Protokoll:
14134

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 14

  • date_rangeSitzungsnummer: 134

  • date_rangeDatum: 17. November 2000

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 14:50 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Gunnar Uldall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12949 A Wahl der Abgeordneten Leyla Onur als stell- vertretendes Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates . . . . . . . . . . . . 12949 A Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Neugliederung, Vereinfachung und Reform des Mietrechts (Mietrechtsreform- gesetz) (Drucksache 14/4553) . . . . . . . . . . . . . . . 12949 B Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12949 B Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . . . . . . . 12952 A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12954 B Hans-Michael Goldmann F.D.P. . . . . . . . . . . . 12955 D Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 12956 D Dirk Manzewski SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12958 B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/CSU 12959 D Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12963 B Rainer Funke F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12964 C Margot von Renesse SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 12965 C Wolfgang Spanier SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12966 C Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Fraktion CDU/CSU: Der deut- schen Außenpolitik wiederEinfluss geben (Drucksache 14/4383) . . . . . . . . . . . . . . . 12968 B Volker Rühe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 12968 C Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12971 C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12971 D Monika Heubaum SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . 12974 B Ulrich Irmer F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12976 A Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12978 A Wolfgang Gehrcke PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . 12980 A Joseph Fischer, Bundesminister AA . . . . . . . . 12981 D Volker Rühe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 12984 A Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . . . . 12986 D Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12988 D Peter Hintze CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . . 12991 C Gernot Erler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12992 A Tagesordnungspunkt 23: Zweite und dritte Beratung des von den Ab- geordneten Dr. Evelyn Kenzler, Maritta Böttcher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts (Drucksachen 14/1126, 14/2150) . . . . . . . 12992 C Dr. Evelyn Kenzler PDS . . . . . . . . . . . . . . . . 12992 D Harald Friese SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12994 B Erwin Marschewski (Recklinghausen) CDU/CSU 12995 C Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 12996 B Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12997 C Plenarprotokoll 14/134 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 134. Sitzung Berlin, Freitag, den 17. November 2000 I n h a l t : Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investi- tionszulagengesetzes 1999 (Drucksachen 14/3273, 14/4624; 14/4626, 14/4627) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12998 D Lothar Binding (Heidelberg) SPD . . . . . . . . . 12999 A Gerhard Schulz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 13000 A Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU . . . . . 13001 B Werner Schulz (Leipzig) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13001 D Gerhard Schulz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 13002 B Cornelia Pieper F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13003 A Dr. Barbara Höll PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13003 D Dr. Barbara Hendricks SPD . . . . . . . . . . . . . . 13004 C Rolf Schwanitz, Staatsminister BK . . . . . . . . 13004 D Tagesordnungspunkt 25: Große Anfrage der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion CDU/CSU: Aus- wirkungen derÖkosteuer und der hohen Kraftstoffpreise auf den Deutschland- tourismus (Drucksachen 14/3867, 14/4334) . . . . . . . 13005 D Klaus Brähmig CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 13006 A Brunhilde Irber SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13007 B Ernst Burgbacher F.D.P. . . . . . . . . . . . . . . . . . 13010 B Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 13011 C Rosel Neuhäuser PDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13012 D Anita Schäfer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 13013 D Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13014 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 13015 A Anlage 2 Technisch bedingter Neudruck eines Redebei- trages (133. Sitzung, 12906 ff) Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) CDU/CSU 13015 D Anlage 3 Technisch bedingter Neudruck einer zu Proto- koll gegebenen Rede zur Beratung des Ent- wurfs eines Gesetzes zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Na- mensaktiengesetz – NaStraG) (Tagesordnungs- punkt 12, 133. Sitzung) Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 13017 D Anlage 4 Technisch bedingter Neudruck einer zu Proto- koll gegebenen Rede zur Beratung des Antrags: Sachgerechter Schutz der Rechte für Software (Tagesordnungspunkt 19, 133 Sitzung) Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 13018 C Anlage 5 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13020 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
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    Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000 Anita Schäfer 13014 (C) (D) (A) (B) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000 13015 (C) (D) (A) (B) Aigner, Ilse CDU/CSU 17.11.2000 Balt, Monika PDS 17.11.2000 Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 17.11.2000 Behrendt, Wolfgang SPD 17.11.2000* Belle, Meinrad CDU/CSU 17.11.2000 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 17.11.2000 Burchardt, Ursula SPD 17.11.2000 Ehlert, Heidemarie PDS 17.11.2000 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 17.11.2000 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 17.11.2000 Haupt, Klaus F.D.P. 17.11.2000 Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 17.11.2000 Hempelmann, Rolf SPD 17.11.2000 Heyne, Kristin BÜNDNIS 90/ 17.11.2000 DIE GRÜNEN Hohmann, Martin CDU/CSU 17.11.2000 Hornung, Siegfried CDU/CSU 17.11.2000 Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 17.11.2000 Kramme, Anette SPD 17.11.2000 Lambrecht, Christine SPD 17.11.2000 Lamers, Karl CDU/CSU 17.11.2000 Lennartz, Klaus SPD 17.11.2000 Lörcher, Christa SPD 17.11.2000* Nachtwei, Winfried BÜNDNIS 90/ 17.11.2000 DIE GRÜNEN Naumann, Kersten PDS 17.11.2000 Nooke, Günter CDU/CSU 17.11.2000 Ostertag, Adolf SPD 17.11.2000 Dr. Pick, Eckhart SPD 17.11.2000 Poß, Joachim SPD 17.11.2000 Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 17.11.2000 Rachel, Thomas CDU/CSU 17.11.2000 Schenk, Christina PDS 17.11.2000 Schily, Otto SPD 17.11.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 17.11.2000 Hans Peter von Schmude, Michael CDU/CSU 17.11.2000 Schösser, Fritz SPD 17.11.2000 Schröder, Gerhard SPD 17.11.2000 Schüßler, Gerhard F.D.P. 17.11.2000 Schuhmann (Delitzsch), SPD 17.11.2000 Richard Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 17.11.2000 Schultz (Everswinkel), SPD 17.11.2000 Reinhard Seehofer, Horst CDU/CSU 17.11.2000 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 17.11.2000 Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 17.11.2000 Vogt (Pforzheim), Ute SPD 17.11.2000 Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 17.11.2000 Weiermann, Wolfgang SPD 17.11.2000 Wissmann, Matthias CDU/CSU 17.11.2000 Wülfing, Elke CDU/CSU 17.11.2000 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Technisch bedingter Neudruck eines Rede- beitrages (133. Sitzung, Seite 12906 ff.) Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Markus Meckel hat Recht, wenn er sagt, dass die NATO als Licht- gestalt sicherlich auch das Licht einer Tagesdiskussion verdient hätte, insbesondere im Hinblick auf die Parla- mentarische Versammlung, die morgen hier in Berlin stattfindet. Aber ich glaube, die NATO überstrahlt auch so das Dunkel dieser Nacht. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Die Parlamentarische Versammlung der NATO, das NATO-Parlament, wird am kommenden Wochenende hier in der deutschen Hauptstadt Berlin ihre 46. Plenarta- gung abhalten. Dies geschieht zehn Jahre nach der Wie- dervereinigung Deutschlands. Zehn Jahre sind auch vergangen, seit die NATO-Part- ner auf dem Londoner Gipfel im Juli 1990 den ehemali- gen Gegnern des Warschauer Paktes die ausgestreckte Hand der Freundschaft anboten. Zehn Jahre ist es auch her, dass dem vereinigten Deutschland in den so genann- ten Zwei-plus-vier-Verhandlungen das Recht zugestan- den wurde, seine Bündniszugehörigkeit frei zu bestim- men. Neun Jahre sind vergangen, seit die NATO 1991 den Nordatlantischen Kooperationsrat gründete und die ehe- maligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie die Nachfolge- staaten der Sowjetunion als Kooperationspartner auf- nahm. Die Kooperation der NATO im Nordatlantischen Ko- operationsrat, im Programm „Partnership for Peace“, im NATO-Russland-Rat und in der NATO-Ukraine-Kom- mission ist seither zentraler Punkt der Außenpolitik der Bündnispartner. Heute, zehn Jahre nach dem Beginn die- ser Politik, können wir sagen, dass die Gräben der Kon- frontation, die in 40 Jahren Kalten Krieges entstanden wa- ren, eingeebnet wurden. Europa ist heute – zum Glück – weitgehend frei von den alten Klischees des Freund- Feind-Denkens. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die 1990 und 1991 oft gehörte Meinung, nicht nur der Warschauer Pakt, sondern auch die NATO müsse aufge- löst werden, (Beifall bei der PDS) wird heute nurmehr noch von den Unbelehrbaren der PDS vertreten und artikuliert. (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) – Ich freue mich, wie lebendig Sie noch zu dieser späten Stunde sind. Großartig! – Die Geschichte ist zum Glück darüber hinweg gegangen. Denn die NATO hat gezeigt, dass sie mit ihrer Stabilitätspolitik und dem von ihr gesi- cherten Stabilitätsraum unverzichtbar für den Weltfrieden ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Ja, viele Länder möchten nach wie vor möglichst schnell unter den Schutzschirm der NATO kommen und ich meine, sie alle haben einen guten Grund. Sie haben auch nichts gegen den Stabilitätsexport. Denn das ist es, was viele Länder seit 1990 wollen: innere und äußere Stabi- lität, um in Frieden und Freiheit leben zu können. (Beifall bei der CDU/CSU) Auf zwei weitere Entwicklungen seit 1990/91 möchte ich hinweisen: Erstens. Die NATO nahm auf ihrem Jubiläumsgipfel in Washington im Jahre 1999 die am weitesten fortgeschrit- tenen Reformstaaten des ehemaligen Ostblocks als gleichberechtigte Mitglieder auf: Polen, die Tschechische Republik und Ungarn. Gleichzeitig beschloss sie, dass die Tür für weitere Mitglieder offen bleiben soll und muss. Zweitens. Die NATO griff im Auftrag der Verein- ten Nationen zweimal auf dem Balkan ein: zum einen in die laufenden Bürgerkriegsauseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina und zum anderen im Kosovo, um die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen zu beenden sowie Frieden und Wiederauf- bau voranzubringen. Dies sind die ersten Out-of-area- Einsätze des Bündnisses gewesen. Die SED-Nachfolgepartei PDS behauptet in ihrem An- trag, (Rolf Kutzmutz [PDS]: Jetzt kommt es!) dies sei „militärisch gestützte Machtpolitik“ gewesen. (Beifall bei der PDS) Meine Kolleginnen Renate Diemers und Ursula Lietz hat- ten durchaus Recht, als sie vorhin in der Diskussion sag- ten, sie seien über eine solche Äußerung empört. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich muss sagen: Das, was hier betrieben wird, ist geradezu Geschichtsfälschung; denn die NATO musste handeln, nachdem sich die UNO im Weltsicherheitsrat trotz massivster Menschenrechtsverletzungen selbst blockier- te. Wäre man der Linie der PDS-Altkommunisten gefolgt, (Lachen bei der PDS) dann hätte man dem Völkermord der Serben tatenlos zu- sehen und auf ein Eingreifen der OSZE warten müssen. Wir alle wissen, das wäre das Todesurteil für weitere Hun- derttausende Menschen auf dem Balkan gewesen; denn die serbische Diktatur war weder durch Gebete – mit de- nen haben Sie es sowieso nicht so – noch durch gute Worte zu beschwichtigen. (Zuruf von der PDS) – Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen, wenn ich hier die Fakten aufzähle. – (Beifall bei der CDU/CSU) Die OSZE ihrerseits war der konkreten Herausforderung in diesem Moment in keiner Weise gewachsen. Die OSZE ist zwar ein wichtiger Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur. Aber zu der Absicht, den Grund- satz „OSZE first“ baldmöglichst durchzusetzen, vielleicht auch noch auf Kosten der NATO – das ist eine Forderung, die auch in diesem Hause immer wieder erhoben wird –, möchte ich klar sagen: Für uns gilt ohne jede Einschrän- kung, dass die NATO zentrales Instrument der Sicher- heitsarchitektur in Europa ist und bleibt. Sie allein ist Ga- rant des Friedens. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sorgt nicht nur mit Worten, sondern vor allem auch mit Taten für die Einhaltung der Menschenrechte. (Gernot Erler [SPD]: Das nenne ich NATO- Leitkultur!) – Das ist ein guter Begriff. (Lachen bei der SPD und der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 200013016 (C) (D) (A) (B) Die Parlamentarische Versammlung der NATO, früher NAV genannt, hat bei all diesen Epoche machenden Ent- wicklungen und Ereignissen, die ich angesprochen habe, wesentliche Schrittmacherdienste geleistet, ja, sogar eine Vorreiterrolle gespielt. Ich denke an die parlamentarische Einbindung der ehemaligen Ostblockländer. Wichtig ist nicht nur, dass Beschlüsse auf Gipfelkonferenzen von Re- gierungen gefasst werden, sondern auch, dass wir uns auf parlamentarischer Ebene mit den Dingen befassen und über sie diskutieren. Das NATO-Parlament ist so zu einem wichtigen Faktor für die Meinungsbildung im Bündnis geworden und stellt das parlamentarische Gleichgewicht zu den Beschlüssen der Bündnisregierungen und Minis- terräte her. Trotzdem bleibt noch viel zu tun. Eine zentrale Herausforderung für das Bündnis und auch für die Parlamentarische Versammlung der NATO ist das Verhältnis zu Russland. (Zuruf von der PDS) – Sehr richtig, das haben auch Sie begriffen. – Ohne eine funktionierende Zusammenarbeit mit Russland kann we- der die neue europäische Sicherheitsarchitektur noch die Friedenssicherung in der Welt funktionieren. Das erfolg- reiche Eingreifen der NATO im Kosovo hat das Verhält- nis zu Russland belastet. Aber nachdem es einen Macht- wechsel in Russland gegeben hat und Vladimir Putin Präsident wurde, gibt es glücklicherweise Anzeichen für einen Neustart in der Zusammenarbeit. Ein weiteres Feld ist das Verhältnis zwischen NATO und Europäischer Union. Die Entscheidungen für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, für eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, für eine Integration der WEU in die EU und für die Errichtung einer neuen Krisenreaktions- streitmacht in Europa sind Meilensteine auf dem Weg, an dessen Ende die Europäer einen größeren Beitrag zur Si- cherung des Friedens in der Welt als bisher übernehmen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Sowohl der NATO als auch der Europäischen Union ist klar: NATO und europäische Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik sind kein Widerspruch. Sie sind zwei Seiten einer Medaille. Die EU wird künftig mehr Verantwortung für die Sicherheit in Europa übernehmen müssen. Wir er- warten insbesondere vom bevorstehenden Gipfeltreffen in Nizza weit reichende Entscheidungen zur gemeinsa- men Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das Thema „National Missile Defense“ – Markus Meckel hat es angesprochen – hat in der Parlamentari- schen Versammlung der NATO zu einer intensiven Dis- kussion geführt. Wir werden auch am Wochenende da- rüber sprechen, um hier zu einem gemeinsamen Vorgehen zwischen unseren amerikanischen Freunden und den Eu- ropäern zu gelangen. Meine Damen und Herren, am Herzen liegt uns auch die Fortführung des Stabilitätsexports der NATO, das heißt die Fortsetzung der Politik der offenen Tür. (Gernot Erler [SPD]: Die Stabilität bleibt hier!) Über unser Verhältnis zu Russland habe ich bereits ge- sprochen. Zugleich geht es uns aber auch darum, nukleare Abrüstung zu forcieren und den Anti-Ballistic-Missile- Vertrag, obwohl dieser teilweise als überholt gelten muss, (Zuruf von der SPD: Na, na!) auch für die Zukunft als rüstungskontrollpolitisches Ele- ment zu erhalten. Deswegen erscheint es uns notwendig, dass wir insbesondere mit den Russen ins Gespräch kom- men, um eventuell im Wege einer Modifizierung zum Er- halt des ABM-Vertrages beizutragen. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, schließlich fordern wir eine gemeinsame Strategie der Allianz zur Eindämmung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und der ent- sprechenden Trägertechnologie. Die Parlamentarische Versammlung der NATO fordern wir auf, ihre vorandrän- gende Rolle bei der Öffnung des Bündnisses für weitere Mitglieder auch weiterhin wahrzunehmen. Wir laden die russische Staatsduma ausdrücklich ein, an der Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO teilzunehmen und die parlamentarische Dis- kussion über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Eu- ropa und in der Welt aufzunehmen, sich in diese Diskus- sion hineinzubegeben und so den Versuch zu machen, das von uns als richtig Erkannte mit zu verwirklichen, näm- lich einen gemeinsamen Weg zu finden. Frieden und Si- cherheit durch Kooperation sowie demokratische Stabi- lität in ganz Europa zu fördern, ist und bleibt unser großes Ziel. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Fraktion ist bereit, die geeigneten Maßnahmen mitzutragen, die uns diesem Ziel gemeinsam näher brin- gen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P so- wie bei Abgeordneten der SPD) Anlage 3 Technisch bedingter Neudruck einer zu Protokoll ge- gebenen Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimm- rechtsübung (Namensaktiengesetz – NaStraG) (Tagesordungspunkt 12, 133. Sitzung) Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz:Das Internet und die neuen Tele- kommunikationsmedien werden sich auf alle Rechtsge- biete auswirken. Die Gesetzgebung muss hier rasch gestaltend eingreifen und die Modernisierung unseres Rechts vorantreiben. Mit dem heute zur Verabschiedung anstehenden Entwurf eines Namensaktiengesetzes wollen wir dies für das Aktienrecht tun. Hier erscheint eine Mo- dernisierung dringlich. Die Verwendung neuer Tech- nologien ist in den Kapitalmärkten besonders fortge- schritten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000 13017 (C) (D) (A) (B) Um ein Beispiel vor Augen zu führen: Ein Anleger, der von seinem Laptop aus seine Kauf- und Verkaufentschei- dungen online trifft, versteht es nicht mehr, dass er be- stimmte Unternehmensmitteilungen nicht auch online er- halten oder seine Stimmrechtvollmachten auf diesem Wege erteilen kann. Das Namensaktiengesetz wird dies möglich machen. Erstens wird das völlig veraltete Recht zur Namensak- tie grundlegend aktualisiert und auf den Stand moderner Datenübertragung und elektronischer Aktienregister ge- bracht. Dabei haben wir besonderen Wert auf die daten- schutzrechtliche Absicherung und Verbesserung gelegt. Der einzige streitige Punkt war die Frage, wer die Kosten für die Datenübermittlung tragen sollte. Es wäre schön, wenn sich die Streitpunkte auch bei anderen Vorhaben auf solche Details reduzieren ließen. Ich danke den Bericht- erstattern dafür, dass sie eine sehr ausgewogene Lösung hierzu gefunden haben. Zweitens – dieser Punkt ist vielleicht noch wichtiger –: In dem Entwurf werden viele Formerfordernisse aus alter Zeit rund um die aktienrechtliche Hauptversammlung so- weit wie möglich heruntergefahren. Teilnehmerverzeich- nisse auf den Hauptversammlungen werden in Zukunft auf Bildschirmen dargestellt, Aufsichtsratssitzungen kön- nen im Bedarfsfall rasch als Videokonferenz einberufen werden, Stimmrechtsvollmachten können auch in elektro- nischer Form erteilt werden und Ähnliches mehr. Dies sind mutige Modernisierungen unseres Aktienrechts. Das Namensaktiengesetz wird dem nicht mit dem Ge- sellschaftsrecht befassten Betrachter als eine eher techni- sche Novelle erscheinen. Der Entwurf hat aber das Poten- zial, eine beachtliche Modernisierung und Veränderung anzuschieben. Es wird zum Beispiel interessant zu be- obachten sein, wie in der Zukunft die Stimmrechtsaus- übung auf den Hauptversammlungen unserer Aktienge- sellschaften neu organisiert werden wird. Das alte Depotstimmrecht der Banken wird Konkurrenz bekom- men, so viel können wir heute schon vorhersagen. Das Gesetz enthält weiter eine Einschränkung des sehr bürokratischen und aus heutiger Sicht unverständlich komplizierten Nachgründungsverfahrens für neu gegrün- dete Aktiengesellschaften. Dies betrifft besonders die Start-Up-Unternehmen und die Neuemissionen am Neuen Markt. Die beteiligten Kreise haben diesen Gesetzge- bungsvorschlag mit großer Erleichterung aufgenommen. Sie können sich vorstellen – oder sie werden es schon wis- sen –, dass dieser Entwurf hohe Zustimmung bei allen be- teiligten Kreisen gefunden hat und dringlichst erwartet wird. Ich möchte deshalb an dieser Stelle den Berichter- stattern und den Kollegen im Rechtsausschuss, aber auch im Wirtschaftsausschuss für die sehr zügige und kon- struktive Beratung des Entwurfs danken. Das gilt über die Fraktionsgrenzen hinweg. Ich freue mich, sagen zu kön- nen, dass wir damit auch im internationalen Vergleich auf diesem Rechtsgebiet eine innovative Rolle übernehmen. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die zwei Ihnen vorliegenden Änderungsanträge der F.D.P.-Fraktion ein- gehen. Sie betreffen den Entwurf nicht unmittelbar. Beim VW-Gesetz ist immerhin ein Zusammenhang nicht zu leugnen. Es ist auch nicht so, dass wir kein Verständnis für den Antrag haben. Aber nachdem Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P.-Frak- tion, in der 12. und 13. Wahlperiode zweimal vergeblich versucht haben, das VW-Gesetz abzuschaffen oder zu än- dern, sollte Ihnen einsichtig geworden sein: Es wäre rich- tiger und besser, wenn der Anstoß zur Reform in diesem Fall von den Betroffenen selbst ausginge. Auch Ihren Vorschlag zur Reform des Anfechtungs- rechts nehmen wir durchaus ernst. Ich bin aber nicht da- mit einverstanden, einen so wichtigen, im Einzelnen in der Wissenschaft und Praxis umstrittenen Vorschlag von erheblicher Tragweite handstreichartig und ohne Diskus- sion mit den beteiligten Kreisen im Rahmen eines völlig anderen Gesetzgebungsverfahrens mitzuregeln. Es ist Ihr gutes Recht, auf das Thema hinzuweisen und Änderungen anzumahnen. Wir lassen uns aber eine sorgfältige Geset- zesarbeit dadurch nicht nehmen. Das Anfechtungsrecht ist zudem zentraler Punkt in der von der Bundesregierung eingesetzten Corporate Governance Kommission, wo wir Gelegenheit haben, den gesamten Sachverstand einzu- sammeln. Anlage 4 Technisch bedingter Neudruck einer zu Protokoll ge- gebenen Rede zur Beratung des Antrags: Sachgerechter Schutz der Rechte für Software (Tagesordnungspunkt 19, 133. Sitzung) Dr. Eckardt Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: Das Patentrecht erfreut sich der- zeit sowohl national als auch auf europäischer und inter- nationaler Ebene wieder einmal großer Aufmerksamkeit. Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion lenkt das Augenmerk insbesondere auf die Patentierbarkeit von Software. Das ist im Grunde richtig, denn es handelt sich um ein wichtiges Thema, das uns noch länger beschäfti- gen wird. Aber warum diese Eile; warum der Antrag, heute da- rüber abzustimmen? Es handelt sich um Fragen, die eine eingehende Erörterung erfordern. Und dem wird sich die Bundesregierung nicht verschließen. Im Gegenteil: Sie beschäftigt sich fortlaufend mit dem Schutz von Compu- terprogrammen, nicht nur durch Patente, und führt derzeit einen intensiven Dialog mit allen betroffenen und interes- sierten Kreisen. Dies gilt insbesondere – aber nicht nur – im Hinblick auf die derzeit diskutierte Änderung von Art. 52 Abs. 2 des Europäischen Patentübereinkommens – kurz EPÜ. Hier muss die Bundesregierung nicht, wie man so schön sagt, „zum Jagen getragen werden“! Und die Haltung der Bundesregierung ist bekannt, nicht erst seit ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der F.D.P. vom 24. Oktober 2000, nachzulesen in Drucksache 14/4397. Worum geht es? – Softwarepatente sind Patente und Patente werden für Erfindungen erteilt. Grundlage ist, dass grundsätzlich in allen Bereichen der Technik rechtli- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 200013018 (C) (D) (A) (B) cher Schutz durch das Patentrecht zur Verfügung gestellt werden muss. Es ist nicht zulässig, einen Bereich der Technik zu diskriminieren. Dieser Gedanke ist internatio- nal vor allem in Art. 27 des WTO-Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte geistigen Eigen- tums, dem so genannten WTO-TRIPS-Übereinkommen, verankert. Dies ist die Grundlage, an die wir uns halten müssen. Für jede Erfindung, die die allgemeinen Paten- tierungsvoraussetzungen erfüllt, muss Patentschutz ge- währt werden. Das gilt auch für softwarebezogene Erfin- dungen. Die im Patentgesetz und im Europäischen Patentüber- einkommens verankerten – im Wesentlichen wortglei- chen – Vorschriften über die Patentierungsvoraussetzungen legen aber auch die Grenzen für das fest, was nicht pat- entfähig ist. Ein Patent darf nicht erteilt werden, wenn keine Erfindung vorliegt. Und nicht jede Software ist eine Erfindung. Beispielhaft erläutert Art. 52 Abs. 2 und 3 EPÜ, dass „Programme für Datenverarbeitungsanlagen als solche“ nicht als Erfindungen angesehen werden. Auf der Diplomatischen Konferenz in diesem Novem- ber in München ist nun über einen Vorschlag des Europä- ischen Patentamtes zu entscheiden, der beabsichtigt, die Worte „Programme für Datenverarbeitungsanlagen“ aus Art. 52 Abs. 2 Buchst. c des Übereinkommens zu strei- chen. Dieser Vorschlag hat eine rechtliche und eine poli- tische Seite. Rechtlich betrachtet, würde sich an der Patentierbar- keit von Softwareerfindungen überhaupt nichts ändern, wenn in München beschlossen wird, diese Worte aus dem Europäischen Patentübereinkommen zu streichen. Vor al- lem würde das keine Ausweitung der Patentierbarkeit von Software bedeuten. Das sollte man im Hinterkopf behal- ten. Wenn Sie die Bestimmung des Art. 52 des Europä- ischen Patentübereinkommens lesen, so werden Sie erken- nen, dass dort im Abs. 2 lediglich Beispiele für das genannt sind, was in der Regel nicht als Erfindung angesehen wird. Diese Vorschrift befreit das Patentamt nicht von der Prü- fung, ob im Einzelfall nicht doch eine Erfindung vorliegt. Wenn eine Erfindung gemacht ist und alle Voraussetzun- gen für ein Patent vorliegen, muss ein Patent erteilt wer- den. Wesentlich wichtiger als diese rechtliche Überlegung ist der politische Gesichtspunkt, dass eine Entscheidung, wie die rechtliche Regelung des Patentrechts für Software in Zukunft aussehen sollte, nicht in der Europäischen Pa- tentorganisation, sondern in der Europäischen Union ge- troffen werden muss; und dies nach eingehenden Konsul- tationen. Hier geht es nicht um ein „Moratorium“, wie es der vorliegende Antrag fordert, sondern um eine Bestands- aufnahme des geltenden Patentrechts und dann eventuell eine harmonisierte Weiterentwicklung auf europäischer Ebene. Die Diskussionen in der Europäischen Union werden bereits sehr intensiv geführt. Die Generaldirektion Bin- nenmarkt hat im Internet ein Konsultationsdokument ver- öffentlicht und wird das Ergebnis dieser Sondierung bis zum Ende des Jahres auswerten. Es wird bei der weiteren Diskussion darauf ankommen, sicherzustellen, dass die Anforderungen an die Patentvergabe nicht herunterge- schraubt werden und dass ein Patent auch in Zukunft nur dann vergeben werden kann, wenn eine technische Erfin- dung zum Patent angemeldet wird. Es wird auch darauf ankommen, dass kein Signal gesetzt wird, das im Sinne einer Behinderung der Softwareentwicklung missverstan- den werden kann. Die Bundesregierung beteiligt sich in- tensiv an dieser Diskussion. Eines ist aber ganz wichtig. Das Patentrecht hat im Be- reich der Softwareerfindungen gerade für kleinere und mittlere Unternehmen und auch für freie Softwareent- wickler eine ganz erhebliche Bedeutung. Denn sie kennen die bereits heute bestehenden Möglichkeiten, Patente für Softwareerfindungen zu erlangen, häufig nicht. Sie haben auch nicht, wie große Unternehmen, die Marktmacht, um sich gegen unberechtigte Nachahmungen ihrer Erfindun- gen zu verteidigen. Deswegen haben gewerbliche Schutz- rechte gerade für kleinere und mittlere Unternehmen und für freie Softwareentwickler ganz erhebliche Bedeutung. Man darf ihnen diese Schutzrechte nicht nehmen. Aber sie dürfen im Interesse der Innovationsfähigkeit vernetz- ter Entwicklungsbereiche auch keine überschießende Tendenz haben. Insofern enthält der vorliegende Antrag teilweise zwar bedenkenswerte, aber keine neuen und teilweise auch ir- reführende Gesichtspunkte. Ein Beschluss, der darauf ab- zielt, ein Moratorium für Softwarepatente zu erreichen, verkennt einerseits die rechtliche, auch durch die Welt- handelsorganisation begründete Verpflichtung, Patent- schutz für Erfindungen zur Verfügung zu stellen. Ande- rerseits fügt er im Ergebnis kleinen und mittleren Un- ternehmen und freien Softwareentwicklern Schaden zu. Schließlich ist noch hervorzuheben, dass eine Aus- flucht nicht in einem besonderen Schutzrecht, das nur für neu entwickelte Software geschaffen werden würde, ge- sucht werden darf. Damit ist niemandem geholfen. Wir können eine Zersplitterung des Rechtsschutzsystems, die durch die Schaffung von verschiedenen besonderen Schutzrechten erreicht würde, nicht befürworten. Die Er- fahrung hat gezeigt, dass solche Sui-generis-Schutzrechte mit der Entwicklung der Technik nicht Schritt halten. Sie veralten und werden dann schlicht nicht mehr benutzt. Die Bundesregierung hat sich im Hinblick auf die lau- fende Diskussion auf europäischer Ebene – und insbeson- dere um kein missverständliches Signal zu setzen – wie die Delegationen der anderen großen Vertragsstaaten bei der Europäischen Patentorganisation gegen die Strei- chung der Worte „Programme für Datenverarbeitungsan- lagen“ aus dem EPÜ stark gemacht. Die Streichung hat zwar auf der Verwaltungsratssitzung der Europäischen Patentorganisation Anfang September zunächst eine knappe Mehrheit erhalten. Deutschland bemüht sich aber derzeit – zusammen mit den gleichgesinnten Staaten Dä- nemark, Frankreich, Schweden, Spanien, Portugal, dem Vereinigten Königreich und Luxemburg – intensiv darum, dass die endgültige Entscheidung auf der in Kürze statt- findenden Diplomatischen Konferenz anders ausfällt. Wir werden uns bis zuletzt dafür einsetzen, die ange- sprochene Änderung des Art. 52 Abs. 2 des Europäischen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000 13019 (C) (D) (A) (B) Patentübereinkommens zu verhindern. Wir befürworten eine breite Debatte über Wettbewerb und Innovation auf den Softwaremärkten. Wir werden uns auch aktiv an den Beratungen zur Entwicklung einer europäischen Richtli- nie beteiligen. Deswegen sind wir zwar dankbar für Un- terstützung auch des Bundestages für unsere Haltung bei den Verhandlungen, halten den vorliegenden Antrag aber für überflüssig. Im Hinblick auf die übrigen im Antrag der Opposition angesprochenen sachlichen Fragen des Softwareschutzes, die einer intensiveren Erörterung durch die Fachleute be- dürfen, besteht keinerlei Notwendigkeit, darüber heute zu beschließen; dies kann zunächst in den Ausschüssen be- handelt werden. Insofern spreche ich mich nachdrücklich dafür aus, den vorliegenden Antrag an die zuständigen Ausschüsse zu verweisen. Anlage 5 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 756. Sitzung am 10. No- vember 2000 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 Grundgesetz nicht zu stellen: – Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- kel 16) – Gesetz zu dem Übereinkommen vom 6. März 1997 zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über den Geheimschutz – Gesetz über die assoziierte Mitgliedschaft der Re- publik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn in derWesteuropäischen Union – Gesetz zur Umrechnung und Glättung steuerlicher Euro-Beträge (Steuer-Euroglättungsgesetz – StEuglG) – Gesetz zur Änderung des Begriffs „Erziehungs- urlaub“ – Gesetz zur Änderung des Opferentschädigungs- gesetzes und anderer Gesetze – Gesetz zu dem Protokoll vom 22. März 2000 zur Änderung des Übereinkommens vom 9. Fe- bruar 1994 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen Ferner hat der Bundesrat folgende Entschließung ge- fasst: Der Bundesrat bekräftigt seinen Beschluss vom 14. Juli 2000 – BR-Drucksache 320/00 (Beschluss) – mit der Bitte an die Bundesregierung, das aus den Straßennutzungsgebühren für Lastkraftwagen re- sultierende Aufkommen zweckgebunden für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in der Bun- desrepublik Deutschland zur Verfügung zu stellen. Er verweist ferner auf die Ergebnisse der Pällmann- Kommission, die eine Finanzlücke für Bau und In- standhaltung bei allen Verkehrsträgern festgestellt hat, und zwar jährlich mindestens bei – Bundesfernstraßen 4 Milliarden DM, – Bundesschienenwegen 3 Milliarden DM, – Bundeswasserstraßen 0,5 Milliarden DM. – Gesetz zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom17. Juli 1998 (IStGH-Statut- gesetz) Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung gefasst: Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, zu Arti- kel 87 Abs. 2 des Übereinkommens eine Er- klärung abzugeben, wonach dem Ersuchen um Zu- sammenarbeit und allen zu ihrer Begründung beigefügten Unterlagen Übersetzungen des Ersu- chens und der Unterlagen in deutscher Sprache beizufügen sind, sofern das Ersuchen und die bei- gefügten Unterlagen nicht in deutscher Sprache ab- gefasst sind. Die Praxis des Rechtshilfeverkehrs zeigt, dass ein Übersetzungsverzicht nicht zu der gewünschten beschleunigten Erledigung von Ersu- chen beiträgt. Darüber hinaus begibt sich die ersuchende Behörde der Möglichkeit, Rechtshil- feersuchen durch rasche Übersetzung zu be- schleunigen. In der Praxis des Rechtshilfeverkehrs in Strafsachen hat dies dazugeführt, dass bei wich- tigen und eiligen Ersuchen trotz vertraglich verein- barten Übersetzungsverzichts Übersetzungen bei- gefügt werden. Daher ist schon in dem Bericht vom 6. April 1990 der von der 60. Konferenz der Justiz- minister und -senatoren beauftragten Arbeits- gruppe zur Vereinfachung des internationalen Rechtshilfeverkehrs in Strafsachen, insbesondere im Hinblick auf den geplanten Wegfall der Perso- nenkontrollen an den Binnengrenzen der EG, emp- fohlen worden, es solle grundsätzlich kein Über- setzungsverzicht vereinbart, bestehende Regeln sollten aufgehoben werden. Im Übrigen hat der Bundesrat bereits in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesre- gierung zu dem Vertrag vom 29. Oktober 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko über die Rechtshilfe und Rechtsauskunft in Zivil- und Handelssachen die in dem Vertrag vorgesehene Sprachenregelung als unbefriedigend bezeichnet, weil danach einseitig der deutschen Seite Übersetzungspflichten oblie- gen und weil hierdurch Bund und Ländern Kosten- und Haftungsrisiken entstehen. Die Bundesregie- rung hat in ihrer Gegenäußerung erklärt, sie werde bei künftigen Verhandlungen mit anderen Staaten anstreben, hinsichtlich der Verwendung einer ver- mittelnden Sprache nach Möglichkeit keine ver- traglichen, sondern flexiblere Absprachen zu tref- fen (s. BT-Drs. 11/2026). Die Fraktion der PDS hat mit Schreiben vom 9. No- vember 2000 den Antrag „Sanktionen gegen Kuba auf- heben“ – Drucksache 14/4499 – zurückgezogen. Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mitge- teilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Ge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 200013020 (C) (D) (A) (B) schäftsordnung von einer Berichterstattung zu der nach- stehenden Vorlage absieht: Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2000 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 683 06 – Zuweisungen nach dem Gesetz über die Verwendung von Gasöl durch Betriebe der Landwirtschaft (LwGVG) – Drucksachen 14/3655 (neu), 14/3720 Nr. 2 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2000 Weitere überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 – Von der EU nicht übernommene Markt- ordnungsausgaben – bis zur Höhe von 34 007 TDM – Drucksachen 14/4123, 14/4169 Nr. 2 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2000 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 17 Titel 831 12 – Beteiligung an Flughafengesellschaften und Erhöhung von Kapitalrücklagen – Drucksachen 14/3942, 14/4093 Nr. 1.9 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 2000 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 25 Titel 642 01 – Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz – Drucksachen 14/3876, 14/4093 Nr. 1.8 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- gen bzw. Unterrichtungen durch das europäische Parla- ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 14/3576 Nr. 1.15 Drucksache 14/3859 Nr. 1.10 Drucksache 14/4170 Nr. 2.25 Finanzausschuss Drucksache 14/4170 Nr. 2.17 Drucksache 14/4170 Nr. 2.18 Drucksache 14/4170 Nr. 2.21 Drucksache 14/4170 Nr. 2.26 Drucksache 14/4170 Nr. 2.36 Drucksache 14/4170 Nr. 2.41 Drucksache 14/4170 Nr. 2.51 Drucksache 14/4170 Nr. 2.53 Drucksache 14/4170 Nr. 2.86 Haushaltsausschuss Drucksache 14/4170 Nr. 2.39 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 14/4170 Nr. 2.1 Drucksache 14/4170 Nr. 2.22 Drucksache 14/4170 Nr. 2.23 Drucksache 14/4170 Nr. 2.33 Drucksache 14/4170 Nr. 2.37 Drucksache 14/4170 Nr. 2.38 Drucksache 14/4170 Nr. 2.48 Drucksache 14/4170 Nr. 2.54 Drucksache 14/4170 Nr. 2.58 Drucksache 14/4170 Nr. 2.60 Drucksache 14/4170 Nr. 2.90 Drucksache 14/4309 Nr. 1.16 Drucksache 14/4309 Nr. 1.40 Drucksache 14/4309 Nr. 1.44 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 14/4170 Nr. 2.50 Drucksache 14/4170 Nr. 2.55 Drucksache 14/4309 Nr. 1.29 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 14/3050 Nr. 2.15 Drucksache 14/3576 Nr. 2.20 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Drucksache 14/1617 Nr. 1.1 Drucksache 14/2609 Nr. 1.16 Drucksache 14/3050 Nr. 1.4 Drucksache 14/3428 Nr. 1.4 Drucksache 14/3428 Nr. 1.6 Drucksache 14/3576 Nr. 1.3 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 14/4170 Nr. 2.83 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000 13021 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413400000
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.

Der Kollege GunnarUldall feiert heute seinen 60. Ge-
burtstag. Er ist leider nicht anwesend. Ich spreche ihm
trotzdem die herzlichsten Glückwünsche des ganzen Hau-
ses aus.


(Beifall)

Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege Franz

Thönnes als stellvertretendes Mitglied aus der Parlamen-
tarischen Versammlung des Europarates ausscheidet.
Nachfolgerin soll die Kollegin Leyla Onur werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist die Kollegin Leyla Onur als stellvertretendes
Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Euro-
parates gewählt.

Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushaltswo-
che vom 27. November 2000 keine Regierungsbefragung,
keine Fragestunde und keine Aktuellen Stunden stattfinden
sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuglie-
derung, Vereinfachung und Reform des Mietrechts

(Mietrechtsreformgesetz)

– Drucksache 14/4553 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesmi-
nisterin Professor Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Gesetz zur Neugliederung, Vereinfachung und

Reform des Mietrechts greift die rot-grüne Bundesregie-
rung ein wichtiges Reformvorhaben auf, das trotz Mah-
nungen aus den verschiedenen Bereichen, also von Mie-
tern und Mieterverbänden, von Vermietern und ihren
Organisationen wie auch von der Wohnungswirtschaft,
viel zu lange liegen geblieben ist. Ich erinnere daran, dass
der Bundestag schon 1974 zu einer Generalüberholung, zu
einer Modernisierung und einer Reform aufgerufen hat.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Nach 1974 haben Sie noch fast neun Jahre regiert!)


Mit dem Gesetz werden wir den Erwartungen gerecht,
die Millionen von Mieterinnen und Mietern an uns, den
Deutschen Bundestag, richten. Sie wollen nämlich vor al-
lem in Frieden miteinander auskommen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – HansPeter Repnik [CDU/CSU] : Danach haben Sie doch neun Jahre regiert!)


– Ich weiß gar nicht, warum Sie sich an dieser Stelle so er-
regen, Herr Repnik; aber Sie werden das sicherlich gleich
sagen.


(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ich errege mich nicht!)


– Keine Erregung? Dann hat sich das hier nur so angehört.

(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Verehrte Frau Ministerin, ich habe nur darauf hingewiesen, dass Sie von 1974 bis 1982 noch fast neun Jahre Zeit hatten, das zu tun! Sie haben es aber nicht gemacht!)


– Sie hatten anschließend 16 Jahre Zeit, lieber Herr
Repnik, und zwar auf der Grundlage einer guten Vorbe-
reitung, die wir Ihnen bis Anfang der 80er-Jahre geliefert
hatten. Vielen Dank für diesen Hinweis!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das unterstreicht, dass wir gut daran tun, diesen Gesetz-
entwurf so zügig zu beraten, wie ihn die rot-grüne Bun-
desregierung vorgelegt hat.

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(C)



(D)



(A)



(B)


134. Sitzung

Berlin, Freitag, den 17. November 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Mit dem vorliegenden Gesetz erfüllen wir die grundle-
gende Erwartung der Mieterinnen und Mieter auf der ei-
nen Seite und der Vermieter auf der anderen Seite, vor al-
len Dingen gut miteinander auskommen zu wollen.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das tun sie ja!)


Wenn man gut miteinander auskommen will, ist es
nicht hilfreich, wenn der eine oder andere nun wieder ir-
gendwelche Forderungen stellt; vielmehr ist es entschei-
dend, dass Rechtsgrundlagen bestehen, aus denen die
Rechte und Pflichten mit großer Klarheit ersichtlich sind.
Genau dies bewirkt der neue Gesetzentwurf. Seine Rege-
lungen sind gut lesbar. Er fasst zusammen, was bisher auf-
grund der unterbliebenen Reform in ganz unterschiedli-
chen Gesetzen und Verordnungen zu suchen war, und er
ordnet auch die Rechte und Pflichten so verständlich, dass
jeder sie dort findet, wo er sie sucht.

Lassen Sie mich ein ganz einfaches Beispiel nennen:
Wenn jemand in Zukunft etwas über die Voraussetzungen
eines Mietvertrages sucht, dann findet er es am Anfang
des Abschnitts über das Recht der Wohnraummiete im
Bürgerlichen Gesetzbuch. Wenn sich jemand über die
Voraussetzungen und die Folgen einer Kündigung infor-
mieren will, dann muss er ebenfalls im Bürgerlichen Ge-
setzbuch nachschauen, allerdings weiter hinten, weil die
Rechtsfolgen der Kündigung im Schlussteil eines Miet-
vertrages stehen.

Wir alle wissen, dass unser Mietrecht aus ganz ver-
schiedenen Gründen große Bedeutung hat: Über 60 Pro-
zent der Menschen in unserem Land wohnen zur Miete.
Sie brauchen bezahlbare, aber auch qualitativ gute, mo-
derne und umweltfreundliche Wohnungen. Wir alle wis-
sen, dass das Dach über dem Kopf zu den Grundrechten
des Menschen gehört.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Familien brauchen ein Dach über dem Kopf, das sie be-
zahlen können.

Auf der anderen Seite stehen die Vermieter. Wir wis-
sen, dass sie sich mithilfe der Mieteinnahmen sehr häufig
ein zweites Standbein, eine zusätzliche Absicherung, ver-
schaffen. Auch das ist wichtig. Wer will bestreiten, dass
die Wohnungswirtschaft mit dem Bau, mit der Verwal-
tung und mit der Vermietung von Wohnungen zu einem
sehr bedeutenden Wirtschaftsfaktor in unserem Land ge-
worden ist? Gerade im Osten unseres Landes gibt es eine
große Zahl von besonderen Problemen. Auch das müssen
wir einkalkulieren. Wir müssen diese unterschiedlichen
Bereiche – die Interessen und Bedürfnisse der Mieterin-
nen und Mieter, die der Vermieter und die der Wohnungs-
wirtschaft – im Auge behalten, wenn wir auf der
Grundlage unseres Gesetzes Vereinfachungen, Moderni-
sierungen und Reformen vornehmen wollen.

Natürlich gibt es – bei aller Ausgewogenheit – auf der
einen oder anderen Seite zusätzliche gruppenspezifische
Erwartungen. Es gibt auf der einen Seite Interessenver-
bände, die für die Mieterinnen und Mieter sprechen. Sie

machen das, wie der Deutsche Mieterbund, in hervorra-
gender Weise.


(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Danke schön!)

Auf der anderen Seite gibt es Verbände der Vermieter und
der Wohnungswirtschaft, die auch ihre spezifischen Inte-
ressen laut und deutlich äußern. Das ist gut so. Auch da-
von lebt unsere Demokratie. Die Aufgabe des Deutschen
Bundestages und der Bundesregierung ist es, diese Inte-
ressen nicht nur zu sehen und sie zu würdigen, sondern sie
auch zueinander in Relation zu setzen und ausgewogene
Regelungen zu schaffen. Genau das tun wir.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Sie sind nicht ausgewogen!)


Dazu bewegen uns der Grundsatz des sozialen Schutzes
und das Erfordernis von Flexibilität, die heute von immer
mehr Menschen in unserem Land mit seinen modernen
Lebensverhältnissen tatsächlich verlangt wird.

Ich möchte einige der wichtigen Punkte darlegen, die
unser Gesetzentwurf enthält, wo es um sozialen Schutz,
Flexibilität und Ausgewogenheit geht. Ich möchte das
zunächst anhand des Kündigungsschutzes erläutern. Der
Kündigungsschutz ist wichtig, weil nur durch ihn Sicher-
heit und Verlässlichkeit bei Mieterinnen und Mietern,
aber auch bei den Vermietern hergestellt werden kann.

Beide, Mieterinnen und Mieter bzw. Vermieter, brau-
chen Sicherheit und Verlässlichkeit, allerdings in unter-
schiedlicher Weise. Auf Grundlage der bisher geltenden
Regelung ist alles rechtlich bisher gleich behandelt wor-
den. Heute wissen wir, dass an die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer häufig die Anforderung eines schnellen
Arbeitsplatzwechsels – das ist sehr oft mit einem Umzug
verbunden – gestellt wird. Wir wissen, dass viele alte
Menschen, die in ihrem Leben lange Zeit gute Mieter ge-
wesen sind, überraschend ins Altersheim umziehen müs-
sen. Gleichzeitig hat auf unserem Wohnungsmarkt – allen
regionalen Unterschieden zum Trotz – jeder Vermieter die
Möglichkeit, für eine gute Wohnung eine Mieterin oder
einen Mieter zu finden.

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Interes-
sen, Bedürfnisse und Lebensverhältnisse ist die von uns
vorgeschlagene Regelung außerordentlich sachgerecht:
Bei einer Vertragsdauer von bis zu fünf Jahren haben die
Mieter eine Kündigungsfrist von drei Monaten. Bei ei-
ner längeren Vertragsdauer liegt die Kündigungsfrist bei
sechs Monaten. Auch darüber kann man diskutieren. Da-
gegen bleibt bei den Vermietern alles beim Alten.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist falsch!)


Ich denke, dass das angesichts der Forderungen der Inte-
ressenverbände eine sehr vernünftige und ausgewogene
Regelung ist.

Die Vertreter der Vermieter sagen natürlich, das sei un-
gerecht,


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Genau!)





Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
12950


(C)



(D)



(A)



(B)


während die Sprecherinnen und Sprecher des Mieterbun-
des fordern, diese Frist einheitlich sogar auf drei Monate
festzusetzen. Ich bin ganz sicher, dass diese unterschied-
lichen Überlegungen der Interessenvertretungen in den
Ausschüssen noch gründlich gewürdigt und auch bespro-
chen werden.

Ich komme zum zweiten Punkt, nämlich zu den
Kappungsgrenzen. Kappungsgrenzen dienen, wie wir
wissen, dazu, die spezifischen Möglichkeiten von Miet-
erhöhungen für einen bestimmten Bereich des Woh-
nungsmarktes auf ein vernünftiges Maß zu begrenzen; wir
reduzieren den erlaubten Mietanstieg von 30 Prozent auf
20 Prozent.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist falsch! Investitionsfeindlich!)


– Wer hier „falsch“ sagt, verehrter Herr Kollege, sollte
wissen, dass er sich damit gegen den Schutz von wirklich
schutzbedürftigen Familien, meistens in Ballungsräumen,
ausspricht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Es sind doch Wohnungen frei!)


Wer die soziale Schutzfunktion des Mietrechtes bejaht,
darf dieses Vorhaben nicht als falsch bezeichnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Wo leben Sie denn?)


Die Kappungsgrenze, die Sie auf 30 Prozent erhöht ha-
ben, senken wir wieder auf 20 Prozent. Das ist richtig so.

Ich komme zum dritten Punkt, meine Damen und Her-
ren, zum Problem der Nebenkosten. Nebenkosten ma-
chen allen zu schaffen. Im Übrigen sehen das auch die
Vermieter. Nun kann der Gesetzgeber die Nebenkosten
nicht einfach festsetzen. Sie bleiben natürlich dem Spiel
der Marktkräfte überlassen. Aber was der Gesetzgeber tun
kann, das tut er: Unser Gesetzentwurf sorgt für mehr
Transparenz und Abrechnungsgerechtigkeit. Das senkt
die Kosten. Außerdem hat der Mieter aufgrund des von
uns festgeschriebenen Grundsatzes, dass nach Verursa-
chung und Verbrauch abgerechnet werden soll, die Mög-
lichkeit, die Nebenkosten auch durch eigenes Tun im Rah-
men zu halten.

Unsere Absichten werden übrigens auch bei den Rege-
lungen für Mieterhöhungen – das ist der vierte Punkt –
sehr deutlich. Wir bauen auf den bewährten Grundsätzen
auf, beziehen weitere Grundsätze ein, die sich im Rahmen
der Rechtsprechung entwickelt haben, und schreiben die
notwendigen Regelungen fest. Damit entwickeln wir das
Recht weiter. Konkret: Wir behalten zwar das bewährte
Vergleichsmietensystem bei; da aber die Feststellung der
Vergleichsmiete gelegentlich Schwierigkeiten macht, er-
weitern wir die Instrumente zur Feststellung der Ver-
gleichsmiete. Neben dem einfachen Mietspiegel soll es
einen qualifizierten Mietspiegel geben, bei dem die An-
forderungen an seine Erstellung höher sind. Damit einher
gehen dann aber auch erweiterte Rechtsfolgen. Hier kann

es bei der wissenschaftlichen Ausarbeitung, bei der Aner-
kennung durch die Gemeinden und/oder durch die Ver-
bände zum Streit kommen. Ich fände es außerordentlich
gut – das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen –,
wenn es hierbei auch weiterhin zu einem Zusammenwir-
ken der unterschiedlichen Interessenverbände vor Ort
käme. Aber auf jeden Fall müssen wir verhindern, dass es
hier zu einer gegenseitigen Blockade kommt; dement-
sprechend werden wir dann auch die entsprechenden Re-
gelungen konstruieren.


(Beifall bei der SPD)

Wir fördern, weil bezahlbarer und moderner Wohn-

raum dringend notwendig ist, die Modernisierung. Nach
unserem Gesetzentwurf kann deshalb in die Modernisie-
rungsumlage all das einbezogen werden, was der Ein-
sparung von Energie dient. Das galt bisher nicht für alle
Modernisierungsmaßnahmen. Die Erweiterung ist gut,
weil der Mieter, der zwar auf der einen Seite mehr bezah-
len muss, auf der anderen Seite weniger Verbrauchskosten
hat. Wir haben uns deshalb für diesen Weg entschieden.
Ich weiß aber sehr wohl, dass manche sagen, es wäre doch
viel gescheiter gewesen, die Modernisierungsumlage ent-
weder ganz zu streichen, da sie im Rahmen eines Ver-
gleichsmietensystems sowieso immer ein Fremdkörper
ist, oder wenigstens zu senken. Wir tun das nicht, weil wir
Modernisierungsmaßnahmen fördern wollen.

Klarheit schaffen wir bei den Zeitmietverträgen. Das
ist eine gute Sache. Wir schaffen mehr Flexibilität bei
Staffel- und Indexmieten für den Teil unserer Mieterinnen
und Mieter, der genau diese Mietformen will. Für diese
schafft der Gesetzgeber in der Tat mehr Transparenz.

Die Prinzipien sozialer Schutz und Flexibilität bestim-
men auch die Regelungen für die Umwandlung von Miet-
wohnungen in Eigentumswohnungen. Der starre Schutz,
der für alle gilt, kann regional nämlich deutlich ausge-
weitet werden. Damit kann auf den Segmenten des Woh-
nungsmarktes, in denen es noch Schwierigkeiten gibt, für
mehr Schutz gesorgt werden. Dabei müssen wir allerdings
aufpassen, dass alle Missbrauchsmöglichkeiten ausge-
schlossen werden. Das Instrument der Umzugsregelung
und -hilfe sorgt zum Beispiel dafür, dass einer, der eine
Wohnung gekauft hat, dem bisherigen Bewohner eine
Wohnung anbietet, sodass dieser dann in diese einziehen
kann.

Wir nehmen noch eine ganze Reihe von anderen Pro-
blempunkten auf. Ich glaube, es ist ein Vorzug dieses Ge-
setzentwurfs, dass er das in einer sehr klaren, verständli-
chen und auch ausgewogenen Weise tut.

Allerdings, meine Damen und Herren, machen wir ei-
nen Fehler nicht: Da, wo die Rechtsprechung – und zwar
in der Entscheidung von einzelnen Fällen – vernünftige
Regelungen entwickelt hat, meinen wir nicht, wir müss-
ten hier zum Beispiel durch eine Regelung bei den Schön-
heitsreparaturen ein System, das sich sehr bewährt hat,
durcheinander bringen. Das bleibt, wie es ist.

Lassen Sie es mich zum Schluss nochmals deutlich sa-
gen, was wir wollen: Wir möchten – und wir schaffen es
mit diesem Gesetz – den Mieterinnen und Mietern und
den Vermietern eine klare und ausgewogene und vor allen




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin

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(C)



(D)



(A)



(B)


Dingen eine faire Grundlage für ein gutes Zusammenle-
ben bieten.

Damit verbinden wir die Hoffnung, dass wir einen er-
heblichen Teil der heute bei den Gerichten anhängigen
über 300 000 Mietprozesse überflüssig machen. Das ist
unser Ehrgeiz.

Wir sollten diesen Gesetzentwurf in den Ausschüssen
zügig beraten, damit die verschiedenen Bereiche, die hier
alle angesprochen sind, bald etwas davon haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413400100
Ich erteile dem Kolle-
gen Dietmar Kansy, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.


Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU):
Rede ID: ID1413400200
Herr Präsi-
dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie haben Recht, Frau Ministerin – ich freue
mich, dass zwischenzeitlich auch zwei Staatssekretäre aus
dem Bauministerium eingetroffen sind; der Minister ist
uns ja nun bedauerlicherweise wieder abhanden gekom-
men –:


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ein gesichertes Dach über dem Kopf ist ein elementares
Grundbedürfnis der Menschen. Dies sicherzustellen – ich
sage das über alle Regierungswechsel und Fraktionsgren-
zen hinweg – ist ein Eckpfeiler der deutschen Politik nicht
nur, aber insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ge-
wesen, allerdings verteilt auf unterschiedliche staatliche
Ebenen unseres föderativen Systems, also auf Bund, Län-
der und Gemeinden.

Aber auch in diesem Politikbereich gilt – trotz des ge-
sicherten Dachs über dem Kopf – neben dem Prinzip der
Solidarität das Prinzip der Subsidiarität. Das heißt im
Bereich der Wohnungspolitik: Die Wohnung ist gleicher-
maßen ein hohes Sozialgut, aber auch ein teures und lang-
lebiges Investitionsgut. Staatliche Hilfen im materiellen,
aber auch im immateriellen Sinne, zum Beispiel das Miet-
recht, sollten deswegen Hilfe zur Selbsthilfe sein und
nicht ein allumsorgendes staatliches Recht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, der Bund hat in der Woh-

nungspolitik Aufgaben in vielfältiger Weise zu erfüllen.
Im Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau, der
Städtebauförderung, dem Programm „Soziale Stadt“ oder
dem Wohngeld gewährt er eine direkte objekt- oder sub-
jektgebundene Förderung, die heute dem Minister für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen obliegt. Aber wir sind
uns klar darüber, dass das Steuerrecht und das Mietrecht
einen mindestens genauso großen Einfluss auf ein ausrei-
chendes und bezahlbares Wohnungsangebot haben.

Das Steuerrecht ermöglicht es dem Staat, im Miet-
wohnungsbau durch verschiedene „Stellschrauben“,
zum Beispiel durch AfA oder Spekulationsfrist oder an-
deres, private Investoren zu ermuntern oder aber abzu-

schrecken, ihr Kapital in Wohnungen zu investieren. Über
eine mehr oder weniger attraktive Eigenheimzulage er-
mutigt er darüber hinaus Menschen – mehr oder weniger –,
selbst Wohnungseigentum zu bilden.

Das Mietrecht ist für Millionen Vermieter und – wie die
Ministerin schon ansprach – für knapp 60 Prozent der Be-
völkerung Deutschlands, die zur Miete wohnen, von ele-
mentarer Bedeutung. Eine mehr mieterfreundliche oder
mehr vermieterfreundliche Ausformung hat nicht nur Ein-
fluss auf die Miethöhe – das weiß jeder –, sondern auch
auf die Anzahl und die Qualität der Wohnungen. Für die
CDU/CSU galt während ihrer Regierungszeit und gilt
auch heute noch die Leitlinie: Ein ausreichendes Woh-
nungsangebot ist der beste Mieterschutz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS)


Ich muss heute noch einmal daran erinnern, dass die
jetzige rot-grüne Koalition den Wohnungsmarkt in bester
Verfassung vorgefunden hat, und die ist nicht vom Him-
mel gefallen, sondern einer konsequenten Wohnungspoli-
tik der Vorgängerregierung zu verdanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Von Fertigstellungszahlen von über 600 000 Wohnungen
jährlich Mitte der 90er-Jahre bis hin zu den daraus resul-
tierenden historischen Tiefständen der Mietindexsteige-
rung von 1,1 Prozent im Jahr 1999 – nie hat eine neue Re-
gierung in einem für die Bedürfnisse aller Menschen so
zentralen Bereich, wie ihn ein angemessener Wohnraum
darstellt, eine so ausgesprochen günstige Position vorge-
funden wie Sie.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Da haben Sie Recht!)


Deswegen möchte ich gleich anfügen, obwohl mein
Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten darauf noch
eingehen wird: Wer eine Politik macht mit Mietpreisstei-
gerungen von 1,1 Prozent im Jahr – wie wir sie gemacht
haben –, braucht sich eben nicht den Kopf darüber zu zer-
brechen, ob die Kappungsgrenze bei 30 oder 20 Prozent
im Jahr liegen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Nun haben wir teilweise, insbesondere in den neuen

Bundesländern, sektorale Leerstände. Ich glaube aber,
dass die derzeitige Regierung und die sie tragenden Frak-
tionen eine verhängnisvolle Fehleinschätzung begehen,


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das ist reine Ideologie!)

und zwar nicht nur in den einzelnen Politikbereichen. Das
zeigen zahlreiche Maßnahmen, die in den letzten beiden
Jahren hier beschlossen wurden: die radikale Kürzung der
Mittel für den sozialen Wohnungsbau, die gleichzeitige
Verschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingungen
für den freifinanzierten Mietwohnungsbau, die Ver-
schlechterungen bei der Eigenheimzulage oder jetzt, Frau
Ministerin, einzelne beabsichtigte Änderungen im Miet-
recht.

Wirklich schlimm ist, dass wir im Bund zum ersten
Mal überhaupt keine abgestimmte Wohnungspolitik ha-




Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
12952


(C)



(D)



(A)



(B)


ben. Das ist noch freundlich formuliert; eigentlich gibt es
gar keine Wohnungspolitik dieser Regierung. Der Baumi-
nister fährt den sozialen Wohnungsbau herunter, der Fi-
nanzminister verschlechtert die steuerlichen Rahmenbe-
dingungen, reduziert die Förderung des selbstgenutzten
Wohneigentums, und Sie, Frau Ministerin, legen jetzt ein
Mietrecht vor – –


(Christine Ostrowski [PDS]: Zum Thema, bitte!)


– „Zum Thema!“, ruft da jemand. Das ist das Verständnis
dieser Leute von Wohnungspolitik. Hauptsache, die Para-
graphen stimmen. Das Dach über dem Kopf ist das We-
sentliche!


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Ministerin verschlechtert jetzt mit einer ganzen

Reihe von Bestimmungen auch die Rahmenbedingungen
weiter.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Wenn es in Zukunft überhaupt noch Investoren geben soll,
die sich nicht entmutigt fühlen, dann bedarf es mehr als
einiger kleiner Korrekturen bei den anstehenden Aus-
schussberatungen. Ich sage das im vollen Bewusstsein der
komplizierten Situation und im vollen Bewusstsein der
Tatsache, dass Sie jeden zweiten Tag in einer Sendung
oder in einem Presseartikel von Wohnungsleerständen
hören oder lesen. Das gilt für partielle Bereiche Deutsch-
lands; das gilt aber nicht überall.

Wenn wir nicht aufpassen, kommt der nächste so ge-
nannte Schweinezyklus in der Wohnungspolitik wieder.
Ich sagte schon, dass die durchschnittliche Neubaurate
Mitte der 90er-Jahre bei 600 000 lag. In diesem Jahr er-
wartet das Städtebauinstitut eine Neubaurate von nur noch
380 000. Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass die so
genannte Ersatzbaurate zwischenzeitlich schon unter-
schritten wird.

Wie bereits gesagt, wird mein Kollege Dr. Wolfgang
Freiherr von Stetten die einzelnen Vorschriften noch be-
sprechen. Eines ist aber für die CDU/CSU-Fraktion klar
und auch für unseren ehemaligen Staatssekretär Funke
– wir beide wissen, wovon wir reden; Sie können dazu
nachher auch gern Stellung nehmen –:


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Das ist nett von Ihnen!)


Zur Vereinfachung ein klares Ja, zur Verschiebung des in
langen Jahren der Gesetzgebung und Rechtsprechung ge-
fundenen sensiblen Gleichgewichts zwischen Mietern
und Vermietern ein klares Nein.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das will ja auch keiner!)


Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode als Re-
gierungsfraktion mit der F.D.P. nicht geeinigt, weil sie das
Gleichgewicht zulasten der Mieter verschieben wollte,
und wir werden uns heute weigern, dieses Gleichgewicht
zulasten der Vermieter zu verschieben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die unter der Regierung Kohl gebildete Bund-Länder-
Arbeitsgruppe zur Mietrechtsvereinfachung – ich betone:
Vereinfachung; nomen est omen – hatte hauptsächlich das
Ziel, eine Mietrechtsvereinfachung zu erreichen. In Teil-
bereichen sollten Innovationen möglich sein. Dazu stan-
den und stehen wir. Wir stehen aber nicht dazu, das von
mir angesprochene Gleichgewicht in der Weise zu ver-
schieben, wie es im Regierungsentwurf vorgesehen ist.

Richtig ist: Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen
erfüllen nicht – oder zumindest nicht mehr – den An-
spruch auf Übersichtlichkeit, Klarheit und Verständlich-
keit; denn in den letzten 40 Jahren sind viele Änderungen
der Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch selbst oder
auch in anderen Gesetzen erfolgt. So ist es dem Bürger
zum Beispiel angesichts der Änderungen im Miethöhe-
gesetz oder im Sozialklauselgesetz – es beinhaltet den
Schutz des Mieters bei Umwandlung der Wohnung in eine
Eigentumswohnung – fast unmöglich, dieses Mietrecht zu
verstehen und zu begreifen.

Deswegen ist es gut, dass sich der Deutsche Bundestag
heute endlich in die Debatte um ein neues Mietrecht ein-
schalten kann; denn diese Gesetzgebungsmaterie, die für
über 15 Millionen Mieterhaushalte von großer Bedeutung
ist, hat in der Länderkammer immerhin schon einen Be-
ratungsvorlauf von über einem Jahr. Ich erinnere daran,
dass Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen bereits im
September 1999 einen entsprechenden Reformgesetzent-
wurf im Bundesrat eingebracht haben, also lange bevor
die Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzent-
wurf eingebracht hat.

Die CDU/CSU hatte damals gehofft, dass diese Initia-
tive der beiden SPD-regierten Länder eine Art Minen-
hundfunktion hatte, mit der man herausfinden wollte, ob
die Möglichkeit eines Konsenses mit der CDU/CSU und
mit den CDU- und CSU-regierten Bundesländern be-
stand. Das war uns damals sehr recht. Für diesen Konsens
schien zunächst einmal zu sprechen, dass die beiden be-
teiligten Bundesratsausschüsse eine Arbeitsgruppe bilde-
ten und einen ernsthaften Anlauf unternahmen, das
Thema Mietrecht so zu behandeln, dass das Potenzial für
Polemik niedrig gehalten wurde – wir wissen, dass dies in
der Vergangenheit nicht immer der Fall war – und dass
eine über eine Wahlperiode hinausgehende Rahmenset-
zung möglich war. Ich bedauere es für meine Fraktion
ausdrücklich, dass dieser Anlauf durch die Meinungsbil-
dung in der rot-grünen Koalition im Bund und mit der Be-
schlussfassung des Bundeskabinetts über einen Regie-
rungsentwurf beendet wurde.

Frau Ministerin, Sie haben uns nicht nur mit dem Ge-
setzentwurf selber, sondern auch mit Ihren Äußerungen
beim Deutschen Mieterbund am 12. September schwer ir-
ritiert; denn sie waren völlig inakzeptabel. Die Ministerin
hat damals gesagt – ich erwähne dies für die Kolleginnen
und Kollegen, die nicht dabei waren –, in den Parla-
mentsberatungen sollten über den Gesetzentwurf hinaus
eine weitere Absenkung der Kappungsgrenze auf 15 Pro-
zent, asymmetrische Kündigungsmöglichkeiten für Mie-
ter mit einer Absenkung der Kündigungsfrist von sechs
auf drei Monate, der Verzicht auf Zustimmungsbedürftig-
keit bei der Erstellung von qualifizierten Mietspiegeln




Dr.-Ing. Dietmar Kansy

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(D)



(A)



(B)


durch die Vermieterseite, die Erhöhung der Sperrfristen
bei Umwandlungskündigung und die Kündigungsmög-
lichkeit des Vermieters aufgrund Zerrüttung geprüft wer-
den. Diese Punkte waren nicht Bestandteil des Regie-
rungsentwurfs.

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, nachdem der Kabi-
nettsbeschluss vorlag, haben Sie in der Berliner Presse be-
hauptet, dieser Gesetzentwurf entspreche nicht den Ab-
sprachen innerhalb der Koalition. Deswegen lautet meine
Frage: Was gilt denn nun? Gilt der Gesetzentwurf, gelten
die Ankündigungen der Ministerin oder gelten Ihre Be-
merkungen? Es gab erfreulicherweise zwischenzeitlich
eine Annäherung zwischen Referentenentwurf und Kabi-
nettsbeschluss. Ich nenne in diesem Zusammenhang die
Modernisierungsumlage und die Asymmetrie der Kündi-
gungsmöglichkeit.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, was wollen Sie denn noch? Sie haben es doch mitgekriegt!)


– Wir beobachten die Entwicklung sehr genau.
Wir begrüßen auch die Stellungnahme der Bundesre-

gierung zu den Bundesratsbeschlüssen, eine Mietrechts-
reform nicht ohne eine Regelung bezüglich der prozess-
trächtigen Schönheitsreparaturen vorzunehmen, sowie
die Bereitschaft zur Überprüfung des vor allem für die
neuen Länder wichtigen Anliegens, bei erheblichem Woh-
nungsleerstand eine Kündigung zum Zwecke der Verwer-
tung des Grundstückes zuzulassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lange Rede, kurzer Sinn: Die CDU/CSU-Fraktion

wird die Beratungen in beiden Ausschüssen, im feder-
führenden Rechtsausschuss und im Bauausschuss, ernst
nehmen und den Gesetzentwurf von Vorschrift zu Vor-
schrift daraufhin überprüfen, was mit uns machbar ist und
was nicht. Wir wollen eine Vereinfachung und – ich wie-
derhole mich – sinnvolle Innovationen zum Beispiel im
Umweltbereich. Aber wir wollen keine Verschiebung des
sozialen Gleichgewichts durch diese Mietrechtsreform.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413400300
Ich erteile der Kolle-
gin Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

legen! Lieber Herr Kollege Kansy, als Erstes muss ich
Ihre Erklärung, es gebe in dieser Koalition keine Woh-
nungspolitik, mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Offen-
bar haben Sie sowohl die letzten zwei Jahre als auch die
aktuellen Haushaltsberatungen entweder einfach ver-
schlafen oder nicht zur Kenntnis genommen. Ich denke,
wir haben bisher eine sehr engagierte Wohnungspolitik
gemacht. Wir haben die Mittel für die Städtebauförderung
gerade bei dieser Haushaltsberatung erhöht. Wir haben
das Programm „Soziale Stadt“ auf den Weg gebracht und
den Ansatz jetzt wieder ein Stück hochgeschoben. Wir ha-
ben ein sehr engagiertes Altbausanierungsprogramm auf
den Weg gebracht, kümmern uns um die Altschuldenhil-

feproblematik Ost ganz anders, als Sie das gemacht ha-
ben, werden eine Reform des sozialen Wohnungsbaus auf
den Weg bringen und sind jetzt dabei, das Mietrecht zu re-
formieren. Ich glaube, da können Sie sich wirklich nicht
beschweren, oder Sie sind irgendwie in einem anderen
Film.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Als Zweites möchte ich mich ganz herzlich bei der
CSU dafür bedanken, dass sie es in der letzten Legisla-
turperiode verhindert hat, dass es eine Mietrechtsreform
unter Ihrer Regierung, Schwarz-Gelb, gegeben hat. Denn
der Mietrechtsentwurf, den die F.D.P. hier jetzt wieder
vorgelegt hat, macht mir in Bezug auf seine Zielsetzung
große Sorge. Von daher bin ich froh, dass Sie uns die
Chance überlassen, über ein wirklich ausgewogenes Re-
formkonzept zu beraten.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Wo ist da Ausgewogenheit?)


Das tut, glaube ich, der Gesellschaft und den auch von Ih-
nen genannten vielen Vermietern und Mietern wirklich
gut.

Zur Sache: Ich glaube, wir haben hier einen Reform-
vorschlag vor uns liegen, der zum einen dem Ziel, die in
den Einzelgesetzen verstreuten Regelungen zusammen-
zufassen und neu zu ordnen sowie das Mietrecht einfacher
zu machen, einen deutlichen Schritt näher kommt und
zum anderen allen Beteiligten, nicht zuletzt der Justiz,
hilft bzw. die Justiz entlastet.

Obwohl ja bekannt ist, dass ich mich sehr stark für
Mieterinteressen engagiere, denke ich, dass es richtig ist,
dass wir einen Gesetzentwurf vorliegen haben, der auf ei-
nen fairen Interessenausgleich zwischen der Vermieter-
seite und der Mieterseite achtet, der auf der einen Seite
Bausteine für mehr Liberalisierung und Stärkung der Ver-
tragsfreiheit enthält – Dinge, die die Mieterverbände
durchaus kritisch sehen. Wir nehmen diese Einwände sehr
ernst. Wir tragen auch Verantwortung für die Ausgewo-
genheit. Auf der anderen Seite enthält der Gesetzentwurf
wichtige Bausteine, die die Mieterseite stärken. Ich nenne
die beiden, die mir die wichtigsten sind: die Stärkung des
Mietspiegels – ich bin froh, Herr Kollege Kansy, dass Sie
doch auch die Gegenäußerung der Bundesregierung zur
Stellungnahme des Bundesrates gelesen haben – und die
Absenkung der Kappungsgrenzen. Das sind Punkte, die
den Mietern mehr Rechtssicherheit und mehr Schutz an
Stellen geben, wo es sehr wichtig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!)


Weil Wohnungen kein x-beliebiges Wirtschaftsgut
sind, sondern eine existenzielle Voraussetzung für ein
menschenwürdiges Leben, ist es zwar richtig, dass, wie
Sie, Herr Kansy, gesagt haben, das Mietrecht ein Instru-
ment für Subsidiarität ist, das den gesellschaftlich betei-
ligten Kräften und Vertragspartnern ein hohes Maß an Ei-
genverantwortung überträgt – ich weiß nicht, was Sie da




Dr.-Ing. Dietmar Kansy
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(B)


beim Mietrecht insgesamt zu klagen haben –, möchte ich
aber doch sehr deutlich in Richtung F.D.P. sagen, dass ich
ihren Ansatz unverantwortlich und unvereinbar mit dem
Sozialstaatsprinzip finde. Sie, Herr Funke, meinen, das
Mietrecht müsse von all seinen sozialen Schutzfunktio-
nen entrümpelt werden.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das habe ich gar nicht gesagt!)


Wir wollen ein modernes und zeitgemäßes Mietrecht, das
Verantwortung überträgt, aber wir wollen keinen Ab-
schied vom Sozialstaatsprinzip. Das gilt für Rot-Grün.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir nehmen auch die Bedenken zum Gesetzentwurf,
die gerade jetzt noch einmal vom Mieterbund gekommen
sind, sehr ernst. Darum haben wir auch noch einige
Punkte, um die wir in der Koalition ringen; das kann ich
deutlich sagen. Da brauchen Sie gar nicht immer Zei-
tungsartikel zu zitieren; wir haben das selber schon klar-
gemacht.

Ich nenne dafür einige Beispiele. Wir wollen, dass sich
durch die so genannte Zerrüttungskündigung auf kei-
nen Fall eine Verschlechterung gegenüber der heutigen
Rechtslage ergibt. Hieraus darf auf keinen Fall ein Frei-
brief für Mobbing und Willkür entstehen. Deswegen wer-
den wir die Besorgnisse des Mieterbundes sehr ernsthaft
prüfen. Wir wollen außerdem keinen Missbrauch des In-
struments des Zeitmietvertrags. Deswegen werden wir
im weiteren parlamentarischen Verfahren intensiv prüfen,
ob mit der Vorlage die Probleme schon gelöst sind oder ob
Nachbesserungsbedarf besteht.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Aha! Das ist ein klares Wort!)


Ich möchte – gerade auch in Ihre Richtung, Herr
Kansy – auf folgenden Punkt hinweisen: Seit der Miet-
rechtsreform der 70er-Jahre hat sich der Wohnungsmarkt
entschieden weiterentwickelt. Die Lebensrealität vieler
Haushalte hat sich hinsichtlich der Wohnsituation verän-
dert. Wir haben keinen flächendeckenden Wohnungsman-
gel mehr. Der Wohnungsmarkt ist aber stark differenziert:
Im Süden und teilweise in Westdeutschland gibt es Bal-
lungsgebiete mit hohen Mietpreisen und einer angespann-
ten Lage auf dem Wohnungsmarkt. Dem muss Rechnung
getragen werden. Auf der anderen Seite haben wir in West-
deutschland aber auch Gebiete mit einer entspannten Si-
tuation auf dem Wohnungsmarkt, und deindustrialisierte
Gebiete in Ostdeutschland weisen teilweise sogar drama-
tische Wohnungsleerstände auf.

Dieser großen Spannbreite von unterschiedlichen Si-
tuationen muss das Mietrecht in seiner heutigen Ausge-
staltung meiner Meinung nach Rechnung tragen. Es kann
nicht mehr einseitig – wie es von vielen Vermieterverbän-
den gesehen wird – als Instrument ständiger Miet-
erhöhungen angesehen werden. Das war ein Problem der
Anpassungsphase der 70er-, 80er- und im Osten der 90er-
Jahre. Heute geht es um einen gerechten Ausgleich. Den
werden wir auch schaffen, weil die Mieten im Durch-
schnitt längst das Marktniveau erreicht haben.

Von daher ist aus unserer Sicht das Konzept der Koali-
tion und der Regierung, die Kappungsgrenze der Miet-
steigerungen bei den Bestandsmieten auf 20 Prozent zu
senken, richtig. Ich habe es nicht so verstanden, dass die
Frau Ministerin von 15 Prozent gesprochen hat. Sie hat
vielmehr zu dieser Absenkung gestanden. Sie hat berich-
tet, dass aus München weitere Forderungen gekommen
sind. Zu der Absenkung auf 20 Prozent stehen wir. Wir
halten sie für angemessen. Für die Mieter bringt eine
Mietsteigerung von 20 Prozent – das ist ein enormer
„Schluck aus der Pulle“ – genügend Probleme. Für die
Vermieter ist das aber ein zumutbares Maß.

Lassen Sie mich nun das Problem der Kündigungsfris-
ten ansprechen. Wir Grünen setzen uns im Verfahren auch
weiterhin deutlich für eine einheitliche Kündigungsfrist
von drei Monaten für Mieter ein.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Auf beiden Seiten!)


Wir hoffen, dass wir den Koalitionspartner da auf unserer
Seite haben. Wir finden es richtig, darüber zu verhandeln,
inwieweit auf der Seite der Vermieter eine Absenkung
durchgesetzt werden kann. Aber das Konzept der asym-
metrischen Kündigungsfristen möchten wir nicht angetas-
tet wissen. Wir wissen sehr wohl, dass zwischen Vermie-
ter und Mieter gerade bei dem Gut Wohnung deutliche
Unterschiede bestehen. Von daher muss den Mietern mehr
Handlungsspielraum gegeben werden.

Ich fände es schön, wenn es gelänge, noch einmal das
Thema der Schönheitsreparaturen aufzugreifen. Wir
wissen es alle – darüber hat es schon eine Reihe von Ge-
sprächen gegeben –: Es ist sehr schwierig, eine einfache
Formel zu finden, die mehr Rechtssicherheit schafft.
Dann müssten weniger strittige Fälle bis vors Gericht ge-
tragen werden. Ich hoffe, dass wir noch eine Formel fin-
den. Wir haben ja schon viele Diskussionen geführt und
viel Schweiß hineingesteckt, ohne eine endgültige Lö-
sung zu finden.

Ich möchte nun einen letzten Punkt ansprechen, die
CO2-Minderung und die Energieeinsparung im Gebäu-debestand. Auch hier sind wir einen großen Schritt wei-
tergekommen. Ich möchte mich ganz herzlich bei der Frau
Ministerin dafür bedanken, dass wir das geschafft haben.
Für uns Grüne ist es gerade von besonderer Bedeutung,
dass im Bereich Wohnen Schritt für Schritt mehr Energie-
einsparung erfolgt.

Danke schön allerseits.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413400400
Ich erteile dem Kolle-
gen Michael Goldmann, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1413400500
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Ministerin,
ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Ich habe mir auch
Ihren Gesetzentwurf gründlich und in allen Einzelheiten
angesehen, komme aber zu einem ganz anderen Ergebnis.
Ich denke nicht, dass er den Erwartungen gerecht wird.




Franziska Eichstädt-Bohlig

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ich glaube nicht, dass Mieter und Vermieter nach der Ver-
abschiedung eines solchen Gesetzes besser klarkommen
werden. Ich stelle zwar fest, dass das, was Sie auf den
Tisch legen, scheinbar gut lesbar ist, meine jedoch, dass
Sie die falschen Antworten auf das geben, was sich im
Moment zwischen Mietern und Vermietern als notwendig
erweist.

Nein, sehr verehrte Frau Ministerin, Ihr Gesetz reiht
sich nahtlos in die bisherige eigentums- und investitions-
feindliche Wohnungspolitik der Bundesregierung ein.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist leider festzustellen, dass der Neubau von Mietwoh-
nungen fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Das
entscheidende Signal, das von diesem Gesetz an die Inves-
toren ausgeht, lautet ganz simpel: Wer auch noch zukünf-
tig in den Wohnungsbau investiert, ist selbst schuld!

Die lange Kette der investitionsfeindlichen Initiativen
und der Drohungen der rot-grünen Mehrheit reißt auch mit
diesem Gesetzentwurf nicht ab. Dazu gehören die Absen-
kung der degressiven AfA, der Fallenstellerparagraph 2 b
des Einkommensteuergesetzes, die Beschränkung der Ver-
lustverrechnung aus Vermietung und Verpachtung, die Er-
höhungen der Grundsteuer und der Erbschaftsteuer und
die Erhöhung der Wohnnebenkosten durch die so genannte
Ökosteuer. Gleichzeitig haben Sie die Förderung des selbst
genutzten Wohneigentums durch eine Kürzung der Eigen-
heimzulage geschwächt.

Sie lassen auch die Wohnungswirtschaft im Osten
weitgehend im Stich; denn das, was Sie mit dem Alt-
schuldenhilfe-Gesetz und den Folgeverordnungen einge-
bracht haben, ist nicht geeignet, die Not in den neuen Län-
dern zu lindern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es muss jedem klar sein, dass der Wohnungsbau in
Deutschland in erster Linie und zunehmend von privaten
Investoren getragen wird. Das betrifft den kleinen Hand-
werker und den mittelständischen Betrieb, der in ein
Zwei- oder Vierfamilienhaus investiert, das gilt aber ge-
nauso für den Geldgeber für einen offenen Immobilien-
fonds. Sie wissen es alle: Der staatliche Wohnungsbau hat
dagegen fast keine Bedeutung mehr und ist bei Rot-Grün
zu einer Restgröße verkommen.

Liebe Frau Eichstädt-Bohlig und andere Kollegen aus
diesem Bereich, Sie müssen sich doch fragen: Wer eigent-
lich soll die 400 000 bis 500 000 Wohnungen bauen, die
wir brauchen, um nicht wieder in andere „Schweinezy-
klen“ hineinzukommen, die den Mietern ganz erheblich
schaden. Wir dürfen doch nicht die Bereitschaft der Priva-
ten zerschlagen, in den Mietwohnungsbau zu investieren.

Das Gesetz, das uns vorliegt, bringt eben Vermieter
und Mieter nicht auf gleiche Augenhöhe. Es trägt nicht
dazu bei, das Vertrauensverhältnis zwischen Mietern und
Vermietern zu stärken; stattdessen führt es dazu, dass wir
wieder in großem Maße Konflikte produzieren. Sie pro-
duzieren mit diesem Gesetz den zukünftigen Wohnungs-
mangel.

Die Folge wird sein: Die Mieten werden so lange stei-
gen, bis sich die Investoren wieder in den Markt hinein-
trauen. Damit wird sich der Markt das zurückholen, was
Sie ihm jetzt gesetzlich vorzuenthalten versuchen. Das,
was Sie wollen, wird sich ins Gegenteil verkehren. Das
wissen Sie auch sehr genau und das sagen auch diejeni-
gen, die Sie in besonderer Weise vertreten, nämlich die
Mieter.

Der Mieterschutz wird zu Wohnraummangel führen.
Die Kappungsgrenzen werden zu Preiserhöhungen auf
dem Markt. Spezielle Schutzvorschriften, die Sie vorse-
hen, werden zu Zugangsbeschränkungen.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Die Verschärfung des Mietrechts wird zu einer Ver-
schlechterung der Versorgung mit Wohnraum führen. Ihr
verschärftes Mietrecht hilft höchstens kurzfristig denjeni-
gen, die jetzt schon in einer Wohnung sitzen, aber nicht
denjenigen, die eine Wohnung suchen, und auch nicht den
kleinen Vermietern, die nicht über einen Justiziar verfü-
gen und keiner Vermietervereinigung angehören.

Die F.D.P. spricht sich dafür aus, gerade das Vertrau-
ensverhältnis zwischen Mietern und Vermietern zu be-
günstigen. Zurzeit gibt es dieses Vertrauensverhältnis ja in
weiten Bereichen. Tun wir doch nicht so, als ob die Dinge
in diesem Bereich besonders schwierig oder belastet
wären. Nehmen wir doch ganz einfach zur Kenntnis, dass
dieses Gesetz dazu beitragen könnte, die Investitionsbe-
reitschaft zu stärken. Es könnte zu mehr Mietwohnraum
und dadurch zu mehr Arbeitsplätzen und Investitionen
führen. Es könnte insgesamt einem Teil unserer Wirt-
schaft erheblich dienen.

Unser Gesetzentwurf, den wir bereits vor geraumer
Zeit eingebracht haben, trägt dem Gedanken der Begeg-
nung auf Augenhöhe zwischen Mieter und Vermieter in
besonderer Weise Rechnung. Mieter und Vermieter sind
– davon bin ich überzeugt – im Grunde gutwillige Partner.
Das kann man am besten fördern, indem man ihnen Ver-
trauen entgegenbringt. Das tun Sie aber mit diesem Ge-
setz nicht.

Der vorliegende Gesetzentwurf wird eine gründliche
Überarbeitung im federführenden Rechtsausschuss und
im begleitenden Ausschuss für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen erfahren müssen, damit er dem Rechnung
trägt, was wir gemeinsam wollen, nämlich mehr zufrie-
dene Vermieter und Mieter.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413400600
Ich erteile der Kolle-
gin Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion, das Wort.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1413400700
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung dieses Geset-
zesvorhabens kann ich nur unterstreichen. Das Recht auf
angemessenen Wohnraum ist ein grundlegendes Men-




Hans-Michael Goldmann
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(B)


schenrecht. Etwa 50 Millionen Menschen in Deutschland
können dieses Recht nicht durch Wohneigentum, sondern
nur durch das Anmieten einer Wohnung verwirklichen.
Die Mietwohnung ist für sie ein Ort sozialer Geborgenheit
und persönlicher Freiheit, ein Mittel „zur Befriedigung
elementarer Lebensbedürfnisse“, wie das Bundesverfas-
sungsgericht in einer Entscheidung von 1993 festgestellt
hat.

Insofern kommen – so das Bundesverfassungsgericht –
dem Besitzrecht an der Wohnung typische Funktionen des
Sacheigentums zu. Da derjenige, der besitzt, gerüstet sein
muss, wie bereits Goethe feststellte, ist ein durchschauba-
res und soziales Mietrecht unverzichtbar. Ein solches
Mietrecht zu schaffen ist auch ein wichtiges Anliegen
meiner Fraktion.

Ich will nicht falsch verstanden werden: Das Wohn-
raummietrecht muss einen Interessenausgleich beinhal-
ten, der die legitimen Interessen der Vermieter einschließt.
Sie sind es, die den entsprechenden Wohnungsbestand si-
chern und damit erst die Voraussetzungen schaffen, dass
das soziale Gut Wohnung zur Verfügung steht. Aber
– auch das ist wohl unzweifelhaft – im Wohnungsmiet-
verhältnis stehen sich in der Regel ungleiche Partner ge-
genüber. Der Vermieter nimmt aufgrund seiner Eigentü-
merstellung gewöhnlich eine stärkere Position als der
Mieter ein.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Schön wäre es!)


Deshalb verfolgt meine Fraktion das besondere Anlie-
gen, dass der in Jahrzehnten erkämpfte soziale Mieter-
schutz erhalten und weiter ausgebaut wird.


(Beifall bei der PDS)

Aus diesem Grunde müssen im Rahmen der vorher
genannten Interessenabwägung der Vertragsfreiheit im
Mietrecht sachgerechte und angemessene Grenzen gesetzt
werden.

Wenn ich den Entwurf der Bundesregierung an diesen
Ansprüchen messe, dann muss ich sagen, verehrte Frau
Ministerin: Die Erwartungen vieler Betroffenen – der
Mieterverbände und auch meine eigenen – werden damit
nicht erfüllt. Eine wirkliche Reform ist das, was Sie vor-
legen, noch nicht. Ich teile die Kritik des Deutschen Mie-
terbundes an diesem Entwurf. Seine Präsidentin, unsere
Abgeordnetenkollegin Frau Anke Fuchs, hat gesagt: Ohne
spürbare Korrekturen und Nachbesserungen in zentralen
Punkten ist das Reformvorhaben für uns inakzeptabel. –
Das gilt auch für unsere Fraktion.


(Beifall bei der PDS)

Besonders bedauerlich finde ich es, dass Sie es, Frau

Ministerin, zugelassen haben oder zulassen mussten, dass
der heute vorliegende Text gegenüber dem Referenten-
entwurf aus Ihrem eigenen Hause in zwei Punkten, und
zwar zentralen Punkten, verschlechtert wurde: Der Refe-
rentenentwurf sah eine Absenkung der Umlage der Kos-
ten für die Modernisierung von 11 auf 9 Prozent vor.
Von Ihnen, Frau Ministerin, gab es sogar öffentliche
Überlegungen, dass die Beibehaltung der Modernisie-
rungsumlage keineswegs selbstverständlich sei; man

hätte sie eigentlich ganz streichen müssen, weil sie im
Vergleichsmietensystem ein Fremdkörper sei.


(Beifall bei der PDS)

Jetzt ist sogar die Absenkung wieder vom Tisch. Es soll
bei den 11 Prozent bleiben. Meine Fraktion wird deshalb
in den kommenden Debatten die Abschaffung der Moder-
nisierungsumlage in die Diskussion bringen.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der PDS: Es wird allerhöchste Zeit!)


Der Referentenentwurf hat in Aussicht gestellt, dass
für den Mieter eine einheitliche Kündigungsfrist von
drei Monaten – unabhängig von der Dauer des Mietver-
hältnisses – gelten soll, während es auf der Seite des Ver-
mieters bei der bisherigen Regelung bleibt. Dafür gibt es
gute Gründe. So mancher Mieter ist gezwungen, seine
Wohnung sehr kurzfristig aufzugeben, weil er beispiels-
weise seinen Arbeitsort wechseln oder aus anderen zwin-
genden Gründen umziehen muss. Jetzt wird also schon zu
Beginn des parlamentarischen Prozesses die asymmetri-
sche Kündigungsfrist zu einem wesentlichen Teil leider
wieder zurückgenommen, was den steigenden Flexibi-
litätsanforderungen an die Mieter deutlich widerspricht.
Wir streben eine Rückkehr an. Ich habe mit Freude ver-
nommen, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, dass auch Ihre
Überlegungen in diese Richtung gehen.

Nach der meines Erachtens notwendigen deutlichen
Kritik will ich jedoch nicht den Eindruck erwecken, ich
ließe kein gutes Haar am Regierungsentwurf. Das würde
diesem Entwurf nicht gerecht werden. Eine gewisse Ver-
einfachung ist durchaus gelungen. Das Mietrecht ist ver-
ständlicher, für den Laien handhabbarer geworden. Die
Zusammenführung der Regelungen im BGB und die
Gliederung nach dem natürlichen Ablauf eines Mietver-
hältnisses halte ich für richtig. Die Herabsetzung der Kap-
pungsgrenze für Mieterhöhungen von 30 auf 20 Prozent
begrüße ich; nach meiner Meinung hätten 15 Prozent al-
lerdings gereicht. Die Abschaffung der Möglichkeit zur
Mieterhöhung wegen gestiegener Kapitalkosten halte ich
ebenfalls für sachgerecht.


(Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Sehr viel Lob!)


– Na, warten Sie einmal ab.
Anerkennenswert ist im Entwurf die Aufwertung der

Mietspiegel als des geeignetsten Instruments zur Fest-
stellung der ortsüblichen Vergleichsmiete. Sie erfolgt je-
doch inkonsequent. Die Rolle der Mietspiegel sollte wei-
ter gestärkt werden. Wir schlagen vor, Gemeinden mit
mehr als 50 000 Einwohnern zur Aufstellung von Miet-
spiegeln zu verpflichten.


(Beifall bei der PDS)

Einen Fortschritt bringt der Entwurf mit der Anerken-

nung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Miet-
recht. Es ist aber in meinen Augen inkonsequent, dass der
Entwurf sowohl den Ehepartner des Mieters als auch die
Personen, die mit ihm in einem auf Dauer angelegten
Haushalt leben und diesen mit ihm führen, im Grunde erst
beim Tod des Mieters zur Kenntnis nimmt, nämlich als




Dr. Evelyn Kenzler

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(B)


mögliche Partner, die den Mietvertrag weiterführen. Sie
sollten schon zu Lebzeiten des Mieters die rechtliche
Möglichkeit des Eintritts in das Mietverhältnis erhalten.
Meine Fraktion wird auch dazu einen Vorschlag unter-
breiten. – Alles in allem: Der Entwurf entspricht bisher
nicht den Erwartungen.

Bedeutend kritischer sehe ich allerdings den Entwurf
der F.D.P. für ein Mietrechtsvereinfachungsgesetz, was
Sie nicht wundern wird. Dieser Entwurf verfolgt offen-
sichtlich das Ziel, im Namen der Vertragsfreiheit und des
Anreizes für Investitionen die Vermieterseite besser zu
stellen und Veränderungen zugunsten der Mieterseite tun-
lichst zu vermeiden.

Es steht uns offenbar ein hoffentlich produktiver Streit
um ein besseres Wohnungsmietrecht in den Ausschüssen
und in der Öffentlichkeit bevor. Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, sollten den Entwurf al-
lerdings nicht mit Ihrer Mehrheit auf die Schnelle durch-
boxen, sondern uns ausreichend Zeit für die Diskussion
geben.

Ich kann schon jetzt ankündigen, dass meine Fraktion
in die Diskussion mit einem umfassenden Änderungsan-
trag eingreifen wird. Neben dem, was ich bereits ange-
deutet habe, werden eine Reihe von Vorschlägen von uns
gemacht, zum Beispiel zu Mietverhältnissen in Wohnge-
meinschaften, zu klaren Regelungen für Schönheits- und
Kleinreparaturen, zur Duldung von Maßnahmen des Mie-
ters zur Verbesserung der Wohnung, zur Haustierhaltung
in der Wohnung, zum Wohnungstausch, zur Abschaffung
der Verwertungskündigung und der so genannten Zerrüt-
tungskündigung sowie zur weiteren Ausgestaltung der
Sozialklausel.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413400800
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1413400900
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Dem Mietrecht kommt im alltäglichen
Leben – auch wenn dies vielleicht nicht immer wahrge-
nommen wird – eine besondere Bedeutung zu. Millionen
von Menschen sind als Mieter auf gute und bezahlbare
Wohnungen angewiesen. Für Millionen von Vermietern
gehören Mieteinnahmen zur Sicherung ihrer Lebens-
grundlage.

Das geltende Mietrecht wird den heutigen Anforderun-
gen von Gesellschaft und Wirtschaft jedoch längst nicht
mehr gerecht. Es trägt weder den gewandelten gesell-
schaftlichen und wirtschaftlichen Lebensverhältnissen
noch der veränderten Wohnungsmarktsituation Rechnung.
Soweit im Mietrecht überhaupt einmal eine Systematik
existierte, ist diese längst nicht mehr erkennbar. Änderun-
gen und Ergänzungen haben das Mietrecht meiner Auffas-
sung nach immer komplizierter und unübersichtlicher ge-
macht. Hinzu kommt, dass das Mietrecht auch sprachlich
veraltet und deshalb nur schwer verständlich ist.

Die Bundesjustizministerin hat deshalb völlig Recht,
wenn sie eine Modernisierung unseres Mietrechts für
dringend erforderlich erachtet. Es ist durchaus nicht so,
dass wir die Ersten sind, die das so sehen: Gefordert wird
eine solche Reform schon seit langem. Bereits die letzte
Bundesregierung hat Handlungsbedarf gesehen und des-
halb eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, deren
Vorschläge dem heute diskutierten Gesetzentwurf als
Grundlage dienen, dem parallel eingebrachten Gesetzent-
wurf der F.D.P., Herr Kollege Goldmann, im Übrigen
auch.

Was wir dringend brauchen, ist vor allem eine Verein-
fachung des Mietrechts. Das Mietrecht muss klarer, ver-
ständlicher und transparenter werden. Mietern und Ver-
mietern muss es wieder möglich sein, ihre Rechte und
Pflichten auch ohne fachlichen Beistand erkennen zu kön-
nen. Das ist derzeit meist nicht mehr der Fall.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss das Mietrecht zu-
nächst systematisch neu geordnet werden. Das geltende
Mietrecht enthält Vorschriften für alle Arten der Miete:
die Miete von Wohnraum, von Tieren, von Schiffen oder
von Grundstücken. Das eminent wichtige Wohnraum-
mietrecht, das schon mehrfach diskutiert wurde, ist bis-
lang noch nicht in einem eigenen Teil gesondert geregelt.
Ich halte daher den Schritt der Bundesregierung für rich-
tig, das Mietrecht neu zu gliedern, und zwar in allgemeine
Vorschriften für alle Arten von Mietverhältnissen und ge-
sonderte Vorschriften für die speziellen Bereiche der
Miete, insbesondere die Wohnraummiete. Es ist längst
überfällig, dass in diesem Zusammenhang überlange und
übermäßig detaillierte Vorschriften gestrafft und – soweit
erforderlich – entsprechend untergliedert werden.

Die Reform legt zu Recht einen besonderen Schwer-
punkt auf das Wohnraummietrecht. Hier gilt es, Ver-
säumnisse der Vergangenheit zu bereinigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Frau Justizministerin, ich bin besonders darüber erfreut,
dass wichtige Vorschriften für das Wohnraummietrecht,
die bisher in Spezialgesetzen außerhalb des Bürgerlichen
Gesetzbuches niedergelegt waren, nun im Bürgerlichen
Gesetzbuch zusammengefasst werden. Ich sage das als
ehemaliger Praktiker nicht nur deshalb, weil es auf diese
Weise leichter wird, die Vorschriften aufzufinden. Auch
die Tatsache, dass innerhalb der Wohnraummietverhält-
nisse eine klare Gliederung der Vorschriften nach dem ty-
pischen zeitlichen Ablauf eines Mietverhältnisses vorge-
nommen werden soll, wird vieles vereinfachen.

All diese Maßnahmen werden dazu beitragen, den
Rechtsfrieden zu stärken und das Streitpotenzial im Miet-
recht zu verringern. Auf diese Weise können die Änderun-
gen – die Bundesjustizministerin hat darauf bereits hinge-
wiesen – zu einer Entlastung derGerichte beitragen. Wer
genau weiß, wozu er berechtigt und wozu er verpflichtet
ist, braucht dies nicht erst in langen und teuren Gerichts-
verfahren abklären zu lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Dr. Evelyn Kenzler
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Dies reicht jedoch nicht. Eine Mietrechtsreform kann
nur dann Erfolg haben, wenn ihr auch eine inhaltliche
Modernisierung des Mietrechts gelingt. Zwischen den un-
terschiedlichen Interessen von Vermietern und Mietern
muss wieder ein angemessener und gerechter Ausgleich
gefunden werden. Dabei, Herr Kollege Goldmann, ist
natürlich zu berücksichtigen, dass sich die schutzwürdi-
gen Interessen von Vermietern und Mietern aufgrund
geänderter Lebensverhältnisse und Veränderungen des
Wohnungsmarktes verschoben haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann insofern nicht alle Ihre Ausführungen teilen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ich bin damit ein bisschen zufrieden!)


– Danke.
Wir befürworten daher ausdrücklich den Vorschlag der

Bundesregierung, das bewährte Vergleichsmietenverfahren
noch zu stärken, indem zusätzlich zum bislang bestehenden
Mietspiegel ein so genannter qualifizierter Mietspiegel
eingeführt wird. Dieser nach wissenschaftlich anerkannten
Grundsätzen erstellte Mietspiegel wird sowohl bei den
Mietparteien als auch bei den Gerichten eine größere Ak-
zeptanz finden und viele Streitigkeiten vereinfachen.

Ich halte es auch für richtig, die Kappungsgrenze von
30 Prozent auf 20 Prozent zu senken. In der Vergangen-
heit hat es sich nun einmal häufig gezeigt, dass höhere
Mietsteigerungen, insbesondere bei preisgünstigen Woh-
nungen in Ballungsgebieten, zu nicht hinnehmbaren Här-
ten, gerade bei einkommensschwachen Mietern, geführt
haben. Insbesondere junge Familien mit Kindern werden
daher von der Neuregelung profitieren.

Dass es im Bereich der Betriebskosten mehr Abrech-
nungsgerechtigkeit geben soll, indem noch stärker auf den
tatsächlichen Verbrauch oder die reale Verursachung ab-
gestellt wird, findet unsere volle Unterstützung. Es ist nur
gerecht und billig, dass der tatsächliche Verbraucher für
diesen Verbrauch auch aufkommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch dem Vorschlag, die Vertragsfreiheit bei der Ver-

einbarung von Index- und Staffelmieten durch den Weg-
fall der zeitlichen Beschränkungen zu fördern, wird von
unserer Seite zugestimmt. Wir begrüßen auch die Überle-
gung, den Schutz für Haushaltsangehörige und auf Dauer
angelegte gemeinsame Haushalte zu verbessern, indem
auch diesen nach dem Tode des Mieters ein Eintrittsrecht
in einen bestehenden Mietvertrag eingeräumt wird. Damit
wird den geänderten Lebensgewohnheiten in unserer Ge-
sellschaft Rechnung getragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu Recht verweist die Bundesregierung darauf, dass
der Kündigungsschutz den heutigen Erfordernissen ei-
ner modernen Gesellschaft angepasst werden muss. Bei
der zunehmend geforderten Mobilität und Flexibilität
sind für den Mieter bei lang andauernden Mietverhältnis-
sen Kündigungsfristen von bis zu einem Jahr nicht mehr

hinzunehmen. Gleiches gilt im Übrigen für Alte und
Kranke, die zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen
kurzfristig in ein Alten- oder Pflegeheim umziehen müs-
sen. Auch wir sehen daher das dringende Bedürfnis, die
Kündigungsfristen für Mieter erheblich zu verkürzen.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein Wort an
die Kollegen von der F.D.P. richten: Es kann nicht sein,
dass man Mobilität und Flexibilität von Arbeitnehmern
nur dann fordert, wenn es gerade passt. Sie haben hier die
Gelegenheit, Ihrer Argumentation mehr Inhalt zu geben
und den Betroffenen entgegenzukommen. Ich hoffe, dass
Sie das auch tun werden. Im Übrigen würde ich Ihnen
empfehlen, Ihren eigenen Gesetzentwurf zu lesen, da
auch Sie für Alte und Kranke einschränkende Regelungen
vorsehen.


(Beifall bei der SPD)

Neben der Garantie des Eigentums einerseits und der

sozialen Verpflichtung hieraus sowie der Verantwortung
der Mieter gegenüber der Mietsache andererseits setzt die
Mietrechtsreform vor allem auf die partnerschaftliche
Kooperation von Mietern und Vermietern. Die Reform
behält dabei die große sozial-, wohnungs- und wirt-
schaftspolitische Bedeutung des privaten Mietrechts im
Auge. Die besondere Bedeutung der Bau- und Woh-
nungswirtschaft als Wirtschaftsfaktor werden ebenso wie
die Belange des Umweltschutzes berücksichtigt.

Ich komme zum Schluss. Wir brauchen ein modernes
Mietrecht. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt
meiner Auffassung nach Maßstäbe. Wir werden gerne der
Einladung folgen, uns an den spannenden Debatten hie-
rüber in den nächsten Wochen und Monaten aktiv zu be-
teiligen. Meine Damen und Herren von der Opposition,
tun Sie es uns gleich.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413401000
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang von Stetten, CDU/CSU-Frak-
tion.


Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1413401100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Aktueller könnte diese Diskussion über das Mietrecht nicht
sein, denn nur durch den Rücktritt von Herrn Klimmt
haben die Deutschen erfahren, dass er auch Bundesbau-
minister war. Er war eben für viele ein Bauminister ohne
Resonanz. Denn von Baupolitik und Infrastruktur haben
wir von ihm nichts gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist eine billige Nachkarterei! Es ist schlecht, dass Sie Ihre Ohren immer zu haben! Lassen Sie sich einmal die Ohren spülen! – Margot von Renesse [SPD]: Ab nächstes Jahr steigt das Wohngeld!)


Bundeskanzler Schröder hatte dieses Mal Pech. Da er für
einen zurückgetretenen Minister keinen abgewählten oder




Dirk Manzewski

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abgehalfterten Ministerpräsidenten als Ersatz stellen
konnte,

Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich finde
das unanständig! Wer hat Ihnen denn diesen
Unsinn aufgeschrieben?)

musste er auf einen neuen, relativ jungen Kollegen
zurückgreifen. Wir werden sehen, was diese Nummer drei
in diesem Amt innerhalb von zwei Jahren bringt.

Der Kanzler dieser Regierung, Gerhard Schröder, ist
einmal angetreten nach dem Motto: Wir machen nicht al-
les anders, aber wenn anders, dann besser. Das Gegenteil
ist eingetreten.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir machen das nämlich auch besser! – Alfred Hartenbach [SPD]: Sie sollten jetzt auf den Teppich kommen und zum Mietrecht reden!)


Nach zwei Jahren Bilanz ist vieles anders, aber fast nichts
besser geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Die jahrelange Preisstabilität ist verloren und wir sind auf
dem Wege zur Inflation, weil diese Regierung, gejagt von
den Grünen, in unverantwortlicher Art und Weise Benzin-
und Dieselpreis, Heizöl- und Strompreis in die Höhe treibt
und Steuern draufknallt,


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Freiheit oder Sozialismus!)


anstatt antizyklisch zu handeln und die Steuererhöhung
zurückzunehmen, mindestens aber auszusetzen.

Diese Benzin- und Dieselpreiserhöhung ist übrigens
ein ganz übler Betrug.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)


Denn vor den Wahlen hat der damalige Kanzlerkandidat
Gerhard Schröder versichert, mit ihm werde es eine Preis-
erhöhung um höchstens 6 Pfennig geben.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Steht es da wirklich, was Sie vorlesen? – Alfred Hartenbach [SPD]: Herr von Stetten, beim Heizöl sind es noch nicht einmal 6 Pfennig! Das sollten Sie wissen! Sie müssen einmal lesen, was da steht!)


Dabei hat er – das ist wohl üblich bei den höheren Char-
gen der SPD – schon damals netto und brutto verwechselt,
weil 6 Pfennig mit Mehrwertsteuer bereits 7 Pfennig sind.
Als er an der Regierung war, zeigte er seinen Taschen-
spielertrick und sagte: Ich habe gemeint: 6 Pfennig pro
Jahr. Die Bürger, die ihn gewählt haben, wurden schlicht-
weg übers Ohr gehauen und die Regierung erhöht lustig
die Preise um 7 Pfennig jährlich, bis sie 35 Pfennig er-
reicht haben.

Damit bin ich schon beim Mietrecht.

(Lachen und Beifall bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ach! Endlich! – Margot von Renesse [SPD]: Schon?)


– Man muss nur die richtige Einführung bringen. Dann
hören Sie zu. Das ist doch ganz wichtig. – Die Folge ist
nämlich, dass das Wohngeld jetzt massiv erhöht werden
muss,


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Lassen Sie uns über Latifundien reden! Über Schlösser! Über Folterkeller!)


und zwar aus Steuermitteln, und dass ebenso aus Steuer-
mitteln Heizkostenzuschüsse gezahlt werden müssen. Im-
mer wieder müssen das diejenigen zahlen, die das Geld
verdienen und für das verdiente Geld Steuern zahlen.

Sie versuchen es als Erfolg zu verkaufen, dass für die
Ärmeren ein Heizkostenzuschuss von 2 Milliarden bis
3Milliarden DM bewilligt und das Wohngeld um 1,4Mil-
liarden DM erhöht wird.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt müssen Sie etwas zur Ökosteuer sagen!)


Sie nennen das sozial? Ich nenne es unsozial.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aha! Der Sozialadel!)


Sie hätten sich das alles sparen können, wenn Sie die Steu-
ererhöhung nicht durchgeführt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU –Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stetten zum Wetten!)


Ihr Argument, dass Sie die Lohnnebenkosten senken,
stimmt deswegen nicht, weil Sie gerade mit dem gestern
eingebrachten Entwurf zur Rentenreform die Lohnneben-
kosten deutlich erhöhen wollen.


(Margot von Renesse [SPD]: Auch das noch! Die Außenpolitik fehlt noch!)


Zudem nützen weder einem Rentner noch einem Beamten
noch einem Landwirt oder Selbstständigen die Zuschüsse
zur Rentenversicherung. Diese Bevölkerungsgruppen
werden schlichtweg abgezockt.

Eines passt in Ihr Mietrechtsreformgesetz ganz gut:
dass die Nettomiete stärker hervorgehoben wird. Denn
dann wird der Mieter und Bewohner merken, was er durch
die gestiegenen Heizölpreise mehr für Heizöl und Warm-
wasser zu zahlen hat und dass auch die Erhöhung der Ne-
benkosten überall mit den erhöhten Preisen für Energie
begründet wird. 95 Prozent der Bevölkerung oder mehr
erhalten keinen Ausgleich.

Nun ist es in der Tat richtig, dass das geltende Miet-
recht zersplittert ist und in vielen Gesetzen unübersicht-
lich geregelt ist. Insofern ist eine Reform durchaus rich-
tig. Aber Sie von der rot-grünen Koalition nutzen die
Notwendigkeit einer Reform aus, um es teilweise auf den
Kopf zu stellen. Sie sind auch noch auf halbem Wege ste-
hen geblieben und haben ein halbes Dutzend Gesetze un-
verändert gelassen.


(Margot von Renesse [SPD]: Wie kann man sich auf den Kopf stellen und gleichzeitig auf halbem Wege stehen bleiben?)





Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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Während unserer Regierungszeit war an der Mieter-
und Vermieterfront dank ausgewogener Gesetze Ruhe.
Darauf hat schon eben der Kollege von der F.D.P. hinge-
wiesen. Sowohl die Mieter als auch die Vermieter konn-
ten mit unseren Gesetzen leben. Es hätte daher nur einer
Gesetzeszusammenfassung bedurft. Der Anstieg der Mie-
ten war gebremst. In manchen Städten geht er in-
zwischen – bedingt durch einen Überhang an freien Woh-
nungen – sogar leicht zurück. Die Investitionstätigkeit auf
dem Mietwohnungssektor in den neuen Ländern, aus-
gelöst durch die hohen Abschreibungsmöglichkeiten, war
in den Vorjahren dramatisch gesunken. Aber in der letzten
Zeit gab es Anzeichen für eine langsame Erholung. Durch
Ihr Mietrechtsreformgesetz machen Sie dieses zarte
Pflänzchen wieder kaputt, weil Sie Investoren neue Er-
schwernisse in den Weg legen, sie mindestens verunsi-
chern und dadurch von Investitionen abhalten oder sie
zwingen, eine abwartende Haltung einzunehmen. Dieser
ordnungspolitische Unsinn gefährdet zukünftige Investi-
tionen.

In diesen Zusammenhang passt im Übrigen auch die
Entfernungspauschale. Das Gesetz, das das regelt, ist
auch durchgepeitscht worden. Die Entfernungspauschale
hat auch etwas mit dem Miet- und Wohnungsrecht zu tun;
denn die hohen Benzin- und Dieselpreise treffen insbe-
sondere diejenigen, die – oft aus Kostengründen – außer-
halb wohnen und die mit dem Auto zur Arbeit und zum
Einkaufen fahren müssen. Nun zäumen Sie auch hier das
Pferd von hinten auf; denn der geschundene Autofahrer
wird mit der geringen Erhöhung von 10 Pfennig pro Ki-
lometer abgespeist


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir sind hier nicht bei der Jahresversammlung der Firma Sixt!)


und denjenigen, die nicht Auto fahren, wird ein Geschenk
gemacht, das letztlich der Autofahrer über erhöhte Steuern
finanzieren muss. Hier zeigt sich, dass sich die Ideologie
der Grünen – das Auto ist der Feind Nummer eins – inner-
halb dieser Regierung durchgesetzt hat. Das Autofahren
wird direkt oder indirekt über die Entfernungspauschale
verteufelt. Wir lehnen das ab.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der im Gesetz vorgesehene qualifizierte Mietspiegel,

der wissenschaftlichen Ansprüchen genügen muss, ist
völlig überflüssig, weil der derzeitige Mietspiegel durch-
aus genügt und lediglich ein unnötiger und teurer Büro-
kratismus angeblichen wissenschaftlichen Ansprüchen
genügen soll. Im Gegensatz zu Ihrer Behauptung ist dies
nicht im Interesse der Mieter und Vermieter, Frau Minis-
terin, weil die Verfahren vermutlich verzögert und verteu-
ert werden.

Völlig unnötig – weil es, wie Sie anhand der Statisti-
ken sehen können, keine großen Verteuerungen gab – ist
die Senkung der Kappungsgrenze von 30 auf 20 Pro-
zent; denn die bisherigen Regelungen waren ausgewogen
und standen im Einklang mit den Gegebenheiten auf dem
Wohnungsmarkt. Die Senkung der Kappungsgrenze ist
ein weiteres Stoppsignal für Investitionen.

Das neu geregelte Eintrittsrecht von Familienan-
gehörigen oder Personen, die mit dem Mieter einen auf
Dauer angelegten gemeinsamen Haushalt führen, ist eine

unzuträgliche Verschlechterung für den Vermieter, weil er
erst neue höchstrichterliche Urteile abwarten muss, damit
geklärt wird, was „auf Dauer angelegt“ und „gemeinsam“
heißt und wie viele Personen einen solchen Haushalt
führen dürfen. Zu dieser Verschlechterung passt das ge-
rade am letzten Freitag durchgepeitschte Gesetz über die
Lebenspartnerschaft, mit dem das Eintrittsrecht des Le-
benspartners bei Tod des Mieters erweitert wird, und zwar
mit dem lapidaren Satz: Dasselbe gilt für Lebenspartner. –
Hier hat man bewusst die Zahl der Lebenspartner wegge-
lassen;


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unglaublich! Sodom und Gomorrha in der deutschen Küche!)


denn nach diesem Gesetz können zwei Männer, die eine
Lebenspartnerschaft eingegangen sind, jeweils noch eine
Ehe mit einer Frau eingehen. Dann würden sie zu viert als
kombinierte Ehe- und Lebenspartnergemeinschaft – fröh-
lich oder weniger fröhlich; aber alle mit dem gleichen
Nachnamen – in einer Wohnung leben. Bei Tod eines Le-
benspartners oder Ehegatten wäre dann die Frage, mit
wem der Vermieter den Mietvertrag fortsetzen muss. Das
lässt sich zwar einfach lösen, wenn man diese Viererge-
meinschaft als Gesamtlebenspartnerschaft ansieht. Aber
das ist sicherlich nicht im Sinne des Vermieters.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Kein Wunder, dass wir hier endlich eine Leitkultur brauchen! Bei diesen Zuständen!)


– Das, was Sie verabschiedet haben, gehört sicherlich
nicht zur deutschen Leitkultur.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gott sei Dank!)


Das möchte ich hier festhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Endlich ein frei gesprochener Satz! Aber daran kann man sehen, was Sie aufregt!)


– Ich kann Ihnen noch einen sagen: Vielleicht haben Sie
§ 172 StGB, Bigamie, bewusst nicht geändert, damit Sie
vor dem Bundesverfassungsgericht sagen können: Es gibt
doch einen Unterschied zwischen der Ehe und der einge-
tragenen Lebenspartnerschaft.

Die geplante Verkürzung der Kündigungsfristen für
langfristige Mietverträge ist nur dann gerechtfertigt, wenn
sie für beide Seiten gilt. Bei einer Kündigungsfrist von
drei Monaten bei einer Mietdauer von bis zu fünf Jahren
und von sechs Monaten bei mehr als fünf Jahren muss
weiterhin Gleichheit gelten.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie ist das übrigens bei Mietern mit roten Socken?)


– Herr Fischer, die roten Socken haben Sie lange genug
getragen.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihrer schwarzen Nachtkappe!)





Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten

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(B)


Denn ein asymmetrisches Kündigungssystem wider-
spricht auch dem Grundgesetz. Zudem gelten nach wie
vor für den Mieter die Widerspruchsmöglichkeiten des
neuen § 574 BGB bei besonderer Härte, sodass der Mie-
ter auch zusätzlich geschützt ist.

Es war sicher richtig, dass eine Mieterhöhung wegen
gestiegener Kapitalkosten nicht einfach in der Handha-
bung war. Ich halte es dennoch für falsch, sie ersatzlos zu
streichen, weil das Investoren abschreckt.

Die vielen anderen Einzelheiten und Änderungen, die
oft als redaktionelle Änderungen angekündigt werden,
müssen im Laufe des Beratungsverfahrens genau geprüft
werden, weil vernünftige Änderungen von uns nicht tor-
pediert werden. Der Teufel steckt aber bekanntlich oft im
Detail. Wir wollen nicht, dass uns der Teufel nachher holt.

Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Wohnungs-
eigentum und zu den Aussichten dafür sagen. Nur wer Ei-
gentum hat, geht auch mit Eigentum anderer sorgfältig
um. Das ist eine Binsenwahrheit. Deswegen ist Eigen-
tumsförderung immer ein großes Ziel der CDU/CSU ge-
wesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Margot von Renesse [SPD]: Nur ein Hauseigentümer kann Mieter sein! Alle Mieter sind Zerstörer!)


– Ich habe große Freude daran, dass ich Sie zu Wider-
spruch anrege.

Die Idee des geförderten Bausparens entstammt der
Zeit des Beginns der sozialen Marktwirtschaft unter
Ludwig Erhard und hat ihre Grundwurzeln in
Art. 14 Grundgesetz, in dem vom Recht auf Eigentum,
aber auch von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums die
Rede ist.

Vor einigen Jahren haben wir von der CDU/CSU und
der F.D.P. die Eigenheimzulage von 5 000 DM bzw. zu-
sätzlich 1 500 DM pro Kind jährlich, die für mehrere
Jahre gewährt wird, eingeführt. Das war der richtige
Schritt, denn insbesondere Geringverdienende oder jün-
gere Bauwillige hatten keinen Vorteil von Abschreibun-
gen, um Steuern zu sparen, weil die Einkommen der Fa-
milien teilweise gar nicht zur Steuerpflicht führten. Diese
Zulage hat wesentlich zum Eigentumserwerb oder zum
Hausbau beigetragen. Dies ist eine große Leistung der
CDU/CSU-F.D.P.-Koalition. Sie wollen – ich kann mich
nur wundern, dass Sie das als sozial empfinden – diese
Zulage halbieren. Dies ist wiederum ein Schlag gegen die
Geringverdiener und gegen das Eigentum.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Dabei sehe ich die Finanzierung von Wohnungsbau in

den fünf neuen Bundesländern eher skeptisch. Die hohen
Abschreibungssätze haben zwar Investoren angelockt,


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDINIS 90/ DIE GRÜNEN]: Herr Präsident, eine Portion „Hallo-wach“ brauchen wir jetzt!)


aber Eigentümer der Wohnungen sind jetzt die falschen,
nämlich in der Regel sehr gut verdienende Bürger aus
dem Westen, die zum Teil 10, 20 und mehr Wohnungen

gekauft haben und die ihre Lage nicht einmal kennen, son-
dern nur ihr Steuerberater. Der Staat musste hier steuerli-
che Mindereinnahmen von 40 bis 50 Milliarden DM fi-
nanzieren.


(Christine Ostrowski [PDS]: Aber das war doch in Ihrer Zeit!)


– Lassen Sie mich das doch kritisch sagen. Es war falsch.
Ich habe damals den Vorschlag gemacht, der von vie-

len belächelt wurde, jedem Bewohner einer Wohnung in
der ehemaligen DDR diese Wohnung zu schenken und
ihm zusätzlich 50 000 DM Renovierungskosten zu geben.


(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Freiherr von Stetten ist nicht mehr zu retten!)


Dies wäre richtig gewesen. Damit hätten wir 1 Million
Familien die Möglichkeit gegeben, vergünstigt Eigentum
zu erwerben. Dann hätten wir heute nicht das Dilemma
von Hunderttausenden vergammelter Platten- und Alt-
bauten.

Meine Damen und Herren, gestern haben Sie Ihr Ren-
tenkonzept eingebracht. Sie wollen es in den nächsten
Wochen durchpeitschen. Da mag manches richtig sein,
aber eines ist vom Grundsatz falsch, nämlich dass Sie in
die staatlich geförderte Eigenvorsorge für das Alter das
Wohnungseigentum nicht einbauen. Das mag sicher
schwierig sein, aber es ist machbar, auch Wohnungsei-
gentum für das Alter zu sichern, zum Beispiel indem der
Förderbetrag als Resthypothek auf Haus- und Wohnungs-
eigentum grundbuchlich eingetragen wird und aus-
schließlich für die Altersvorsorge abgesichert wird.


(Alfred Hartenbach [SPD]: Jetzt müssen wir über den Drogentest von Christoph Daum reden, Herr von Stetten!)


Es mag sein, dass das der Ideologie mancher linken
Gruppen Ihrer beiden Parteien nicht entspricht, weil viele
fürchten, dass Eigentum die Wähler gegebenenfalls auf
den Gedanken bringt, bürgerlich zu wählen. Aber nehmen
Sie schlichtweg zur Kenntnis, dass sich die jüngeren
Rentner zwischen 60 und 70 Jahren zu 60 Prozent über ei-
gene Wohnungen oder eigene Häuser – oft unter schwie-
rigsten Umständen – eine Altersversorgung zusätzlich zu
Renten, Pensionen oder auch Betriebsrenten aufgebaut
haben. Nahezu 100 Prozent dieser 60 Prozent Rentner ha-
ben mit Bausparverträgen begonnen – eine geniale Idee
der sozialen Marktwirtschaft, die im Übrigen aller Anfang
für Eigentumserwerb war. Wohnungseigentum ist daher
ein unverzichtbarer Baustein der privaten Altersvorsorge
und es wäre verhängnisvoll, wenn diese rot-grüne Regie-
rung das nunmehr geplante Alterssicherungssparen gegen
das selbst genutzte Wohnungseigentum ausspielte und
damit das Wohnungsbausparen im Ansatz zerstörte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Bausparkassen Deutschlands haben Unterlagen

zur Verfügung gestellt, in denen deutlich wird, dass sich
60 bis 70 Prozent der Bausparer aufgrund ihres Einkom-
mens eine doppelte Belastung, nämlich die „freiwillige“
Zwangsabgabe für die selbst finanzierte Altersvorsorge




Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
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(C)



(D)



(A)



(B)


und die Beiträge zur Bausparkasse, nicht leisten können.
Selten einmütig sind die wohnungsbaupolitischen Spit-
zenverbände an die Öffentlichkeit getreten: das Evangeli-
sche Siedlungswerk in Deutschland, der Katholische
Siedlungsdienst, der Bundesverband deutscher Woh-
nungsunternehmen, der Bundesverband Freier Woh-
nungsunternehmen, Haus & Grund Deutschland, Deut-
sches Volksheimstättenwerk und andere. Sie fordern von
der Regierung unisono, dass selbst genutztes Wohnungs-
eigentum in die Förderung der privaten Altersvorsorge im
Gesetz zur Rentenreform einbezogen wird. Dies ist eine
ganz wesentliche Forderung bei der Mietrechtsreform.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Der Bausparkassenverband hat übrigens bereits für den

Fall, dass das Wohnungseigentum nicht in die Förderung
aufgenommen wird, die Forderung erhoben, die Förde-
rung des Bausparens um mehrere Milliarden zu erhöhen,
damit die segensreiche Einrichtung des Bausparens nach
50 Jahren nicht zu Grabe getragen werden muss.

Das Mietrechtsreformgesetz ist eine Aufgabe und Ver-
pflichtung für uns alle. Ich appelliere an Sie, mit uns in
Gespräche zu treten, das sozialistische Gedankengut – ich
sage es so deutlich – herauszunehmen und für Mieter und
Vermieter wieder eine vernünftige Basis zu schaffen, aber
auch den Eigentumsgedanken zu fördern. Eines ist ganz
sicher: Selbst bewohntes Eigentum ist nicht nur eine ma-
terielle Alterssicherung, sondern auch eine Genugtuung
im Alter, dass man im Leben mit diszipliniertem Sparen
etwas erschaffen hat. Dies trägt auch zur Zufriedenheit am
Lebensabend bei.

Lassen Sie uns für eine vernünftige Lösung, für einen
Ausgleich sorgen, damit die Ruhe, die wir an der Front
zwischen Mietern und Vermietern haben, beibehalten
wird, anstatt unnötigerweise alle aufzuschrecken und da-
mit den Eigentumserwerb zu verhindern und die Investi-
tionen zu stoppen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Beifall der Abg. Christine Ostrowski [PDS] – Christine Ostrowski [PDS]: Das war eine begeisternde Rede! – Alfred Hartenbach [SPD]: Wolfgang, hat die Rede Norbert Geis für dich geschrieben?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413401200
Ich erteile dem Kolle-
gen Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Herr Kollege von Stetten, für das Mietrecht ist die
Justizministerin und nicht der Bauminister zuständig. Ihr
Seitenhieb ist daher gründlich daneben gegangen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ein bisschen hat er aber schon mit dem Bauen zu tun! Warum heißt er denn Bauminister?)


– Aber im nächsten Punkt sind wir uns ja schon wieder ei-
nig.

Das Mietrecht bedarf der Novellierung und Vereinfa-
chung. Diese Reform war einfach überfällig. Kein ande-
res Rechtsgebiet ist für weite Teile der Bevölkerung von
so großer Bedeutung für das tatsächliche Leben wie das
Mietrecht.

Trotz dieser hohen Bedeutung des sozialen Wohn-
raummietrechts mangelte es bisher an der entsprechenden
Überschaubarkeit, Transparenz und Verständlichkeit der
Regelungsmaterie.


(Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD])

Das Mietrecht war unübersichtlich gegliedert und auf ver-
schiedene Gesetze verteilt. Diese gegenwärtige Zersplit-
terung des Mietrechts ist das Ergebnis jahrzehntelanger
unsystematischer Gesetzesänderungen auch der Vorgän-
gerregierungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rainer Funke [F.D.P.]: Aller Regierungen!)


Mit dem vorliegenden Entwurf soll diesem Missstand
endlich abgeholfen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Reform des Mietrechts ist damit bürgerfreundlich,
denn sie führt die Dinge verständlich zusammen, die bis-
her für die Betroffenen unauffindbar verstreut und un-
übersichtlich gegliedert sind. Das bedeutet mehr Rechts-
sicherheit und wird hoffentlich auch die Zahl der heute
immerhin rund 300 000 Mietprozesse im Jahr verringern.

Gerade bei einer Rechtsproblematik, die im täglichen
Leben weitreichend in die Interessen- und Betroffenheits-
sphäre vieler Bürger eingreift, ist es zwingend geboten,
die beiderseitigen Interessen abzuwägen und, wo erfor-
derlich, die schwächere Vertragspartei zu schützen. Das
ist ein Hauptanliegen meiner Fraktion und dieses Entwur-
fes, ebenso wie die Anpassung der Normen an die verän-
derten gesellschaftlichen Bedingungen. Der Entwurf der
Bundesregierung leistet dies.

Die Kündigungsfristen für Mieter werden verkürzt.
Dies trägt den gestiegenen Anforderungen an die Mobi-
lität von Arbeitnehmern Rechnung, die häufig einen Ar-
beitsplatzwechsel in Kauf nehmen müssen. Aber auch ein
notwendiger Umzug ins Alters- oder Pflegeheim wird da-
durch erleichtert. Auf der anderen Seite wird der echte
Zeitmietvertrag eingeführt, der im mobilen Zeitalter
Rechtssicherheit für Mieter und Vermieter schafft. Das
definitive Vertragsende steht dann fest, wenn dies von bei-
den Seiten – das muss gewährleistet sein – so gewünscht
wird. Dabei ist auf eine mieterfreundliche Ausgestaltung
der Vertragsform geachtet worden.

Der Gesetzentwurf dämpft Mietsteigerungen da, wo es
notwendig ist. Die Kappungsgrenze wird von 30 auf
20 Prozent gesenkt und das schützt insbesondere Familien
mit kleinen Einkommen vor sprunghaften Mietpreisstei-
gerungen.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Wie häufig kommen die noch vor?)





Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten

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(D)



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(B)


– Selbstverständlich ist durch die örtliche Vergleichsmiete
eine Deckelung gegeben; aber es gibt sehr wohl Fälle der-
artiger sprunghafter Steigerungen. An diesem Punkt müs-
sen wir durchaus eingreifen.

Die Regelung der Zerrüttungskündigung ist gerade bei
den Mieterverbänden noch sehr umstritten, obwohl dies
– ich kann das als Jurist bestätigen – bereits der heutigen
Rechtsprechung entspricht. Vielleicht gelingt es noch,
dies ausdrücklich festzuschreiben.

Endlich erfolgt auch die Gleichbehandlung homose-
xueller Lebensgemeinschaften bei Eintritt in den Miet-
vertrag nach dem Tod eines Partners. Bisher gilt: Lebt ein
unverheiratetes Paar in einer Wohnung zusammen, darf
nach dem Tod eines Partners der oder die andere den Miet-
vertrag selbstverständlich übernehmen, es sei denn – das
ist die Ausnahme –, es handelt sich um ein schwules oder
lesbisches Paar. Dies ist eine eindeutige Diskriminierung
solcher Lebensbeziehungen im Mietrecht. Wir wollen das
ändern: Es soll gleiches Recht für alle Lebensgemein-
schaften gelten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.)


Das neue Mietrecht möchte auch umweltfreundliches
Verhalten belohnt wissen. Die zukünftig vorgesehene ver-
brauchsbezogene Art der Abrechnung fördert den sparsa-
men Gebrauch von Wasser, Energie und Ressourcen und
nützt – neben dem Geldbeutel der Mietparteien – auch der
Umwelt. Zusätzlich soll es weiterhin Anreize für Moder-
nisierungen und Energieeinsparinvestitionen für die um-
weltbewussten Vermieter geben. Darum bleibt die Mo-
dernisierungsumlage bei 11 Prozent bestehen. Das ist
sozial verantwortliches und modernes Handeln, meine
Damen und Herren insbesondere von der F.D.P.

Interessanterweise kommt Ihr Gesetzentwurf, der be-
reits an die Ausschüsse überwiesen worden ist, in einigen
Punkten durchaus zu ähnlichen Regelungen wie der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Das ist kein Zufall!)

Dort, wo soziale Gesichtspunkte höherrangig zu werten
sind, stehen bei der F.D.P. aber regelmäßig rein wirt-
schaftliche Interessen im Vordergrund. Das ist mit uns
natürlich nicht zu machen. Das konnten Sie ja noch nicht
einmal mit Ihrem früheren Koalitionspartner machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist sozial aus-
gewogen und wir können mit ihm überzeugt in die Aus-
schussberatungen gehen.

Ich möchte mich bei der Frau Ministerin und bei ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausdrücklich bedan-
ken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413401300
Ich erteile dem Kolle-
gen Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1413401400
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Mehrere Monate nachdem die F.D.P.-Frak-
tion einen eigenständigen Gesetzentwurf zur Neufassung
des Mietrechts vorgelegt hat, bringt nunmehr auch die
Bundesregierung ihren Gesetzentwurf in den Deutschen
Bundestag ein. Genau wie die F.D.P. in ihrem Entwurf
bemüht sich die Bundesregierung, das bislang zersplit-
terte und unübersichtliche Mietrecht in einem Gesetz, und
zwar im BGB, zu konzentrieren. Ich glaube, darin sind
und waren wir uns auch schon in der letzten Legislatur-
periode einig, dass dieses zu geschehen hat.

Den Anforderungen an Übersichtlichkeit und klare
Sprache wird der Gesetzentwurf zwar nicht überall ge-
recht, aber das Bemühen erkennt man. Das sollte man
auch anerkennen. Wir werden sicherlich im Ausschuss
noch das eine oder andere nachzubessern haben. Das
dürfte aber überhaupt kein Problem sein, zusammen mit
den Kollegen Verbesserungen durchzusetzen.

Zu kritisieren ist jedoch, dass die Bundesregierung ein-
seitig Mieterinteressen in den Vordergrund rückt. Die
Bundesjustizministerin hat ja mehrfach, zum Beispiel bei
dem schon erwähnten Kolloquium, erklärt, dass sie ein-
seitig für die Mieter Partei ergreifen will und dass das
auch in diesem Gesetz zum Ausdruck kommen soll. Ein
gutes Vertragsrecht – und dazu gehört ja nun einmal das
Mietrecht – muss von der Gleichwertigkeit beider Ver-
tragsparteien ausgehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Recht und Gesetz dürfen nicht von einseitiger Partei-
nahme geprägt sein, sondern müssen ausgewogen die In-
teressen beider Vertragsparteien berücksichtigen.

Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung fehlt es an sozialer Ausgewogenheit. Insbesondere
wurde – das war ja auch das Ziel der Ministerin – den Be-
langen der Vermieter und Grundeigentümer unter dem
Gesichtspunkt der Eigentumsgarantie in Art. 14 des
Grundgesetzes nicht ausreichend Rechnung getragen.


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Sehr richtig! – Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau umgekehrt! – Wir haben die Sozialpflichtigkeit im Gesetzentwurf ernst genommen!)


Das gilt vor allem für das vorgesehene asymmetrische Kün-
digungsrecht. Die einseitige Verkürzung der Kündigungs-
fristen zugunsten der Mieter birgt für den Vermieter die
Gefahr des Leerstandes, wenn eine sofortige Anschluss-
vermietung nicht möglich ist, Frau Kollegin. Damit droht
natürlich auch dem Vermieter ein entsprechender Mietaus-
fall. Warum die finanziellen Lasten einseitig nur beim Ver-
mieter liegen sollen und nicht ausgewogen auf Mieter und
Vermieter verteilt werden, kann ich ehrlich gesagt nicht
verstehen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Es handelt sich bei den Vermietern nicht immer nur um
Großgrundbesitzer, sondern es gibt ja auch viele kleine
Vermieter. Sie können doch nicht einseitig auf diese die
Risiken verlagern.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Helmut Wilhelm (Amberg)

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(D)



(A)



(B)


Es wird in den Beratungen auch intensiv zu diskutieren
sein, ob der absolute Vorrang des Mietspiegels bei der
Berechnung der Vergleichsmiete der richtige Ansatz ist.
Mehr Vertragsfreiheit und insbesondere die Berechnung
von örtlichen Vergleichsmieten auf der Basis gemeinsa-
mer Datenbanken von Mietern und Vermietern wären
meines Erachtens der richtige Weg. Darüber können wir
sicherlich im Ausschuss noch miteinander reden. Ich
glaube, dass wir da noch zu einem guten Ergebnis kom-
men werden.

Die Absenkung der Kappungsgrenze von 30 auf
20 Prozent steht ebenfalls beispielhaft für die Asymmetrie
des Mietvertragsrechts. Man kann zwar sagen: Die Kap-
pungsgrenze spielt eigentlich gar keine Rolle mehr. – Wer
den Markt ein wenig kennt – Sie müssten ihn eigentlich
von Ihrer beruflichen Vergangenheit her kennen –, weiß,
dass die Kappungsgrenze in der Praxis überhaupt keine
Rolle mehr spielt.


(Beifall bei der F.D.P. – Franziska EichstädtBohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trifft nur einen ganz kleinen Teil! Da haben Sie völlig Recht!)


Dass Sie die Kappungsgrenze von 30 auf 20 Prozent he-
rabsetzen, ist dennoch ein Signal in die falsche Richtung.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darum werden wir uns hier für die Beibehaltung einer
Grenze von 30 Prozent einsetzen.

Die Regelungen zu Zeitmietverträgen müssen sicher-
lich noch so ausgestaltet werden, dass echte Zeitmietver-
träge geschlossen werden können. Da müssen wir noch
nachbessern. Es ist doch, Frau Fuchs, dem Mieter und
Vermieter, wenn sie nur für gewisse Zeit ein Vertragsver-
hältnis eingehen wollen, durchaus zumutbar, dass das
Mietverhältnis zum Beispiel nach fünf Jahren tatsächlich
von beiden Seiten, der Mieter- und der Vermieterseite, be-
endet werden kann.

Auch der Vorschlag der Bundesregierung zu § 5 Wirt-
schaftsstrafgesetz geht an der Rechtswirklichkeit vorbei.
Mietwucher ist nach wie vor strafbar und soll auch straf-
bar bleiben. § 5 Wirtschaftsstrafgesetz brauchen wir nicht;
er spielt übrigens auch in der Praxis keine Rolle.


(Beifall bei der F.D.P.)

Insgesamt muss daher festgestellt werden, dass das

neue Mietvertragsrecht nach den Vorstellungen der Bun-
desregierung weniger Vertragsfreiheit, weniger Markt für
die Vertragsparteien mit sich bringt. Stattdessen sind Re-
gulierung und Bevormundung für das Mietvertragsver-
hältnis die Regel geworden. Die Erfahrung lehrt, dass Re-
gulierung und Bevormundung zu mehr Streitigkeiten
zwischen Mieter und Vermieter und damit zu mehr Ge-
richtsprozessen führen. Gerade das wollen Sie ja vermei-
den.

Ich glaube, es wäre gut gewesen, wenn sich die Minis-
terin mehr an der Praxis, mehr an den Marktverhältnissen
orientiert hätte, vielleicht auch mehr in den Markt hinein-

gehört hätte; dann wären viele Fehlentscheidungen un-
terblieben.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Insgesamt ist daher festzuhalten, dass in den Beratun-

gen des Rechtsausschusses noch kräftig nachgebessert
werden muss, wenn wir das Ziel erreichen wollen, ein ein-
faches, in sich geschlossenes und stimmiges Mietrecht zu
bekommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413401500
Ich erteile das Wort
Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.


Margot von Renesse (SPD):
Rede ID: ID1413401600
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Alle wollen ein ausgewogenes Miet-
recht und jeder wirft dem anderen vor, seine Vorstellun-
gen seien genau nicht ausgewogen.


(Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann ist es doch offenbar ausgewogen!)


Aber die Frage ist doch eigentlich: Was ist denn ausge-
wogen? – Ausgewogen kann nicht sein in jedem Einzel-
fall eines synallagmatischen Vertrages, dass das eine dem
anderen praktisch hundertprozentig entspricht wie die
Zinken von zwei Kämmen. Die Frage muss vielmehr
lauten: Wie ist die Interessenlage im Einzelnen gestal-
tet,damit im Ergebnis ein Interessenausgleich so gesche-
hen kann, dass niemand – so sage ich einmal ganz allge-
mein – über den Tisch gezogen wird?

Wie ist das zwischen Mietern und Vermietern? – Glau-
ben Sie mir, Herr Funke, wir haben nicht die Vorstellung,
dass alle Vermieter Miethaie und Kapitalisten sind, die im
Gelde schwimmen. Genauso wenig haben wir die Vor-
stellung, dass alle Mieter arme Schlucker sind. Mitunter
ist das Verhältnis genau umgekehrt.


(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!)

Auch das wissen wir sehr genau.

Das, was wir zur Grundlage der Beurteilung von Aus-
gewogenheit machen müssen und können, ist das Miet-
verhältnis selbst. Indem der Vermieter vermietet, sagt er
nicht, ich bin reich, sondern er sagt, ich brauche diese
Wohnung nicht, ich will an ihr verdienen, ich will den
Zins, den ich bekäme, wenn ich das Geld auf die Bank
brächte, in Form von Miete einnehmen.

Das bedeutet auf der einen Seite ganz klar, dass der
Mieter, der nicht zahlt, gegen einen kapitalen, entschei-
denden Grundsatz und eine Verpflichtung aus dem Miet-
verhältnis verstößt, dass die entsprechenden Konsequen-
zen für den Vermieter sehr, sehr ernst zu nehmen sind und
dass sie auch rechtlicher Natur sein müssen.

Auf der anderen Seite heißt das Vermieten von Woh-
nungen für den Vermieter: Er lässt es zu, dass sich eine




Rainer Funke

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(A)



(B)


Grundrechtsentfaltung in dieser seiner – Art. 14 lässt
grüßen – Wohnung vollzieht; er nimmt sie nicht nur hin,
sondern er will sie sogar.

Das bedeutet, dass ganz klar das passieren musste, was
wir bis zum heutigen Tag haben, nämlich ein asymmetri-
sches Kündigungsrecht.Wir haben es ja schon, denn der
Mieter kann nach gegenwärtigem Recht grundlos kündi-
gen; der Vermieter aber muss sehr massive Gründe haben.
Das ist bereits eine Asymmetrie, wenn auch nicht hin-
sichtlich der Kündigungsfrist.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist auch gut so!)


Das heißt, schon das heutige Recht geht von einer unter-
schiedlichen Bewertung der Interessen aus. Der Vermie-
ter kann nicht sagen, morgen fliegst du raus; der Mieter
kann sagen, sehr bald ziehe ich aus.

Diese Asymmetrie im Hinblick auf die gestiegene Not-
wendigkeit, die Mobilität von Mietern zu verstärken – das
hat Kollege Dirk Manzewski zu Recht gesagt –, ist also
nicht etwas Systemfremdes, ist nicht eine Ausgeburt so-
zialistischen Chaos, sondern ist eine konsequente Fort-
führung des gegenwärtigen Mietrechts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir werden darüber zu reden haben, aber ich habe da
zunächst einmal keine systematische Bedenken.

Darüber, ob die Fristen richtig angesetzt sind, werden
wir sicher streiten. Wie Sie sehen, hat es ja zwischen Re-
ferentenentwurf und Regierungsentwurf diesbezüglich
Differenzen gegeben. Darüber wird zu streiten sein, wo-
bei im Ergebnis – so fürchte ich – nicht nur logisch darü-
ber verhandelt, sondern eine Entscheidung getroffen wer-
den muss. Diese Entscheidung – das ist jetzt wieder etwas,
was Mieter und Vermieter betrifft – muss an den Interes-
sen beider ausgerichtet sein, denn beide haben jedenfalls
ein gemeinsames Interesse: dass es Vermieter gibt, dass
investiert wird. Was es bedeutet, wenn man die Vermieter
platt macht, sehen wir an Plattenbauten und Ähnlichem in
der ehemaligen DDR. Das ist ein Zerrbild und zeigt, wie
man mit Vermietern nicht umgehen sollte, wenn man es
gut meint mit Mietern. Daran sind wir alle nicht interes-
siert.

Wir werden darüber reden müssen, dass der Interes-
senausgleich fair geschieht. Ich freue mich, dass es Ge-
sprächsangebote gibt. Ich hoffe, Herr von Stetten, dass
wir dann nicht über alles und jedes reden, nicht jeden
Politikbereich ansprechen müssen,


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist aber doch kein Fehler, Frau Kollegin!)


sondern dass wir beim Mietrecht bleiben können. Wir
müssen nicht die ganze Welt aus den Angeln heben, um
einen – wenn auch unglaublich wichtigen – Teil des
Alltagsrechts systematisch korrekt so auszugestalten,
dass im Ergebnis alle, mit einem lachenden und einem
weinenden Auge, damit leben können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Dann könnten wir es ja eigentlich so lassen, wie es ist!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413401700
Nun hat der Kollege
Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion das Wort.


Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1413401800
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Ich glaube, heute ist ein guter Tag des
Parlaments, weil wir endlich in der ersten Lesung über das
Mietrechtsreformgesetz beraten können. Wir nehmen da-
mit eine weitere wichtige wohnungspolitische Weichen-
stellung vor. Nach der Novellierung des Wohngeldge-
setzes beraten wir das Mietrechtsreformgesetz, die an-
stehende Reform des sozialen Wohnungsbaus, die
Energieeinsparverordnung – sie ist in Vorbereitung –, und
das Modernisierungsprogramm für den Wohnungs-
bestand.

Ich glaube, dass sich am Ende der Legislaturperiode
die Bilanz durchaus wird sehen lassen können. Wir haben
das, was Sie liegen gelassen, was Sie nicht angepackt,
sondern wie heiße Eisen haben fallen lassen,


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Es ist doch Ruhe an der Mietfront!)


endlich vernünftig gelöst.

(Beifall bei der SPD)


Ich bin meiner geschätzten Kollegin Margot von
Renesse sehr dankbar dafür, dass sie noch etwas gesagt
hat zur Ausgewogenheit. Ja, der Gesetzentwurf der Re-
gierung ist ausgewogen. Er ist ein fairer Interessen-
ausgleich zwischen Vermietern und Mietern.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Ein klarer Systembruch!)


Das hindert das Parlament natürlich nicht daran, in der
Feinabstimmung in dem einen oder anderen Punkt durch-
aus noch andere Akzente zu setzen. Schließlich entschei-
det das Parlament, und diese Entscheidung sollten wir uns
als Parlamentarier durchaus vorbehalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kernbestandteil des sozialen Mietrechts – ich betone,
des sozialen Mietrechts, und schaue dabei ganz bewusst
nach rechts – ist neben dem Kündigungsschutz das Ver-
gleichsmietensystem. Beides wird in diesem Gesetz-
entwurf nicht nur erhalten, sondern durchaus gestärkt,
und das ist richtig. Dass wir nebenbei mit der Mietrechts-
reform zusätzlich umweltpolitische Fortschritte erzielen,
darüber sind wir Sozialdemokraten besonders froh. Damit
werden Vorstellungen unserer Partei auch im Rahmen des
Mietrechts umgesetzt.


(Beifall bei der SPD)

Ich erspare mir und vor allen Dingen Ihnen, dass ich

noch einmal auf die wichtigsten Veränderungen eingehe
– das haben die Frau Ministerin und andere aus der Ko-




Margot von Renesse
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(A)



(B)


alition bereits hinreichend getan –, will aber dennoch ei-
nige Anmerkungen machen, zunächst zum F.D.P.-Ent-
wurf.


(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Der hier gar nicht zur Debatte steht!)


– Das macht nichts, Herr von Stetten. Ich wundere mich
an diesem Punkt über Ihren Zwischenruf. Wenn Sie sagen,
ich rede nicht zur Sache, sollten Sie sich an Ihren eigenen
Redebeitrag erinnern. Darüber könnten wir sicher ein
bisschen länger reden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jedem das Seine!)


In der letzten Dabatte zum Wohngeld- und Mietenbe-
richt hat Herr Funke mit hinreichender Deutlichkeit klar
gemacht, wohin der Kurs der F.D.P. beim Mietrecht geht.
Er hat gesagt: Wir wollen den Markt entscheiden lassen,
auch bei Wohnungen und Mieten.


(Rainer Funke [F.D.P.]: Immer noch richtig! – Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Typisch F.D.P.!)


– Typisch F.D.P.! – Da fehlt etwas. Diese einseitige For-
mulierung ist natürlich mit dem Grundgedanken der so-
zialen Marktwirtschaft nicht vereinbar. Ich könnte erin-
nern an die Entgegnung von Herrn Pofalla, der sehr schön
deutlich gemacht hat, wieso Sie die Vermieterseite in
Ihrem Gesetzentwurf einseitig massiv bevorteilen.

Sie reden immer von Zweiseitigkeit, aber Ihr Gesetz-
entwurf entspricht dieser Ankündigung nicht. Sie höhlen
den Kündigungsschutz aus. Bei der Umwandlung lassen
Sie der Spekulation ein weites Feld. Ich nenne außerdem
den Wegfall der Kappungsgrenze und die Streichung des
§ 5 Wirtschaftsstrafgesetz. Damit wird dem Missbrauch
natürlich Tür und Tor geöffnet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie Sie mit dem sozialen Gut Mietwohnung umgehen,
zeigt eine Form des Liberalismus, wo mindestens die
Silbe „Neo“ vorgesetzt werden müsste.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Herr Goldmann von der gleichen Augenhöhe von
Vermietern und Mietern spricht, dann muss ich dazu sa-
gen, Ihr Gesetzentwurf bewirkt, dass der Blick des Mie-
ters höchstens auf die Kniescheibe des Vermieters gerich-
tet werden kann.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zwei Punkte sind in der Vergangenheit öffentlich dis-
kutiert worden. Zum einen betraf das die Senkung der
Kappungsgrenze auf 20 Prozent, einheitlich in ganz
Deutschland. Es ist heute hinreichend angesprochen wor-
den, warum dies ein ganz wichtiger Bestandteil dieses Ge-
setzes sein muss.


(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Warum?)


Zum anderen ist die Modernisierungsumlage, die
jetzt wieder auf 11 Prozent angesetzt werden soll, kritisch
diskutiert worden. Ich sage Ihnen ehrlich, dass dieser
Punkt bei mir nicht gerade Begeisterungsstürme auslöst.
Aber unter dem Strich muss man sagen – Stichwort: Aus-
gewogenheit; Stichwort: Notwendigkeit, bei Vermietern
eine hinreichende Investitionsbereitschaft zu schaffen –,
dass man die Regelung in dieser Form hinnehmen kann.

Selbstverständlich wird der Gesetzentwurf Verände-
rungen erfahren. Das ist ein ganz normaler parlamentari-
scher Vorgang. Ich wundere mich immer, wenn in dem
Zusammenhang von Nachbesserung gesprochen wird.
Mit diesem Begriff entwerten wir unsere parlamentari-
sche Arbeit. Veränderungen sind eine Selbstverständlich-
keit. Ich habe aus den Reden der Opposition herausgehört
– ich habe mich übrigens über das ausdrückliche Lob der
PDS heute Morgen sehr gefreut –,


(Rainer Funke [F.D.P.]: Ihr zukünftiger Koalitionspartner!)


dass es durchaus eine Bereitschaft gibt, an diesen Verän-
derungen mitzuarbeiten.

Ich möchte noch auf einige bedenkenswerte Punkte
hinsichtlich der sozialen Schutzfunktion eingehen, die
eindeutig gestärkt werden soll.

Asymmetrische Kündigungsfristen:Wir halten es für
durchaus vertretbar, dass die Kündigungsfrist auf der
Mieterseite drei Monate beträgt. Man sollte prüfen, wel-
che Kündigungsfrist auf der Vermieterseite gelten soll.
Ich glaube, dass eine Kündigungsfrist von zwölf Monaten
ein bisschen weit weg von der Lebenswirklichkeit ist. Ich
kann mir vorstellen, dass wir in diesem Punkt zu einer Lö-
sung kommen, die den Mobilitätsansprüchen der Miete-
rinnen und Mieter gerecht wird.

Qualifizierter Mietspiegel: Der entsprechende Vor-
schlag aus dem Bundesrat ist durchaus vernünftig. Damit
wird sichergestellt, dass es keine Möglichkeit der Blo-
ckade durch eine der beteiligten Parteien gibt. Dieser Vor-
schlag ist also akzeptabel.

Kündigungssperrfrist:Das ist besonders ein Problem
in Städten wie zum Beispiel Hamburg und München. Wir
halten den im Kabinettsentwurf enthaltenen Vorschlag
dazu für deutlich vernünftiger als den Vorschlag des Bun-
desrates. Es gibt ja noch eine Anhörung, bei der über die-
sen Punkt gesprochen werden kann. Es geht auch um die
notwendige Klarstellung in Bezug auf den Nachweis ei-
ner Ersatzwohnung. In diesem Punkt müssen wir noch um
eine präzisere Formulierung ringen.

Zerrüttungskündigung:Dieser Begriff ist zwar sozu-
sagen ein Kampfbegriff. Aber es ist nicht die Absicht des
Gesetzentwurfes, Situationen herbeizuführen, die dieser
Begriff nahe legen könnte. Wir werden sicherlich diesen
Punkt klar und unmissverständlich formulieren, um vor
allem die vonseiten des Deutschen Mieterbundes
geäußerten Sorgen aus der Welt schaffen zu können. Ich
denke, das ist durchaus möglich.

Bei der Regelung bezüglich der Zeitmietverträge gibt
es die Forderung, dass der Begriff „wesentliche Instand-
setzung“ präziser gefasst werden soll, um die Mieter zu
schützen. Ich glaube, dies ist ein vernünftiger Vorschlag.




Wolfgang Spanier

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(C)



(D)



(A)



(B)


Ein letzter Punkt: Schönheitsreparaturen. Es wäre
wünschenswert, wenn wir entsprechende Regelungen im
Mietrecht unterbringen könnten. Ich habe mir aber von
den Fachleuten – in diesem Fall: von den Juristen – sagen
lassen, dass es sehr schwierig wird. Auch der Vorschlag
des Bundesrates hat seine Tücken. Wir müssen ernsthaft
prüfen und überlegen, wie wir diesen Punkt be-
rücksichtigen können. Ich denke, das ist eine vernünftige
Absicht.

Ein Ziel bei der Erarbeitung des Entwurfes war es, für
dieses Gesetz eine verständliche und moderne Sprache zu
finden. Das freut einen, besonders einen bekennenden
Deutschlehrer.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will nicht abstreiten, dass Erfolge erzielt worden sind.
Aber ich glaube, man sollte diesen Gesetzentwurf auch
aus sprachlicher Sicht mit ein bisschen Sensibilität über-
arbeiten. Ich bringe Ihnen einfach einmal ein Beispiel.

In § 543 BGB – „Außerordentliche fristlose Kündi-
gung aus wichtigen Grund“ –, wo es zum Beispiel um den
Rückstand von zwei Monatsmieten geht, heißt es: „Die
Kündigung ist ausgeschlossen, wenn der Vermieter vor-
her befriedigt wird.“


(Heiterkeit)

Gemeint ist, dass der Mieter die Mietschulden bezahlen
soll. Ich möchte auf mögliche Assoziationen hier nicht
näher eingehen; aber ich denke, dieser Sprachgebrauch ist
überholungsbedürftig.

Zusammenfassend will ich sagen: Für uns ist diese Re-
form des Mietrechts mit Veränderungen, wie ich sie an-
gesprochen habe, ein ganz wesentlicher wohnungspoliti-
scher Fortschritt. Von daher hoffen wir, dass wir, wie Frau
Ministerin es eingangs gesagt hat, den Gesetzentwurf in
den Fachausschüssen zügig beraten können. Ich hoffe,
dass die Mitarbeit der Opposition ein bisschen weiter
geht, als Herr von Stetten es in seinem Beitrag heute hier
angedeutet hat. Dann glaube ich, dass wir nach – wie viele
Jahre ist es her, seit der Bundestag den Auftrag zur Re-
form gegeben hat?, ich glaube, 27 Jahre – mehr als einem
Vierteljahrhundert endlich das Mietrecht modernisieren
und an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1413401900
Ich schließe die Aus-
sprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 14/4553 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Der deutschen Außenpolitik wieder Einfluss ge-
ben

– Drucksache 14/4383 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Volker Rühe, CDU/CSU-Fraktion.


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1413402000
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Die Vertiefung und Erweiterung
der Europäischen Union, der Ausbau der transatlantischen
Partnerschaft, die dauerhafte Befriedung des Balkans, der
Stabilitätstransfer in den postsowjetischen Raum sowie
ein weltweiter Einsatz für Frieden, Demokratie und Men-
schenrechte, die Herausforderungen der Globalisierung –
das alles erfordert von unserem Land eine kraftvolle und
kreative Außenpolitik, die Einfluss und Gewicht hat, die
eine strategische Perspektive entwickelt und sich nicht in
taktischer Geschmeidigkeit erschöpft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich gehe davon aus, dass der Außenminister sein Er-
scheinen noch realisieren kann.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da ist er! Wenn Sie so häufig da wären wie der Außenminister, dann wäre es besser!)


– Da ist er. Herzlich willkommen! Er kommt gerade recht-
zeitig für das wenige Lob, das ich der Bundesregierung
zollen möchte.

So wurden viele Grundlinien von der vorherigen Bun-
desregierung übernommen,


(Lachen des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


die von Rot-Grün zu deren Oppositionszeiten noch heftig
bekämpft wurden, beispielsweise der Einsatz auf dem
Balkan. Es ist gar keine Frage, dass es eine Leistung der
neuen Bundesregierung war, dass es hier nicht zu einem
Bruch in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ge-
kommen ist.

Aber nach zwei Jahren rot-grüner Regierung hat
Deutschland an Einfluss und Vertrauen verloren


(Uta Zapf [SPD]: Genau das Umgekehrte ist passiert!)


und Glaubwürdigkeit eingebüßt. In der Frage der Ost-
erweiterung hat Deutschland seine Lokomotivfunktion,
die wir unter Bundeskanzler Kohl und seiner Bundesre-
gierung noch hatten, leider aufgegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wichtigen strategischen Fragen wird ausgewichen oder
sie werden gar tabuisiert, sobald sie zu einer Belastung
des rot-grünen Bündnisses zu werden drohen.




Wolfgang Spanier
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(C)



(D)



(A)



(B)


Die Agenda der deutschen Außenpolitik hat sich dra-
matisch verengt. Wesentliche Weltregionen, aber auch
eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den globalen He-
rausforderungen bis hin zur Bekämpfung von Armut und
ansteckenden Krankheiten werden vernachlässigt.


(Uta Zapf [SPD]: Das ist doch nicht wahr, Herr Rühe!)


Auch international gegebene Versprechen wurden ge-
brochen. Der Entwicklungsetat für dieses Jahr wurde um
8,7 Prozent gekürzt. Inzwischen ist ein Punkt erreicht, an
dem es immer schwerer fällt, signifikante Beiträge zur
Entwicklung in Partnerländern zu leisten. Dafür trägt die
rot-grüne Bundesregierung die Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Meine Damen und Herren, fristgerecht zum Parteitag
der Grünen Ende 1998 wurde die NATO-Nukleardoktrin
infrage gestellt. Seitdem herrscht ostentatives Desinte-
resse an weltweiter nuklearer Abrüstung und an Nichtver-
breitung von Massenvernichtungswaffen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie kriegen das wohl alles nicht mehr richtig mit, Herr Rühe!)


Der Außenminister hat es nicht einmal nötig, nach New
York zur Überprüfungskonferenz im Zusammenhang mit
dem Nichtverbreitungsvertrag zu gehen. Ich meine, das
ist ein besonders trübes Kapitel der neuen Bundesregie-
rung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das freizügige Schwingen der Moralkeule gegenüber

kleinen Staaten wie zum Beispiel Österreich passt nicht
zum weit gehenden Stillschweigen gegenüber massiven
russischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetsche-
nien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die außenpolitischen Debatten in Bonn zu der Zeit, als
noch Klaus Kinkel Außenminister war, waren häufig von
einem rot-grünen Menschenrechtsfundamentalismus ge-
prägt. Allen voran ging hier mit sich überschlagender
Stimme der jetzige Außenminister. Dies ist besonders er-
bärmlich, wenn man sieht, dass heute fast schon ein Fun-
damentalismus der Realpolitik gepflegt wird, Herr
Fischer.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Was die Europapolitik, insbesondere die Erweiterung
der EU, betrifft, so war Deutschland früher eine Loko-
motive. Heute ist der Dampf ziemlich heraus. Zum Teil
wird der Erweiterungsprozess sogar gezielt verzögert.
Herr Minister, in Warschau die Beschleunigung der Ver-
handlungen zu fordern und gleichzeitig die eigenen Be-
amten in Brüssel anzuweisen, die Agrarverhandlungen bis
in das nächste Jahr hinauszuzögern, das, finde ich, ist
doppelzüngig und macht die deutsche Europapolitik un-
glaubwürdig.

Die Erweiterung der Europäischen Union liegt in un-
serem ureigenen Interesse. Deshalb brauchen wir eine zü-
gige, aber auch eine realistische Erweiterung. Der strate-
gische Ansatz muss sein, die Europäische Union auf dem
Gipfel in Nizza so zu reformieren, dass sie erweitert wer-
den kann. Sie muss zügig so erweitert werden, dass sie da-
nach weiter vertieft werden kann. Man kann daher nicht
erst auf eine maximale Erweiterung drängen und am
nächsten Tag Finalitätsreden über die maximale Vertie-
fung der Europäischen Union halten.

Einen der Fehler, die der Außenministers in diesem Zu-
sammenhang immer wieder macht, konnte man auch in
den letzten Tagen sehen: Er hat die Direktwahl des Kom-
missionspräsidenten gefordert, während die französi-
schen Freunde gerade dabei sind, die in dieser Woche an-
stehenden Hausarbeiten zu erledigen. Manchmal erinnert
Herr Fischer im Zusammenhang mit der europäischen Po-
litik an einen Hans Guckindieluft: den Blick weit auf die
Finalität gerichtet, aber stolpernd über die Aufgaben, die
jetzt geregelt werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Man kann die Beitrittsverhandlungen nicht auf zwölf

Staaten ausweiten, die Türkei noch draufsatteln, sie zu-
gleich zu einem anstößigen Sonderfall erklären, darüber
hinaus den Ländern der Balkanregion eine Beitrittsper-
spektive eröffnen – also maximale Erweiterung – und
gleichzeitig von einer europäischen Föderation sprechen.
Eine maximale Erweiterung und eine maximale Vertie-
fung passen nicht zusammen. Ich nenne das Verhalten,
diese beiden Ziele gleichzeitig zu verfolgen, eine Lebens-
lüge der rot-grünen Europapolitik, Herr Außenminister.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Deswegen ist zu fragen: Was muss geschehen? Wir
sollten in der Gruppe der zwölf Beitrittsländer wieder
stärkere Differenzierungen vornehmen –lesen Sie einmal
das jüngste Buch von Helmut Schmidt nach, falls Sie mir
nicht glauben! –,


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kommen sehr spät in der Diskussion an!)


und zwar nicht willkürlich, indem man sich einzelne Staa-
ten herauspickt, sondern indem man den Verhandlungs-
zeitraum auf Ende 2002 begrenzt, wie es jetzt die Kom-
mission vorgeschlagen hat und wie wir das schon seit
geraumer Zeit vertreten, damit die EU zügig um eine klei-
nere Gruppe von Staaten erweitert wird, nämlich um die-
jenigen, die zu diesem Zeitpunkt die notwendigen Voraus-
setzungen erfüllen. Ich fordere die Bundesregierung auf,
sich hinter diese Vorstellungen der Kommission zu stel-
len. Das macht es dann auch möglich, die Vertiefung der
Europäischen Union durch eine Ausarbeitung eines
Verfassungsvertrages und eine klare Kompetenzabgren-
zung zwischen der europäischen und der nationalen
Ebene fortzusetzen. Dafür muss auf dem Gipfel in Nizza
ein Zeitplan festgelegt werden.




Volker Rühe

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(D)



(A)



(B)


Das für einen ersten Abschluss der Verhandlungen fest-
zulegende Datum sollte nicht zu lange hinausgezögert
werden. Herr Fischer, auch Sie haben sich daran beteiligt,
dieses Datum immer weiter in die Zukunft zu verschie-
ben. Der ungarische Außenminister hat ja nicht ohne
Grund gesagt, Ungarn sei jeweils fünf Jahre davon ent-
fernt, Mitglied der Europäischen Union zu werden. 1995
habe man gesagt, dies solle im Jahre 2000 erfolgen. Im
Jahre 1998 habe man von 2003 gesprochen. Jetzt sprechen
manche – auch Sie – von 2005. Das fördert nicht die
Glaubwürdigkeit. Je länger wir dieses Datum hinaus-
schieben, umso unglaubwürdiger werden wir und umso
größer wird die Gruppe, die aufgenommen werden soll.
Ich glaube, dass das eher eine schwierige Last für die Eu-
ropäische Union sein wird.

Vieles von dem Unbehagen über die Erweiterung hängt
auch damit zusammen, dass man auf maximale Erweite-
rung – plus Türkei – drängt, ohne Antworten darauf zu
geben, wie die EU eine solche Entwicklung politisch, fi-
nanziell und institutionell verkraften wird.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann sagen Sie uns das mal!)


Hinzu kommt, dass – leider auch immer mehr in Deutsch-
land – fast ausschließlich über die Probleme und viel zu
wenig über die Chancen der Erweiterung, gerade auch
für unser Land, gesprochen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sagen Sie das mal Herrn Stoiber und der CSU!)


Deswegen sage ich: Es gibt einen Mangel an politi-
scher Führung in diesem Land. Das hätte unter der Vor-
gängerregierung anders ausgesehen.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Kohl!)

– Natürlich, Bundeskanzler Kohl hat die Chancen aktiv
vertreten, ob es um den Euro oder die Erweiterung der
Europäischen Union ging. Das ist es, was ich Ihnen vor-
werfe: Mangel an politischer Führung, um diesen Prozess
auch mehrheitlich abzusegnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer braucht Führung? Ihre Fraktion braucht die!)


– Ich freue mich, dass Sie aufwachen, Herr Kollege.
Nur wenn immer wieder die Chancen der Erweiterung

dargestellt und verständlich gemacht werden, können
wir auch damit rechnen, dass die Zustimmung in der Be-
völkerung wächst. Europa ist angesichts der globalen
Herausforderungen und der Aufgaben, die auf unserem
Kontinent zu bewältigen sind, mehr denn je auf eine part-
nerschaftliche, enge und vertrauensvolle Zusammen-
arbeit mit den USA angewiesen.

Wir müssen die Partnerschaft zwischen Europa und
den USA zum entscheidenden Faktor bei der Gestaltung
der globalen Entwicklungen ausbauen. Was das deutsch-
französische Tandem in den letzten Jahrzehnten für die In-
tegration Europas geleistet hat, muss nach unserer Über-
zeugung künftig das europäisch-amerikanische Tandem

für die Schaffung einer freiheitlichen, solidarischen und
friedlichen Weltordnung leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)


Deshalb muss die Bundesregierung endlich die Initia-
tive für eine gemeinsame Strategie ergreifen und erläu-
tern, mit welchen Zielen und Mitteln Europäer und Ame-
rikaner den globalen Risiken wie der Proliferation von
Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln, der Unter-
entwicklung und der Umweltbelastung begegnen können.
Denn hier stehen wir Europäer zusammen mit den Ame-
rikanern aufgrund unseres wirtschaftlichen und technolo-
gischen Potenzials in einer besonderen Verantwortung.

Wir müssen aber feststellen, dass in dieser Bundesre-
gierung wichtige strategische Fragen des transatlanti-
schen Verhältnisses nicht entsprechend ihrer politischen
Bedeutung behandelt werden, sondern sie werden jeweils
auf das verengt, was eine rot-grüne Belastungsprobe hier
zu Hause gerade noch zulässt. Ich will einige Beispiele
dafür nennen:

Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ist notwendig, um zu einer echten transatlantischen Las-
tenteilung zu kommen. Die Amerikaner aber messen uns
zu Recht an unserem Handeln und nicht an Versprechun-
gen. Es gibt viel Kritik daran, dass die Europäer nur reden
und nicht handeln.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Jahre geschlafen!)


Wenn es eine echte europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik geben soll, müssen die Verteidi-
gungshaushalte in Europa abgestimmt werden. Wir müs-
sen uns auch die Fragen stellen: Welche europäischen
Fähigkeiten brauchen wir? Was ist der deutsche Beitrag
dabei? Welche Finanzmittel sind dafür nötig? Dieser Bei-
trag muss von den europäischen Aufgaben und Fähig-
keiten und darf nicht nur von der Kassenlage bestimmt
sein. Das muss europäisch konzertiert werden. Wir müs-
sen feststellen, dass die Dinge, die notwendig sind, immer
noch nicht oder nicht ausreichend finanziell abgesichert
sind.

Ich halte es im Übrigen für ein großes Dilemma – das
ergibt sich aus dem, was man mit Rot-Grün diskutieren
kann und was nicht –, dass man über eine Truppenstärke
von 200 000 Mann spricht, aber keine Diskussion darüber
stattfindet, in welchen Szenarien diese Truppe eingesetzt
werden soll.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Natürlich gibt es das! Haben Sie wieder nicht mitgekriegt! Sie kriegen überhaupt nichts mehr mit! Merken Sie nicht, dass Sie nichts mitkriegen?)


– Sind Sie sich da sicher? – Wie weit reicht eigentlich der
Konsens unter den Europäern darüber, für welche Aufga-
ben eine solche Truppe eingesetzt werden soll?

Mein zweites Beispiel ist die NATO-Erweiterung.
Wir haben sie begonnen; das ist ein großer Erfolg. Das
können Sie bis hin zur NATO-Parlamentarierkonferenz in
diesen Tagen in Berlin spüren. Es ist ein ganz großer Er-




Volker Rühe
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(C)



(D)



(A)



(B)


folg unserer Politik, dass die Polen, die Ungarn und
Tschechen ganz selbstverständlich dabei sind. Das war
ein richtiger Schritt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben dieses Projekt am Anfang, Herr Außenminister,
ohne die USA oder sogar gegen sie vorangetrieben. Es ist
durchaus eine Ironie der Geschichte, wenn man sieht, wie
wenig Spielraum Sie sich geben. Dieser Prozess muss
weitergeführt werden.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn: Polen gegen die USA!)


Neun Kandidatenländer haben sich getroffen und den
Wunsch geäußert, im nächsten Schritt zusammen auf-
genommen zu werden. Wie ist die Haltung der Bundesre-
gierung dazu? Soll sich dieser Öffnungsprozess möglichst
deckungsgleich mit dem Öffnungsprozess in der Europä-
ischen Union vollziehen oder eher komplementär? Sollen
wir zuerst diejenigen aufnehmen, die aufgrund ihrer wirt-
schaftlichen Situation keine Chance haben, Mitglied der
Europäischen Union zu werden?


(V o r s i t z: Dr. h. c. Vizepräsident Rudolf Seiters)


Dazu gibt es keinerlei Aussage der Bundesregierung.
Warum? Weil die Grünen gegen die Osterweiterung der
NATO waren.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da denkt man, es kommt konzeptionelle Außenpolitik! Aber nichts als Luftblasen!)


Deswegen sage ich Ihnen: Bei strategischen Perspektiven
der Bundesregierung herrscht Fehlanzeige, weil Sie nicht
die Kraft aufbringen, eigene Vorschläge zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist absoluter Unsinn!)


Jetzt bestreitet Herr Fischer sogar, dass Sie gegen die
Osterweiterung der NATO gewesen sind. Sie haben nicht
einmal den Mut gehabt, damals auf Ihrem Parteitag gegen
die falsche Politik der Grünen anzutreten. Auch die Sozi-
aldemokraten haben die Osterweiterung am Anfang re-
serviert aufgenommen.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren bei den Abstimmungen nicht dabei!)


Drittes Beispiel: Raketenabwehr. Auch dieses Thema
wird von der Bundesregierung tabuisiert.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413402100
Herr Kol-
lege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Irmer?


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1413402200
Bitte schön, Herr Kollege.

(Gernot Erler [SPD]: Sie sind doch gleich dran, Herr Irmer!)



Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1413402300
Das passt jetzt so schön hier
rein.

Herr Kollege Rühe, Sie haben mit Recht darauf hinge-
wiesen, dass die Grünen gegen die Osterweiterung der
NATO waren. Ist Ihre Erinnerung so gut, dass Sie noch
wissen, dass die Grünen in der Vergangenheit generell ge-
gen die NATO waren, dass sie noch vor wenigen Jahren
die Auflösung der NATO verlangt haben und sie in die
OSZE überführen wollten?


(Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1413402400
Geschichtlich ist das
richtig, aber man soll niemanden beschimpfen, wenn er
einen Lernprozess vollzieht. Jetzt geht es darum, die Ost-
erweiterung voranzutreiben. Ich stelle fest: Es gibt kei-
nerlei Initiative der Bundesregierung in diesem Bereich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413402500
Herr Kol-
lege Rühe, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, dieses
Mal vom Kollegen Lippelt?


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1413402600
Das geht nicht von meiner
Redezeit ab?


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413402700
Nein, das
geht nicht von Ihrer Redezeit ab.


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1413402800
Gut.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413402900

Da Sie sich immer auf die Vergangenheit beziehen
müssen, um gewisse Ideologien aufrechtzuerhalten – ich
weiß, Sie können noch weiter in die Vergangenheit
zurückgehen –, möchte ich Sie fragen, ob Sie bei der Ab-
stimmung dabei gewesen sind? Wissen Sie zum Beispiel,
dass eine namhafte Riege der Grünen der Erweiterung
zugestimmt hat? Ist Ihnen das Abstimmungsverhältnis
noch bekannt? Sie können gerne einwenden, es hätten
nicht alle zugestimmt. Aber wissen Sie, wie die Mehrheit
gestimmt hat?


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1413403000
Herr Kollege, ich gehöre
nicht Ihrer Partei an, also war ich bei der Abstimmung auf
dem Parteitag nicht dabei. Aber eine zuverlässige Be-
richterstattung der Medien hat mich darüber informiert,
dass die deutliche Mehrheit dagegen gestimmt und auch
der jetzige Außenminister nicht für die Erweiterung
gekämpft hat.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nicht von einem Parteitag gesprochen, sondern von einer Abstimmung hier!)


Wir sind jetzt beim Thema „Raketenabwehr“.

(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Volker Rühe

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(C)



(D)



(A)



(B)


Das Thema ist mindestens genauso unangenehm für Sie.
Es ist ein Thema, das wir nicht tabuisieren dürfen. Es wird
auch unabhängig davon, wer einmal amerikanischer
Präsident sein wird – irgendwann wird sich das entschei-
den –, auf der Tagesordnung bleiben.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können ja mal nachhelfen!)


Was das Alaska-Projekt angeht, so ist die Diskussion über
dieses Thema von Präsident Clinton vernünftigerweise
zurückgestellt worden. Aber wenn wir Europäer mehr als
bisher auf den Meinungsbildungsprozess in den USAEin-
fluss nehmen wollen, dann müssen wir zu einer ein-
heitlichen europäischen Position finden.

Es ist besonders unglaubwürdig, wenn gerade die Grü-
nen in der Vergangenheit die Haltung, die Aufrechterhal-
tung des Friedens sei nur durch Abschreckung zu ge-
währleisten – dies war mit der Drohung verbunden,
notfalls die Welt mit Nuklearwaffen in die Luft zu spren-
gen; eine fragile Grundlage für die Aufrechterhaltung des
Friedens –, moralisch hinterfragt haben.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun Ihre Parteikollegen inzwischen auch!)


Ich sage Ihnen: Wir brauchen auch in Zukunft Ab-
schreckung. Aber wenn es heute eine Chance gibt, die
Abschreckung – neben der Prävention – durch ein Ele-
ment der Verteidigung zu ergänzen, dann kann man dies
nicht von vornherein ablehnen,


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zum ABM-Vertrag! Das ist interessanter!)


sondern dann muss man eine einheitliche europäische Po-
sition finden. Ich habe vor kurzer Zeit mit dem französi-
schen Verteidigungsminister gesprochen. Es wird ja im-
mer wieder gesagt, die Franzosen würden uns behindern.
Hier gibt es sehr wohl eine Bereitschaft, europäische Ele-
mente der Verteidigung auch für den Mittelmeerraum als
einen Schutz für Europa zu prüfen. Dafür müssen mittel-
fristig Finanzmittel vorgesehen werden. Wir müssen
darüber nachdenken, wie man Abschreckung und Vertei-
digung vernünftig miteinander verbinden kann. Dies
muss allerdings international eingebettet sein und unter
Vermeidung von neuen Risiken geschehen, beispiels-
weise einer neuen Rüstungsdynamik wie etwa in Asien.

Ebenso muss geprüft werden, ob durch amerikanische
und europäische Initiativen für einen solchen Schutz nicht
eine wirklich umfassende Abrüstung auf wenige Hundert
Sprengköpfe möglich ist. Das ist wirklich ein zentrales
Versagen:


(Uta Zapf [SPD]: Eben nicht!)

Es gibt keinerlei deutsche Abrüstungsinitiativen. Es
muss möglich sein, die Rolle der Nuklearwaffen in der
Zukunft neu zu definieren. Wir müssen uns dabei auf die
Aufgabe beschränken, andere vom Einsatz nuklearer

Waffen abzuhalten; das ermöglicht in der Tat die Rück-
führung auf wenige Hundert Systeme.

Ihre Taktik, bei dieser Frage wegzutauchen, weil in
Rot-Grün darüber nicht diskutiert werden kann, keinerlei
strategische Perspektive zu eröffnen, keinerlei Abrüs-
tungsinitiativen vorzulegen und keine Bereitschaft zu
zeigen, eine aktive europäische Politik zu führen, um aus-
zuloten, in welcher stabilitätsfördernden Weise man Ab-
schreckung mit Verteidigung verbinden kann, ist es, was
wir Ihnen vorwerfen, Herr Bundesaußenminister Fischer.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie einmal etwas zur Nonproliferation!)


Was den Balkan betrifft, unterstützen wir die demo-
kratische Entwicklung in Serbien nachdrücklich. Es war
gut, dass Präsident Kostunica wichtige Gesten im Hin-
blick auf die Amnestie gemacht hat, dass er auch ein Wort
des Bedauerns angesichts der schrecklichen Massaker ge-
funden hat. Denn eines ist richtig: Ohne die Wahrheit über
die Vergangenheit kann es keine gute Zukunft mit den
Nachbarn geben.

Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, über den künftigen Sta-
tus des Kosovo zu entscheiden. Aber, liebe Kolleginnen
und Kollegen, was wir dort endlich brauchen, ist ein poli-
tischer Prozess. Es geht nicht nur eine humanitäre Inter-
vention. Dieses Land wird praktisch von der NATO, der
EU und den Vereinten Nationen regiert. Schon viel zu
lange befinden sich unsere Soldaten dort, ohne dass dies
durch einen politischen Rahmenprozess begleitet wird.


(Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU] Soldaten anstelle von Politik – das ist eine Situation, die wir (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie aus Ihrer Zeit gut kennen!)


den Soldaten auf Dauer nicht zumuten dürfen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen brauchen wir energische Schritte in Richtung
eines politischen Prozesses.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir von Jahr zu Jahr oft genug gehört!)


Ich halte das Gerede „Wir müssen zehn Jahre dort blei-
ben“ einfach für unverantwortlich. Wir müssen einen
politischen Prozess in Gang setzten, der dann einen ge-
ringeren militärischen Einsatz vor Ort ermöglicht, einen
Prozess, der zu einer nachhaltigen, selbsttragenden Stabi-
lisierung führt, auch um die internationale Präsenz zeit-
lich begrenzen zu können.

Nach den Kommunalwahlen muss es bald zu koso-
voweiten Parlaments- und Präsidentenwahlen kommen.




Volker Rühe
12972


(C)



(D)



(A)



(B)



(Zuruf von der SPD: Da wäre ich ein bisschen vorsichtig!)


Ich denke, ein gewähltes Parlament im Kosovo wäre der
richtige Ort für die Debatten über die künftige Entwick-
lung im Kosovo. Es geht um die Realisierung der
substanziellen Autonomie innerhalb Jugoslawiens, bei-
spielsweise in Form einer Teilrepublik, wie es mit
Montenegro der Fall ist.

Was Montenegro und Kosovo angeht, würde ich im
Übrigen vorschlagen zu versuchen, die Entwicklungen
politisch parallel zu führen. Falsch ist – das haben wir
auch in Gesprächen mit Bischof Artemije gehört – eine Fi-
nalitätsdiskussion zu führen. Jetzt etwas Abschließendes
vorzuschlagen, etwa im Hinblick auf die völlige Unab-
hängigkeit, wäre kein hilfreicher Beitrag.

Wir müssen aus der Situation herauskommen, in der al-
les nur vom militärischen Beitrag abhängt. Deswegen
drängen wir darauf, einen politischen Prozess in Gang zu
setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon einmal etwas vom Stabilitätspakt gehört?)


– Den Stabilitätspakt haben wir unterstützt.

(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das ist doch der politische Rahmen!)


Ich meine einen politischen Prozess über die Zukunft des
Kosovo, Herr Kollege. Deshalb kann es nicht bei den
Kommunalwahlen bleiben.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben lange in Schleswig-Holstein gesessen!)


Der nächste Schritt muss ein Republikstatus sein, wie es
auch in Montenegro der Fall ist.

Ein Europa ohne Trennlinien zu schaffen, das muss das
Ziel der deutschen und europäischen Russlandpolitik
sein. Aber wir dürfen die zum Teil unterschiedlichen
Vorstellungen nicht unterschätzen. Das russische Vorge-
hen gegen die tschetschenische Bevölkerung und zu-
nehmende Einschränkungen der demokratischen Grund-
freiheiten in Russland sind nur zwei Beispiele für die
unterschiedlichen Vorstellungen von europäischen Grund-
werten und Grundprinzipien. Deshalb muss die Partner-
schaft mit Russland pragmatisch-realistisch auch unter
Einkalkulierung von Rückschlägen betrieben werden.

Partnerschaft heißt im Übrigen auch, wenn nötig, Wi-
derpart zu sein. Das bedeutet, dass auf die Fehlentwick-
lungen, die die Partnerschaft belasten, deutlicher als bis-
her reagiert werden muss. Für mich ist es unglaubwürdig,
wenn man immer die deutsch-französische Freundschaft
beschwört und dann nicht zur Kenntnis nimmt, mit wel-
cher bewundernswerten Klarheit nicht nur die Intellektu-
ellen, sondern auch die Politiker in Frankreich deut-
liche Worte zu den Menschenrechtsverletzungen in

Tschetschenien gefunden haben. Im Vergleich zu dem,
was man in Deutschland dazu gehört hat, ist das für die
deutsche Seite eher beschämend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Klaus Kinkel [F.D.P.])


Wenn man dies mit den fundamentalistischen Einlassun-
gen in der letzten Legislaturperiode vergleicht, ist das
umso schlimmer.

Herr Bundesaußenminister, wir fordern Sie auf, gegen-
über der russischen Seite mit deutlich mehr Nachdruck
darauf zu drängen, eine politische Lösung des Konflikts
herbeizuführen, endlich die OSZE-Zusagen einzulösen
und den humanitären Hilfsorganisationen sowie den Me-
dien einen Zugang zu Tschetschenien zu gewähren. Wenn
Sie mit Rupert Neudeck und anderen dort Engagierten
sprechen, werden Sie erfahren können, dass in diesem
Land die Welt noch völlig vernagelt ist. Es ist Sache der
Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass die schweren
Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt, geahndet und
für die Zukunft unterbunden werden.

Nachdem Präsident Putin kürzlich davon gesprochen
hat, dass der deutsch-russische Dialog die gesellschaftli-
chen Kräfte noch stärker berücksichtigen sollte – also so-
zusagen ein Königswinter in Sankt Petersburg, was eine
gute Idee ist –, erwarten wir, Herr Bundesaußenminister,
dass das nicht nur ein enger Dialog zwischen regierungs-
nahen Kräften wird, sondern dass in diesen Dialog auch
andere einbezogen werden, zum Beispiel die russischen
Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Einhal-
tung der Menschenrechte in Tschetschenien eingesetzt ha-
ben.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zu Ihnen hat der Außenminister das versucht!)


Es muss zu einem Dialog kommen, der diese gesell-
schaftlichen Kräfte mit einbezieht. Es ist mir klar, dass die
Grünen jetzt besonders unruhig sind, weil sie in dieser
Frage in den vergangenen zwei Jahren besonders un-
glaubwürdig geworden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Die Rede ist ja noch schwächer als der Antrag!)


In den kommenden Jahren wird Deutschland zuneh-
mend internationale Verantwortung übernehmen. Dies
fordern unsere Verbündeten, es entspricht aber im Übri-
gen auch unserer Interessenlage. Dazu brauchen wir ein
adäquates Instrumentarium. Stattdessen wird der Aus-
wärtige Dienst aufgrund massiver Haushaltskürzungen,
aber auch wegen mangelnder Reformbereitschaft seinen
Aufgaben immer weniger gerecht. Es besteht die Gefahr,
dass der Stellenwert der Außenpolitik in Deutschland
nicht mehr unserem Interesse entspricht und dass es An-
sätze einer Provinzialisierung gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dem müssen wir uns mit aller Härte entgegenstellen. Wir
haben im Auswärtigen Dienst sehr tüchtige Mitarbeiter




Volker Rühe

12973


(C)



(D)



(A)



(B)


– ich weiß das aus eigener Erfahrung –, die ihre Arbeit in
großartiger Weise machen. Wir schulden ihnen die Un-
terstützung durch die Zentrale, damit sie unsere außen-
politischen Interessen auf der ganzen Welt vertreten kön-
nen.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Der gescheiterte Versuch von Rühe, wieder Einfluss zu gewinnen“ könnte man den Antrag überschreiben!)


Deshalb muss das realisiert werden, was auf der Bot-
schafterkonferenz angekündigt worden ist.

Man kann dem Außenminister durchaus gelegentlich
eine geschmeidige Taktik bescheinigen, das allein ent-
spricht aber nicht den außenpolitischen Interessen unseres
Landes. Wir brauchen auch mutige Perspektiven und mu-
tige Initiativen, damit die deutsche Außenpolitik wieder
ein stärkeres Gewicht bekommt und wir unseren Einfluss
mehren können, um auf internationaler Ebene das durch-
setzen zu können, was im Interesse unseres Landes ist.
Deswegen ist es gut, dass wir nach zwei Jahren rot-grüner
Regierung darüber gesprochen haben,


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie nach zwei Jahren nun wieder hier sind!)


wie Sie sich Verdienste erworben haben, indem Sie einen
Bruch mit den Grundlinien der Außenpolitik der Vor-
gängerregierung vermieden haben. Wichtig ist aber auch,
den Finger auf die Wunde zu legen und aufzuzeigen, wo
Sie hinter dem zurückbleiben, was notwendig wäre, um
die außenpolitischen Interessen unseres Landes interna-
tional gebührend zu vertreten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413403100
Ich gebe das
Wort nunmehr der Kollegin Monika Heubaum von der
SPD-Fraktion.


Monika Heubaum (SPD):
Rede ID: ID1413403200
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Wenn ich die letzten Jahre
der Regierung Kohl mit einem Wort beschreiben sollte,
fällt mir genauso wie vielen Bürgerinnen und Bürgern un-
seres Landes in erster Linie der Begriff „Reformstau“ ein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nachdem ich den Antrag der CDU/CSU zur Außenpolitik
gelesen habe, fällt mir eine ähnlich griffige Bezeichnung
für die Oppositionsarbeit der CDU/CSU ein: Realitäts-
blindheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In dem Antrag zur deutschen Außenpolitik, den diese
Oppositionsfraktion im Oktober der Öffentlichkeit prä-

sentiert hat, ist auf sage und schreibe zehn Seiten nicht ein
neuer Gedanke formuliert.


(Gernot Erler [SPD]: Exakt! – Uta Zapf [SPD]: Woher auch?)


– Ja, woher auch? – In schlechtester Oppositionsmanier
reiht die Union Forderungen aneinander, die komplett
widersprüchlich sind, fordert Initiativen der Bundes-
regierung, die schon lange realisiert worden sind, und
stellt kostspielige Forderungen auf, erklärt aber natürlich
mit keinem Wort, woher das Geld zur Finanzierung kom-
men soll.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Ihr wollt doch regieren! Was fragt ihr uns!)


Nun muss die CDU/CSU-Fraktion aber feststellen, dass
die breite Öffentlichkeit auf solcherlei realitätsblinden
Aktionismus nicht so reagiert, wie sie es erhofft hat. Die
Bevölkerung hat von dem Antrag der CDU/CSU und den
Vorstellungen der Opposition zur deutschen Außenpolitik
kaum Notiz genommen. Im Gegenteil: Die Außenpolitik
der rot-grünen Bundesregierung findet in Deutschland, in
Europa, aber auch weltweit große Aufmerksamkeit und
Anerkennung,


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Aufmerksamkeit, das ist richtig!)


wie erst kürzlich wieder die mehrtägige Reise des Kanz-
lers in den Nahen Osten deutlich gemacht hat.


(Beifall bei der SPD – Gernot Erler [SPD]: Allerdings!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Welt hat
sich im letzten Jahrzehnt gewaltig verändert, vor allem
durch die Beendigung des Kalten Krieges, die die Öff-
nung der NATO und der Europäischen Union nach Osten
nach sich zieht. Dies stellt die Außenpolitik vor große
Herausforderungen, auch in der Entwicklung der transat-
lantischen Beziehungen. Politische Reformen sind in der
Tat notwendig und wir gehen jetzt konsequent die über-
fällige Aufhebung des Reformstaus an, den uns die Re-
gierung Kohl auch in der Außenpolitik hinterlassen hat.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ein Thema, das die Menschen beiderseits des Atlantiks
bewegt, ist die Entschädigung der Zwangsarbeiter.Wir
haben uns, nachdem das Problem jahrzehntelang disku-
tiert wurde, aber weiter nichts geschehen war – also auch
hier Reformstau –, zu unserer moralischen Verantwortung
für die Zwangsarbeiter in der Zeit des Nationalsozialis-
mus bekannt


(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das war Lambsdorff! – Uta Zapf [SPD]: Entschuldigung, er war Beauftragter! Er war nicht Initiator!)


und gesetzliche Voraussetzungen für eine schnelle und
unbürokratische Unterstützung ehemaliger Zwangsar-
beiter geschaffen.


(Beifall bei der SPD)





Volker Rühe
12974


(C)



(D)



(A)



(B)


Genauso wird im Ausland unser Umgang mit Rechts-
radikalismus und rechter Gewalt beobachtet. Das konse-
quente Vorgehen der Bundesregierung gegen den Rechts-
radikalismus ist insofern auch ein wichtiger Punkt auf der
außenpolitischen Tagesordnung. Politische Aktivitäten
wie Absprachen unserer Bundesregierung mit der ameri-
kanischen Regierung zur Bekämpfung rechtsradikaler
Veröffentlichungen im Internet sind in ihrer Bedeutung
nicht zu unterschätzen.


(Beifall bei der SPD)

Im Antrag der CDU/CSU-Fraktion wird festgestellt,

dass die Europäer „mehr denn je auf eine partnerschaftli-
che enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den
USA angewiesen“ sind. Dieser Aussage möchte ich nicht
widersprechen. Unser Verhältnis zu Staaten des amerika-
nischen Kontinents, insbesondere zu den USA und zu Ka-
nada, ist hervorragend. Es gibt ohne jeden Zweifel hier
und da unterschiedliche Standpunkte in Einzelfragen; das
gibt es aber in den besten Beziehungen. Gerade unter
Freunden sollte man unterschiedliche Auffassungen zum
Beispiel zu hormonbehandeltem Rindfleisch oder zu
Lärmstandards für Flugzeuge offen ansprechen, um zu
vernünftigen Lösungen zu kommen. Es gibt jedenfalls
überhaupt keinen sachlichen Grund, das Verhältnis so
problematisch darzustellen, wie dies die Union in ihrem
Antrag versucht.

Die tiefe vertrauensvolle Zusammenarbeit mit unseren
Partnern in Amerika findet auf den verschiedensten poli-
tischen Ebenen statt. So haben wir auf der NATO-Ebene
gezeigt, dass wir auch große politische Krisen wie den
Krieg im ehemaligen Jugoslawien gemeinsam erfolgreich
bewältigen können. Ich denke, die Umsetzung des vom
deutschen Außenminister initiierten Stabilitätspaktes
spricht für sich.

Nun ist die Bundesrepublik Deutschland auch Mitglied
der Europäischen Union. Gerade die EU hat zuletzt mit
dem Mexiko-EU-Abkommen eine wichtige wirtschafts-
und handelspolitische Maßnahme umgesetzt und Libera-
lisierungen vor allem im Dienstleistungssektor ermög-
licht.

Auf bilateraler Ebene ist das transatlantische Verhält-
nis ausgesprochen gut. Wir sind durch gemeinsame de-
mokratische Grundwerte ebenso verbunden wie durch
eine vielfältige gesellschaftspolitische Zusammenarbeit.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auf den hohen
Wert von Austauschprogrammen für Schüler, Studenten,
Berufstätige und Wissenschaftler hinweisen.

Wir sind aber auch bedeutende Handelspartner, selbst
wenn die Opposition das transatlantische Verhältnis
schlecht reden will. 1999 hat die Bundesrepublik Waren
im Wert von mehr als 100 Milliarden DM in die USA ex-
portiert und damit das Ergebnis aus dem Vorjahr um mehr
als 4 Prozent gesteigert und einen Exportüberschuss von
nahezu 30 Milliarden DM erwirtschaftet. Wir sind also
nicht nur in der Außenpolitik erfolgreich. Auch unsere
Wirtschaftspolitik ist vom Feinsten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Exporte der deutschen Wirtschaft in die USA
verzeichnen in den ersten Quartalen dieses Jahres wieder
hohe Zuwachsraten. Unsere Wirtschaft ist, auch dank der
Reformen dieser Bundesregierung, auf dem Weltmarkt
absolut konkurrenzfähig.

In umgekehrter Blickrichtung ergibt sich folgendes
Bild: Gut 1 900 amerikanische Firmenniederlassungen
mit einem Jahresumsatz von mehr als 300 Milliarden DM
beschäftigen etwa 500 000 Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer in unserem Land. Das zeigt mehr als deutlich,
wie gut das Ansehen des Wirtschaftsstandortes Deutsch-
land jetzt ist.


(Beifall bei der SPD)

Unsere Zusammenarbeit mit Kanada ist ebenfalls sehr

gut. Das Volumen des Handels zwischen Deutschland und
Kanada liegt bei 12 Milliarden DM im Jahr. Fortschritte
in den deutsch-kanadischen Wirtschaftsbeziehungen gibt
es beispielsweise durch die Schaffung des „Canada Eu-
rope Business Round Table“, in dessen Rahmen Unter-
nehmen aus Europa und Kanada gemeinsam Vorschläge
zur Erleichterung der Wirtschaftsbeziehungen erarbeiten.

Wir müssen uns trotz der Erfolge im Außenhandel täg-
lich von neuem den Herausforderungen der Globalisie-
rung stellen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialde-
mokraten sind die internationalen Handelsabkommen von
größter Bedeutung; denn nur so können wir einen fairen
und gerechten Welthandel ermöglichen.

Die WTO-Konferenz von Seattle hat leider nicht zu
dem gewünschten Erfolg geführt. Deutschland hat als
eine der größten Wirtschaftsnationen der Welt eine be-
sondere Verantwortung für die Entwicklung der Weltwirt-
schaft und als eine der größten Exportnationen auch ein
großes Eigeninteresse daran, dass im Rahmen von inter-
nationalen Verhandlungen Fortschritte erzielt werden.
Wir treten weiterhin für die Öffnung der Märkte und für
die verbindliche Festlegung von Arbeits- und Umwelt-
standards ein. Nur so können wir ein langfristig stabiles
internationales Wirtschaftswachstum erreichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Politik der Bundesregierung ist glaubwürdig und
berechenbar. Deutschland hat durch seinen klaren außen-
politischen Kurs in der internationalen Staatengemein-
schaft an Vertrauen und Gewicht gewonnen. Unverständ-
lich ist nur, dass die Opposition ohne Not – ich betone:
ohne Not – Konflikte mit der Bundesregierung konstru-
iert, die gar nicht existieren. Außenpolitik ist eigentlich zu
wichtig, als dass man sie für billige innenpolitische Profi-
lierungen missbrauchen sollte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann zusammenfassend nur feststellen: Wir sind
auf dem richtigen Weg!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)





Monika Heubaum

12975


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413403300
Für die
F.D.P.-Fraktion erteile ich dem Kollegen Ulrich Irmer das
Wort.


Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1413403400
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Seit zwei Jahren ist die
deutsche Außenpolitik nunmehr in rot-grüner bzw. fest in
grüner Hand. Das ist, wenn man von den paar Amtsin-
habern absieht, den Grünen nicht gut bekommen; das soll
nicht meine Sorge sein.


(Lachen des Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist aber vor allem der deutschen Außenpolitik nicht gut
bekommen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Das erfüllt mich mit erheblicher Sorge.

Die deutsche Außenpolitik ist, seit sie die Grünen über-
nommen haben, von zwei Tendenzen geprägt: einerseits
von dem Versuch, der Wirklichkeit einigermaßen Rech-
nung zu tragen und sich von einigen ideologischen Posi-
tionen der Vergangenheit zu verabschieden, andererseits
von dem peinlichen Bemühen, den Frust und die Enttäu-
schung der grünen Basis über diese neue Realitätsnähe
permanent durch mehr oder weniger unsinnige Aktionen
zu beschwichtigen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Zur ersten Tendenz möchte ich zwei Beispiele nennen.

Der iranische Staatspräsident Khatami wird, übrigens zu
Recht, in Berlin mit allen Ehren empfangen. Das ist in
Ordnung. Willkommen in der Realität! Wir haben aber
alle noch im Ohr, wie das vor wenigen Jahren klang, als
die alte Bundesregierung eine ähnliche Iranpolitik – auch
zu Recht – betrieben hat und als Sie gar nicht oft genug
den Rücktritt des damaligen Bundesaußenministers Klaus
Kinkel fordern konnten. Vor wenigen Jahren waren wir,
als es um die Militäraktionen bei Friedensmissionen im
Ausland ging, noch die großen Kriegstreiber. „Militarisie-
rung der deutschen Außenpolitik“ war einer der mildesten
Ausdrücke. Im Fall Kosovo aber überboten sich Fischer,
Vollmer und Co mit verbalem Säbelrasseln. Sie haben
selbstverständlich die Bundeswehrsoldaten trotz überaus
dubioser Rechtsgrundlagen in das Feuer geschickt. Recht
so, kann ich nur sagen.


(Beifall bei der F.D.P.)

Hier gilt offensichtlich der Spruch: Die schärfsten Kri-
tiker der Elche sind inzwischen selber welche.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Stichwort „Elch“. Herr Fischer, hören Sie einmal einen

kleinen Moment zu! Sie müssen ja demnächst von
Madeleine Albright Abschied nehmen, mit der Sie immer
so gerne gekuschelt haben. Gehen Sie doch einmal zu
IKEA! Dort gibt es wunderschöne kleine Stoffelche. Kau-
fen Sie ihr einen, schenken Sie ihn ihr!


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben uns doch welche geschenkt, Herr Irmer!)


Sie wird Sie immer in bester Erinnerung behalten. Auch
ich habe ein solches Tier zu Hause; es wurde mir von
einem Freund geschenkt. Es ist viel hübscher und hand-
samer, als Sie es je waren. Madeleine Albright wird ihre
Freude daran haben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Zur zweiten Tendenz der grünen Außenpolitik. Seit Sie

bei Ihrer eigenen Basis als Kriegstreiber verschrien sind
– so widersprüchlich das auch ist –, versuchen Sie mit
aller Gewalt, Ihren Friedenswillen und Ihr Gutmenschen-
tum zu dokumentieren, auch da, wo es völlig unange-
bracht ist. Auch hierzu nenne ich einige Beispiele.

Sie haben den Einsatz der Bundeswehr in Osttimor ver-
anlasst. Da hat uns niemand gerufen, es hat uns niemand
gebraucht. Das hätten die Australier viel besser machen
können. Das war reine Geldverschwendung.


(Beifall bei der F.D.P. – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben deshalb dagegen gestimmt!)


Das Geld wäre besser für den zivilen Aufbau in der Re-
gion ausgegeben worden.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Als zweites Beispiel nenne ich Ihr Verhalten gegenüber

der Türkei. Ich habe es begrüßt, dass der Türkei der Sta-
tus des offiziellen Beitrittsbewerbers zuerkannt wurde.
Das Thema war sehr strittig. Sie aber sind der Türkei,
noch dazu einem NATO-Partner, als es um die Lieferung
von Panzern ging, in einer Weise entgegentreten, als sei
das irgendein Land, das auf unserer Gegenseite stünde,
das man nur mit der Zange anfassen könne. Wie verträgt
sich das mit Ihrer offiziellen Politik in der Frage des Bei-
tritts?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich nenne das unsägliche Beispiel Österreich. Hier ha-

ben Sie klein beigeben müssen. Letzte Woche haben Sie
ganz stolz verkündet, dass Sie mit Österreich Verträge
über eine weltweite Friedensprävention schließen. Jetzt
ist Österreich plötzlich wieder akzeptabel.

Aber wissen Sie eigentlich, welchen Schaden Sie nicht
nur gegenüber dem österreichischen Volk, sondern auch
bei kleinen Ländern – sowohl Ländern innerhalb der Ge-
meinschaft als auch solchen, die der Gemeinschaft beitre-
ten wollen – angerichtet haben? Sie sagen doch alle: So,
wie die Gemeinschaft und die großen Länder mit Öster-
reich umgesprungen sind, kann es uns auch passieren. –
Wo bleibt der Respekt vor kleinen Ländern, vor der de-
mokratischen Entscheidung in solchen Ländern?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Gernot Erler [SPD]: Irmer, der Rächer der Enterbten!)


Wenn uns eine innenpolitische Entwicklung nicht
passt, dann müssen wir versuchen, behutsam darauf ein-
zuwirken, und vielleicht gegensteuern. Aber hier mit dem
Holzhammer zu kommen und gegen Österreich so vorzu-
gehen, wie Sie es getan haben, ist ja wohl unsäglich und
diente lediglich dazu, Ihrer grünen Basis zu zeigen, wie






(C)



(D)



(A)



(B)


unnachgiebig und großartig Sie sich in Menschenrechts-
fragen schlagen.

Bei diesem Spagat, den Sie tagtäglich vollführen, geht
natürlich jeder Ansatz zu konzeptionellem Denken und
Handeln völlig verloren. Das merkt man Ihrer Politik an.
Außer Ihrer Europarede, die Sie ja ausdrücklich als Pri-
vatmann gehalten haben, haben Sie bisher konzeptionell
nichts geboten. Dort, wo Sie konzeptionell zu werden ver-
suchen, lässt dann die praktische Ausführung schwer zu
wünschen übrig, wie sich jetzt durch die Kritik, die an Ih-
rer praktischen Politik im Ausland geübt wird, ganz deut-
lich zeigt. Nur hektische Ad-hoc-Aktivitäten können Sie
an den Tag legen.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Höflichkeit verbietet es mir, jetzt ehemalige Außenminister zu charakterisieren!)


Außenpolitik muss werteorientiert und interessenbezo-
gen sein. Das ist keineswegs ein Widerspruch. Wie alle
Politik dient die Außenpolitik dem Zweck, unseren Bür-
gern Frieden, Sicherheit und Wohlstand zu garantieren.
Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Diese Ziele
der Außenpolitik können natürlich durch gewalttätige
Auseinandersetzungen irgendwo auf der Welt beeinträch-
tigt und bedroht werden. Krisen und Gewalt brechen immer
da aus, wo Menschenrechte oder Minderheitenrechte mit
Füßen getreten werden. Deshalb ist der weltweite Einsatz
für Menschenrechte unmittelbar in unserem eigenen deut-
schen Interesse.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wertepolitik und Interessenpolitik schließen sich nicht
aus. Aber Sie, die Sie die Menschenrechte immer wie eine
Monstranz vor sich her getragen haben, haben ja nicht ein-
mal auf diesem Gebiet irgendeinen Erfolg vorzuweisen.
Wo sind denn die Ergebnisse der Fernethiker und Weltbe-
glücker von einst?


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wo sind sie geblieben?)


Sie haben keinen Konsens der europäischen Partner bei
der China-Resolution der Konferenz der Vereinten Natio-
nen in Genf erreicht. Sie haben in Menschenrechtsfragen
keinen Erfolg in den bilateralen Beziehungen mit der
Volksrepublik China gehabt. Messen Sie einmal das,
was Sie heute vorzuweisen haben, an dem, was Sie der al-
ten Bundesregierung seinerzeit vorgeworfen haben.


(Beifall bei der F.D.P.)

Dann fahren Sie natürlich als Erster nach Moskau,

machen dort dem Präsidenten Putin Ihre Aufwartung,
machen einen Kotau vor Präsident Putin, während
gleichzeitig in Tschetschenien Tausende und Abertau-
sende von Menschen sterben. Ihre Rhetorik – Herr Rühe
hat das vorhin angesprochen – in der letzten Wahlperiode
zum ersten Tschetschenienkrieg, der nicht annähernd so
blutig und grausam war wie der jetzige, ist uns allen noch
im Ohr. Messen Sie sich an Ihren eigenen Worten!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Aber auch da, wo es direkt um deutsche Interessen
geht, ist Fehlanzeige. Als ein Beispiel nenne ich die
Osterweiterung der Europäischen Union. Meine Da-
men und Herren, wo ist denn die Kampagne der Bundes-
regierung zur Aufklärung und Information der Bevölke-
rung darüber, dass dieses Projekt Osterweiterung ganz
direkt in unserem deutschen Interesse liegt, dass niemand
sonst mehr Interesse daran hat als wir?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Dirk Niebel [F.D.P.]: Nichts macht er da!)


Das Handelsvolumen mit diesen Ländern ist schon heute
größer als das mit den Vereinigten Staaten. Hier erschlie-
ßen wir uns doch die Märkte der Zukunft, auf die wir so
dringend angewiesen sind. Sie müssen den Menschen bei
uns die Angst nehmen, dass etwas auf sie zukäme, dem sie
nicht gewachsen wären. Die Osterweiterung bringt uns
nur Vorteile; aber man muss es den Leuten sagen.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.])

Was Sie auch überhaupt nicht bedenken, ist Folgendes:

Die Verzögerungstaktik, die Sie hier betreiben, führt
natürlich zu erheblichen innenpolitischen Problemen in
den beitrittswilligen Ländern. Sie fühlen sich vernachläs-
sigt und an der Nase herumgeführt, wenn man ihnen im-
mer wieder in Aussicht stellt, dass sich bald etwas rühren
werde, sich in Wirklichkeit aber nichts rührt. Ich habe den
Verdacht, dass Sie, weil Sie wissen, wie ängstlich unsere
Bevölkerung diese Dinge betrachtet, in den Verhandlungs-
runden dafür sorgen wollen, dass die eigentlich heiklen
und kritischen Themen vor unserer Bundestagswahl 2002
überhaupt nicht auf die Tagesordnung kommen. In diesem
Punkt müssen wir Tempo anmahnen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das muss jetzt schneller gehen; sonst erleben die bei-
trittswilligen Länder innenpolitische Rückschläge, mit
denen uns überhaupt nicht gedient ist.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kommen Sie denn auf die Idee, dass wir als Partei darunter zu leiden haben?)


Die transatlantischen Beziehungen sind schon ange-
sprochen worden. Es ist doch erstaunlich, dass es gerade
im Bereich der Handelspolitik erhebliche Irritationen
gibt. Die Gefahr des Protektionismus ist nach wie vor
nicht gebannt. Ich warte in dieser Sache ebenso auf Ini-
tiativen der deutschen Bundesregierung wie in den Berei-
chen nukleare Abrüstung, Nichtverbreitung, Teststopp im
Zusammenhang mit dem amerikanischen Raketenab-
wehrsystem NMD.

Wo bleiben – ich nenne nur Stichworte – deutsche
Initiativen? Lateinamerika, Asien, Afrika: Fehlanzeige!
UN-Reform: Nichts! Selbstverständlich wäre ein Sitz im
Sicherheitsrat im deutschen Interesse. Was die Außen-
wirtschaft angeht, ist festzustellen, dass insbesondere der
Mittelstand dringend auf Förderungen durch die Regie-
rung angewiesen ist. Wir warten vergeblich.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)





Ulrich Irmer

12977


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich komme zu Ihrem Vorpreschen in Sachen Nord-
korea. Ehe die Frage der Straflager in Nordkorea nicht
durchleuchtet und nicht geklärt ist, sollten wir meiner
Meinung nach – ich erinnere an die Menschenrechte –
keine Vorleistung erbringen. Nordkorea ist am Zuge; es
muss mehr tun.


(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)


Die deutsche Außenpolitik ist deshalb so desolat, weil
sie sich nicht an den internationalen Notwendigkeiten und
Gegebenheiten, nicht an Werten und auch nicht an deut-
schen Interessen, sondern nur an der innenpolitischen Ak-
zeptanz bei der grünen Klientel orientiert.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist Zeit, dass unsere Außenpolitik wieder in liberale
Hände kommt. Dort ist sie gut aufgehoben.

Danke.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413403500
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Dr. Helmut Lippelt.


Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413403600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Mon-
tag dieser Woche hat die „International Herald Tribune“ mit
einem Foto des Bundeskanzlers aufgemacht. Daneben
konnte man lesen, dass es, nachdem Tony Blair viel von
seiner Ausstrahlung verloren habe, nachdem sich in Paris
Präsident und Ministerpräsident befehdeten und die USA
in der bekannten Krise steckten, unter allen demokrati-
schen Führern dieser Welt der deutsche Bundeskanzler
sei, der Orientierung gebe und Zuversicht ausstrahle.

Sie können anderer Meinung sein; das ist völlig klar.
Man kann über diese Angelegenheit denken, wie man
will. Nur eines geht nicht: Man kann nicht in einen Antrag
schreiben, nach zwei Jahren rot-grüner Regierung habe
die deutsche Außenpolitik an Einfluss verloren. Man kann
dieser Regierung nicht vorwerfen, sie habe die deutsch-
amerikanischen Beziehungen beschädigt, wenn gleich-
zeitig in demjenigen Blatt, das auf diesem Gebiet die Mei-
nungsführerschaft besitzt, zu lesen ist, dass das Gegenteil
zutrifft. Sie können diese Ansicht nicht so einfach auf-
rechterhalten. Wer so urteilt, muss sich im Gegenteil man-
gelnde Lektüre der internationalen Presse und Realitäts-
verweigerung in hohem Grade vorwerfen lassen.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Wer so urteilt, ähnelt einem Mann, der an nordfriesischen
Deichen sitzt, über das weite Watt den ablaufenden Was-
sern nachschaut und immer wieder sagt: Land unter, Land
unter. – Daran haben mich einige Reden erinnert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ich möchte drei Punkte zum Nachweis der Konzepti-
onslosigkeit nennen – nicht dieser Regierung, sondern des
von Ihnen vorgelegten Antrags –:

Erstens. Sie werfen uns mangelnde Glaubwürdigkeit,
fehlende Berechenbarkeit usw. vor. Seit mehr als zehn
Jahren, seit 1989, war klar, dass der Kosovo-Konflikt auf
uns zukommt. Die von Ihnen getragene Regierung und
der von Ihnen getragene Außenminister haben es – unter
anderem in Dayton und bei den anschließenden Normali-
sierungsgesprächen in Belgrad – versäumt, eine präven-
tive Außenpolitik zu betreiben und auf die Krise einzu-
wirken. Das einzige Bestreben der damaligen Regierung
bestand darin, Flüchtlinge – bis in den Krieg hinein –
zurückzuschicken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die neue Regierung erbte den Krieg, als außenpolitisch

schon nichts anderes mehr zu machen war, als ein bere-
chenbarer Bündnispartner zu sein. Der ist sie gewesen.

Gleichzeitig hat sie dann all ihre konzeptionelle Kraft
sofort in Pläne zur Beendigung des Krieges gesteckt. Vom
ersten Tag des Ausbruchs an ist das geschehen. Nicht um-
sonst ist ja der dann aufgestellte und verwirklichte Frie-
densplan mit dem Namen unseres Außenministers ver-
bunden. Allgemein wird international doch anerkannt und
akzeptiert, dass der danach zur Festigung des Friedens im
Auswärtigen Amt entworfene und schließlich durchge-
führte Stabilitätspakt auf die deutsche Außenpolitik
zurückgeht. Sie können ja sagen, Herr Rühe, das liege da-
ran, dass da so gute Beamte seien. Das Problem ist, dass
der Ideenreichtum dieser Beamten überhaupt erst durch
einen Minister freigesetzt werden musste. Das Amt
musste überhaupt erst wieder in Gang kommen. Vorher
herrschte doch nur Frustration in dem Hause. Hören Sie
sich doch einmal um.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der F.D.P. – Ulrich Irmer [F.D.P.]: Herr Lippelt, gehen Sie zum Kabarett! Dazu haben Sie ein tolles Talent!)


– Ja, ja. Ihre Vorstellung hier war pures Kabarett, Herr
Irmer. Diese Aufforderung kann ich nur zurückgeben.

Herr Rühe, Sie loben in ihrem Antrag KFOR und
UNMIK, stellen aber dann fest, dass der bisherige Politik-
ansatz zur Lösung nicht ausreiche. Das kennen wir auch
aus anderen Anträgen Ihrer Fraktion. Sie wurden jedoch,
als Sie Ihren Antrag noch niederschrieben, vom Ausgang
der Wahlen in Jugoslawien überrascht. So fügten Sie
ebenso verlegen wie trotzig zu Ihren falschen Behauptun-
gen hinzu, dass alles „trotz der Abwahl Milosevics nicht
... ausreicht“. Sie begriffen überhaupt nicht oder wollen
nicht begreifen, dass die Abwahl Milosevics unter ande-
rem auch aus dem Wunsch des serbischen Volkes resul-
tierte, die ihm mit dem Stabilitätspakt gereichte Hand Eu-
ropas zu ergreifen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Serben wählten Milosevic ab, um dem Stabilitätspakt
beitreten zu können. Sie aber jammern hier, es fehle ein




Ulrich Irmer
12978


(C)



(D)



(A)



(B)


politischer Rahmen für die militärische Tätigkeit. Es war
ein politischer Rahmen da, der sich enorm bewährt hat.
Dieses war und ist ein Höhepunkt der außenpolitischen
Erfolgsgeschichte dieser Bundesregierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zweitens. Ich gehe im Zusammenhang mit der Euro-
papolitik nicht auf das ein, was Sie zu Hausaufgaben ge-
sagt haben. Zu diesem Thema hat Ihre Fraktion eine völ-
lig hoffnungslose Aktuelle Stunde durchgeführt. In der
haben wir dieser Fraktion sehr schön nachgewiesen, dass
diese Regierung mit dem Schröder-Vorschlag sehr wohl
einen Vorschlag gemacht hat, der die Dinge voranbringt.
Ich weiß nicht, ob Sie ihn überhaupt zur Kenntnis ge-
nommen haben.


(Uta Zapf [SPD]: Bestimmt nicht!)

Sie greifen dankbar die Rede Prodis auf, ohne zu se-

hen oder gar den Zusammenhang herzustellen, dass
diese Rede der vom deutschen Außenminister ausdrück-
lich erwünschte Beitrag des Kommissionspräsidenten zu
der von ihm in Gang gesetzten Debatte über die Zukunft
Europas ist.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Leider war es nicht der ausdrückliche Wunsch der Präsidentschaft!)


Es haben sich viele europäische Politiker von Chirac,
Védrine über Geremek bis Prodi beteiligt. Aus Ihren Krei-
sen haben sich Herr Schäuble, Herr Pflüger und Herr
Lamers beteiligt.


(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Rühe nicht!)


Im Übrigen haben viele von ihnen eher Fischer unter-
stützt. Hier wird es doch erst interessant. Es stellt sich
doch nun, an Sie, Herr Rühe, gerichtet die Frage: Teilen
Sie die Meinung Prodis?


(Zurufe des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] zur CDU/CSU gewandt)


– Rezzo, lass einmal. Ich kläre jetzt die Sache auf, damit
die nicht weiter herumfantasieren.

Teilen Sie die Hauptthese Prodis, dass der Hohe Re-
präsentant für Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich in
die Kommission gehöre und nicht dem Rat unterstellt und
für die Abstimmung europäischer Außenpolitik zuständig
sein solle? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie diese
Meinung teilen. Darüber müssen Sie sprechen. Sie dürfen
nicht nur Honig aus der Kritik Prodis saugen, sie müssen
auch auf den Kern der Sache eingehen. Dazu hätten wir
hier eine Stellungnahme von Ihnen erwartet.

Drittens: Menschenrechtspolitik. Da hören wir ja
wieder den Vorwurf – Herr Irmer verwies so schön da-
rauf –, die Bundesregierung fordere Menschenrechts-
politik nur von den Kleinen ein, während die Bundesre-
gierung vor den Großen kusche. Ihre Vorwürfe zum
Umgang mit China haben Sie von der früheren Opposi-
tion übernommen. Damals konnten sie mit größerem

Recht als von Ihnen heute erhoben werden. Uns stehen
doch noch die Bilder vom Kotau des früheren Bundes-
kanzlers vor der chinesischen Volksarmee vor Augen.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Der ist doch nun offensichtlich nicht in der Lage, einen Kotau zu machen!)


Wir wissen doch noch, dass Wei Jingsheng – kaum war
der Bundeskanzler auf dem Heimflug in Thailand zwi-
schengelandet – wieder verhaftet und zu 14 Jahren Kerker
verurteilt wurde. Sie müssen zugeben: Das sah jetzt etwas
anders aus. Der jetzige Bundeskanzler war in der Lage,
seine geplante China-Reise nach dem katastrophalen
Fehlschuss der NATO auf die chinesische Botschaft sofort
in den Dienst von Bündnisnotwendigkeiten zu stellen, die
zur Begleitung geladene Wirtschaftsdelegation zu Hause
zu lassen, sich auf das Notwendige zu konzentrieren.

Seine Entschuldigung wurde im Gegensatz zu den Ver-
suchen der amerikanischen Politik akzeptiert und damit
die Grundlage zur chinesischen Stimmenthaltung im UN-
Sicherheitsrat gelegt,auf der der Kosovo-Krieg zu Ende
gebracht werden konnte. Das müssen Sie doch als Erfolg
der Bundesregierung sehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Bei der zweiten Reise war er dann sehr wohl in der
Lage, die Wirtschaftsgespräche mit der Diskussion über
Fragen der Religionsfreiheit, der Institutionalisierung ei-
nes Rechtstaatsdialogs zu verbinden, der doch in vollem
Gange ist. Oder haben Sie das nicht bemerkt?


(Uta Zapf [SPD]: Nein, das hat er nicht bemerkt!)


Ich gehe auf Tschetschenien nur kurz ein, denn die
Zeit läuft mir zu sehr davon.


(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist vielleicht auch besser!)


Dieser Außenminister hat immer darauf hingewiesen,
dass die Regierungen natürlich in bestimmte Notwendig-
keiten – in den Abrüstungsdialog, in die Aufrechterhal-
tung der russischen Einbindung – eingebunden sind, dass
aber wir mehr sagen könnten. Das trifft jetzt nicht Sie. Die
F.D.P. war diejenige, die bei dem interfraktionellen An-
trag mit der SPD und uns sofort mitgezogen hat; aber die
Partei des Hauptredners hat diesen Antrag nicht mitgetra-
gen. Herr Rühe, machen Sie sich das erst einmal wieder
klar!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben doch bei den deutlichen Worten dieses Parla-
mentes zur Tschetschenien-Frage geschlafen.


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413403700
Herr Kollege
Lippelt, Ihre Zeit ist jetzt wirklich „Land unter“.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Zu diesem Punkt könnten wir lange weiter reden!)





Dr. Helmut Lippelt

12979


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413403800

Herr Präsident, ich bedanke mich. Ich bin beim letzten
Satz.

Der alleinige oder Co-Verfasser des Antrags, der
Schattenaußenminister der CDU, wurde vorgestern mei-
ner Erinnerung nach zum zweiten oder dritten Mal nach
den schleswig-holsteinischen Wahlen im Auswärtigen
Ausschuss gesehen. Der Antrag wird ihm gewiss Gele-
genheit geben, sich intensiv an den dortigen Debatten zu
beteiligen. Vielleicht ist es ihm dann ja auch möglich, sich
etwas von dem von ihm entworfenen Bild deutscher
Außenpolitik als Produkt seiner eigenen Wünsche und
seiner Einbildungskraft zu entfernen und einer einiger-
maßen realistischen Diskussion näher zu treten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413403900
Ich gebe
dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die Fraktion der
PDS das Wort.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1413404000
Sehr geehrter Herr Präsi-
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war schon
sehr gespannt, wie die Fraktion der CDU/CSU ihren An-
trag begründet. Anders als Kollege Lippelt tippe ich nicht
auf eine Autorenschaft des Kollegen Rühe. Ich finde den
Antrag pfiffiger als die Rede, die er hier gehalten hat, was
nur zeigt: Ein Rühe macht eben noch keinen Lamers. Das
bekam man heute vorgeführt.


(Dieter Schloten [SPD]: Was ist denn an diesem Antrag pfiffig?)


Der Titel des Antrags suggeriert, Deutschland hätte
keinen außenpolitischen Einfluss bzw. hätte diesen unter
Rot-Grün verloren und die CDU/CSU müsste es jetzt
richten. Ich glaube, dass es einfach Unsinn ist, zu be-
haupten, dass der außenpolitische Einfluss verloren ge-
gangen wäre. Ich finde eher, Deutschland hat zu viel
außenpolitischen Einfluss; darüber wäre zu reden.

Aber selbst wenn dem so wäre, wie es im Antrag steht,
dann müsste die CDU/CSU hier doch einmal erklären,
wieso sie in den letzten zwei Jahren bei allen wichtigen
außenpolitischen Fragen mit der Regierungskoalition und
nicht gegen sie gestimmt hat.


(Beifall bei der PDS)

Dann müssten die CDU/CSU wie auch die F.D.P. ein-

mal erklären, warum sie hier immer wieder die grundsätz-
liche Übereinstimmung des ganzen Hauses minus PDS in
Fragen der Außenpolitik betonen. Das passt alles nicht zu-
sammen. Das, was geschrieben worden ist, ist ein Vor-
führantrag, und er eignet sich natürlich auch glänzend,
euch vorzuführen; das muss man ja einmal dazusagen.


(Beifall des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])

Ich behaupte einfach, die CDU hätte, wenn man sie ge-

lassen hätte, im Wesentlichen nichts anderes gemacht als
das, was die Regierungskoalition gemacht hat – mit einem

Unterschied: Bei der CDU wusste man das, bei der Re-
gierungskoalition, die anders angetreten ist, muss man das
bedauern, finde ich.

Ich will nichtsdestotrotz einige Punkte aus dem Antrag
der CDU/CSU einmal aufgreifen, bei denen ich finde,
dass sie tendenziell Recht hat. Ich glaube nur, ihre Lösun-
gen sind ganz andere als die, die mir vorschweben.

Ich finde, dass die CDU zu Recht den Unterschied zwi-
schen der rot-grünen Menschenrechtsrhetorik, wie sie
schreibt – Menschenrechtspolitik,würde ich sagen –, von
einst in der Opposition und der heutigen Praxis kritisiert
und auf diesen Widerspruch aufmerksam macht. Rüs-
tungsexporte, Türkei-Politik, die Veränderungen der Bun-
deswehr weg von einer Verteidigungsarmee, die neue
NATO-Strategie – all das sind Stichworte, an denen man
das belegen kann. Das müssen Sie sich dann auch anhören
und eingestehen. Sie müssen nicht so tun, als ob Sie schon
immer so gedacht hätten, wie Sie jetzt denken. Ich bin
mehr für eine Rückwärtswende Ihrer Politik in diese
Richtung. Ich kritisiere es, weil ich grundsätzlich in eine
andere Richtung will.

Aber ich verstehe gar nicht, warum die CDU das kriti-
siert. Ich finde, die CDU sollte mit der jetzigen Außenpo-
litik der Regierung zufrieden sein, heißt sie doch eigent-
lich nichts anderes, als dass sich die Regierung auf dem
Pfad bewegt, der von der CDU angelegt worden ist. Die
CDU kann sich doch zugute halten, dass sie in diesem
Hause noch immer die Richtung der Außenpolitik be-
stimmt, ohne dass sie regiert. Deswegen ist ihre Kritik
nicht ganz nachvollziehbar.


(Beifall bei der PDS)

Ich finde es richtig, dass die CDU/CSU in ihrem An-

trag den Abwärtstrend in der Entwicklungspolitik be-
nennt, dass sie auf eine aktive Rolle in den Vermitt-
lungsbemühungen im Nahostkonflikt drängt. Ich weiß,
Sie wollen in eine ganz andere Richtung gehen, aber ich
finde die Kritik erst einmal richtig, und ich finde
grundsätzlich auch die Kritik an der Balkanpolitik
richtig.


(Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von eurer Balkanpolitik herkommend! – Zuruf von der CDU/CSU)


– Das hätten Sie in den Debatten hier einmal ausführen
sollen. Aber da haben Sie immer Ihre Übereinstimmung
betont.

Wer so formuliert wie Herr Rühe, der will ein selbst-
ständiges Kosovo, der spielt mit dem Status des Kosovo.
Das ist ein höchst gefährliches Spiel, gerade in der jetzi-
gen Situation.

Ich finde die Kritik in dem Antrag der CDU/CSU an
dem maßlosen Vergleich von Kosovo und Auschwitz völ-
lig berechtigt. Dazu hätten Sie auch einmal etwas sagen
sollen oder sagen müssen. Aus meiner Sicht ist auch die
Kritik am Fehlen von politischen Linien richtig. Die CDU
nennt das Beispiel Afrika; die Liste könnte man beliebig






(C)



(D)



(A)



(B)


erweitern: Russland, Ukraine, Belarus, Mittelamerika,
Naher Osten.


(Angelika Beer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie mit der CDU die nächste Regierung stellen?)


Hier sind keine politischen Linien erarbeitet worden, und
das müssen Sie sich dann auch anhören.

Die CDU unterstützt die Ambitionen der Regierung auf
einen Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat. Aber ich
sehe auch, wo Sie überall nicht oder unzureichend Posi-
tion beziehen. Seien Sie froh, dass Sie ihn nicht haben,
sonst müssten Sie nämlich Position beziehen. Dann würde
dieses Durchlavieren in vielen Fragen nicht mehr durch-
gehen.


(Beifall bei der PDS)

Ich will abschließend zu diesem Punkt sagen, dass ich

die Kritik vieler Medien, Außenminister Fischer ersetze
Außenpolitik durch Menschenrechtspolitik, immer für
falsch gehalten habe; das ist nicht zu kritisieren. Zu kriti-
sieren sind aus meiner Sicht die doppelten Standards, die
dort eingeführt worden sind, zu kritisieren ist die Inkon-
sequenz in der Menschenrechtspolitik. Aber das war bei
der CDU auch nicht anders. Wenn Sie das kritisieren, fällt
das auf Sie selbst zurück.

Ich will zum Abschluss versuchen, etwas zu dem zu sa-
gen oder zumindest anzudeuten, was aus meiner Sicht im
Antrag der CDU/CSU völlig fehlt. In den Alternativen ist
dieser Antrag nicht nur blass, sie sind gar nicht enthalten,
da findet sich überhaupt nichts.

Ich meine, dass eigentlich eine andere Debattenfrage
aufgerufen ist, die wir sehr ernsthaft miteinander bespre-
chen müssten. Deutschland ist nach der Vereinigung zu
einer globalen Großmacht geworden, militärisch, poli-
tisch und ökonomisch. Über das, was „globale Groß-
macht“ bedeutet, muss man nachdenken. Man muss darü-
ber nachdenken, ob man wirklich schon reif ist für
Weltpolitik und in welche Richtung die Weltpolitik gehen
soll.


(Beifall bei der PDS)

Diese neue Rolle muss diskutiert, bedacht und ausgefüllt
werden.

Die Bundesregierung macht das Zug um Zug in eine
Richtung, die ich für falsch halte. Sie macht ihre An-
sprüche deutlich in der UNO, in der EU, im Internationa-
len Währungsfonds, in der Weltbank, bei G 7 und G 8. Das
ist für die Regierung daran gekoppelt, sich auch mi-
litärisch engagieren zu können – ich sage nicht: zu müs-
sen oder zu wollen.

Es ist für mich schlichtweg eine Katastrophe, wenn der
Generalinspekteur der Bundeswehr auf der jüngsten Kom-
mandeurstagung von einer – ich zitiere ihn – „Verän-
derung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in
ein hochwirksames Instrument der deutschen Außen- und
Sicherheitspolitik“ spricht. Das ist erstens schlichtweg
verfassungswidrig, weil der Verfassungsauftrag der Ar-
mee festgeschrieben ist, und zweitens ist höchste Wach-
samkeit angesagt, wenn eine Regierung auch nur darüber

nachdenkt, aus der Armee ein Instrument von Außenpoli-
tik zu machen. Ich glaube, diese höchste Wachsamkeit
muss man dann auch an den Tag legen.


(Beifall bei der PDS)

Was die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik angeht,

denkt die PDS in eine andere Richtung. Deutschland
sollte sich darauf besinnen, die Großmachtrolle behutsam
auszufüllen. Ich glaube nicht, dass Deutschland einen
Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat braucht. Ich glaube
auch nicht, dass sich Deutschland weltweit militärisch en-
gagieren sollte. Ich möchte, dass an den völkerrechtlich
verbindlichen Beschränkungen und Selbstbeschränkun-
gen festgehalten wird, die gerade in Bezug auf Mili-
täreinsätze wichtig sind.


(Beifall bei der PDS)

Deutschland braucht mehr eine zivile und solidarische

Außenpolitik, die letztendlich verlässlich und berechen-
bar sein muss. Über diese Meinungsverschiedenheiten
müssen wir streiten. Die Frage, wie die Rolle Deutsch-
lands in der Weltpolitik auszufüllen ist, ist eine interes-
sante Frage. Leider gibt der Antrag der CDU/CSU darauf
keine Antwort.

Danke sehr.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413404100
Das Wort
hat der Bundesaußenminister, Joseph Fischer.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413404200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass wir heute Gelegenheit haben, faktisch zur
Halbzeit eine Debatte – eine kritische Debatte; wie könnte
es in einem Parlament auch anders sein? – über die ver-
gangenen zwei Jahre deutscher Außenpolitik zu führen.
Angesichts Ihres Antrags und – noch mehr – angesichts
Ihrer Rede heute, Herr Rühe, muss ich feststellen: Wer die
außenpolitische Tradition der CDU/CSU, die Bedeutung,
die die Außenpolitik in der CDU/CSU hat, und auch Ihre
Leistung auf diesem Gebiet kennt, der kann nur traurig da-
rüber sein, welche Rede Sie heute abgeliefert haben. Das
muss ich Ihnen in der Tat sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Durch dieses tief gesunkene Niveau wird auch bei de-
nen ein verheerender Eindruck vermittelt, die noch nicht
abgeschaltet haben. Ein solches Niveau habe ich in den
vergangenen zwei Jahren bei Diskussionen im Auswärti-
gen Ausschuss


(Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ CSU]: Wenn Sie denn mal da waren!)


und bei den Debatten in diesem Hause nicht kennen ge-
lernt. Diese Einschätzung gilt auch für einige andere Re-
debeiträge.

Ich denke, das Thema ist viel zu wichtig, um solche Re-
den zu halten. Ich verstehe zwar das Bedürfnis, hier eine
Auseinandersetzung zu führen. Ich muss aber daran




Wolfgang Gehrcke

12981


(C)



(D)



(A)



(B)


erinnern, dass die großen außenpolitischen Kontroversen
an der Sache und nicht an im Plenarsaal künstlich aufge-
bauten Differenzen orientiert sein sollten, die es bei nähe-
rer Betrachtung gar nicht gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Punkt stimme ich Herrn Gehrcke zu: Es ist

doch nichts Schlimmes dabei, wenn es in der Außenpoli-
tik ein hohes Maß an Konsens im Deutschen Bundestag
gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Verlässlichkeit und die Berechenbarkeit der Bundes-
republik Deutschland ist nämlich schon ein Wert an sich.


(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Ein anderer Konsens wäre schöner!)


– Er wäre nicht schöner. Ich werde Ihnen das noch erläu-
tern.

Herr Rühe, Sie hätten Ihre Kritik nicht vorbringen kön-
nen, wenn Sie sich etwas intensiver mit dem Thema be-
schäftigt hätten und sich an den Debatten der mit dieser
Thematik beschäftigten Ausschüsse beteiligt hätten. Ich
werde Ihnen anhand der Europapolitik und anderer
Punkte nachweisen, dass die handwerkliche Untermaue-
rung Ihrer Kritik schlicht und einfach nicht stimmig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich denke, wir sollten die Debatte nicht auf dieser Ebene
führen. Ich würde mich freuen, wir hätten eine seriöse
außenpolitische Kontroverse. Ich wäre der Letzte, der bei
Kritik ad personam zurücksteckt. Warum sollte es keine
Kritik geben? Ich teile gern aus und muss deshalb auch
einstecken können.

Aber entscheidend ist doch, ob wir in der Sache über-
einstimmen oder ob wir eine Scheinkontroverse führen,
angesichts derer sich die Menschen nur angewidert ab-
wenden und sagen: So sind die halt im Parlament. – Ich
denke, die deutsche Außen- und Europapolitik – egal, ob
sie kontrovers oder konsensual diskutiert wird – ist we-
sentlich besser, als sie von Ihnen heute dargestellt wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die entscheidende Frage ist: Was haben wir in der
Bundesrepublik Deutschland an Traditionssträngen mitbe-
kommen? Angesichts unserer furchtbar missratenen
Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist
nicht nur die Wiedergewinnung der Souveränität ent-
scheidend – fest verankert in den europäischen und trans-
atlantischen Strukturen –, sondern auch die Tatsache, dass
unsere Friedenspolitik unabhängig von den Regierungs-
wechseln ist. Die Friedenspolitik war teilweise heiß um-
stritten. Es hat sich aber schließlich immer ein Konsens
durchgesetzt.

Friedenspolitik bedeutet Konfliktprävention. Wenn es
einen zentralen Leitsatz für die Politik dieser Bundesre-
gierung gibt, ist er, dass wir diesen Strang unter den neuen

Bedingungen der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges
fortsetzen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das heißt, wir wollen Konflikte – die Welt wird immer
Konflikte produzieren – möglichst so lösen, dass sie nicht
zu einer Konfrontation oder gar zu einer Explosion
führen.

Ich war jüngst in Ostasien. Merkwürdigerweise sind
die Diskussionen mit den Abgeordneten, die man bei sol-
chen Reisen dabei hat, immer ganz anders. Ich lade Sie
ein: Fliegen Sie am Montag mit nach Afrika, wenn Sie in
der Afrikapolitik Defizite sehen! Ich bin zum zweiten Mal
in diesem Jahr in Afrika.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Aber im fünften Anlauf!)


– Nicht im fünften Anlauf. Vergleichen Sie das doch ein-
mal mit dem, was die Vorgängerregierung in dieser Hin-
sicht getan hat! Die Zahlen liegen doch vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie können doch nicht so tun, als wenn Sie keine Vergan-
genheit hätten.

Wir werden immer wieder zu dem Punkt kommen
– das haben jetzt wieder der Euromed-Prozess, die Kon-
ferenz der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der
Kommission und der Mittelmeeranrainer, und auch mein
Besuch in Ostasien gezeigt –, an dem wir feststellen müs-
sen, dass es in der Welt des 21. Jahrhunderts ein starkes
Bedürfnis nach Europa gibt. Nicht nach deutscher Welt-
politik, sondern nach Europa wird gerufen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Deswegen ist es von überragender Bedeutung, dass wir
dieses Europa schaffen.

Kollege Rühe, wir hatten leider persönlich nie die Ge-
legenheit, diesbezüglich länger miteinander zu reden.
Aber bezüglich der Europapolitik müssen Sie sich selbst
einmal fragen: Was will denn die Union? Das wissen Sie
doch besser als ich.


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Lesen Sie den Antrag!)


– Ich meine nicht das, was im Antrag steht. Es gibt in der
Union doch die unterschiedlichsten Positionen. Es gibt zu
jeder europapolitischen Frage, ob Erweiterung, Vertie-
fung oder anderes, mindestens fünf bedeutende Beiträge
aus dem CDU-Präsidium, die sich alle widersprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der oberste Leitkulturist hat gesagt, die Union werde
nur zustimmen, wenn die Kompetenzabgrenzung bereits
in Nizza beschlossen wird. So Merz hier im Hause.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Bundesminister Joseph Fischer 12982 Merz [CDU/CSU]: Das wissen Sie doch, dass das nicht stimmt!)





(C)


(D)


(A)


(B)


Heute hat er – Gott sei Dank, er hat gelernt – bereits den
Rückzug angetreten. Auch Volker Rühe hat angekündigt,
dass er diese Position nicht durchsetzen wird. Ich finde
das richtig; denn wäre das nicht der Fall, würden wir in
Nizza kein Ergebnis erzielen. Und wenn es ein Ergebnis
gäbe, das im Deutschen Bundestag am Ende nicht ratifi-
ziert würde, würde das bedeuten, dass wir fünf Jahrzehnte
erfolgreicher Europapolitik aller Bundesregierungen in-
frage stellen. Das würde selbst Herr Merz sich nicht
trauen. Insofern ist Vernunft über ihn gekommen.


(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Bauen Sie nicht einen Popanz auf! So ein Unfug!)


– Das ist kein Unfug. Ich und alle, die dabei waren, haben
das hier gehört. Wenn das ein Popanz ist, dann heißt der Po-
panz Merz und ist Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU)


Herr Kollege Rühe, lassen Sie mich Ihren Einwand
bezüglich „maximal“ einmal ernsthaft aufnehmen. Ich
verstehe das nicht. Hätten Sie sich den Helsinki-Be-
schluss angeschaut, hätten Sie festgestellt, dass er nicht
maximalistisch formuliert ist. Das hätten Sie auch erken-
nen können, wenn Sie sich die Reden Ihrer führenden
Europapolitiker angeschaut hätten. Kollege Pflüger, ein
sehr kompetenter Europapolitiker, sitzt direkt hinter Ihnen.


(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Der steht auch hinter ihm!)


– Ist das jetzt eine Drohung, dass er hinter ihm steht? Ich
weiß es nicht.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Hier stehe ich, ich kann nicht anders“!)


Auch Kollege Hintze ist ein kompetenter Europapolitiker.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Regattaprin-
zip allgemein begrüßt wurde, nach dem nach Maßgabe
des Fortschritts der konkreten Verhandlungen – eine Be-
wertung findet durch die Kommission in Fortschritts-
berichten statt – und nach Abschluss ein Beitritt erfolgen
kann, nach dem es also keine politisch motivierte Be-
schleunigung und keine politisch motivierte Bremse ge-
ben darf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Dieser Helsinki-Beschluss hat hier im Hause eine
breite Zustimmung gefunden.

Kollege Schäuble hat jetzt einen anderen Vorschlag ge-
macht. Er hat gesagt, man solle, ohne die konkreten Fort-
schritte abzuwarten, zumindest bei den wichtigsten Län-
dern jetzt gleich einen politisch motivierten Beitritt
anstreben. Das wiederum wird von Edmund Stoiber hef-
tig bekämpft und bekriegt.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


Ich kann nur sagen, Kollege Rühe: Ihr müsst euch
Klarheit darüber verschaffen – und zwar nicht in Form
von Formelkompromissen –, was ihr in diesem Punkt
tatsächlich wollt. Die Bundesregierung jedenfalls wird an
dem in Helsinki beschlossenen Prozess festhalten. Er ist
nicht maximalistisch, sondern erhebt die jeweiligen kon-
kreten praktischen Fortschritte zum Maßstab für einen
Beitritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn Sie uns vorwerfen, wir seien im Hinblick auf die
Erweiterung zögerlich, dann kann das ein Mitglied der
Vorgängerregierung nur bei völliger Ignoranz der Fakten
tun. Wann sind denn die konkreten Erweiterungsver-
handlungen eröffnet worden, Kollege Rühe? Wissen Sie
das? Soll ich es Ihnen sagen? In der zweiten Hälfte des
Jahres 1998 sind konkrete Erweiterungsverhandlungen
eröffnet worden.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Aufgrund welches Beschlusses? Luxemburg!)


– Aber man kann doch nicht uns dies vorwerfen, die
wir alles getan haben, um den Prozess voranzutreiben.
Wann war denn der Gipfel von Luxemburg? Jahre sind
zwischenzeitlich verstrichen. Es gab von Bundeskanzler
Dr. Helmut Kohl das Versprechen an Polen, dass es im
Jahre 2000 Mitglied der EU sein werde. Gleichzeitig ist
aber nichts Konkretes getan worden, um aus diesem vi-
sionären Versprechen praktische Politik zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Und Sie kommen heute und werfen uns dies vor. Ich
weiß, dies ist ein Scheinvorwurf. Denn in Wirklichkeit se-
hen Sie das nicht sehr viel anders als wir, und zwar nicht
deshalb, weil dies eine außenpolitische Verschwörung ist,
wie das die PDS meint, sondern schlicht und einfach des-
halb, weil bestimmten Erfordernissen nachgekommen
werden muss: Die Erweiterung muss solide und praktisch
durchführbar konstruiert werden. Gleichzeitig ist es un-
verzichtbar, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Konse-
quenz des Endes des Kalten Krieges im Jahre 1989 nicht
nur die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auch
die Europas ist. Die europäische Einigungsidee würde,
wenn dies nicht so gesehen würde, einen substanziellen
Schaden nehmen. Deswegen werden wir alles in unseren
Kräften Stehende tun, dies zu verwirklichen.

Wir wollen, dass Polen zu den ersten neuen Beitritts-
ländern gehört; um das klipp und klar festzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Allerdings müssen in Polen die dafür erforderlichen
Voraussetzungen geschaffen werden. Ich für meinen Teil
kann Ihnen nur sagen: Die Bundesregierung wird alles tun,
um die Erweiterung so schnell wie möglich Realität wer-
den zu lassen.


(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Sehr gut!)





Bundesminister Joseph Fischer

12983


(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413404300
Herr Bun-
desaußenminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Volker Rühe? – Bitte, Herr Rühe.


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1413404400
Herr Bundesaußenminis-
ter, die Kommission hat sich ja jetzt für eine Straffung
des Verhandlungsrahmens ausgesprochen. Da Sie, wie
Sie soeben festgestellt haben, wollen, dass eine Erweite-
rung so schnell wie möglich durchgeführt wird, möchte
ich Sie fragen, ob Sie sich hinter den Vorschlag der Kom-
mission stellen, die erste Verhandlungsrunde bis Ende
2002 abzuschließen, damit diejenigen, die die erforderli-
chen Voraussetzungen erfüllen, dann umgehend Mitglied
der Europäischen Union werden können.


Joseph Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413404500

Ich finde es sehr gut, wenn wir es bis dahin schaffen. Un-
sere Haltung ist: möglichst schnell. Wenn dies bis dahin
möglich ist, dann gerne.

Jetzt komme ich aber einmal zu Ihnen: Ihre derzeitige
Haltung ergibt sich daraus, dass Sie in der Opposition
sind. Früher, als ihr in der Regierung wart, konntet ihr
euch folgenden Luxus nicht erlauben: Ihr fordert ein gutes
deutsch-französisches Verhältnis und gleichzeitig die Ein-
führung der Kofinanzierung im Bereich des Agrarmark-
tes.Wie soll das im Moment zusammengehen? Wir müss-
ten Wunder vollbringen, wenn wir die politischen Fakten
entsprechend ändern wollten.


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Also, Sie unterstützen den Vorschlag der Kommission?)


– Sicher. Das habe ich Ihnen doch gesagt.

(Volker Rühe [CDU/CSU]: Gut!)


Wenn die Kommission die Verhandlungen bis dahin zum
Abschluss bringt,


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Das halten wir für möglich!)


werden wir uns darüber freuen. Von uns wird es diesbe-
züglich keine Bremse, keine Behinderungen und nichts
dergleichen geben. Im Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Rühe, damit wir uns richtig verstehen: Dies sollte
kein Wunschdenken sein, sondern muss auch realisierbar
sein.


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Ist es auch!)

Das heißt, wir müssen das schwierige Agrarmarktkapitel
ebenso wie einige andere Kapitel auch abschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Rühe [CDU/CSU]: Ohne Verzögerung!)


– Genau, ohne Verzögerung. Da gibt es überhaupt keinen
Dissens. Ihre Europapolitiker wissen das im Übrigen nur
zu gut.

Aber nun zur Vertiefung. Herr Rühe, mit der Europa-
politik haben Sie sich nicht sehr beschäftigt; Sie halten

sich nur an Überschriften. Ich möchte Sie fragen: Wie soll
denn eine Union der 25, wie soll eine Union der 27 und
wie soll eine Union der 30 funktionieren? Diese Frage
müssen wir parallel zur Erweiterung beantworten. Das ist
kein rhetorischer Trick nach dem Motto: Maximalismus
hier, Maximalismus da. Dies ist vielmehr ein Ergebnis des
Endes des Kalten Krieges.

Wie viele Ihrer Kollegen aus der Union, zum Beispiel
wie Kollege Schäuble, Kollege Pflüger und Kollege
Hintze, bin ich der Meinung, dass eine erweiterte Union,
die in den substanziellen Fragen des politischen Eini-
gungsprozesses nicht vorankommt – wir wollen eine
handlungsfähige Europäische Union haben und die neuen
Mitglieder wollen in eine handlungsfähige Europäische
Union eintreten –, schlicht und einfach in eine Blockade
gerät, das heißt handlungsunfähig wird. Deswegen ist das
Sprechen über die Erweiterung und über die Vertiefung
kein Trick. Ich hatte als Oppositionsabgeordneter dieselbe
Position und habe hierbei Helmut Kohl unterstützt. Viel-
leicht wäre es sinnvoll, dass auch die Opposition bei aller
Kritik, die es geben muss, einmal darüber nachdenkt. Ge-
rade weil Europa an erster Stelle unseres nationalen Inte-
resses steht, halte ich es für unverzichtbar, dass wir hier
vorankommen. Dazu gibt es aus Ihrer Fraktion wichtige
Beiträge, von denen ich einiges gelernt habe. Das ist gar
nicht schlimm. Sie müssen sich darüber freuen.

Wir müssen hier aber gemeinsam eine große Anstren-
gung unternehmen. Ich freue mich, dass mittlerweile
selbst der Bayerische Ministerpräsident von seiner Fun-
damentalopposition abgekommen ist und auf der Grund-
lage des Kompromisses einer Souveränitätsteilung zwi-
schen Europa – „Wer macht was“ heißt: Die europäischen
Institutionen müssen mehr Handlungsmöglichkeiten er-
halten, die ihnen heute teilweise nur eingeschränkt zu-
stehen – und den Nationalstaaten wie auch der Neuord-
nung der Institutionen zueinander zustimmt. In diese
Richtung sollten wir weiter diskutieren.

Das deutsch-französische Verhältnis lebt natürlich
auch aus seinen Spannungen heraus, aber es ist überaus
produktiv, das gilt für die jetzige Bundesregierung, wie es
für die Vorgängerregierung gegolten hat. Selbstverständ-
lich werden wir in Nizza gemeinsam auf Erfolg setzen.
Aus meiner Sicht kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben die
Chance, in Nizza zu einem erfolgreichen Abschluss zu
kommen. Das wird ein erster großer Schritt sein, der die
Erweiterungsfähigkeit definiert. Herr Kollege Schäuble,
wir sollten in Nizza nichts anstreben, was für Nizza nicht
vorgesehen war.


(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich habe nichts gesagt!)


– Sie haben aber so geguckt, als hätten Sie es gesagt. Das
mache ich auch manchmal.


(Heiterkeit im ganzen Hause)

Wir sollten Nizza nicht mit zu vielen Dingen befrach-

ten. Der Kollege Lamers hat mir im November des ver-
gangenen Jahres in einem Tête-à-tête gesagt, dass es im
Falle der Erweiterung unbedingt zu einer verstärkten Zu-
sammenarbeit kommen muss. Diejenigen, die bei der po-
litischen Integration enger zusammenarbeiten wollen,






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müssen auch enger zusammenarbeiten können. Ich habe
davon gelernt, das gebe ich offen zu. Er hat aber auch ge-
sagt: Das schaffen Sie nie. Heute ist dieser Punkt am we-
nigsten umstritten, und zwar auch aufgrund der deutsch-
italienischen Initiative. Das muss man anerkennen.


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Das ist nicht der Punkt!)


– Nein, das ist nicht der Punkt für Sie, aber für die Euro-
papolitiker, die etwas von der Sache verstehen, ist das ein
zentraler Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es fehlt mir jetzt in dieser europapolitischen Debatte
die Zeit, auf die anderen Punkte einzugehen. Die Paralle-
lität ist in der Tat die zentrale Frage, denn sie wird noch
lange zwischen den nationalen und europäischen In-
stitutionen bestehen, sie wird auch die wachsende euro-
päische Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreffen.
Aber über diese Parallelität müssen wir immer wieder dis-
kutieren. Ich stelle fest, dass wir seit einem Jahr, seit Ja-
vier Solana im Amt ist, erhebliche Fortschritte in der ge-
meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erreicht
haben.

Sie haben uns Konzeptionslosigkeit vorgeworfen.
Schauen Sie sich nur den Balkan an. Werfe ich Ihnen vor,
dass wir heute noch mit Soldaten in Bosnien stehen? Ich
habe Ihnen damals zugestimmt. Ich gebe zu, zuerst war
ich dagegen, nach Srebrenica aber dafür und ich habe als
Oppositionsabgeordneter hier ebenso wie bei der NATO-
Osterweiterung zugestimmt. Viele meiner Kolleginnen
und Kollegen haben das getan, andere waren dagegen.
Uns aber vorzuwerfen, wir hätten kein Konzept, finde ich
schlimm. Kollege Rühe, wir stehen heute noch in Bosnien
und das verantworten Sie und ich mit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Rühe [CDU/CSU]: Mit einem politischen Konzept!)


– Aber Sie hatten doch kein politisches Konzept. Wir ha-
ben den Stabilitätspakt aus den fünf Punkten über die Pe-
tersberger Vereinbarung entwickelt. Wir haben Russland
wieder ins Boot geholt, was Sie immer gefordert, aber
nicht hinbekommen haben. Wir haben während der deut-
schen Präsidentschaft die Initiative für die spätere Sicher-
heitsresolution 1244 in Köln entscheidend angeschoben.
Wichtiger ist aber noch: Der Stabilitätspakt ist entwickelt
und implementiert worden. Gott sei Dank gab es jetzt die
friedliche demokratische Revolution in Belgrad und da-
mit die Chance, den Balkan an Europa heranzuführen, um
so zu einer dauerhaften Friedensordnung zu kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn das Konzeptionslosigkeit ist, lasse ich mich
gerne konzeptionslos schimpfen. Wenn die deutsche
Sprache aber einen Sinn macht, werden Sie das nicht als
konzeptionslos bezeichnen können.


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Was ist mit dem Kosovo?)


– Die Lage im Kosovowill ich Ihnen auch gern erläutern.
Ich stimme Ihnen zu: Die finale Statusfrage ist gegenwär-
tig nicht zu entscheiden. Das ist aber eher eine Kritik, die
Sie mit dem von mir sehr geschätzten Kollegen Lamers
ausdiskutieren müssen, denn wir sind an diesem Punkt
nicht über Kreuz.

Dieser politische Prozess wird stattfinden und wir müs-
sen so etwas wie eine regionale Sicherheitsstruktur, die
Vertrauen schafft, aufbauen. Die Veränderungen in Bel-
grad waren dafür die zentrale Voraussetzung. Sie sind
nicht alles, aber ohne diese Veränderungen wäre es nicht
gegangen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Versöhnung muss auf Wahrheit gründen. Deswegen ha-
ben wir den Vorschlag zur Einrichtung einer Wahrheits-
kommission gemacht. Ich freue mich, dass Kostunica
diese Idee bereits aufgegriffen hat.

Die Frage der Verschwundenen muss gemeinsam
gelöst werden. Die Gefängnisse müssen geöffnet werden.
Über das, was geschehen ist, muss die Wahrheit auf den
Tisch. Die legitimen Interessen aller Beteiligten – nicht
nur der Serben und Kosovo-Albaner, sondern aller Betei-
ligten in der Region – müssen anerkannt werden. In die-
sem Zusammenhang ist auch ein Gewaltverzicht zu nen-
nen. Nur durch eine friedliche Veränderung der Grenzen
und durch Vereinbarungen kann ein Klima geschaffen
werden, in dem die finalen Fragen auf dem Kompromiss-
weg angegangen werden können. Hinsichtlich Ihres Vor-
schlages, jetzt ein Parlament zu wählen, um diesen Weg
zu beschleunigen, habe ich große Zweifel; das muss ich
Ihnen ganz ehrlich sagen.

Dies gilt auch für andere Dinge: Sie fordern manchmal
das Richtige und greifen dann aber ohne Rücksicht auf die
Logik oder die Realitäten zum völlig falschen Mittel. Ich
finde auch Ihre Haltung zu Russland – mit Verlaub ge-
sagt – sehr fahrlässig. Ich weiß nicht, ob sie von Ihrer
Fraktion geteilt wird. Ich hätte mir gewünscht, dass
Volker Rühe, der mannhafte Streiter für Menschenrechte,
im Ausschuss gewesen wäre, als Igor Iwanow, der russi-
sche Außenminister, damals dort war. Ich war dabei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch der Kollege Irmer ist für die Menschenrechte

nicht gerade heldenhaft auf die Barrikaden gegangen,
sondern ihr wart – mit Verlaub gesagt – dort alle sehr mo-
derat.


(Zuruf von der CDU/CSU)

– Das ist überhaupt keine Kritik. Aber ihr habt die Paral-
lelität unserer Interessen gesehen. Das eine ist, Klartext zu
reden. Alle haben dort Klartext geredet. Dabei gibt es zwi-
schen dem französischen Außenminister und mir keinen
Unterschied. Sie können sich in Moskau erkundigen. Bei
der Tatsache, Klartext zu reden, gibt es kein Problem. Das
Einzige, was geholfen hätte, wäre eine strategische Iso-
lierung Russlands zu versuchen, die dann allerdings fatale
Wirkungen in die völlig falsche Richtung gehabt hätte.
Darüber waren wir im Ausschuss immer einer Meinung.




Bundesminister Joseph Fischer

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An Klartext hat es nie gemangelt, aber eine strategische
Isolierung wäre wirklich töricht gewesen.

Die NATO-Erweiterung steht auf der Grundlage des-
sen, was wir in Washington beim Jubiläumsgipfel be-
schlossen haben.


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Was ist mit der Erweiterung?)


– Halt! Auch ich hatte einmal eine Phase, in der ich im-
mer alles sofort wollte. Offensichtlich sind Sie in der
Spätphase Ihrer politischen Karriere in diese Phase einge-
treten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich plädiere dafür, jetzt
die EU-Erweiterung energisch voranzutreiben.


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Was ist mit der NATO-Erweiterung?)


Ich will Ihnen sagen, warum. Dies wird nämlich auch ein
verändertes Sicherheitsumfeld schaffen. Zu der NATO-
Erweiterung ist meine Meinung klar: Es darf für nie-
manden ein Vetorecht geben. Aber die Ablehnung eines
Vetorechts heißt nicht, dass man die legitimen Interessen
anderer Partner deswegen ad acta legt. Die Weisheit ge-
bietet es, so vorzugehen, dass wir mögliche Konflikte
möglichst gering halten. Das gilt meines Erachtens auch
für die NATO-Erweiterung. Sie wissen ganz genau:
Schwierigkeiten macht das Baltikum. Die Sensitivitäten,
die dort existieren, müssen sehr sorgfältig diskutiert und
die Interessen abgewogen werden. Dies muss auf der
Grundlage dessen geschehen, was in Washington in den
entsprechenden Dokumenten vereinbart wurde.

Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen:
Nordkorea. In Bezug auf Asien können wir sagen: Wenn
wir den Balkan – Stichwort Kosovo – nicht an Europa
herangeführt hätten, wenn wir nicht alle die Kraft gehabt
hätten, dort entsprechend einzugreifen, dann wären die
Krisen Asiens bis vor unsere Haustür gekommen.


(Zuruf des Abgeordneten Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU])


– Ich will jetzt nur zu diesem Punkt sprechen.
Wenn ich mir anschaue, mit welchen Krisen und Kon-

flikten wir es im Nahen und Mittleren Osten zu tun ha-
ben – dabei habe ich immer den nuklearen Rüstungswett-
lauf vor Augen –, wenn ich den Kaukasus betrachte
– Zentralasien und die Kaspische Meerregion –, wenn ich
an die Talibanisierungsgefahr in Pakistan und den Rüs-
tungswettlauf auf dem indischen Subkontinent denke und
sich auch in Südostasien mit Indonesien und den Philip-
pinen sehr instabile Situationen vorfinden, sich gleichzei-
tig in Ostasien ein drohender Rüstungswettlauf und ein
großes Konfliktpotential aufbauen, wenn man weiß, dass
es auf diesem Kontinent, der für uns von entscheidender
Bedeutung ist, keine kooperativen Sicherheitsstrukturen
gibt und sich gleichzeitig ein Denken breit macht, bei dem
das Misstrauen auf nationaler Grundlage gegenüber den
anderen Fakten schafft, die sich hochzuschaukeln drohen,
dann kann ich Ihnen nur sagen: Die Entwicklung auf der
nordkoreanischen Halbinsel – Nordkorea war in diesem
Zusammenhang von den USA immer als ein Hauptargu-
ment angeführt worden – ist ein wirklicher Hoffnungs-

schimmer. Um diese Entwicklung zu verstärken, muss
man abwägen.

Die Frage ist: Wie sehr wollen wir solche Regimes,
über deren Menschenrechtsverachtungen Sie mit mir
nicht streiten müssen, einbinden? Oder: Wie weit lassen
wir sie treiben? Das ist die Entscheidung. Deswegen wird
die Bundesregierung die Entscheidung im Rahmen ihres
grundsätzlichen Ansatzes zur Konfliktvermeidung je-
weils im Einzelfall prüfen und entsprechend vorgehen.

Es ließe sich jetzt noch vieles hinzufügen, meine Da-
men und Herren;


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ich habe meine Redezeit weit überschritten. Ich freue
mich, dass ich Gelegenheit hatte, unsere Politik einmal
konzeptionell zu erläutern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich hoffe, Herr Kollege Rühe, dass wir in den kommen-
den Jahren verstärkt die Gelegenheit haben, dieses im
Ausschuss auf einer sachlichen Grundlage fortzusetzen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Rühe [CDU/CSU]: In der deutschen Öffentlichkeit!)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413404600
Für die Frak-
tion der CDU/CSU spricht Kollege Christian Schmidt.


Christian Schmidt (CSU):
Rede ID: ID1413404700
Herr Präsi-
dent! Meine Kolleginnen! Meine Kollegen! Da ist er doch
ins Plaudern gekommen, der Herr Bundesaußenminister.
So interessant viele Aspekte auch waren: Die eigentlichen
Fragen, auf die einzugehen war, Herr Minister, habe ich
vermisst, nämlich die Grundfragen: Was sind die ent-
scheidenden Positionen der deutschen Außenpolitik in
Zukunft? Was waren sie in der Vergangenheit? Wie rankt
sich um diese Positionen herum die praktische deutsche
Außenpolitik?

Lassen Sie die Thematik, wer die Osterweiterung der
Europäischen Union erfunden hat, nicht an Volker Rühe
aus.


(Uta Zapf [SPD]: Er hat sie nicht erfunden!)

Denn er war derjenige, der dafür gesorgt hat, dass im si-
cherheitspolitischen Kontext Europas mit der NATO-Er-
weiterung der erste wichtige Schritt getan worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dass Polen, Ungarn und Tschechien heute dabei sind, war
ein Erfolg der alten Bundesregierung. Dass sie für die Er-
weiterung der Europäischen Union die Grundsteine ge-
legt hat, können Sie bereits jetzt in der „FAZ“ an den
Grußadressen von Herrn Putin zum 10-jährigen Bestehen
des deutsch-russischen Vertrages – damals noch des
deutsch-sowjetischen Vertrages –, zum bald bevorstehen-
den 10-jährigen Jubiläum des deutsch-polnischen Nach-
barschaftsvertrages, zum in zwei Jahren anstehenden




Bundesminister Joseph Fischer
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10-jährigen des deutsch-tschechoslowakischen – jetzt
deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen – Ver-
trages usw. sehen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/CSU]: Auch des ungarischen!)


– Mit Ungarn, mit Bulgarien, mit Rumänien. Es war ein
Geflecht bilateraler Verträge, getragen von der zielgerich-
teten Hoffnung auf eine baldige Eingliederung dieser
Länder in ein Europa, zu dem sie gehören.

Wir machen Ihnen nicht den Vorwurf, dass die Euro-
papolitik ganz hinten anstünde. Ich möchte nur noch ein-
mal auf die Frage der deutschen Präsidentschaft zurück-
kommen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir hier
– nein, es war noch in Bonn, aber es war die gleiche Si-
tuation – zusammensaßen und in der Fragestunde die
CDU/CSU-Fraktion die Frage stellte: Wie sieht denn euer
Programm der Präsidentschaft aus? Der Bundesaußenmi-
nister war damals nicht in der Lage, zu den angesproche-
nen Punkten eine Antwort zu geben – nicht, weil er es
nicht wollte, sondern, weil er es nicht wusste. Er hat mög-
licherweise schneller gelernt als sein Bundeskanzler, der
nicht nur bei Stilfragen unsicher ist. Lassen Sie sich das
bei dieser Gelegenheit einmal sagen.

Wissen Sie, es gibt in der Außenpolitik einen Konsens,
der auch den Stil betrifft. Wenn der deutsche Bundes-
kanzler meint, er müsse einen Oppositionsantrag, der sich
mit der Frage der deutsch-tschechischen Beziehung be-
fasst, von Prag aus kommentieren, dann muss er sich lang-
sam fragen lassen, ob er den Stilanforderungen seines
Amtes gewachsen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe es mir wie alle unsere Kollegen zur Prämisse

gemacht: Solange der deutsche Regierungschef im Aus-
land ist, wird er nicht kritisiert. Kritisiert wird er zu
Hause, und da anständig und ordentlich. Daran hat er sich
aber auch zu halten.


(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Herr Glos hat die Regierung aus Österreich kritisiert!)


Wer der neuen Form der Lässigkeit huldigt: so zu tun,
als wäre Außenpolitik einfach so aus dem Handgelenk zu
schütteln – weil ja jeder wie bei der Bundestrainerfrage
über Fußballspielen Bescheid weiß –, der unterschätzt die
Probleme der Außenpolitik.


(Dieter Schloten [SPD]: So ein dummes Zeug habe ich lange nicht gehört!)


Das Problem der Außenpolitik, nämlich die Frage, wel-
che Konzeption damit verbunden ist, betrifft natürlich auch
die transatlantischen Beziehungen. Sie haben gefragt:
Was will die Union denn? Einerseits sollen wir mit den
Amerikanern kooperieren, andererseits wird kritisiert,
dass zu sehr mit amerikanischen Interessen hantiert wird.
Wer auch immer der neue Präsident wird – Kollege
Weisskirchen weiß es offensichtlich schon, weil er mit dem
Gore-Lieberman-Sticker hier sitzt; ich weiß es noch nicht
und die Wähler in den USA offensichtlich auch noch
nicht –: Er wird gewisse Dinge nicht zulassen und er wird

die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht
gutheißen. Er wird danach fragen, welchen Eindruck es
macht, wenn man in Helsinki headline goals verabschie-
det und gleichzeitig in Köln vom Ansatz her bezüglich ei-
ner Geberkonferenz in den nächsten Tagen richtige Posi-
tionen vertritt, die – hoffentlich – von den anderen
finanziert werden sollen.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Von uns! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Die Heiterkeit bei den Grünen ist nach dieser Debatte
verständlich, aber Sie sollten Ihren Fraktionskollegen
ebenso wie ich die Frage stellen, wieso der Bundesaußen-
minister zur Bundeswehrreform, die einen strategischen
außen- und sicherheitspolitischen Ansatz haben muss,
nicht ein Wort gesagt hat, wieso Herr Scharping in seinem
windmühlenartigen Abwehrkampf gegen das Streich-
konzept des Herrn Eichel seine eigenen Konzepte nicht
besser durchsetzt. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie Schwie-
rigkeiten haben werden. Wenn die Stiftung Wissenschaft
und Politik vor kurzem ausgeführt hat, die Krisenreak-
tionsfähigkeit der Bundeswehr würde mit der geplanten
Konzeption eher geschwächt als gestärkt werden, muss
Sie das auf den Plan rufen. Die Tatsache, dass der Bun-
desverteidigungsminister bei den Vereinten Nationen in
New York die Bundeswehr auf dem Silbertablett anbietet,
ohne vorher den Außenminister zu konsultieren – ich
kann es mir nicht anders vorstellen –, legt den Verdacht
nahe, dass hier Luftbuchungen vorgenommen und Luft-
schlösser gebaut werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Da wird es für die deutschen Interessen problematisch.

Geld ist zwar nicht alles, ist aber in vielen Fällen ent-
scheidend. Dass im Haushalt des Bundesaußenmi-
nisters zwischenzeitlich mit geschickten Transaktionen
– ich unterstelle mal, er will mehr haben, wir würden ihn
darin unterstützen und bitten alle anderen Fraktionen um
Mitwirkung – über den Umweg des Einzelplans 23, des
BMZ, Gelder verschoben werden und dann am Ende we-
der für die Entwicklungshilfe noch für die Außenpolitik
mehr Geld zur Verfügung steht, sondern unter dem Strich
Kürzungen vorgenommen werden, ist bittere Realität.
Diesen Tatsachen muss sich auch der Bundesverteidi-
gungsminister im Verteidigungsausschuss stellen.

Wir hatten auf Ihren Wunsch – übrigens mit unserer
Zustimmung, die uns nicht leicht gefallen ist – die Akti-
vitäten in Bezug auf Osttimor akzeptiert. Ob wir das
heute noch tun würden, möchte ich ausdrücklich infrage
stellen. Es hat sich nicht nur ein reiner Symbolismus in
der Politik gezeigt; auch die Frage, wie weit Sie Aktivitä-
ten einer humanitären Intervention konzeptionell ausdeh-
nen wollen, ist unbeantwortet geblieben. Sie haben in Ih-
rer Rede vor den Botschaftern – ich glaube, es war am
4. September – über die Begrenzung der deutschen
Außenpolitik gesprochen. Die Tatsache, dass diese nicht
mehr so wie 1990 begrenzt werden kann, ergibt sich aus
der Natur der Sache. Über diese grundsätzliche Ansicht
können wir uns durchaus verständigen.




Christian Schmidt (Fürth)


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Das bedeutet dann allerdings auch, dass Sie das durch-
deklinieren müssen. Sie müssen auch in Ihren eigenen
Reihen die unangenehme Frage beantworten: Wie ist das
mit dem Primat der Vereinten Nationen?Wenn das so ist
– auf der einen Seite einen Sitz im Sicherheitsrat anzu-
streben und auf der anderen Seite ein Recht auf huma-
nitäre Intervention zu postulieren –, muss man darüber re-
den und auch fragen, wie und wie lange man das
durchsetzen kann und wo die Maßstäbe dafür sind. Be-
deutet das, mit dieser Bundeswehr – ausgezehrt durch die
jetzige Entwicklung, nicht zuletzt auch durch die Ver-
pflichtung, im Kosovo und in Bosnien aktiv zu sein –
weltweit Menschenrechte zu schützen? Sie wissen, dass
Herr Scharping damals, als wir über Osttimor gesprochen
haben, einem verstärkten Engagement ursprünglich nicht
zugestimmt hat, weil er sonst das letzte Reservelazarett
hätte aufbieten müssen.

Sie müssen die Maßstäbe und Prioritäten Ihrer Politik
definieren. Das haben Sie bisher nicht getan. Die „Klei-
nigkeiten“, die beim deutsch-französischen Verhältnis
nicht angesprochen worden sind, gehören übrigens zu die-
sen Prioritäten. Sie haben die Fragen zu Nordkorea, die
sowohl der Kollege Irmer als auch ich gestellt haben, ele-
gant überspielt. Das kann er und das konnte er schon, als
er noch auf den Abgeordnetenbänken saß. Das ist schon
beeindruckend.

Jetzt stellt sich bloß die Frage, wieso eigentlich die
französische Ratspräsidentschaft bei dieser strategisch
wichtigen Frage für Europa überhaupt nicht beteiligt ist.
Das muss uns doch zu denken geben. Kann es sein, dass
ein deutscher Staatsminister, der sowohl bei den Frage-
stunden als auch im Auswärtigen Ausschuss durch be-
sonders „parlamentsfreundliche“ Verhaltensweisen – ne-
gativ – auffällt, dort hinfährt und sagt: Toll, das finde ich
gut; Sie haben mich gut bewirtet; dann machen wir auch
mal mit.


(Monika Heubaum [SPD]: Das ist ja unglaublich! – Uta Zapf [SPD]: Nichts begriffen! – Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erinnern Sie sich gar nicht an die Ausführungen von Herrn Volmer im Ausschuss?)


– Ich weiß, es war ein bisschen mehr dahinter.

(Fortgesetzte Zurufe von der SPD)


Ich bin aber schon überrascht über die SPD-Fraktion.
In der letzten Ausschusssitzung hat Ihre Sprecherin – sie
ist jetzt nicht da –, die Kollegin Ernstberger, dem Beden-
ken zugestimmt, dass es zu früh war und dass die Frage
der Gegenleistungen bei der Anerkennung Nordkoreas
nicht geklärt ist. Ihre eigene Fraktion hat zugestimmt. Da-
her müssen Sie sich schon fragen lassen: Wo ist denn da
die Strategie? Was soll das? Ist es wichtiger, als deutsche
Bundesregierung in solch heiklen Fragen vorn zu sein,
oder ist es wichtiger, eine gemeinsame europäische Posi-
tion zu haben?


(Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.])


Wer europäische Interessen als im Wesentlichen deutsche
Interessen definiert, definiert sie richtig, muss dann aller-
dings auch im europäischen Interesse handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich befürchte, dass wir in Nizza die Probleme, die an-

gesprochen worden sind – darüber wird nächste Woche
bei der Regierungserklärung des Bundeskanzlers noch
diskutiert werden –, nicht unbedingt lösen werden. So
glänzend steht die französische Präsidentschaft vor Nizza
nicht da.

Ich will auf eines hinweisen: Wenn es Karl Lamers ge-
schafft haben sollte, Sie, Herr Kollege Fischer, davon zu
überzeugen, dass die verstärkte Zusammenarbeit wichtig
ist, dann muss wohl der Rest der Union für sich in An-
spruch nehmen, dass er Sie davon überzeugen konnte,
dass die Frage der Kompetenzabgrenzung eine entschei-
dende Frage für die künftige Struktur der Europäischen
Union ist. Wenn es Ausdruck Ihrer Lernfähigkeit ist, dass
Sie von der Union lernen – von der Union lernen, heißt,
gut Politik machen zu lernen –,


(Lachen bei der SPD)

dann ist noch nicht alles verloren, dann ist auch die deut-
sche Außenpolitik nicht verloren. Ich bin skeptisch; aber
ich warte darauf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413404800
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Gernot Erler.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1413404900
Herr Präsident! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Ich möchte mit einem herzlichen Will-
kommen an den Kollegen Rühe beginnen. Herzlich will-
kommen zurück auf der Erde! Sie haben offensichtlich
einen längeren außerplanetarischen Aufenthalt hinter sich
gebracht.


(Heiterkeit)

Anders ist der Realitätsverlust, der sich in Ihrem Antrag
widerspiegelt, nicht zu erklären.


(Uta Zapf [SPD]: Aber die ganze Fraktion hat zugestimmt!)


Angeblich sprechen wir ja hier über einen Antrag.
Tatsächlich ist es aber ein ungegliedertes Sammelsurium
von Kritik und Vorwürfen an die Bundesregierung, durch
einen lustlos angefügten und dürren Forderungskatalog
notdürftig in Antragsform gebracht. Man erfährt zwar,
woran die CDU/CSU überall etwas auszusetzen hat, aber
nirgendwo etwas Verbindliches und damit Diskussions-
fähiges zur Position der CDU/CSU, geschweige denn,
dass ein Konzept oder wenigstens ein roter Faden er-
kennbar wäre. Das ist schade. Denn eigentlich brauchen
wir durchaus grundsätzliche Debatten zur Außenpolitik.
Aber diese Vorlage ist dazu nicht geeignet. Insofern ist sie
eine verpasste Chance.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Christian Schmidt (Fürth)

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(D)



(A)



(B)


Notgedrungen muss man sich dann mit Ihrer Einzel-
kritik und Ihren Einzelforderungen auseinander setzen.
Dabei erhält man sehr schnell den Eindruck: Bei der Kri-
tik ist alles inkonsistent und widersprüchlich; bei den For-
derungen haben wir es mit Wunschlisten zu tun, die keine
Auskunft über die Finanzierung geben.

Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, Volker Rühes
Wunschliste zusammenzustellen. Sie sieht folgender-
maßen aus:

Die Bundesregierung soll viel mehr Geld in die Bun-
deswehr und in die europäischen militärischen Fähigkei-
ten stecken. Sie soll den Auswärtigen Dienst besser aus-
statten.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Sie soll den Etat für Entwicklungspolitik drastisch und
unter Rückgängigmachung der regionalen und sektoralen
Schwerpunktsetzungen aufstocken.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Sie soll mehr Mittel für die globalen Herausforderungen
bereitstellen. Sie soll die Beschränkungen – man höre und
staune – der Agenda 2000 auflösen und mehr Geld in Eu-
ropa stecken.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Sie soll die Transformation in den ostmitteleuropä-
ischen Staaten stärker unterstützen.


(Joseph Fischer, Bundesminister: Sehr gut!)

Man könnte sagen: Prima, es ist ja auch bald Weihnachten.


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mir die Mühe gemacht, die aus den Anträgen,
die Sie in den einzelnen Ausschüssen gestellt haben, re-
sultierenden finanziellen Forderungen einmal durchzu-
rechnen. Dabei habe ich festgestellt: Sie haben Forde-
rungen erhoben, die Mehrausgaben von ungefähr
100 Milliarden bis 120 Milliarden bedeuten würden,
ohne zu belegen, wo das Geld herkommen soll.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Die haben noch Reserven in ihren schwarzen Koffern! Jetzt haben wir es!)


Dazu kann ich nur sagen: Tut mir furchtbar Leid. Das
macht es schwierig, sich mit Ihrem Antrag auseinander zu
setzen. Er ist schlicht unseriös.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da, wo Kritik geübt wird, verwickelt sich dieser Antrag
sofort in Widersprüche.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Ein Antrag kann sich nicht verwickeln!)


Ich möchte das an dem Beispiel, das schon Joschka
Fischer angeführt hat, klarer machen. In Ihrem Antrag
wird die Bundesregierung aufgefordert, die Bei-
trittsverhandlungen über die Erweiterung der Europä-
ischen Union nicht länger zu verzögern. Das heißt also,

wir haben bislang die Verhandlungen verzögert. Dann
wird kritisiert, dass die Bundesregierung auf dem
Helsinki-Gipfel „leichtfertig weit reichende Entschei-
dungen über die künftige Größe und Zusammensetzung
der Europäischen Union getroffen” habe. Vorher hätte
– das ist die Verbeugung vor Bayern – nämlich geklärt
werden müssen, welches Selbstverständnis, welche Ge-
stalt und welche Grenzen die EU haben soll.

Der Widerspruch besteht schon darin, dass zuerst ge-
sagt wird: „Ihr verzögert”, und dann eine Forderung er-
hoben wird, die, wenn man sie ernst nehmen würde, erst
recht zu einer großen Verzögerung führen würde. Nie-
mand versteht, was Sie eigentlich wollen: einen baldigen
Abschluss der Beitrittsverhandlungen oder einen längeren
Selbstfindungs- und Definitionsprozess der Europäischen
Union vor der Erweiterung. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der CDU/CSU, das spiegelt leider den Stand Ih-
rer Diskussion über die Osterweiterung wider.

Ich habe mich – das kommt selten vor – über einen Satz
Ihres europapolitischen Sprechers, Herrn Hintze, gefreut,
den er hier vor wenigen Wochen in der Haushaltsdebatte
gesagt hat: „Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion klipp
und klar Ja zur Osterweiterung.”


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Ja, sehen Sie mal!)

Prima, darüber sind wir uns einig.


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Wunderbar!)

Aber, Herr Klipp-und-Klar-Kollege, leider ist es dabei

nicht geblieben; denn Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr
Merz, hat wenige Tage später gesagt, es sei ein schwerer
politischer Fehler gewesen, auf dem Gipfel in Helsinki
die Zahl der möglichen Beitrittskandidaten kritiklos auf
elf angehoben zu haben. Es sind zwar nicht elf, sondern
13 Beitrittskandidaten; aber man soll ja nicht kleinlich
sein. Das ist ein Widerspruch zu dem, was Sie gesagt ha-
ben, Herr Hintze, und lässt sich mit Ihrem klipp und klar
geäußerten Ja zur Osterweiterung gar nicht vereinbaren.

Herr Stoiber hat gesagt, bevor die Osterweiterung
möglich sei, müsse erst die Frage der Kompetenzabgren-
zung innerhalb der EU geklärt sein. Des Weiteren hat er
davor gewarnt, schon im Jahr 2004 neue Länder in die
Europäische Union aufzunehmen. Frau Merkel hat ge-
sagt, sie sei für einen frühen Beitrittstermin. In einem le-
senswerten Aufsatz, der in der „FAZ“ am 22. September
erschienen ist, hat Ihr Kollege Herr Pflüger unter anderem
geschrieben, zu lange seien die Kandidatenländer dann
mit der Aussicht auf einen festen Beitrittstermin hinge-
halten worden. Er hat hinzugefügt, er sei für den großen
Beitritt, für den großen Knall. Aber Sie, Herr Hintze, ha-
ben Nein zur Konvoilösung gesagt.

Außerdem hat Herr Pflüger in dem Aufsatz geschrie-
ben, er sei dafür, dass die ersten Kandidaten spätestens –
da hat er sich genau festgelegt – zum 1. Oktober 2004 der
EU beitreten. Ihr Kollege aus dem Europaparlament, Herr
Markus Ferber, ist dagegen der Meinung, die ersten Kan-
didaten könnten erst ab 2007 beitreten. Herr Rühe hat sich
für 2003 als Beitrittstermin ausgesprochen. Kajo
Schommer, Sachsens Wirtschaftsminister, hat wiederum
einen anderen Termin genannt und hat hinzugefügt, er




Gernot Erler

12989


(C)



(D)



(A)



(B)


halte Spekulationen über Beitrittstermine grundsätzlich
für fatal. Wenn man sich das alles anschaut, dann muss
man feststellen, dass bei Ihnen ein großes Durcheinander
herrscht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Fazit: Sie sagen nicht, wie viele Kandidaten der Euro-
päischen Union beitreten sollen. Sie behaupten zwar, dass
es zu viele seien; aber Sie sagen nicht, welche Länder
nicht beitreten sollen. Sie legen sich nicht fest. Sie halten
den Beitrittsprozess einerseits für zu schnell und anderer-
seits für zu langsam. Sie sind einerseits für und anderer-
seits gegen Terminsetzungen. Bei den Terminen haben Sie
alles im Angebot. Es reicht von 2002 bis 2007. Hinsicht-
lich der Europapolitik sieht es bei Ihnen wie auf einem
Hühnerhof aus, auf dem alles hin- und herrennt. Ein sol-
cher Hühnerhof braucht einen Leitgockel, der Ordnung
schafft. Herr Rühe, Sie wären die ideale Besetzung. Dafür
wären Sie geeignet. Machen Sie das doch! Sie würden uns
allen damit einen Dienst erweisen.

Sie müssen sich, um ernst genommen zu werden, ent-
scheiden. Wollen Sie die gute Tradition Ihrer Fraktion in
Bezug auf die Europapolitik aus Ihrer Regierungszeit
fortsetzen, nämlich beim Integrationsprozess vorne blei-
ben, Avantgarde sein, für andere ein Vorbild abgeben,
oder wollen Sie das Erweiterungsthema zu populistischer
Wahlkampfmunition kleinhäckseln und bei dieser großen
Herausforderung der europäischen Geschichte versagen
und letzen Endes den Versuch machen, das ganze Thema
zu einem Werkzeug zu instrumentalisieren, das dazu die-
nen soll, dass Sie zu Mehrheiten und zur Macht zurück-
kehren? Sie haben sich ganz offensichtlich noch nicht ent-
schieden. Das zeigen diese eigenartigen Widersprüche.
Aber die Öffentlichkeit und die Medien haben das ge-
merkt und erwarten von Ihnen Klarheit in dieser Frage.

Ich will zum Abschluss den Journalisten Richard Meng
aus der „Frankfurter Rundschau“ vom 24. Oktober 2000
zitieren. Sein Artikel trug die Überschrift: „Die haltlose
Union“. Er schreibt zu diesem Thema:

In den großen außenpolitischen Fragen, beispiels-
weise bei der Integration des Nationalen in ein
zusammenwachsendes Europa, leistet die Union sich
ein Sowohl-als-auch, das nur in abstrakten Sonntags-
reden zusammenpasst. Konkret ist sie hin und herge-
rissen und auch hier höchst populismusanfällig.

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Es gibt weitere Beispiele für die Inkonsistenz Ihrer

Forderungen, zum Beispiel im Falle von Russland. Herr
Rühe, Sie schaffen es in einem einzigen Absatz Ihres An-
trages, die Bundesregierung aufzufordern, die russische
Regierung zu Reformen für ein stärkeres Engagement eu-
ropäischer Investoren zu drängen, und im gleichen Kon-
text zu sagen, dass weitere staatliche Kredite so lange
nicht gewährt werden sollten, so lange die erforderlichen
Voraussetzungen für den Aufbau einer Marktwirtschaft
nicht gegeben sind und der Krieg in Tschetschenien nicht
beendet ist. Ich fordere Sie auf, Herr Rühe: Gehen Sie ein-
mal nach Moskau zur Repräsentanz der deutschen Wirt-

schaft. Dort gibt es seit vielen Jahren 900 deutsche Fir-
men, die Pionierarbeit leisten, die wir anerkennen sollten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie sich dort einmal über den Zusammenhang
zwischen stärkerem Engagement im Sinne von Investitio-
nen auf der einen Seite und der Notwendigkeit einer Kre-
ditabsicherung auf der anderen Seite berichten. Beides
gehört zusammen. Deswegen hat die Bundesregierung
richtig gehandelt, als sie die Voraussetzungen für die Fort-
setzung der Hermeskredite geschaffen und somit die
Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt hat. Dies war ein
gutes Ergebnis, das beim letzten Besuch von Gerhard
Schröder in Moskau bei den Gesprächen mit Putin erzielt
wurde. Wir sind auch froh darüber, dass über die so ge-
nannten Petersburger Gespräche ein dauerhafter Dialog
auf den Weg gebracht worden ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Beispiel Türkei zeigt ebenfalls Ihre Inkonsistenz.
Sie fordern von uns alle Anstrengungen, um die Türkei
wirtschaftlich, politisch und institutionell enger mit Eu-
ropa zu verbinden. – Damit sind wir einverstanden. Dazu
hat auch die EU in Helsinki einen Beschluss gefasst. Sie
hat nach dem Scheitern des Luxemburg-Systems be-
schlossen, dass es beim Kandidatenstatus der Türkei wei-
ter vorangeht. Das haben alle europäischen Staaten mit-
getragen.

Was sagen Sie? Sie üben daran Kritik und sagen, die
Verleihung des Kandidatenstatus sei verfrüht gewesen
und wir hätten dazu gedrängt. Das ist ein kompletter Wi-
derspruch. Es ist auch völlig inkonsistent, dauernd zu kri-
tisieren, dass wir eine zurückhaltende Rüstungsexportpo-
litik gegenüber der Türkei betreiben, und dann zu
betonen, wie wichtig der Partner Türkei ist. Wenn Europa
sagt, durch den Kandidatenstatus der Türkei fördere man
dort eine vernünftige Entwicklung, so finden Sie dies
falsch. Das ist eine völlig widersprüchliche Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme abschließend kurz zu Ihren Forderungen.
Ich habe schon gesagt, dass diese eher lustlos klingen und
lediglich angehängt sind. Sie benutzen hier die Methode,
die Bundesregierung dauernd dazu aufzufordern, das zu
tun, was sie sowieso schon tut oder schon getan hat. Sie
fordern zum Beispiel mehr Engagement bei globalen He-
rausforderungen. Sie nehmen überhaupt nicht zur Kennt-
nis, dass die Entwicklungsministerin Frau Wieczorek-
Zeul mit der Kölner Schuldeninitiative etwas Konkretes
gemacht hat, das mehr wert ist als die Sammlungen von
Forderungen, die Sie in Ihre Anträge hineingeschrieben
haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind auch froh, dass der Bundeskanzler die Ziel-
setzung der G-7- oder G-8-Staaten unterstützt, bis zum
Jahr 2015 eine Halbierung der Armut auf der Welt zu er-
reichen. Das hat die volle Zustimmung meiner Fraktion.




Gernot Erler
12990


(C)



(D)



(A)



(B)


Dann sagen Sie, Herr Rühe, wir sollten die Rüstungs-
exportrichtlinien überarbeiten und eine verbindliche eu-
ropäische Regelung befördern. Offenbar waren Sie wie-
der auf irgendeinem Planeten, als wir Ende letzten Jahres,
Anfang dieses Jahres dies gemacht haben. Sie können ja
sagen, dass es Ihnen nicht gefällt, dass wir zum Beispiel
Menschenrechte als Kriterium für Rüstungsexporte in
diese Richtlinien eingebaut haben, nachdem Sie 16 Jahre
lang nichts getan haben, sodass das Wort „Menschen-
rechte“ in den Rüstungsexportrichtlinien überhaupt nicht
vorkam.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sie haben doch nationale Richtlinien gemacht! Er will europäische! Hören Sie doch zu!)


Außerdem haben wir genau das gemacht, was Sie verlan-
gen, Herr Schmidt. Der Code of Conduct ist jetzt für die
Bundesrepublik verbindlich.


(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Europäische Richtlinien wollen wir! Das ist doch der Punkt! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU)


– Wenn Sie natürlich die Realitäten überhaupt nicht zur
Kenntnis nehmen, dann kommen Sie eben zu solch ei-
genartigen Dingen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schließlich verlangen Sie ein Regionalkonzept für

den Kaukasus. Sie haben offenbar nicht gemerkt, dass
der Bundeskanzler schon im März in Tiflis war und dort
als erster größerer europäischer Staatsmann auf der Basis
unserer positiven Erfahrungen in Südosteuropa einen Sta-
bilitätspakt für den Kaukasus gefordert hat und dass die
OSZE längst mit deutscher Unterstützung ein entspre-
chendes Konzept auf den Weg gebracht hat. Auch hier
stellen Sie also Forderungen, die in Wirklichkeit schon
längst reale Politik dieser Bundesregierung sind, die von
der Regierungskoalition voll und ganz unterstützt wird.

Herr Rühe und Ihre Freunde, es wird Ihnen nicht ge-
lingen, hier den Eindruck zu erwecken, dass es bei der
deutschen Außenpolitik ein Problem mit Vertrauen,
Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit gibt. In Wirklich-
keit weiß die ganze Welt, dass unsere Außenpolitik ver-
lässlich, professionell und kreativ ist. Ich mache Ihnen ei-
nen Vorschlag: Vergessen Sie ganz schnell diesen Antrag!


(Beifall bei der SPD)

Außenpolitik hat etwas Seriöseres als das verdient, was
Sie hier anbieten. Verlassen Sie nicht den wichtigen
außenpolitischen Grundkonsens. Wir sind bereit, mit Ih-
nen ernsthaft über Außenpolitik zu diskutieren, aber nicht
auf der Basis dieses Antrags.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413405000
Zu einer
Kurzintervention – um 12.47 Uhr liegt die Betonung auf
„kurz“ – gebe ich dem Kollegen Peter Hintze das Wort.


Peter Hintze (CDU):
Rede ID: ID1413405100
Herr Präsident! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Ich muss dem Kollegen Erler das
Kompliment machen, dass er sich mit wichtigen Texten
der Union, mit Aufsätzen und Reden, gründlich beschäf-
tigt hat. Ich muss das Kompliment aber leider dahin ge-
hend modifizieren, dass er sie nicht richtig verstanden hat.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)


Deswegen möchte ich hier zur Klarheit beitragen.
Rühe, Pflüger, Merz, Hintze, Lamers, Stoiber – in allen

Reden und Schriften findet sich ein klares Ja zur Ost-
erweiterung als ein Gebot der moralischen, politischen
und ökonomischen Vernunft. Wir haben es zugesagt. Es
schafft Stabilität in Europa und Wohlstand und soziale Si-
cherheit für alle Beteiligten. Daran gibt es überhaupt kei-
nen Zweifel.

Nun haben Sie gesagt, Herr Merz habe hier im Deut-
schen Bundestag vorgetragen, dass in Helsinki die Kandi-
datenzahl zu sehr erhöht worden sei, und haben das als
einen Widerspruch empfunden. Ich löse diesen Wider-
spruch für Sie gern auf: Wir glauben, dass die Osterwei-
terung gerade dann gelingt, wenn der Kreis der Kandida-
ten, die übrigens zum Teil mit Osteuropa gar nichts zu tun
haben – denken Sie einmal daran, was in Helsinki hin-
sichtlich der Türkei beschlossen wurde –, nicht so groß
wird, dass es praktisch und politisch schwer wird, den
Beitrittsprozess wirklich zügig voranzubringen. Dies war
unsere Sorge, die wir hier zum Ausdruck gebracht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun möchte ich das noch einmal konkret auf den Punkt

bringen. Wir haben zwei Probleme. Das eine Problem ist,
dass der Kandidatenkreis so sehr ausgeweitet wurde. Das
zweite Problem ist, dass die Beitrittsverhandlungen im
Moment zu schleppend geführt werden. Formal führt sie
die Kommission; de facto werden sie von der Präsident-
schaft geführt. Die deutsche Europapolitik hat natürlich
entscheidenden Einfluss darauf, wie sie geführt werden.
Unsere Auffassung ist, dass sie zu schleppend geführt
werden. Wir haben die Fortschrittsberichte und sehen,
dass die Länder, die beitrittsreif sind, schon sehr weit ge-
kommen sind. Wir wünschen, dass auch die komplizier-
ten Kapitel wie Landwirtschaft und Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit zügig auf die Agenda kommen und verhandelt
werden, damit den politischen, moralischen und ökono-
mischen Versprechen Taten folgen.

Wir hätten uns in dieser Hinsicht von der Bundesregie-
rung etwas mehr erwünscht, als beispielsweise Österreich
zu drangsalieren oder Herrn Hombach zu installieren. Ich
erinnere auch an andere Vorgänge, die den Prozess der eu-
ropäischen Einigung hemmen.

Ich bin sehr froh, dass wir mit der heutigen Debatte
einmal die Gelegenheit haben, hinsichtlich der Außen-
bzw. der Europapolitik ein paar Dinge klarzustellen. Des-
wegen war diese Debatte zentral und wichtig. Wenn Sie,
lieber Kollege Erler, die von Ihnen zitierten Reden nach-
lesen
– Sie können sie alle mit Gewinn auch zweimal lesen –,
dann werden Sie vielleicht feststellen, dass sich der von




Gernot Erler

12991


(C)



(D)



(A)



(B)


Ihnen entdeckte Widerspruch vielleicht doch nicht so dar-
stellt, wie Sie es vermutet haben.

Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413405200
Zur Erwi-
derung hat der Kollege Erler das Wort.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1413405300
Herr Kollege Hintze, bei Ihrer
„Langintervention“ habe ich eben daran gedacht, wie es
wäre, wenn es demnächst zur Rettung Österreichs einmal
einen Film mit dem Titel „Der Rächer der Entrechteten“
mit Herrn Hintze in der Hauptrolle gäbe.

Jetzt zu Ihrem Vorwurf, ich könne nicht lesen. Fraglich
ist nicht, ob ich lesen kann. Das Problem besteht darin,
dass andere Menschen lesen können. Sie lesen zum Bei-
spiel im Protokoll der Haushaltsdebatte vom 14. Septem-
ber dieses Jahres die Aussage von Herrn Merz:

Deswegen war es ein schwerer politischer Fehler,
dass Sie die Zahl der möglichen Kandidaten beim
Gipfel in Helsinki kritiklos auf 11 angehoben
haben ...


(Peter Hintze [CDU/CSU]: Es muss 13 heißen! Das wissen Sie selbst!)


– Er hat „elf” gesagt. Zu den elf gehört die Türkei nicht
dazu.

Herr Rühe hat am 18. September in der „Frankfurter
Allgemeinen“ für eine „realistische Erweiterung“ – so
steht es auch in Ihrem Antrag – geworben. Außerdem hat
er dort gesagt:

Mit 13 Staaten auf einmal zu verhandeln ist eine Le-
benslüge der Europapolitik. Es müssen Unterschiede
gemacht werden.

Übrigens, Herr Rühe, es wird gar nicht mit 13 Staaten
verhandelt, sondern nur mit zwölf.

Können Sie sich vorstellen, wie die Wirkung solcher
Sätze auf die zwölf Kandidaten aussieht?


(Volker Rühe [CDU/CSU]: Dass sie sich Mühe geben!)


Sie fragen doch, was Ihr Hinweis darauf, dass es zu
viele sind, bedeutet.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Fragen Sie sich das mal!)


Was heißt „realistische Erweiterung“? Sie müssen
doch einmal sagen, wer aus dem Kreis der Beitrittskandi-
daten herausfallen soll, mit wem man also die Verhand-
lungen einstellen soll.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Rühe [CDU/CSU]: Die sollen doch nicht alle auf einmal aufgenommen werden!)


Die Frage nach der Bedeutung dieser Aussage wird im
Ausland an uns gerichtet. Sie müssen sich die Wirkung
solcher Worte überlegen.

Herr Hintze, ich höre Ihre Worte gerne. Sie sind der
Klipp-und-Klar-Politiker, der zur Osterweiterung Ja sagt.
Sorgen Sie dafür, dass auch alle Ihre Kollegen so denken;
dann haben wir eine gemeinsame Basis. Aber verunsi-
chern Sie die Kandidatenländer nicht, die sich die Frage
stellen, was die Hinweise darauf, dass es zu viele Bei-
trittskandidaten sind und dass Unterschiede gemacht wer-
den sollen, bedeuten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413405400
Ich schließe
die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4383 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das Haus ist damit
einverstanden. Damit ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Evelyn Kenzler, Maritta Böttcher,
Roland Claus, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts
– Drucksache 14/1126 –

(Erste Beratung 53. Sitzung)

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)

– Drucksache 14/2150 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Erwin Marschewski (Recklinghausen)

Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke

Die Fraktionen haben sich auf eine Redezeit von einer
halben Stunde verständigt. – Das Haus ist einverstanden.
Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst der Kol-
legin Dr. Evelyn Kenzler für die Fraktion der PDS das
Wort.


Dr. Evelyn Kenzler (PDS):
Rede ID: ID1413405500
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Dank der Vereinigten Staaten
ist das Thema Wahlen dieser Tage absolut in. Wenn jen-
seits des großen Teichs ein altertümliches Wahlsystem zu
einem grotesken Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen
führen sollte, dann wird sich sicherlich wieder einmal zei-
gen, wie sehr das Wahlrecht den Nerv des Volkes berührt.
Dass man die Ausgestaltung des Wahlrechts nicht hoch
genug schätzen kann, hat wohl kaum ein anderer so gut
wie der spanische Philosoph Gasset mit folgenden Worten
zum Ausdruck gebracht:

Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und
Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügi-
gen, technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Al-
les andere ist sekundär. ... Ohne diese Stütze einer




Peter Hintze
12992


(C)



(D)



(A)



(B)


vertrauenswürdigen Abstimmung hängen die demo-
kratischen Institutionen in der Luft.

Genau darum geht es der PDS mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf, gerade vor dem Hintergrund unserer Ver-
antwortung für ein Wahlrecht in der DDR, das faktisch
keines war. Es geht uns um den Ausbau der demokrati-
schen Institutionen in unserem Lande, um ihre Veranke-
rung auf einer möglichst breiten Basis der in der Bundes-
republik Deutschland lebenden Menschen.

Die erste Lesung unseres Gesetzentwurfs zur Demo-
kratisierung des Wahlrechts machte mir diesbezüglich
zunächst durchaus Hoffnung. Kollegin Deligöz verwies
zum Beispiel ausdrücklich darauf, dass einige unserer
Vorschläge, wie die Senkung des Wahlalters auf
16 Jahre oder das kommunale Wahlrecht für ausländi-
sche Bürgerinnen und Bürger, zumindest zum Teil auch
im Programm von Bündnis 90/Die Grünen enthalten
seien. Sie appellierte an die Fraktionen, sich gemeinsam
an einen Tisch zu setzen, um über die Reformmaßnahmen
zu debattieren. Auch Kollege Funke verwies auf die Ver-
besserungsfähigkeit und -bedürftigkeit unseres Wahl-
rechts und die Diskussionswürdigkeit und -notwendigkeit
unserer Vorschläge.

Es gab natürlich, für uns nicht überraschend, auch an-
dere Stimmen, wenngleich ich sie nicht in dieser Schärfe
aus den Reihen der SPD erwartet hätte. So sah Kollege
Friese in dem Gesetzentwurf einen „alten Hut“. Abge-
sehen davon, dass alte Hüte manchmal auch sehr kleidsam
sein können, ist das Anliegen meines Erachtens aktueller
denn je.


(Beifall bei der PDS)

Aber Sie hatten natürlich Recht, wenn Ihnen unser Anlie-
gen bekannt vorkam. Das geht uns allerdings bei neu
aufgelegten Gesetzentwürfen anderer Fraktionen, ein-
schließlich denen der SPD-Fraktion, auch nicht anders. Es
handelt sich also um eine gängige Praxis und einen Aus-
druck von politischer Beharrlichkeit und nicht um Be-
schäftigungstherapie oder mangelnde Kreativität.

Wenn Sie uns vorwerfen, populistische Forderungen
zu vertreten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Ja, wir
bemühen uns – neben der Einführung von Volksentschei-
den auf Bundesebene – auch auf dem Wege der Refor-
mierung des Wahlrechts darum, die Bürger wieder stärker
in die Politik einzubeziehen.


(Beifall bei der PDS)

Was daran populistisch sein soll, ist mir schleierhaft. Für
mich ist es jedenfalls Ausdruck eines gehörigen Maßes an
parteipolitischer Selbstgefälligkeit, wenn Sie fordern, es
den Parteien selbst zu überlassen, wie sie den Dialog mit
den Wählern führen, und allein auf eine Einigung zwi-
schen den Fraktionen setzen. Das Wahlrecht geht doch in
erster Linie die Bürger selbst etwas an. Die Behandlung
von Grundsatzfragen der parlamentarischen Demokratie,
von denen Sie richtigerweise in diesem Zusammenhang
sprechen, sind doch kein Privileg der Parteien. Genau
diese Haltung, die hier zum Ausdruck kommt oder zumin-
dest durchscheint, befördert Politik- und Politikerver-
drossenheit bei den Bürgern.

Gestatten Sie mir, kurz auf einige wesentliche Ein-
wände zu unseren Vorschlägen einzugehen. Dabei möchte
ich nicht von ungefähr mit der Einführung des Wahlrechts
für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger begin-
nen. Wenn sich die demokratischen Kräfte in diesen Ta-
gen verstärkt gegen rechtsextremistische und fremden-
feindliche Bestrebungen in unserem Lande wenden, dann
ist das eine wichtige Seite der Medaille. Die Integration
der hier lebenden ausländischen Bürgerinnen und Bürger,
nicht zuletzt auch durch die Einräumung des Wahlrechts,
ist die andere.


(Beifall bei der PDS)

Wenn der Bundeskanzler den Aufstand derAnständigen
in der Gesellschaft verlangt, dann müssen wir auch hier
im Parlament über verschiedene Möglichkeiten der stär-
keren politischen Integration der Ausländer reden.

Das Grundgesetz sagt nicht ausdrücklich, dass Aktiv-
bürgerrechte den Deutschen vorbehalten sind, auch wenn
es in der Vergangenheit selbstverständlich war, dass das
Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft geknüpft wurde. In-
zwischen wurde bekanntlich aufgrund des Maastrichter
Vertrages allen Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaa-
ten der EG auch in Deutschland das aktive und passive
Wahlrecht bei Kommunalwahlen verliehen, sofern sie
hier wohnen. Art. 28 Abs. 1 des Grundgesetzes musste
deshalb entsprechend geändert werden. Insofern haben
wir bereits einen Wandel vom Staatsvolk zum Wohnvolk
eingeleitet. Da Ausländer aus anderen Staaten der EG
ebenso wenig Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind
wie Angehörige von Staaten außerhalb der EU, entfallen
die früheren verfassungsrechtlichen Bedenken, falls diese
Ausländer ihren Wohnsitz in Deutschland haben. Wenn
Sie nicht so weit wie wir gehen wollen, dann müssen Sie
sich zumindest die Frage gefallen lassen, warum Sie keine
eigenen Vorschläge zur Einführung eines Kommunal-
wahlrechts für die hier lebenden Ausländer ab einer be-
stimmten Aufenthaltsdauer unterbreiten.


(Beifall bei der PDS)

Das wäre ein wichtiges Zeichen gegen Fremdenfeindlich-
keit und Rassismus in unserer Gesellschaft; das sollten
wir doch gemeinsam setzen.

Zur Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre kann ich nur
sagen, dass ich immer dafür bin – wie von Kollegen vor-
geschlagen –, auch Erfahrungen, die die Länder damit ge-
macht haben, nutzbar zu machen. Das mache ich umso
lieber, als ich keine negativen Erfahrungen aus den Län-
dern kenne, die mich davon abhalten könnten, einer poli-
tisch reifer werdenden Jugend dieses Grundrecht nicht zu-
zuerkennen.


(Beifall bei der PDS)

Nebenbei bemerkt: Warum das Recht auf Irrtum ein spe-
zifisches Recht der Jugendlichen sein soll, verstehe ich
nicht.

Last but not least: Die leidige Fünfprozentklausel ist,
wie wir alle wissen, seit ihrem Bestehen umstritten. Ich
schenke es mir deshalb, die bekannten Argumente aufzu-
zählen, die für die Abschaffung dieser Klausel sprechen.




Dr. Evelyn Kenzler

12993


(C)



(D)



(A)



(B)


Ich bin mir sicher, dass auch Sie mir die gegenteiligen Ar-
gumente ersparen werden.
Nur so viel: Mancher Befürworter dieser Klausel ist heute
angesichts geschwundener Wählerzustimmung ver-
stummt. Wenn durch die Aufhebung oder zumindest Ab-
senkung dieser Klausel die eine oder andere Partei zu-
sätzlich in den Bundestag käme, könnte man dann nicht
vielmehr mit einem stärkeren Engagement im Vorfeld der
Wahlen, mit einer höheren Wahlbeteiligung und mit mehr
Pluralität im Parlament rechnen? Wie sieht es denn mit ei-
ner Absenkung der Fünfprozentklausel zumindest bei den
Wahlen zum Europäischen Parlament aus?

Abschließend: Herr Kollege Friese hat in der ersten Le-
sung zu unserem Gesetzentwurf am Schluss seiner Rede
Änderungen zum Bundeswahlgesetz mit eigenen Vor-
schlägen angekündigt. Nun haben wir vor wenigen Wo-
chen diese historischen Änderungen im 15. Gesetz zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes nachlesen können.
Besonders beeindruckt hat mich – wie Sie sicher schon
ahnen – die Abschaffung der Briefumschläge bei der Ur-
nenwahl. Gewünscht hätte ich mir einen wirklichen
Schritt in Richtung Reformierung des Wahlrechts. Aber
was nicht ist, kann ja noch werden; die Wahlperiode ist
noch nicht um.

Danke.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1413405600
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Harald Friese für die SPD-Fraktion.


Harald Friese (SPD):
Rede ID: ID1413405700
Herr Präsident! Meine sehr ge-
ehrten Damen und Herren! So falsch kann man verstan-
den werden. Ich habe gedacht, Frau Kollegin Dr. Kenzler,
ich hätte am 9. September 1999 eine besonders liebevolle
Rede gehalten. Sie haben mich jetzt aber geradezu als
Wahlrechtswüstling hingestellt. Ich nehme das einfach
mal so hin.


(Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Streich das „Wahlrechts“, dann ist es noch besser!)


Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass ich Ihnen
namens der Fraktion Gespräche angeboten habe. Dazu
will ich aber gleich noch kommen.

Ihre Aussagen bezüglich des Dialogs der Parteien mit
den Bürgern kann ich aber nicht stehen lassen. Sie haben
in Ihrer Begründung geschrieben, ein System wirklich
konkurrierender Parteien fördern und alle Parteien zum
Dialog mit den Wählerinnen und Wählern zwingen zu
wollen. Dagegen habe ich mich gewandt. Wir können
doch nicht gesetzlich regeln, wie die Parteien in den Dia-
log mit den Bürgern treten. Wenn die Parteien das nicht
von sich aus machen, werden sie schon die Quittung von
den Bürgern bekommen. Es ist aber eine ureigenste Auf-
gabe der Parteien selbst, zu entscheiden, wie sie ihren po-
litischen Dialog nach außen darstellen und organisieren
wollen.

Ich möchte zunächst eine Feststellung in Richtung An-
tragstellerin machen: Sie haben Ihren Gesetzentwurf sehr
dilatorisch behandelt. Ich habe Ihnen in der ersten Lesung
Gespräche angeboten. Sie haben das Gespräch nicht ge-
sucht. Ich habe den Eindruck – ich wiederhole das aus der
ersten Lesung –, Sie wollen eine Ablehnung, um sagen zu
können: Da sieht man es wieder einmal, die etablierten
Parteien sind gegen eine Demokratisierung des Wahl-
rechts. Das haben Sie in der 12. Legislaturperiode ver-
sucht; das haben Sie in der 13. Legislaturperiode versucht;
das gleiche Spiel machen Sie in der 14. Legislaturperiode.

Ich meine, schon die Überschrift „Demokratisierung
des Wahlrechtes“ lässt tief blicken. Wahlrecht ist Kernbe-
standteil einer Demokratie. Ohne Wahlen, die auf den
Grundsätzen der allgemeinen Wahl, der freien Wahl, der
öffentlichen Wahl, der geheimen Wahl und bei uns auch
der unmittelbaren Wahl beruhen, kann es keine Demokra-
tie geben.


(V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Da habe ich etwas Probleme mit Ihrer Begrifflichkeit: Sie
wollen ein Wesenselement der demokratischen Grund-
ordnung, einer parlamentarischen Demokratie, demokra-
tisieren. Da komme ich nicht so ganz mit.

In Ihrer Begründung schreiben Sie auch, dass es Ihnen
um die Überwindung der Politik- und Parteiverdros-
senheit geht. Diese gibt es, das bestreitet niemand. Aber
lassen Sie mich Ihnen sagen: Ihre Therapievorschläge
zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Schlichtheit
aus. Politik- und Parteiverdrossenheit durch die Abschaf-
fung der Fünfprozentklausel und durch die Einführung
von Präferenzstimmen beseitigen zu wollen, das ist mir
ein bisschen zu kurz gesprungen. Wenn Sie meinen, dass
schon dadurch die Vertrauenskrise zwischen Bürgern und
Parteien beseitigt werden kann, dann haben Sie sich
getäuscht. Die Ursachen liegen tiefer.

Die Ursachen dafür, dass die Bürger kein Vertrauen in
Politik und Politiker mehr haben, liegen darin, dass die
Politiker und die Politik ihre Glaubwürdigkeit verloren
haben. Wer zwei Tage im Untersuchungsausschuss war
und das zwei Tage miterlebt hat – dass machen wir ja ge-
meinsam –, der weiß, warum das so ist. Da wird die Aus-
sage verweigert, da wird nichts gewusst, da kann man sich
an nichts erinnern. Man kann sich dann nur sehr konkret
erinnern, dass man sich an nichts erinnern kann – das weiß
man dann ganz genau. Da wird bedenkenlos Verfassungs-
und Rechtsbruch begangen, wenn es der eigenen Partei
und der eigenen Machterhaltung dient. Da wird der poli-
tische Wettbewerb, der Wettbewerb der Ideen, durch Geld
ersetzt. Da wird im Prinzip demokratiefeindliches Ver-
fahren praktiziert. Davon wenden sich die Menschen mit
Recht angewidert ab. Deshalb müssen wir dagegen kämp-
fen. Wir müssen die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen,
nicht formale Änderungen im Wahlrecht vornehmen, um
Partei- und Politikverdrossenheit zu überwinden.

Meine Damen und Herren, Wahlrecht ist ein ganz sen-
sibles Rechtsgebiet. Hier darf kein Verdacht aufkommen,
dass eine Partei Vorschläge macht, die nur ihrem eigenen
Interesse dienen. Bei Ihrem Vorschlag, die Fünfprozent-




Dr. Evelyn Kenzler
12994


(C)



(D)



(A)



(B)


klausel zu streichen, habe ich ein wenig das Gefühl, dass
das eben doch in der Interessenlage der PDS liegt, weil sie
Sorgen hat für 2002. Nehmen Sie mir bitte nicht übel, dass
ich das so sage.

Ich wiederhole: Wahlrecht ist ein sehr sensibles
Rechtsgebiet, und wir sind der Auffassung, dass Ände-
rungen nur dann vorzunehmen sind, wenn sie notwendig
werden. Man muss sehr behutsam an dieses Thema heran-
gehen. Der Politikwissenschaftler Heinrich Pehle sieht
die Notwendigkeit dann, wenn das Wahlrecht sein Legiti-
mationspotenzial verliert. Als Legitimationspotenzial
nennt er die Chancengleichheit für Wähler und Parteien
und auch die Nachvollziehbarkeit und Transparenz
der Spielregeln. Dieses Legitimationspotenzial ist nicht
berührt. Deshalb meinen wir, dass eine grundlegende Re-
vision des Wahlrechts nicht erforderlich ist.

Kurz zu Ihren Vorschlägen: Ausländerwahlrecht. Sie
wissen ganz genau, dass es in diesem Haus dafür keine
Zweidrittelmehrheit gibt. Das Problem des Art. 79 Abs. 3
in Verbindung mit Art. 20 des Grundgesetzes können Sie
mit „Europa“ auch nicht wegdiskutieren. Der Begriff des
Staatsvolks zählt nämlich zu den unveränderlichen Be-
griffen und Inhalten des Artikels 20 und ist damit einer
Grundgesetzänderung entzogen.

Überhangmandate: Sie bewegen sich auf verfas-
sungsrechtlich unglaublich vermintem Gebiet. Wenn
Überhangmandate durch Landeslistenplätze ausgeglichen
werden sollen, muss ich Sie fragen: Von welcher Landes-
liste sollen dann die Plätze gestrichen werden? Damit
würden Sie nachträglich das Wahlergebnis auf Landes-
ebene korrigieren. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: Das
Bundesverfassungsgericht wird das nicht mitmachen.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Das Problem hat sich auch entschärft. Einmal durch das
Wahlkreisneugliederungsgesetz, aber auch durch das
neue Wahlkreisgesetz, über das wir im Augenblick disku-
tieren, wird sich die theoretische Zahl der Überhangman-
date, die immer noch möglich sind, deutlich reduzieren.
Damit ist das verfassungsrechtliche Problem eindeutig
entschärft.

Zur Frage der Präferenzstimmen: Sie stellen sich ein
Stück mehr Demokratie vor, wenn in Nordrhein-West-
falen 70 Namen auf der Landesliste stehen, die der Wähler
alle nicht kennt. Dass das ein zusätzliches Stück Bürger-
demokratie sein soll, kann ich auch nicht nachvollziehen.


(Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Schauen Sie doch nach Bayern! – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Sie unterschätzen die Bürger in hohem Maße!)


Was sich auf kommunaler Ebene bewährt hat, muss auf
Landesebene noch lange nicht richtig sein. Ich sage Ihnen:
Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse bei
Wahlen. Bei diesem Satz wissen Sie, was ich meine.

Schließlich zum Wahlalter 16:Dieses Thema ist in der
politischen Diskussion, aber auch hier füge ich hinzu: Wir
wollen die Erfahrungen abwarten, die mit der Senkung
des Wahlalters auf 16 gemacht wurden. Die Senkung hatte

als Ziel und Zweck, zusätzliche Partizipation von Ju-
gendlichen zu erreichen. Wenn das der Fall ist – und dafür
braucht man Erfahrungen –, dann werden wir darüber
auch hier ernsthaft und ergebnisoffen diskutieren.

Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Er ist ein
Sammelsurium von Vorschlägen. Ich möchte noch einmal
den Politikwissenschaftler Heinrich Pehle zitieren, der
uns, dem Parlament, eine Note gibt. Pehle sagt: Wir haben
es mit einem Wahlgesetzgeber zu tun, der von seinem
Handwerk nicht sonderlich viel versteht.

Das kann ich so nicht stehen lassen. Was Herr Pehle
sagt, muss ich in aller Form zurückweisen. Wir verstehen
von unserem Handwerk schon etwas.

Wenn wir aber diesem Antrag zustimmen würden,
dann hätte Herr Pehle Recht. Recht will ich ihm in dem
Zusammenhang aber nicht geben. Wir werden diesen Ge-
setzentwurf ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413405800
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Marschewski.


Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1413405900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! In einem hat der Kollege Friese völlig Recht: Die
PDS ist eine langweilige Partei.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der PDS)


– Ich werde es Ihnen gleich belegen. Sie ist eher grau als
rot. Von Ihnen haben wir schon lange nichts Neues mehr
gehört. Parlamentarisch dokumentieren Sie Ihre Einfalls-
losigkeit dadurch, dass Sie immer wieder die gleichen, die
alten, die untauglichen Vorschläge zur Beratung vorlegen,
so auch bei diesem Gesetzentwurf, Frau Kollegin. Den
kennen wir seit Jahren.

So beraten wir in erster Lesung, im Ausschuss, dann
noch in zweiter und dritter Lesung im Deutschen Bun-
destag, und das Ergebnis ist immer das gleiche: Alle an-
deren Fraktionen des Hohen Hauses lehnen Ihre Vor-
schläge ab,


(Zuruf der Abg. Dr. Evelyn Kenzler [PDS])

nicht weil sie von der PDS sind – wir haben im Ausschuss
sehr lange über diese Vorschläge diskutiert –, sondern
weil sie das Wahlrecht einfach nicht verbessern.

Doch um die Meinung dieser großen Mehrheit im Bun-
destag schert sich die PDS immer noch nicht, genauso wie
in alter Zeit, sehr verehrte Frau Kollegin. Stattdessen wer-
den unverdrossen alte Anträge abgeschrieben, neu einge-
bracht und dann hier diskutiert.

Wenn Sie Anträge abschreiben wollen, die gut sind,
dann wäre es besser, Sie würden das tun, was die SPD
diese Woche gemacht hat. Sie hat unsere Vorschläge hin-
sichtlich kinderreicher Familien von Beamten akzeptiert.
Zunächst einmal hatte die SPD sie abgelehnt, dann aber




Harald Friese

12995


(C)



(D)



(A)



(B)


wortgleich übernommen, unter eigener Fahne eingebracht
und dann schließlich beschlossen. Dies ist zwar etwas
peinlich für die SPD. Aber es zeigt immerhin, wie man et-
was Wirkungsvolles erreichen kann.

Zu Ihrem Gesetzentwurf: Sie wollen das Wahlalter
auf 16 Jahre senken.


(Dr. Evelyn Kenzler [PDS]: Genau!)

Das könnte verlockend sein. Sie wissen aber auch, dass
der Mythos der Linken als Jungwählermagnet hin ist.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist ja so was von billig! Darum geht es gar nicht!)


Wir werden uns dieser Forderung Ihres Gesetzentwurfs
nicht anschließen.

Gleiches gilt für die Regelung hinsichtlich der Fünf-
prozentklausel. Übrigens: Wenn man den jungen Men-
schen mehr Rechte gibt, dann muss man ihnen auch mehr
Pflichten geben. Deswegen können wir diesem Gesetz-
entwurf nicht zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es wäre vielleicht besser – ich will nur kurz darauf ein-

gehen –, zum Beispiel das Wahlrecht der über 500 000
im Ausland lebenden Deutschen anders zu regeln. Es ist
nämlich so kompliziert, dass die Menschen nicht zur Wahl
gehen. Dieses Wahlrecht müsste geändert werden.

Es wäre selbstverständlich sinnvoll – ich fordere dies
erneut –, die Legislaturperiode auf fünf Jahre auszu-
dehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie direkte Demokratie, dann machen wir das!)


Kaum sind wir ins Parlament gewählt, wird erneut ge-
wählt. Das ist nicht gut.

Es ist Freitagnachmittag. Daher will ich es sehr kurz
machen: Wir sind mit Ihren Vorschlägen nicht einverstan-
den. Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [PDS]: Dünn! Dünn! Dünn!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413406000
Aber wirklich
ungewöhnlich kurz! Vielen Dank im Interesse aller.

Jetzt hat der Kollege Cem Özdemir das Wort.


Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413406100
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stehe natür-
lich jetzt, nachdem sich der Kollege Marschewski kürzer
gefasst hat, als es seine Redezeit vorsah,


(Harald Friese [SPD]: Ausnahmsweise!)

stark unter dem Druck, es ihm nachzutun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ CSU]: Mach es kurz! Wir wollen nach Hause! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Nicht trödeln!)


Sie wissen, dass meine Fraktion sehr gerne zu dem
Thema „mehr Demokratie“ redet. Der Hintergrund ist,
dass wir Kinder der Demokratie- und der Bürgerrechts-
bewegung sind, lieber Max Stadler.


(Zuruf von der PDS: Das ist schon lange vergessen!)


– Wir wissen das noch sehr genau und arbeiten im Ge-
gensatz zu Ihnen daran.

Allerdings – darauf haben verschiedene Vorredner be-
reits hingewiesen – ist das, was Sie vorgelegt haben, liebe
Kolleginnen von der PDS, wahrlich nicht sehr originell.
Es ist eine Stoffsammlung dessen, was Sie in den vergan-
genen Jahren gemacht haben. Ich glaube aber, dass jede
Fraktion ein Recht darauf hat, dass ihre Anträge ernsthaft
beraten werden. Deshalb will ich mich im Folgenden kurz
mit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf auseinan-
der setzen.

Ein Punkt in diesem Gesetzentwurf ist die Senkung
des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre. Ich möchte nicht
verhehlen, dass wir vom Bündnis 90/Die Grünen Sympa-
thien dafür hegen. Ich sage allerdings auch – darauf hat
der Kollege Friese zu Recht hingewiesen –, dass man erst
die Erfahrungen auf der kommunalen Ebene abwarten
sollte. Gerade wenn man ernsthaft Interesse daran hat,
dass dieses Thema noch populärer wird, sollte man die
breite öffentliche Debatte suchen und sollte sie mit denen
führen, die gegenwärtig gegen eine Absenkung des Wahl-
alters auf 16 Jahre sind.


(Rosel Neuhäuser [PDS]: Die Erfahrungen gibt es aber schon!)


Ich rede genauso wie Sie mit Jugendlichen. Was man
von denen hört, ist durchaus unterschiedlich. Wenn man
für die Absenkung des Wahlalters ist, dann muss man
schon das ernst nehmen, was die Jugendlichen sagen.
Meine Erfahrung ist – vielleicht sieht Ihre Erfahrung an-
ders aus –, dass die Meinungen sehr unterschiedlich sind.


(Harald Friese [SPD]: So ist es!)

Auf der einen Seite gibt es Jugendliche, die sagen, dies sei
sinnvoll. Auf der anderen Seite gibt es Jugendliche, die
das Gegenteil erklären. Ich halte nichts davon, dass wir
Sechzehnjährigen erklären, was für sie gut und was für sie
schlecht ist. Ich komme aus einer Partei, die dafür eintritt,
dass Ältere den Jugendlichen nicht sagen, was sie zu tun
oder zu lassen haben.

Mein Appell: Lassen Sie uns diese wichtige Diskussion
auf einer breiten Grundlage führen! Ich richte an die
Union den Appell, ihren pauschalen Widerstand gegen
mehr Jugendrechte, beispielsweise gegen ein Jugend-
wahlrecht auf Landesebene, aufzugeben und hier in eine
seriöse Diskussion einzutreten. Das kann der Demokratie
insgesamt nur gut tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)


Was die Grundgesetzänderung zum Ausländerwahl-
recht angeht, möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu neh-
men, dass wir das Staatsangehörigkeitsrecht geändert ha-
ben. Man kann sicherlich der Meinung sein – auch ich bin




Erwin Marschewski (Recklinghausen)

12996


(C)



(D)



(A)



(B)


dieser Meinung –, diese Änderung des Staatsangehörig-
keitsrechts sei nicht weit genug gegangen. Wir bedauern
dies ebenfalls. Ich glaube, auch Max Stadler bedauert das.
Aber seine Fraktion war es, die das Gesetz in wesentli-
chen Teilen verschlimmbessert hat.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Die Regelung ist insgesamt sehr bedauerlich!)


Jetzt wird sie hoffentlich mit uns gemeinsam daran arbei-
ten, das Gesetz an den entsprechenden Stellen wieder zu
verbessern, Stichworte: Gebühren, Frist.

Mit dem Staatsangehörigkeitsrecht haben wir das Ge-
burtsrecht eingeführt. Dadurch haben wir in Deutschland
eine historische Zäsur. Das heutige Deutschland ist nicht
mehr dasselbe Deutschland wie vor dem 1. Januar 2000.
Das Ius soli ist in diesem Land eine neue Entwicklung. Ich
verstehe nicht, warum Sie sich auf das Ausländerwahl-
recht beschränken wollen. Ist es denn nicht viel mehr
wert, wenn Menschen, die hier geboren sind, mit der Ge-
burt gleiche Rechte und gleiche Pflichten erhalten, das
heißt Bürgerinnen und Bürger erster Klasse sind? Der
Weg in das Ausländerwahlrecht ist ein Weg in die Ver-
gangenheit. Der Weg zu gleichen Rechten über das Staats-
angehörigkeitsrecht ist der Weg in die Zukunft.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das haben wir doch alles gestern schon gehört!)


Hier befinden wir uns übrigens in guter Gesellschaft mit
unseren europäischen Nachbarn. Wir haben uns mit unse-
rem Staatsangehörigkeitsrecht an das europäische Recht
angenähert, an ein Recht, das viele andere Länder prakti-
zieren.

Ich will mich aber auch hier ernsthaft damit beschäfti-
gen. Ich rate Ihnen, das Urteil des Bundesverfassungs-
gerichtes zum kommunalen Wahlrecht nicht außer
Acht zu lassen. Man kann dieses Urteil unterschiedlich
bewerten, aber es ist da. Das Risiko, dass man das Ver-
fassungsrecht verfassungswidrig gestaltet, ist meiner
Fraktion zu groß, als dass wir diesen Weg für einen gang-
baren Weg hielten. Ich halte auch nichts davon, Doppel-
botschaften auszusenden, indem wir zwischen Wahlrecht
und Einbürgerung differenzieren. Der Weg zum Wahl-
recht führt darüber, dass man sich zu einer Gesellschaft
bekennt und Bürger des jeweiligen Landes wird.

Lassen Sie uns lieber über das kommunale Wahlrecht
reden. Da gibt es wirklich ein Ärgernis, das meine Frak-
tion beseitigen möchte. Wir möchten das kommunale
Wahlrecht auch auf Drittstaatenausländer ausdehnen.
Dieser Punkt steht in unserer Koalitionsvereinbarung. Sie
wissen, dass die Umsetzung bisher daran scheitert, dass
wir keine verfassungsändernde Mehrheit haben. Das ist
aber eine Sache, die Ihre und unsere Energie lohnt. Ich ap-
pelliere an Sie, dass wir uns dafür einsetzen.

Zum Schluss noch eine Anmerkung zur Fünfprozent-
klausel. Sie wissen, dass die Höhe der Klausel, die Sie ab-
schaffen wollen, bisher auch dazu diente, Leute zu ver-
hindern, die wir hier, glaube ich, alle nicht haben wollen:
Leute von der NPD, die hoffentlich bald verboten wird,

über die DVU bis hin zu den Republikanern und anderen
sehr unangenehmen Zeitgenossen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: KPD/ML! DKP!)


Ich halte nichts davon, dass man die Debatte zu diesem
Thema durch eine völlige Beseitigung der Sperrklausel
kaputtmacht. Ich glaube allerdings schon, dass wir mit
Blick auf die Urteile, die es in diesem Zusammenhang
gibt – Stichwort: NRW und Kommunalwahl –, bei ande-
rer Gelegenheit darüber diskutieren sollten, ob wir nicht
auf kommunaler Ebene weiter gehen können, als wir es
bisher tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413406200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Max Stadler.


Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1413406300
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Zum dritten Mal hin-
tereinander beschäftigen wir uns am Freitagmittag mit
Gesetzentwürfen zum Wahlrecht. Aber während es in der
ersten Debatte um Formalien ging und in der zweiten um
die Wahlkreiseinteilung geht, dringen wir aufgrund des
Antrags von Frau Kollegin Kenzler jetzt allmählich zu
den wirklich substanziellen Fragen vor.

Gleichwohl will ich vorweg sagen, dass auch die
F.D.P.-Fraktion den PDS-Antrag ablehnt, weil in ihm
zwar diskussionswürdige Ideen, aber auch einige Punkte
enthalten sind, denen wir nicht zustimmen können.

Wir meinen zum Beispiel, dass das Wahlalter und das
Volljährigkeitsalter identisch sein sollten. Da derzeit nie-
mand eine Absenkung des Volljährigkeitsalters von
18 Jahren auf 16 Jahre betreibt, kann man auch das Wahl-
alter nicht auf 16 Jahre absenken.

Zum Ausländerwahlrecht hat Kollege Özdemir am
Ende seiner Ausführungen dann doch noch den richtigen
Punkt gefunden. Ich war über seine Argumentation
zunächst ein wenig erschrocken; denn verfassungsrecht-
lich ist es uns nicht verboten, ein Ausländerwahlrecht ein-
zuführen. So deute ich die Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts jedenfalls nicht.


(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf Bundesebene wäre es sehr kritisch!)


Aber auch wir meinen, der erste Schritt wäre, das Wahl-
recht auf kommunaler Ebene über EU-Staatsangehörige
hinaus auf Angehörige von Drittstaaten auszudehnen, im-
mer geknüpft an eine bestimmte Aufenthaltsdauer in
Deutschland, etwa fünf Jahre. Damit sollte man beginnen;
das hat wirklich eine Berechtigung. Später kann man sich
dann der Problematik auf Länder- und Bundesebene zu-
wenden, nicht schon jetzt.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Präferenzstimmen, die von der PDS vorgeschla-
gen werden, sind, Herr Kollege Friese, aber durchaus dis-
kussionswürdig. Hierfür gibt es Beispiele, etwa im




Cem Özdemir

12997


(C)



(D)



(A)



(B)


bayerischen Landtagswahlrecht. Was bedeutet das? Es be-
deutet, dass nicht die Parteien mit ihrer Vorauswahl und
der Reihenfolge auf den Listen, die zur Abstimmung ge-
stellt werden, praktisch schon bestimmen können, wer in
das Parlament einzieht, sondern dass die Wählerinnen und
Wähler innerhalb der Listen Kandidaten nach vorne oder
nach hinten wählen können. Das ist eindeutig ein Mehr an
Demokratie. Ich verstehe Ihr Verdikt, das Sie vorhin aus-
gesprochen haben, nicht ganz. Dieser Punkt wird von der
F.D.P. sehr wohl als diskussionswürdig angesehen.

Dagegen haben Sie Recht, Herr Kollege Friese, wenn
Sie feststellen, dass die Problematik der Überhangman-
date nicht mehr so aktuell ist wie früher. Denn durch die
neue Wahlkreiseinteilung ist ja sichergestellt, dass kaum
noch Überhangmandate auftreten. Unabhängig davon
muss man aber festhalten: Überhangmandate sind eine
Abweichung vom eigentlichen Wahlergebnis, das nach
dem Verhältniswahlrecht festgestellt wird. Daher hat die
PDS zu Recht versucht, hierzu einen Lösungsvorschlag
zu machen. Aber, wie gesagt, diese Thematik ist nicht ak-
tuell.

Schließlich zur Fünfprozentklausel:Als Angehöriger
einer kleinen Partei gerät man hier immer in den Verdacht,
pro domo zu sprechen.


(Heiterkeit)

Seitdem aber die F.D.P. ihr Projekt 18 in die Welt gesetzt
hat, weiß ja jeder, dass wir davon nicht mehr betroffen
sind,


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS – Lachen bei der SPD)


sodass ich hier gewissermaßen aus neutraler Warte fest-
stellen kann: Jede Sperrklausel führt dazu, dass der Er-
folgswert der einzelnen Wählerstimme nicht mehr der
gleiche ist. Das ist das eigentliche Problem der Sperr-
klauseln.


(Beifall bei der PDS)

Manche Stimmen, die abgegeben werden, fallen unter den
Tisch und andere werden in ihrem so genannten Erfolgs-
wert erhöht. Das halte ich für wirklich problematisch. Zu-
mindest auf der kommunalen Ebene sollte man dem Vor-
bild mancher Kommunalverfassungen folgen und die
Fünfprozentklausel dort hinwerfen, wo sie hingehört,
nämlich in den Mülleimer der Wahlrechtsgeschichte.


(Beifall bei der F.D.P. und der PDS)

Meine Damen und Herren, ich glaube, der Gesetzent-

wurf der PDS gibt Anlass – und damit möchte ich
schließen –, dass wir über die im Einzelnen vorgelegten
Vorschläge hinausdenken. Es ist ja mehr zu tun, um das
Vertrauen in die Demokratie bzw. in die Parteiendemo-
kratie wieder herzustellen. Das Ziel muss lauten, mehr
direkte Mitbestimmung für die Bürgerinnen und Bür-
ger zu ermöglichen. Das heißt, man muss ernsthaft darü-
ber nachdenken, die Möglichkeiten der Volksinitiative,
des Volksbegehrens und des Volksentscheides auch auf
Bundesebene einzuführen.

Dies setzt zweierlei voraus: Da man dafür eine Verfas-
sungsänderung benötigt, muss zum Ersten die Union end-
lich über ihren Schatten springen und bereit sein,


(Beifall bei der F.D.P., dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)


diesen Vorschlägen näher zu treten, wie dies aus den Rei-
hen der CSU eigentümlicherweise neuerdings gefordert
wird. Dies setzt zum Zweiten voraus, dass die Regie-
rungskoalition aus Rot-Grün endlich daran geht, nicht nur
über ihre Wahlversprechen zu reden, sondern auch dem-
entsprechend zu handeln, oder dass der Versuch des Han-
delns, den Teile der Regierungskoalition für sich bean-
spruchen können, endlich auch zu einem Erfolg führt.

Alles in allem sollte der Gesetzentwurf der PDS Anlass
sein, dass das, was in jeder dieser Debatten immer wieder
beschworen wird, endlich realisiert wird: Wir alle müssen
uns an einen Tisch setzen und ernsthaft über eine Mo-
dernisierung des Wahlrechts bzw. des Abstimmungsrechts
in der Bundesrepublik Deutschland verhandeln – mit dem
Ziel, mehr Mitbestimmung für die Wählerinnen und
Wähler zu erreichen.


(Beifall bei der F.D.P., dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413406400
Ich schließe da-
mit die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Demokratisierung des Wahl-
rechts auf Drucksache 14/1126. Der Innenausschuss emp-
fiehlt auf Drucksache 14/2150, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS mit den
Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt worden. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-
tung.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Investitionszulagengesetzes
1999
– Drucksache 14/3273 –

(Erste Beratung 102. Sitzung)


a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksachen 14/4624, 14/4626 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Simone Violka
Gerhard Schulz (Leipzig)


b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 14/4627 –




Dr. Max Stadler
12998


(C)



(D)



(A)



(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Wider-
spruch? – Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Lothar Binding.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1413406500
Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
freuen uns natürlich, dass diesem Gesetzentwurf alle zu-
stimmen werden. Insofern wird es jetzt sicherlich keine
sehr hektische Debatte geben. Aber es lohnt sich doch, bei
einzelnen Punkten einmal genauer hinzuschauen, was wir
damit eigentlich erreichen wollen.

Zunächst zielt der Gesetzentwurf insbesondere darauf
ab, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Euro-
päische Kommission die Genehmigung für die betrieb-
liche Förderung durch das Investitionszulagengesetz
1999 ab dem Jahr 2000 erteilt.

Zur Lösung dieses Problems gibt es eine ganze Reihe
von Einzelmaßnahmen, auf die noch genauer eingegan-
gen wird. Ich möchte mich auf folgende Punkte be-
schränken: die Aufhebung der mit dem Steuersenkungs-
gesetz beschlossenen Einschränkung bei der Verrechnung
von Gewinnen und Verlusten aus Aktien- und Derivaten-
geschäften, bei Eigenhandel von Kreditinstituten und be-
stimmten Finanzdienstleistungsunternehmen. Man fragt
sich, was das mit dieser Überschrift zu tun hat, und er-
kennt es schnell. Es ist Eile geboten und es geht darum,
dass diese Vorhaben gleichzeitig in Kraft treten sollen.

Ich möchte zweitens etwas zur Steuerbefreiung der pri-
vaten Nutzung von betrieblichen Personalcomputern und
Telekommunikationsgeräten durch Arbeitnehmer, drit-
tens etwas zur Änderung des Gemeinnützigkeitsrechts
und viertens etwas zum Missbrauch in Bezug auf Steuer-
vergünstigungen für gemeinnützige Körperschaften sa-
gen.

Einmal angenommen, es gäbe keinen Betrug, dann
müssten wir an verschiedenen Stellen auch gar nichts tun.
Leider ist es aber so, dass im Umsatzsteuerbereich gegen-
wärtig geschätzt wird, dass wir einen zwei- bis dreistelli-
gen Milliardenbetrag an Betrugsvorgängen haben. Die
Erfahrungen aus der Prüfungspraxis zeigen, dass zur ef-
fektiven Umsatzsteuerkontrolle mehr Informationen
verfügbar sein müssen, die zeitnahe und übergreifende
Untersuchungen erlauben.

Die Hauptursache für die Betrugstatbestände und die
Schwierigkeit, diese aufzudecken, sind Ringgeschäfte,
die länderübergreifend organisiert werden und deshalb
besonders schwer erfassbar sind. Gegenwärtig existiert
eine Liste bei der OFD Köln, die Schein- und Betrugsfir-
men usw. erfasst. Allerdings wird diese Liste nur einmal

jährlich erneuert und ist im Grunde genommen für eine
zeitnahe Lösung der Probleme nicht geeignet.

Die Prüfungsdienste der Länder können gegenwärtig
auf keine Dateien oder Datenbanken zugreifen, um diese
Probleme zu lösen. Deshalb gibt es Handlungsbedarf. Es
soll eine Datenbank beim Bundesamt für Finanzen einge-
richtet werden, die eine Sammlung und Auswertung von
Informationen über Betrugsfälle im Bereich der Umsatz-
steuer ermöglicht, um damit dem Betrug in diesem Be-
reich zukünftig Einhalt zu gebieten.

Mein nächstes Stichwort heißt Gemeinnützigkeits-
recht. Wir haben Steuervergünstigungen nur für ideelle
satzungsgemäße Tätigkeit gemeinnütziger Körperschaf-
ten vorgesehen und das wollen wir auch. Es gibt auch
Steuervergünstigungen für wirtschaftliche Betätigungen
gemeinnütziger Körperschaften, aber diese wollen wir
nicht; denn sie wären gegenüber den im Wettbewerb ste-
henden steuerpflichtigen Unternehmen unfair.

Nun gibt es einen Trick, mit dem man Steuervergüns-
tigungen für gemeinnützige Körperschaften zur Beschaf-
fung steuerbegünstigter Spenden gemeinnützigen Förder-
vereinen vorschaltet und damit den Missbrauch
systematisch organisiert. Angenommen, es gäbe diesen
Missbrauch nicht, dann hätten wir keinen Handlungsbe-
darf, aber zur Vermeidung dieser Missbrauchsmöglich-
keit wird mit Art. 5 die Abgabenordnung geändert.

Ein weiterer Punkt bezieht sich auf die steuerfreie In-
ternetnutzung unabhängig vom Verhältnis der berufli-
chen und privaten Nutzung. Sachbezüge – vorausgesetzt,
der Arbeitgeber stimmt zu – führen zu einem extrem kom-
plexen Bewertungssystem. Aufteilung und Abgrenzung
von privater Nutzung von DV-Anlagen ist extrem kom-
pliziert und steuerlich praktisch nicht gerecht zu hand-
haben.

Im Grenzbereich, in dem innovative Entwicklungen
und deren umfassende Anwendungspraxis auch dem Ar-
beitgeber nutzen, ist es sehr sinnvoll, solche Tätigkeiten
steuerfrei zu stellen. Vielleicht hätten wir vor 100 Jahren
eine entsprechende Regelung für jemanden treffen müs-
sen, der die Drehbank für private Zwecke nutzte und da-
mit dem Betrieb diente. Daraus abgeleitet existiert aber
natürlich kein Rechtsanspruch für den Arbeitnehmer; es
ist alles nur insofern möglich, als es der Arbeitgeber er-
laubt.

Ich möchte noch auf einen Sonderfall zu sprechen
kommen, der sich auf Aktien und Derivate bezieht. Die
Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften
und Dividenden sind steuerfrei; das ist mit dem Halbein-
künfteverfahren systematisch auch sehr gut begründbar.
Ziel war dabei, Strukturwandel und innovative Entwick-
lungen zu erleichtern, Fehlallokationen von Kapital zu
vermeiden usw. All dies erfordert aber langfristig geplante
und langfristig wirkende Transaktionen.

Deshalb gibt es in § 8 b Körperschaftsteuergesetz die
Einjahresfrist, die sicherstellen soll, dass unterjährig
verkaufte Anteile der vollen Besteuerung unterliegen.
Außerdem wird auch der Ausgleich von unterjährigen
Verlusten aus Aktiengesellschaften auf Gewinne aus
gleichartigen Geschäften eingeschränkt. Zum Beispiel




Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

12999


(C)



(D)



(A)



(B)


sind Derivatgewinne nur mit Derivatverlusten verre-
chenbar. Das bedeutet, einerseits werden bei Banken und
Finanzdienstleistern Risikooptionen aus Aktien durch ge-
genläufige Risikooptionen aus Aktienderivaten gesichert.
Solche Sicherungsgeschäfte sind in vielen Fällen auf-
sichtsrechtlich ausdrücklich vorgeschrieben. Andererseits
wird eine solche Risikokompensation bei der Beschrän-
kung von Verlustausgleich und Verlustverrechnung auf
Gewinne und Verluste gleichartiger Geschäfte nach § 15
Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes ausgeschlossen.

Aufgrund der ungleichen Verteilung von Gewinnen
und Verlusten ist dies ein unmöglicher Zustand. Das be-
deutet: Ein wirtschaftliches Nullgeschäft kann zu einem
steuerlichen Plusgeschäft und damit zu einem gravieren-
den Liquiditätsabfluss in diesen Betrieben führen. Bei-
spiel: Ich habe durch Aktien einen Verlust von 100 DM,
durch Derivate einen Gewinn von 100 DM. Das bedeutet
handelsrechtlich einen Gewinn von 0 DM, aber es sind
100 DM zu versteuern. Das ist natürlich nicht gewollt.
Deshalb wird die Behandlung von Aktien und Derivaten
neu geregelt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413406600
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Schulz.


Gerhard Schulz (CDU):
Rede ID: ID1413406700
Frau Präsidentin! Sehr
verehrte Damen und Herren! Es ist schön, als Zweiter zu
reden; denn dann kann man manches weglassen, weil es
schon gesagt worden ist. Aber es gibt immer noch etliche
Punkte des Gesetzentwurfes, die einfach genannt werden
müssen. Das ist die Pflicht eines Berichterstatters.

Ich komme zur Änderung des Investitionszulagenge-
setzes. Die EU-Kommission hat verlangt, die Förderung
für Berlin abzusenken. Stattdessen wird vorgeschlagen
– das soll im Gesetz beschlossen werden –, die Förderung
der östlichen Randgebiete zu verstärken. Damit wird der
Rückgang der Förderung im Raum Berlin durch Mehr-
ausgaben im östlichen Teil der neuen Bundesländer wie-
der aufgefangen, sodass der Förderrahmen insgesamt
gleich bleibt. Das ist eine sehr gute Entwicklung. Ich
hoffe sehr, dass die EU dem zustimmt; denn diese beiden
Regelungen benötigen immer noch die Zustimmung der
EU.

Allerdings wurde in diesem Zusammenhang von uns
diskutiert, ob es wirklich sinnvoll sei, die Vergünstigun-
gen – dies ist im Investitionszulagengesetz 1999 geplant –
für das Handwerk in diesem Gebiet mit dem Jahr 2002
auslaufen zu lassen. Zur Erinnerung: Es ist vereinbart
worden: Bevor diese Regelung in Kraft tritt, soll durch ein
Gutachten festgestellt werden, ob die Investitionszu-
lagenförderung 1999 wirklich so weit vorangeschritten
ist, dass es möglich ist, die Vergünstigungen für das Hand-
werk auslaufen zu lassen oder nicht. Dieses Gutachten ist
in Auftrag gegeben worden. Wir haben vereinbart, dass
wir anhand des Gutachtens über eine Verlängerung der In-
vestitionszulagen für das Handwerk beschließen.

Im § 2 des Investitionszulagengesetzes wird neu gere-
gelt, dass der Zeitpunkt der Inanspruchnahme einer Inves-
titionszulage für Gebäude und Betriebsvorrichtungen
der Herstellungsbeginn ist. Das führte bei Gebäuden, für
die eine Baugenehmigung erforderlich ist, zu Problemen.
Nunmehr ist es so geregelt: Als Investitionsbeginn gilt der
Zeitpunkt der Einreichung der Bauunterlagen oder die
Abgabe des Antrags auf Baugenehmigung. Leider Gottes
steht nur in der Begründung, dass diese Regelung auch für
Anlagen gilt. Unsere Bitte, dies in den Gesetzestext hi-
neinzunehmen, um damit klarzustellen, dass diese Rege-
lung nicht nur für Gebäude, sondern auch für Anlagen gilt,
wurde mit der Begründung abschlägig beschieden: Wenn
das in den Gesetzestext aufgenommen würde, um Klar-
heit zu schaffen, würde dies zur Verunsicherung führen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Klarheit schafft Verwirrung! – Dr. Barbara Höll [PDS]: Verunsicherung bei den Finanzbeamten und nicht bei den Bürgerinnen und Bürgern!)


– Das führt zur Verunsicherung der Finanzbeamten, Frau
Höll; das ist völlig richtig. – Ich sage es hier noch einmal:
Diese Regelung gilt auch für Anlagen.

Die Änderung in § 3 des Investitionszulagengesetzes
bewirkt, dass der Käufer eines saniertes Mietwohngebäu-
des, für dessen Sanierung die Investitionszulage bereits in
Anspruch genommen wurde, die erhöhte Abschreibung
nicht noch einmal in Anspruch nehmen kann. Dieses Ku-
mulierungsverbot verhindert eine ungerechtfertigte dop-
pelte Förderung, was durchaus nachvollziehbar ist.

Weiterhin wird geregelt – damit die Behörden besser
miteinander klarkommen –, dass die Feststellung der Be-
messungsgrundlage für die Investitionszulage für Wirt-
schaftsgüter nicht mehr wie bisher vom Finanzamt des
Wohnsitzes, sondern vom Betriebsfinanzamt vorgenom-
men werden soll. Das ist aber keine Erschwernis für die
Antragsteller selber, so wird uns versichert. Denn der An-
trag wird nach wie vor beim Wohnsitzfinanzamt gestellt.
Dann wird das weitergereicht und geprüft.

Der geänderte § 6 des Investitionszulagengesetzes re-
gelt die Übernahme der Leitlinien der Gemeinschaft für
staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturie-
rung von Unternehmen in Schwierigkeiten. Sie alle ken-
nen den einen oder anderen Fall, der durch die Presse
ging: Es wurden Investitionszulagen gezahlt, aber dann
kam die EU und sagte: Nein, das wollen wir nicht, das darf
nicht sein, ihr müsst das Geld zurückzahlen. – Sie alle
kennen diese Beispiele. Mit der neuen Regelung wird das
richtiggestellt, sodass dieser Streit in Zukunft wegfällt. Es
wird eindeutig gesagt: Die Festsetzung der Investitions-
zulage gilt erst ab Genehmigung durch die EU.

§ 10 des Investitionszulagengesetzes erfüllt auch ein
Verlangen der Europäischen Kommission; denn diese Än-
derung bewirkt die Verlängerung der Zugehörigkeits-
und Verbleibensfrist bei beweglichen Wirtschaftsgütern
des Anlagevermögens von drei auf fünf Jahre für nach
dem 31. Dezember 1999 begonnene Investitionen. Dem
müssen wir folgen, wenn wir wollen, dass dem Investiti-
onszulagengesetz als Ganzes zugestimmt wird. Aller-




Lothar Binding (Heidelberg)

13000


(C)



(D)



(A)



(B)


dings gilt diese Regelung nicht für Investitionen, die vor-
her getätigt worden sind.

Über die Derivate wurde bereits gesprochen. Es gibt
noch viel darüber zu sagen, warum es überhaupt notwen-
dig ist, diese Gesetzesänderungen zu machen. Ich will
mich zurückhalten.


(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Doch, das sollten wir schon noch sagen! Das ist die Reparatur einer Reparatur!)


– Das ist schlicht und einfach eine Reparaturgeschichte.
Da bereits über die Änderungen in den Bereichen PC

und Telekommunikation berichtet wurde, will ich das
nicht wiederholen.

Die Neufassung des § 7 g des Investitionszulagenge-
setzes regelt die Sonderabschreibungen und Ansparab-
schreibungen für kleine und mittlere Unternehmen im
Landwirtschaftssektor. Dieses war notwendig, weil der
neue Gemeinschaftsrahmen eine Förderung in so genann-
ten sensiblen Bereichen ausschließt; die Landwirtschaft
gehört zu diesem sensiblen Sektor. Deswegen musste eine
Anpassung erfolgen.

Bei den Änderungen des Gemeinnützigkeitsrechts ist
nur auf einen Punkt eingegangen worden. Ich will noch
einmal auf die anderen beiden Punkte eingehen. Es geht
nämlich nicht nur darum, den Missbrauch zu beseitigen,
wogegen kein Mensch etwas hat. Vielmehr geht es auch
darum, zu vermeiden, dass die Besteuerung der wirt-
schaftlichen Tätigkeit von gemeinnützigen Körper-
schaften höher ist, als bei gewerblichen Wettbewerbern.
Weiterhin geht es darum, die Fernsehlotterien „Aktion
Mensch“ und „Die Goldene Eins“ auf eine sichere recht-
liche Grundlage zu stellen.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413406800
Herr Kollege
Schulz, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Fromme?


Gerhard Schulz (CDU):
Rede ID: ID1413406900
Ja.


Jochen-Konrad Fromme (CDU):
Rede ID: ID1413407000
Herr Kol-
lege Schulz, teilen Sie meine Auffassung, dass es für das
Finanzministerium wichtig ist, dieser Debatte zu folgen,
da es sich um ein Gesetz handelt, bei dem dieses Haus die
Federführung hat?


Gerhard Schulz (CDU):
Rede ID: ID1413407100
Da meine Zeit knapp
ist, eine kurze Antwort: Ich teile Ihre Meinung.

Mit der Änderung des § 64 Abs. 6 Investitionszulagen-
gesetz wird eine nicht gewollte Auswirkung eines BFH-
Urteils von 1991 – so lange ist das schon im Gange – be-
seitigt. Das Problem lässt sich folgendermaßen
beschreiben: Ein steuerbegünstigter Verein veranstaltet
eine Autorenlesung und verkauft dabei dessen Bücher.
Der Verkauf ist wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb und
steuerpflichtig. Von diesen steuerpflichtigen Einnahmen
kann der Verein aber das Autorenhonorar, Reise- und Ho-
telkosten nicht absetzen. Der Erlös aus dem Verkauf der
Bücher unterliegt also in voller Höhe der Besteuerung.

Die Begründung für diese absurde Geschichte ist: Die
Kosten für den Autor und alle anderen Kosten hätte der
Verein ja auch gehabt, wenn er keine Bücher verkauft
hätte. Deswegen könne man das nicht von den Einnahmen
abziehen.

Ein Buchhändler aber, der in seinem Geschäft auch eine
dieser Lesungen veranstaltet und Bücher verkauft, kann
natürlich von den Erlösen aus dem Verkauf der Bücher die
Kosten für den Autor abziehen. Ergo: Der Verein wird
höher besteuert als der Buchhändler. Das ist ja wohl nicht
in unserem Sinne, die wir Vereine fördern wollen.

Dieses Problem wird gelöst, indem pauschal einfach
angenommen wird, dass der Gewinn aus solchen Veran-
staltungen und Geschäftstätigkeiten von Vereinen 15 Pro-
zent der Gesamteinnahmen beträgt, sodass nur 15 Prozent
der Gesamteinnahmen der Besteuerung unterliegen.

Ein weiterer Punkt betrifft die Fernsehlotterien. Die
zahlenmäßige Begrenzung der Zweckbetriebsfiktion wird
aufgehoben. Erlassen Sie mir bitte, zu erklären, was
Zweckbetriebsfiktion ist. Ich habe angefangen, das zu er-
läutern, aber dann wurde der Text zu lang. Nehmen wir
das einfach einmal so hin. Durch diese Änderung wird ge-
regelt, dass die beiden Fernsehlotterien ihre nicht zu ver-
nachlässigende Arbeit weiterführen können. Die Erlöse
können nach wie vor gemeinnützigen Zwecken zugeführt
werden.

Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die Neufassung von § 5Abs. 1 des Finanzverwaltungsge-
setzes. Durch die Änderung wird es dem Bundesamt für
Finanzen ermöglicht, eine zentrale Sammlung und Aus-
wertung von Informationen über Betrugsfälle im Bereich
der Umsatzsteuer einzurichten. Die Erweiterung des
Aufgabenkatalogs zielt auf bessere Kontrollmöglich-
keiten und eine wirksamere Bekämpfung von Mehrwert-
steuerbetrug. Da der Mehrwertsteuerbetrug in letzter Zeit
– so wird berichtet – sehr zunimmt, ist diese Maßnahme
durchaus gerechtfertigt. Es gibt viele Möglichkeiten, et-
was Unrechtes zu tun, und man sollte alles unternehmen,
um das zu verhindern.

Ich gebe zu, dass das viel trockenes Zeug war, aber es
musste gesagt werden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413407200
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Schulz.

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Fromme, Sie sehen, dass der mit Ihrer verklausu-
liert vorgetragenen Zwischenfrage verfolgte Wunsch, ein
Vertreter des Finanzministeriums möge Ihrer aufregenden
Debatte folgen, sofort in Erfüllung gegangen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszu-
lagengesetzes 1999. Das wurde notwendig, weil die




Gerhard Schulz

13001


(C)



(D)



(A)



(B)


Europäische Kommission der Änderung des Investi-
tionszulagengesetzes, so wie sie durch das Steuerbereini-
gungsgesetz erfolgt ist, nicht zugestimmt hat. Insofern ha-
ben wir eine Änderung der Änderung. Aber über die
Notwendigkeiten, als Reparaturbetrieb tätig werden zu
müssen, kann man sich streiten; in diesem Zusammen-
hang würde mir einiges über die Häufigkeit von Ände-
rungen in der Zeit von 1990 bis 1998 einfallen.

Die Tatsache, dass wir hier etwas ändern müssen, hängt
damit zusammen, dass Ihr im August 1997 beschlossenes
Investitionszulagengesetz bei der EU-Kommission nicht
notifiziert worden ist. Der eigentliche Grund ist: Ihnen ist
sehr spät aufgefallen, dass die Ostförderung – darum,
Herr Kollege Schulz, geht es ganz besonders – nicht nur
mit steuerlichen Abschreibungen, die zu gewaltigen
Fehlallokationen geführt haben, zu machen ist, wie wir
das in der Regierungszeit von Kohl erlebt haben, sondern
dass es besser ist, die Maßnahmen im Investitionszu-
lagengesetz zu bündeln. Sie haben diese Bündelung aber
so dilettantisch vorgenommen, dass Sie es in Brüssel nicht
durchbekommen haben. Deswegen ist die Änderung er-
forderlich geworden. Das sage ich so, weil es den Tatsa-
chen entspricht.


(Beifall der Abg. Sabine Kaspereit [SPD])



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413407300
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Gerhard Schulz?

Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Sie haben doch gerade erst geredet. Ist Ihr Drang,
zu reden, so groß? – Aber bitte.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413407400
Bitte.


Gerhard Schulz (CDU):
Rede ID: ID1413407500
Herr Kollege, sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Notifizierung
aller Fördermaßnahmen, die wir in der Vergangenheit auf
den Weg gebracht haben, immer zu Problemen geführt
hat, dass die EU-Kommission immer etwas gefunden hat,
von dem sie meinte, so könne es nicht gehen, und ent-
sprechende Änderungen verlangt hat? Sind Sie weiterhin
bereit zuzugeben, dass es durchaus zu den Gepflogenhei-
ten gehört, in Erwartung möglicher Kürzungsmaßnahmen
eine stärkere Förderung festzuschreiben, um letztlich das
Maß der Förderung erreichen zu können, das man haben
möchte?


(Zuruf von der CDU/CSU: So wie die Grünen das auch in der Regierung machen!)


Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ich gestehe gerne zu, dass es schwierig ist, bei der
EU-Kommission derartige Beihilfen und Investitionszu-
lagen durchzubekommen; die Begründungen für die
Maßnahmen müssen hieb- und stichfest sein. In dem vor-
liegenden Fall wurde der Umstand kritisiert, dass es keine
Unterscheidung zwischen Erst- und Ersatzinvestitionen
gegeben hat. Nach zehn Jahren Aufbau Ost muss man aber
in der Lage sein zu erkennen, dass jemand, der einen Be-
trieb neu gründet, eine andere Anschubfinanzierung

braucht als bereits wettbewerbsfähige Betriebe, die in der
Lage sind, ihre Ersatzinvestitionen aus eigenen Mitteln zu
tätigen.

Diese Unterscheidung mussten wir vornehmen; inso-
fern ist die Kritik der Europäischen Union absolut be-
rechtigt gewesen. Die CDU/CSU ist mit Steuermitteln
sehr großzügig umgegangen. Das hat sich offensichtlich
bis Brüssel herumgesprochen. Herr Kollege Schulz, die
wunderschönen Einkaufszentren auf der grünen Wiese
und die Investitionsruinen etwa in Leipzig zeugen davon.
Es war wichtig, dass in diesem Bereich Änderungen vor-
genommen wurden. Deshalb sind wir zu der notwendigen
Differenzierung aufgefordert worden. Das haben wir ge-
tan und dieser Schritt ist mittlerweile auch anerkannt.

Wir haben eine Qualifizierung der Investitionszulage
und der Förderung Ost in der Hinsicht erreicht, dass bei
Erstinvestitionen eine Aufstockung auf 12,5 Prozent bzw.
25 Prozent bei kleinen und mittelständischen Unterneh-
men erreicht worden ist und dass es bei den Ersatzinves-
titionen nicht mehr ganz so üppig läuft, wie das bislang
der Fall war. Das ist die eigentliche Sachlage.

In diesem Zusammenhang ist auch interessant zu er-
wähnen: Als diese Änderung erfolgt ist, konnte im Grunde
niemand genau sagen, wie der Förderumfang bei Erst-
und Ersatzinvestitionen genau beziffert werden kann.
So genau war das bis dahin nicht differenziert worden.
Aber dass Sie dann gleich damit hausieren gegangen sind,
dass dies 1 Milliarde DM weniger für den Aufbau Ost be-
deuten würde, fand ich schon stark.


(Cornelia Pieper [F.D.P.]: Es ist doch so!)

Bis heute ist es zu keinem Rückgang bei der Ostförde-

rung gekommen. Wir sind im Gegenteil in der Lage, ge-
rade den neu gegründeten Unternehmen wesentlich zu
helfen. Aber die eigentlichen Änderungen, die beim Inves-
titionszulagengesetz vorgesehen sind, beziehen sich ja
eher darauf, dass wir die Fördersätze für das Land Berlin
von 25 Prozent auf 20 Prozent zurücknehmen müssen und
dass wir vor allen Dingen die Leitlinien der Europäischen
Gemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung und
Umstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten
– so kompliziert wird das ausgedrückt – mit aufnehmen
müssen. Dem ist Genüge getan worden. Dies ist jetzt im
Gesetz enthalten. Das sind eigentlich die wesentlichen
Veränderungen und nicht das viele Kleingedruckte, das
Sie hier als das vorgestellt haben, was in diesem Gesetz
verändert worden ist.

Dass uns in letzter Minute noch eine Menge Änderun-
gen zugemutet wird, erfreut keinen Parlamentarier und
strapaziert, glaube ich, jeden. Auch wenn das früher bei der
alten Regierung passiert ist, habe ich es gerügt. Dass dies
nun wieder der Fall ist, hängt möglicherweise damit zu-
sammen, dass wir es mit den gleichen Beamten aus den
Ministerien zu tun haben. Wir sollten nicht nur über Tarif-
erhöhungen, sondern vielleicht auch einmal über Qua-
litäts- und Leistungskriterien im öffentlichen Dienst reden.

So weit zur Änderung des Investitionszulagengesetzes.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)





Werner Schulz (Leipzig)

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(C)



(D)



(A)



(B)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413407600
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.


Cornelia Pieper (FDP):
Rede ID: ID1413407700
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Investi-
tionszulagengesetzes vom 18. August 1997 hat die dama-
lige Bundesregierung aus Union und F.D.P. eines der
wichtigsten Förderinstrumente für die kleinen mittelstän-
dischen Unternehmen in den neuen Bundesländern in
Gang gesetzt.


(Beifall bei der F.D.P.)

Ich sage Ihnen auch, meine Damen und Herren: Die

Ausgabe von Steuermitteln in Milliardenhöhe war ge-
rechtfertigt. Ich will das kurz begründen.

Die Lage der kleinen mittelständischen Unternehmen
bleibt auch nach zehn Jahren deutscher Einheit zwischen
Ost und West grundsätzlich gespalten. Der typische mit-
telständische Betrieb „Made in West-Germany“ hat rund
300 Beschäftigte und ist im Osten eher selten zu finden.
Dominierend sind hier kleine und Kleinstunternehmen
mit maximal zehn Beschäftigten. Dementsprechend sieht
natürlich auch die Eigenkapitaldecke aus. Für kleine mit-
telständische Unternehmen ist sie nach Auskünften der
Deutschen Ausgleichsbank rückläufig, das heißt, der Ei-
genkapitalstock liegt nach zehn Jahren unter der 10-Pro-
zent-Grenze.

In diesem Sinne sind Investitionszulagen für Erst- und
Ersatzinvestitionen eigentlich so etwas wie ein Rechtsan-
spruch auf direkte Förderung, der in keinem anderen Ge-
setz ohne langwieriges Antragsverfahren gewährt wird.


(Beifall bei der F.D.P.)

Nicht nur Neugründungen, gerade auch die Bestands-

sicherung von mittelständischen Unternehmen bleibt ein
zentrales Thema für die Politik. Gerade deshalb ist es ei-
gentlich notwendig, die Förderung von Folge- bzw. Er-
satzinvestitionen fortzuführen. Wir halten deswegen das
Auslaufen der Investitionszulagen für Ersatzinvestitionen
für falsch, glauben aber, dass auf dem Weg über das Gut-
achten eine Lösung aufgezeigt wurde, um dies wieder
rückgängig zu machen.

Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich
um die notwendige Umsetzung einer EU-Richtlinie, die
es erforderlich macht, die Förderung zielgenauer zu ge-
stalten. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen, wenn
die Treffsicherheit der Fördermaßnahmen für die Unter-
nehmen erhöht wird. So werden – das wurde schon er-
wähnt – Teile Berlins und Brandenburgs – Teile, die zum
so genannten Speckgürtel gehören – in Zukunft nicht
mehr die erhöhte Förderung bekommen. Insgesamt wer-
den die Investitionszulagen für Erstinvestitionen um je-
weils 2,5 Prozent erhöht. Die Ersatzinvestitionen für das
Handwerk laufen im Jahr 2001 vorzeitig aus. Das halten
wir für das falsche Signal.

Trotz des Erfordernisses, das Investitionszulagenge-
setz EU-konform zu gestalten, gibt es zwei gravierende
Kritikpunkte, die ich der rot-grünen Bundesregierung auf-
zeigen möchte.

Erstens. Angesichts der bevorstehenden EU-Ost-
erweiterung hätten wir eine Parteinahme für alle neuen
Bundesländer gegenüber der EU hinsichtlich erhöhter
Fördersätze für die Randgebiete, die an Osteuropa gren-
zen, erwartet. Bis jetzt sind Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen, Brandenburg und Thüringen berücksichtigt.
Sachsen-Anhalt bleibt außen vor. Sicherlich liegt Sach-
sen-Anhalt nicht an einer der Grenzen zu Osteuropa, aber
Thüringen auch nicht.

Handwerksbetriebe, Mittelständler und Freiberufler in
den neuen Bundesländern befürchten, dass sie angesichts
ihres rückläufigen Kapitalstocks förmlich überrannt wer-
den, wenn Polen und Tschechien in die EU integriert wer-
den; denn das wird einen ungeheuren Wettbewerbsdruck
zur Folge haben. Ich glaube, dass man diese Ängste ernst
nehmen muss. Wo bleibt das Engagement der Bundesre-
gierung, den kleinen und mittelständischen Unternehmen
in den neuen Bundesländern mit einheitlich erhöhten För-
dersätzen den Rücken zu stärken? Sie setzen zwar geset-
zestechnisch die Vorgaben der EU-Richtlinie um. Aber
Sie kämpfen erst gar nicht, wenn die neuen Bundesländer
über das dort vorgegebene Maß hinaus gefördert werden
sollen.

Zweitens. Die Gesetzesänderung – das wurde schon
angesprochen – erfordert ein Finanzvolumen von
2,5 Milliarden DM. Aber die Steuermehreinnahmen, die
durch diese Gesetzesänderung erzielt werden, betragen
3,5 Milliarden DM. Es bleibt also 1 Milliarde DM übrig,
die einfach im Bundeshaushalt verschwindet. Warum
lässt man diese Milliarde nicht in die Gemein-
schaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur bzw. in das Programm zur Förderung in-
novativer Wachstumskerne in den neuen Ländern, das von
der Bundesregierung – das halte ich für richtig – aufgelegt
worden ist, fließen?


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Um es auf den Punkt zu bringen: Sie kommen mit

Ihrem Gesetzentwurf zwar rein technokratisch dem Er-
fordernis nach, die Vorgaben einer EU-Richtlinie umzu-
setzen. Die rot-grüne Bundesregierung ist nicht der An-
walt von Handwerk und Mittelstand in den neuen
Ländern. Das hat diese Gesetzesänderung wieder einmal
gezeigt.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413407800
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1413407900
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Wie die anderen Fraktionen wird
auch die PDS-Fraktion dem vorliegenden Gesetz zustim-
men. Wir begrüßen den Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung des Investitionszulagengesetzes, weil die direkte
Wirtschaftsförderung gestärkt wird. Sie ist vom Prinzip
her zielgenauer und effektiver als steuerliche Förde-
rungsinstrumente. Sie ermöglicht es, insbesondere klei-
nen und mittelständischen Unternehmen in Notsituatio-
nen zu helfen.






(C)



(D)



(A)



(B)


Steuerliche Förderung funktioniert nun einmal nach
dem Gießkannenprinzip und nutzt vor allem ertragsstar-
ken Unternehmen. Deshalb haben wir bereits in der letz-
ten Legislaturperiode ein Einkommensteuerkonzept vor-
gelegt, in dem vorgeschlagen wurde, einen Großteil der
steuerlichen Vergünstigungen für Unternehmen zuguns-
ten der direkten Wirtschaftsförderung zu streichen. Zu
den Inhalten haben sich meine Vorrednerinnen und Vor-
redner schon ausführlich geäußert.

Mit dem Gesetzentwurf wird das geltende Recht an
EU-Recht angepasst. Der bisherige Verlauf der Debatte
dürfte bestimmt Befremden insbesondere bei den Zuhö-
rerinnen und Zuhörern auf der Besuchertribüne ausgelöst
haben. Obwohl die Investitionszulagenförderung das
Thema ist, wird hier über das Gemeinnützigkeitsrecht,
über die „Goldene Eins“ und – im Zusammenhang mit
Mehrwertsteuerbetrug – über das Bundesamt für Finan-
zen geredet.

Einen Punkt muss man wirklich sehr scharf kritisieren:
Die steuerliche Behandlung von Verlusten aus dem Ak-
tien- und Derivatenhandel wird im jetzt vorgelegten Ge-
setz wieder neu geregelt.

Diese Änderung ergibt sich als Folge aus dem Steuer-
senkungsgesetz. Gerade wurde das Steuersenkungsergän-
zungsgesetz verabschiedet. Nun kommt wieder eine Er-
gänzung. Ich frage mich, welche Gesetzestechnik das ist,
wenn fast jedes Gesetz, insbesondere solche aus dem
Finanzministerium, nach dem Gesetzgebungsverfahren
eine erste, eine zweite und vielleicht noch eine dritte
Nachbesserung erfordert.


(Beifall bei der PDS)

Es ist bezeichnend, wenn Sie eine Änderungs- und Er-

gänzungspolitik bei Gesetzgebungsverfahren machen.
Ein solches Gesetzgebungsverfahren macht es für Bürge-
rinnen und Bürger immer schwerer, überhaupt zu verste-
hen, was im Bundestag passiert. Die Transparenz von Ge-
setzgebungsverfahren, von Gesetzen hat unmittelbar
Bezug auf die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger,
die sich selbst kundig machen wollen. Ich finde es sehr
b
Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1413408000
Dieses Gesetz versteht
niemand mehr. – Scheinbar ist es so, dass wir Gesetze
nicht für die Menschen machen, die davon betroffen sind
und die damit umgehen sollen, sondern für Steuerberater,
Wirtschaftsprüfer, Anwälte und andere. So verstehe ich
unsere Aufgabe im Bundestag nicht.


(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.])


Ich habe ein anderes Demokratieverständnis.
Ich fordere Sie aus Anlass der Beratung dieses Geset-

zes deshalb auf, den Gesetzgebungsstil sehr kritisch zu
hinterfragen und zu ändern. Gesetze müssen auch von den
so genannten normalen Menschen, die im täglichen Leben
stehen und einem Beruf nachgehen, verstanden werden
können. Nur dann haben wir im Parlament unsere Arbeit
gut und richtig erledigt.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413408100
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Barbara Hendricks.


Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Rede ID: ID1413408200
Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erlauben Sie mir eine ganz kurze Bemer-
kung. Der wesentliche Gegenstand des Investitionszu-
lagengesetzes ist die verlässliche Förderung der Unter-
nehmen in den neuen Bundesländern. Darauf wird Herr
Kollege Schwanitz noch eingehen.

Ich will etwas zu dem sagen, was an das Gesetzge-
bungsverfahren angehängt worden ist, und um Verständ-
nis dafür werben, weil es möglicherweise falsch verstan-
den werden könnte. Zum einen mussten wir aufgrund von
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes sehr rasch tätig
werden. Das war bei den Gemeinnützigkeitsregelungen
der Fall. Zum anderen kann der Fall eintreten, dass man
einen Gesetzestatbestand für einen kleinen Regelungsge-
genstand braucht. Das betrifft in diesem Fall die Zustän-
digkeit des Bundesamtes für Finanzen bei der Bekämp-
fung des Umsatzsteuerbetruges. Die Alternative wäre,
dass man für diesen kleinen Regelungsgegenstand ein ei-
genes Gesetz machen würde. Es ist hierbei die Frage, ob
es nicht arbeitsökonomisch ist, ein anderes Steuergesetz
als Vehikel zu nutzen, um kleine Regelungsgegenstände
dort unterzubringen. Dies haben wir getan. Ich bitte hier
um Verständnis. Man kann nicht sagen, dass es an der Un-
fähigkeit der Beamten liegt, dass so verfahren wird. Es hat
etwas mit der Arbeitsökonomie dieses Parlamentes zu tun.

Ganz kurz zu dem, was Sie, Frau Höll, gerade gesagt
haben. Ich habe nicht gesagt, dass dieses Gesetz sowieso
keiner versteht, sondern ich habe zugesagt, zu diesem Re-
gelungstatbestand eine Broschüre des Bundesfinanz-
ministeriums herauszugeben, die leicht verständlich ist.
Das kommt den Bürgern auf jeden Fall eher entgegen, als
wenn man sie auf den Gesetzestext verweist.


(Dr. Barbara Höll [PDS]: Das ist aber nichts anderes!)


Ich halte es im Übrigen für eine Mär, wenn man ver-
langt, dass alle Gesetze aus sich selbst heraus und für alle
Bürgerinnen und Bürger verständlich sein sollen. Alle
Juristen dieses Landes leben davon, Kommentare zu Ge-
setzen zu schreiben: vom Wasserrecht in Nordrhein-West-
falen, zu dem Herr Rüttgers einen Kommentar geschrie-
ben hat, bis zum Grundgesetz. Wenn also alle Gesetze aus
sich selbst heraus verständlich wären, dürfte es juristische
Kommentare gar nicht geben.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413408300
Das Wort hat
jetzt der Staatsminister Rolf Schwanitz.


Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1413408400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ich will zum Schluss der Debatte eine Bemerkung zur
Bedeutung dieses Gesetzes machen. Das Gesetz zur Än-
derung des Investitionszulagengesetzes 1999 ist nach
Auffassung der Bundesregierung wichtig für den weiteren
wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern. Die




Dr. Barbara Höll
13004


(C)



(D)



(A)



(B)


Bedeutung dieses Themas darf überhaupt nicht klein ge-
redet werden. Ich will dazu drei Bemerkungen machen.

Der erste Grund dafür hängt mit der Entstehungsge-
schichte des Investitionszulagengesetzes 1999 zusammen.
Das hat der Kollege Werner Schulz bereits angesprochen.
Ich erinnere mich noch an die Debatte 1996/1997, als man
über Fraktionsgrenzen hinweg zu der Auffassung kam,
dass man von einer Förderung über Sonderabschreibungen
wegkommen, zu einer unmittelbaren Förderung der Inves-
titionszulagen im Interesse der Indus-trie und des indus-
trienahen Dienstleistungsbereiches gelangen, den Kapital-
stock stärken und etwas für die Eigenkapitalbildung tun
sollte. Das war die Geburtsstunde dieser seinerzeit über-
fraktionell getragenen Veränderung.

Damals ist es allerdings nicht gelungen – das war noch
in den letzten zwei Jahren Ihrer Tätigkeit –, für das I-Zu-
lagengesetz 1999 die Genehmigung in Brüssel zu erlan-
gen. Das heißt, das Flaggschiff der Investitionsförderung
in den neuen Bundesländern lag in einer nicht rechtsver-
bindlichen Fassung für die ostdeutschen Unternehmen vor.
Das war die Ausgangsposition. Im Dezember 1998 beka-
men wir eine Teilgenehmigung für 1999, jedoch nur bezo-
gen auf die Erstinvestitionen und begrenzt auf die Region
Berlin. Natürlich waren damit Verunsicherungen für die
ostdeutschen Unternehmungen verbunden, was die mittel-
fristige Ausgestaltung dieses wichtigen Gesetzes anging.

Dass es mit diesem Änderungsgesetz jetzt gelingt, eine
Genehmigung aus Brüssel sicherzustellen, die eine För-
dersicherheit und damit verbunden auch eine Investiti-
onssicherheit für die gesamte Periode bis 2004 beinhaltet,
ist ein ganz wichtiges Element für die wirtschaftlichen
Aufbauleistungen in den neuen Bundesländern, meine
Damen und Herren. Das ist der erste Grund dafür, dass
dieses Gesetz von großer Bedeutung ist.

Als zweiten Grund spreche ich die Veränderungen an,
die wir zwar nicht unmittelbar mit dem Änderungsgesetz,
aber zuvor mit dem Steueränderungsgesetz 1999 vorge-
nommen haben. Wir haben einen Schwerpunkt auf
Erstinvestitionen gesetzt. Dieses Thema haben wir nicht
nur vor dem Hintergrund der Beanstandungen aus Brüs-
sel aufgegriffen, sondern auch deshalb, weil es mit einer
für die neuen Bundesländer wichtigen Innovationsstrate-
gie korrespondiert: mit einer Konzentration der Förde-
rung, die zugleich verstärkt wird, auf neue Erzeugnisse
und neue Technologien. Dies bringen wir mit unserem
Gesetzentwurf für die Zeit bis 2004 auf den Weg. Ich bin
davon überzeugt, dass dies eine wichtige und richtige
Weichenstellung für die Modernisierung in den neuen
Ländern ist.

Eine dritte Bedeutung dieses Gesetzes kann gar nicht
klein geredet werden: Das Änderungsgesetz schafft im
Zusammenhang mit den Veränderungen, die Berlin und
den Speckgürtel um Berlin betreffen, eine bessere Förde-
rungspräferenz für den grenznahen Bereich im Osten und
Süden der neuen Länder, also im Grenzraum zu den po-
tenziellen Beitrittskandidaten. Die I-Zulage wird, bezo-
gen auf die Grundförderung, auf 15 Prozent und, bezogen
auf die erhöhte Förderung der kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen, auf 27,5 Prozent erhöht. Auch das ist

ein ganz wichtiges Element für eine benachteiligte und
mit großen Problemen belastete Region, die für den vor
uns stehenden Prozess der EU-Osterweiterung fit ge-
macht werden müssen. Ich erinnere daran, dass beispiels-
weise die SPD-Bundestagsfraktion dazu Erwartungshal-
tungen formuliert hat. Wir steigen hier jetzt in eine
Stärkung der Investitionsanreize ein, wenn man es an der
Subventionsintensität misst; das Ganze ist ja steuerfrei.

Letzte Bemerkung, meine Damen und Herren: Die
I-Zulage ist in den letzten Monaten und Jahren mit dem
Image einer nicht zielgenauen, nach dem Gießkannen-
prinzip funktionierenden Förderung verbunden worden.
Herr Kollege Schulz hat völlig zu Recht darauf hingewie-
sen, dass ein Rechtsanspruch für einen investierenden Un-
ternehmer einen nicht zu unterschätzenden Tatbestand
darstellt. Mit der Konzentration auf Erstinvestitionen und
der regionalen Differenzierung machen wir deutlich, dass
die I-Zulage ein modernes Instrument ist, das sein
schlechtes Image überhaupt nicht verdient. Deshalb ist es
gut, wenn diese Gesetzesnovelle einen so breiten Konsens
erfährt.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413408500
Ich schließe die
Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Investitionszulagengesetzes, Drucksachen 14/3273
und 14/4624. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das
ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-
wurf in der dritten Lesung einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Auswirkungen der Ökosteuer und der hohen
Kraftstoffpreise auf den Deutschlandtourismus
– Drucksachen 14/3867, 14/4334 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus
Brähmig.




Staatsminister Rolf Schwanitz

13005


(C)



(D)



(A)



(B)



Klaus Brähmig (CDU):
Rede ID: ID1413408600
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute debattie-
ren wir über die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den
Auswirkungen der Ökosteuer und der hohen Kraftstoff-
preise auf den Deutschlandtourismus vom 4. Juli 2000.

Einleitend möchte ich auf einige grundlegende Punkte
in der Beantwortung der Anfrage eingehen. Ich stütze
mich dabei auf den Titel der „Bild“-Zeitung von heute
– dort werden die Belastungstatbestände ganz klar zu-
sammengefasst –: Ökosteuer – Macht sie den ganzen Auf-
schwung kaputt?


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Bundesregierung behauptet wiederholt, dass der

Tourismusstandort Deutschland von der Ökosteuer profi-
tiert, da sie einen Beitrag zum Erhalt einer intakten Um-
welt und Natur leistet. Hören Sie endlich auf, sich selbst
zu belügen! Das Herbstgutachten der sechs führenden
wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute hat
doch deutlich nachgewiesen, dass die Ökosteuer aufgrund
der vielen Ausnahmetatbestände in ihrer jetzigen Form
keinerlei positive Lenkungseffekte für die Umwelt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die nun von der Bundesregierung geplanten Ausgleichs-
maßnahmen konterkarieren dieses Ziel zusätzlich.

Weiterhin behauptet die Bundesregierung wiederholt,
dass die Einnahmen aus der Ökosteuer ausschließlich zur
Senkung der Lohnnebenkosten verwendet werden.


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das behaupten wir nicht! Das ist so!)


Hören Sie auf, die Öffentlichkeit zu belügen!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Eine kurze Berechnung zeigt, dass im Jahre 2003 der
Beitragssatz in der Rentenversicherung auf 18,2 Prozent
sinken könnte. Sie aber wollen den Beitragssatz bei
19,2 Prozent belassen. Der Rest fließt zweckentfremdet in
den Bundeshaushalt.


(Brunhilde Irber [SPD]: Auf 19,1 Prozent sinkt er ab dem 1. Januar!)


Außerdem behaupten Sie, dass es keine Anzeichen für
eine besondere, durch die Ökosteuer verursachte Belas-
tung der deutschen Tourismuswirtschaft gibt.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist ja ungeheuer!)


Hören Sie auf, die gesamte Branche zu belügen! Denn
natürlich gehört die deutsche Tourismuswirtschaft zu den
besonders betroffenen Branchen. Dies gilt vor allem für
den Deutschlandtourismus, der überwiegend durch mit-
telständische und eigentümergeführte Betriebe struktu-
riert ist.

Mobilität ist das Lebenselixier für den Deutschland-
tourismus und die deutsche Wirtschaft insgesamt. 50 Pro-
zent des PKW-Verkehrs in Deutschland sind auf Freizeit-
und Urlaubsverkehr zurückzuführen. Der Anteil der Nut-

zung des eigenen PKWs bei Urlaubsreisen im Inland wird
auf 73 Prozent und der Anteil der Busse auf weitere
10 Prozent geschätzt.

Da nach den vorläufigen Berechnungen des Mineral-
ölwirtschaftsverbandes in den ersten zehn Monaten dieses
Jahres der Mineralölabsatz um 3,7 Prozent gegenüber
dem Vorjahrszeitraum zurückgegangen ist, nimmt die
Mobilität anscheinend deutlich ab. Der Bürger kann nicht
bei den Wegen zur Arbeit einsparen und eine Flottenum-
stellung kann diesen Rückgang beim Mineralölabsatz so
kurzfristig nicht realisieren. Die Einsparungen gehen also
größtenteils zulasten des Urlaubs- und Freizeitverkehrs.


(Widerspruch der Abg. Brunhilde Irber [SPD])

– Frau Kollegin Irber, das dürfte auch Ihnen letztendlich
nicht entgangen sein.

Der Rückgang an Mobilität ist auf zwei Ursachen
zurückzuführen: die Ökosteuer und die gestiegenen Ener-
giepreise. Beide sorgen für deutliche Kaufkrafteinbußen
bei unserer Bevölkerung. Allein durch die Ökosteuer wird
ein verheirateter Arbeitnehmer mit einem Jahresbrut-
toeinkommen von 60 000 DM nach der erneuten Anhe-
bung zum 1. Januar 2001 um 7 Pfennig inklusive Mehr-
wertsteuer und mit einer Jahresfahrleistung von
20 000 Kilometern im nächsten Jahr 179 DM weniger in
der Tasche haben; ein Rentnerhaushalt mit 12 000 Kilo-
metern Jahresfahrleistung wird sogar 432 DM weniger
haben.


(Peter Dreßen [SPD]: Was kriegt er denn durch die Steuererleichterung, Herr Kollege?)


– Der Rentner zum Beispiel gar nichts. – In beiden Fällen
steigt die Mehrbelastung in den Folgejahren noch kräftig
an. In diesen Zahlen ist die neue Entfernungspauschale
mit 80 Pfennig pro Kilometer und die Entlastung bei der
Sozialversicherung schon berücksichtigt.


(Renate Gradistanac [SPD]: Ach ja, stimmen Sie zu?)


Meine Damen, meine Herren, nach Berechnungen des
Rheinisch-Westfälischen Instituts fürWirtschaftsfor-
schung haben die privaten Haushalte durch die gestiege-
nen Energiekosten und die Ökosteuer vom 2. Quartal
1998 zum 2. Quartal 2000 einen Kaufkraftverlust von
37,3 Milliarden DM hinnehmen müssen. Die von der
Bundesregierung genannte Entlastung der privaten
Haushalte im Zuge der Steuerreform 2000 von rund
33 Milliarden DM ist also bereits mehr als verfrühstückt.
Bei anhaltend hohen Energiekosten wird die von der
Bundesregierung angegebene Gesamtentlastung von
65 Milliarden DM im Zeitraum von 1998 bis 2005 noch
nicht einmal die höheren Energiekosten kompensieren.
Hören Sie auf, sich selbst zu belügen!

Insofern sind sehr wohl Rückgänge im Deutschland-
tourismus zu befürchten. Bei den durchgeführten Reisen
wird durch die Kaufkraftminderung natürlich bei Aus-
gaben am Zielort gespart. Einbußen bei der Hotellerie und
Gastronomie, beim Einzelhandel, beim Souvenirverkauf
sowie bei Ausflügen oder Konzertbesuchen sind vorpro-
grammiert. Schon jetzt stagniert im Gastgewerbe der Um-






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(D)



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(B)


satz und sinkt die Zahl der Arbeitsplätze. Belügen Sie also
nicht die Öffentlichkeit über die „Boombranche Touris-
mus“, indem Sie einseitig auf steigende Gäste- und Über-
nachtungszahlen in ausgewählten Regionen und Städten
hinweisen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Stimmt das etwa nicht, Herr Kollege, dass es steigt? Wer lügt hier?)


– Wir werden das dann weiter ausdiskutieren.

(Horst Kubatschka [SPD]: Keine Unwahrheiten sagen! Dann braucht man es nicht auszudiskutieren!)


Ich fordere den Bundeskanzler, der heute leider nicht
anwesend sein kann, auf: Verzichten Sie auf einen weite-
ren Schluck aus der von Ihnen so geliebten „Ökopulle“ ab
dem 1. Januar 2001


(Heiterkeit bei der SPD)

und holen Sie sich lieber noch ‘ne Flasche Bier, die trin-
ken wir dann hier!


(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch letztes Jahr wurde vom Bundeskanzler ein Weih-
nachtsgeschenk verteilt; ich erinnere an den Fall Holz-
mann AG.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Auf-
forderung an die Bundesregierung und die Koalitions-
fraktionen lautet: Setzen Sie die Ökosteuer aus!


(Horst Kubatschka [SPD]: Nein! Das wäre ein schlechtes Weihnachtsgeschenk! – Renate Gradistanac [SPD]: Was hat Holzmann mit der Ökosteuer zu tun?)


Machen Sie der deutschen Wirtschaft und besonders der
Tourismusbranche dieses Weihnachtsgeschenk! Die Fla-
sche Bier erhalten Sie dann von der Branche gratis.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Das wäre Bestechung! – Weitere Zurufe von der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413408700
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ich stelle immer wieder fest, dass die
Zwischenrufe umso lauter ausfallen, je weniger Abgeord-
nete im Raum sind.

Das Wort hat jetzt die Kollegin Brunhilde Irber.


Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1413408800
Frau Präsidentin! Liebe Kol-
leginnen und Kollegen! Eigentlich müsste ich jetzt mein
Manuskript zur Seite legen und dir, lieber Kollege
Brähmig, einmal ein wenig heimleuchten. Du bist
schlecht beraten, wenn du deine Informationen über einen
angeblichen Kaufkraftverlust nur aus der „Bild“-Zeitung
beziehst. Manchmal kommt es mir schon so vor, als leide

die Opposition an Realitätsverlust und Gedächtnis-
schwund.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es tut mir Leid, aber das musste ich jetzt sagen, obwohl
heute Freitag ist und wir kurz davor sind, ins Wochenende
aufzubrechen.

Gedächtnisverlust liegt, wenn ich daran erinnern darf,
insoweit vor, als die Parteivorsitzende Merkel früher als
Umweltministerin ständig die Ökosteuer gefordert hat,


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Zum Thema! Anfragen und Antworten!)


um eine Entlastung der Arbeit zu erreichen. Genau das
haben wir dann gemacht.

Jetzt muss ich Ihnen noch etwas anderes sagen: Lieber
Herr Brähmig, auch diese Woche treiben Sie die Öko-
steuer wieder durchs Dorf,


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Nicht nur diese Woche! Bis zur Landtagswahl!)


diesmal unter dem Deckmantel des Tourismus. Leider fal-
len Sie dieses Mal damit herein, weil es nicht gelingen
wird, auch noch den Deutschlandtourismus schlecht zu
reden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es genügt schon, dass der Standort Deutschland immer
schlecht geredet wird; der Gipfel der Frechheit ist es aber,
auch noch den Tourismusstandort Deutschland herun-
terzumachen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie machen das durch die Ökosteuer!)


– Nein, das stimmt nicht! Das möchte ich auch belegen.
Ich habe hier einen Sonderdruck aus „Wirtschaft und

Statistik“ des Statistischen Bundesamtes dabei. 1999,
heißt es hier, war ein Rekordjahr im deutschen Inlands-
tourismus.

Als weiteren Beleg darf ich noch auf den Artikel „Tou-
rismus in Deutschland brummt“ in der „Welt“ vom
31. Oktober 2000 – also ganz aktuell – verweisen, in dem
Herr Ehlers, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hotel-
und Gaststättenverbandes, ganz klar zum Ausdruck
bringt, dass unsere Politik richtig ist und dass sie dazu ge-
führt hat, den Deutschlandtourismus zu steigern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Aus Saarbrücken habe ich dazu etwas ganz anderes gehört!)


– Ich komme noch darauf.
Ich muss schon sagen: Die Opposition ignoriert ein-

fach alles. Sie ignorieren die Erholung auf dem Arbeits-
markt, Sie ignorieren die Erholung der Sozialsysteme
– mit der Absenkung der Lohnnebenkosten, die über die




Klaus Brähmig

13007


(C)



(D)



(A)



(B)


Ökosteuer finanziert wird –, Sie ignorieren die Stabilisie-
rung der Rentenversicherung und Sie ignorieren, dass wir
die dramatisch hohen Lohnnebenkosten, die wir aus Ihrer
Zeit übernommen haben, gesenkt haben und weiter sen-
ken werden.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Quatsch!)

– „Quatsch“ kann man natürlich sagen, wenn man alles
ignoriert. – Sie ignorieren auch, dass der Mittelstand
enorme Probleme dadurch bekommen hat, dass die Lohn-
nebenkosten immer weiter in die Höhe geklettert sind.
Dann hat man mit 630-Mark-Kräften und mit jugendli-
chen Auszubildenden versucht, das Problem zu lösen –
wohlgemerkt auf deren Kosten. Das geht mit uns nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/ CSU]: Weil Sie den Mittelstand massiv belasten!)


Sie haben nur partielle Interessen, Sie übernehmen
keine Gesamtverantwortung. Sie suchen sich einige
Gruppen heraus und glauben, wenn Sie die befriedigen
können, hätten Sie einen Dienst für das ganze Volk getan.
Es geht Ihnen immer nur ums Geld. – Wenn ich boshaft
wäre, würde ich sagen: Es geht nur um Bimbes. Ich bin
heute aber gnädig und sage es nicht. –


(Heiterkeit bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die Grünen)


Es ist das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
unseres ganzen Landes, nicht nur das Geld einiger Inte-
ressengruppen.

Jetzt zum Tourismus: Der Tourismus ist eine Wachs-
tumsbranche. Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee,
das in Abrede stellen zu wollen? Das zieht nicht mehr, die
Platte hat einen Sprung. Ich möchte Sie daran erinnern,
was Sie schon alles gefordert haben, wo Sie überall das
angebliche Siechtum der Branche an die Wand gemalt ha-
ben. Es gab von Ihnen große Worte zur Senkung der
Mehrwertsteuer im Gastgewerbe; Sie meinten, ohne diese
Senkung gebe es ein Hotelsterben. Tatsache ist: Die Ho-
tellerie liegt auf Erholungskurs. Die durchschnittliche
Auslastung der Hotels ist – trotz Ökosteuer – im ver-
gangenen Jahr von 61,1 auf 63,6 Prozent gestiegen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ja, bei den Großstadthotels! Bei den Ketten, die übrig geblieben sind!)


Hier eine kleine Anmerkung: Genau wie der Hotelver-
band Deutschland habe ich nicht die Auslastung der Bet-
ten gemeint, sondern die Zimmerauslastung. Die Betten-
auslastung ist aber ebenso gestiegen.

Dann haben Sie ein großes Schreckensszenario im Zu-
sammenhang mit der Neuregelung bei den 630-Mark-
Jobs an die Wand gemalt. Faktum ist, dass jetzt 5 Milliar-
den DM pro Jahr in die Sozialversicherung fließen. Dies
entlastet die Lohnnebenkosten und stabilisiert unsere So-
zialversicherungssysteme.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt kommen Sie mit Ihrem Gerede daher, dass wegen
der Ökosteuer eine Katastrophe im Tourismus zu erwar-
ten wäre.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das passt euch nicht!)


– Das passt uns schon. Wir können das leicht parieren.
Die Warnungen der Opposition waren bisher in allen

Punkten falsch.

(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Realitätsverlust!)


– Jetzt passen Sie einmal auf, Herr Burgbacher und Herr
Brähmig! – Während Ihrer Regierungszeit ist die Kapa-
zitätsauslastung in den Hotels kontinuierlich herunterge-
gangen,


(Zurufe von der SPD: Aha!)

und zwar von 1992 bis 1998 um 11 Prozent in den neuen
Bundesländern. In unserer Regierungszeit haben wir al-
lein von 1998 bis 1999 2 Prozentpunkte zurückgewonnen.


(Horst Kubatschka [SPD]: Machen Sie das erst mal nach, Herr Brähmig, damit Sie wissen, wo es lang geht!)


– Ja, genau.
Eines sage ich noch dazu, weil Sie hier immer die ho-

hen Energiekosten, speziell die Benzinkosten, anspre-
chen – Herr Brähmig, seien Sie jetzt einmal ein bisschen
aufmerksam; vielleicht können Sie sich auch hier noch
bilden –: Der Deutschlandtourismus ist im Wesentlichen
erdgebunden, also von der Ökosteuer belastet. Sie haben
es angesprochen: Das Auto ist – das ist richtig – das
Hauptverkehrsmittel. Trotzdem verzeichnen wir in die-
sem Bereich Steigerungen. Die Dresdner Bank hat ermit-
telt, dass im Vergleich von 1998 auf 1999 die erdgebun-
denen Reisen um 5 Prozent zugelegt haben – das kann
man nicht wiederlegen –, trotz Ökosteuer.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das soll ökologisch sein?)


Natürlich werden Sie in der Antwort der Bundesregie-
rung auch Problembeschreibungen für einzelne Branchen
finden.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ganz ordentliche Problembeschreibungen, oder nicht?)


Die Schausteller stehen sich schlechter – das geben wir
zu – und auch das Gastgewerbe bilanziert negativ.

Aber warum gibt es denn diese Problembereiche? Ich
muss jetzt noch einmal auf die Ökosteuer und die Lohn-
nebenkosten eingehen. Sie haben in Ihrer Regierungszeit
die Lohnnebenkosten immer weiter in die Höhe getrieben.
Diese Branchen sind dann natürlich ausgewichen und ha-
ben – wie schon erwähnt – Auszubildende eingestellt, Fa-
milienangehörige und 630-Mark-Beschäftigte beschäf-
tigt. Die können natürlich nicht entlastet werden über eine
Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. Wer keine
Sozialversicherungsbeiträge zahlt, kann auch nicht auf




Brunhilde Irber
13008


(C)



(D)



(A)



(B)


diesem Wege entlastet werden. Die hat es jetzt erwischt
und deshalb können wir hier nichts ändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der DEHOGA hat davon gesprochen, dass 40 Prozent
der Beschäftigung über 630-Mark-Verträge abgewickelt
werden. Solche Betriebe werden von einer unsozialen
Problemlösung natürlich eingeholt. Es ist auch kein Qua-
litätsmerkmal, wenn 40 Prozent der Beschäftigten in einer
Branche Aushilfskräfte sind.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]: Die Kerze ist aus!)


Unsere Betriebe brauchen in Europa vergleichbare Wett-
bewerbsbedingungen. Deshalb haben wir mit der großen
Steuerreform die Steuern gesenkt. Wir haben die für Unter-
nehmen relevanten Steuern, die Körperschaftsteuer und
die Einkommensteuer, gesenkt. Das können Sie beim bes-
ten Willen nicht ignorieren, weil es von allen Wirtschafts-
verbänden anerkannt worden ist. Im europäischen Ver-
gleich der Steuerbelastung sind wir jetzt in der Mittellage,
bei Ihnen waren wir ganz oben. Bei der Steuerquote lie-
gen wir mit 21,9 Prozent jetzt im unteren Drittel und bei
der Abgabenquote mit 37,1 Prozent im Mittelfeld. Es ist
beschlossenes Programm dieser Bundesregierung, die
Abgabenquote noch weiter zu senken. Die Bemerkungen
zu den Steuersätzen lasse ich jetzt weg, weil ich noch et-
was zum Tourismus an sich sagen möchte.

Wenn ich das letzte Jahr betrachte, stelle ich fest: 1999
war bereits ein Rekordjahr für das deutsche Beherber-
gungsgewerbe. Erstmals konnten die Hotels, Pensionen
und sonstigen Beherbergungsbetriebe mit neun und mehr
Betten in Deutschland über 100 Millionen Gäste be-
grüßen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Aber was bleibt übrig?)


Dieser positive Trend hält auch im Jahr 2000 an: In den
ersten sieben Monaten sind die Übernachtungen um
weitere 6,1 Prozent gestiegen, und die Anzahl der Aus-
künfte ausländischer Gäste hat sich um 8,8 Prozent er-
höht. Die Zahl der Übernachtungen von ausländischen
Gästen ist um 9 Prozent gestiegen.

Auch hier ist das Handeln der Bundesregierung die
Ursache. Herr Brähmig, Sie wissen, dass wir DZT-Mittel
angehoben haben und auf positive Effekte verweisen
können.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Aber nicht für operatives Marketing, sondern für den Ausgleich der Währung!)


Aber auch das ignorieren Sie. Sie fordern immer wieder
mehr Geld.

Bei den Inlandsreisen verzeichnen wir ebenfalls eine
deutliche Steigerung. 1999 ist die Gesamtzahl der In-
landsreisen mit wenigstens einer Übernachtung um
6,3 Prozent auf 55 Millionen gestiegen und im ersten
Halbjahr 2000 stieg diese Zahl erneut um 7 Prozent.

Ein Plus hat es auch beim Campingtourismus gege-
ben. Nach Rückgängen in drei aufeinander folgenden Jah-
ren stieg hier die Zahl der Ankünfte in 1999 um 9,3 Pro-
zent und die Zahl der Übernachtungen um 7,1 Prozent.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist kein Verdienst der SPD!)


Auch die neuen Bundesländer profitieren von diesen
positiven Effekten unserer Wirtschaftspolitik. Der posi-
tive Trend aus 1999 hat sich im Jahr 2000 weiter verstärkt.
Paradebeispiele sind Mecklenburg-Vorpommern mit plus
23 Prozent bei den Übernachtungszahlen und Berlin mit
plus 31 Prozent – trotz Ökosteuer, Herr Brähmig!


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Zuwachs durch Masse, nicht durch Klasse!)


Besonders erfreulich ist, dass der Trend sich auch auf
dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt niederschlägt. So
hat das Gastgewerbe 1999 die Rekordzahl von 13,7 Pro-
zent mehr Ausbildungsplätzen gegenüber 1998 zur Verfü-
gung gestellt. Das bedeutet, dass im Gastgewerbe 40 000
Ausbildungsverhältnisse neu begonnen wurden. Die Ge-
samtzahl der Ausbildungsplätze liegt jetzt bei rund
90 000. Das bedeutet allein im Gastgewerbe eine Steige-
rung der Ausbildungsplätze von 10,4 Prozent. Hinzu
kommen noch weitere Stellen in den übrigen Tourismus-
berufen. Diese Zahlen zeigen, dass der Tourismus boomt.
Es würde kein Personal eingestellt werden, wenn die
Wirtschaft kein Geschäft machen würde.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Leistungsträger können auf ihre Leistung stolz
sein. Ich möchte an dieser Stelle allen im Tourismus Be-
schäftigten für die großartige Leistung danken, die sie für
die deutsche Volkswirtschaft erbringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Rosel Neuhäuser [PDS])


Der DEHOGA schreibt in seiner jüngsten Hotelmarkt-
analyse – ich zitiere –:

Nach einer fast zehn Jahre andauernden Durststrecke
weisen die Konjunkturindikatoren der deutschen
Hotellerie endlich eine nachhaltige Entlastung aus.

(Horst Kubatschka [SPD]: Also ein Schluck aus der Ökopulle!)

Das einzige Problem der deutschen Hotelbetreiber ist die
selbstgeschaffene Überkapazität. Wir müssen aufpassen,
dass nicht noch weitere Überkapazitäten – und damit eine
Verstärkung des Verdrängungswettbewerbs – entstehen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wachstum ist grundsätzlich durch Überkapazitäten entstanden! Das wissen Sie doch!)


Nochmals der Hinweis: Der Deutschlandtourismus ist
im Wesentlichen erdgebunden. Ihrer Theorie zufolge
müssten wir in diesem Bereich sinkende Zahlen haben.
Aber die Zahlen weisen nach oben.




Brunhilde Irber

13009


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(A)



(B)


Ich möchte nochmals den DEHOGA als Zeugen an-
führen. Herr Ehlers sagte am 30. Oktober in der „Welt“:

Die Talsohle der letzten Jahre scheint durchschritten.
Hotellerie und Gastronomie schauen zu großen Tei-
len wieder mit Optimismus in die Zukunft.

Herr Brähmig, der DEHOGAschaut also mit Optimismus
in die Zukunft. Das gilt für die Hotellerie und für die Gast-
stättenbetreiber; bei Letzteren allerdings besteht – das
gebe ich zu – „gedämpfter Optimismus“.

Wir haben in den ersten zwölf Monaten unserer Regie-
rungszeit gezielt die Kaufkraft gestärkt. Wir haben das
Kindergeld zweimal erhöht, die Einkommen- und Unter-
nehmensteuern gesenkt sowie ein Förderprogramm für
mehr Qualifizierung und Ausbildung im Tourismusbe-
reich aufgelegt. Jede Familie mit zwei Kindern und einem
durchschnittlichen Einkommen – 50 000 DM im Jahr –
wird nach der Steuerreform 2 500 DM mehr in der Tasche
haben. Dieses Geld fließt unter anderem in den Urlaub
und damit in den Tourismus.


Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413408900
Liebe Frau Kol-
legin, jetzt muss ich Sie doch ermahnen, zum Schluss zu
kommen.


Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1413409000
Ich darf zum Schluss noch auf
das Modellprojekt verweisen, das wir finanzieren und das
für die Branche bestimmt sehr wichtig ist.

Herr Brähmig, ich möchte Ihnen ans Herz legen:
Schauen Sie sich die Zahlen an! Dann kommen Sie selbst
zu der Erkenntnis, dass es dem Deutschlandtourismus gut
geht, seit wir an der Regierung sind. Das wollen wir blei-
ben, damit es dem Deutschlandtourismus noch besser
geht.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Die größte Lachnummer, die ich in diesem Jahr gehört habe!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413409100
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1413409200
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Irber,
das Wort vom Realitätsverlust fällt auf die zurück, die es
gebraucht haben.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Behauptung, der Deutschlandtourismus laufe besser,
seit Sie an der Regierung sind, soll jeder selbst beurteilen.
Sie verschweigen dabei völlig, dass wir insgesamt gese-
hen eine wirtschaftliche Erholung haben


(Horst Kubatschka [SPD]: Das tut Ihnen weh! – Renate Gradistanac [SPD]: Warum denn?)


und dass wir erheblich höhere Steuereinnahmen haben.
An beiden Entwicklungen hat die Regierung mit Sicher-

heit keinen Anteil. Diese Entwicklung gibt es in Europa
insgesamt, was Sie offenbar nicht begreifen.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie reden über Steuererhöhungen.

(Brunhilde Irber [SPD]: Viermal habt ihr die Mineralölsteuer erhöht! – Gegenruf des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Mit Ihrer Zustimmung, Frau Kollegin!)


Wir hätten eine Steuerreform mit deutlichen Entlastun-
gen vor drei, vier Jahren haben können. Aber Sie haben
sie abgelehnt.

Einige Punkte, die angesprochen wurden, fordern mich
zu einer Entgegnung heraus. Angesichts meiner kurzen
Redezeit will ich aber nur auf die wichtigsten Punkte ein-
gehen.

Wir haben im Tourismus Entwicklungen, die weder mit
Ihrer noch mit unserer Politik zusammenhängen, sondern
einfach dem Trend entsprechen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir haben ein völlig verändertes Urlaubsverhalten. Wir
haben ein neues Marketing bei der DZT, mit dem schon
weit vor Ihrer Regierungszeit angefangen wurde.


(Ilse Janz [SPD]: Das fiel „zufällig“ mit der Regierungsübernahme durch Rot-Grün zusammen! – Weitere Zurufe von der SPD)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer nur schreien und
lachen kann, entlarvt sich selbst. Zuhören wäre vielleicht
besser.


(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde es angesichts der Bedeutung dieses Themas be-
schämend, dass Sie bei der Rede des Kollegen Brähmig
nur gegrinst und gelacht haben. Das muss ich Ihnen ganz
offen sagen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir hatten in diesem Jahr die EXPO, die Weltausstel-

lung. Im Tourismusausschuss haben Sie in dieser Woche
alle gesagt, dass die Ausstellung tolle Auswirkungen auf
den Deutschlandtourismus hatte. Aber in dieser Debatte
stellen Sie es so dar, als wäre das Ganze ein Verdienst der
Regierung. Sie füllen nicht die Betten der Hotels, das ma-
chen immer noch die Gäste!


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Lassen Sie mich in aller Kürze noch drei Punkte an-

sprechen.
Erstens. Wenn Sie von Realitätsverlust reden, bitte ich

Sie, sich doch auch einmal die Realitäten anzusehen. Es
ist überhaupt keine Frage, dass die Benzinpreiserhöhun-
gen, an denen die Ökosteuer mit schuld ist – nicht alleine,
aber sie hat sie wesentlich mit beeinflusst –, und die Heiz-
kostenerhöhungen im Geldbeutel ein Loch zurücklassen.
Wir haben schon heute genügend Prognosen, die zum
Ausdruck bringen, dass insbesondere der Hotel- und




Brunhilde Irber
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Gaststättenbereich im Frühjahr darunter leiden wird, weil
das Verhalten der Menschen von dieser Situation psycho-
logisch abhängig ist. Das wollen Sie nicht wahrhaben.


(Brunhilde Irber [SPD]: Warum haben wir dann mehr Übernachtungen?)


Zweiter Punkt. Wir haben bei der so genannten ökolo-
gischen Steuerreform eine wirklich schizophrene Ent-
wicklung; denn die, die viel Energie verbrauchen, haben
Sie von dieser Steuer ausgenommen, während Sie ökolo-
gisch sinnvolle Transportmittel wie Bus und Bahn nicht
ausgenommen haben.


(Horst Kubatschka [SPD]: Halber Ökosteuersatz!)


Jetzt nenne ich Ihnen einmal zwei Zahlen. Die Treib-
stoffkosten sind in den zwei Jahren der rot-grünen Regie-
rung von 29 Pfennig auf 47 Pfennig pro Kilometer gestie-
gen. Das macht für einen Bus Mehrkosten von 12 000 DM
aus. Davon sind 3 600 DM auf die Ökosteuer zurückzu-
führen; das lässt sich errechnen. Ein bestimmter mittel-
ständischer Busbetrieb, den Frau Gradistanac wahrschein-
lich sehr gut kennt, beziffert seine eigenen zusätzlichen
Ausgaben und Belastungen mit 1,4 Millionen DM. Das
können Sie, da die Franzosen im selben Augenblick ent-
lasten, im Wettbewerb zu den Nachbarn nicht mehr auf-
fangen.

Dritter Punkt. Auch beim Hotel- und Gaststättenge-
werbe gibt es zusätzliche Belastungen. Darüber können
Sie doch nicht so blauäugig hinweggehen. Die Hotels ha-
ben eine durchschnittliche zusätzliche Belastung von
10 000 DM. Sie wissen, dass der große Teil der Hotels fa-
miliengeführt ist. In diesen Fällen haben Sie keine Entlas-
tung bei der Rentenversicherung.

Es tut mir furchtbar Leid, aber mir erschließt sich nicht,
wie man hier noch lachen und über alle Tatsachen hin-
weggehen kann.


(Ilse Janz [SPD]: Das hat sie gesagt! Sie hätten zuhören müssen!)


Ich sage Ihnen noch einmal: Wir haben im Tourismus
deutliche Steigerungsraten. Dafür gibt es sehr viele Grün-
de, sicherlich auch die, die die Kollegin Irber genannt hat.
Wenn Sie den Deutschlandtourismus stärken wollen,
dann nutzen Sie doch das Jahr des Tourismus dazu, die
dritte Stufe und auch die bisherigen Stufen der Ökosteuer
zu streichen.


(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Nein!)


Dann haben Sie einen Beitrag zum Jahr des Tourismus ge-
leistet und werden den Tourismus fördern. Wir werden da
nicht locker lassen, sondern weiter bohren.

Danke schön.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das war eine gute Rede!)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413409300
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Sylvia Voß.


Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413409400
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Burgbacher und liebe Kollegen von der rechten Seite des
Hauses, der Humor, der hier aufgekommen ist, kommt
wahrscheinlich daher, dass hier ständig eine Ökoplatte
aufgelegt wird, die einen Sprung hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Den Sprung haben Sie, nicht die Platte! – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sie wollen das nicht hören!)


Dem kann man nur noch mit Humor begegnen. Auch
wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: In der Tourismus-
branche in Deutschland herrscht überwiegend Zufrieden-
heit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Einer Saisonumfrage des Deutschen Industrie- und Han-
delstages zufolge, dessen Kompetenz Sie doch hoffent-
lich nicht anzweifeln wollen, sind die Aussichten für den
Tourismus in Deutschland schlichtweg gut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Dank Rot-Grün! – Gegenruf des Abg. Horst Kubatschka [SPD]: Jetzt haben Sie es begriffen, Herr Burgbacher!)


– Ja, genau, dank Rot-Grün. – Die Zahl der Touristen, die
aus dem Ausland nach Deutschland reist, wächst ständig,
Herr Burgbacher. Auch nach der Einführung der ersten
Stufe der Ökosteuerreform im April 1999 gab es einen er-
neuten Anstieg um 3,7 Prozent.

Die Deutschen verreisen offensichtlich ebenfalls sehr
gern innerhalb des eigenen Landes. Der Deutsche Touris-
musverband – auch dem wollen Sie hoffentlich nicht die
Kompetenz absprechen – macht Deutschland als belieb-
testes Reiseziel der Deutschen aus. Trotz Ökosteuer, stel-
len Sie sich das einmal vor! Da stellt sich mir doch die
Frage, wie diese Zahlen mit der Einschätzung zu verein-
baren sind, die die CDU/CSU gerade getroffen hat:

Die ersten beiden Stufen der Ökosteuer haben offen-
sichtlich zu massiven Belastungen der deutschen
Tourismuswirtschaft und einer Schwächung ihrer in-
ternationalen Wettbewerbsfähigkeit geführt.

Diese offensichtlich doch komplette Fehleinschätzung
der Christdemokraten lässt erkennen, dass die Opposition
lieber die Augen vor der Realität verschließt, als anzuer-
kennen, dass die von ihr erwarteten negativen Auswirkun-
gen tatsächlich ausgeblieben sind und dass die rot-grüne
Bundesregierung mit ihrer Reformpolitik, die man in ih-
rer Gänze sehen muss, günstige Rahmenbedingungen für
die deutsche Tourismuswirtschaft geschaffen hat und
schafft. Der Präsident des Bundesverbandes der deut-
schen Tourismuswirtschaft selbst hat kürzlich auf dem
Welttourismusgipfel in Hannover – da waren Sie alle
zugegen – genau diese Tatsache anerkannt.


(Beifall bei der SPD)





Ernst Burgbacher

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Sie hören das nicht gerne; aber es ist schlichtweg so. Da
ist nichts mit Lügen, Herr Brähmig.

Angefügt sei noch, dass zum einen seit Mai 1999
12 Pfennig der gestiegenen Benzinpreise auf die Öko-
steuer zurückzuführen sind und dass zum anderen die
Benzinpreise im europäischen Vergleich im Mittelfeld lie-
gen – das wissen auch Sie –, und zwar in der EU auf Platz
neun und in Gesamteuropa auf Platz zwölf. Also schreien
Sie nicht immer im Zusammenhang mit der Ökosteuer!

Auch die immer wieder sehr lauten Rufe nach einer
Aussetzung der Ökosteuer, die vor dem Hintergrund der
Belastungen durch den Ölpreisanstieg auftauchen und die
wir gerade wieder gehört haben,


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Ja, das werden Sie ständig hören!)


sollten zugunsten konstruktiver Debattenbeiträge ver-
stummen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Die Ökosteuer ist doch eine absolute Nullnummer!)


Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die sechs
großen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinsti-
tute – hören Sie jetzt einmal genau hin – begrüßen die
deutliche Entlastung von Unternehmen und Verbrauchern
durch die Steuerreform und lehnen eine Senkung der Mi-
neralölsteuer oder gar eine Abschaffung der Ökosteuer als
Reaktion auf den Ölpreisanstieg ab. Bezweifeln Sie den
Sachverstand der führenden deutschen Wirtschaftswis-
senschaftler


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Sagen Sie einmal weiter, was die bei der Steuerreform fordern!)


oder bezweifeln Sie den des früheren CDU-Bundesum-
weltministers Töpfer? Dieser erklärte am 13. November
dieses Jahres im „Morgenmagazin“:

Ich glaube nicht, dass die Ökosteuer eine K.o.-Steuer
ist. Wir brauchen marktwirtschaftliche Signale. Wir
brauchen Veränderungen von Energiepreisen, um
Technik zu stimulieren, um Verhalten zu verändern.

Sie sollten Ihrem Herrn Töpfer besser zuhören, statt sich
in der „Bild“-Zeitung zu bilden, Herr Brähmig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein Ziel der Ökosteuer ist es, den Verkehr zunehmend
auf öffentliche Verkehrsmittel zu verlegen. Schließlich
profitiert auch der Städtetourismus, der sich im Übrigen
trotz Ihrer Äußerungen ebenfalls wachsender Beliebtheit
erfreut, von einem Umstieg der Touristen vom eigenen
PKW auf öffentliche Verkehrsmittel.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Darauf habe ich hingewiesen! Sie haben überhaupt nicht zugehört! – Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Die Grünen hören nie zu! Die haben die Wahrheit gepachtet!)


Wenn sich nun die CDU/CSU überzeugt zeigt, dass der
öffentliche Nah- und Fernverkehr unter der Ökosteuer
leide, so ist auch dieser Vorwurf von wenig Sachkenntnis

getragen. Denn die Bundesregierung hat in den Vereinba-
rungen zur Ökosteuer die umweltfreundlichen Verkehrs-
träger privilegiert.


(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Die Busse zum Beispiel!)


Um nämlich die Verlagerung des Verkehrs auf öffentli-
che Verkehrsmittel zu beschleunigen, zahlt die Bahn für
einen festgelegten Zeitraum nur den halben Satz der
Stromsteuer und der ÖPNV nur den halben Ökosteuersatz
beim Kraftstoffverbrauch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit wird im Gegensatz zu Ihrer früheren Politik

nicht nur die Wettbewerbssituation von Bahn und ÖPNV
gestärkt. Es wird für die Touristen auch die Attraktivität
der Städtereisen vergrößert. Denn letztendlich – das sei
nur am Rande bemerkt – fällt bei der Anreise mit öffent-
lichen Verkehrsmitteln das lästige Parkplatzproblem weg.

Festgelegte Mineralölsteuersätze und somit ähnliche
Bedingungen wie für den ÖPNV wurden für die Bustou-
ristik vereinbart. Auch Sie sind ja auf die Bustouristik
eingegangen. Bis 2003 sind hier die Mineralölsteuersätze
festgelegt worden. Den Unternehmern in diesem Bereich
wurde durch diese Regelung also genügend Zeit einge-
räumt, steuerliche Belastungen beim Kraftstoffverbrauch
in die Preiskalkulation mit einzubeziehen.

Nach Auskunft des Deutschen Tourismusverbandes
– auch hier beziehe ich mich auf eine kompetente Institu-
tion, wie Sie das immer einfordern – werden sich keine
negativen Auswirkungen auf den Tourismus bemerkbar
machen. Wenn die CDU/CSU nun weiterhin die Ansicht
vertritt, dass „für Reisende aus Deutschland ... die Attrak-
tivität des eigenen Landes als Urlaubsziel ... sinkt“, müs-
sen von ihr künftig ganz andere Gründe als die Ökosteuer
gesucht werden. Noch besser wäre es jedoch, endlich ein-
mal die Realität zur Kenntnis zu nehmen und umwelt- und
tourismuspolitisch in der Wirklichkeit anzukommen.

Beherzigen Sie doch die Worte Ihres Parteifreundes
Klaus Töpfer, der seine Ausführungen im bereits ange-
führten Interview mit dem Satz schloss:

Also, ein gutes Wort an alle, die Verantwortung mit
tragen, hier nicht die kurzfristige Entwicklung, son-
dern die mittel- und langfristige Entwicklung in den
Mittelpunkt zu stellen.

Sie können nach dem Hau-drauf-Motto alles noch so
verdrehen und schlechtreden, aber wahr werden Ihre Aus-
sagen dadurch nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413409500
Das Wort hat die
Kollegin Neuhäuser.


Rosel Neuhäuser (PDS):
Rede ID: ID1413409600
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist leider nicht möglich, in drei
Minuten auf all die Fragen, die in der Großen Anfrage
eine Rolle spielen, einzugehen. Ich denke aber, dass ich




Sylvia Voß
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trotz der vielen Probleme, die hier aufgeworfen wurden,
sagen kann, dass der Tourismus in Deutschland eine posi-
tive Entwicklung nimmt. Die Zahlen sind aber nur eine
Seite, die Fakten sprechen für sich.

Ich denke, es ist wichtig, darauf aufmerksam zu ma-
chen, dass viele in diesem Haus den Tourismus für die
Jobmaschine schlechthin halten und ihn zur Leitökono-
mie erklären. Sie reden dabei nur wenig – ich habe heute
nur einmal das Wort Umwelt gehört – über die Ökologie.
Gerade die Folgen des Tourismus für Natur und Umwelt
werden oft im Zusammenhang mit der Touris-
musentwicklung in Deutschland verdrängt. Das wird si-
cherlich auch für die Tourismusentwicklung verheerende
Folgen haben.

Die Entwicklungen im Tourismus können nicht bis ins
Unermessliche gefördert werden, meinen wir, weil Um-
welt und Natur das Hauptkapital des Tourismus sind.


(Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir uns einig!)


Zum Erhalt derselben brauchen wir andere Verbindlich-
keiten, als Sie sie zum Beispiel im Papier der Bundesre-
gierung zur Ökosteuer festgeschrieben haben.

Meine Fraktion hat in vielen dieser Debatten deutlich
gemacht, dass die ökologische Steuerreform der Bundes-
regierung den Namen nicht verdient, weil sie nicht ökolo-
gisch ist und keine ökologischen Lenkungswirkungen hat.


(Beifall bei der PDS – Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch, die hat sie!)


– Die hat sie nicht. Ich muss Ihnen doch nicht erklären,
dass Steuern in der kapitalistischen Wirtschaft schon im-
mer Lenkungscharakter hatten. Wenn es also eine
ökologische Steuerreform sein soll, dann muss sie der Be-
völkerung Erleichterungen bringen und die Menschen in
die Debatte über einen ökologischen Umbau einbeziehen.

Kurz gesagt: Die ökologische Steuerreform braucht
Akzeptanz in der Bevölkerung. Von oben verordnetes um-
weltbewusstes Handeln über das Geld steuern zu wollen
wird von den Menschen als Bedrohung empfunden. Da-
mit erreichen Sie, dass das Umsteuern im Verbrauch der
Ressourcen ad absurdum geführt wird. Es kann doch nicht
angehen, dass Sie zum Beispiel die Energiesteuer beim
Verbrauch, aber nicht bei der Herstellung erheben. Das ist
nicht ökologisch. Sie glauben doch selbst nicht, dass Sie
Energie, Gas, Heizöl und Benzin verteuern, um den Ver-
brauch zu beschränken.

Ich möchte nun eine Anmerkung zur Benzinpreisstei-
gerung machen. Sie trifft unter anderem – das ist hier
schon deutlich geworden – die Bahn, die Busse und das
Taxigewerbe. Für mich bedeutet mehr Mobilität in dieser
Gesellschaft: niedrigste Fahrpreise, ein dichteres ÖPNV-
Netz, neue Busanbindungen an Bahnhöfen und Flughäfen
und den Ausbau, nicht den Abbau des Schienennetzes.


(Beifall bei der PDS)

Das wiederum hätte auch positive Auswirkungen auf den
Tourismus. Aber wir haben uns schon oft genug darüber
unterhalten, dass diese Maßnahmen nicht erfolgen. Ein

wichtiger Schritt aus unserer Sicht ist die Befreiung der
ÖPNV- und Reisebusse von der Mineralölsteuer. Das
heißt, dass die Auferlegung des halben Steuersatzes, die
bis jetzt vorgeschrieben ist, ausgesetzt werden muss. Ge-
nau dafür setzen wir uns ein.

Unser Fazit lautet: Das, was uns die rot-grüne Bundes-
regierung als Ökosteuer verkaufen will – ich kann das
vonseiten meiner Fraktion nur wiederholen; das haben
wir schon des Öfteren gesagt –, ist kein Einstieg in den
ökologischen Umbau. Die Pläne der Regierung begünsti-
gen Großunternehmen und belasten insbesondere Men-
schen mit geringerem Einkommen. Das kann man nicht
oft genug deutlich machen.

Meine Damen und Herren, die Auswirkungen für den
Deutschlandtourismus sind nahe liegend: Eine Familie
mit Kindern wird künftig bei der Urlaubsplanung sehr ge-
nau prüfen, welches Reiseziel das Familienbudget her-
gibt. Ob dann das Ziel immer Deutschland sein wird,
wage ich zu bezweifeln.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Große An-
frage der CDU/CSU verstärkt in meinen Augen nochmals
die soziale Ungerechtigkeit der Ökosteuer insbesondere
mit Rücksicht auf die Tourismusbranche.

Vielen Dank.

(Beifall bei der PDS)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413409700
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Anita Schäfer.


Anita Schäfer (CDU):
Rede ID: ID1413409800
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bereits die ersten zwei Stufen
des rot-grünen Projektmanagements Ökosteuer haben
dem Tourismusstandort Deutschland im internationalen
Vergleich einen erheblichen Schaden zugefügt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Diese Sondersteuer auf Benzin, Diesel, Strom und Heizöl
belastet nicht nur die Reiseunternehmen und alle in der
Branche Tätigen, sondern auch die touristischen Infra-
struktureinrichtungen, zum Beispiel bei Volksfesten und
in Freizeitparks.

Im Schaustellergewerbe ist die Mehrbelastung durch
die gestiegenen Kraftstoff- und Energiekosten weitaus
höher als die von der Bundesregierung viel gepriesene
Entlastung bei den Lohnnebenkosten. Die Bundesregie-
rung gibt auf unsere Anfrage hin sogar zu, dass das mo-
bile Gewerbe, das Schaustellergewerbe, durch den hohen
Strombedarf für die Beleuchtung und den Betrieb der
energieintensiven Fahrgeschäfte bei jährlich circa
40 000 Volksfesten und durch die hohen Kraftstoffkosten
mehr belastet als entlastet wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben die Stromsteuer eingeführt!)


Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
das alles wissen Sie doch. Warum tun Sie dann nichts?

Auch im Hotel- und Gaststättengewerbe liegt die
Kostenbelastung über der Entlastung der Betriebe bei den




Rosel Neuhäuser

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Lohnnebenkosten. Selbst bei umweltfreundlich geführten
Hotels macht das eine durchschnittliche Nettobelastung
von jährlich 10 000 DM pro Betrieb aus.


(Brunhilde Irber [SPD]: Wo sind denn die Zahlen her? Quelle!)


– Ich kann das nachweisen. – Gerade weil wir es in die-
ser Branche in besonderem Maße mit Familienbetrieben
zu tun haben, kommen die nicht rentenversicherungs-
pflichtigen Selbstständigen und deren Familienange-
hörige auch nicht in den Genuss geringerer Renten-
beiträge. Das musste die Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage hin zugeben.


(Horst Kubatschka [SPD]: Das wussten wir auch vorher!)


Nicht nur wir von der CDU/CSU, sondern auch die
DEHOGA fordert schon seit Monaten, diese Belastungen
und die Standortnachteile wieder zurückzunehmen.


(Brunhilde Irber [SPD]: Das ist ein Lobbyverband! Das ist dessen Job!)


– Das haben Sie schon einmal anders gesagt.
Ein anderes Beispiel ist die Bustouristik. Die Busrei-

seunternehmen sind von ihrer Veranlagung her mittel-
ständisch geprägt. Der Bus ist unter ökologischen
Gesichtspunkten als vorbildlicher Verkehrsträger einzu-
stufen. Die Bundesregierung gefährdet mit dieser so ge-
nannten Ökosteuer die Busreiseunternehmen in ihrer
Existenz. Die Fahrten nach und innerhalb Deutschlands
haben sich für den Touristen aus dem Ausland verteuert.
Die Wettbewerbsverzerrungen gegenüber ausländischen
Konkurrenzzielen vergrößern sich für den Tourismusstan-
dort Deutschland. Damit haben Sie nicht nur der gesam-
ten Branche einen Bärendienst erwiesen, sondern auch
dem „Jahr des Tourismus“ eine jämmerliche Startposition
verschafft.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Für unsere Bürger sinkt die Attraktivität des eigenen

Landes zugunsten ausländischer Ferienziele, welche nun
zunehmend mit dem Flugzeug angesteuert werden.


(Horst Kubatschka [SPD]: Weil sie keine Steuern zahlen!)


Das heißt: Reiseland Deutschland, nichts wie weg! Ich
frage Sie: Kann diese unökologische Bilanz im Sinne des
grünen Umweltministers sein?


(Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Der fliegt auch bald!)


Offensichtlich bedenken Sie dabei auch nicht, dass der
Bus direkt und indirekt rund 750 000 Menschen in

Deutschland den Arbeitsplatz sichert. Mit 10 000 produ-
zierten Omnibussen in 1997 gehört die deutsche Automo-
bilindustrie zu den weltweit führenden Omnibusherstel-
lern. Kann die Gefährdung dieses Potenzials im Interesse
des Automannes Gerhard Schröder sein?

Lassen Sie mich abschließend noch das „Unternehmen
Zukunft“, die Deutsche Bahn, ansprechen. Genauso wie
uns die Regierung nicht lange verheimlichen konnte, dass
die von Kanzler Schröder gemachten Entlastungsverspre-
chen durch die Entfernungspauschale so wohl nicht zu
halten sind, ist nun klar, dass die Deutsche Bahn jährlich
immense Zuschüsse seitens des Bundes benötigt.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Warum also nehmen es die Verantwortlichen im Bundes-
verkehrministerium hin, dass es für die umweltfreundli-
che Bahn durch die Ökosteuer für die Jahre 1999 bis 2003
zu einer Nettobelastung von sage und schreibe 1,1 Milli-
arden DM kommt? Vom Nachfolger des zurückgetrete-
nen Bundesverkehrsministers Klimmt erwarte ich mehr
Rückgrat.


(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ich erwarte gar nichts von ihm!)


– So kann man es auch sagen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-

desregierung auf, eine angemessene und gleichmäßige
Förderung aller öffentlichen Verkehrsmittel umzusetzen,
anstatt alle gleichmäßig zu belasten. Ich fordere Sie auf:
Machen Sie Schluss mit der Ökosteuer!

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen allen ein
schönes Wochenende. Genießen Sie, wo immer Sie auch
wohnen, Ihre reizvolle Landschaft!

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1413409900
Dafür bedanken
wir uns.

Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Dienstag, den 28. November 2000, 9 Uhr, ein.

Auch ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen so-
wie den letzten Besuchern ein schönes Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.