zeit bis zur Bundes-tagswahl verfassungswidrig,
das ist vor allen Dingen in hohem Maße unanständig.
Dieses ganze Pamphlet ist ein Sammelsurium von Plat-titüden, von Halbwahrheiten,
von glatten Unwahrheiten. Das ist deswegen so interes-sant, weil Sie immer gesagt haben, es sei unanständig, imWahlkampf über das Thema Zuwanderung zu sprechen.
Es bestehe die Gefahr, dass man dann Politik auf demRücken der Zuwanderer mache. Ich weiß, warum SieAngst haben,
dass im Wahlkampf über das Thema Zuwanderung ge-sprochen wird: weil die Bevölkerung erfahren könnte,was in dem Gesetz steht und was mit diesem Gesetz be-zweckt wird. Das ist Ihre große Angst.
Zeigen Sie mir doch bitte einmal die Stelle in diesemPapier, an der steht, dass der Anwerbestopp für ausländi-sche Arbeitnehmer generell und nicht etwa nur für beson-ders hoch Qualifizierte aufgehoben wird! Wo steht in die-sem Papier, dass Zuwanderung aus rein demographischenGründen ohne Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzeserlaubt werden soll?
Wo steht in diesem Papier, dass die Begrenzung der Zu-wanderung nach Deutschland nicht länger im öffentlichenInteresse liegen soll?
: Sehr wahr!)
– Sie brechen ja schon in Panik aus, wenn man wortwört-lich aus Ihrem Gesetzentwurf zitiert. Dann fallen Sieschon in Ohnmacht!
Das sagt doch alles darüber, welch großes Interesse Siedaran haben, dass die Bevölkerung nicht erfährt, wohindie Reise gehen soll. Das ist der Kern, um den es hier geht.
Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung. Wir habenaber einen erheblichen Mangel an Integration.
Nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration istdas Gebot der Stunde.
Wie man ernsthaft glauben kann, dass bei der dramati-schen Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt
die Aufhebung des Anwerbestopps für Arbeitnehmer ausNicht-EU-Ländern die Probleme auf dem Arbeitsmarktlösen wird, ist unbegreiflich. Die Probleme werden sichverschärfen.
Die Integrationsprobleme werden wir nicht mit mehrZuwanderung lösen, sondern nur mit mehr Integration.
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Das ist der Grund dafür, warum dieses Gesetz – nicht nur,weil es verfassungswidrig zustande gekommen ist –
nicht Bestand haben darf und warum wir es aufheben wer-den.
Wir werden die uns belastende Zuwanderung deutlich re-duzieren und die Integrationsanstrengungen wesentlicherhöhen.Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy[SPD]: Sie sind doch völlig isoliert in dieserFrage!)Nur eine solche Politik dient den Interessen unseres Lan-des und aller Menschen, die hier leben – ganz gleich wel-che Hautfarbe, Nationalität oder Religion sie haben.
Zur inneren Sicherheit. Die rot-grüne Koalition hatnach dem 11. September zwei Sicherheitspakete verab-schiedet,
die auch unsere Unterstützung gefunden haben. Die Maß-nahmen, die Sie ergriffen haben, waren notwendig, abersie sind bei weitem nicht ausreichend. Sie sind vor allenDingen weit hinter dem zurückgeblieben, was notwendigwäre, um unser Land besser und wirksamer vor Terroris-mus und Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen zuschützen.Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, niemandwill – Sie sollten das auch nicht hier suggerieren –
aufgrund von unbewiesenen Gerüchten ausweisen.
Die entscheidende Frage ist, ob wir so lange warten, biswir nach Jahren in der letzten Instanz möglicherweise denBeweis geführt haben,
dass jemand einer terroristischen Vereinigung angehört,oder bis er gar einen Terroranschlag verübt hat, oder obwir schon beim Vorliegen konkreter Anhaltspunkte, dassjemand einer terroristischen Vereinigung angehört, dasSicherheitsinteresse des Staates höher gewichten als dasInteresse des betroffenen Ausländers an einem weiterenAufenthalt in unserem Land. Das ist die Frage, um die esgeht.
Es gab eine gemeinsame Bundesratsinitiative des Lan-des Niedersachsen und des Freistaates Bayern. Daraufhätten wir uns alle einigen können, wenn nicht der Bun-desinnenminister und die Bundesjustizministerin von denGrünen zurückgepfiffen worden wären.
Wenn der Innenminister in diesen Tagen sagt, der Unter-schied sei Wortklauberei, dann muss man sich die Fragestellen: Wenn es nur um Worte geht, warum hat man sichdann nicht auf den Text von Niedersachsen und Bayernverständigt?
Es geht eben nicht um Worte, sondern es geht um Taten.Die unübersehbare Diskrepanz zwischen den starkenSprüchen und den schwachen Taten des Innenministers istdas Problem dieser Regierung.
Frau Bundesjustizministerin, dass Sie sich nach dem11. September dafür eingesetzt haben, dass die Sympa-thiewerbung für eine terroristische Vereinigung in Zu-kunft straflos bleibt, ist nicht nur in höchstem Maße pein-lich, sondern es ist vor allen Dingen unverantwortlich undeiner Justizministerin unwürdig.
Es kann doch nicht sein, dass es vor dem 11. Septemberstrafbar war, für Osama Bin Laden Reklame zu laufen,aber nicht mehr nach dem 11. September. Auch das wer-den wir ändern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmeldun-gen liegen mir nicht vor.Ich unterbreche die Haushaltsberatungen, die wir mor-gen früh mit der Beratung des Etats des Bundeskanzler-amtes fortsetzen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-nität und Geschäftsordnung zu dem
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt,Kerstin Müller , Rezzo Schlauch und derFraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNENÄnderung der Geschäftsordnung des Deut-schen Bundestages – Verhaltensregeln für Mit-glieder des Deutschen Bundestages
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 252. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. September 2002
Wolfgang Bosbach25562
– Drucksachen 14/9100, 14/9933 –Berichterstattung:Abgeordnete Anni Brandt-ElsweierAndreas Schmidt
Steffi LemkeJörg van EssenDr. Evelyn KenzlerEs liegt ein Änderungsantrag der PDS vor.Die Kolleginnen und Kollegen Christian Lange,Anni Brandt-Elsweier, Eckart von Klaeden, SteffiLemke, Jörg van Essen sowie Dr. Ruth Fuchs haben ihreReden zu Protokoll gegeben1). – Ich höre keinen Wider-spruch.Deshalb kommen wir jetzt zur Beschlussempfehlungdes Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung zu dem Antrag der Fraktionen der SPDund des Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung der Ver-haltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages,Drucksache 14/9933.Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS aufDrucksache 14/9949 vor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantragist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/9100 in der Ausschussfassung anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! –Enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlung ist gegendie Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion ange-nommen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-nung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-tages auf Freitag, den 13. September 2002, 9 Uhr, ein.Ihnen allen wünsche ich einen vergnüglichen und si-cherlich auch arbeitsreichen Abend.Die Sitzung ist geschlossen.