Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Der Kollege GunnarUldall feiert heute seinen 60. Ge-burtstag. Er ist leider nicht anwesend. Ich spreche ihmtrotzdem die herzlichsten Glückwünsche des ganzen Hau-ses aus.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege FranzThönnes als stellvertretendes Mitglied aus der Parlamen-tarischen Versammlung des Europarates ausscheidet.Nachfolgerin soll die Kollegin Leyla Onur werden. SindSie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist die Kollegin Leyla Onur als stellvertretendesMitglied in die Parlamentarische Versammlung des Euro-parates gewählt.Der Ältestenrat hat vereinbart, dass in der Haushaltswo-che vom 27. November 2000 keine Regierungsbefragung,keine Fragestunde und keine Aktuellen Stunden stattfindensollen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuglie-derung, Vereinfachung und Reform des Mietrechts
– Drucksache 14/4553 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesmi-nisterin Professor Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin derJustiz: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem Gesetz zur Neugliederung, Vereinfachung undReform des Mietrechts greift die rot-grüne Bundesregie-rung ein wichtiges Reformvorhaben auf, das trotz Mah-nungen aus den verschiedenen Bereichen, also von Mie-tern und Mieterverbänden, von Vermietern und ihrenOrganisationen wie auch von der Wohnungswirtschaft,viel zu lange liegen geblieben ist. Ich erinnere daran, dassder Bundestag schon 1974 zu einer Generalüberholung, zueiner Modernisierung und einer Reform aufgerufen hat.
Mit dem Gesetz werden wir den Erwartungen gerecht,die Millionen von Mieterinnen und Mietern an uns, denDeutschen Bundestag, richten. Sie wollen nämlich vor al-lem in Frieden miteinander auskommen können.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie sich an dieser Stelle so er-regen, Herr Repnik; aber Sie werden das sicherlich gleichsagen.
– Keine Erregung? Dann hat sich das hier nur so angehört.
– Sie hatten anschließend 16 Jahre Zeit, lieber HerrRepnik, und zwar auf der Grundlage einer guten Vorbe-reitung, die wir Ihnen bis Anfang der 80er-Jahre gelieferthatten. Vielen Dank für diesen Hinweis!
Das unterstreicht, dass wir gut daran tun, diesen Gesetz-entwurf so zügig zu beraten, wie ihn die rot-grüne Bun-desregierung vorgelegt hat.12949
134. SitzungBerlin, Freitag, den 17. November 2000Beginn: 9.00 UhrMit dem vorliegenden Gesetz erfüllen wir die grundle-gende Erwartung der Mieterinnen und Mieter auf der ei-nen Seite und der Vermieter auf der anderen Seite, vor al-len Dingen gut miteinander auskommen zu wollen.
Wenn man gut miteinander auskommen will, ist esnicht hilfreich, wenn der eine oder andere nun wieder ir-gendwelche Forderungen stellt; vielmehr ist es entschei-dend, dass Rechtsgrundlagen bestehen, aus denen dieRechte und Pflichten mit großer Klarheit ersichtlich sind.Genau dies bewirkt der neue Gesetzentwurf. Seine Rege-lungen sind gut lesbar. Er fasst zusammen, was bisher auf-grund der unterbliebenen Reform in ganz unterschiedli-chen Gesetzen und Verordnungen zu suchen war, und erordnet auch die Rechte und Pflichten so verständlich, dassjeder sie dort findet, wo er sie sucht.Lassen Sie mich ein ganz einfaches Beispiel nennen:Wenn jemand in Zukunft etwas über die Voraussetzungeneines Mietvertrages sucht, dann findet er es am Anfangdes Abschnitts über das Recht der Wohnraummiete imBürgerlichen Gesetzbuch. Wenn sich jemand über dieVoraussetzungen und die Folgen einer Kündigung infor-mieren will, dann muss er ebenfalls im Bürgerlichen Ge-setzbuch nachschauen, allerdings weiter hinten, weil dieRechtsfolgen der Kündigung im Schlussteil eines Miet-vertrages stehen.Wir alle wissen, dass unser Mietrecht aus ganz ver-schiedenen Gründen große Bedeutung hat: Über 60 Pro-zent der Menschen in unserem Land wohnen zur Miete.Sie brauchen bezahlbare, aber auch qualitativ gute, mo-derne und umweltfreundliche Wohnungen. Wir alle wis-sen, dass das Dach über dem Kopf zu den Grundrechtendes Menschen gehört.
Familien brauchen ein Dach über dem Kopf, das sie be-zahlen können.Auf der anderen Seite stehen die Vermieter. Wir wis-sen, dass sie sich mithilfe der Mieteinnahmen sehr häufigein zweites Standbein, eine zusätzliche Absicherung, ver-schaffen. Auch das ist wichtig. Wer will bestreiten, dassdie Wohnungswirtschaft mit dem Bau, mit der Verwal-tung und mit der Vermietung von Wohnungen zu einemsehr bedeutenden Wirtschaftsfaktor in unserem Land ge-worden ist? Gerade im Osten unseres Landes gibt es einegroße Zahl von besonderen Problemen. Auch das müssenwir einkalkulieren. Wir müssen diese unterschiedlichenBereiche – die Interessen und Bedürfnisse der Mieterin-nen und Mieter, die der Vermieter und die der Wohnungs-wirtschaft – im Auge behalten, wenn wir auf derGrundlage unseres Gesetzes Vereinfachungen, Moderni-sierungen und Reformen vornehmen wollen.Natürlich gibt es – bei aller Ausgewogenheit – auf dereinen oder anderen Seite zusätzliche gruppenspezifischeErwartungen. Es gibt auf der einen Seite Interessenver-bände, die für die Mieterinnen und Mieter sprechen. Siemachen das, wie der Deutsche Mieterbund, in hervorra-gender Weise.
Auf der anderen Seite gibt es Verbände der Vermieter undder Wohnungswirtschaft, die auch ihre spezifischen Inte-ressen laut und deutlich äußern. Das ist gut so. Auch da-von lebt unsere Demokratie. Die Aufgabe des DeutschenBundestages und der Bundesregierung ist es, diese Inte-ressen nicht nur zu sehen und sie zu würdigen, sondern sieauch zueinander in Relation zu setzen und ausgewogeneRegelungen zu schaffen. Genau das tun wir.
Dazu bewegen uns der Grundsatz des sozialen Schutzesund das Erfordernis von Flexibilität, die heute von immermehr Menschen in unserem Land mit seinen modernenLebensverhältnissen tatsächlich verlangt wird.Ich möchte einige der wichtigen Punkte darlegen, dieunser Gesetzentwurf enthält, wo es um sozialen Schutz,Flexibilität und Ausgewogenheit geht. Ich möchte daszunächst anhand des Kündigungsschutzes erläutern. DerKündigungsschutz ist wichtig, weil nur durch ihn Sicher-heit und Verlässlichkeit bei Mieterinnen und Mietern,aber auch bei den Vermietern hergestellt werden kann.Beide, Mieterinnen und Mieter bzw. Vermieter, brau-chen Sicherheit und Verlässlichkeit, allerdings in unter-schiedlicher Weise. Auf Grundlage der bisher geltendenRegelung ist alles rechtlich bisher gleich behandelt wor-den. Heute wissen wir, dass an die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer häufig die Anforderung eines schnellenArbeitsplatzwechsels – das ist sehr oft mit einem Umzugverbunden – gestellt wird. Wir wissen, dass viele alteMenschen, die in ihrem Leben lange Zeit gute Mieter ge-wesen sind, überraschend ins Altersheim umziehen müs-sen. Gleichzeitig hat auf unserem Wohnungsmarkt – allenregionalen Unterschieden zum Trotz – jeder Vermieter dieMöglichkeit, für eine gute Wohnung eine Mieterin odereinen Mieter zu finden.Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Interes-sen, Bedürfnisse und Lebensverhältnisse ist die von unsvorgeschlagene Regelung außerordentlich sachgerecht:Bei einer Vertragsdauer von bis zu fünf Jahren haben dieMieter eine Kündigungsfrist von drei Monaten. Bei ei-ner längeren Vertragsdauer liegt die Kündigungsfrist beisechs Monaten. Auch darüber kann man diskutieren. Da-gegen bleibt bei den Vermietern alles beim Alten.
Ich denke, dass das angesichts der Forderungen der Inte-ressenverbände eine sehr vernünftige und ausgewogeneRegelung ist.Die Vertreter der Vermieter sagen natürlich, das sei un-gerecht,
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während die Sprecherinnen und Sprecher des Mieterbun-des fordern, diese Frist einheitlich sogar auf drei Monatefestzusetzen. Ich bin ganz sicher, dass diese unterschied-lichen Überlegungen der Interessenvertretungen in denAusschüssen noch gründlich gewürdigt und auch bespro-chen werden.Ich komme zum zweiten Punkt, nämlich zu denKappungsgrenzen. Kappungsgrenzen dienen, wie wirwissen, dazu, die spezifischen Möglichkeiten von Miet-erhöhungen für einen bestimmten Bereich des Woh-nungsmarktes auf ein vernünftiges Maß zu begrenzen; wirreduzieren den erlaubten Mietanstieg von 30 Prozent auf20 Prozent.
– Wer hier „falsch“ sagt, verehrter Herr Kollege, solltewissen, dass er sich damit gegen den Schutz von wirklichschutzbedürftigen Familien, meistens in Ballungsräumen,ausspricht.
Wer die soziale Schutzfunktion des Mietrechtes bejaht,darf dieses Vorhaben nicht als falsch bezeichnen.
Die Kappungsgrenze, die Sie auf 30 Prozent erhöht ha-ben, senken wir wieder auf 20 Prozent. Das ist richtig so.Ich komme zum dritten Punkt, meine Damen und Her-ren, zum Problem der Nebenkosten. Nebenkosten ma-chen allen zu schaffen. Im Übrigen sehen das auch dieVermieter. Nun kann der Gesetzgeber die Nebenkostennicht einfach festsetzen. Sie bleiben natürlich dem Spielder Marktkräfte überlassen. Aber was der Gesetzgeber tunkann, das tut er: Unser Gesetzentwurf sorgt für mehrTransparenz und Abrechnungsgerechtigkeit. Das senktdie Kosten. Außerdem hat der Mieter aufgrund des vonuns festgeschriebenen Grundsatzes, dass nach Verursa-chung und Verbrauch abgerechnet werden soll, die Mög-lichkeit, die Nebenkosten auch durch eigenes Tun im Rah-men zu halten.Unsere Absichten werden übrigens auch bei den Rege-lungen für Mieterhöhungen – das ist der vierte Punkt –sehr deutlich. Wir bauen auf den bewährten Grundsätzenauf, beziehen weitere Grundsätze ein, die sich im Rahmender Rechtsprechung entwickelt haben, und schreiben dienotwendigen Regelungen fest. Damit entwickeln wir dasRecht weiter. Konkret: Wir behalten zwar das bewährteVergleichsmietensystem bei; da aber die Feststellung derVergleichsmiete gelegentlich Schwierigkeiten macht, er-weitern wir die Instrumente zur Feststellung der Ver-gleichsmiete. Neben dem einfachen Mietspiegel soll eseinen qualifizierten Mietspiegel geben, bei dem die An-forderungen an seine Erstellung höher sind. Damit einhergehen dann aber auch erweiterte Rechtsfolgen. Hier kannes bei der wissenschaftlichen Ausarbeitung, bei der Aner-kennung durch die Gemeinden und/oder durch die Ver-bände zum Streit kommen. Ich fände es außerordentlichgut – das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen –,wenn es hierbei auch weiterhin zu einem Zusammenwir-ken der unterschiedlichen Interessenverbände vor Ortkäme. Aber auf jeden Fall müssen wir verhindern, dass eshier zu einer gegenseitigen Blockade kommt; dement-sprechend werden wir dann auch die entsprechenden Re-gelungen konstruieren.
Wir fördern, weil bezahlbarer und moderner Wohn-raum dringend notwendig ist, die Modernisierung. Nachunserem Gesetzentwurf kann deshalb in die Modernisie-rungsumlage all das einbezogen werden, was der Ein-sparung von Energie dient. Das galt bisher nicht für alleModernisierungsmaßnahmen. Die Erweiterung ist gut,weil der Mieter, der zwar auf der einen Seite mehr bezah-len muss, auf der anderen Seite weniger Verbrauchskostenhat. Wir haben uns deshalb für diesen Weg entschieden.Ich weiß aber sehr wohl, dass manche sagen, es wäre dochviel gescheiter gewesen, die Modernisierungsumlage ent-weder ganz zu streichen, da sie im Rahmen eines Ver-gleichsmietensystems sowieso immer ein Fremdkörperist, oder wenigstens zu senken. Wir tun das nicht, weil wirModernisierungsmaßnahmen fördern wollen.Klarheit schaffen wir bei den Zeitmietverträgen. Dasist eine gute Sache. Wir schaffen mehr Flexibilität beiStaffel- und Indexmieten für den Teil unserer Mieterinnenund Mieter, der genau diese Mietformen will. Für dieseschafft der Gesetzgeber in der Tat mehr Transparenz.Die Prinzipien sozialer Schutz und Flexibilität bestim-men auch die Regelungen für die Umwandlung von Miet-wohnungen in Eigentumswohnungen. Der starre Schutz,der für alle gilt, kann regional nämlich deutlich ausge-weitet werden. Damit kann auf den Segmenten des Woh-nungsmarktes, in denen es noch Schwierigkeiten gibt, fürmehr Schutz gesorgt werden. Dabei müssen wir allerdingsaufpassen, dass alle Missbrauchsmöglichkeiten ausge-schlossen werden. Das Instrument der Umzugsregelungund -hilfe sorgt zum Beispiel dafür, dass einer, der eineWohnung gekauft hat, dem bisherigen Bewohner eineWohnung anbietet, sodass dieser dann in diese einziehenkann.Wir nehmen noch eine ganze Reihe von anderen Pro-blempunkten auf. Ich glaube, es ist ein Vorzug dieses Ge-setzentwurfs, dass er das in einer sehr klaren, verständli-chen und auch ausgewogenen Weise tut.Allerdings, meine Damen und Herren, machen wir ei-nen Fehler nicht: Da, wo die Rechtsprechung – und zwarin der Entscheidung von einzelnen Fällen – vernünftigeRegelungen entwickelt hat, meinen wir nicht, wir müss-ten hier zum Beispiel durch eine Regelung bei den Schön-heitsreparaturen ein System, das sich sehr bewährt hat,durcheinander bringen. Das bleibt, wie es ist.Lassen Sie es mich zum Schluss nochmals deutlich sa-gen, was wir wollen: Wir möchten – und wir schaffen esmit diesem Gesetz – den Mieterinnen und Mietern undden Vermietern eine klare und ausgewogene und vor allen
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Dingen eine faire Grundlage für ein gutes Zusammenle-ben bieten.Damit verbinden wir die Hoffnung, dass wir einen er-heblichen Teil der heute bei den Gerichten anhängigenüber 300 000 Mietprozesse überflüssig machen. Das istunser Ehrgeiz.Wir sollten diesen Gesetzentwurf in den Ausschüssenzügig beraten, damit die verschiedenen Bereiche, die hieralle angesprochen sind, bald etwas davon haben.Herzlichen Dank.
Ich erteile dem Kolle-
gen Dietmar Kansy, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsi-dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sie haben Recht, Frau Ministerin – ich freuemich, dass zwischenzeitlich auch zwei Staatssekretäre ausdem Bauministerium eingetroffen sind; der Minister istuns ja nun bedauerlicherweise wieder abhanden gekom-men –:
Ein gesichertes Dach über dem Kopf ist ein elementaresGrundbedürfnis der Menschen. Dies sicherzustellen – ichsage das über alle Regierungswechsel und Fraktionsgren-zen hinweg – ist ein Eckpfeiler der deutschen Politik nichtnur, aber insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ge-wesen, allerdings verteilt auf unterschiedliche staatlicheEbenen unseres föderativen Systems, also auf Bund, Län-der und Gemeinden.Aber auch in diesem Politikbereich gilt – trotz des ge-sicherten Dachs über dem Kopf – neben dem Prinzip derSolidarität das Prinzip der Subsidiarität. Das heißt imBereich der Wohnungspolitik: Die Wohnung ist gleicher-maßen ein hohes Sozialgut, aber auch ein teures und lang-lebiges Investitionsgut. Staatliche Hilfen im materiellen,aber auch im immateriellen Sinne, zum Beispiel das Miet-recht, sollten deswegen Hilfe zur Selbsthilfe sein undnicht ein allumsorgendes staatliches Recht.
Meine Damen und Herren, der Bund hat in der Woh-nungspolitik Aufgaben in vielfältiger Weise zu erfüllen.Im Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau, derStädtebauförderung, dem Programm „Soziale Stadt“ oderdem Wohngeld gewährt er eine direkte objekt- oder sub-jektgebundene Förderung, die heute dem Minister fürVerkehr, Bau- und Wohnungswesen obliegt. Aber wir sinduns klar darüber, dass das Steuerrecht und das Mietrechteinen mindestens genauso großen Einfluss auf ein ausrei-chendes und bezahlbares Wohnungsangebot haben.Das Steuerrecht ermöglicht es dem Staat, im Miet-wohnungsbau durch verschiedene „Stellschrauben“,zum Beispiel durch AfA oder Spekulationsfrist oder an-deres, private Investoren zu ermuntern oder aber abzu-schrecken, ihr Kapital in Wohnungen zu investieren. Übereine mehr oder weniger attraktive Eigenheimzulage er-mutigt er darüber hinaus Menschen – mehr oder weniger –,selbst Wohnungseigentum zu bilden.Das Mietrecht ist für Millionen Vermieter und – wie dieMinisterin schon ansprach – für knapp 60 Prozent der Be-völkerung Deutschlands, die zur Miete wohnen, von ele-mentarer Bedeutung. Eine mehr mieterfreundliche odermehr vermieterfreundliche Ausformung hat nicht nur Ein-fluss auf die Miethöhe – das weiß jeder –, sondern auchauf die Anzahl und die Qualität der Wohnungen. Für dieCDU/CSU galt während ihrer Regierungszeit und giltauch heute noch die Leitlinie: Ein ausreichendes Woh-nungsangebot ist der beste Mieterschutz.
Ich muss heute noch einmal daran erinnern, dass diejetzige rot-grüne Koalition den Wohnungsmarkt in besterVerfassung vorgefunden hat, und die ist nicht vom Him-mel gefallen, sondern einer konsequenten Wohnungspoli-tik der Vorgängerregierung zu verdanken.
Von Fertigstellungszahlen von über 600 000 Wohnungenjährlich Mitte der 90er-Jahre bis hin zu den daraus resul-tierenden historischen Tiefständen der Mietindexsteige-rung von 1,1 Prozent im Jahr 1999 – nie hat eine neue Re-gierung in einem für die Bedürfnisse aller Menschen sozentralen Bereich, wie ihn ein angemessener Wohnraumdarstellt, eine so ausgesprochen günstige Position vorge-funden wie Sie.
Deswegen möchte ich gleich anfügen, obwohl meinKollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten darauf nocheingehen wird: Wer eine Politik macht mit Mietpreisstei-gerungen von 1,1 Prozent im Jahr – wie wir sie gemachthaben –, braucht sich eben nicht den Kopf darüber zu zer-brechen, ob die Kappungsgrenze bei 30 oder 20 Prozentim Jahr liegen soll.
Nun haben wir teilweise, insbesondere in den neuenBundesländern, sektorale Leerstände. Ich glaube aber,dass die derzeitige Regierung und die sie tragenden Frak-tionen eine verhängnisvolle Fehleinschätzung begehen,
und zwar nicht nur in den einzelnen Politikbereichen. Daszeigen zahlreiche Maßnahmen, die in den letzten beidenJahren hier beschlossen wurden: die radikale Kürzung derMittel für den sozialen Wohnungsbau, die gleichzeitigeVerschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingungenfür den freifinanzierten Mietwohnungsbau, die Ver-schlechterungen bei der Eigenheimzulage oder jetzt, FrauMinisterin, einzelne beabsichtigte Änderungen im Miet-recht.Wirklich schlimm ist, dass wir im Bund zum erstenMal überhaupt keine abgestimmte Wohnungspolitik ha-
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ben. Das ist noch freundlich formuliert; eigentlich gibt esgar keine Wohnungspolitik dieser Regierung. Der Baumi-nister fährt den sozialen Wohnungsbau herunter, der Fi-nanzminister verschlechtert die steuerlichen Rahmenbe-dingungen, reduziert die Förderung des selbstgenutztenWohneigentums, und Sie, Frau Ministerin, legen jetzt einMietrecht vor – –
– „Zum Thema!“, ruft da jemand. Das ist das Verständnisdieser Leute von Wohnungspolitik. Hauptsache, die Para-graphen stimmen. Das Dach über dem Kopf ist das We-sentliche!
Die Ministerin verschlechtert jetzt mit einer ganzenReihe von Bestimmungen auch die Rahmenbedingungenweiter.
Wenn es in Zukunft überhaupt noch Investoren geben soll,die sich nicht entmutigt fühlen, dann bedarf es mehr alseiniger kleiner Korrekturen bei den anstehenden Aus-schussberatungen. Ich sage das im vollen Bewusstsein derkomplizierten Situation und im vollen Bewusstsein derTatsache, dass Sie jeden zweiten Tag in einer Sendungoder in einem Presseartikel von Wohnungsleerständenhören oder lesen. Das gilt für partielle Bereiche Deutsch-lands; das gilt aber nicht überall.Wenn wir nicht aufpassen, kommt der nächste so ge-nannte Schweinezyklus in der Wohnungspolitik wieder.Ich sagte schon, dass die durchschnittliche NeubaurateMitte der 90er-Jahre bei 600 000 lag. In diesem Jahr er-wartet das Städtebauinstitut eine Neubaurate von nur noch380 000. Das bedeutet schlicht und ergreifend, dass die sogenannte Ersatzbaurate zwischenzeitlich schon unter-schritten wird.Wie bereits gesagt, wird mein Kollege Dr. WolfgangFreiherr von Stetten die einzelnen Vorschriften noch be-sprechen. Eines ist aber für die CDU/CSU-Fraktion klarund auch für unseren ehemaligen Staatssekretär Funke– wir beide wissen, wovon wir reden; Sie können dazunachher auch gern Stellung nehmen –:
Zur Vereinfachung ein klares Ja, zur Verschiebung des inlangen Jahren der Gesetzgebung und Rechtsprechung ge-fundenen sensiblen Gleichgewichts zwischen Mieternund Vermietern ein klares Nein.
Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode als Re-gierungsfraktion mit der F.D.P. nicht geeinigt, weil sie dasGleichgewicht zulasten der Mieter verschieben wollte,und wir werden uns heute weigern, dieses Gleichgewichtzulasten der Vermieter zu verschieben.
Die unter der Regierung Kohl gebildete Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Mietrechtsvereinfachung – ich betone:Vereinfachung; nomen est omen – hatte hauptsächlich dasZiel, eine Mietrechtsvereinfachung zu erreichen. In Teil-bereichen sollten Innovationen möglich sein. Dazu stan-den und stehen wir. Wir stehen aber nicht dazu, das vonmir angesprochene Gleichgewicht in der Weise zu ver-schieben, wie es im Regierungsentwurf vorgesehen ist.Richtig ist: Die derzeitigen gesetzlichen Regelungenerfüllen nicht – oder zumindest nicht mehr – den An-spruch auf Übersichtlichkeit, Klarheit und Verständlich-keit; denn in den letzten 40 Jahren sind viele Änderungender Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch selbst oderauch in anderen Gesetzen erfolgt. So ist es dem Bürgerzum Beispiel angesichts der Änderungen im Miethöhe-gesetz oder im Sozialklauselgesetz – es beinhaltet denSchutz des Mieters bei Umwandlung der Wohnung in eineEigentumswohnung – fast unmöglich, dieses Mietrecht zuverstehen und zu begreifen.Deswegen ist es gut, dass sich der Deutsche Bundestagheute endlich in die Debatte um ein neues Mietrecht ein-schalten kann; denn diese Gesetzgebungsmaterie, die fürüber 15 Millionen Mieterhaushalte von großer Bedeutungist, hat in der Länderkammer immerhin schon einen Be-ratungsvorlauf von über einem Jahr. Ich erinnere daran,dass Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen bereits imSeptember 1999 einen entsprechenden Reformgesetzent-wurf im Bundesrat eingebracht haben, also lange bevordie Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzent-wurf eingebracht hat.Die CDU/CSU hatte damals gehofft, dass diese Initia-tive der beiden SPD-regierten Länder eine Art Minen-hundfunktion hatte, mit der man herausfinden wollte, obdie Möglichkeit eines Konsenses mit der CDU/CSU undmit den CDU- und CSU-regierten Bundesländern be-stand. Das war uns damals sehr recht. Für diesen Konsensschien zunächst einmal zu sprechen, dass die beiden be-teiligten Bundesratsausschüsse eine Arbeitsgruppe bilde-ten und einen ernsthaften Anlauf unternahmen, dasThema Mietrecht so zu behandeln, dass das Potenzial fürPolemik niedrig gehalten wurde – wir wissen, dass dies inder Vergangenheit nicht immer der Fall war – und dasseine über eine Wahlperiode hinausgehende Rahmenset-zung möglich war. Ich bedauere es für meine Fraktionausdrücklich, dass dieser Anlauf durch die Meinungsbil-dung in der rot-grünen Koalition im Bund und mit der Be-schlussfassung des Bundeskabinetts über einen Regie-rungsentwurf beendet wurde.Frau Ministerin, Sie haben uns nicht nur mit dem Ge-setzentwurf selber, sondern auch mit Ihren Äußerungenbeim Deutschen Mieterbund am 12. September schwer ir-ritiert; denn sie waren völlig inakzeptabel. Die Ministerinhat damals gesagt – ich erwähne dies für die Kolleginnenund Kollegen, die nicht dabei waren –, in den Parla-mentsberatungen sollten über den Gesetzentwurf hinauseine weitere Absenkung der Kappungsgrenze auf 15 Pro-zent, asymmetrische Kündigungsmöglichkeiten für Mie-ter mit einer Absenkung der Kündigungsfrist von sechsauf drei Monate, der Verzicht auf Zustimmungsbedürftig-keit bei der Erstellung von qualifizierten Mietspiegeln
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Dr.-Ing. Dietmar Kansy12953
durch die Vermieterseite, die Erhöhung der Sperrfristenbei Umwandlungskündigung und die Kündigungsmög-lichkeit des Vermieters aufgrund Zerrüttung geprüft wer-den. Diese Punkte waren nicht Bestandteil des Regie-rungsentwurfs.Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, nachdem der Kabi-nettsbeschluss vorlag, haben Sie in der Berliner Presse be-hauptet, dieser Gesetzentwurf entspreche nicht den Ab-sprachen innerhalb der Koalition. Deswegen lautet meineFrage: Was gilt denn nun? Gilt der Gesetzentwurf, geltendie Ankündigungen der Ministerin oder gelten Ihre Be-merkungen? Es gab erfreulicherweise zwischenzeitlicheine Annäherung zwischen Referentenentwurf und Kabi-nettsbeschluss. Ich nenne in diesem Zusammenhang dieModernisierungsumlage und die Asymmetrie der Kündi-gungsmöglichkeit.
– Wir beobachten die Entwicklung sehr genau.Wir begrüßen auch die Stellungnahme der Bundesre-gierung zu den Bundesratsbeschlüssen, eine Mietrechts-reform nicht ohne eine Regelung bezüglich der prozess-trächtigen Schönheitsreparaturen vorzunehmen, sowiedie Bereitschaft zur Überprüfung des vor allem für dieneuen Länder wichtigen Anliegens, bei erheblichem Woh-nungsleerstand eine Kündigung zum Zwecke der Verwer-tung des Grundstückes zuzulassen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Die CDU/CSU-Fraktionwird die Beratungen in beiden Ausschüssen, im feder-führenden Rechtsausschuss und im Bauausschuss, ernstnehmen und den Gesetzentwurf von Vorschrift zu Vor-schrift daraufhin überprüfen, was mit uns machbar ist undwas nicht. Wir wollen eine Vereinfachung und – ich wie-derhole mich – sinnvolle Innovationen zum Beispiel imUmweltbereich. Aber wir wollen keine Verschiebung dessozialen Gleichgewichts durch diese Mietrechtsreform.
Ich erteile der Kolle-gin Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
legen! Lieber Herr Kollege Kansy, als Erstes muss ichIhre Erklärung, es gebe in dieser Koalition keine Woh-nungspolitik, mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Offen-bar haben Sie sowohl die letzten zwei Jahre als auch dieaktuellen Haushaltsberatungen entweder einfach ver-schlafen oder nicht zur Kenntnis genommen. Ich denke,wir haben bisher eine sehr engagierte Wohnungspolitikgemacht. Wir haben die Mittel für die Städtebauförderunggerade bei dieser Haushaltsberatung erhöht. Wir habendas Programm „Soziale Stadt“ auf den Weg gebracht undden Ansatz jetzt wieder ein Stück hochgeschoben. Wir ha-ben ein sehr engagiertes Altbausanierungsprogramm aufden Weg gebracht, kümmern uns um die Altschuldenhil-feproblematik Ost ganz anders, als Sie das gemacht ha-ben, werden eine Reform des sozialen Wohnungsbaus aufden Weg bringen und sind jetzt dabei, das Mietrecht zu re-formieren. Ich glaube, da können Sie sich wirklich nichtbeschweren, oder Sie sind irgendwie in einem anderenFilm.
Als Zweites möchte ich mich ganz herzlich bei derCSU dafür bedanken, dass sie es in der letzten Legisla-turperiode verhindert hat, dass es eine Mietrechtsreformunter Ihrer Regierung, Schwarz-Gelb, gegeben hat. Dennder Mietrechtsentwurf, den die F.D.P. hier jetzt wiedervorgelegt hat, macht mir in Bezug auf seine Zielsetzunggroße Sorge. Von daher bin ich froh, dass Sie uns dieChance überlassen, über ein wirklich ausgewogenes Re-formkonzept zu beraten.
Das tut, glaube ich, der Gesellschaft und den auch von Ih-nen genannten vielen Vermietern und Mietern wirklichgut.Zur Sache: Ich glaube, wir haben hier einen Reform-vorschlag vor uns liegen, der zum einen dem Ziel, die inden Einzelgesetzen verstreuten Regelungen zusammen-zufassen und neu zu ordnen sowie das Mietrecht einfacherzu machen, einen deutlichen Schritt näher kommt undzum anderen allen Beteiligten, nicht zuletzt der Justiz,hilft bzw. die Justiz entlastet.Obwohl ja bekannt ist, dass ich mich sehr stark fürMieterinteressen engagiere, denke ich, dass es richtig ist,dass wir einen Gesetzentwurf vorliegen haben, der auf ei-nen fairen Interessenausgleich zwischen der Vermieter-seite und der Mieterseite achtet, der auf der einen SeiteBausteine für mehr Liberalisierung und Stärkung der Ver-tragsfreiheit enthält – Dinge, die die Mieterverbändedurchaus kritisch sehen. Wir nehmen diese Einwände sehrernst. Wir tragen auch Verantwortung für die Ausgewo-genheit. Auf der anderen Seite enthält der Gesetzentwurfwichtige Bausteine, die die Mieterseite stärken. Ich nennedie beiden, die mir die wichtigsten sind: die Stärkung desMietspiegels – ich bin froh, Herr Kollege Kansy, dass Siedoch auch die Gegenäußerung der Bundesregierung zurStellungnahme des Bundesrates gelesen haben – und dieAbsenkung der Kappungsgrenzen. Das sind Punkte, dieden Mietern mehr Rechtssicherheit und mehr Schutz anStellen geben, wo es sehr wichtig ist.
Weil Wohnungen kein x-beliebiges Wirtschaftsgutsind, sondern eine existenzielle Voraussetzung für einmenschenwürdiges Leben, ist es zwar richtig, dass, wieSie, Herr Kansy, gesagt haben, das Mietrecht ein Instru-ment für Subsidiarität ist, das den gesellschaftlich betei-ligten Kräften und Vertragspartnern ein hohes Maß an Ei-genverantwortung überträgt – ich weiß nicht, was Sie da
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Dr.-Ing. Dietmar Kansy12954
beim Mietrecht insgesamt zu klagen haben –, möchte ichaber doch sehr deutlich in Richtung F.D.P. sagen, dass ichihren Ansatz unverantwortlich und unvereinbar mit demSozialstaatsprinzip finde. Sie, Herr Funke, meinen, dasMietrecht müsse von all seinen sozialen Schutzfunktio-nen entrümpelt werden.
Wir wollen ein modernes und zeitgemäßes Mietrecht, dasVerantwortung überträgt, aber wir wollen keinen Ab-schied vom Sozialstaatsprinzip. Das gilt für Rot-Grün.
Wir nehmen auch die Bedenken zum Gesetzentwurf,die gerade jetzt noch einmal vom Mieterbund gekommensind, sehr ernst. Darum haben wir auch noch einigePunkte, um die wir in der Koalition ringen; das kann ichdeutlich sagen. Da brauchen Sie gar nicht immer Zei-tungsartikel zu zitieren; wir haben das selber schon klar-gemacht.Ich nenne dafür einige Beispiele. Wir wollen, dass sichdurch die so genannte Zerrüttungskündigung auf kei-nen Fall eine Verschlechterung gegenüber der heutigenRechtslage ergibt. Hieraus darf auf keinen Fall ein Frei-brief für Mobbing und Willkür entstehen. Deswegen wer-den wir die Besorgnisse des Mieterbundes sehr ernsthaftprüfen. Wir wollen außerdem keinen Missbrauch des In-struments des Zeitmietvertrags. Deswegen werden wirim weiteren parlamentarischen Verfahren intensiv prüfen,ob mit der Vorlage die Probleme schon gelöst sind oder obNachbesserungsbedarf besteht.
Ich möchte – gerade auch in Ihre Richtung, HerrKansy – auf folgenden Punkt hinweisen: Seit der Miet-rechtsreform der 70er-Jahre hat sich der Wohnungsmarktentschieden weiterentwickelt. Die Lebensrealität vielerHaushalte hat sich hinsichtlich der Wohnsituation verän-dert. Wir haben keinen flächendeckenden Wohnungsman-gel mehr. Der Wohnungsmarkt ist aber stark differenziert:Im Süden und teilweise in Westdeutschland gibt es Bal-lungsgebiete mit hohen Mietpreisen und einer angespann-ten Lage auf dem Wohnungsmarkt. Dem muss Rechnunggetragen werden. Auf der anderen Seite haben wir in West-deutschland aber auch Gebiete mit einer entspannten Si-tuation auf dem Wohnungsmarkt, und deindustrialisierteGebiete in Ostdeutschland weisen teilweise sogar drama-tische Wohnungsleerstände auf.Dieser großen Spannbreite von unterschiedlichen Si-tuationen muss das Mietrecht in seiner heutigen Ausge-staltung meiner Meinung nach Rechnung tragen. Es kannnicht mehr einseitig – wie es von vielen Vermieterverbän-den gesehen wird – als Instrument ständiger Miet-erhöhungen angesehen werden. Das war ein Problem derAnpassungsphase der 70er-, 80er- und im Osten der 90er-Jahre. Heute geht es um einen gerechten Ausgleich. Denwerden wir auch schaffen, weil die Mieten im Durch-schnitt längst das Marktniveau erreicht haben.Von daher ist aus unserer Sicht das Konzept der Koali-tion und der Regierung, die Kappungsgrenze der Miet-steigerungen bei den Bestandsmieten auf 20 Prozent zusenken, richtig. Ich habe es nicht so verstanden, dass dieFrau Ministerin von 15 Prozent gesprochen hat. Sie hatvielmehr zu dieser Absenkung gestanden. Sie hat berich-tet, dass aus München weitere Forderungen gekommensind. Zu der Absenkung auf 20 Prozent stehen wir. Wirhalten sie für angemessen. Für die Mieter bringt eineMietsteigerung von 20 Prozent – das ist ein enormer„Schluck aus der Pulle“ – genügend Probleme. Für dieVermieter ist das aber ein zumutbares Maß.Lassen Sie mich nun das Problem der Kündigungsfris-ten ansprechen. Wir Grünen setzen uns im Verfahren auchweiterhin deutlich für eine einheitliche Kündigungsfristvon drei Monaten für Mieter ein.
Wir hoffen, dass wir den Koalitionspartner da auf unsererSeite haben. Wir finden es richtig, darüber zu verhandeln,inwieweit auf der Seite der Vermieter eine Absenkungdurchgesetzt werden kann. Aber das Konzept der asym-metrischen Kündigungsfristen möchten wir nicht angetas-tet wissen. Wir wissen sehr wohl, dass zwischen Vermie-ter und Mieter gerade bei dem Gut Wohnung deutlicheUnterschiede bestehen. Von daher muss den Mietern mehrHandlungsspielraum gegeben werden.Ich fände es schön, wenn es gelänge, noch einmal dasThema der Schönheitsreparaturen aufzugreifen. Wirwissen es alle – darüber hat es schon eine Reihe von Ge-sprächen gegeben –: Es ist sehr schwierig, eine einfacheFormel zu finden, die mehr Rechtssicherheit schafft.Dann müssten weniger strittige Fälle bis vors Gericht ge-tragen werden. Ich hoffe, dass wir noch eine Formel fin-den. Wir haben ja schon viele Diskussionen geführt undviel Schweiß hineingesteckt, ohne eine endgültige Lö-sung zu finden.Ich möchte nun einen letzten Punkt ansprechen, dieCO2-Minderung und die Energieeinsparung im Gebäu-debestand. Auch hier sind wir einen großen Schritt wei-tergekommen. Ich möchte mich ganz herzlich bei der FrauMinisterin dafür bedanken, dass wir das geschafft haben.Für uns Grüne ist es gerade von besonderer Bedeutung,dass im Bereich Wohnen Schritt für Schritt mehr Energie-einsparung erfolgt.Danke schön allerseits.
Ich erteile dem Kolle-
gen Michael Goldmann, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Ministerin,ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Ich habe mir auchIhren Gesetzentwurf gründlich und in allen Einzelheitenangesehen, komme aber zu einem ganz anderen Ergebnis.Ich denke nicht, dass er den Erwartungen gerecht wird.
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Franziska Eichstädt-Bohlig12955
Ich glaube nicht, dass Mieter und Vermieter nach der Ver-abschiedung eines solchen Gesetzes besser klarkommenwerden. Ich stelle zwar fest, dass das, was Sie auf denTisch legen, scheinbar gut lesbar ist, meine jedoch, dassSie die falschen Antworten auf das geben, was sich imMoment zwischen Mietern und Vermietern als notwendigerweist.Nein, sehr verehrte Frau Ministerin, Ihr Gesetz reihtsich nahtlos in die bisherige eigentums- und investitions-feindliche Wohnungspolitik der Bundesregierung ein.
Es ist leider festzustellen, dass der Neubau von Mietwoh-nungen fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Dasentscheidende Signal, das von diesem Gesetz an die Inves-toren ausgeht, lautet ganz simpel: Wer auch noch zukünf-tig in den Wohnungsbau investiert, ist selbst schuld!Die lange Kette der investitionsfeindlichen Initiativenund der Drohungen der rot-grünen Mehrheit reißt auch mitdiesem Gesetzentwurf nicht ab. Dazu gehören die Absen-kung der degressiven AfA, der Fallenstellerparagraph 2 bdes Einkommensteuergesetzes, die Beschränkung der Ver-lustverrechnung aus Vermietung und Verpachtung, die Er-höhungen der Grundsteuer und der Erbschaftsteuer unddie Erhöhung der Wohnnebenkosten durch die so genannteÖkosteuer. Gleichzeitig haben Sie die Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums durch eine Kürzung der Eigen-heimzulage geschwächt.Sie lassen auch die Wohnungswirtschaft im Ostenweitgehend im Stich; denn das, was Sie mit dem Alt-schuldenhilfe-Gesetz und den Folgeverordnungen einge-bracht haben, ist nicht geeignet, die Not in den neuen Län-dern zu lindern.
Es muss jedem klar sein, dass der Wohnungsbau inDeutschland in erster Linie und zunehmend von privatenInvestoren getragen wird. Das betrifft den kleinen Hand-werker und den mittelständischen Betrieb, der in einZwei- oder Vierfamilienhaus investiert, das gilt aber ge-nauso für den Geldgeber für einen offenen Immobilien-fonds. Sie wissen es alle: Der staatliche Wohnungsbau hatdagegen fast keine Bedeutung mehr und ist bei Rot-Grünzu einer Restgröße verkommen.Liebe Frau Eichstädt-Bohlig und andere Kollegen ausdiesem Bereich, Sie müssen sich doch fragen: Wer eigent-lich soll die 400 000 bis 500 000 Wohnungen bauen, diewir brauchen, um nicht wieder in andere „Schweinezy-klen“ hineinzukommen, die den Mietern ganz erheblichschaden. Wir dürfen doch nicht die Bereitschaft der Priva-ten zerschlagen, in den Mietwohnungsbau zu investieren.Das Gesetz, das uns vorliegt, bringt eben Vermieterund Mieter nicht auf gleiche Augenhöhe. Es trägt nichtdazu bei, das Vertrauensverhältnis zwischen Mietern undVermietern zu stärken; stattdessen führt es dazu, dass wirwieder in großem Maße Konflikte produzieren. Sie pro-duzieren mit diesem Gesetz den zukünftigen Wohnungs-mangel.Die Folge wird sein: Die Mieten werden so lange stei-gen, bis sich die Investoren wieder in den Markt hinein-trauen. Damit wird sich der Markt das zurückholen, wasSie ihm jetzt gesetzlich vorzuenthalten versuchen. Das,was Sie wollen, wird sich ins Gegenteil verkehren. Daswissen Sie auch sehr genau und das sagen auch diejeni-gen, die Sie in besonderer Weise vertreten, nämlich dieMieter.Der Mieterschutz wird zu Wohnraummangel führen.Die Kappungsgrenzen werden zu Preiserhöhungen aufdem Markt. Spezielle Schutzvorschriften, die Sie vorse-hen, werden zu Zugangsbeschränkungen.
Die Verschärfung des Mietrechts wird zu einer Ver-schlechterung der Versorgung mit Wohnraum führen. Ihrverschärftes Mietrecht hilft höchstens kurzfristig denjeni-gen, die jetzt schon in einer Wohnung sitzen, aber nichtdenjenigen, die eine Wohnung suchen, und auch nicht denkleinen Vermietern, die nicht über einen Justiziar verfü-gen und keiner Vermietervereinigung angehören.Die F.D.P. spricht sich dafür aus, gerade das Vertrau-ensverhältnis zwischen Mietern und Vermietern zu be-günstigen. Zurzeit gibt es dieses Vertrauensverhältnis ja inweiten Bereichen. Tun wir doch nicht so, als ob die Dingein diesem Bereich besonders schwierig oder belastetwären. Nehmen wir doch ganz einfach zur Kenntnis, dassdieses Gesetz dazu beitragen könnte, die Investitionsbe-reitschaft zu stärken. Es könnte zu mehr Mietwohnraumund dadurch zu mehr Arbeitsplätzen und Investitionenführen. Es könnte insgesamt einem Teil unserer Wirt-schaft erheblich dienen.Unser Gesetzentwurf, den wir bereits vor geraumerZeit eingebracht haben, trägt dem Gedanken der Begeg-nung auf Augenhöhe zwischen Mieter und Vermieter inbesonderer Weise Rechnung. Mieter und Vermieter sind– davon bin ich überzeugt – im Grunde gutwillige Partner.Das kann man am besten fördern, indem man ihnen Ver-trauen entgegenbringt. Das tun Sie aber mit diesem Ge-setz nicht.Der vorliegende Gesetzentwurf wird eine gründlicheÜberarbeitung im federführenden Rechtsausschuss undim begleitenden Ausschuss für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen erfahren müssen, damit er dem Rechnungträgt, was wir gemeinsam wollen, nämlich mehr zufrie-dene Vermieter und Mieter.Herzlichen Dank.
Ich erteile der Kolle-
gin Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung dieses Geset-zesvorhabens kann ich nur unterstreichen. Das Recht aufangemessenen Wohnraum ist ein grundlegendes Men-
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Hans-Michael Goldmann12956
schenrecht. Etwa 50 Millionen Menschen in Deutschlandkönnen dieses Recht nicht durch Wohneigentum, sondernnur durch das Anmieten einer Wohnung verwirklichen.Die Mietwohnung ist für sie ein Ort sozialer Geborgenheitund persönlicher Freiheit, ein Mittel „zur Befriedigungelementarer Lebensbedürfnisse“, wie das Bundesverfas-sungsgericht in einer Entscheidung von 1993 festgestellthat.Insofern kommen – so das Bundesverfassungsgericht –dem Besitzrecht an der Wohnung typische Funktionen desSacheigentums zu. Da derjenige, der besitzt, gerüstet seinmuss, wie bereits Goethe feststellte, ist ein durchschauba-res und soziales Mietrecht unverzichtbar. Ein solchesMietrecht zu schaffen ist auch ein wichtiges Anliegenmeiner Fraktion.Ich will nicht falsch verstanden werden: Das Wohn-raummietrecht muss einen Interessenausgleich beinhal-ten, der die legitimen Interessen der Vermieter einschließt.Sie sind es, die den entsprechenden Wohnungsbestand si-chern und damit erst die Voraussetzungen schaffen, dassdas soziale Gut Wohnung zur Verfügung steht. Aber– auch das ist wohl unzweifelhaft – im Wohnungsmiet-verhältnis stehen sich in der Regel ungleiche Partner ge-genüber. Der Vermieter nimmt aufgrund seiner Eigentü-merstellung gewöhnlich eine stärkere Position als derMieter ein.
Deshalb verfolgt meine Fraktion das besondere Anlie-gen, dass der in Jahrzehnten erkämpfte soziale Mieter-schutz erhalten und weiter ausgebaut wird.
Aus diesem Grunde müssen im Rahmen der vorhergenannten Interessenabwägung der Vertragsfreiheit imMietrecht sachgerechte und angemessene Grenzen gesetztwerden.Wenn ich den Entwurf der Bundesregierung an diesenAnsprüchen messe, dann muss ich sagen, verehrte FrauMinisterin: Die Erwartungen vieler Betroffenen – derMieterverbände und auch meine eigenen – werden damitnicht erfüllt. Eine wirkliche Reform ist das, was Sie vor-legen, noch nicht. Ich teile die Kritik des Deutschen Mie-terbundes an diesem Entwurf. Seine Präsidentin, unsereAbgeordnetenkollegin Frau Anke Fuchs, hat gesagt: Ohnespürbare Korrekturen und Nachbesserungen in zentralenPunkten ist das Reformvorhaben für uns inakzeptabel. –Das gilt auch für unsere Fraktion.
Besonders bedauerlich finde ich es, dass Sie es, FrauMinisterin, zugelassen haben oder zulassen mussten, dassder heute vorliegende Text gegenüber dem Referenten-entwurf aus Ihrem eigenen Hause in zwei Punkten, undzwar zentralen Punkten, verschlechtert wurde: Der Refe-rentenentwurf sah eine Absenkung der Umlage der Kos-ten für die Modernisierung von 11 auf 9 Prozent vor.Von Ihnen, Frau Ministerin, gab es sogar öffentlicheÜberlegungen, dass die Beibehaltung der Modernisie-rungsumlage keineswegs selbstverständlich sei; manhätte sie eigentlich ganz streichen müssen, weil sie imVergleichsmietensystem ein Fremdkörper sei.
Jetzt ist sogar die Absenkung wieder vom Tisch. Es sollbei den 11 Prozent bleiben. Meine Fraktion wird deshalbin den kommenden Debatten die Abschaffung der Moder-nisierungsumlage in die Diskussion bringen.
Der Referentenentwurf hat in Aussicht gestellt, dassfür den Mieter eine einheitliche Kündigungsfrist vondrei Monaten – unabhängig von der Dauer des Mietver-hältnisses – gelten soll, während es auf der Seite des Ver-mieters bei der bisherigen Regelung bleibt. Dafür gibt esgute Gründe. So mancher Mieter ist gezwungen, seineWohnung sehr kurzfristig aufzugeben, weil er beispiels-weise seinen Arbeitsort wechseln oder aus anderen zwin-genden Gründen umziehen muss. Jetzt wird also schon zuBeginn des parlamentarischen Prozesses die asymmetri-sche Kündigungsfrist zu einem wesentlichen Teil leiderwieder zurückgenommen, was den steigenden Flexibi-litätsanforderungen an die Mieter deutlich widerspricht.Wir streben eine Rückkehr an. Ich habe mit Freude ver-nommen, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, dass auch IhreÜberlegungen in diese Richtung gehen.Nach der meines Erachtens notwendigen deutlichenKritik will ich jedoch nicht den Eindruck erwecken, ichließe kein gutes Haar am Regierungsentwurf. Das würdediesem Entwurf nicht gerecht werden. Eine gewisse Ver-einfachung ist durchaus gelungen. Das Mietrecht ist ver-ständlicher, für den Laien handhabbarer geworden. DieZusammenführung der Regelungen im BGB und dieGliederung nach dem natürlichen Ablauf eines Mietver-hältnisses halte ich für richtig. Die Herabsetzung der Kap-pungsgrenze für Mieterhöhungen von 30 auf 20 Prozentbegrüße ich; nach meiner Meinung hätten 15 Prozent al-lerdings gereicht. Die Abschaffung der Möglichkeit zurMieterhöhung wegen gestiegener Kapitalkosten halte ichebenfalls für sachgerecht.
– Na, warten Sie einmal ab.Anerkennenswert ist im Entwurf die Aufwertung derMietspiegel als des geeignetsten Instruments zur Fest-stellung der ortsüblichen Vergleichsmiete. Sie erfolgt je-doch inkonsequent. Die Rolle der Mietspiegel sollte wei-ter gestärkt werden. Wir schlagen vor, Gemeinden mitmehr als 50 000 Einwohnern zur Aufstellung von Miet-spiegeln zu verpflichten.
Einen Fortschritt bringt der Entwurf mit der Anerken-nung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Miet-recht. Es ist aber in meinen Augen inkonsequent, dass derEntwurf sowohl den Ehepartner des Mieters als auch diePersonen, die mit ihm in einem auf Dauer angelegtenHaushalt leben und diesen mit ihm führen, im Grunde erstbeim Tod des Mieters zur Kenntnis nimmt, nämlich als
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Dr. Evelyn Kenzler12957
mögliche Partner, die den Mietvertrag weiterführen. Siesollten schon zu Lebzeiten des Mieters die rechtlicheMöglichkeit des Eintritts in das Mietverhältnis erhalten.Meine Fraktion wird auch dazu einen Vorschlag unter-breiten. – Alles in allem: Der Entwurf entspricht bishernicht den Erwartungen.Bedeutend kritischer sehe ich allerdings den Entwurfder F.D.P. für ein Mietrechtsvereinfachungsgesetz, wasSie nicht wundern wird. Dieser Entwurf verfolgt offen-sichtlich das Ziel, im Namen der Vertragsfreiheit und desAnreizes für Investitionen die Vermieterseite besser zustellen und Veränderungen zugunsten der Mieterseite tun-lichst zu vermeiden.Es steht uns offenbar ein hoffentlich produktiver Streitum ein besseres Wohnungsmietrecht in den Ausschüssenund in der Öffentlichkeit bevor. Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Koalition, sollten den Entwurf al-lerdings nicht mit Ihrer Mehrheit auf die Schnelle durch-boxen, sondern uns ausreichend Zeit für die Diskussiongeben.Ich kann schon jetzt ankündigen, dass meine Fraktionin die Diskussion mit einem umfassenden Änderungsan-trag eingreifen wird. Neben dem, was ich bereits ange-deutet habe, werden eine Reihe von Vorschlägen von unsgemacht, zum Beispiel zu Mietverhältnissen in Wohnge-meinschaften, zu klaren Regelungen für Schönheits- undKleinreparaturen, zur Duldung von Maßnahmen des Mie-ters zur Verbesserung der Wohnung, zur Haustierhaltungin der Wohnung, zum Wohnungstausch, zur Abschaffungder Verwertungskündigung und der so genannten Zerrüt-tungskündigung sowie zur weiteren Ausgestaltung derSozialklausel.Danke schön.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Dem Mietrecht kommt im alltäglichenLeben – auch wenn dies vielleicht nicht immer wahrge-nommen wird – eine besondere Bedeutung zu. Millionenvon Menschen sind als Mieter auf gute und bezahlbareWohnungen angewiesen. Für Millionen von Vermieterngehören Mieteinnahmen zur Sicherung ihrer Lebens-grundlage.Das geltende Mietrecht wird den heutigen Anforderun-gen von Gesellschaft und Wirtschaft jedoch längst nichtmehr gerecht. Es trägt weder den gewandelten gesell-schaftlichen und wirtschaftlichen Lebensverhältnissennoch der veränderten Wohnungsmarktsituation Rechnung.Soweit im Mietrecht überhaupt einmal eine Systematikexistierte, ist diese längst nicht mehr erkennbar. Änderun-gen und Ergänzungen haben das Mietrecht meiner Auffas-sung nach immer komplizierter und unübersichtlicher ge-macht. Hinzu kommt, dass das Mietrecht auch sprachlichveraltet und deshalb nur schwer verständlich ist.Die Bundesjustizministerin hat deshalb völlig Recht,wenn sie eine Modernisierung unseres Mietrechts fürdringend erforderlich erachtet. Es ist durchaus nicht so,dass wir die Ersten sind, die das so sehen: Gefordert wirdeine solche Reform schon seit langem. Bereits die letzteBundesregierung hat Handlungsbedarf gesehen und des-halb eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, derenVorschläge dem heute diskutierten Gesetzentwurf alsGrundlage dienen, dem parallel eingebrachten Gesetzent-wurf der F.D.P., Herr Kollege Goldmann, im Übrigenauch.Was wir dringend brauchen, ist vor allem eine Verein-fachung des Mietrechts. Das Mietrecht muss klarer, ver-ständlicher und transparenter werden. Mietern und Ver-mietern muss es wieder möglich sein, ihre Rechte undPflichten auch ohne fachlichen Beistand erkennen zu kön-nen. Das ist derzeit meist nicht mehr der Fall.Um dieses Ziel zu erreichen, muss das Mietrecht zu-nächst systematisch neu geordnet werden. Das geltendeMietrecht enthält Vorschriften für alle Arten der Miete:die Miete von Wohnraum, von Tieren, von Schiffen odervon Grundstücken. Das eminent wichtige Wohnraum-mietrecht, das schon mehrfach diskutiert wurde, ist bis-lang noch nicht in einem eigenen Teil gesondert geregelt.Ich halte daher den Schritt der Bundesregierung für rich-tig, das Mietrecht neu zu gliedern, und zwar in allgemeineVorschriften für alle Arten von Mietverhältnissen und ge-sonderte Vorschriften für die speziellen Bereiche derMiete, insbesondere die Wohnraummiete. Es ist längstüberfällig, dass in diesem Zusammenhang überlange undübermäßig detaillierte Vorschriften gestrafft und – soweiterforderlich – entsprechend untergliedert werden.Die Reform legt zu Recht einen besonderen Schwer-punkt auf das Wohnraummietrecht. Hier gilt es, Ver-säumnisse der Vergangenheit zu bereinigen.
Frau Justizministerin, ich bin besonders darüber erfreut,dass wichtige Vorschriften für das Wohnraummietrecht,die bisher in Spezialgesetzen außerhalb des BürgerlichenGesetzbuches niedergelegt waren, nun im BürgerlichenGesetzbuch zusammengefasst werden. Ich sage das alsehemaliger Praktiker nicht nur deshalb, weil es auf dieseWeise leichter wird, die Vorschriften aufzufinden. Auchdie Tatsache, dass innerhalb der Wohnraummietverhält-nisse eine klare Gliederung der Vorschriften nach dem ty-pischen zeitlichen Ablauf eines Mietverhältnisses vorge-nommen werden soll, wird vieles vereinfachen.All diese Maßnahmen werden dazu beitragen, denRechtsfrieden zu stärken und das Streitpotenzial im Miet-recht zu verringern. Auf diese Weise können die Änderun-gen – die Bundesjustizministerin hat darauf bereits hinge-wiesen – zu einer Entlastung derGerichte beitragen. Wergenau weiß, wozu er berechtigt und wozu er verpflichtetist, braucht dies nicht erst in langen und teuren Gerichts-verfahren abklären zu lassen.
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Dr. Evelyn Kenzler12958
Dies reicht jedoch nicht. Eine Mietrechtsreform kannnur dann Erfolg haben, wenn ihr auch eine inhaltlicheModernisierung des Mietrechts gelingt. Zwischen den un-terschiedlichen Interessen von Vermietern und Mieternmuss wieder ein angemessener und gerechter Ausgleichgefunden werden. Dabei, Herr Kollege Goldmann, istnatürlich zu berücksichtigen, dass sich die schutzwürdi-gen Interessen von Vermietern und Mietern aufgrundgeänderter Lebensverhältnisse und Veränderungen desWohnungsmarktes verschoben haben.
Ich kann insofern nicht alle Ihre Ausführungen teilen.
– Danke.Wir befürworten daher ausdrücklich den Vorschlag derBundesregierung, das bewährte Vergleichsmietenverfahrennoch zu stärken, indem zusätzlich zum bislang bestehendenMietspiegel ein so genannter qualifizierter Mietspiegeleingeführt wird. Dieser nach wissenschaftlich anerkanntenGrundsätzen erstellte Mietspiegel wird sowohl bei denMietparteien als auch bei den Gerichten eine größere Ak-zeptanz finden und viele Streitigkeiten vereinfachen.Ich halte es auch für richtig, die Kappungsgrenze von30 Prozent auf 20 Prozent zu senken. In der Vergangen-heit hat es sich nun einmal häufig gezeigt, dass höhereMietsteigerungen, insbesondere bei preisgünstigen Woh-nungen in Ballungsgebieten, zu nicht hinnehmbaren Här-ten, gerade bei einkommensschwachen Mietern, geführthaben. Insbesondere junge Familien mit Kindern werdendaher von der Neuregelung profitieren.Dass es im Bereich der Betriebskosten mehr Abrech-nungsgerechtigkeit geben soll, indem noch stärker auf dentatsächlichen Verbrauch oder die reale Verursachung ab-gestellt wird, findet unsere volle Unterstützung. Es ist nurgerecht und billig, dass der tatsächliche Verbraucher fürdiesen Verbrauch auch aufkommt.
Auch dem Vorschlag, die Vertragsfreiheit bei der Ver-einbarung von Index- und Staffelmieten durch den Weg-fall der zeitlichen Beschränkungen zu fördern, wird vonunserer Seite zugestimmt. Wir begrüßen auch die Überle-gung, den Schutz für Haushaltsangehörige und auf Dauerangelegte gemeinsame Haushalte zu verbessern, indemauch diesen nach dem Tode des Mieters ein Eintrittsrechtin einen bestehenden Mietvertrag eingeräumt wird. Damitwird den geänderten Lebensgewohnheiten in unserer Ge-sellschaft Rechnung getragen.
Zu Recht verweist die Bundesregierung darauf, dassder Kündigungsschutz den heutigen Erfordernissen ei-ner modernen Gesellschaft angepasst werden muss. Beider zunehmend geforderten Mobilität und Flexibilitätsind für den Mieter bei lang andauernden Mietverhältnis-sen Kündigungsfristen von bis zu einem Jahr nicht mehrhinzunehmen. Gleiches gilt im Übrigen für Alte undKranke, die zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründenkurzfristig in ein Alten- oder Pflegeheim umziehen müs-sen. Auch wir sehen daher das dringende Bedürfnis, dieKündigungsfristen für Mieter erheblich zu verkürzen.In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein Wort andie Kollegen von der F.D.P. richten: Es kann nicht sein,dass man Mobilität und Flexibilität von Arbeitnehmernnur dann fordert, wenn es gerade passt. Sie haben hier dieGelegenheit, Ihrer Argumentation mehr Inhalt zu gebenund den Betroffenen entgegenzukommen. Ich hoffe, dassSie das auch tun werden. Im Übrigen würde ich Ihnenempfehlen, Ihren eigenen Gesetzentwurf zu lesen, daauch Sie für Alte und Kranke einschränkende Regelungenvorsehen.
Neben der Garantie des Eigentums einerseits und dersozialen Verpflichtung hieraus sowie der Verantwortungder Mieter gegenüber der Mietsache andererseits setzt dieMietrechtsreform vor allem auf die partnerschaftlicheKooperation von Mietern und Vermietern. Die Reformbehält dabei die große sozial-, wohnungs- und wirt-schaftspolitische Bedeutung des privaten Mietrechts imAuge. Die besondere Bedeutung der Bau- und Woh-nungswirtschaft als Wirtschaftsfaktor werden ebenso wiedie Belange des Umweltschutzes berücksichtigt.Ich komme zum Schluss. Wir brauchen ein modernesMietrecht. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung setztmeiner Auffassung nach Maßstäbe. Wir werden gerne derEinladung folgen, uns an den spannenden Debatten hie-rüber in den nächsten Wochen und Monaten aktiv zu be-teiligen. Meine Damen und Herren von der Opposition,tun Sie es uns gleich.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang von Stetten, CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Aktueller könnte diese Diskussion über das Mietrecht nichtsein, denn nur durch den Rücktritt von Herrn Klimmthaben die Deutschen erfahren, dass er auch Bundesbau-minister war. Er war eben für viele ein Bauminister ohneResonanz. Denn von Baupolitik und Infrastruktur habenwir von ihm nichts gehört.
Bundeskanzler Schröder hatte dieses Mal Pech. Da er füreinen zurückgetretenen Minister keinen abgewählten oder
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Dirk Manzewski12959
abgehalfterten Ministerpräsidenten als Ersatz stellenkonnte,Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich findedas unanständig! Wer hat Ihnen denn diesenUnsinn aufgeschrieben?)musste er auf einen neuen, relativ jungen Kollegenzurückgreifen. Wir werden sehen, was diese Nummer dreiin diesem Amt innerhalb von zwei Jahren bringt.Der Kanzler dieser Regierung, Gerhard Schröder, isteinmal angetreten nach dem Motto: Wir machen nicht al-les anders, aber wenn anders, dann besser. Das Gegenteilist eingetreten.
Nach zwei Jahren Bilanz ist vieles anders, aber fast nichtsbesser geworden.
Die jahrelange Preisstabilität ist verloren und wir sind aufdem Wege zur Inflation, weil diese Regierung, gejagt vonden Grünen, in unverantwortlicher Art und Weise Benzin-und Dieselpreis, Heizöl- und Strompreis in die Höhe treibtund Steuern draufknallt,
anstatt antizyklisch zu handeln und die Steuererhöhungzurückzunehmen, mindestens aber auszusetzen.Diese Benzin- und Dieselpreiserhöhung ist übrigensein ganz übler Betrug.
Denn vor den Wahlen hat der damalige KanzlerkandidatGerhard Schröder versichert, mit ihm werde es eine Preis-erhöhung um höchstens 6 Pfennig geben.
Dabei hat er – das ist wohl üblich bei den höheren Char-gen der SPD – schon damals netto und brutto verwechselt,weil 6 Pfennig mit Mehrwertsteuer bereits 7 Pfennig sind.Als er an der Regierung war, zeigte er seinen Taschen-spielertrick und sagte: Ich habe gemeint: 6 Pfennig proJahr. Die Bürger, die ihn gewählt haben, wurden schlicht-weg übers Ohr gehauen und die Regierung erhöht lustigdie Preise um 7 Pfennig jährlich, bis sie 35 Pfennig er-reicht haben.Damit bin ich schon beim Mietrecht.
– Man muss nur die richtige Einführung bringen. Dannhören Sie zu. Das ist doch ganz wichtig. – Die Folge istnämlich, dass das Wohngeld jetzt massiv erhöht werdenmuss,
und zwar aus Steuermitteln, und dass ebenso aus Steuer-mitteln Heizkostenzuschüsse gezahlt werden müssen. Im-mer wieder müssen das diejenigen zahlen, die das Geldverdienen und für das verdiente Geld Steuern zahlen.Sie versuchen es als Erfolg zu verkaufen, dass für dieÄrmeren ein Heizkostenzuschuss von 2 Milliarden bis3Milliarden DM bewilligt und das Wohngeld um 1,4Mil-liarden DM erhöht wird.
Sie nennen das sozial? Ich nenne es unsozial.
Sie hätten sich das alles sparen können, wenn Sie die Steu-ererhöhung nicht durchgeführt hätten.
Ihr Argument, dass Sie die Lohnnebenkosten senken,stimmt deswegen nicht, weil Sie gerade mit dem gesterneingebrachten Entwurf zur Rentenreform die Lohnneben-kosten deutlich erhöhen wollen.
Zudem nützen weder einem Rentner noch einem Beamtennoch einem Landwirt oder Selbstständigen die Zuschüssezur Rentenversicherung. Diese Bevölkerungsgruppenwerden schlichtweg abgezockt.Eines passt in Ihr Mietrechtsreformgesetz ganz gut:dass die Nettomiete stärker hervorgehoben wird. Denndann wird der Mieter und Bewohner merken, was er durchdie gestiegenen Heizölpreise mehr für Heizöl und Warm-wasser zu zahlen hat und dass auch die Erhöhung der Ne-benkosten überall mit den erhöhten Preisen für Energiebegründet wird. 95 Prozent der Bevölkerung oder mehrerhalten keinen Ausgleich.Nun ist es in der Tat richtig, dass das geltende Miet-recht zersplittert ist und in vielen Gesetzen unübersicht-lich geregelt ist. Insofern ist eine Reform durchaus rich-tig. Aber Sie von der rot-grünen Koalition nutzen dieNotwendigkeit einer Reform aus, um es teilweise auf denKopf zu stellen. Sie sind auch noch auf halbem Wege ste-hen geblieben und haben ein halbes Dutzend Gesetze un-verändert gelassen.
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Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten12960
Während unserer Regierungszeit war an der Mieter-und Vermieterfront dank ausgewogener Gesetze Ruhe.Darauf hat schon eben der Kollege von der F.D.P. hinge-wiesen. Sowohl die Mieter als auch die Vermieter konn-ten mit unseren Gesetzen leben. Es hätte daher nur einerGesetzeszusammenfassung bedurft. Der Anstieg der Mie-ten war gebremst. In manchen Städten geht er in-zwischen – bedingt durch einen Überhang an freien Woh-nungen – sogar leicht zurück. Die Investitionstätigkeit aufdem Mietwohnungssektor in den neuen Ländern, aus-gelöst durch die hohen Abschreibungsmöglichkeiten, warin den Vorjahren dramatisch gesunken. Aber in der letztenZeit gab es Anzeichen für eine langsame Erholung. DurchIhr Mietrechtsreformgesetz machen Sie dieses zartePflänzchen wieder kaputt, weil Sie Investoren neue Er-schwernisse in den Weg legen, sie mindestens verunsi-chern und dadurch von Investitionen abhalten oder siezwingen, eine abwartende Haltung einzunehmen. Dieserordnungspolitische Unsinn gefährdet zukünftige Investi-tionen.In diesen Zusammenhang passt im Übrigen auch dieEntfernungspauschale. Das Gesetz, das das regelt, istauch durchgepeitscht worden. Die Entfernungspauschalehat auch etwas mit dem Miet- und Wohnungsrecht zu tun;denn die hohen Benzin- und Dieselpreise treffen insbe-sondere diejenigen, die – oft aus Kostengründen – außer-halb wohnen und die mit dem Auto zur Arbeit und zumEinkaufen fahren müssen. Nun zäumen Sie auch hier dasPferd von hinten auf; denn der geschundene Autofahrerwird mit der geringen Erhöhung von 10 Pfennig pro Ki-lometer abgespeist
und denjenigen, die nicht Auto fahren, wird ein Geschenkgemacht, das letztlich der Autofahrer über erhöhte Steuernfinanzieren muss. Hier zeigt sich, dass sich die Ideologieder Grünen – das Auto ist der Feind Nummer eins – inner-halb dieser Regierung durchgesetzt hat. Das Autofahrenwird direkt oder indirekt über die Entfernungspauschaleverteufelt. Wir lehnen das ab.
Der im Gesetz vorgesehene qualifizierte Mietspiegel,der wissenschaftlichen Ansprüchen genügen muss, istvöllig überflüssig, weil der derzeitige Mietspiegel durch-aus genügt und lediglich ein unnötiger und teurer Büro-kratismus angeblichen wissenschaftlichen Ansprüchengenügen soll. Im Gegensatz zu Ihrer Behauptung ist diesnicht im Interesse der Mieter und Vermieter, Frau Minis-terin, weil die Verfahren vermutlich verzögert und verteu-ert werden.Völlig unnötig – weil es, wie Sie anhand der Statisti-ken sehen können, keine großen Verteuerungen gab – istdie Senkung der Kappungsgrenze von 30 auf 20 Pro-zent; denn die bisherigen Regelungen waren ausgewogenund standen im Einklang mit den Gegebenheiten auf demWohnungsmarkt. Die Senkung der Kappungsgrenze istein weiteres Stoppsignal für Investitionen.Das neu geregelte Eintrittsrecht von Familienan-gehörigen oder Personen, die mit dem Mieter einen aufDauer angelegten gemeinsamen Haushalt führen, ist eineunzuträgliche Verschlechterung für den Vermieter, weil ererst neue höchstrichterliche Urteile abwarten muss, damitgeklärt wird, was „auf Dauer angelegt“ und „gemeinsam“heißt und wie viele Personen einen solchen Haushaltführen dürfen. Zu dieser Verschlechterung passt das ge-rade am letzten Freitag durchgepeitschte Gesetz über dieLebenspartnerschaft, mit dem das Eintrittsrecht des Le-benspartners bei Tod des Mieters erweitert wird, und zwarmit dem lapidaren Satz: Dasselbe gilt für Lebenspartner. –Hier hat man bewusst die Zahl der Lebenspartner wegge-lassen;
denn nach diesem Gesetz können zwei Männer, die eineLebenspartnerschaft eingegangen sind, jeweils noch eineEhe mit einer Frau eingehen. Dann würden sie zu viert alskombinierte Ehe- und Lebenspartnergemeinschaft – fröh-lich oder weniger fröhlich; aber alle mit dem gleichenNachnamen – in einer Wohnung leben. Bei Tod eines Le-benspartners oder Ehegatten wäre dann die Frage, mitwem der Vermieter den Mietvertrag fortsetzen muss. Daslässt sich zwar einfach lösen, wenn man diese Viererge-meinschaft als Gesamtlebenspartnerschaft ansieht. Aberdas ist sicherlich nicht im Sinne des Vermieters.
– Das, was Sie verabschiedet haben, gehört sicherlichnicht zur deutschen Leitkultur.
Das möchte ich hier festhalten.
– Ich kann Ihnen noch einen sagen: Vielleicht haben Sie§ 172 StGB, Bigamie, bewusst nicht geändert, damit Sievor dem Bundesverfassungsgericht sagen können: Es gibtdoch einen Unterschied zwischen der Ehe und der einge-tragenen Lebenspartnerschaft.Die geplante Verkürzung der Kündigungsfristen fürlangfristige Mietverträge ist nur dann gerechtfertigt, wennsie für beide Seiten gilt. Bei einer Kündigungsfrist vondrei Monaten bei einer Mietdauer von bis zu fünf Jahrenund von sechs Monaten bei mehr als fünf Jahren mussweiterhin Gleichheit gelten.
– Herr Fischer, die roten Socken haben Sie lange genuggetragen.
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Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten12961
Denn ein asymmetrisches Kündigungssystem wider-spricht auch dem Grundgesetz. Zudem gelten nach wievor für den Mieter die Widerspruchsmöglichkeiten desneuen § 574 BGB bei besonderer Härte, sodass der Mie-ter auch zusätzlich geschützt ist.Es war sicher richtig, dass eine Mieterhöhung wegengestiegener Kapitalkosten nicht einfach in der Handha-bung war. Ich halte es dennoch für falsch, sie ersatzlos zustreichen, weil das Investoren abschreckt.Die vielen anderen Einzelheiten und Änderungen, dieoft als redaktionelle Änderungen angekündigt werden,müssen im Laufe des Beratungsverfahrens genau geprüftwerden, weil vernünftige Änderungen von uns nicht tor-pediert werden. Der Teufel steckt aber bekanntlich oft imDetail. Wir wollen nicht, dass uns der Teufel nachher holt.Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Wohnungs-eigentum und zu den Aussichten dafür sagen. Nur wer Ei-gentum hat, geht auch mit Eigentum anderer sorgfältigum. Das ist eine Binsenwahrheit. Deswegen ist Eigen-tumsförderung immer ein großes Ziel der CDU/CSU ge-wesen.
– Ich habe große Freude daran, dass ich Sie zu Wider-spruch anrege.Die Idee des geförderten Bausparens entstammt derZeit des Beginns der sozialen Marktwirtschaft unterLudwig Erhard und hat ihre Grundwurzeln inArt. 14 Grundgesetz, in dem vom Recht auf Eigentum,aber auch von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums dieRede ist.Vor einigen Jahren haben wir von der CDU/CSU undder F.D.P. die Eigenheimzulage von 5 000 DM bzw. zu-sätzlich 1 500 DM pro Kind jährlich, die für mehrereJahre gewährt wird, eingeführt. Das war der richtigeSchritt, denn insbesondere Geringverdienende oder jün-gere Bauwillige hatten keinen Vorteil von Abschreibun-gen, um Steuern zu sparen, weil die Einkommen der Fa-milien teilweise gar nicht zur Steuerpflicht führten. DieseZulage hat wesentlich zum Eigentumserwerb oder zumHausbau beigetragen. Dies ist eine große Leistung derCDU/CSU-F.D.P.-Koalition. Sie wollen – ich kann michnur wundern, dass Sie das als sozial empfinden – dieseZulage halbieren. Dies ist wiederum ein Schlag gegen dieGeringverdiener und gegen das Eigentum.
Dabei sehe ich die Finanzierung von Wohnungsbau inden fünf neuen Bundesländern eher skeptisch. Die hohenAbschreibungssätze haben zwar Investoren angelockt,
aber Eigentümer der Wohnungen sind jetzt die falschen,nämlich in der Regel sehr gut verdienende Bürger ausdem Westen, die zum Teil 10, 20 und mehr Wohnungengekauft haben und die ihre Lage nicht einmal kennen, son-dern nur ihr Steuerberater. Der Staat musste hier steuerli-che Mindereinnahmen von 40 bis 50 Milliarden DM fi-nanzieren.
– Lassen Sie mich das doch kritisch sagen. Es war falsch.Ich habe damals den Vorschlag gemacht, der von vie-len belächelt wurde, jedem Bewohner einer Wohnung inder ehemaligen DDR diese Wohnung zu schenken undihm zusätzlich 50 000 DM Renovierungskosten zu geben.
Dies wäre richtig gewesen. Damit hätten wir 1 MillionFamilien die Möglichkeit gegeben, vergünstigt Eigentumzu erwerben. Dann hätten wir heute nicht das Dilemmavon Hunderttausenden vergammelter Platten- und Alt-bauten.Meine Damen und Herren, gestern haben Sie Ihr Ren-tenkonzept eingebracht. Sie wollen es in den nächstenWochen durchpeitschen. Da mag manches richtig sein,aber eines ist vom Grundsatz falsch, nämlich dass Sie indie staatlich geförderte Eigenvorsorge für das Alter dasWohnungseigentum nicht einbauen. Das mag sicherschwierig sein, aber es ist machbar, auch Wohnungsei-gentum für das Alter zu sichern, zum Beispiel indem derFörderbetrag als Resthypothek auf Haus- und Wohnungs-eigentum grundbuchlich eingetragen wird und aus-schließlich für die Altersvorsorge abgesichert wird.
Es mag sein, dass das der Ideologie mancher linkenGruppen Ihrer beiden Parteien nicht entspricht, weil vielefürchten, dass Eigentum die Wähler gegebenenfalls aufden Gedanken bringt, bürgerlich zu wählen. Aber nehmenSie schlichtweg zur Kenntnis, dass sich die jüngerenRentner zwischen 60 und 70 Jahren zu 60 Prozent über ei-gene Wohnungen oder eigene Häuser – oft unter schwie-rigsten Umständen – eine Altersversorgung zusätzlich zuRenten, Pensionen oder auch Betriebsrenten aufgebauthaben. Nahezu 100 Prozent dieser 60 Prozent Rentner ha-ben mit Bausparverträgen begonnen – eine geniale Ideeder sozialen Marktwirtschaft, die im Übrigen aller Anfangfür Eigentumserwerb war. Wohnungseigentum ist daherein unverzichtbarer Baustein der privaten Altersvorsorgeund es wäre verhängnisvoll, wenn diese rot-grüne Regie-rung das nunmehr geplante Alterssicherungssparen gegendas selbst genutzte Wohnungseigentum ausspielte unddamit das Wohnungsbausparen im Ansatz zerstörte.
Die Bausparkassen Deutschlands haben Unterlagenzur Verfügung gestellt, in denen deutlich wird, dass sich60 bis 70 Prozent der Bausparer aufgrund ihres Einkom-mens eine doppelte Belastung, nämlich die „freiwillige“Zwangsabgabe für die selbst finanzierte Altersvorsorge
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und die Beiträge zur Bausparkasse, nicht leisten können.Selten einmütig sind die wohnungsbaupolitischen Spit-zenverbände an die Öffentlichkeit getreten: das Evangeli-sche Siedlungswerk in Deutschland, der KatholischeSiedlungsdienst, der Bundesverband deutscher Woh-nungsunternehmen, der Bundesverband Freier Woh-nungsunternehmen, Haus & Grund Deutschland, Deut-sches Volksheimstättenwerk und andere. Sie fordern vonder Regierung unisono, dass selbst genutztes Wohnungs-eigentum in die Förderung der privaten Altersvorsorge imGesetz zur Rentenreform einbezogen wird. Dies ist eineganz wesentliche Forderung bei der Mietrechtsreform.
Der Bausparkassenverband hat übrigens bereits für denFall, dass das Wohnungseigentum nicht in die Förderungaufgenommen wird, die Forderung erhoben, die Förde-rung des Bausparens um mehrere Milliarden zu erhöhen,damit die segensreiche Einrichtung des Bausparens nach50 Jahren nicht zu Grabe getragen werden muss.Das Mietrechtsreformgesetz ist eine Aufgabe und Ver-pflichtung für uns alle. Ich appelliere an Sie, mit uns inGespräche zu treten, das sozialistische Gedankengut – ichsage es so deutlich – herauszunehmen und für Mieter undVermieter wieder eine vernünftige Basis zu schaffen, aberauch den Eigentumsgedanken zu fördern. Eines ist ganzsicher: Selbst bewohntes Eigentum ist nicht nur eine ma-terielle Alterssicherung, sondern auch eine Genugtuungim Alter, dass man im Leben mit diszipliniertem Sparenetwas erschaffen hat. Dies trägt auch zur Zufriedenheit amLebensabend bei.Lassen Sie uns für eine vernünftige Lösung, für einenAusgleich sorgen, damit die Ruhe, die wir an der Frontzwischen Mietern und Vermietern haben, beibehaltenwird, anstatt unnötigerweise alle aufzuschrecken und da-mit den Eigentumserwerb zu verhindern und die Investi-tionen zu stoppen.Danke schön.
Ich erteile dem Kolle-gen Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.Helmut Wilhelm (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Herr Kollege von Stetten, für das Mietrecht ist dieJustizministerin und nicht der Bauminister zuständig. IhrSeitenhieb ist daher gründlich daneben gegangen.
– Aber im nächsten Punkt sind wir uns ja schon wieder ei-nig.Das Mietrecht bedarf der Novellierung und Vereinfa-chung. Diese Reform war einfach überfällig. Kein ande-res Rechtsgebiet ist für weite Teile der Bevölkerung vonso großer Bedeutung für das tatsächliche Leben wie dasMietrecht.Trotz dieser hohen Bedeutung des sozialen Wohn-raummietrechts mangelte es bisher an der entsprechendenÜberschaubarkeit, Transparenz und Verständlichkeit derRegelungsmaterie.
Das Mietrecht war unübersichtlich gegliedert und auf ver-schiedene Gesetze verteilt. Diese gegenwärtige Zersplit-terung des Mietrechts ist das Ergebnis jahrzehntelangerunsystematischer Gesetzesänderungen auch der Vorgän-gerregierungen.
Mit dem vorliegenden Entwurf soll diesem Missstandendlich abgeholfen werden.
Die Reform des Mietrechts ist damit bürgerfreundlich,denn sie führt die Dinge verständlich zusammen, die bis-her für die Betroffenen unauffindbar verstreut und un-übersichtlich gegliedert sind. Das bedeutet mehr Rechts-sicherheit und wird hoffentlich auch die Zahl der heuteimmerhin rund 300 000 Mietprozesse im Jahr verringern.Gerade bei einer Rechtsproblematik, die im täglichenLeben weitreichend in die Interessen- und Betroffenheits-sphäre vieler Bürger eingreift, ist es zwingend geboten,die beiderseitigen Interessen abzuwägen und, wo erfor-derlich, die schwächere Vertragspartei zu schützen. Dasist ein Hauptanliegen meiner Fraktion und dieses Entwur-fes, ebenso wie die Anpassung der Normen an die verän-derten gesellschaftlichen Bedingungen. Der Entwurf derBundesregierung leistet dies.Die Kündigungsfristen für Mieter werden verkürzt.Dies trägt den gestiegenen Anforderungen an die Mobi-lität von Arbeitnehmern Rechnung, die häufig einen Ar-beitsplatzwechsel in Kauf nehmen müssen. Aber auch einnotwendiger Umzug ins Alters- oder Pflegeheim wird da-durch erleichtert. Auf der anderen Seite wird der echteZeitmietvertrag eingeführt, der im mobilen ZeitalterRechtssicherheit für Mieter und Vermieter schafft. Dasdefinitive Vertragsende steht dann fest, wenn dies von bei-den Seiten – das muss gewährleistet sein – so gewünschtwird. Dabei ist auf eine mieterfreundliche Ausgestaltungder Vertragsform geachtet worden.Der Gesetzentwurf dämpft Mietsteigerungen da, wo esnotwendig ist. Die Kappungsgrenze wird von 30 auf20 Prozent gesenkt und das schützt insbesondere Familienmit kleinen Einkommen vor sprunghaften Mietpreisstei-gerungen.
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– Selbstverständlich ist durch die örtliche Vergleichsmieteeine Deckelung gegeben; aber es gibt sehr wohl Fälle der-artiger sprunghafter Steigerungen. An diesem Punkt müs-sen wir durchaus eingreifen.Die Regelung der Zerrüttungskündigung ist gerade beiden Mieterverbänden noch sehr umstritten, obwohl dies– ich kann das als Jurist bestätigen – bereits der heutigenRechtsprechung entspricht. Vielleicht gelingt es noch,dies ausdrücklich festzuschreiben.Endlich erfolgt auch die Gleichbehandlung homose-xueller Lebensgemeinschaften bei Eintritt in den Miet-vertrag nach dem Tod eines Partners. Bisher gilt: Lebt einunverheiratetes Paar in einer Wohnung zusammen, darfnach dem Tod eines Partners der oder die andere den Miet-vertrag selbstverständlich übernehmen, es sei denn – dasist die Ausnahme –, es handelt sich um ein schwules oderlesbisches Paar. Dies ist eine eindeutige Diskriminierungsolcher Lebensbeziehungen im Mietrecht. Wir wollen dasändern: Es soll gleiches Recht für alle Lebensgemein-schaften gelten.
Das neue Mietrecht möchte auch umweltfreundlichesVerhalten belohnt wissen. Die zukünftig vorgesehene ver-brauchsbezogene Art der Abrechnung fördert den sparsa-men Gebrauch von Wasser, Energie und Ressourcen undnützt – neben dem Geldbeutel der Mietparteien – auch derUmwelt. Zusätzlich soll es weiterhin Anreize für Moder-nisierungen und Energieeinsparinvestitionen für die um-weltbewussten Vermieter geben. Darum bleibt die Mo-dernisierungsumlage bei 11 Prozent bestehen. Das istsozial verantwortliches und modernes Handeln, meineDamen und Herren insbesondere von der F.D.P.Interessanterweise kommt Ihr Gesetzentwurf, der be-reits an die Ausschüsse überwiesen worden ist, in einigenPunkten durchaus zu ähnlichen Regelungen wie der Ge-setzentwurf der Bundesregierung.
Dort, wo soziale Gesichtspunkte höherrangig zu wertensind, stehen bei der F.D.P. aber regelmäßig rein wirt-schaftliche Interessen im Vordergrund. Das ist mit unsnatürlich nicht zu machen. Das konnten Sie ja noch nichteinmal mit Ihrem früheren Koalitionspartner machen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist sozial aus-gewogen und wir können mit ihm überzeugt in die Aus-schussberatungen gehen.Ich möchte mich bei der Frau Ministerin und bei ihrenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausdrücklich bedan-ken.
Ich erteile dem Kolle-
gen Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Mehrere Monate nachdem die F.D.P.-Frak-tion einen eigenständigen Gesetzentwurf zur Neufassungdes Mietrechts vorgelegt hat, bringt nunmehr auch dieBundesregierung ihren Gesetzentwurf in den DeutschenBundestag ein. Genau wie die F.D.P. in ihrem Entwurfbemüht sich die Bundesregierung, das bislang zersplit-terte und unübersichtliche Mietrecht in einem Gesetz, undzwar im BGB, zu konzentrieren. Ich glaube, darin sindund waren wir uns auch schon in der letzten Legislatur-periode einig, dass dieses zu geschehen hat.Den Anforderungen an Übersichtlichkeit und klareSprache wird der Gesetzentwurf zwar nicht überall ge-recht, aber das Bemühen erkennt man. Das sollte manauch anerkennen. Wir werden sicherlich im Ausschussnoch das eine oder andere nachzubessern haben. Dasdürfte aber überhaupt kein Problem sein, zusammen mitden Kollegen Verbesserungen durchzusetzen.Zu kritisieren ist jedoch, dass die Bundesregierung ein-seitig Mieterinteressen in den Vordergrund rückt. DieBundesjustizministerin hat ja mehrfach, zum Beispiel beidem schon erwähnten Kolloquium, erklärt, dass sie ein-seitig für die Mieter Partei ergreifen will und dass dasauch in diesem Gesetz zum Ausdruck kommen soll. Eingutes Vertragsrecht – und dazu gehört ja nun einmal dasMietrecht – muss von der Gleichwertigkeit beider Ver-tragsparteien ausgehen.
Recht und Gesetz dürfen nicht von einseitiger Partei-nahme geprägt sein, sondern müssen ausgewogen die In-teressen beider Vertragsparteien berücksichtigen.Dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-rung fehlt es an sozialer Ausgewogenheit. Insbesonderewurde – das war ja auch das Ziel der Ministerin – den Be-langen der Vermieter und Grundeigentümer unter demGesichtspunkt der Eigentumsgarantie in Art. 14 desGrundgesetzes nicht ausreichend Rechnung getragen.
Das gilt vor allem für das vorgesehene asymmetrische Kün-digungsrecht. Die einseitige Verkürzung der Kündigungs-fristen zugunsten der Mieter birgt für den Vermieter dieGefahr des Leerstandes, wenn eine sofortige Anschluss-vermietung nicht möglich ist, Frau Kollegin. Damit drohtnatürlich auch dem Vermieter ein entsprechender Mietaus-fall. Warum die finanziellen Lasten einseitig nur beim Ver-mieter liegen sollen und nicht ausgewogen auf Mieter undVermieter verteilt werden, kann ich ehrlich gesagt nichtverstehen.
Es handelt sich bei den Vermietern nicht immer nur umGroßgrundbesitzer, sondern es gibt ja auch viele kleineVermieter. Sie können doch nicht einseitig auf diese dieRisiken verlagern.
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Helmut Wilhelm
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Es wird in den Beratungen auch intensiv zu diskutierensein, ob der absolute Vorrang des Mietspiegels bei derBerechnung der Vergleichsmiete der richtige Ansatz ist.Mehr Vertragsfreiheit und insbesondere die Berechnungvon örtlichen Vergleichsmieten auf der Basis gemeinsa-mer Datenbanken von Mietern und Vermietern wärenmeines Erachtens der richtige Weg. Darüber können wirsicherlich im Ausschuss noch miteinander reden. Ichglaube, dass wir da noch zu einem guten Ergebnis kom-men werden.Die Absenkung der Kappungsgrenze von 30 auf20 Prozent steht ebenfalls beispielhaft für die Asymmetriedes Mietvertragsrechts. Man kann zwar sagen: Die Kap-pungsgrenze spielt eigentlich gar keine Rolle mehr. – Werden Markt ein wenig kennt – Sie müssten ihn eigentlichvon Ihrer beruflichen Vergangenheit her kennen –, weiß,dass die Kappungsgrenze in der Praxis überhaupt keineRolle mehr spielt.
Dass Sie die Kappungsgrenze von 30 auf 20 Prozent he-rabsetzen, ist dennoch ein Signal in die falsche Richtung.
Darum werden wir uns hier für die Beibehaltung einerGrenze von 30 Prozent einsetzen.Die Regelungen zu Zeitmietverträgen müssen sicher-lich noch so ausgestaltet werden, dass echte Zeitmietver-träge geschlossen werden können. Da müssen wir nochnachbessern. Es ist doch, Frau Fuchs, dem Mieter undVermieter, wenn sie nur für gewisse Zeit ein Vertragsver-hältnis eingehen wollen, durchaus zumutbar, dass dasMietverhältnis zum Beispiel nach fünf Jahren tatsächlichvon beiden Seiten, der Mieter- und der Vermieterseite, be-endet werden kann.Auch der Vorschlag der Bundesregierung zu § 5 Wirt-schaftsstrafgesetz geht an der Rechtswirklichkeit vorbei.Mietwucher ist nach wie vor strafbar und soll auch straf-bar bleiben. § 5 Wirtschaftsstrafgesetz brauchen wir nicht;er spielt übrigens auch in der Praxis keine Rolle.
Insgesamt muss daher festgestellt werden, dass dasneue Mietvertragsrecht nach den Vorstellungen der Bun-desregierung weniger Vertragsfreiheit, weniger Markt fürdie Vertragsparteien mit sich bringt. Stattdessen sind Re-gulierung und Bevormundung für das Mietvertragsver-hältnis die Regel geworden. Die Erfahrung lehrt, dass Re-gulierung und Bevormundung zu mehr Streitigkeitenzwischen Mieter und Vermieter und damit zu mehr Ge-richtsprozessen führen. Gerade das wollen Sie ja vermei-den.Ich glaube, es wäre gut gewesen, wenn sich die Minis-terin mehr an der Praxis, mehr an den Marktverhältnissenorientiert hätte, vielleicht auch mehr in den Markt hinein-gehört hätte; dann wären viele Fehlentscheidungen un-terblieben.
Insgesamt ist daher festzuhalten, dass in den Beratun-gen des Rechtsausschusses noch kräftig nachgebessertwerden muss, wenn wir das Ziel erreichen wollen, ein ein-faches, in sich geschlossenes und stimmiges Mietrecht zubekommen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort
Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Alle wollen ein ausgewogenes Miet-recht und jeder wirft dem anderen vor, seine Vorstellun-gen seien genau nicht ausgewogen.
Aber die Frage ist doch eigentlich: Was ist denn ausge-wogen? – Ausgewogen kann nicht sein in jedem Einzel-fall eines synallagmatischen Vertrages, dass das eine demanderen praktisch hundertprozentig entspricht wie dieZinken von zwei Kämmen. Die Frage muss vielmehrlauten: Wie ist die Interessenlage im Einzelnen gestal-tet,damit im Ergebnis ein Interessenausgleich so gesche-hen kann, dass niemand – so sage ich einmal ganz allge-mein – über den Tisch gezogen wird?Wie ist das zwischen Mietern und Vermietern? – Glau-ben Sie mir, Herr Funke, wir haben nicht die Vorstellung,dass alle Vermieter Miethaie und Kapitalisten sind, die imGelde schwimmen. Genauso wenig haben wir die Vor-stellung, dass alle Mieter arme Schlucker sind. Mitunterist das Verhältnis genau umgekehrt.
Auch das wissen wir sehr genau.Das, was wir zur Grundlage der Beurteilung von Aus-gewogenheit machen müssen und können, ist das Miet-verhältnis selbst. Indem der Vermieter vermietet, sagt ernicht, ich bin reich, sondern er sagt, ich brauche dieseWohnung nicht, ich will an ihr verdienen, ich will denZins, den ich bekäme, wenn ich das Geld auf die Bankbrächte, in Form von Miete einnehmen.Das bedeutet auf der einen Seite ganz klar, dass derMieter, der nicht zahlt, gegen einen kapitalen, entschei-denden Grundsatz und eine Verpflichtung aus dem Miet-verhältnis verstößt, dass die entsprechenden Konsequen-zen für den Vermieter sehr, sehr ernst zu nehmen sind unddass sie auch rechtlicher Natur sein müssen.Auf der anderen Seite heißt das Vermieten von Woh-nungen für den Vermieter: Er lässt es zu, dass sich eine
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Grundrechtsentfaltung in dieser seiner – Art. 14 lässtgrüßen – Wohnung vollzieht; er nimmt sie nicht nur hin,sondern er will sie sogar.Das bedeutet, dass ganz klar das passieren musste, waswir bis zum heutigen Tag haben, nämlich ein asymmetri-sches Kündigungsrecht.Wir haben es ja schon, denn derMieter kann nach gegenwärtigem Recht grundlos kündi-gen; der Vermieter aber muss sehr massive Gründe haben.Das ist bereits eine Asymmetrie, wenn auch nicht hin-sichtlich der Kündigungsfrist.
Das heißt, schon das heutige Recht geht von einer unter-schiedlichen Bewertung der Interessen aus. Der Vermie-ter kann nicht sagen, morgen fliegst du raus; der Mieterkann sagen, sehr bald ziehe ich aus.Diese Asymmetrie im Hinblick auf die gestiegene Not-wendigkeit, die Mobilität von Mietern zu verstärken – dashat Kollege Dirk Manzewski zu Recht gesagt –, ist alsonicht etwas Systemfremdes, ist nicht eine Ausgeburt so-zialistischen Chaos, sondern ist eine konsequente Fort-führung des gegenwärtigen Mietrechts.
Wir werden darüber zu reden haben, aber ich habe dazunächst einmal keine systematische Bedenken.Darüber, ob die Fristen richtig angesetzt sind, werdenwir sicher streiten. Wie Sie sehen, hat es ja zwischen Re-ferentenentwurf und Regierungsentwurf diesbezüglichDifferenzen gegeben. Darüber wird zu streiten sein, wo-bei im Ergebnis – so fürchte ich – nicht nur logisch darü-ber verhandelt, sondern eine Entscheidung getroffen wer-den muss. Diese Entscheidung – das ist jetzt wieder etwas,was Mieter und Vermieter betrifft – muss an den Interes-sen beider ausgerichtet sein, denn beide haben jedenfallsein gemeinsames Interesse: dass es Vermieter gibt, dassinvestiert wird. Was es bedeutet, wenn man die Vermieterplatt macht, sehen wir an Plattenbauten und Ähnlichem inder ehemaligen DDR. Das ist ein Zerrbild und zeigt, wieman mit Vermietern nicht umgehen sollte, wenn man esgut meint mit Mietern. Daran sind wir alle nicht interes-siert.Wir werden darüber reden müssen, dass der Interes-senausgleich fair geschieht. Ich freue mich, dass es Ge-sprächsangebote gibt. Ich hoffe, Herr von Stetten, dasswir dann nicht über alles und jedes reden, nicht jedenPolitikbereich ansprechen müssen,
sondern dass wir beim Mietrecht bleiben können. Wirmüssen nicht die ganze Welt aus den Angeln heben, umeinen – wenn auch unglaublich wichtigen – Teil desAlltagsrechts systematisch korrekt so auszugestalten,dass im Ergebnis alle, mit einem lachenden und einemweinenden Auge, damit leben können.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege
Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich glaube, heute ist ein guter Tag desParlaments, weil wir endlich in der ersten Lesung über dasMietrechtsreformgesetz beraten können. Wir nehmen da-mit eine weitere wichtige wohnungspolitische Weichen-stellung vor. Nach der Novellierung des Wohngeldge-setzes beraten wir das Mietrechtsreformgesetz, die an-stehende Reform des sozialen Wohnungsbaus, dieEnergieeinsparverordnung – sie ist in Vorbereitung –, unddas Modernisierungsprogramm für den Wohnungs-bestand.Ich glaube, dass sich am Ende der Legislaturperiodedie Bilanz durchaus wird sehen lassen können. Wir habendas, was Sie liegen gelassen, was Sie nicht angepackt,sondern wie heiße Eisen haben fallen lassen,
endlich vernünftig gelöst.
Ich bin meiner geschätzten Kollegin Margot vonRenesse sehr dankbar dafür, dass sie noch etwas gesagthat zur Ausgewogenheit. Ja, der Gesetzentwurf der Re-gierung ist ausgewogen. Er ist ein fairer Interessen-ausgleich zwischen Vermietern und Mietern.
Das hindert das Parlament natürlich nicht daran, in derFeinabstimmung in dem einen oder anderen Punkt durch-aus noch andere Akzente zu setzen. Schließlich entschei-det das Parlament, und diese Entscheidung sollten wir unsals Parlamentarier durchaus vorbehalten.
Kernbestandteil des sozialen Mietrechts – ich betone,des sozialen Mietrechts, und schaue dabei ganz bewusstnach rechts – ist neben dem Kündigungsschutz das Ver-gleichsmietensystem. Beides wird in diesem Gesetz-entwurf nicht nur erhalten, sondern durchaus gestärkt,und das ist richtig. Dass wir nebenbei mit der Mietrechts-reform zusätzlich umweltpolitische Fortschritte erzielen,darüber sind wir Sozialdemokraten besonders froh. Damitwerden Vorstellungen unserer Partei auch im Rahmen desMietrechts umgesetzt.
Ich erspare mir und vor allen Dingen Ihnen, dass ichnoch einmal auf die wichtigsten Veränderungen eingehe– das haben die Frau Ministerin und andere aus der Ko-
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alition bereits hinreichend getan –, will aber dennoch ei-nige Anmerkungen machen, zunächst zum F.D.P.-Ent-wurf.
– Das macht nichts, Herr von Stetten. Ich wundere michan diesem Punkt über Ihren Zwischenruf. Wenn Sie sagen,ich rede nicht zur Sache, sollten Sie sich an Ihren eigenenRedebeitrag erinnern. Darüber könnten wir sicher einbisschen länger reden.
In der letzten Dabatte zum Wohngeld- und Mietenbe-richt hat Herr Funke mit hinreichender Deutlichkeit klargemacht, wohin der Kurs der F.D.P. beim Mietrecht geht.Er hat gesagt: Wir wollen den Markt entscheiden lassen,auch bei Wohnungen und Mieten.
– Typisch F.D.P.! – Da fehlt etwas. Diese einseitige For-mulierung ist natürlich mit dem Grundgedanken der so-zialen Marktwirtschaft nicht vereinbar. Ich könnte erin-nern an die Entgegnung von Herrn Pofalla, der sehr schöndeutlich gemacht hat, wieso Sie die Vermieterseite inIhrem Gesetzentwurf einseitig massiv bevorteilen.Sie reden immer von Zweiseitigkeit, aber Ihr Gesetz-entwurf entspricht dieser Ankündigung nicht. Sie höhlenden Kündigungsschutz aus. Bei der Umwandlung lassenSie der Spekulation ein weites Feld. Ich nenne außerdemden Wegfall der Kappungsgrenze und die Streichung des§ 5 Wirtschaftsstrafgesetz. Damit wird dem Missbrauchnatürlich Tür und Tor geöffnet.
Wie Sie mit dem sozialen Gut Mietwohnung umgehen,zeigt eine Form des Liberalismus, wo mindestens dieSilbe „Neo“ vorgesetzt werden müsste.
Wenn Herr Goldmann von der gleichen Augenhöhe vonVermietern und Mietern spricht, dann muss ich dazu sa-gen, Ihr Gesetzentwurf bewirkt, dass der Blick des Mie-ters höchstens auf die Kniescheibe des Vermieters gerich-tet werden kann.
Zwei Punkte sind in der Vergangenheit öffentlich dis-kutiert worden. Zum einen betraf das die Senkung derKappungsgrenze auf 20 Prozent, einheitlich in ganzDeutschland. Es ist heute hinreichend angesprochen wor-den, warum dies ein ganz wichtiger Bestandteil dieses Ge-setzes sein muss.
Zum anderen ist die Modernisierungsumlage, diejetzt wieder auf 11 Prozent angesetzt werden soll, kritischdiskutiert worden. Ich sage Ihnen ehrlich, dass dieserPunkt bei mir nicht gerade Begeisterungsstürme auslöst.Aber unter dem Strich muss man sagen – Stichwort: Aus-gewogenheit; Stichwort: Notwendigkeit, bei Vermieterneine hinreichende Investitionsbereitschaft zu schaffen –,dass man die Regelung in dieser Form hinnehmen kann.Selbstverständlich wird der Gesetzentwurf Verände-rungen erfahren. Das ist ein ganz normaler parlamentari-scher Vorgang. Ich wundere mich immer, wenn in demZusammenhang von Nachbesserung gesprochen wird.Mit diesem Begriff entwerten wir unsere parlamentari-sche Arbeit. Veränderungen sind eine Selbstverständlich-keit. Ich habe aus den Reden der Opposition herausgehört– ich habe mich übrigens über das ausdrückliche Lob derPDS heute Morgen sehr gefreut –,
dass es durchaus eine Bereitschaft gibt, an diesen Verän-derungen mitzuarbeiten.Ich möchte noch auf einige bedenkenswerte Punktehinsichtlich der sozialen Schutzfunktion eingehen, dieeindeutig gestärkt werden soll.Asymmetrische Kündigungsfristen:Wir halten es fürdurchaus vertretbar, dass die Kündigungsfrist auf derMieterseite drei Monate beträgt. Man sollte prüfen, wel-che Kündigungsfrist auf der Vermieterseite gelten soll.Ich glaube, dass eine Kündigungsfrist von zwölf Monatenein bisschen weit weg von der Lebenswirklichkeit ist. Ichkann mir vorstellen, dass wir in diesem Punkt zu einer Lö-sung kommen, die den Mobilitätsansprüchen der Miete-rinnen und Mieter gerecht wird.Qualifizierter Mietspiegel: Der entsprechende Vor-schlag aus dem Bundesrat ist durchaus vernünftig. Damitwird sichergestellt, dass es keine Möglichkeit der Blo-ckade durch eine der beteiligten Parteien gibt. Dieser Vor-schlag ist also akzeptabel.Kündigungssperrfrist:Das ist besonders ein Problemin Städten wie zum Beispiel Hamburg und München. Wirhalten den im Kabinettsentwurf enthaltenen Vorschlagdazu für deutlich vernünftiger als den Vorschlag des Bun-desrates. Es gibt ja noch eine Anhörung, bei der über die-sen Punkt gesprochen werden kann. Es geht auch um dienotwendige Klarstellung in Bezug auf den Nachweis ei-ner Ersatzwohnung. In diesem Punkt müssen wir noch umeine präzisere Formulierung ringen.Zerrüttungskündigung:Dieser Begriff ist zwar sozu-sagen ein Kampfbegriff. Aber es ist nicht die Absicht desGesetzentwurfes, Situationen herbeizuführen, die dieserBegriff nahe legen könnte. Wir werden sicherlich diesenPunkt klar und unmissverständlich formulieren, um vorallem die vonseiten des Deutschen Mieterbundesgeäußerten Sorgen aus der Welt schaffen zu können. Ichdenke, das ist durchaus möglich.Bei der Regelung bezüglich der Zeitmietverträge gibtes die Forderung, dass der Begriff „wesentliche Instand-setzung“ präziser gefasst werden soll, um die Mieter zuschützen. Ich glaube, dies ist ein vernünftiger Vorschlag.
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Ein letzter Punkt: Schönheitsreparaturen. Es wärewünschenswert, wenn wir entsprechende Regelungen imMietrecht unterbringen könnten. Ich habe mir aber vonden Fachleuten – in diesem Fall: von den Juristen – sagenlassen, dass es sehr schwierig wird. Auch der Vorschlagdes Bundesrates hat seine Tücken. Wir müssen ernsthaftprüfen und überlegen, wie wir diesen Punkt be-rücksichtigen können. Ich denke, das ist eine vernünftigeAbsicht.Ein Ziel bei der Erarbeitung des Entwurfes war es, fürdieses Gesetz eine verständliche und moderne Sprache zufinden. Das freut einen, besonders einen bekennendenDeutschlehrer.
Ich will nicht abstreiten, dass Erfolge erzielt worden sind.Aber ich glaube, man sollte diesen Gesetzentwurf auchaus sprachlicher Sicht mit ein bisschen Sensibilität über-arbeiten. Ich bringe Ihnen einfach einmal ein Beispiel.In § 543 BGB – „Außerordentliche fristlose Kündi-gung aus wichtigen Grund“ –, wo es zum Beispiel um denRückstand von zwei Monatsmieten geht, heißt es: „DieKündigung ist ausgeschlossen, wenn der Vermieter vor-her befriedigt wird.“
Gemeint ist, dass der Mieter die Mietschulden bezahlensoll. Ich möchte auf mögliche Assoziationen hier nichtnäher eingehen; aber ich denke, dieser Sprachgebrauch istüberholungsbedürftig.Zusammenfassend will ich sagen: Für uns ist diese Re-form des Mietrechts mit Veränderungen, wie ich sie an-gesprochen habe, ein ganz wesentlicher wohnungspoliti-scher Fortschritt. Von daher hoffen wir, dass wir, wie FrauMinisterin es eingangs gesagt hat, den Gesetzentwurf inden Fachausschüssen zügig beraten können. Ich hoffe,dass die Mitarbeit der Opposition ein bisschen weitergeht, als Herr von Stetten es in seinem Beitrag heute hierangedeutet hat. Dann glaube ich, dass wir nach – wie vieleJahre ist es her, seit der Bundestag den Auftrag zur Re-form gegeben hat?, ich glaube, 27 Jahre – mehr als einemVierteljahrhundert endlich das Mietrecht modernisierenund an die gesellschaftlichen Veränderungen anpassen.Schönen Dank.
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 14/4553 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Der deutschen Außenpolitik wieder Einfluss ge-
ben
– Drucksache 14/4383 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Volker Rühe, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Die Vertiefung und Erweiterungder Europäischen Union, der Ausbau der transatlantischenPartnerschaft, die dauerhafte Befriedung des Balkans, derStabilitätstransfer in den postsowjetischen Raum sowieein weltweiter Einsatz für Frieden, Demokratie und Men-schenrechte, die Herausforderungen der Globalisierung –das alles erfordert von unserem Land eine kraftvolle undkreative Außenpolitik, die Einfluss und Gewicht hat, dieeine strategische Perspektive entwickelt und sich nicht intaktischer Geschmeidigkeit erschöpft.
Ich gehe davon aus, dass der Außenminister sein Er-scheinen noch realisieren kann.
– Da ist er. Herzlich willkommen! Er kommt gerade recht-zeitig für das wenige Lob, das ich der Bundesregierungzollen möchte.So wurden viele Grundlinien von der vorherigen Bun-desregierung übernommen,
die von Rot-Grün zu deren Oppositionszeiten noch heftigbekämpft wurden, beispielsweise der Einsatz auf demBalkan. Es ist gar keine Frage, dass es eine Leistung derneuen Bundesregierung war, dass es hier nicht zu einemBruch in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik ge-kommen ist.Aber nach zwei Jahren rot-grüner Regierung hatDeutschland an Einfluss und Vertrauen verloren
und Glaubwürdigkeit eingebüßt. In der Frage der Ost-erweiterung hat Deutschland seine Lokomotivfunktion,die wir unter Bundeskanzler Kohl und seiner Bundesre-gierung noch hatten, leider aufgegeben.
Wichtigen strategischen Fragen wird ausgewichen odersie werden gar tabuisiert, sobald sie zu einer Belastungdes rot-grünen Bündnisses zu werden drohen.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Wolfgang Spanier12968
Die Agenda der deutschen Außenpolitik hat sich dra-matisch verengt. Wesentliche Weltregionen, aber aucheine ernsthafte Auseinandersetzung mit den globalen He-rausforderungen bis hin zur Bekämpfung von Armut undansteckenden Krankheiten werden vernachlässigt.
Auch international gegebene Versprechen wurden ge-brochen. Der Entwicklungsetat für dieses Jahr wurde um8,7 Prozent gekürzt. Inzwischen ist ein Punkt erreicht, andem es immer schwerer fällt, signifikante Beiträge zurEntwicklung in Partnerländern zu leisten. Dafür trägt dierot-grüne Bundesregierung die Verantwortung.
Meine Damen und Herren, fristgerecht zum Parteitagder Grünen Ende 1998 wurde die NATO-Nukleardoktrininfrage gestellt. Seitdem herrscht ostentatives Desinte-resse an weltweiter nuklearer Abrüstung und an Nichtver-breitung von Massenvernichtungswaffen.
Der Außenminister hat es nicht einmal nötig, nach NewYork zur Überprüfungskonferenz im Zusammenhang mitdem Nichtverbreitungsvertrag zu gehen. Ich meine, dasist ein besonders trübes Kapitel der neuen Bundesregie-rung.
Das freizügige Schwingen der Moralkeule gegenüberkleinen Staaten wie zum Beispiel Österreich passt nichtzum weit gehenden Stillschweigen gegenüber massivenrussischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetsche-nien.
Die außenpolitischen Debatten in Bonn zu der Zeit, alsnoch Klaus Kinkel Außenminister war, waren häufig voneinem rot-grünen Menschenrechtsfundamentalismus ge-prägt. Allen voran ging hier mit sich überschlagenderStimme der jetzige Außenminister. Dies ist besonders er-bärmlich, wenn man sieht, dass heute fast schon ein Fun-damentalismus der Realpolitik gepflegt wird, HerrFischer.
Was die Europapolitik, insbesondere die Erweiterungder EU, betrifft, so war Deutschland früher eine Loko-motive. Heute ist der Dampf ziemlich heraus. Zum Teilwird der Erweiterungsprozess sogar gezielt verzögert.Herr Minister, in Warschau die Beschleunigung der Ver-handlungen zu fordern und gleichzeitig die eigenen Be-amten in Brüssel anzuweisen, die Agrarverhandlungen bisin das nächste Jahr hinauszuzögern, das, finde ich, istdoppelzüngig und macht die deutsche Europapolitik un-glaubwürdig.Die Erweiterung der Europäischen Union liegt in un-serem ureigenen Interesse. Deshalb brauchen wir eine zü-gige, aber auch eine realistische Erweiterung. Der strate-gische Ansatz muss sein, die Europäische Union auf demGipfel in Nizza so zu reformieren, dass sie erweitert wer-den kann. Sie muss zügig so erweitert werden, dass sie da-nach weiter vertieft werden kann. Man kann daher nichterst auf eine maximale Erweiterung drängen und amnächsten Tag Finalitätsreden über die maximale Vertie-fung der Europäischen Union halten.Einen der Fehler, die der Außenministers in diesem Zu-sammenhang immer wieder macht, konnte man auch inden letzten Tagen sehen: Er hat die Direktwahl des Kom-missionspräsidenten gefordert, während die französi-schen Freunde gerade dabei sind, die in dieser Woche an-stehenden Hausarbeiten zu erledigen. Manchmal erinnertHerr Fischer im Zusammenhang mit der europäischen Po-litik an einen Hans Guckindieluft: den Blick weit auf dieFinalität gerichtet, aber stolpernd über die Aufgaben, diejetzt geregelt werden müssen.
Man kann die Beitrittsverhandlungen nicht auf zwölfStaaten ausweiten, die Türkei noch draufsatteln, sie zu-gleich zu einem anstößigen Sonderfall erklären, darüberhinaus den Ländern der Balkanregion eine Beitrittsper-spektive eröffnen – also maximale Erweiterung – undgleichzeitig von einer europäischen Föderation sprechen.Eine maximale Erweiterung und eine maximale Vertie-fung passen nicht zusammen. Ich nenne das Verhalten,diese beiden Ziele gleichzeitig zu verfolgen, eine Lebens-lüge der rot-grünen Europapolitik, Herr Außenminister.
Deswegen ist zu fragen: Was muss geschehen? Wirsollten in der Gruppe der zwölf Beitrittsländer wiederstärkere Differenzierungen vornehmen –lesen Sie einmaldas jüngste Buch von Helmut Schmidt nach, falls Sie mirnicht glauben! –,
und zwar nicht willkürlich, indem man sich einzelne Staa-ten herauspickt, sondern indem man den Verhandlungs-zeitraum auf Ende 2002 begrenzt, wie es jetzt die Kom-mission vorgeschlagen hat und wie wir das schon seitgeraumer Zeit vertreten, damit die EU zügig um eine klei-nere Gruppe von Staaten erweitert wird, nämlich um die-jenigen, die zu diesem Zeitpunkt die notwendigen Voraus-setzungen erfüllen. Ich fordere die Bundesregierung auf,sich hinter diese Vorstellungen der Kommission zu stel-len. Das macht es dann auch möglich, die Vertiefung derEuropäischen Union durch eine Ausarbeitung einesVerfassungsvertrages und eine klare Kompetenzabgren-zung zwischen der europäischen und der nationalenEbene fortzusetzen. Dafür muss auf dem Gipfel in Nizzaein Zeitplan festgelegt werden.
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Volker Rühe12969
Das für einen ersten Abschluss der Verhandlungen fest-zulegende Datum sollte nicht zu lange hinausgezögertwerden. Herr Fischer, auch Sie haben sich daran beteiligt,dieses Datum immer weiter in die Zukunft zu verschie-ben. Der ungarische Außenminister hat ja nicht ohneGrund gesagt, Ungarn sei jeweils fünf Jahre davon ent-fernt, Mitglied der Europäischen Union zu werden. 1995habe man gesagt, dies solle im Jahre 2000 erfolgen. ImJahre 1998 habe man von 2003 gesprochen. Jetzt sprechenmanche – auch Sie – von 2005. Das fördert nicht dieGlaubwürdigkeit. Je länger wir dieses Datum hinaus-schieben, umso unglaubwürdiger werden wir und umsogrößer wird die Gruppe, die aufgenommen werden soll.Ich glaube, dass das eher eine schwierige Last für die Eu-ropäische Union sein wird.Vieles von dem Unbehagen über die Erweiterung hängtauch damit zusammen, dass man auf maximale Erweite-rung – plus Türkei – drängt, ohne Antworten darauf zugeben, wie die EU eine solche Entwicklung politisch, fi-nanziell und institutionell verkraften wird.
Hinzu kommt, dass – leider auch immer mehr in Deutsch-land – fast ausschließlich über die Probleme und viel zuwenig über die Chancen der Erweiterung, gerade auchfür unser Land, gesprochen wird.
Deswegen sage ich: Es gibt einen Mangel an politi-scher Führung in diesem Land. Das hätte unter der Vor-gängerregierung anders ausgesehen.
– Natürlich, Bundeskanzler Kohl hat die Chancen aktivvertreten, ob es um den Euro oder die Erweiterung derEuropäischen Union ging. Das ist es, was ich Ihnen vor-werfe: Mangel an politischer Führung, um diesen Prozessauch mehrheitlich abzusegnen.
– Ich freue mich, dass Sie aufwachen, Herr Kollege.Nur wenn immer wieder die Chancen der Erweiterungdargestellt und verständlich gemacht werden, könnenwir auch damit rechnen, dass die Zustimmung in der Be-völkerung wächst. Europa ist angesichts der globalenHerausforderungen und der Aufgaben, die auf unseremKontinent zu bewältigen sind, mehr denn je auf eine part-nerschaftliche, enge und vertrauensvolle Zusammen-arbeit mit den USA angewiesen.Wir müssen die Partnerschaft zwischen Europa undden USA zum entscheidenden Faktor bei der Gestaltungder globalen Entwicklungen ausbauen. Was das deutsch-französische Tandem in den letzten Jahrzehnten für die In-tegration Europas geleistet hat, muss nach unserer Über-zeugung künftig das europäisch-amerikanische Tandemfür die Schaffung einer freiheitlichen, solidarischen undfriedlichen Weltordnung leisten.
Deshalb muss die Bundesregierung endlich die Initia-tive für eine gemeinsame Strategie ergreifen und erläu-tern, mit welchen Zielen und Mitteln Europäer und Ame-rikaner den globalen Risiken wie der Proliferation vonMassenvernichtungswaffen und Trägermitteln, der Unter-entwicklung und der Umweltbelastung begegnen können.Denn hier stehen wir Europäer zusammen mit den Ame-rikanern aufgrund unseres wirtschaftlichen und technolo-gischen Potenzials in einer besonderen Verantwortung.Wir müssen aber feststellen, dass in dieser Bundesre-gierung wichtige strategische Fragen des transatlanti-schen Verhältnisses nicht entsprechend ihrer politischenBedeutung behandelt werden, sondern sie werden jeweilsauf das verengt, was eine rot-grüne Belastungsprobe hierzu Hause gerade noch zulässt. Ich will einige Beispieledafür nennen:Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitikist notwendig, um zu einer echten transatlantischen Las-tenteilung zu kommen. Die Amerikaner aber messen unszu Recht an unserem Handeln und nicht an Versprechun-gen. Es gibt viel Kritik daran, dass die Europäer nur redenund nicht handeln.
Wenn es eine echte europäische Sicherheits- undVerteidigungspolitik geben soll, müssen die Verteidi-gungshaushalte in Europa abgestimmt werden. Wir müs-sen uns auch die Fragen stellen: Welche europäischenFähigkeiten brauchen wir? Was ist der deutsche Beitragdabei? Welche Finanzmittel sind dafür nötig? Dieser Bei-trag muss von den europäischen Aufgaben und Fähig-keiten und darf nicht nur von der Kassenlage bestimmtsein. Das muss europäisch konzertiert werden. Wir müs-sen feststellen, dass die Dinge, die notwendig sind, immernoch nicht oder nicht ausreichend finanziell abgesichertsind.Ich halte es im Übrigen für ein großes Dilemma – dasergibt sich aus dem, was man mit Rot-Grün diskutierenkann und was nicht –, dass man über eine Truppenstärkevon 200 000 Mann spricht, aber keine Diskussion darüberstattfindet, in welchen Szenarien diese Truppe eingesetztwerden soll.
– Sind Sie sich da sicher? – Wie weit reicht eigentlich derKonsens unter den Europäern darüber, für welche Aufga-ben eine solche Truppe eingesetzt werden soll?Mein zweites Beispiel ist die NATO-Erweiterung.Wir haben sie begonnen; das ist ein großer Erfolg. Daskönnen Sie bis hin zur NATO-Parlamentarierkonferenz indiesen Tagen in Berlin spüren. Es ist ein ganz großer Er-
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Volker Rühe12970
folg unserer Politik, dass die Polen, die Ungarn undTschechen ganz selbstverständlich dabei sind. Das warein richtiger Schritt.
Wir haben dieses Projekt am Anfang, Herr Außenminister,ohne die USA oder sogar gegen sie vorangetrieben. Es istdurchaus eine Ironie der Geschichte, wenn man sieht, wiewenig Spielraum Sie sich geben. Dieser Prozess mussweitergeführt werden.
Neun Kandidatenländer haben sich getroffen und denWunsch geäußert, im nächsten Schritt zusammen auf-genommen zu werden. Wie ist die Haltung der Bundesre-gierung dazu? Soll sich dieser Öffnungsprozess möglichstdeckungsgleich mit dem Öffnungsprozess in der Europä-ischen Union vollziehen oder eher komplementär? Sollenwir zuerst diejenigen aufnehmen, die aufgrund ihrer wirt-schaftlichen Situation keine Chance haben, Mitglied derEuropäischen Union zu werden?
Dazu gibt es keinerlei Aussage der Bundesregierung.Warum? Weil die Grünen gegen die Osterweiterung derNATO waren.
Deswegen sage ich Ihnen: Bei strategischen Perspektivender Bundesregierung herrscht Fehlanzeige, weil Sie nichtdie Kraft aufbringen, eigene Vorschläge zu machen.
Jetzt bestreitet Herr Fischer sogar, dass Sie gegen dieOsterweiterung der NATO gewesen sind. Sie haben nichteinmal den Mut gehabt, damals auf Ihrem Parteitag gegendie falsche Politik der Grünen anzutreten. Auch die Sozi-aldemokraten haben die Osterweiterung am Anfang re-serviert aufgenommen.
Drittes Beispiel: Raketenabwehr. Auch dieses Themawird von der Bundesregierung tabuisiert.
Herr Kol-
lege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Irmer?
Bitte schön, Herr Kollege.
Das passt jetzt so schön hier
rein.
Herr Kollege Rühe, Sie haben mit Recht darauf hinge-
wiesen, dass die Grünen gegen die Osterweiterung der
NATO waren. Ist Ihre Erinnerung so gut, dass Sie noch
wissen, dass die Grünen in der Vergangenheit generell ge-
gen die NATO waren, dass sie noch vor wenigen Jahren
die Auflösung der NATO verlangt haben und sie in die
OSZE überführen wollten?
Geschichtlich ist das
richtig, aber man soll niemanden beschimpfen, wenn er
einen Lernprozess vollzieht. Jetzt geht es darum, die Ost-
erweiterung voranzutreiben. Ich stelle fest: Es gibt kei-
nerlei Initiative der Bundesregierung in diesem Bereich.
Herr Kol-
lege Rühe, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, dieses
Mal vom Kollegen Lippelt?
Das geht nicht von meiner
Redezeit ab?
Nein, das
geht nicht von Ihrer Redezeit ab.
Gut.
Da Sie sich immer auf die Vergangenheit beziehen
müssen, um gewisse Ideologien aufrechtzuerhalten – ich
weiß, Sie können noch weiter in die Vergangenheit
zurückgehen –, möchte ich Sie fragen, ob Sie bei der Ab-
stimmung dabei gewesen sind? Wissen Sie zum Beispiel,
dass eine namhafte Riege der Grünen der Erweiterung
zugestimmt hat? Ist Ihnen das Abstimmungsverhältnis
noch bekannt? Sie können gerne einwenden, es hätten
nicht alle zugestimmt. Aber wissen Sie, wie die Mehrheit
gestimmt hat?
Herr Kollege, ich gehörenicht Ihrer Partei an, also war ich bei der Abstimmung aufdem Parteitag nicht dabei. Aber eine zuverlässige Be-richterstattung der Medien hat mich darüber informiert,dass die deutliche Mehrheit dagegen gestimmt und auchder jetzige Außenminister nicht für die Erweiterunggekämpft hat.
Wir sind jetzt beim Thema „Raketenabwehr“.
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Volker Rühe12971
Das Thema ist mindestens genauso unangenehm für Sie.Es ist ein Thema, das wir nicht tabuisieren dürfen. Es wirdauch unabhängig davon, wer einmal amerikanischerPräsident sein wird – irgendwann wird sich das entschei-den –, auf der Tagesordnung bleiben.
Was das Alaska-Projekt angeht, so ist die Diskussion überdieses Thema von Präsident Clinton vernünftigerweisezurückgestellt worden. Aber wenn wir Europäer mehr alsbisher auf den Meinungsbildungsprozess in den USAEin-fluss nehmen wollen, dann müssen wir zu einer ein-heitlichen europäischen Position finden.Es ist besonders unglaubwürdig, wenn gerade die Grü-nen in der Vergangenheit die Haltung, die Aufrechterhal-tung des Friedens sei nur durch Abschreckung zu ge-währleisten – dies war mit der Drohung verbunden,notfalls die Welt mit Nuklearwaffen in die Luft zu spren-gen; eine fragile Grundlage für die Aufrechterhaltung desFriedens –, moralisch hinterfragt haben.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen auch in Zukunft Ab-schreckung. Aber wenn es heute eine Chance gibt, dieAbschreckung – neben der Prävention – durch ein Ele-ment der Verteidigung zu ergänzen, dann kann man diesnicht von vornherein ablehnen,
sondern dann muss man eine einheitliche europäische Po-sition finden. Ich habe vor kurzer Zeit mit dem französi-schen Verteidigungsminister gesprochen. Es wird ja im-mer wieder gesagt, die Franzosen würden uns behindern.Hier gibt es sehr wohl eine Bereitschaft, europäische Ele-mente der Verteidigung auch für den Mittelmeerraum alseinen Schutz für Europa zu prüfen. Dafür müssen mittel-fristig Finanzmittel vorgesehen werden. Wir müssendarüber nachdenken, wie man Abschreckung und Vertei-digung vernünftig miteinander verbinden kann. Diesmuss allerdings international eingebettet sein und unterVermeidung von neuen Risiken geschehen, beispiels-weise einer neuen Rüstungsdynamik wie etwa in Asien.Ebenso muss geprüft werden, ob durch amerikanischeund europäische Initiativen für einen solchen Schutz nichteine wirklich umfassende Abrüstung auf wenige HundertSprengköpfe möglich ist. Das ist wirklich ein zentralesVersagen:
Es gibt keinerlei deutsche Abrüstungsinitiativen. Esmuss möglich sein, die Rolle der Nuklearwaffen in derZukunft neu zu definieren. Wir müssen uns dabei auf dieAufgabe beschränken, andere vom Einsatz nuklearerWaffen abzuhalten; das ermöglicht in der Tat die Rück-führung auf wenige Hundert Systeme.Ihre Taktik, bei dieser Frage wegzutauchen, weil inRot-Grün darüber nicht diskutiert werden kann, keinerleistrategische Perspektive zu eröffnen, keinerlei Abrüs-tungsinitiativen vorzulegen und keine Bereitschaft zuzeigen, eine aktive europäische Politik zu führen, um aus-zuloten, in welcher stabilitätsfördernden Weise man Ab-schreckung mit Verteidigung verbinden kann, ist es, waswir Ihnen vorwerfen, Herr Bundesaußenminister Fischer.
Was den Balkan betrifft, unterstützen wir die demo-kratische Entwicklung in Serbien nachdrücklich. Es wargut, dass Präsident Kostunica wichtige Gesten im Hin-blick auf die Amnestie gemacht hat, dass er auch ein Wortdes Bedauerns angesichts der schrecklichen Massaker ge-funden hat. Denn eines ist richtig: Ohne die Wahrheit überdie Vergangenheit kann es keine gute Zukunft mit denNachbarn geben.Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, über den künftigen Sta-tus des Kosovo zu entscheiden. Aber, liebe Kolleginnenund Kollegen, was wir dort endlich brauchen, ist ein poli-tischer Prozess. Es geht nicht nur eine humanitäre Inter-vention. Dieses Land wird praktisch von der NATO, derEU und den Vereinten Nationen regiert. Schon viel zulange befinden sich unsere Soldaten dort, ohne dass diesdurch einen politischen Rahmenprozess begleitet wird.
den Soldaten auf Dauer nicht zumuten dürfen.
Deswegen brauchen wir energische Schritte in Richtungeines politischen Prozesses.
Ich halte das Gerede „Wir müssen zehn Jahre dort blei-ben“ einfach für unverantwortlich. Wir müssen einenpolitischen Prozess in Gang setzten, der dann einen ge-ringeren militärischen Einsatz vor Ort ermöglicht, einenProzess, der zu einer nachhaltigen, selbsttragenden Stabi-lisierung führt, auch um die internationale Präsenz zeit-lich begrenzen zu können.Nach den Kommunalwahlen muss es bald zu koso-voweiten Parlaments- und Präsidentenwahlen kommen.
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Volker Rühe12972
Ich denke, ein gewähltes Parlament im Kosovo wäre derrichtige Ort für die Debatten über die künftige Entwick-lung im Kosovo. Es geht um die Realisierung dersubstanziellen Autonomie innerhalb Jugoslawiens, bei-spielsweise in Form einer Teilrepublik, wie es mitMontenegro der Fall ist.Was Montenegro und Kosovo angeht, würde ich imÜbrigen vorschlagen zu versuchen, die Entwicklungenpolitisch parallel zu führen. Falsch ist – das haben wirauch in Gesprächen mit Bischof Artemije gehört – eine Fi-nalitätsdiskussion zu führen. Jetzt etwas Abschließendesvorzuschlagen, etwa im Hinblick auf die völlige Unab-hängigkeit, wäre kein hilfreicher Beitrag.Wir müssen aus der Situation herauskommen, in der al-les nur vom militärischen Beitrag abhängt. Deswegendrängen wir darauf, einen politischen Prozess in Gang zusetzen.
– Den Stabilitätspakt haben wir unterstützt.
Ich meine einen politischen Prozess über die Zukunft desKosovo, Herr Kollege. Deshalb kann es nicht bei denKommunalwahlen bleiben.
Der nächste Schritt muss ein Republikstatus sein, wie esauch in Montenegro der Fall ist.Ein Europa ohne Trennlinien zu schaffen, das muss dasZiel der deutschen und europäischen Russlandpolitiksein. Aber wir dürfen die zum Teil unterschiedlichenVorstellungen nicht unterschätzen. Das russische Vorge-hen gegen die tschetschenische Bevölkerung und zu-nehmende Einschränkungen der demokratischen Grund-freiheiten in Russland sind nur zwei Beispiele für dieunterschiedlichen Vorstellungen von europäischen Grund-werten und Grundprinzipien. Deshalb muss die Partner-schaft mit Russland pragmatisch-realistisch auch unterEinkalkulierung von Rückschlägen betrieben werden.Partnerschaft heißt im Übrigen auch, wenn nötig, Wi-derpart zu sein. Das bedeutet, dass auf die Fehlentwick-lungen, die die Partnerschaft belasten, deutlicher als bis-her reagiert werden muss. Für mich ist es unglaubwürdig,wenn man immer die deutsch-französische Freundschaftbeschwört und dann nicht zur Kenntnis nimmt, mit wel-cher bewundernswerten Klarheit nicht nur die Intellektu-ellen, sondern auch die Politiker in Frankreich deut-liche Worte zu den Menschenrechtsverletzungen inTschetschenien gefunden haben. Im Vergleich zu dem,was man in Deutschland dazu gehört hat, ist das für diedeutsche Seite eher beschämend.
Wenn man dies mit den fundamentalistischen Einlassun-gen in der letzten Legislaturperiode vergleicht, ist dasumso schlimmer.Herr Bundesaußenminister, wir fordern Sie auf, gegen-über der russischen Seite mit deutlich mehr Nachdruckdarauf zu drängen, eine politische Lösung des Konfliktsherbeizuführen, endlich die OSZE-Zusagen einzulösenund den humanitären Hilfsorganisationen sowie den Me-dien einen Zugang zu Tschetschenien zu gewähren. WennSie mit Rupert Neudeck und anderen dort Engagiertensprechen, werden Sie erfahren können, dass in diesemLand die Welt noch völlig vernagelt ist. Es ist Sache derBundesregierung, dafür zu sorgen, dass die schwerenMenschenrechtsverletzungen aufgeklärt, geahndet undfür die Zukunft unterbunden werden.Nachdem Präsident Putin kürzlich davon gesprochenhat, dass der deutsch-russische Dialog die gesellschaftli-chen Kräfte noch stärker berücksichtigen sollte – also so-zusagen ein Königswinter in Sankt Petersburg, was einegute Idee ist –, erwarten wir, Herr Bundesaußenminister,dass das nicht nur ein enger Dialog zwischen regierungs-nahen Kräften wird, sondern dass in diesen Dialog auchandere einbezogen werden, zum Beispiel die russischenMenschenrechtsorganisationen, die sich für die Einhal-tung der Menschenrechte in Tschetschenien eingesetzt ha-ben.
Es muss zu einem Dialog kommen, der diese gesell-schaftlichen Kräfte mit einbezieht. Es ist mir klar, dass dieGrünen jetzt besonders unruhig sind, weil sie in dieserFrage in den vergangenen zwei Jahren besonders un-glaubwürdig geworden sind.
In den kommenden Jahren wird Deutschland zuneh-mend internationale Verantwortung übernehmen. Diesfordern unsere Verbündeten, es entspricht aber im Übri-gen auch unserer Interessenlage. Dazu brauchen wir einadäquates Instrumentarium. Stattdessen wird der Aus-wärtige Dienst aufgrund massiver Haushaltskürzungen,aber auch wegen mangelnder Reformbereitschaft seinenAufgaben immer weniger gerecht. Es besteht die Gefahr,dass der Stellenwert der Außenpolitik in Deutschlandnicht mehr unserem Interesse entspricht und dass es An-sätze einer Provinzialisierung gibt.
Dem müssen wir uns mit aller Härte entgegenstellen. Wirhaben im Auswärtigen Dienst sehr tüchtige Mitarbeiter
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– ich weiß das aus eigener Erfahrung –, die ihre Arbeit ingroßartiger Weise machen. Wir schulden ihnen die Un-terstützung durch die Zentrale, damit sie unsere außen-politischen Interessen auf der ganzen Welt vertreten kön-nen.
Deshalb muss das realisiert werden, was auf der Bot-schafterkonferenz angekündigt worden ist.Man kann dem Außenminister durchaus gelegentlicheine geschmeidige Taktik bescheinigen, das allein ent-spricht aber nicht den außenpolitischen Interessen unseresLandes. Wir brauchen auch mutige Perspektiven und mu-tige Initiativen, damit die deutsche Außenpolitik wiederein stärkeres Gewicht bekommt und wir unseren Einflussmehren können, um auf internationaler Ebene das durch-setzen zu können, was im Interesse unseres Landes ist.Deswegen ist es gut, dass wir nach zwei Jahren rot-grünerRegierung darüber gesprochen haben,
wie Sie sich Verdienste erworben haben, indem Sie einenBruch mit den Grundlinien der Außenpolitik der Vor-gängerregierung vermieden haben. Wichtig ist aber auch,den Finger auf die Wunde zu legen und aufzuzeigen, woSie hinter dem zurückbleiben, was notwendig wäre, umdie außenpolitischen Interessen unseres Landes interna-tional gebührend zu vertreten.Vielen Dank.
Ich gebe das
Wort nunmehr der Kollegin Monika Heubaum von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehrgeehrten Damen und Herren! Wenn ich die letzten Jahreder Regierung Kohl mit einem Wort beschreiben sollte,fällt mir genauso wie vielen Bürgerinnen und Bürgern un-seres Landes in erster Linie der Begriff „Reformstau“ ein.
Nachdem ich den Antrag der CDU/CSU zur Außenpolitikgelesen habe, fällt mir eine ähnlich griffige Bezeichnungfür die Oppositionsarbeit der CDU/CSU ein: Realitäts-blindheit.
In dem Antrag zur deutschen Außenpolitik, den dieseOppositionsfraktion im Oktober der Öffentlichkeit prä-sentiert hat, ist auf sage und schreibe zehn Seiten nicht einneuer Gedanke formuliert.
– Ja, woher auch? – In schlechtester Oppositionsmanierreiht die Union Forderungen aneinander, die komplettwidersprüchlich sind, fordert Initiativen der Bundes-regierung, die schon lange realisiert worden sind, undstellt kostspielige Forderungen auf, erklärt aber natürlichmit keinem Wort, woher das Geld zur Finanzierung kom-men soll.
Nun muss die CDU/CSU-Fraktion aber feststellen, dassdie breite Öffentlichkeit auf solcherlei realitätsblindenAktionismus nicht so reagiert, wie sie es erhofft hat. DieBevölkerung hat von dem Antrag der CDU/CSU und denVorstellungen der Opposition zur deutschen Außenpolitikkaum Notiz genommen. Im Gegenteil: Die Außenpolitikder rot-grünen Bundesregierung findet in Deutschland, inEuropa, aber auch weltweit große Aufmerksamkeit undAnerkennung,
wie erst kürzlich wieder die mehrtägige Reise des Kanz-lers in den Nahen Osten deutlich gemacht hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Welt hatsich im letzten Jahrzehnt gewaltig verändert, vor allemdurch die Beendigung des Kalten Krieges, die die Öff-nung der NATO und der Europäischen Union nach Ostennach sich zieht. Dies stellt die Außenpolitik vor großeHerausforderungen, auch in der Entwicklung der transat-lantischen Beziehungen. Politische Reformen sind in derTat notwendig und wir gehen jetzt konsequent die über-fällige Aufhebung des Reformstaus an, den uns die Re-gierung Kohl auch in der Außenpolitik hinterlassen hat.
Ein Thema, das die Menschen beiderseits des Atlantiksbewegt, ist die Entschädigung der Zwangsarbeiter.Wirhaben uns, nachdem das Problem jahrzehntelang disku-tiert wurde, aber weiter nichts geschehen war – also auchhier Reformstau –, zu unserer moralischen Verantwortungfür die Zwangsarbeiter in der Zeit des Nationalsozialis-mus bekannt
und gesetzliche Voraussetzungen für eine schnelle undunbürokratische Unterstützung ehemaliger Zwangsar-beiter geschaffen.
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Volker Rühe12974
Genauso wird im Ausland unser Umgang mit Rechts-radikalismus und rechter Gewalt beobachtet. Das konse-quente Vorgehen der Bundesregierung gegen den Rechts-radikalismus ist insofern auch ein wichtiger Punkt auf deraußenpolitischen Tagesordnung. Politische Aktivitätenwie Absprachen unserer Bundesregierung mit der ameri-kanischen Regierung zur Bekämpfung rechtsradikalerVeröffentlichungen im Internet sind in ihrer Bedeutungnicht zu unterschätzen.
Im Antrag der CDU/CSU-Fraktion wird festgestellt,dass die Europäer „mehr denn je auf eine partnerschaftli-che enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit denUSA angewiesen“ sind. Dieser Aussage möchte ich nichtwidersprechen. Unser Verhältnis zu Staaten des amerika-nischen Kontinents, insbesondere zu den USA und zu Ka-nada, ist hervorragend. Es gibt ohne jeden Zweifel hierund da unterschiedliche Standpunkte in Einzelfragen; dasgibt es aber in den besten Beziehungen. Gerade unterFreunden sollte man unterschiedliche Auffassungen zumBeispiel zu hormonbehandeltem Rindfleisch oder zuLärmstandards für Flugzeuge offen ansprechen, um zuvernünftigen Lösungen zu kommen. Es gibt jedenfallsüberhaupt keinen sachlichen Grund, das Verhältnis soproblematisch darzustellen, wie dies die Union in ihremAntrag versucht.Die tiefe vertrauensvolle Zusammenarbeit mit unserenPartnern in Amerika findet auf den verschiedensten poli-tischen Ebenen statt. So haben wir auf der NATO-Ebenegezeigt, dass wir auch große politische Krisen wie denKrieg im ehemaligen Jugoslawien gemeinsam erfolgreichbewältigen können. Ich denke, die Umsetzung des vomdeutschen Außenminister initiierten Stabilitätspaktesspricht für sich.Nun ist die Bundesrepublik Deutschland auch Mitgliedder Europäischen Union. Gerade die EU hat zuletzt mitdem Mexiko-EU-Abkommen eine wichtige wirtschafts-und handelspolitische Maßnahme umgesetzt und Libera-lisierungen vor allem im Dienstleistungssektor ermög-licht.Auf bilateraler Ebene ist das transatlantische Verhält-nis ausgesprochen gut. Wir sind durch gemeinsame de-mokratische Grundwerte ebenso verbunden wie durcheine vielfältige gesellschaftspolitische Zusammenarbeit.An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auf den hohenWert von Austauschprogrammen für Schüler, Studenten,Berufstätige und Wissenschaftler hinweisen.Wir sind aber auch bedeutende Handelspartner, selbstwenn die Opposition das transatlantische Verhältnisschlecht reden will. 1999 hat die Bundesrepublik Warenim Wert von mehr als 100 Milliarden DM in die USA ex-portiert und damit das Ergebnis aus dem Vorjahr um mehrals 4 Prozent gesteigert und einen Exportüberschuss vonnahezu 30 Milliarden DM erwirtschaftet. Wir sind alsonicht nur in der Außenpolitik erfolgreich. Auch unsereWirtschaftspolitik ist vom Feinsten.
Die Exporte der deutschen Wirtschaft in die USAverzeichnen in den ersten Quartalen dieses Jahres wiederhohe Zuwachsraten. Unsere Wirtschaft ist, auch dank derReformen dieser Bundesregierung, auf dem Weltmarktabsolut konkurrenzfähig.In umgekehrter Blickrichtung ergibt sich folgendesBild: Gut 1 900 amerikanische Firmenniederlassungenmit einem Jahresumsatz von mehr als 300 Milliarden DMbeschäftigen etwa 500 000 Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer in unserem Land. Das zeigt mehr als deutlich,wie gut das Ansehen des Wirtschaftsstandortes Deutsch-land jetzt ist.
Unsere Zusammenarbeit mit Kanada ist ebenfalls sehrgut. Das Volumen des Handels zwischen Deutschland undKanada liegt bei 12 Milliarden DM im Jahr. Fortschrittein den deutsch-kanadischen Wirtschaftsbeziehungen gibtes beispielsweise durch die Schaffung des „Canada Eu-rope Business Round Table“, in dessen Rahmen Unter-nehmen aus Europa und Kanada gemeinsam Vorschlägezur Erleichterung der Wirtschaftsbeziehungen erarbeiten.Wir müssen uns trotz der Erfolge im Außenhandel täg-lich von neuem den Herausforderungen der Globalisie-rung stellen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialde-mokraten sind die internationalen Handelsabkommen vongrößter Bedeutung; denn nur so können wir einen fairenund gerechten Welthandel ermöglichen.Die WTO-Konferenz von Seattle hat leider nicht zudem gewünschten Erfolg geführt. Deutschland hat alseine der größten Wirtschaftsnationen der Welt eine be-sondere Verantwortung für die Entwicklung der Weltwirt-schaft und als eine der größten Exportnationen auch eingroßes Eigeninteresse daran, dass im Rahmen von inter-nationalen Verhandlungen Fortschritte erzielt werden.Wir treten weiterhin für die Öffnung der Märkte und fürdie verbindliche Festlegung von Arbeits- und Umwelt-standards ein. Nur so können wir ein langfristig stabilesinternationales Wirtschaftswachstum erreichen.
Die Politik der Bundesregierung ist glaubwürdig undberechenbar. Deutschland hat durch seinen klaren außen-politischen Kurs in der internationalen Staatengemein-schaft an Vertrauen und Gewicht gewonnen. Unverständ-lich ist nur, dass die Opposition ohne Not – ich betone:ohne Not – Konflikte mit der Bundesregierung konstru-iert, die gar nicht existieren. Außenpolitik ist eigentlich zuwichtig, als dass man sie für billige innenpolitische Profi-lierungen missbrauchen sollte.
Ich kann zusammenfassend nur feststellen: Wir sindauf dem richtigen Weg!
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Für die
F.D.P.-Fraktion erteile ich dem Kollegen Ulrich Irmer das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Seit zwei Jahren ist diedeutsche Außenpolitik nunmehr in rot-grüner bzw. fest ingrüner Hand. Das ist, wenn man von den paar Amtsin-habern absieht, den Grünen nicht gut bekommen; das sollnicht meine Sorge sein.
Es ist aber vor allem der deutschen Außenpolitik nicht gutbekommen.
Das erfüllt mich mit erheblicher Sorge.Die deutsche Außenpolitik ist, seit sie die Grünen über-nommen haben, von zwei Tendenzen geprägt: einerseitsvon dem Versuch, der Wirklichkeit einigermaßen Rech-nung zu tragen und sich von einigen ideologischen Posi-tionen der Vergangenheit zu verabschieden, andererseitsvon dem peinlichen Bemühen, den Frust und die Enttäu-schung der grünen Basis über diese neue Realitätsnähepermanent durch mehr oder weniger unsinnige Aktionenzu beschwichtigen.
Zur ersten Tendenz möchte ich zwei Beispiele nennen.Der iranische Staatspräsident Khatami wird, übrigens zuRecht, in Berlin mit allen Ehren empfangen. Das ist inOrdnung. Willkommen in der Realität! Wir haben aberalle noch im Ohr, wie das vor wenigen Jahren klang, alsdie alte Bundesregierung eine ähnliche Iranpolitik – auchzu Recht – betrieben hat und als Sie gar nicht oft genugden Rücktritt des damaligen Bundesaußenministers KlausKinkel fordern konnten. Vor wenigen Jahren waren wir,als es um die Militäraktionen bei Friedensmissionen imAusland ging, noch die großen Kriegstreiber. „Militarisie-rung der deutschen Außenpolitik“ war einer der mildestenAusdrücke. Im Fall Kosovo aber überboten sich Fischer,Vollmer und Co mit verbalem Säbelrasseln. Sie habenselbstverständlich die Bundeswehrsoldaten trotz überausdubioser Rechtsgrundlagen in das Feuer geschickt. Rechtso, kann ich nur sagen.
Hier gilt offensichtlich der Spruch: Die schärfsten Kri-tiker der Elche sind inzwischen selber welche.
Stichwort „Elch“. Herr Fischer, hören Sie einmal einenkleinen Moment zu! Sie müssen ja demnächst vonMadeleine Albright Abschied nehmen, mit der Sie immerso gerne gekuschelt haben. Gehen Sie doch einmal zuIKEA! Dort gibt es wunderschöne kleine Stoffelche. Kau-fen Sie ihr einen, schenken Sie ihn ihr!
Sie wird Sie immer in bester Erinnerung behalten. Auchich habe ein solches Tier zu Hause; es wurde mir voneinem Freund geschenkt. Es ist viel hübscher und hand-samer, als Sie es je waren. Madeleine Albright wird ihreFreude daran haben.
Zur zweiten Tendenz der grünen Außenpolitik. Seit Siebei Ihrer eigenen Basis als Kriegstreiber verschrien sind– so widersprüchlich das auch ist –, versuchen Sie mitaller Gewalt, Ihren Friedenswillen und Ihr Gutmenschen-tum zu dokumentieren, auch da, wo es völlig unange-bracht ist. Auch hierzu nenne ich einige Beispiele.Sie haben den Einsatz der Bundeswehr in Osttimor ver-anlasst. Da hat uns niemand gerufen, es hat uns niemandgebraucht. Das hätten die Australier viel besser machenkönnen. Das war reine Geldverschwendung.
Das Geld wäre besser für den zivilen Aufbau in der Re-gion ausgegeben worden.
Als zweites Beispiel nenne ich Ihr Verhalten gegenüberder Türkei. Ich habe es begrüßt, dass der Türkei der Sta-tus des offiziellen Beitrittsbewerbers zuerkannt wurde.Das Thema war sehr strittig. Sie aber sind der Türkei,noch dazu einem NATO-Partner, als es um die Lieferungvon Panzern ging, in einer Weise entgegentreten, als seidas irgendein Land, das auf unserer Gegenseite stünde,das man nur mit der Zange anfassen könne. Wie verträgtsich das mit Ihrer offiziellen Politik in der Frage des Bei-tritts?
Ich nenne das unsägliche Beispiel Österreich. Hier ha-ben Sie klein beigeben müssen. Letzte Woche haben Sieganz stolz verkündet, dass Sie mit Österreich Verträgeüber eine weltweite Friedensprävention schließen. Jetztist Österreich plötzlich wieder akzeptabel.Aber wissen Sie eigentlich, welchen Schaden Sie nichtnur gegenüber dem österreichischen Volk, sondern auchbei kleinen Ländern – sowohl Ländern innerhalb der Ge-meinschaft als auch solchen, die der Gemeinschaft beitre-ten wollen – angerichtet haben? Sie sagen doch alle: So,wie die Gemeinschaft und die großen Länder mit Öster-reich umgesprungen sind, kann es uns auch passieren. –Wo bleibt der Respekt vor kleinen Ländern, vor der de-mokratischen Entscheidung in solchen Ländern?
Wenn uns eine innenpolitische Entwicklung nichtpasst, dann müssen wir versuchen, behutsam darauf ein-zuwirken, und vielleicht gegensteuern. Aber hier mit demHolzhammer zu kommen und gegen Österreich so vorzu-gehen, wie Sie es getan haben, ist ja wohl unsäglich unddiente lediglich dazu, Ihrer grünen Basis zu zeigen, wie
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unnachgiebig und großartig Sie sich in Menschenrechts-fragen schlagen.Bei diesem Spagat, den Sie tagtäglich vollführen, gehtnatürlich jeder Ansatz zu konzeptionellem Denken undHandeln völlig verloren. Das merkt man Ihrer Politik an.Außer Ihrer Europarede, die Sie ja ausdrücklich als Pri-vatmann gehalten haben, haben Sie bisher konzeptionellnichts geboten. Dort, wo Sie konzeptionell zu werden ver-suchen, lässt dann die praktische Ausführung schwer zuwünschen übrig, wie sich jetzt durch die Kritik, die an Ih-rer praktischen Politik im Ausland geübt wird, ganz deut-lich zeigt. Nur hektische Ad-hoc-Aktivitäten können Siean den Tag legen.
Außenpolitik muss werteorientiert und interessenbezo-gen sein. Das ist keineswegs ein Widerspruch. Wie allePolitik dient die Außenpolitik dem Zweck, unseren Bür-gern Frieden, Sicherheit und Wohlstand zu garantieren.Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Diese Zieleder Außenpolitik können natürlich durch gewalttätigeAuseinandersetzungen irgendwo auf der Welt beeinträch-tigt und bedroht werden. Krisen und Gewalt brechen immerda aus, wo Menschenrechte oder Minderheitenrechte mitFüßen getreten werden. Deshalb ist der weltweite Einsatzfür Menschenrechte unmittelbar in unserem eigenen deut-schen Interesse.
Wertepolitik und Interessenpolitik schließen sich nichtaus. Aber Sie, die Sie die Menschenrechte immer wie eineMonstranz vor sich her getragen haben, haben ja nicht ein-mal auf diesem Gebiet irgendeinen Erfolg vorzuweisen.Wo sind denn die Ergebnisse der Fernethiker und Weltbe-glücker von einst?
Sie haben keinen Konsens der europäischen Partner beider China-Resolution der Konferenz der Vereinten Natio-nen in Genf erreicht. Sie haben in Menschenrechtsfragenkeinen Erfolg in den bilateralen Beziehungen mit derVolksrepublik China gehabt. Messen Sie einmal das,was Sie heute vorzuweisen haben, an dem, was Sie der al-ten Bundesregierung seinerzeit vorgeworfen haben.
Dann fahren Sie natürlich als Erster nach Moskau,machen dort dem Präsidenten Putin Ihre Aufwartung,machen einen Kotau vor Präsident Putin, währendgleichzeitig in Tschetschenien Tausende und Abertau-sende von Menschen sterben. Ihre Rhetorik – Herr Rühehat das vorhin angesprochen – in der letzten Wahlperiodezum ersten Tschetschenienkrieg, der nicht annähernd soblutig und grausam war wie der jetzige, ist uns allen nochim Ohr. Messen Sie sich an Ihren eigenen Worten!
Aber auch da, wo es direkt um deutsche Interessengeht, ist Fehlanzeige. Als ein Beispiel nenne ich dieOsterweiterung der Europäischen Union. Meine Da-men und Herren, wo ist denn die Kampagne der Bundes-regierung zur Aufklärung und Information der Bevölke-rung darüber, dass dieses Projekt Osterweiterung ganzdirekt in unserem deutschen Interesse liegt, dass niemandsonst mehr Interesse daran hat als wir?
Das Handelsvolumen mit diesen Ländern ist schon heutegrößer als das mit den Vereinigten Staaten. Hier erschlie-ßen wir uns doch die Märkte der Zukunft, auf die wir sodringend angewiesen sind. Sie müssen den Menschen beiuns die Angst nehmen, dass etwas auf sie zukäme, dem sienicht gewachsen wären. Die Osterweiterung bringt unsnur Vorteile; aber man muss es den Leuten sagen.
Was Sie auch überhaupt nicht bedenken, ist Folgendes:Die Verzögerungstaktik, die Sie hier betreiben, führtnatürlich zu erheblichen innenpolitischen Problemen inden beitrittswilligen Ländern. Sie fühlen sich vernachläs-sigt und an der Nase herumgeführt, wenn man ihnen im-mer wieder in Aussicht stellt, dass sich bald etwas rührenwerde, sich in Wirklichkeit aber nichts rührt. Ich habe denVerdacht, dass Sie, weil Sie wissen, wie ängstlich unsereBevölkerung diese Dinge betrachtet, in den Verhandlungs-runden dafür sorgen wollen, dass die eigentlich heiklenund kritischen Themen vor unserer Bundestagswahl 2002überhaupt nicht auf die Tagesordnung kommen. In diesemPunkt müssen wir Tempo anmahnen.
Das muss jetzt schneller gehen; sonst erleben die bei-trittswilligen Länder innenpolitische Rückschläge, mitdenen uns überhaupt nicht gedient ist.
Die transatlantischen Beziehungen sind schon ange-sprochen worden. Es ist doch erstaunlich, dass es geradeim Bereich der Handelspolitik erhebliche Irritationengibt. Die Gefahr des Protektionismus ist nach wie vornicht gebannt. Ich warte in dieser Sache ebenso auf Ini-tiativen der deutschen Bundesregierung wie in den Berei-chen nukleare Abrüstung, Nichtverbreitung, Teststopp imZusammenhang mit dem amerikanischen Raketenab-wehrsystem NMD.Wo bleiben – ich nenne nur Stichworte – deutscheInitiativen? Lateinamerika, Asien, Afrika: Fehlanzeige!UN-Reform: Nichts! Selbstverständlich wäre ein Sitz imSicherheitsrat im deutschen Interesse. Was die Außen-wirtschaft angeht, ist festzustellen, dass insbesondere derMittelstand dringend auf Förderungen durch die Regie-rung angewiesen ist. Wir warten vergeblich.
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Ulrich Irmer12977
Ich komme zu Ihrem Vorpreschen in Sachen Nord-korea. Ehe die Frage der Straflager in Nordkorea nichtdurchleuchtet und nicht geklärt ist, sollten wir meinerMeinung nach – ich erinnere an die Menschenrechte –keine Vorleistung erbringen. Nordkorea ist am Zuge; esmuss mehr tun.
Die deutsche Außenpolitik ist deshalb so desolat, weilsie sich nicht an den internationalen Notwendigkeiten undGegebenheiten, nicht an Werten und auch nicht an deut-schen Interessen, sondern nur an der innenpolitischen Ak-zeptanz bei der grünen Klientel orientiert.
Es ist Zeit, dass unsere Außenpolitik wieder in liberaleHände kommt. Dort ist sie gut aufgehoben.Danke.
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Dr. Helmut Lippelt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Mon-tag dieser Woche hat die „International Herald Tribune“ miteinem Foto des Bundeskanzlers aufgemacht. Danebenkonnte man lesen, dass es, nachdem Tony Blair viel vonseiner Ausstrahlung verloren habe, nachdem sich in ParisPräsident und Ministerpräsident befehdeten und die USAin der bekannten Krise steckten, unter allen demokrati-schen Führern dieser Welt der deutsche Bundeskanzlersei, der Orientierung gebe und Zuversicht ausstrahle.Sie können anderer Meinung sein; das ist völlig klar.Man kann über diese Angelegenheit denken, wie manwill. Nur eines geht nicht: Man kann nicht in einen Antragschreiben, nach zwei Jahren rot-grüner Regierung habedie deutsche Außenpolitik an Einfluss verloren. Man kanndieser Regierung nicht vorwerfen, sie habe die deutsch-amerikanischen Beziehungen beschädigt, wenn gleich-zeitig in demjenigen Blatt, das auf diesem Gebiet die Mei-nungsführerschaft besitzt, zu lesen ist, dass das Gegenteilzutrifft. Sie können diese Ansicht nicht so einfach auf-rechterhalten. Wer so urteilt, muss sich im Gegenteil man-gelnde Lektüre der internationalen Presse und Realitäts-verweigerung in hohem Grade vorwerfen lassen.
Wer so urteilt, ähnelt einem Mann, der an nordfriesischenDeichen sitzt, über das weite Watt den ablaufenden Was-sern nachschaut und immer wieder sagt: Land unter, Landunter. – Daran haben mich einige Reden erinnert.
Ich möchte drei Punkte zum Nachweis der Konzepti-onslosigkeit nennen – nicht dieser Regierung, sondern desvon Ihnen vorgelegten Antrags –:Erstens. Sie werfen uns mangelnde Glaubwürdigkeit,fehlende Berechenbarkeit usw. vor. Seit mehr als zehnJahren, seit 1989, war klar, dass der Kosovo-Konflikt aufuns zukommt. Die von Ihnen getragene Regierung undder von Ihnen getragene Außenminister haben es – unteranderem in Dayton und bei den anschließenden Normali-sierungsgesprächen in Belgrad – versäumt, eine präven-tive Außenpolitik zu betreiben und auf die Krise einzu-wirken. Das einzige Bestreben der damaligen Regierungbestand darin, Flüchtlinge – bis in den Krieg hinein –zurückzuschicken.
Die neue Regierung erbte den Krieg, als außenpolitischschon nichts anderes mehr zu machen war, als ein bere-chenbarer Bündnispartner zu sein. Der ist sie gewesen.Gleichzeitig hat sie dann all ihre konzeptionelle Kraftsofort in Pläne zur Beendigung des Krieges gesteckt. Vomersten Tag des Ausbruchs an ist das geschehen. Nicht um-sonst ist ja der dann aufgestellte und verwirklichte Frie-densplan mit dem Namen unseres Außenministers ver-bunden. Allgemein wird international doch anerkannt undakzeptiert, dass der danach zur Festigung des Friedens imAuswärtigen Amt entworfene und schließlich durchge-führte Stabilitätspakt auf die deutsche Außenpolitikzurückgeht. Sie können ja sagen, Herr Rühe, das liege da-ran, dass da so gute Beamte seien. Das Problem ist, dassder Ideenreichtum dieser Beamten überhaupt erst durcheinen Minister freigesetzt werden musste. Das Amtmusste überhaupt erst wieder in Gang kommen. Vorherherrschte doch nur Frustration in dem Hause. Hören Siesich doch einmal um.
– Ja, ja. Ihre Vorstellung hier war pures Kabarett, HerrIrmer. Diese Aufforderung kann ich nur zurückgeben.Herr Rühe, Sie loben in ihrem Antrag KFOR undUNMIK, stellen aber dann fest, dass der bisherige Politik-ansatz zur Lösung nicht ausreiche. Das kennen wir auchaus anderen Anträgen Ihrer Fraktion. Sie wurden jedoch,als Sie Ihren Antrag noch niederschrieben, vom Ausgangder Wahlen in Jugoslawien überrascht. So fügten Sieebenso verlegen wie trotzig zu Ihren falschen Behauptun-gen hinzu, dass alles „trotz der Abwahl Milosevics nicht... ausreicht“. Sie begriffen überhaupt nicht oder wollennicht begreifen, dass die Abwahl Milosevics unter ande-rem auch aus dem Wunsch des serbischen Volkes resul-tierte, die ihm mit dem Stabilitätspakt gereichte Hand Eu-ropas zu ergreifen.
Die Serben wählten Milosevic ab, um dem Stabilitätspaktbeitreten zu können. Sie aber jammern hier, es fehle ein
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Ulrich Irmer12978
politischer Rahmen für die militärische Tätigkeit. Es warein politischer Rahmen da, der sich enorm bewährt hat.Dieses war und ist ein Höhepunkt der außenpolitischenErfolgsgeschichte dieser Bundesregierung.
Zweitens. Ich gehe im Zusammenhang mit der Euro-papolitik nicht auf das ein, was Sie zu Hausaufgaben ge-sagt haben. Zu diesem Thema hat Ihre Fraktion eine völ-lig hoffnungslose Aktuelle Stunde durchgeführt. In derhaben wir dieser Fraktion sehr schön nachgewiesen, dassdiese Regierung mit dem Schröder-Vorschlag sehr wohleinen Vorschlag gemacht hat, der die Dinge voranbringt.Ich weiß nicht, ob Sie ihn überhaupt zur Kenntnis ge-nommen haben.
Sie greifen dankbar die Rede Prodis auf, ohne zu se-hen oder gar den Zusammenhang herzustellen, dassdiese Rede der vom deutschen Außenminister ausdrück-lich erwünschte Beitrag des Kommissionspräsidenten zuder von ihm in Gang gesetzten Debatte über die ZukunftEuropas ist.
Es haben sich viele europäische Politiker von Chirac,Védrine über Geremek bis Prodi beteiligt. Aus Ihren Krei-sen haben sich Herr Schäuble, Herr Pflüger und HerrLamers beteiligt.
Im Übrigen haben viele von ihnen eher Fischer unter-stützt. Hier wird es doch erst interessant. Es stellt sichdoch nun, an Sie, Herr Rühe, gerichtet die Frage: TeilenSie die Meinung Prodis?
– Rezzo, lass einmal. Ich kläre jetzt die Sache auf, damitdie nicht weiter herumfantasieren.Teilen Sie die Hauptthese Prodis, dass der Hohe Re-präsentant für Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich indie Kommission gehöre und nicht dem Rat unterstellt undfür die Abstimmung europäischer Außenpolitik zuständigsein solle? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie dieseMeinung teilen. Darüber müssen Sie sprechen. Sie dürfennicht nur Honig aus der Kritik Prodis saugen, sie müssenauch auf den Kern der Sache eingehen. Dazu hätten wirhier eine Stellungnahme von Ihnen erwartet.Drittens: Menschenrechtspolitik. Da hören wir jawieder den Vorwurf – Herr Irmer verwies so schön da-rauf –, die Bundesregierung fordere Menschenrechts-politik nur von den Kleinen ein, während die Bundesre-gierung vor den Großen kusche. Ihre Vorwürfe zumUmgang mit China haben Sie von der früheren Opposi-tion übernommen. Damals konnten sie mit größeremRecht als von Ihnen heute erhoben werden. Uns stehendoch noch die Bilder vom Kotau des früheren Bundes-kanzlers vor der chinesischen Volksarmee vor Augen.
Wir wissen doch noch, dass Wei Jingsheng – kaum warder Bundeskanzler auf dem Heimflug in Thailand zwi-schengelandet – wieder verhaftet und zu 14 Jahren Kerkerverurteilt wurde. Sie müssen zugeben: Das sah jetzt etwasanders aus. Der jetzige Bundeskanzler war in der Lage,seine geplante China-Reise nach dem katastrophalenFehlschuss der NATO auf die chinesische Botschaft sofortin den Dienst von Bündnisnotwendigkeiten zu stellen, diezur Begleitung geladene Wirtschaftsdelegation zu Hausezu lassen, sich auf das Notwendige zu konzentrieren.Seine Entschuldigung wurde im Gegensatz zu den Ver-suchen der amerikanischen Politik akzeptiert und damitdie Grundlage zur chinesischen Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat gelegt,auf der der Kosovo-Krieg zu Endegebracht werden konnte. Das müssen Sie doch als Erfolgder Bundesregierung sehen.
Bei der zweiten Reise war er dann sehr wohl in derLage, die Wirtschaftsgespräche mit der Diskussion überFragen der Religionsfreiheit, der Institutionalisierung ei-nes Rechtstaatsdialogs zu verbinden, der doch in vollemGange ist. Oder haben Sie das nicht bemerkt?
Ich gehe auf Tschetschenien nur kurz ein, denn dieZeit läuft mir zu sehr davon.
Dieser Außenminister hat immer darauf hingewiesen,dass die Regierungen natürlich in bestimmte Notwendig-keiten – in den Abrüstungsdialog, in die Aufrechterhal-tung der russischen Einbindung – eingebunden sind, dassaber wir mehr sagen könnten. Das trifft jetzt nicht Sie. DieF.D.P. war diejenige, die bei dem interfraktionellen An-trag mit der SPD und uns sofort mitgezogen hat; aber diePartei des Hauptredners hat diesen Antrag nicht mitgetra-gen. Herr Rühe, machen Sie sich das erst einmal wiederklar!
Sie haben doch bei den deutlichen Worten dieses Parla-mentes zur Tschetschenien-Frage geschlafen.
Herr KollegeLippelt, Ihre Zeit ist jetzt wirklich „Land unter“.
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Dr. Helmut Lippelt12979
Herr Präsident, ich bedanke mich. Ich bin beim letzten
Satz.
Der alleinige oder Co-Verfasser des Antrags, der
Schattenaußenminister der CDU, wurde vorgestern mei-
ner Erinnerung nach zum zweiten oder dritten Mal nach
den schleswig-holsteinischen Wahlen im Auswärtigen
Ausschuss gesehen. Der Antrag wird ihm gewiss Gele-
genheit geben, sich intensiv an den dortigen Debatten zu
beteiligen. Vielleicht ist es ihm dann ja auch möglich, sich
etwas von dem von ihm entworfenen Bild deutscher
Außenpolitik als Produkt seiner eigenen Wünsche und
seiner Einbildungskraft zu entfernen und einer einiger-
maßen realistischen Diskussion näher zu treten.
Ich gebe
dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die Fraktion der
PDS das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsi-dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war schonsehr gespannt, wie die Fraktion der CDU/CSU ihren An-trag begründet. Anders als Kollege Lippelt tippe ich nichtauf eine Autorenschaft des Kollegen Rühe. Ich finde denAntrag pfiffiger als die Rede, die er hier gehalten hat, wasnur zeigt: Ein Rühe macht eben noch keinen Lamers. Dasbekam man heute vorgeführt.
Der Titel des Antrags suggeriert, Deutschland hättekeinen außenpolitischen Einfluss bzw. hätte diesen unterRot-Grün verloren und die CDU/CSU müsste es jetztrichten. Ich glaube, dass es einfach Unsinn ist, zu be-haupten, dass der außenpolitische Einfluss verloren ge-gangen wäre. Ich finde eher, Deutschland hat zu vielaußenpolitischen Einfluss; darüber wäre zu reden.Aber selbst wenn dem so wäre, wie es im Antrag steht,dann müsste die CDU/CSU hier doch einmal erklären,wieso sie in den letzten zwei Jahren bei allen wichtigenaußenpolitischen Fragen mit der Regierungskoalition undnicht gegen sie gestimmt hat.
Dann müssten die CDU/CSU wie auch die F.D.P. ein-mal erklären, warum sie hier immer wieder die grundsätz-liche Übereinstimmung des ganzen Hauses minus PDS inFragen der Außenpolitik betonen. Das passt alles nicht zu-sammen. Das, was geschrieben worden ist, ist ein Vor-führantrag, und er eignet sich natürlich auch glänzend,euch vorzuführen; das muss man ja einmal dazusagen.
Ich behaupte einfach, die CDU hätte, wenn man sie ge-lassen hätte, im Wesentlichen nichts anderes gemacht alsdas, was die Regierungskoalition gemacht hat – mit einemUnterschied: Bei der CDU wusste man das, bei der Re-gierungskoalition, die anders angetreten ist, muss man dasbedauern, finde ich.Ich will nichtsdestotrotz einige Punkte aus dem Antragder CDU/CSU einmal aufgreifen, bei denen ich finde,dass sie tendenziell Recht hat. Ich glaube nur, ihre Lösun-gen sind ganz andere als die, die mir vorschweben.Ich finde, dass die CDU zu Recht den Unterschied zwi-schen der rot-grünen Menschenrechtsrhetorik, wie sieschreibt – Menschenrechtspolitik,würde ich sagen –, voneinst in der Opposition und der heutigen Praxis kritisiertund auf diesen Widerspruch aufmerksam macht. Rüs-tungsexporte, Türkei-Politik, die Veränderungen der Bun-deswehr weg von einer Verteidigungsarmee, die neueNATO-Strategie – all das sind Stichworte, an denen mandas belegen kann. Das müssen Sie sich dann auch anhörenund eingestehen. Sie müssen nicht so tun, als ob Sie schonimmer so gedacht hätten, wie Sie jetzt denken. Ich binmehr für eine Rückwärtswende Ihrer Politik in dieseRichtung. Ich kritisiere es, weil ich grundsätzlich in eineandere Richtung will.Aber ich verstehe gar nicht, warum die CDU das kriti-siert. Ich finde, die CDU sollte mit der jetzigen Außenpo-litik der Regierung zufrieden sein, heißt sie doch eigent-lich nichts anderes, als dass sich die Regierung auf demPfad bewegt, der von der CDU angelegt worden ist. DieCDU kann sich doch zugute halten, dass sie in diesemHause noch immer die Richtung der Außenpolitik be-stimmt, ohne dass sie regiert. Deswegen ist ihre Kritiknicht ganz nachvollziehbar.
Ich finde es richtig, dass die CDU/CSU in ihrem An-trag den Abwärtstrend in der Entwicklungspolitik be-nennt, dass sie auf eine aktive Rolle in den Vermitt-lungsbemühungen im Nahostkonflikt drängt. Ich weiß,Sie wollen in eine ganz andere Richtung gehen, aber ichfinde die Kritik erst einmal richtig, und ich findegrundsätzlich auch die Kritik an der Balkanpolitikrichtig.
– Das hätten Sie in den Debatten hier einmal ausführensollen. Aber da haben Sie immer Ihre Übereinstimmungbetont.Wer so formuliert wie Herr Rühe, der will ein selbst-ständiges Kosovo, der spielt mit dem Status des Kosovo.Das ist ein höchst gefährliches Spiel, gerade in der jetzi-gen Situation.Ich finde die Kritik in dem Antrag der CDU/CSU andem maßlosen Vergleich von Kosovo und Auschwitz völ-lig berechtigt. Dazu hätten Sie auch einmal etwas sagensollen oder sagen müssen. Aus meiner Sicht ist auch dieKritik am Fehlen von politischen Linien richtig. Die CDUnennt das Beispiel Afrika; die Liste könnte man beliebig
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erweitern: Russland, Ukraine, Belarus, Mittelamerika,Naher Osten.
Hier sind keine politischen Linien erarbeitet worden, unddas müssen Sie sich dann auch anhören.Die CDU unterstützt die Ambitionen der Regierung aufeinen Ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat. Aber ichsehe auch, wo Sie überall nicht oder unzureichend Posi-tion beziehen. Seien Sie froh, dass Sie ihn nicht haben,sonst müssten Sie nämlich Position beziehen. Dann würdedieses Durchlavieren in vielen Fragen nicht mehr durch-gehen.
Ich will abschließend zu diesem Punkt sagen, dass ichdie Kritik vieler Medien, Außenminister Fischer ersetzeAußenpolitik durch Menschenrechtspolitik, immer fürfalsch gehalten habe; das ist nicht zu kritisieren. Zu kriti-sieren sind aus meiner Sicht die doppelten Standards, diedort eingeführt worden sind, zu kritisieren ist die Inkon-sequenz in der Menschenrechtspolitik. Aber das war beider CDU auch nicht anders. Wenn Sie das kritisieren, fälltdas auf Sie selbst zurück.Ich will zum Abschluss versuchen, etwas zu dem zu sa-gen oder zumindest anzudeuten, was aus meiner Sicht imAntrag der CDU/CSU völlig fehlt. In den Alternativen istdieser Antrag nicht nur blass, sie sind gar nicht enthalten,da findet sich überhaupt nichts.Ich meine, dass eigentlich eine andere Debattenfrageaufgerufen ist, die wir sehr ernsthaft miteinander bespre-chen müssten. Deutschland ist nach der Vereinigung zueiner globalen Großmacht geworden, militärisch, poli-tisch und ökonomisch. Über das, was „globale Groß-macht“ bedeutet, muss man nachdenken. Man muss darü-ber nachdenken, ob man wirklich schon reif ist fürWeltpolitik und in welche Richtung die Weltpolitik gehensoll.
Diese neue Rolle muss diskutiert, bedacht und ausgefülltwerden.Die Bundesregierung macht das Zug um Zug in eineRichtung, die ich für falsch halte. Sie macht ihre An-sprüche deutlich in der UNO, in der EU, im Internationa-len Währungsfonds, in der Weltbank, bei G 7 und G 8. Dasist für die Regierung daran gekoppelt, sich auch mi-litärisch engagieren zu können – ich sage nicht: zu müs-sen oder zu wollen.Es ist für mich schlichtweg eine Katastrophe, wenn derGeneralinspekteur der Bundeswehr auf der jüngsten Kom-mandeurstagung von einer – ich zitiere ihn – „Verän-derung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee inein hochwirksames Instrument der deutschen Außen- undSicherheitspolitik“ spricht. Das ist erstens schlichtwegverfassungswidrig, weil der Verfassungsauftrag der Ar-mee festgeschrieben ist, und zweitens ist höchste Wach-samkeit angesagt, wenn eine Regierung auch nur darübernachdenkt, aus der Armee ein Instrument von Außenpoli-tik zu machen. Ich glaube, diese höchste Wachsamkeitmuss man dann auch an den Tag legen.
Was die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik angeht,denkt die PDS in eine andere Richtung. Deutschlandsollte sich darauf besinnen, die Großmachtrolle behutsamauszufüllen. Ich glaube nicht, dass Deutschland einenStändigen Sitz im Weltsicherheitsrat braucht. Ich glaubeauch nicht, dass sich Deutschland weltweit militärisch en-gagieren sollte. Ich möchte, dass an den völkerrechtlichverbindlichen Beschränkungen und Selbstbeschränkun-gen festgehalten wird, die gerade in Bezug auf Mili-täreinsätze wichtig sind.
Deutschland braucht mehr eine zivile und solidarischeAußenpolitik, die letztendlich verlässlich und berechen-bar sein muss. Über diese Meinungsverschiedenheitenmüssen wir streiten. Die Frage, wie die Rolle Deutsch-lands in der Weltpolitik auszufüllen ist, ist eine interes-sante Frage. Leider gibt der Antrag der CDU/CSU daraufkeine Antwort.Danke sehr.
Das Wort
hat der Bundesaußenminister, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freuemich, dass wir heute Gelegenheit haben, faktisch zurHalbzeit eine Debatte – eine kritische Debatte; wie könntees in einem Parlament auch anders sein? – über die ver-gangenen zwei Jahre deutscher Außenpolitik zu führen.Angesichts Ihres Antrags und – noch mehr – angesichtsIhrer Rede heute, Herr Rühe, muss ich feststellen: Wer dieaußenpolitische Tradition der CDU/CSU, die Bedeutung,die die Außenpolitik in der CDU/CSU hat, und auch IhreLeistung auf diesem Gebiet kennt, der kann nur traurig da-rüber sein, welche Rede Sie heute abgeliefert haben. Dasmuss ich Ihnen in der Tat sagen.
Durch dieses tief gesunkene Niveau wird auch bei de-nen ein verheerender Eindruck vermittelt, die noch nichtabgeschaltet haben. Ein solches Niveau habe ich in denvergangenen zwei Jahren bei Diskussionen im Auswärti-gen Ausschuss
und bei den Debatten in diesem Hause nicht kennen ge-lernt. Diese Einschätzung gilt auch für einige andere Re-debeiträge.Ich denke, das Thema ist viel zu wichtig, um solche Re-den zu halten. Ich verstehe zwar das Bedürfnis, hier eineAuseinandersetzung zu führen. Ich muss aber daran
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Wolfgang Gehrcke12981
erinnern, dass die großen außenpolitischen Kontroversenan der Sache und nicht an im Plenarsaal künstlich aufge-bauten Differenzen orientiert sein sollten, die es bei nähe-rer Betrachtung gar nicht gibt.
In diesem Punkt stimme ich Herrn Gehrcke zu: Es istdoch nichts Schlimmes dabei, wenn es in der Außenpoli-tik ein hohes Maß an Konsens im Deutschen Bundestaggibt.
Die Verlässlichkeit und die Berechenbarkeit der Bundes-republik Deutschland ist nämlich schon ein Wert an sich.
– Er wäre nicht schöner. Ich werde Ihnen das noch erläu-tern.Herr Rühe, Sie hätten Ihre Kritik nicht vorbringen kön-nen, wenn Sie sich etwas intensiver mit dem Thema be-schäftigt hätten und sich an den Debatten der mit dieserThematik beschäftigten Ausschüsse beteiligt hätten. Ichwerde Ihnen anhand der Europapolitik und andererPunkte nachweisen, dass die handwerkliche Untermaue-rung Ihrer Kritik schlicht und einfach nicht stimmig ist.
Ich denke, wir sollten die Debatte nicht auf dieser Ebeneführen. Ich würde mich freuen, wir hätten eine seriöseaußenpolitische Kontroverse. Ich wäre der Letzte, der beiKritik ad personam zurücksteckt. Warum sollte es keineKritik geben? Ich teile gern aus und muss deshalb aucheinstecken können.Aber entscheidend ist doch, ob wir in der Sache über-einstimmen oder ob wir eine Scheinkontroverse führen,angesichts derer sich die Menschen nur angewidert ab-wenden und sagen: So sind die halt im Parlament. – Ichdenke, die deutsche Außen- und Europapolitik – egal, obsie kontrovers oder konsensual diskutiert wird – ist we-sentlich besser, als sie von Ihnen heute dargestellt wurde.
Die entscheidende Frage ist: Was haben wir in derBundesrepublik Deutschland an Traditionssträngen mitbe-kommen? Angesichts unserer furchtbar missratenenGeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts istnicht nur die Wiedergewinnung der Souveränität ent-scheidend – fest verankert in den europäischen und trans-atlantischen Strukturen –, sondern auch die Tatsache, dassunsere Friedenspolitik unabhängig von den Regierungs-wechseln ist. Die Friedenspolitik war teilweise heiß um-stritten. Es hat sich aber schließlich immer ein Konsensdurchgesetzt.Friedenspolitik bedeutet Konfliktprävention. Wenn eseinen zentralen Leitsatz für die Politik dieser Bundesre-gierung gibt, ist er, dass wir diesen Strang unter den neuenBedingungen der Welt nach dem Ende des Kalten Kriegesfortsetzen wollen.
Das heißt, wir wollen Konflikte – die Welt wird immerKonflikte produzieren – möglichst so lösen, dass sie nichtzu einer Konfrontation oder gar zu einer Explosionführen.Ich war jüngst in Ostasien. Merkwürdigerweise sinddie Diskussionen mit den Abgeordneten, die man bei sol-chen Reisen dabei hat, immer ganz anders. Ich lade Sieein: Fliegen Sie am Montag mit nach Afrika, wenn Sie inder Afrikapolitik Defizite sehen! Ich bin zum zweiten Malin diesem Jahr in Afrika.
– Nicht im fünften Anlauf. Vergleichen Sie das doch ein-mal mit dem, was die Vorgängerregierung in dieser Hin-sicht getan hat! Die Zahlen liegen doch vor.
Sie können doch nicht so tun, als wenn Sie keine Vergan-genheit hätten.Wir werden immer wieder zu dem Punkt kommen– das haben jetzt wieder der Euromed-Prozess, die Kon-ferenz der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, derKommission und der Mittelmeeranrainer, und auch meinBesuch in Ostasien gezeigt –, an dem wir feststellen müs-sen, dass es in der Welt des 21. Jahrhunderts ein starkesBedürfnis nach Europa gibt. Nicht nach deutscher Welt-politik, sondern nach Europa wird gerufen.
Deswegen ist es von überragender Bedeutung, dass wirdieses Europa schaffen.Kollege Rühe, wir hatten leider persönlich nie die Ge-legenheit, diesbezüglich länger miteinander zu reden.Aber bezüglich der Europapolitik müssen Sie sich selbsteinmal fragen: Was will denn die Union? Das wissen Siedoch besser als ich.
– Ich meine nicht das, was im Antrag steht. Es gibt in derUnion doch die unterschiedlichsten Positionen. Es gibt zujeder europapolitischen Frage, ob Erweiterung, Vertie-fung oder anderes, mindestens fünf bedeutende Beiträgeaus dem CDU-Präsidium, die sich alle widersprechen.
Der oberste Leitkulturist hat gesagt, die Union werdenur zustimmen, wenn die Kompetenzabgrenzung bereitsin Nizza beschlossen wird. So Merz hier im Hause.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Heute hat er – Gott sei Dank, er hat gelernt – bereits denRückzug angetreten. Auch Volker Rühe hat angekündigt,dass er diese Position nicht durchsetzen wird. Ich findedas richtig; denn wäre das nicht der Fall, würden wir inNizza kein Ergebnis erzielen. Und wenn es ein Ergebnisgäbe, das im Deutschen Bundestag am Ende nicht ratifi-ziert würde, würde das bedeuten, dass wir fünf Jahrzehnteerfolgreicher Europapolitik aller Bundesregierungen in-frage stellen. Das würde selbst Herr Merz sich nichttrauen. Insofern ist Vernunft über ihn gekommen.
– Das ist kein Unfug. Ich und alle, die dabei waren, habendas hier gehört. Wenn das ein Popanz ist, dann heißt der Po-panz Merz und ist Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU.
Herr Kollege Rühe, lassen Sie mich Ihren Einwandbezüglich „maximal“ einmal ernsthaft aufnehmen. Ichverstehe das nicht. Hätten Sie sich den Helsinki-Be-schluss angeschaut, hätten Sie festgestellt, dass er nichtmaximalistisch formuliert ist. Das hätten Sie auch erken-nen können, wenn Sie sich die Reden Ihrer führendenEuropapolitiker angeschaut hätten. Kollege Pflüger, einsehr kompetenter Europapolitiker, sitzt direkt hinter Ihnen.
– Ist das jetzt eine Drohung, dass er hinter ihm steht? Ichweiß es nicht.
Auch Kollege Hintze ist ein kompetenter Europapolitiker.Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Regattaprin-zip allgemein begrüßt wurde, nach dem nach Maßgabedes Fortschritts der konkreten Verhandlungen – eine Be-wertung findet durch die Kommission in Fortschritts-berichten statt – und nach Abschluss ein Beitritt erfolgenkann, nach dem es also keine politisch motivierte Be-schleunigung und keine politisch motivierte Bremse ge-ben darf.
Dieser Helsinki-Beschluss hat hier im Hause einebreite Zustimmung gefunden.Kollege Schäuble hat jetzt einen anderen Vorschlag ge-macht. Er hat gesagt, man solle, ohne die konkreten Fort-schritte abzuwarten, zumindest bei den wichtigsten Län-dern jetzt gleich einen politisch motivierten Beitrittanstreben. Das wiederum wird von Edmund Stoiber hef-tig bekämpft und bekriegt.
Ich kann nur sagen, Kollege Rühe: Ihr müsst euchKlarheit darüber verschaffen – und zwar nicht in Formvon Formelkompromissen –, was ihr in diesem Punkttatsächlich wollt. Die Bundesregierung jedenfalls wird andem in Helsinki beschlossenen Prozess festhalten. Er istnicht maximalistisch, sondern erhebt die jeweiligen kon-kreten praktischen Fortschritte zum Maßstab für einenBeitritt.
Wenn Sie uns vorwerfen, wir seien im Hinblick auf dieErweiterung zögerlich, dann kann das ein Mitglied derVorgängerregierung nur bei völliger Ignoranz der Faktentun. Wann sind denn die konkreten Erweiterungsver-handlungen eröffnet worden, Kollege Rühe? Wissen Siedas? Soll ich es Ihnen sagen? In der zweiten Hälfte desJahres 1998 sind konkrete Erweiterungsverhandlungeneröffnet worden.
– Aber man kann doch nicht uns dies vorwerfen, diewir alles getan haben, um den Prozess voranzutreiben.Wann war denn der Gipfel von Luxemburg? Jahre sindzwischenzeitlich verstrichen. Es gab von BundeskanzlerDr. Helmut Kohl das Versprechen an Polen, dass es imJahre 2000 Mitglied der EU sein werde. Gleichzeitig istaber nichts Konkretes getan worden, um aus diesem vi-sionären Versprechen praktische Politik zu machen.
Und Sie kommen heute und werfen uns dies vor. Ichweiß, dies ist ein Scheinvorwurf. Denn in Wirklichkeit se-hen Sie das nicht sehr viel anders als wir, und zwar nichtdeshalb, weil dies eine außenpolitische Verschwörung ist,wie das die PDS meint, sondern schlicht und einfach des-halb, weil bestimmten Erfordernissen nachgekommenwerden muss: Die Erweiterung muss solide und praktischdurchführbar konstruiert werden. Gleichzeitig ist es un-verzichtbar, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Konse-quenz des Endes des Kalten Krieges im Jahre 1989 nichtnur die Wiedervereinigung Deutschlands, sondern auchdie Europas ist. Die europäische Einigungsidee würde,wenn dies nicht so gesehen würde, einen substanziellenSchaden nehmen. Deswegen werden wir alles in unserenKräften Stehende tun, dies zu verwirklichen.Wir wollen, dass Polen zu den ersten neuen Beitritts-ländern gehört; um das klipp und klar festzustellen.
Allerdings müssen in Polen die dafür erforderlichenVoraussetzungen geschaffen werden. Ich für meinen Teilkann Ihnen nur sagen: Die Bundesregierung wird alles tun,um die Erweiterung so schnell wie möglich Realität wer-den zu lassen.
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Bundesminister Joseph Fischer12983
Herr Bun-
desaußenminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Volker Rühe? – Bitte, Herr Rühe.
Herr Bundesaußenminis-
ter, die Kommission hat sich ja jetzt für eine Straffung
des Verhandlungsrahmens ausgesprochen. Da Sie, wie
Sie soeben festgestellt haben, wollen, dass eine Erweite-
rung so schnell wie möglich durchgeführt wird, möchte
ich Sie fragen, ob Sie sich hinter den Vorschlag der Kom-
mission stellen, die erste Verhandlungsrunde bis Ende
2002 abzuschließen, damit diejenigen, die die erforderli-
chen Voraussetzungen erfüllen, dann umgehend Mitglied
der Europäischen Union werden können.
Ich finde es sehr gut, wenn wir es bis dahin schaffen. Un-sere Haltung ist: möglichst schnell. Wenn dies bis dahinmöglich ist, dann gerne.Jetzt komme ich aber einmal zu Ihnen: Ihre derzeitigeHaltung ergibt sich daraus, dass Sie in der Oppositionsind. Früher, als ihr in der Regierung wart, konntet ihreuch folgenden Luxus nicht erlauben: Ihr fordert ein gutesdeutsch-französisches Verhältnis und gleichzeitig die Ein-führung der Kofinanzierung im Bereich des Agrarmark-tes.Wie soll das im Moment zusammengehen? Wir müss-ten Wunder vollbringen, wenn wir die politischen Faktenentsprechend ändern wollten.
– Sicher. Das habe ich Ihnen doch gesagt.
Wenn die Kommission die Verhandlungen bis dahin zumAbschluss bringt,
werden wir uns darüber freuen. Von uns wird es diesbe-züglich keine Bremse, keine Behinderungen und nichtsdergleichen geben. Im Gegenteil.
Herr Rühe, damit wir uns richtig verstehen: Dies solltekein Wunschdenken sein, sondern muss auch realisierbarsein.
Das heißt, wir müssen das schwierige Agrarmarktkapitelebenso wie einige andere Kapitel auch abschließen.
– Genau, ohne Verzögerung. Da gibt es überhaupt keinenDissens. Ihre Europapolitiker wissen das im Übrigen nurzu gut.Aber nun zur Vertiefung. Herr Rühe, mit der Europa-politik haben Sie sich nicht sehr beschäftigt; Sie haltensich nur an Überschriften. Ich möchte Sie fragen: Wie solldenn eine Union der 25, wie soll eine Union der 27 undwie soll eine Union der 30 funktionieren? Diese Fragemüssen wir parallel zur Erweiterung beantworten. Das istkein rhetorischer Trick nach dem Motto: Maximalismushier, Maximalismus da. Dies ist vielmehr ein Ergebnis desEndes des Kalten Krieges.Wie viele Ihrer Kollegen aus der Union, zum Beispielwie Kollege Schäuble, Kollege Pflüger und KollegeHintze, bin ich der Meinung, dass eine erweiterte Union,die in den substanziellen Fragen des politischen Eini-gungsprozesses nicht vorankommt – wir wollen einehandlungsfähige Europäische Union haben und die neuenMitglieder wollen in eine handlungsfähige EuropäischeUnion eintreten –, schlicht und einfach in eine Blockadegerät, das heißt handlungsunfähig wird. Deswegen ist dasSprechen über die Erweiterung und über die Vertiefungkein Trick. Ich hatte als Oppositionsabgeordneter dieselbePosition und habe hierbei Helmut Kohl unterstützt. Viel-leicht wäre es sinnvoll, dass auch die Opposition bei allerKritik, die es geben muss, einmal darüber nachdenkt. Ge-rade weil Europa an erster Stelle unseres nationalen Inte-resses steht, halte ich es für unverzichtbar, dass wir hiervorankommen. Dazu gibt es aus Ihrer Fraktion wichtigeBeiträge, von denen ich einiges gelernt habe. Das ist garnicht schlimm. Sie müssen sich darüber freuen.Wir müssen hier aber gemeinsam eine große Anstren-gung unternehmen. Ich freue mich, dass mittlerweileselbst der Bayerische Ministerpräsident von seiner Fun-damentalopposition abgekommen ist und auf der Grund-lage des Kompromisses einer Souveränitätsteilung zwi-schen Europa – „Wer macht was“ heißt: Die europäischenInstitutionen müssen mehr Handlungsmöglichkeiten er-halten, die ihnen heute teilweise nur eingeschränkt zu-stehen – und den Nationalstaaten wie auch der Neuord-nung der Institutionen zueinander zustimmt. In dieseRichtung sollten wir weiter diskutieren.Das deutsch-französische Verhältnis lebt natürlichauch aus seinen Spannungen heraus, aber es ist überausproduktiv, das gilt für die jetzige Bundesregierung, wie esfür die Vorgängerregierung gegolten hat. Selbstverständ-lich werden wir in Nizza gemeinsam auf Erfolg setzen.Aus meiner Sicht kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben dieChance, in Nizza zu einem erfolgreichen Abschluss zukommen. Das wird ein erster großer Schritt sein, der dieErweiterungsfähigkeit definiert. Herr Kollege Schäuble,wir sollten in Nizza nichts anstreben, was für Nizza nichtvorgesehen war.
– Sie haben aber so geguckt, als hätten Sie es gesagt. Dasmache ich auch manchmal.
Wir sollten Nizza nicht mit zu vielen Dingen befrach-ten. Der Kollege Lamers hat mir im November des ver-gangenen Jahres in einem Tête-à-tête gesagt, dass es imFalle der Erweiterung unbedingt zu einer verstärkten Zu-sammenarbeit kommen muss. Diejenigen, die bei der po-litischen Integration enger zusammenarbeiten wollen,
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müssen auch enger zusammenarbeiten können. Ich habedavon gelernt, das gebe ich offen zu. Er hat aber auch ge-sagt: Das schaffen Sie nie. Heute ist dieser Punkt am we-nigsten umstritten, und zwar auch aufgrund der deutsch-italienischen Initiative. Das muss man anerkennen.
– Nein, das ist nicht der Punkt für Sie, aber für die Euro-papolitiker, die etwas von der Sache verstehen, ist das einzentraler Punkt.
Es fehlt mir jetzt in dieser europapolitischen Debattedie Zeit, auf die anderen Punkte einzugehen. Die Paralle-lität ist in der Tat die zentrale Frage, denn sie wird nochlange zwischen den nationalen und europäischen In-stitutionen bestehen, sie wird auch die wachsende euro-päische Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreffen.Aber über diese Parallelität müssen wir immer wieder dis-kutieren. Ich stelle fest, dass wir seit einem Jahr, seit Ja-vier Solana im Amt ist, erhebliche Fortschritte in der ge-meinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erreichthaben.Sie haben uns Konzeptionslosigkeit vorgeworfen.Schauen Sie sich nur den Balkan an. Werfe ich Ihnen vor,dass wir heute noch mit Soldaten in Bosnien stehen? Ichhabe Ihnen damals zugestimmt. Ich gebe zu, zuerst warich dagegen, nach Srebrenica aber dafür und ich habe alsOppositionsabgeordneter hier ebenso wie bei der NATO-Osterweiterung zugestimmt. Viele meiner Kolleginnenund Kollegen haben das getan, andere waren dagegen.Uns aber vorzuwerfen, wir hätten kein Konzept, finde ichschlimm. Kollege Rühe, wir stehen heute noch in Bosnienund das verantworten Sie und ich mit.
– Aber Sie hatten doch kein politisches Konzept. Wir ha-ben den Stabilitätspakt aus den fünf Punkten über die Pe-tersberger Vereinbarung entwickelt. Wir haben Russlandwieder ins Boot geholt, was Sie immer gefordert, abernicht hinbekommen haben. Wir haben während der deut-schen Präsidentschaft die Initiative für die spätere Sicher-heitsresolution 1244 in Köln entscheidend angeschoben.Wichtiger ist aber noch: Der Stabilitätspakt ist entwickeltund implementiert worden. Gott sei Dank gab es jetzt diefriedliche demokratische Revolution in Belgrad und da-mit die Chance, den Balkan an Europa heranzuführen, umso zu einer dauerhaften Friedensordnung zu kommen.
Wenn das Konzeptionslosigkeit ist, lasse ich michgerne konzeptionslos schimpfen. Wenn die deutscheSprache aber einen Sinn macht, werden Sie das nicht alskonzeptionslos bezeichnen können.
– Die Lage im Kosovowill ich Ihnen auch gern erläutern.Ich stimme Ihnen zu: Die finale Statusfrage ist gegenwär-tig nicht zu entscheiden. Das ist aber eher eine Kritik, dieSie mit dem von mir sehr geschätzten Kollegen Lamersausdiskutieren müssen, denn wir sind an diesem Punktnicht über Kreuz.Dieser politische Prozess wird stattfinden und wir müs-sen so etwas wie eine regionale Sicherheitsstruktur, dieVertrauen schafft, aufbauen. Die Veränderungen in Bel-grad waren dafür die zentrale Voraussetzung. Sie sindnicht alles, aber ohne diese Veränderungen wäre es nichtgegangen.
Versöhnung muss auf Wahrheit gründen. Deswegen ha-ben wir den Vorschlag zur Einrichtung einer Wahrheits-kommission gemacht. Ich freue mich, dass Kostunicadiese Idee bereits aufgegriffen hat.Die Frage der Verschwundenen muss gemeinsamgelöst werden. Die Gefängnisse müssen geöffnet werden.Über das, was geschehen ist, muss die Wahrheit auf denTisch. Die legitimen Interessen aller Beteiligten – nichtnur der Serben und Kosovo-Albaner, sondern aller Betei-ligten in der Region – müssen anerkannt werden. In die-sem Zusammenhang ist auch ein Gewaltverzicht zu nen-nen. Nur durch eine friedliche Veränderung der Grenzenund durch Vereinbarungen kann ein Klima geschaffenwerden, in dem die finalen Fragen auf dem Kompromiss-weg angegangen werden können. Hinsichtlich Ihres Vor-schlages, jetzt ein Parlament zu wählen, um diesen Wegzu beschleunigen, habe ich große Zweifel; das muss ichIhnen ganz ehrlich sagen.Dies gilt auch für andere Dinge: Sie fordern manchmaldas Richtige und greifen dann aber ohne Rücksicht auf dieLogik oder die Realitäten zum völlig falschen Mittel. Ichfinde auch Ihre Haltung zu Russland – mit Verlaub ge-sagt – sehr fahrlässig. Ich weiß nicht, ob sie von IhrerFraktion geteilt wird. Ich hätte mir gewünscht, dassVolker Rühe, der mannhafte Streiter für Menschenrechte,im Ausschuss gewesen wäre, als Igor Iwanow, der russi-sche Außenminister, damals dort war. Ich war dabei.
Auch der Kollege Irmer ist für die Menschenrechtenicht gerade heldenhaft auf die Barrikaden gegangen,sondern ihr wart – mit Verlaub gesagt – dort alle sehr mo-derat.
– Das ist überhaupt keine Kritik. Aber ihr habt die Paral-lelität unserer Interessen gesehen. Das eine ist, Klartext zureden. Alle haben dort Klartext geredet. Dabei gibt es zwi-schen dem französischen Außenminister und mir keinenUnterschied. Sie können sich in Moskau erkundigen. Beider Tatsache, Klartext zu reden, gibt es kein Problem. DasEinzige, was geholfen hätte, wäre eine strategische Iso-lierung Russlands zu versuchen, die dann allerdings fataleWirkungen in die völlig falsche Richtung gehabt hätte.Darüber waren wir im Ausschuss immer einer Meinung.
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An Klartext hat es nie gemangelt, aber eine strategischeIsolierung wäre wirklich töricht gewesen.Die NATO-Erweiterung steht auf der Grundlage des-sen, was wir in Washington beim Jubiläumsgipfel be-schlossen haben.
– Halt! Auch ich hatte einmal eine Phase, in der ich im-mer alles sofort wollte. Offensichtlich sind Sie in derSpätphase Ihrer politischen Karriere in diese Phase einge-treten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich plädiere dafür, jetztdie EU-Erweiterung energisch voranzutreiben.
Ich will Ihnen sagen, warum. Dies wird nämlich auch einverändertes Sicherheitsumfeld schaffen. Zu der NATO-Erweiterung ist meine Meinung klar: Es darf für nie-manden ein Vetorecht geben. Aber die Ablehnung einesVetorechts heißt nicht, dass man die legitimen Interessenanderer Partner deswegen ad acta legt. Die Weisheit ge-bietet es, so vorzugehen, dass wir mögliche Konfliktemöglichst gering halten. Das gilt meines Erachtens auchfür die NATO-Erweiterung. Sie wissen ganz genau:Schwierigkeiten macht das Baltikum. Die Sensitivitäten,die dort existieren, müssen sehr sorgfältig diskutiert unddie Interessen abgewogen werden. Dies muss auf derGrundlage dessen geschehen, was in Washington in denentsprechenden Dokumenten vereinbart wurde.Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen:Nordkorea. In Bezug auf Asien können wir sagen: Wennwir den Balkan – Stichwort Kosovo – nicht an Europaherangeführt hätten, wenn wir nicht alle die Kraft gehabthätten, dort entsprechend einzugreifen, dann wären dieKrisen Asiens bis vor unsere Haustür gekommen.
– Ich will jetzt nur zu diesem Punkt sprechen.Wenn ich mir anschaue, mit welchen Krisen und Kon-flikten wir es im Nahen und Mittleren Osten zu tun ha-ben – dabei habe ich immer den nuklearen Rüstungswett-lauf vor Augen –, wenn ich den Kaukasus betrachte– Zentralasien und die Kaspische Meerregion –, wenn ichan die Talibanisierungsgefahr in Pakistan und den Rüs-tungswettlauf auf dem indischen Subkontinent denke undsich auch in Südostasien mit Indonesien und den Philip-pinen sehr instabile Situationen vorfinden, sich gleichzei-tig in Ostasien ein drohender Rüstungswettlauf und eingroßes Konfliktpotential aufbauen, wenn man weiß, dasses auf diesem Kontinent, der für uns von entscheidenderBedeutung ist, keine kooperativen Sicherheitsstrukturengibt und sich gleichzeitig ein Denken breit macht, bei demdas Misstrauen auf nationaler Grundlage gegenüber denanderen Fakten schafft, die sich hochzuschaukeln drohen,dann kann ich Ihnen nur sagen: Die Entwicklung auf dernordkoreanischen Halbinsel – Nordkorea war in diesemZusammenhang von den USA immer als ein Hauptargu-ment angeführt worden – ist ein wirklicher Hoffnungs-schimmer. Um diese Entwicklung zu verstärken, mussman abwägen.Die Frage ist: Wie sehr wollen wir solche Regimes,über deren Menschenrechtsverachtungen Sie mit mirnicht streiten müssen, einbinden? Oder: Wie weit lassenwir sie treiben? Das ist die Entscheidung. Deswegen wirddie Bundesregierung die Entscheidung im Rahmen ihresgrundsätzlichen Ansatzes zur Konfliktvermeidung je-weils im Einzelfall prüfen und entsprechend vorgehen.Es ließe sich jetzt noch vieles hinzufügen, meine Da-men und Herren;
ich habe meine Redezeit weit überschritten. Ich freuemich, dass ich Gelegenheit hatte, unsere Politik einmalkonzeptionell zu erläutern.
Ich hoffe, Herr Kollege Rühe, dass wir in den kommen-den Jahren verstärkt die Gelegenheit haben, dieses imAusschuss auf einer sachlichen Grundlage fortzusetzen.Vielen Dank.
Für die Frak-
tion der CDU/CSU spricht Kollege Christian Schmidt.
Herr Präsi-dent! Meine Kolleginnen! Meine Kollegen! Da ist er dochins Plaudern gekommen, der Herr Bundesaußenminister.So interessant viele Aspekte auch waren: Die eigentlichenFragen, auf die einzugehen war, Herr Minister, habe ichvermisst, nämlich die Grundfragen: Was sind die ent-scheidenden Positionen der deutschen Außenpolitik inZukunft? Was waren sie in der Vergangenheit? Wie ranktsich um diese Positionen herum die praktische deutscheAußenpolitik?Lassen Sie die Thematik, wer die Osterweiterung derEuropäischen Union erfunden hat, nicht an Volker Rüheaus.
Denn er war derjenige, der dafür gesorgt hat, dass im si-cherheitspolitischen Kontext Europas mit der NATO-Er-weiterung der erste wichtige Schritt getan worden ist.
Dass Polen, Ungarn und Tschechien heute dabei sind, warein Erfolg der alten Bundesregierung. Dass sie für die Er-weiterung der Europäischen Union die Grundsteine ge-legt hat, können Sie bereits jetzt in der „FAZ“ an denGrußadressen von Herrn Putin zum 10-jährigen Bestehendes deutsch-russischen Vertrages – damals noch desdeutsch-sowjetischen Vertrages –, zum bald bevorstehen-den 10-jährigen Jubiläum des deutsch-polnischen Nach-barschaftsvertrages, zum in zwei Jahren anstehenden
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10-jährigen des deutsch-tschechoslowakischen – jetztdeutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen – Ver-trages usw. sehen.
– Mit Ungarn, mit Bulgarien, mit Rumänien. Es war einGeflecht bilateraler Verträge, getragen von der zielgerich-teten Hoffnung auf eine baldige Eingliederung dieserLänder in ein Europa, zu dem sie gehören.Wir machen Ihnen nicht den Vorwurf, dass die Euro-papolitik ganz hinten anstünde. Ich möchte nur noch ein-mal auf die Frage der deutschen Präsidentschaft zurück-kommen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir hier– nein, es war noch in Bonn, aber es war die gleiche Si-tuation – zusammensaßen und in der Fragestunde dieCDU/CSU-Fraktion die Frage stellte: Wie sieht denn euerProgramm der Präsidentschaft aus? Der Bundesaußenmi-nister war damals nicht in der Lage, zu den angesproche-nen Punkten eine Antwort zu geben – nicht, weil er esnicht wollte, sondern, weil er es nicht wusste. Er hat mög-licherweise schneller gelernt als sein Bundeskanzler, dernicht nur bei Stilfragen unsicher ist. Lassen Sie sich dasbei dieser Gelegenheit einmal sagen.Wissen Sie, es gibt in der Außenpolitik einen Konsens,der auch den Stil betrifft. Wenn der deutsche Bundes-kanzler meint, er müsse einen Oppositionsantrag, der sichmit der Frage der deutsch-tschechischen Beziehung be-fasst, von Prag aus kommentieren, dann muss er sich lang-sam fragen lassen, ob er den Stilanforderungen seinesAmtes gewachsen ist.
Ich habe es mir wie alle unsere Kollegen zur Prämissegemacht: Solange der deutsche Regierungschef im Aus-land ist, wird er nicht kritisiert. Kritisiert wird er zuHause, und da anständig und ordentlich. Daran hat er sichaber auch zu halten.
Wer der neuen Form der Lässigkeit huldigt: so zu tun,als wäre Außenpolitik einfach so aus dem Handgelenk zuschütteln – weil ja jeder wie bei der Bundestrainerfrageüber Fußballspielen Bescheid weiß –, der unterschätzt dieProbleme der Außenpolitik.
Das Problem der Außenpolitik, nämlich die Frage, wel-che Konzeption damit verbunden ist, betrifft natürlich auchdie transatlantischen Beziehungen. Sie haben gefragt:Was will die Union denn? Einerseits sollen wir mit denAmerikanern kooperieren, andererseits wird kritisiert,dass zu sehr mit amerikanischen Interessen hantiert wird.Wer auch immer der neue Präsident wird – KollegeWeisskirchen weiß es offensichtlich schon, weil er mit demGore-Lieberman-Sticker hier sitzt; ich weiß es noch nichtund die Wähler in den USA offensichtlich auch nochnicht –: Er wird gewisse Dinge nicht zulassen und er wirddie Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nichtgutheißen. Er wird danach fragen, welchen Eindruck esmacht, wenn man in Helsinki headline goals verabschie-det und gleichzeitig in Köln vom Ansatz her bezüglich ei-ner Geberkonferenz in den nächsten Tagen richtige Posi-tionen vertritt, die – hoffentlich – von den anderenfinanziert werden sollen.
– Die Heiterkeit bei den Grünen ist nach dieser Debatteverständlich, aber Sie sollten Ihren Fraktionskollegenebenso wie ich die Frage stellen, wieso der Bundesaußen-minister zur Bundeswehrreform, die einen strategischenaußen- und sicherheitspolitischen Ansatz haben muss,nicht ein Wort gesagt hat, wieso Herr Scharping in seinemwindmühlenartigen Abwehrkampf gegen das Streich-konzept des Herrn Eichel seine eigenen Konzepte nichtbesser durchsetzt. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie Schwie-rigkeiten haben werden. Wenn die Stiftung Wissenschaftund Politik vor kurzem ausgeführt hat, die Krisenreak-tionsfähigkeit der Bundeswehr würde mit der geplantenKonzeption eher geschwächt als gestärkt werden, mussSie das auf den Plan rufen. Die Tatsache, dass der Bun-desverteidigungsminister bei den Vereinten Nationen inNew York die Bundeswehr auf dem Silbertablett anbietet,ohne vorher den Außenminister zu konsultieren – ichkann es mir nicht anders vorstellen –, legt den Verdachtnahe, dass hier Luftbuchungen vorgenommen und Luft-schlösser gebaut werden.
Da wird es für die deutschen Interessen problematisch.Geld ist zwar nicht alles, ist aber in vielen Fällen ent-scheidend. Dass im Haushalt des Bundesaußenmi-nisters zwischenzeitlich mit geschickten Transaktionen– ich unterstelle mal, er will mehr haben, wir würden ihndarin unterstützen und bitten alle anderen Fraktionen umMitwirkung – über den Umweg des Einzelplans 23, desBMZ, Gelder verschoben werden und dann am Ende we-der für die Entwicklungshilfe noch für die Außenpolitikmehr Geld zur Verfügung steht, sondern unter dem StrichKürzungen vorgenommen werden, ist bittere Realität.Diesen Tatsachen muss sich auch der Bundesverteidi-gungsminister im Verteidigungsausschuss stellen.Wir hatten auf Ihren Wunsch – übrigens mit unsererZustimmung, die uns nicht leicht gefallen ist – die Akti-vitäten in Bezug auf Osttimor akzeptiert. Ob wir dasheute noch tun würden, möchte ich ausdrücklich infragestellen. Es hat sich nicht nur ein reiner Symbolismus inder Politik gezeigt; auch die Frage, wie weit Sie Aktivitä-ten einer humanitären Intervention konzeptionell ausdeh-nen wollen, ist unbeantwortet geblieben. Sie haben in Ih-rer Rede vor den Botschaftern – ich glaube, es war am4. September – über die Begrenzung der deutschenAußenpolitik gesprochen. Die Tatsache, dass diese nichtmehr so wie 1990 begrenzt werden kann, ergibt sich ausder Natur der Sache. Über diese grundsätzliche Ansichtkönnen wir uns durchaus verständigen.
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Das bedeutet dann allerdings auch, dass Sie das durch-deklinieren müssen. Sie müssen auch in Ihren eigenenReihen die unangenehme Frage beantworten: Wie ist dasmit dem Primat der Vereinten Nationen?Wenn das so ist– auf der einen Seite einen Sitz im Sicherheitsrat anzu-streben und auf der anderen Seite ein Recht auf huma-nitäre Intervention zu postulieren –, muss man darüber re-den und auch fragen, wie und wie lange man dasdurchsetzen kann und wo die Maßstäbe dafür sind. Be-deutet das, mit dieser Bundeswehr – ausgezehrt durch diejetzige Entwicklung, nicht zuletzt auch durch die Ver-pflichtung, im Kosovo und in Bosnien aktiv zu sein –weltweit Menschenrechte zu schützen? Sie wissen, dassHerr Scharping damals, als wir über Osttimor gesprochenhaben, einem verstärkten Engagement ursprünglich nichtzugestimmt hat, weil er sonst das letzte Reservelazaretthätte aufbieten müssen.Sie müssen die Maßstäbe und Prioritäten Ihrer Politikdefinieren. Das haben Sie bisher nicht getan. Die „Klei-nigkeiten“, die beim deutsch-französischen Verhältnisnicht angesprochen worden sind, gehören übrigens zu die-sen Prioritäten. Sie haben die Fragen zu Nordkorea, diesowohl der Kollege Irmer als auch ich gestellt haben, ele-gant überspielt. Das kann er und das konnte er schon, alser noch auf den Abgeordnetenbänken saß. Das ist schonbeeindruckend.Jetzt stellt sich bloß die Frage, wieso eigentlich diefranzösische Ratspräsidentschaft bei dieser strategischwichtigen Frage für Europa überhaupt nicht beteiligt ist.Das muss uns doch zu denken geben. Kann es sein, dassein deutscher Staatsminister, der sowohl bei den Frage-stunden als auch im Auswärtigen Ausschuss durch be-sonders „parlamentsfreundliche“ Verhaltensweisen – ne-gativ – auffällt, dort hinfährt und sagt: Toll, das finde ichgut; Sie haben mich gut bewirtet; dann machen wir auchmal mit.
– Ich weiß, es war ein bisschen mehr dahinter.
Ich bin aber schon überrascht über die SPD-Fraktion.In der letzten Ausschusssitzung hat Ihre Sprecherin – sieist jetzt nicht da –, die Kollegin Ernstberger, dem Beden-ken zugestimmt, dass es zu früh war und dass die Frageder Gegenleistungen bei der Anerkennung Nordkoreasnicht geklärt ist. Ihre eigene Fraktion hat zugestimmt. Da-her müssen Sie sich schon fragen lassen: Wo ist denn dadie Strategie? Was soll das? Ist es wichtiger, als deutscheBundesregierung in solch heiklen Fragen vorn zu sein,oder ist es wichtiger, eine gemeinsame europäische Posi-tion zu haben?
Wer europäische Interessen als im Wesentlichen deutscheInteressen definiert, definiert sie richtig, muss dann aller-dings auch im europäischen Interesse handeln.
Ich befürchte, dass wir in Nizza die Probleme, die an-gesprochen worden sind – darüber wird nächste Wochebei der Regierungserklärung des Bundeskanzlers nochdiskutiert werden –, nicht unbedingt lösen werden. Soglänzend steht die französische Präsidentschaft vor Nizzanicht da.Ich will auf eines hinweisen: Wenn es Karl Lamers ge-schafft haben sollte, Sie, Herr Kollege Fischer, davon zuüberzeugen, dass die verstärkte Zusammenarbeit wichtigist, dann muss wohl der Rest der Union für sich in An-spruch nehmen, dass er Sie davon überzeugen konnte,dass die Frage der Kompetenzabgrenzung eine entschei-dende Frage für die künftige Struktur der EuropäischenUnion ist. Wenn es Ausdruck Ihrer Lernfähigkeit ist, dassSie von der Union lernen – von der Union lernen, heißt,gut Politik machen zu lernen –,
dann ist noch nicht alles verloren, dann ist auch die deut-sche Außenpolitik nicht verloren. Ich bin skeptisch; aberich warte darauf.
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Ich möchte mit einem herzlichen Will-kommen an den Kollegen Rühe beginnen. Herzlich will-kommen zurück auf der Erde! Sie haben offensichtlicheinen längeren außerplanetarischen Aufenthalt hinter sichgebracht.
Anders ist der Realitätsverlust, der sich in Ihrem Antragwiderspiegelt, nicht zu erklären.
Angeblich sprechen wir ja hier über einen Antrag.Tatsächlich ist es aber ein ungegliedertes Sammelsuriumvon Kritik und Vorwürfen an die Bundesregierung, durcheinen lustlos angefügten und dürren Forderungskatalognotdürftig in Antragsform gebracht. Man erfährt zwar,woran die CDU/CSU überall etwas auszusetzen hat, abernirgendwo etwas Verbindliches und damit Diskussions-fähiges zur Position der CDU/CSU, geschweige denn,dass ein Konzept oder wenigstens ein roter Faden er-kennbar wäre. Das ist schade. Denn eigentlich brauchenwir durchaus grundsätzliche Debatten zur Außenpolitik.Aber diese Vorlage ist dazu nicht geeignet. Insofern ist sieeine verpasste Chance.
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Notgedrungen muss man sich dann mit Ihrer Einzel-kritik und Ihren Einzelforderungen auseinander setzen.Dabei erhält man sehr schnell den Eindruck: Bei der Kri-tik ist alles inkonsistent und widersprüchlich; bei den For-derungen haben wir es mit Wunschlisten zu tun, die keineAuskunft über die Finanzierung geben.Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, Volker RühesWunschliste zusammenzustellen. Sie sieht folgender-maßen aus:Die Bundesregierung soll viel mehr Geld in die Bun-deswehr und in die europäischen militärischen Fähigkei-ten stecken. Sie soll den Auswärtigen Dienst besser aus-statten.
Sie soll den Etat für Entwicklungspolitik drastisch undunter Rückgängigmachung der regionalen und sektoralenSchwerpunktsetzungen aufstocken.
Sie soll mehr Mittel für die globalen Herausforderungenbereitstellen. Sie soll die Beschränkungen – man höre undstaune – der Agenda 2000 auflösen und mehr Geld in Eu-ropa stecken.
Sie soll die Transformation in den ostmitteleuropä-ischen Staaten stärker unterstützen.
Man könnte sagen: Prima, es ist ja auch bald Weihnachten.
Ich habe mir die Mühe gemacht, die aus den Anträgen,die Sie in den einzelnen Ausschüssen gestellt haben, re-sultierenden finanziellen Forderungen einmal durchzu-rechnen. Dabei habe ich festgestellt: Sie haben Forde-rungen erhoben, die Mehrausgaben von ungefähr100 Milliarden bis 120 Milliarden bedeuten würden,ohne zu belegen, wo das Geld herkommen soll.
Dazu kann ich nur sagen: Tut mir furchtbar Leid. Dasmacht es schwierig, sich mit Ihrem Antrag auseinander zusetzen. Er ist schlicht unseriös.
Da, wo Kritik geübt wird, verwickelt sich dieser Antragsofort in Widersprüche.
Ich möchte das an dem Beispiel, das schon JoschkaFischer angeführt hat, klarer machen. In Ihrem Antragwird die Bundesregierung aufgefordert, die Bei-trittsverhandlungen über die Erweiterung der Europä-ischen Union nicht länger zu verzögern. Das heißt also,wir haben bislang die Verhandlungen verzögert. Dannwird kritisiert, dass die Bundesregierung auf demHelsinki-Gipfel „leichtfertig weit reichende Entschei-dungen über die künftige Größe und Zusammensetzungder Europäischen Union getroffen” habe. Vorher hätte– das ist die Verbeugung vor Bayern – nämlich geklärtwerden müssen, welches Selbstverständnis, welche Ge-stalt und welche Grenzen die EU haben soll.Der Widerspruch besteht schon darin, dass zuerst ge-sagt wird: „Ihr verzögert”, und dann eine Forderung er-hoben wird, die, wenn man sie ernst nehmen würde, erstrecht zu einer großen Verzögerung führen würde. Nie-mand versteht, was Sie eigentlich wollen: einen baldigenAbschluss der Beitrittsverhandlungen oder einen längerenSelbstfindungs- und Definitionsprozess der EuropäischenUnion vor der Erweiterung. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von der CDU/CSU, das spiegelt leider den Stand Ih-rer Diskussion über die Osterweiterung wider.Ich habe mich – das kommt selten vor – über einen SatzIhres europapolitischen Sprechers, Herrn Hintze, gefreut,den er hier vor wenigen Wochen in der Haushaltsdebattegesagt hat: „Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion klippund klar Ja zur Osterweiterung.”
Prima, darüber sind wir uns einig.
Aber, Herr Klipp-und-Klar-Kollege, leider ist es dabeinicht geblieben; denn Ihr Fraktionsvorsitzender, HerrMerz, hat wenige Tage später gesagt, es sei ein schwererpolitischer Fehler gewesen, auf dem Gipfel in Helsinkidie Zahl der möglichen Beitrittskandidaten kritiklos aufelf angehoben zu haben. Es sind zwar nicht elf, sondern13 Beitrittskandidaten; aber man soll ja nicht kleinlichsein. Das ist ein Widerspruch zu dem, was Sie gesagt ha-ben, Herr Hintze, und lässt sich mit Ihrem klipp und klargeäußerten Ja zur Osterweiterung gar nicht vereinbaren.Herr Stoiber hat gesagt, bevor die Osterweiterungmöglich sei, müsse erst die Frage der Kompetenzabgren-zung innerhalb der EU geklärt sein. Des Weiteren hat erdavor gewarnt, schon im Jahr 2004 neue Länder in dieEuropäische Union aufzunehmen. Frau Merkel hat ge-sagt, sie sei für einen frühen Beitrittstermin. In einem le-senswerten Aufsatz, der in der „FAZ“ am 22. Septembererschienen ist, hat Ihr Kollege Herr Pflüger unter anderemgeschrieben, zu lange seien die Kandidatenländer dannmit der Aussicht auf einen festen Beitrittstermin hinge-halten worden. Er hat hinzugefügt, er sei für den großenBeitritt, für den großen Knall. Aber Sie, Herr Hintze, ha-ben Nein zur Konvoilösung gesagt.Außerdem hat Herr Pflüger in dem Aufsatz geschrie-ben, er sei dafür, dass die ersten Kandidaten spätestens –da hat er sich genau festgelegt – zum 1. Oktober 2004 derEU beitreten. Ihr Kollege aus dem Europaparlament, HerrMarkus Ferber, ist dagegen der Meinung, die ersten Kan-didaten könnten erst ab 2007 beitreten. Herr Rühe hat sichfür 2003 als Beitrittstermin ausgesprochen. KajoSchommer, Sachsens Wirtschaftsminister, hat wiederumeinen anderen Termin genannt und hat hinzugefügt, er
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Gernot Erler12989
halte Spekulationen über Beitrittstermine grundsätzlichfür fatal. Wenn man sich das alles anschaut, dann mussman feststellen, dass bei Ihnen ein großes Durcheinanderherrscht.
Fazit: Sie sagen nicht, wie viele Kandidaten der Euro-päischen Union beitreten sollen. Sie behaupten zwar, dasses zu viele seien; aber Sie sagen nicht, welche Ländernicht beitreten sollen. Sie legen sich nicht fest. Sie haltenden Beitrittsprozess einerseits für zu schnell und anderer-seits für zu langsam. Sie sind einerseits für und anderer-seits gegen Terminsetzungen. Bei den Terminen haben Siealles im Angebot. Es reicht von 2002 bis 2007. Hinsicht-lich der Europapolitik sieht es bei Ihnen wie auf einemHühnerhof aus, auf dem alles hin- und herrennt. Ein sol-cher Hühnerhof braucht einen Leitgockel, der Ordnungschafft. Herr Rühe, Sie wären die ideale Besetzung. Dafürwären Sie geeignet. Machen Sie das doch! Sie würden unsallen damit einen Dienst erweisen.Sie müssen sich, um ernst genommen zu werden, ent-scheiden. Wollen Sie die gute Tradition Ihrer Fraktion inBezug auf die Europapolitik aus Ihrer Regierungszeitfortsetzen, nämlich beim Integrationsprozess vorne blei-ben, Avantgarde sein, für andere ein Vorbild abgeben,oder wollen Sie das Erweiterungsthema zu populistischerWahlkampfmunition kleinhäckseln und bei dieser großenHerausforderung der europäischen Geschichte versagenund letzen Endes den Versuch machen, das ganze Themazu einem Werkzeug zu instrumentalisieren, das dazu die-nen soll, dass Sie zu Mehrheiten und zur Macht zurück-kehren? Sie haben sich ganz offensichtlich noch nicht ent-schieden. Das zeigen diese eigenartigen Widersprüche.Aber die Öffentlichkeit und die Medien haben das ge-merkt und erwarten von Ihnen Klarheit in dieser Frage.Ich will zum Abschluss den Journalisten Richard Mengaus der „Frankfurter Rundschau“ vom 24. Oktober 2000zitieren. Sein Artikel trug die Überschrift: „Die haltloseUnion“. Er schreibt zu diesem Thema:In den großen außenpolitischen Fragen, beispiels-weise bei der Integration des Nationalen in einzusammenwachsendes Europa, leistet die Union sichein Sowohl-als-auch, das nur in abstrakten Sonntags-reden zusammenpasst. Konkret ist sie hin und herge-rissen und auch hier höchst populismusanfällig.Dem habe ich nichts hinzuzufügen.Es gibt weitere Beispiele für die Inkonsistenz IhrerForderungen, zum Beispiel im Falle von Russland. HerrRühe, Sie schaffen es in einem einzigen Absatz Ihres An-trages, die Bundesregierung aufzufordern, die russischeRegierung zu Reformen für ein stärkeres Engagement eu-ropäischer Investoren zu drängen, und im gleichen Kon-text zu sagen, dass weitere staatliche Kredite so langenicht gewährt werden sollten, so lange die erforderlichenVoraussetzungen für den Aufbau einer Marktwirtschaftnicht gegeben sind und der Krieg in Tschetschenien nichtbeendet ist. Ich fordere Sie auf, Herr Rühe: Gehen Sie ein-mal nach Moskau zur Repräsentanz der deutschen Wirt-schaft. Dort gibt es seit vielen Jahren 900 deutsche Fir-men, die Pionierarbeit leisten, die wir anerkennen sollten.
Lassen Sie sich dort einmal über den Zusammenhangzwischen stärkerem Engagement im Sinne von Investitio-nen auf der einen Seite und der Notwendigkeit einer Kre-ditabsicherung auf der anderen Seite berichten. Beidesgehört zusammen. Deswegen hat die Bundesregierungrichtig gehandelt, als sie die Voraussetzungen für die Fort-setzung der Hermeskredite geschaffen und somit dieSchwierigkeiten aus dem Weg geräumt hat. Dies war eingutes Ergebnis, das beim letzten Besuch von GerhardSchröder in Moskau bei den Gesprächen mit Putin erzieltwurde. Wir sind auch froh darüber, dass über die so ge-nannten Petersburger Gespräche ein dauerhafter Dialogauf den Weg gebracht worden ist.
Das Beispiel Türkei zeigt ebenfalls Ihre Inkonsistenz.Sie fordern von uns alle Anstrengungen, um die Türkeiwirtschaftlich, politisch und institutionell enger mit Eu-ropa zu verbinden. – Damit sind wir einverstanden. Dazuhat auch die EU in Helsinki einen Beschluss gefasst. Siehat nach dem Scheitern des Luxemburg-Systems be-schlossen, dass es beim Kandidatenstatus der Türkei wei-ter vorangeht. Das haben alle europäischen Staaten mit-getragen.Was sagen Sie? Sie üben daran Kritik und sagen, dieVerleihung des Kandidatenstatus sei verfrüht gewesenund wir hätten dazu gedrängt. Das ist ein kompletter Wi-derspruch. Es ist auch völlig inkonsistent, dauernd zu kri-tisieren, dass wir eine zurückhaltende Rüstungsexportpo-litik gegenüber der Türkei betreiben, und dann zubetonen, wie wichtig der Partner Türkei ist. Wenn Europasagt, durch den Kandidatenstatus der Türkei fördere mandort eine vernünftige Entwicklung, so finden Sie diesfalsch. Das ist eine völlig widersprüchliche Politik.
Ich komme abschließend kurz zu Ihren Forderungen.Ich habe schon gesagt, dass diese eher lustlos klingen undlediglich angehängt sind. Sie benutzen hier die Methode,die Bundesregierung dauernd dazu aufzufordern, das zutun, was sie sowieso schon tut oder schon getan hat. Siefordern zum Beispiel mehr Engagement bei globalen He-rausforderungen. Sie nehmen überhaupt nicht zur Kennt-nis, dass die Entwicklungsministerin Frau Wieczorek-Zeul mit der Kölner Schuldeninitiative etwas Konkretesgemacht hat, das mehr wert ist als die Sammlungen vonForderungen, die Sie in Ihre Anträge hineingeschriebenhaben.
Wir sind auch froh, dass der Bundeskanzler die Ziel-setzung der G-7- oder G-8-Staaten unterstützt, bis zumJahr 2015 eine Halbierung der Armut auf der Welt zu er-reichen. Das hat die volle Zustimmung meiner Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Gernot Erler12990
Dann sagen Sie, Herr Rühe, wir sollten die Rüstungs-exportrichtlinien überarbeiten und eine verbindliche eu-ropäische Regelung befördern. Offenbar waren Sie wie-der auf irgendeinem Planeten, als wir Ende letzten Jahres,Anfang dieses Jahres dies gemacht haben. Sie können jasagen, dass es Ihnen nicht gefällt, dass wir zum BeispielMenschenrechte als Kriterium für Rüstungsexporte indiese Richtlinien eingebaut haben, nachdem Sie 16 Jahrelang nichts getan haben, sodass das Wort „Menschen-rechte“ in den Rüstungsexportrichtlinien überhaupt nichtvorkam.
Außerdem haben wir genau das gemacht, was Sie verlan-gen, Herr Schmidt. Der Code of Conduct ist jetzt für dieBundesrepublik verbindlich.
– Wenn Sie natürlich die Realitäten überhaupt nicht zurKenntnis nehmen, dann kommen Sie eben zu solch ei-genartigen Dingen.
Schließlich verlangen Sie ein Regionalkonzept fürden Kaukasus. Sie haben offenbar nicht gemerkt, dassder Bundeskanzler schon im März in Tiflis war und dortals erster größerer europäischer Staatsmann auf der Basisunserer positiven Erfahrungen in Südosteuropa einen Sta-bilitätspakt für den Kaukasus gefordert hat und dass dieOSZE längst mit deutscher Unterstützung ein entspre-chendes Konzept auf den Weg gebracht hat. Auch hierstellen Sie also Forderungen, die in Wirklichkeit schonlängst reale Politik dieser Bundesregierung sind, die vonder Regierungskoalition voll und ganz unterstützt wird.Herr Rühe und Ihre Freunde, es wird Ihnen nicht ge-lingen, hier den Eindruck zu erwecken, dass es bei derdeutschen Außenpolitik ein Problem mit Vertrauen,Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit gibt. In Wirklich-keit weiß die ganze Welt, dass unsere Außenpolitik ver-lässlich, professionell und kreativ ist. Ich mache Ihnen ei-nen Vorschlag: Vergessen Sie ganz schnell diesen Antrag!
Außenpolitik hat etwas Seriöseres als das verdient, wasSie hier anbieten. Verlassen Sie nicht den wichtigenaußenpolitischen Grundkonsens. Wir sind bereit, mit Ih-nen ernsthaft über Außenpolitik zu diskutieren, aber nichtauf der Basis dieses Antrags.
Zu einer
Kurzintervention – um 12.47 Uhr liegt die Betonung auf
„kurz“ – gebe ich dem Kollegen Peter Hintze das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Ich muss dem Kollegen Erler dasKompliment machen, dass er sich mit wichtigen Textender Union, mit Aufsätzen und Reden, gründlich beschäf-tigt hat. Ich muss das Kompliment aber leider dahin ge-hend modifizieren, dass er sie nicht richtig verstanden hat.
Deswegen möchte ich hier zur Klarheit beitragen.Rühe, Pflüger, Merz, Hintze, Lamers, Stoiber – in allenReden und Schriften findet sich ein klares Ja zur Ost-erweiterung als ein Gebot der moralischen, politischenund ökonomischen Vernunft. Wir haben es zugesagt. Esschafft Stabilität in Europa und Wohlstand und soziale Si-cherheit für alle Beteiligten. Daran gibt es überhaupt kei-nen Zweifel.Nun haben Sie gesagt, Herr Merz habe hier im Deut-schen Bundestag vorgetragen, dass in Helsinki die Kandi-datenzahl zu sehr erhöht worden sei, und haben das alseinen Widerspruch empfunden. Ich löse diesen Wider-spruch für Sie gern auf: Wir glauben, dass die Osterwei-terung gerade dann gelingt, wenn der Kreis der Kandida-ten, die übrigens zum Teil mit Osteuropa gar nichts zu tunhaben – denken Sie einmal daran, was in Helsinki hin-sichtlich der Türkei beschlossen wurde –, nicht so großwird, dass es praktisch und politisch schwer wird, denBeitrittsprozess wirklich zügig voranzubringen. Dies warunsere Sorge, die wir hier zum Ausdruck gebracht haben.
Nun möchte ich das noch einmal konkret auf den Punktbringen. Wir haben zwei Probleme. Das eine Problem ist,dass der Kandidatenkreis so sehr ausgeweitet wurde. Daszweite Problem ist, dass die Beitrittsverhandlungen imMoment zu schleppend geführt werden. Formal führt siedie Kommission; de facto werden sie von der Präsident-schaft geführt. Die deutsche Europapolitik hat natürlichentscheidenden Einfluss darauf, wie sie geführt werden.Unsere Auffassung ist, dass sie zu schleppend geführtwerden. Wir haben die Fortschrittsberichte und sehen,dass die Länder, die beitrittsreif sind, schon sehr weit ge-kommen sind. Wir wünschen, dass auch die komplizier-ten Kapitel wie Landwirtschaft und Arbeitnehmerfreizü-gigkeit zügig auf die Agenda kommen und verhandeltwerden, damit den politischen, moralischen und ökono-mischen Versprechen Taten folgen.Wir hätten uns in dieser Hinsicht von der Bundesregie-rung etwas mehr erwünscht, als beispielsweise Österreichzu drangsalieren oder Herrn Hombach zu installieren. Icherinnere auch an andere Vorgänge, die den Prozess der eu-ropäischen Einigung hemmen.Ich bin sehr froh, dass wir mit der heutigen Debatteeinmal die Gelegenheit haben, hinsichtlich der Außen-bzw. der Europapolitik ein paar Dinge klarzustellen. Des-wegen war diese Debatte zentral und wichtig. Wenn Sie,lieber Kollege Erler, die von Ihnen zitierten Reden nach-lesen– Sie können sie alle mit Gewinn auch zweimal lesen –,dann werden Sie vielleicht feststellen, dass sich der von
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Gernot Erler12991
Ihnen entdeckte Widerspruch vielleicht doch nicht so dar-stellt, wie Sie es vermutet haben.Schönen Dank.
Zur Erwi-
derung hat der Kollege Erler das Wort.
Herr Kollege Hintze, bei Ihrer
„Langintervention“ habe ich eben daran gedacht, wie es
wäre, wenn es demnächst zur Rettung Österreichs einmal
einen Film mit dem Titel „Der Rächer der Entrechteten“
mit Herrn Hintze in der Hauptrolle gäbe.
Jetzt zu Ihrem Vorwurf, ich könne nicht lesen. Fraglich
ist nicht, ob ich lesen kann. Das Problem besteht darin,
dass andere Menschen lesen können. Sie lesen zum Bei-
spiel im Protokoll der Haushaltsdebatte vom 14. Septem-
ber dieses Jahres die Aussage von Herrn Merz:
Deswegen war es ein schwerer politischer Fehler,
dass Sie die Zahl der möglichen Kandidaten beim
Gipfel in Helsinki kritiklos auf 11 angehoben
haben ...
– Er hat „elf” gesagt. Zu den elf gehört die Türkei nicht
dazu.
Herr Rühe hat am 18. September in der „Frankfurter
Allgemeinen“ für eine „realistische Erweiterung“ – so
steht es auch in Ihrem Antrag – geworben. Außerdem hat
er dort gesagt:
Mit 13 Staaten auf einmal zu verhandeln ist eine Le-
benslüge der Europapolitik. Es müssen Unterschiede
gemacht werden.
Übrigens, Herr Rühe, es wird gar nicht mit 13 Staaten
verhandelt, sondern nur mit zwölf.
Können Sie sich vorstellen, wie die Wirkung solcher
Sätze auf die zwölf Kandidaten aussieht?
Sie fragen doch, was Ihr Hinweis darauf, dass es zu
viele sind, bedeutet.
Was heißt „realistische Erweiterung“? Sie müssen
doch einmal sagen, wer aus dem Kreis der Beitrittskandi-
daten herausfallen soll, mit wem man also die Verhand-
lungen einstellen soll.
Die Frage nach der Bedeutung dieser Aussage wird im
Ausland an uns gerichtet. Sie müssen sich die Wirkung
solcher Worte überlegen.
Herr Hintze, ich höre Ihre Worte gerne. Sie sind der
Klipp-und-Klar-Politiker, der zur Osterweiterung Ja sagt.
Sorgen Sie dafür, dass auch alle Ihre Kollegen so denken;
dann haben wir eine gemeinsame Basis. Aber verunsi-
chern Sie die Kandidatenländer nicht, die sich die Frage
stellen, was die Hinweise darauf, dass es zu viele Bei-
trittskandidaten sind und dass Unterschiede gemacht wer-
den sollen, bedeuten.
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4383 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Das Haus ist damit
einverstanden. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Evelyn Kenzler, Maritta Böttcher,
Roland Claus, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Demokratisierung des Wahlrechts
– Drucksache 14/1126 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 14/2150 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Erwin Marschewski
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Die Fraktionen haben sich auf eine Redezeit von einer
halben Stunde verständigt. – Das Haus ist einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst der Kol-
legin Dr. Evelyn Kenzler für die Fraktion der PDS das
Wort.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Dank der Vereinigten Staatenist das Thema Wahlen dieser Tage absolut in. Wenn jen-seits des großen Teichs ein altertümliches Wahlsystem zueinem grotesken Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlenführen sollte, dann wird sich sicherlich wieder einmal zei-gen, wie sehr das Wahlrecht den Nerv des Volkes berührt.Dass man die Ausgestaltung des Wahlrechts nicht hochgenug schätzen kann, hat wohl kaum ein anderer so gutwie der spanische Philosoph Gasset mit folgenden Wortenzum Ausdruck gebracht:Das Heil der Demokratien, von welchem Typus undRang sie immer seien, hängt von einer geringfügi-gen, technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Al-les andere ist sekundär. ... Ohne diese Stütze einer
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Peter Hintze12992
vertrauenswürdigen Abstimmung hängen die demo-kratischen Institutionen in der Luft.Genau darum geht es der PDS mit dem vorliegendenGesetzentwurf, gerade vor dem Hintergrund unserer Ver-antwortung für ein Wahlrecht in der DDR, das faktischkeines war. Es geht uns um den Ausbau der demokrati-schen Institutionen in unserem Lande, um ihre Veranke-rung auf einer möglichst breiten Basis der in der Bundes-republik Deutschland lebenden Menschen.Die erste Lesung unseres Gesetzentwurfs zur Demo-kratisierung des Wahlrechts machte mir diesbezüglichzunächst durchaus Hoffnung. Kollegin Deligöz verwieszum Beispiel ausdrücklich darauf, dass einige unsererVorschläge, wie die Senkung des Wahlalters auf16 Jahre oder das kommunale Wahlrecht für ausländi-sche Bürgerinnen und Bürger, zumindest zum Teil auchim Programm von Bündnis 90/Die Grünen enthaltenseien. Sie appellierte an die Fraktionen, sich gemeinsaman einen Tisch zu setzen, um über die Reformmaßnahmenzu debattieren. Auch Kollege Funke verwies auf die Ver-besserungsfähigkeit und -bedürftigkeit unseres Wahl-rechts und die Diskussionswürdigkeit und -notwendigkeitunserer Vorschläge.Es gab natürlich, für uns nicht überraschend, auch an-dere Stimmen, wenngleich ich sie nicht in dieser Schärfeaus den Reihen der SPD erwartet hätte. So sah KollegeFriese in dem Gesetzentwurf einen „alten Hut“. Abge-sehen davon, dass alte Hüte manchmal auch sehr kleidsamsein können, ist das Anliegen meines Erachtens aktuellerdenn je.
Aber Sie hatten natürlich Recht, wenn Ihnen unser Anlie-gen bekannt vorkam. Das geht uns allerdings bei neuaufgelegten Gesetzentwürfen anderer Fraktionen, ein-schließlich denen der SPD-Fraktion, auch nicht anders. Eshandelt sich also um eine gängige Praxis und einen Aus-druck von politischer Beharrlichkeit und nicht um Be-schäftigungstherapie oder mangelnde Kreativität.Wenn Sie uns vorwerfen, populistische Forderungenzu vertreten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Ja, wirbemühen uns – neben der Einführung von Volksentschei-den auf Bundesebene – auch auf dem Wege der Refor-mierung des Wahlrechts darum, die Bürger wieder stärkerin die Politik einzubeziehen.
Was daran populistisch sein soll, ist mir schleierhaft. Fürmich ist es jedenfalls Ausdruck eines gehörigen Maßes anparteipolitischer Selbstgefälligkeit, wenn Sie fordern, esden Parteien selbst zu überlassen, wie sie den Dialog mitden Wählern führen, und allein auf eine Einigung zwi-schen den Fraktionen setzen. Das Wahlrecht geht doch inerster Linie die Bürger selbst etwas an. Die Behandlungvon Grundsatzfragen der parlamentarischen Demokratie,von denen Sie richtigerweise in diesem Zusammenhangsprechen, sind doch kein Privileg der Parteien. Genaudiese Haltung, die hier zum Ausdruck kommt oder zumin-dest durchscheint, befördert Politik- und Politikerver-drossenheit bei den Bürgern.Gestatten Sie mir, kurz auf einige wesentliche Ein-wände zu unseren Vorschlägen einzugehen. Dabei möchteich nicht von ungefähr mit der Einführung des Wahlrechtsfür ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger begin-nen. Wenn sich die demokratischen Kräfte in diesen Ta-gen verstärkt gegen rechtsextremistische und fremden-feindliche Bestrebungen in unserem Lande wenden, dannist das eine wichtige Seite der Medaille. Die Integrationder hier lebenden ausländischen Bürgerinnen und Bürger,nicht zuletzt auch durch die Einräumung des Wahlrechts,ist die andere.
Wenn der Bundeskanzler den Aufstand derAnständigenin der Gesellschaft verlangt, dann müssen wir auch hierim Parlament über verschiedene Möglichkeiten der stär-keren politischen Integration der Ausländer reden.Das Grundgesetz sagt nicht ausdrücklich, dass Aktiv-bürgerrechte den Deutschen vorbehalten sind, auch wennes in der Vergangenheit selbstverständlich war, dass dasWahlrecht an die Staatsbürgerschaft geknüpft wurde. In-zwischen wurde bekanntlich aufgrund des MaastrichterVertrages allen Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaa-ten der EG auch in Deutschland das aktive und passiveWahlrecht bei Kommunalwahlen verliehen, sofern siehier wohnen. Art. 28 Abs. 1 des Grundgesetzes musstedeshalb entsprechend geändert werden. Insofern habenwir bereits einen Wandel vom Staatsvolk zum Wohnvolkeingeleitet. Da Ausländer aus anderen Staaten der EGebenso wenig Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sindwie Angehörige von Staaten außerhalb der EU, entfallendie früheren verfassungsrechtlichen Bedenken, falls dieseAusländer ihren Wohnsitz in Deutschland haben. WennSie nicht so weit wie wir gehen wollen, dann müssen Siesich zumindest die Frage gefallen lassen, warum Sie keineeigenen Vorschläge zur Einführung eines Kommunal-wahlrechts für die hier lebenden Ausländer ab einer be-stimmten Aufenthaltsdauer unterbreiten.
Das wäre ein wichtiges Zeichen gegen Fremdenfeindlich-keit und Rassismus in unserer Gesellschaft; das solltenwir doch gemeinsam setzen.Zur Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre kann ich nursagen, dass ich immer dafür bin – wie von Kollegen vor-geschlagen –, auch Erfahrungen, die die Länder damit ge-macht haben, nutzbar zu machen. Das mache ich umsolieber, als ich keine negativen Erfahrungen aus den Län-dern kenne, die mich davon abhalten könnten, einer poli-tisch reifer werdenden Jugend dieses Grundrecht nicht zu-zuerkennen.
Nebenbei bemerkt: Warum das Recht auf Irrtum ein spe-zifisches Recht der Jugendlichen sein soll, verstehe ichnicht.Last but not least: Die leidige Fünfprozentklausel ist,wie wir alle wissen, seit ihrem Bestehen umstritten. Ichschenke es mir deshalb, die bekannten Argumente aufzu-zählen, die für die Abschaffung dieser Klausel sprechen.
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Dr. Evelyn Kenzler12993
Ich bin mir sicher, dass auch Sie mir die gegenteiligen Ar-gumente ersparen werden.Nur so viel: Mancher Befürworter dieser Klausel ist heuteangesichts geschwundener Wählerzustimmung ver-stummt. Wenn durch die Aufhebung oder zumindest Ab-senkung dieser Klausel die eine oder andere Partei zu-sätzlich in den Bundestag käme, könnte man dann nichtvielmehr mit einem stärkeren Engagement im Vorfeld derWahlen, mit einer höheren Wahlbeteiligung und mit mehrPluralität im Parlament rechnen? Wie sieht es denn mit ei-ner Absenkung der Fünfprozentklausel zumindest bei denWahlen zum Europäischen Parlament aus?Abschließend: Herr Kollege Friese hat in der ersten Le-sung zu unserem Gesetzentwurf am Schluss seiner RedeÄnderungen zum Bundeswahlgesetz mit eigenen Vor-schlägen angekündigt. Nun haben wir vor wenigen Wo-chen diese historischen Änderungen im 15. Gesetz zurÄnderung des Bundeswahlgesetzes nachlesen können.Besonders beeindruckt hat mich – wie Sie sicher schonahnen – die Abschaffung der Briefumschläge bei der Ur-nenwahl. Gewünscht hätte ich mir einen wirklichenSchritt in Richtung Reformierung des Wahlrechts. Aberwas nicht ist, kann ja noch werden; die Wahlperiode istnoch nicht um.Danke.
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Harald Friese für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! So falsch kann man verstan-den werden. Ich habe gedacht, Frau Kollegin Dr. Kenzler,ich hätte am 9. September 1999 eine besonders liebevolleRede gehalten. Sie haben mich jetzt aber geradezu alsWahlrechtswüstling hingestellt. Ich nehme das einfachmal so hin.
Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass ich Ihnennamens der Fraktion Gespräche angeboten habe. Dazuwill ich aber gleich noch kommen.Ihre Aussagen bezüglich des Dialogs der Parteien mitden Bürgern kann ich aber nicht stehen lassen. Sie habenin Ihrer Begründung geschrieben, ein System wirklichkonkurrierender Parteien fördern und alle Parteien zumDialog mit den Wählerinnen und Wählern zwingen zuwollen. Dagegen habe ich mich gewandt. Wir könnendoch nicht gesetzlich regeln, wie die Parteien in den Dia-log mit den Bürgern treten. Wenn die Parteien das nichtvon sich aus machen, werden sie schon die Quittung vonden Bürgern bekommen. Es ist aber eine ureigenste Auf-gabe der Parteien selbst, zu entscheiden, wie sie ihren po-litischen Dialog nach außen darstellen und organisierenwollen.Ich möchte zunächst eine Feststellung in Richtung An-tragstellerin machen: Sie haben Ihren Gesetzentwurf sehrdilatorisch behandelt. Ich habe Ihnen in der ersten LesungGespräche angeboten. Sie haben das Gespräch nicht ge-sucht. Ich habe den Eindruck – ich wiederhole das aus derersten Lesung –, Sie wollen eine Ablehnung, um sagen zukönnen: Da sieht man es wieder einmal, die etabliertenParteien sind gegen eine Demokratisierung des Wahl-rechts. Das haben Sie in der 12. Legislaturperiode ver-sucht; das haben Sie in der 13. Legislaturperiode versucht;das gleiche Spiel machen Sie in der 14. Legislaturperiode.Ich meine, schon die Überschrift „Demokratisierungdes Wahlrechtes“ lässt tief blicken. Wahlrecht ist Kernbe-standteil einer Demokratie. Ohne Wahlen, die auf denGrundsätzen der allgemeinen Wahl, der freien Wahl, deröffentlichen Wahl, der geheimen Wahl und bei uns auchder unmittelbaren Wahl beruhen, kann es keine Demokra-tie geben.
Da habe ich etwas Probleme mit Ihrer Begrifflichkeit: Siewollen ein Wesenselement der demokratischen Grund-ordnung, einer parlamentarischen Demokratie, demokra-tisieren. Da komme ich nicht so ganz mit.In Ihrer Begründung schreiben Sie auch, dass es Ihnenum die Überwindung der Politik- und Parteiverdros-senheit geht. Diese gibt es, das bestreitet niemand. Aberlassen Sie mich Ihnen sagen: Ihre Therapievorschlägezeichnen sich durch eine bemerkenswerte Schlichtheitaus. Politik- und Parteiverdrossenheit durch die Abschaf-fung der Fünfprozentklausel und durch die Einführungvon Präferenzstimmen beseitigen zu wollen, das ist mirein bisschen zu kurz gesprungen. Wenn Sie meinen, dassschon dadurch die Vertrauenskrise zwischen Bürgern undParteien beseitigt werden kann, dann haben Sie sichgetäuscht. Die Ursachen liegen tiefer.Die Ursachen dafür, dass die Bürger kein Vertrauen inPolitik und Politiker mehr haben, liegen darin, dass diePolitiker und die Politik ihre Glaubwürdigkeit verlorenhaben. Wer zwei Tage im Untersuchungsausschuss warund das zwei Tage miterlebt hat – dass machen wir ja ge-meinsam –, der weiß, warum das so ist. Da wird die Aus-sage verweigert, da wird nichts gewusst, da kann man sichan nichts erinnern. Man kann sich dann nur sehr konkreterinnern, dass man sich an nichts erinnern kann – das weißman dann ganz genau. Da wird bedenkenlos Verfassungs-und Rechtsbruch begangen, wenn es der eigenen Parteiund der eigenen Machterhaltung dient. Da wird der poli-tische Wettbewerb, der Wettbewerb der Ideen, durch Geldersetzt. Da wird im Prinzip demokratiefeindliches Ver-fahren praktiziert. Davon wenden sich die Menschen mitRecht angewidert ab. Deshalb müssen wir dagegen kämp-fen. Wir müssen die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen,nicht formale Änderungen im Wahlrecht vornehmen, umPartei- und Politikverdrossenheit zu überwinden.Meine Damen und Herren, Wahlrecht ist ein ganz sen-sibles Rechtsgebiet. Hier darf kein Verdacht aufkommen,dass eine Partei Vorschläge macht, die nur ihrem eigenenInteresse dienen. Bei Ihrem Vorschlag, die Fünfprozent-
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Dr. Evelyn Kenzler12994
klausel zu streichen, habe ich ein wenig das Gefühl, dassdas eben doch in der Interessenlage der PDS liegt, weil sieSorgen hat für 2002. Nehmen Sie mir bitte nicht übel, dassich das so sage.Ich wiederhole: Wahlrecht ist ein sehr sensiblesRechtsgebiet, und wir sind der Auffassung, dass Ände-rungen nur dann vorzunehmen sind, wenn sie notwendigwerden. Man muss sehr behutsam an dieses Thema heran-gehen. Der Politikwissenschaftler Heinrich Pehle siehtdie Notwendigkeit dann, wenn das Wahlrecht sein Legiti-mationspotenzial verliert. Als Legitimationspotenzialnennt er die Chancengleichheit für Wähler und Parteienund auch die Nachvollziehbarkeit und Transparenzder Spielregeln. Dieses Legitimationspotenzial ist nichtberührt. Deshalb meinen wir, dass eine grundlegende Re-vision des Wahlrechts nicht erforderlich ist.Kurz zu Ihren Vorschlägen: Ausländerwahlrecht. Siewissen ganz genau, dass es in diesem Haus dafür keineZweidrittelmehrheit gibt. Das Problem des Art. 79 Abs. 3in Verbindung mit Art. 20 des Grundgesetzes können Siemit „Europa“ auch nicht wegdiskutieren. Der Begriff desStaatsvolks zählt nämlich zu den unveränderlichen Be-griffen und Inhalten des Artikels 20 und ist damit einerGrundgesetzänderung entzogen.Überhangmandate: Sie bewegen sich auf verfas-sungsrechtlich unglaublich vermintem Gebiet. WennÜberhangmandate durch Landeslistenplätze ausgeglichenwerden sollen, muss ich Sie fragen: Von welcher Landes-liste sollen dann die Plätze gestrichen werden? Damitwürden Sie nachträglich das Wahlergebnis auf Landes-ebene korrigieren. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen: DasBundesverfassungsgericht wird das nicht mitmachen.
Das Problem hat sich auch entschärft. Einmal durch dasWahlkreisneugliederungsgesetz, aber auch durch dasneue Wahlkreisgesetz, über das wir im Augenblick disku-tieren, wird sich die theoretische Zahl der Überhangman-date, die immer noch möglich sind, deutlich reduzieren.Damit ist das verfassungsrechtliche Problem eindeutigentschärft.Zur Frage der Präferenzstimmen: Sie stellen sich einStück mehr Demokratie vor, wenn in Nordrhein-West-falen 70 Namen auf der Landesliste stehen, die der Wähleralle nicht kennt. Dass das ein zusätzliches Stück Bürger-demokratie sein soll, kann ich auch nicht nachvollziehen.
Was sich auf kommunaler Ebene bewährt hat, muss aufLandesebene noch lange nicht richtig sein. Ich sage Ihnen:Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse beiWahlen. Bei diesem Satz wissen Sie, was ich meine.Schließlich zum Wahlalter 16:Dieses Thema ist in derpolitischen Diskussion, aber auch hier füge ich hinzu: Wirwollen die Erfahrungen abwarten, die mit der Senkungdes Wahlalters auf 16 gemacht wurden. Die Senkung hatteals Ziel und Zweck, zusätzliche Partizipation von Ju-gendlichen zu erreichen. Wenn das der Fall ist – und dafürbraucht man Erfahrungen –, dann werden wir darüberauch hier ernsthaft und ergebnisoffen diskutieren.Wir werden Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Er ist einSammelsurium von Vorschlägen. Ich möchte noch einmalden Politikwissenschaftler Heinrich Pehle zitieren, deruns, dem Parlament, eine Note gibt. Pehle sagt: Wir habenes mit einem Wahlgesetzgeber zu tun, der von seinemHandwerk nicht sonderlich viel versteht.Das kann ich so nicht stehen lassen. Was Herr Pehlesagt, muss ich in aller Form zurückweisen. Wir verstehenvon unserem Handwerk schon etwas.Wenn wir aber diesem Antrag zustimmen würden,dann hätte Herr Pehle Recht. Recht will ich ihm in demZusammenhang aber nicht geben. Wir werden diesen Ge-setzentwurf ablehnen.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! In einem hat der Kollege Friese völlig Recht: DiePDS ist eine langweilige Partei.
– Ich werde es Ihnen gleich belegen. Sie ist eher grau alsrot. Von Ihnen haben wir schon lange nichts Neues mehrgehört. Parlamentarisch dokumentieren Sie Ihre Einfalls-losigkeit dadurch, dass Sie immer wieder die gleichen, diealten, die untauglichen Vorschläge zur Beratung vorlegen,so auch bei diesem Gesetzentwurf, Frau Kollegin. Denkennen wir seit Jahren.So beraten wir in erster Lesung, im Ausschuss, dannnoch in zweiter und dritter Lesung im Deutschen Bun-destag, und das Ergebnis ist immer das gleiche: Alle an-deren Fraktionen des Hohen Hauses lehnen Ihre Vor-schläge ab,
nicht weil sie von der PDS sind – wir haben im Ausschusssehr lange über diese Vorschläge diskutiert –, sondernweil sie das Wahlrecht einfach nicht verbessern.Doch um die Meinung dieser großen Mehrheit im Bun-destag schert sich die PDS immer noch nicht, genauso wiein alter Zeit, sehr verehrte Frau Kollegin. Stattdessen wer-den unverdrossen alte Anträge abgeschrieben, neu einge-bracht und dann hier diskutiert.Wenn Sie Anträge abschreiben wollen, die gut sind,dann wäre es besser, Sie würden das tun, was die SPDdiese Woche gemacht hat. Sie hat unsere Vorschläge hin-sichtlich kinderreicher Familien von Beamten akzeptiert.Zunächst einmal hatte die SPD sie abgelehnt, dann aber
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Harald Friese12995
wortgleich übernommen, unter eigener Fahne eingebrachtund dann schließlich beschlossen. Dies ist zwar etwaspeinlich für die SPD. Aber es zeigt immerhin, wie man et-was Wirkungsvolles erreichen kann.Zu Ihrem Gesetzentwurf: Sie wollen das Wahlalterauf 16 Jahre senken.
Das könnte verlockend sein. Sie wissen aber auch, dassder Mythos der Linken als Jungwählermagnet hin ist.
Wir werden uns dieser Forderung Ihres Gesetzentwurfsnicht anschließen.Gleiches gilt für die Regelung hinsichtlich der Fünf-prozentklausel. Übrigens: Wenn man den jungen Men-schen mehr Rechte gibt, dann muss man ihnen auch mehrPflichten geben. Deswegen können wir diesem Gesetz-entwurf nicht zustimmen.
Es wäre vielleicht besser – ich will nur kurz darauf ein-gehen –, zum Beispiel das Wahlrecht der über 500 000im Ausland lebenden Deutschen anders zu regeln. Es istnämlich so kompliziert, dass die Menschen nicht zur Wahlgehen. Dieses Wahlrecht müsste geändert werden.Es wäre selbstverständlich sinnvoll – ich fordere dieserneut –, die Legislaturperiode auf fünf Jahre auszu-dehnen.
Kaum sind wir ins Parlament gewählt, wird erneut ge-wählt. Das ist nicht gut.Es ist Freitagnachmittag. Daher will ich es sehr kurzmachen: Wir sind mit Ihren Vorschlägen nicht einverstan-den. Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab.
Aber wirklich
ungewöhnlich kurz! Vielen Dank im Interesse aller.
Jetzt hat der Kollege Cem Özdemir das Wort.
FrauPräsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stehe natür-lich jetzt, nachdem sich der Kollege Marschewski kürzergefasst hat, als es seine Redezeit vorsah,
stark unter dem Druck, es ihm nachzutun.
Sie wissen, dass meine Fraktion sehr gerne zu demThema „mehr Demokratie“ redet. Der Hintergrund ist,dass wir Kinder der Demokratie- und der Bürgerrechts-bewegung sind, lieber Max Stadler.
– Wir wissen das noch sehr genau und arbeiten im Ge-gensatz zu Ihnen daran.Allerdings – darauf haben verschiedene Vorredner be-reits hingewiesen – ist das, was Sie vorgelegt haben, liebeKolleginnen von der PDS, wahrlich nicht sehr originell.Es ist eine Stoffsammlung dessen, was Sie in den vergan-genen Jahren gemacht haben. Ich glaube aber, dass jedeFraktion ein Recht darauf hat, dass ihre Anträge ernsthaftberaten werden. Deshalb will ich mich im Folgenden kurzmit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf auseinan-der setzen.Ein Punkt in diesem Gesetzentwurf ist die Senkungdes aktiven Wahlalters auf 16 Jahre. Ich möchte nichtverhehlen, dass wir vom Bündnis 90/Die Grünen Sympa-thien dafür hegen. Ich sage allerdings auch – darauf hatder Kollege Friese zu Recht hingewiesen –, dass man erstdie Erfahrungen auf der kommunalen Ebene abwartensollte. Gerade wenn man ernsthaft Interesse daran hat,dass dieses Thema noch populärer wird, sollte man diebreite öffentliche Debatte suchen und sollte sie mit denenführen, die gegenwärtig gegen eine Absenkung des Wahl-alters auf 16 Jahre sind.
Ich rede genauso wie Sie mit Jugendlichen. Was manvon denen hört, ist durchaus unterschiedlich. Wenn manfür die Absenkung des Wahlalters ist, dann muss manschon das ernst nehmen, was die Jugendlichen sagen.Meine Erfahrung ist – vielleicht sieht Ihre Erfahrung an-ders aus –, dass die Meinungen sehr unterschiedlich sind.
Auf der einen Seite gibt es Jugendliche, die sagen, dies seisinnvoll. Auf der anderen Seite gibt es Jugendliche, diedas Gegenteil erklären. Ich halte nichts davon, dass wirSechzehnjährigen erklären, was für sie gut und was für sieschlecht ist. Ich komme aus einer Partei, die dafür eintritt,dass Ältere den Jugendlichen nicht sagen, was sie zu tunoder zu lassen haben.Mein Appell: Lassen Sie uns diese wichtige Diskussionauf einer breiten Grundlage führen! Ich richte an dieUnion den Appell, ihren pauschalen Widerstand gegenmehr Jugendrechte, beispielsweise gegen ein Jugend-wahlrecht auf Landesebene, aufzugeben und hier in eineseriöse Diskussion einzutreten. Das kann der Demokratieinsgesamt nur gut tun.
Was die Grundgesetzänderung zum Ausländerwahl-recht angeht, möchte ich Sie bitten, zur Kenntnis zu neh-men, dass wir das Staatsangehörigkeitsrecht geändert ha-ben. Man kann sicherlich der Meinung sein – auch ich bin
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Erwin Marschewski
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dieser Meinung –, diese Änderung des Staatsangehörig-keitsrechts sei nicht weit genug gegangen. Wir bedauerndies ebenfalls. Ich glaube, auch Max Stadler bedauert das.Aber seine Fraktion war es, die das Gesetz in wesentli-chen Teilen verschlimmbessert hat.
Jetzt wird sie hoffentlich mit uns gemeinsam daran arbei-ten, das Gesetz an den entsprechenden Stellen wieder zuverbessern, Stichworte: Gebühren, Frist.Mit dem Staatsangehörigkeitsrecht haben wir das Ge-burtsrecht eingeführt. Dadurch haben wir in Deutschlandeine historische Zäsur. Das heutige Deutschland ist nichtmehr dasselbe Deutschland wie vor dem 1. Januar 2000.Das Ius soli ist in diesem Land eine neue Entwicklung. Ichverstehe nicht, warum Sie sich auf das Ausländerwahl-recht beschränken wollen. Ist es denn nicht viel mehrwert, wenn Menschen, die hier geboren sind, mit der Ge-burt gleiche Rechte und gleiche Pflichten erhalten, dasheißt Bürgerinnen und Bürger erster Klasse sind? DerWeg in das Ausländerwahlrecht ist ein Weg in die Ver-gangenheit. Der Weg zu gleichen Rechten über das Staats-angehörigkeitsrecht ist der Weg in die Zukunft.
Hier befinden wir uns übrigens in guter Gesellschaft mitunseren europäischen Nachbarn. Wir haben uns mit unse-rem Staatsangehörigkeitsrecht an das europäische Rechtangenähert, an ein Recht, das viele andere Länder prakti-zieren.Ich will mich aber auch hier ernsthaft damit beschäfti-gen. Ich rate Ihnen, das Urteil des Bundesverfassungs-gerichtes zum kommunalen Wahlrecht nicht außerAcht zu lassen. Man kann dieses Urteil unterschiedlichbewerten, aber es ist da. Das Risiko, dass man das Ver-fassungsrecht verfassungswidrig gestaltet, ist meinerFraktion zu groß, als dass wir diesen Weg für einen gang-baren Weg hielten. Ich halte auch nichts davon, Doppel-botschaften auszusenden, indem wir zwischen Wahlrechtund Einbürgerung differenzieren. Der Weg zum Wahl-recht führt darüber, dass man sich zu einer Gesellschaftbekennt und Bürger des jeweiligen Landes wird.Lassen Sie uns lieber über das kommunale Wahlrechtreden. Da gibt es wirklich ein Ärgernis, das meine Frak-tion beseitigen möchte. Wir möchten das kommunaleWahlrecht auch auf Drittstaatenausländer ausdehnen.Dieser Punkt steht in unserer Koalitionsvereinbarung. Siewissen, dass die Umsetzung bisher daran scheitert, dasswir keine verfassungsändernde Mehrheit haben. Das istaber eine Sache, die Ihre und unsere Energie lohnt. Ich ap-pelliere an Sie, dass wir uns dafür einsetzen.Zum Schluss noch eine Anmerkung zur Fünfprozent-klausel. Sie wissen, dass die Höhe der Klausel, die Sie ab-schaffen wollen, bisher auch dazu diente, Leute zu ver-hindern, die wir hier, glaube ich, alle nicht haben wollen:Leute von der NPD, die hoffentlich bald verboten wird,über die DVU bis hin zu den Republikanern und anderensehr unangenehmen Zeitgenossen.
Ich halte nichts davon, dass man die Debatte zu diesemThema durch eine völlige Beseitigung der Sperrklauselkaputtmacht. Ich glaube allerdings schon, dass wir mitBlick auf die Urteile, die es in diesem Zusammenhanggibt – Stichwort: NRW und Kommunalwahl –, bei ande-rer Gelegenheit darüber diskutieren sollten, ob wir nichtauf kommunaler Ebene weiter gehen können, als wir esbisher tun.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Zum dritten Mal hin-tereinander beschäftigen wir uns am Freitagmittag mitGesetzentwürfen zum Wahlrecht. Aber während es in derersten Debatte um Formalien ging und in der zweiten umdie Wahlkreiseinteilung geht, dringen wir aufgrund desAntrags von Frau Kollegin Kenzler jetzt allmählich zuden wirklich substanziellen Fragen vor.Gleichwohl will ich vorweg sagen, dass auch dieF.D.P.-Fraktion den PDS-Antrag ablehnt, weil in ihmzwar diskussionswürdige Ideen, aber auch einige Punkteenthalten sind, denen wir nicht zustimmen können.Wir meinen zum Beispiel, dass das Wahlalter und dasVolljährigkeitsalter identisch sein sollten. Da derzeit nie-mand eine Absenkung des Volljährigkeitsalters von18 Jahren auf 16 Jahre betreibt, kann man auch das Wahl-alter nicht auf 16 Jahre absenken.Zum Ausländerwahlrecht hat Kollege Özdemir amEnde seiner Ausführungen dann doch noch den richtigenPunkt gefunden. Ich war über seine Argumentationzunächst ein wenig erschrocken; denn verfassungsrecht-lich ist es uns nicht verboten, ein Ausländerwahlrecht ein-zuführen. So deute ich die Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts jedenfalls nicht.
Aber auch wir meinen, der erste Schritt wäre, das Wahl-recht auf kommunaler Ebene über EU-Staatsangehörigehinaus auf Angehörige von Drittstaaten auszudehnen, im-mer geknüpft an eine bestimmte Aufenthaltsdauer inDeutschland, etwa fünf Jahre. Damit sollte man beginnen;das hat wirklich eine Berechtigung. Später kann man sichdann der Problematik auf Länder- und Bundesebene zu-wenden, nicht schon jetzt.
Die Präferenzstimmen, die von der PDS vorgeschla-gen werden, sind, Herr Kollege Friese, aber durchaus dis-kussionswürdig. Hierfür gibt es Beispiele, etwa im
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Cem Özdemir12997
bayerischen Landtagswahlrecht. Was bedeutet das? Es be-deutet, dass nicht die Parteien mit ihrer Vorauswahl undder Reihenfolge auf den Listen, die zur Abstimmung ge-stellt werden, praktisch schon bestimmen können, wer indas Parlament einzieht, sondern dass die Wählerinnen undWähler innerhalb der Listen Kandidaten nach vorne odernach hinten wählen können. Das ist eindeutig ein Mehr anDemokratie. Ich verstehe Ihr Verdikt, das Sie vorhin aus-gesprochen haben, nicht ganz. Dieser Punkt wird von derF.D.P. sehr wohl als diskussionswürdig angesehen.Dagegen haben Sie Recht, Herr Kollege Friese, wennSie feststellen, dass die Problematik der Überhangman-date nicht mehr so aktuell ist wie früher. Denn durch dieneue Wahlkreiseinteilung ist ja sichergestellt, dass kaumnoch Überhangmandate auftreten. Unabhängig davonmuss man aber festhalten: Überhangmandate sind eineAbweichung vom eigentlichen Wahlergebnis, das nachdem Verhältniswahlrecht festgestellt wird. Daher hat diePDS zu Recht versucht, hierzu einen Lösungsvorschlagzu machen. Aber, wie gesagt, diese Thematik ist nicht ak-tuell.Schließlich zur Fünfprozentklausel:Als Angehörigereiner kleinen Partei gerät man hier immer in den Verdacht,pro domo zu sprechen.
Seitdem aber die F.D.P. ihr Projekt 18 in die Welt gesetzthat, weiß ja jeder, dass wir davon nicht mehr betroffensind,
sodass ich hier gewissermaßen aus neutraler Warte fest-stellen kann: Jede Sperrklausel führt dazu, dass der Er-folgswert der einzelnen Wählerstimme nicht mehr dergleiche ist. Das ist das eigentliche Problem der Sperr-klauseln.
Manche Stimmen, die abgegeben werden, fallen unter denTisch und andere werden in ihrem so genannten Erfolgs-wert erhöht. Das halte ich für wirklich problematisch. Zu-mindest auf der kommunalen Ebene sollte man dem Vor-bild mancher Kommunalverfassungen folgen und dieFünfprozentklausel dort hinwerfen, wo sie hingehört,nämlich in den Mülleimer der Wahlrechtsgeschichte.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der Gesetzent-wurf der PDS gibt Anlass – und damit möchte ichschließen –, dass wir über die im Einzelnen vorgelegtenVorschläge hinausdenken. Es ist ja mehr zu tun, um dasVertrauen in die Demokratie bzw. in die Parteiendemo-kratie wieder herzustellen. Das Ziel muss lauten, mehrdirekte Mitbestimmung für die Bürgerinnen und Bür-ger zu ermöglichen. Das heißt, man muss ernsthaft darü-ber nachdenken, die Möglichkeiten der Volksinitiative,des Volksbegehrens und des Volksentscheides auch aufBundesebene einzuführen.Dies setzt zweierlei voraus: Da man dafür eine Verfas-sungsänderung benötigt, muss zum Ersten die Union end-lich über ihren Schatten springen und bereit sein,
diesen Vorschlägen näher zu treten, wie dies aus den Rei-hen der CSU eigentümlicherweise neuerdings gefordertwird. Dies setzt zum Zweiten voraus, dass die Regie-rungskoalition aus Rot-Grün endlich daran geht, nicht nurüber ihre Wahlversprechen zu reden, sondern auch dem-entsprechend zu handeln, oder dass der Versuch des Han-delns, den Teile der Regierungskoalition für sich bean-spruchen können, endlich auch zu einem Erfolg führt.Alles in allem sollte der Gesetzentwurf der PDS Anlasssein, dass das, was in jeder dieser Debatten immer wiederbeschworen wird, endlich realisiert wird: Wir alle müssenuns an einen Tisch setzen und ernsthaft über eine Mo-dernisierung des Wahlrechts bzw. des Abstimmungsrechtsin der Bundesrepublik Deutschland verhandeln – mit demZiel, mehr Mitbestimmung für die Wählerinnen undWähler zu erreichen.
Ich schließe da-mit die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion der PDS zur Demokratisierung des Wahl-rechts auf Drucksache 14/1126. Der Innenausschuss emp-fiehlt auf Drucksache 14/2150, den Gesetzentwurf abzu-lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS mit denStimmen des übrigen Hauses abgelehnt worden. Damitentfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-tung.Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Investitionszulagengesetzes1999– Drucksache 14/3273 –
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksachen 14/4624, 14/4626 –Berichterstattung:Abgeordnete Simone ViolkaGerhard Schulz
b) Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 14/4627 –
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Dr. Max Stadler12998
Berichterstattung:Abgeordnete Hans Jochen HenkeHans Georg WagnerOswald MetzgerJürgen KoppelinDr. Uwe-Jens RösselNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Wider-spruch? – Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derAbgeordnete Lothar Binding.
Sehr geehrteFrau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirfreuen uns natürlich, dass diesem Gesetzentwurf alle zu-stimmen werden. Insofern wird es jetzt sicherlich keinesehr hektische Debatte geben. Aber es lohnt sich doch, beieinzelnen Punkten einmal genauer hinzuschauen, was wirdamit eigentlich erreichen wollen.Zunächst zielt der Gesetzentwurf insbesondere daraufab, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Euro-päische Kommission die Genehmigung für die betrieb-liche Förderung durch das Investitionszulagengesetz1999 ab dem Jahr 2000 erteilt.Zur Lösung dieses Problems gibt es eine ganze Reihevon Einzelmaßnahmen, auf die noch genauer eingegan-gen wird. Ich möchte mich auf folgende Punkte be-schränken: die Aufhebung der mit dem Steuersenkungs-gesetz beschlossenen Einschränkung bei der Verrechnungvon Gewinnen und Verlusten aus Aktien- und Derivaten-geschäften, bei Eigenhandel von Kreditinstituten und be-stimmten Finanzdienstleistungsunternehmen. Man fragtsich, was das mit dieser Überschrift zu tun hat, und er-kennt es schnell. Es ist Eile geboten und es geht darum,dass diese Vorhaben gleichzeitig in Kraft treten sollen.Ich möchte zweitens etwas zur Steuerbefreiung der pri-vaten Nutzung von betrieblichen Personalcomputern undTelekommunikationsgeräten durch Arbeitnehmer, drit-tens etwas zur Änderung des Gemeinnützigkeitsrechtsund viertens etwas zum Missbrauch in Bezug auf Steuer-vergünstigungen für gemeinnützige Körperschaften sa-gen.Einmal angenommen, es gäbe keinen Betrug, dannmüssten wir an verschiedenen Stellen auch gar nichts tun.Leider ist es aber so, dass im Umsatzsteuerbereich gegen-wärtig geschätzt wird, dass wir einen zwei- bis dreistelli-gen Milliardenbetrag an Betrugsvorgängen haben. DieErfahrungen aus der Prüfungspraxis zeigen, dass zur ef-fektiven Umsatzsteuerkontrolle mehr Informationenverfügbar sein müssen, die zeitnahe und übergreifendeUntersuchungen erlauben.Die Hauptursache für die Betrugstatbestände und dieSchwierigkeit, diese aufzudecken, sind Ringgeschäfte,die länderübergreifend organisiert werden und deshalbbesonders schwer erfassbar sind. Gegenwärtig existierteine Liste bei der OFD Köln, die Schein- und Betrugsfir-men usw. erfasst. Allerdings wird diese Liste nur einmaljährlich erneuert und ist im Grunde genommen für einezeitnahe Lösung der Probleme nicht geeignet.Die Prüfungsdienste der Länder können gegenwärtigauf keine Dateien oder Datenbanken zugreifen, um dieseProbleme zu lösen. Deshalb gibt es Handlungsbedarf. Essoll eine Datenbank beim Bundesamt für Finanzen einge-richtet werden, die eine Sammlung und Auswertung vonInformationen über Betrugsfälle im Bereich der Umsatz-steuer ermöglicht, um damit dem Betrug in diesem Be-reich zukünftig Einhalt zu gebieten.Mein nächstes Stichwort heißt Gemeinnützigkeits-recht. Wir haben Steuervergünstigungen nur für ideellesatzungsgemäße Tätigkeit gemeinnütziger Körperschaf-ten vorgesehen und das wollen wir auch. Es gibt auchSteuervergünstigungen für wirtschaftliche Betätigungengemeinnütziger Körperschaften, aber diese wollen wirnicht; denn sie wären gegenüber den im Wettbewerb ste-henden steuerpflichtigen Unternehmen unfair.Nun gibt es einen Trick, mit dem man Steuervergüns-tigungen für gemeinnützige Körperschaften zur Beschaf-fung steuerbegünstigter Spenden gemeinnützigen Förder-vereinen vorschaltet und damit den Missbrauchsystematisch organisiert. Angenommen, es gäbe diesenMissbrauch nicht, dann hätten wir keinen Handlungsbe-darf, aber zur Vermeidung dieser Missbrauchsmöglich-keit wird mit Art. 5 die Abgabenordnung geändert.Ein weiterer Punkt bezieht sich auf die steuerfreie In-ternetnutzung unabhängig vom Verhältnis der berufli-chen und privaten Nutzung. Sachbezüge – vorausgesetzt,der Arbeitgeber stimmt zu – führen zu einem extrem kom-plexen Bewertungssystem. Aufteilung und Abgrenzungvon privater Nutzung von DV-Anlagen ist extrem kom-pliziert und steuerlich praktisch nicht gerecht zu hand-haben.Im Grenzbereich, in dem innovative Entwicklungenund deren umfassende Anwendungspraxis auch dem Ar-beitgeber nutzen, ist es sehr sinnvoll, solche Tätigkeitensteuerfrei zu stellen. Vielleicht hätten wir vor 100 Jahreneine entsprechende Regelung für jemanden treffen müs-sen, der die Drehbank für private Zwecke nutzte und da-mit dem Betrieb diente. Daraus abgeleitet existiert abernatürlich kein Rechtsanspruch für den Arbeitnehmer; esist alles nur insofern möglich, als es der Arbeitgeber er-laubt.Ich möchte noch auf einen Sonderfall zu sprechenkommen, der sich auf Aktien und Derivate bezieht. DieVeräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaftenund Dividenden sind steuerfrei; das ist mit dem Halbein-künfteverfahren systematisch auch sehr gut begründbar.Ziel war dabei, Strukturwandel und innovative Entwick-lungen zu erleichtern, Fehlallokationen von Kapital zuvermeiden usw. All dies erfordert aber langfristig geplanteund langfristig wirkende Transaktionen.Deshalb gibt es in § 8 b Körperschaftsteuergesetz dieEinjahresfrist, die sicherstellen soll, dass unterjährigverkaufte Anteile der vollen Besteuerung unterliegen.Außerdem wird auch der Ausgleich von unterjährigenVerlusten aus Aktiengesellschaften auf Gewinne ausgleichartigen Geschäften eingeschränkt. Zum Beispiel
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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer12999
sind Derivatgewinne nur mit Derivatverlusten verre-chenbar. Das bedeutet, einerseits werden bei Banken undFinanzdienstleistern Risikooptionen aus Aktien durch ge-genläufige Risikooptionen aus Aktienderivaten gesichert.Solche Sicherungsgeschäfte sind in vielen Fällen auf-sichtsrechtlich ausdrücklich vorgeschrieben. Andererseitswird eine solche Risikokompensation bei der Beschrän-kung von Verlustausgleich und Verlustverrechnung aufGewinne und Verluste gleichartiger Geschäfte nach § 15Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes ausgeschlossen.Aufgrund der ungleichen Verteilung von Gewinnenund Verlusten ist dies ein unmöglicher Zustand. Das be-deutet: Ein wirtschaftliches Nullgeschäft kann zu einemsteuerlichen Plusgeschäft und damit zu einem gravieren-den Liquiditätsabfluss in diesen Betrieben führen. Bei-spiel: Ich habe durch Aktien einen Verlust von 100 DM,durch Derivate einen Gewinn von 100 DM. Das bedeutethandelsrechtlich einen Gewinn von 0 DM, aber es sind100 DM zu versteuern. Das ist natürlich nicht gewollt.Deshalb wird die Behandlung von Aktien und Derivatenneu geregelt.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Schulz.
Frau Präsidentin! Sehrverehrte Damen und Herren! Es ist schön, als Zweiter zureden; denn dann kann man manches weglassen, weil esschon gesagt worden ist. Aber es gibt immer noch etlichePunkte des Gesetzentwurfes, die einfach genannt werdenmüssen. Das ist die Pflicht eines Berichterstatters.Ich komme zur Änderung des Investitionszulagenge-setzes. Die EU-Kommission hat verlangt, die Förderungfür Berlin abzusenken. Stattdessen wird vorgeschlagen– das soll im Gesetz beschlossen werden –, die Förderungder östlichen Randgebiete zu verstärken. Damit wird derRückgang der Förderung im Raum Berlin durch Mehr-ausgaben im östlichen Teil der neuen Bundesländer wie-der aufgefangen, sodass der Förderrahmen insgesamtgleich bleibt. Das ist eine sehr gute Entwicklung. Ichhoffe sehr, dass die EU dem zustimmt; denn diese beidenRegelungen benötigen immer noch die Zustimmung derEU.Allerdings wurde in diesem Zusammenhang von unsdiskutiert, ob es wirklich sinnvoll sei, die Vergünstigun-gen – dies ist im Investitionszulagengesetz 1999 geplant –für das Handwerk in diesem Gebiet mit dem Jahr 2002auslaufen zu lassen. Zur Erinnerung: Es ist vereinbartworden: Bevor diese Regelung in Kraft tritt, soll durch einGutachten festgestellt werden, ob die Investitionszu-lagenförderung 1999 wirklich so weit vorangeschrittenist, dass es möglich ist, die Vergünstigungen für das Hand-werk auslaufen zu lassen oder nicht. Dieses Gutachten istin Auftrag gegeben worden. Wir haben vereinbart, dasswir anhand des Gutachtens über eine Verlängerung der In-vestitionszulagen für das Handwerk beschließen.Im § 2 des Investitionszulagengesetzes wird neu gere-gelt, dass der Zeitpunkt der Inanspruchnahme einer Inves-titionszulage für Gebäude und Betriebsvorrichtungender Herstellungsbeginn ist. Das führte bei Gebäuden, fürdie eine Baugenehmigung erforderlich ist, zu Problemen.Nunmehr ist es so geregelt: Als Investitionsbeginn gilt derZeitpunkt der Einreichung der Bauunterlagen oder dieAbgabe des Antrags auf Baugenehmigung. Leider Gottessteht nur in der Begründung, dass diese Regelung auch fürAnlagen gilt. Unsere Bitte, dies in den Gesetzestext hi-neinzunehmen, um damit klarzustellen, dass diese Rege-lung nicht nur für Gebäude, sondern auch für Anlagen gilt,wurde mit der Begründung abschlägig beschieden: Wenndas in den Gesetzestext aufgenommen würde, um Klar-heit zu schaffen, würde dies zur Verunsicherung führen.
– Das führt zur Verunsicherung der Finanzbeamten, FrauHöll; das ist völlig richtig. – Ich sage es hier noch einmal:Diese Regelung gilt auch für Anlagen.Die Änderung in § 3 des Investitionszulagengesetzesbewirkt, dass der Käufer eines saniertes Mietwohngebäu-des, für dessen Sanierung die Investitionszulage bereits inAnspruch genommen wurde, die erhöhte Abschreibungnicht noch einmal in Anspruch nehmen kann. Dieses Ku-mulierungsverbot verhindert eine ungerechtfertigte dop-pelte Förderung, was durchaus nachvollziehbar ist.Weiterhin wird geregelt – damit die Behörden bessermiteinander klarkommen –, dass die Feststellung der Be-messungsgrundlage für die Investitionszulage für Wirt-schaftsgüter nicht mehr wie bisher vom Finanzamt desWohnsitzes, sondern vom Betriebsfinanzamt vorgenom-men werden soll. Das ist aber keine Erschwernis für dieAntragsteller selber, so wird uns versichert. Denn der An-trag wird nach wie vor beim Wohnsitzfinanzamt gestellt.Dann wird das weitergereicht und geprüft.Der geänderte § 6 des Investitionszulagengesetzes re-gelt die Übernahme der Leitlinien der Gemeinschaft fürstaatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturie-rung von Unternehmen in Schwierigkeiten. Sie alle ken-nen den einen oder anderen Fall, der durch die Presseging: Es wurden Investitionszulagen gezahlt, aber dannkam die EU und sagte: Nein, das wollen wir nicht, das darfnicht sein, ihr müsst das Geld zurückzahlen. – Sie allekennen diese Beispiele. Mit der neuen Regelung wird dasrichtiggestellt, sodass dieser Streit in Zukunft wegfällt. Eswird eindeutig gesagt: Die Festsetzung der Investitions-zulage gilt erst ab Genehmigung durch die EU.§ 10 des Investitionszulagengesetzes erfüllt auch einVerlangen der Europäischen Kommission; denn diese Än-derung bewirkt die Verlängerung der Zugehörigkeits-und Verbleibensfrist bei beweglichen Wirtschaftsgüterndes Anlagevermögens von drei auf fünf Jahre für nachdem 31. Dezember 1999 begonnene Investitionen. Demmüssen wir folgen, wenn wir wollen, dass dem Investiti-onszulagengesetz als Ganzes zugestimmt wird. Aller-
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Lothar Binding
13000
dings gilt diese Regelung nicht für Investitionen, die vor-her getätigt worden sind.Über die Derivate wurde bereits gesprochen. Es gibtnoch viel darüber zu sagen, warum es überhaupt notwen-dig ist, diese Gesetzesänderungen zu machen. Ich willmich zurückhalten.
– Das ist schlicht und einfach eine Reparaturgeschichte.Da bereits über die Änderungen in den Bereichen PCund Telekommunikation berichtet wurde, will ich dasnicht wiederholen.Die Neufassung des § 7 g des Investitionszulagenge-setzes regelt die Sonderabschreibungen und Ansparab-schreibungen für kleine und mittlere Unternehmen imLandwirtschaftssektor. Dieses war notwendig, weil derneue Gemeinschaftsrahmen eine Förderung in so genann-ten sensiblen Bereichen ausschließt; die Landwirtschaftgehört zu diesem sensiblen Sektor. Deswegen musste eineAnpassung erfolgen.Bei den Änderungen des Gemeinnützigkeitsrechts istnur auf einen Punkt eingegangen worden. Ich will nocheinmal auf die anderen beiden Punkte eingehen. Es gehtnämlich nicht nur darum, den Missbrauch zu beseitigen,wogegen kein Mensch etwas hat. Vielmehr geht es auchdarum, zu vermeiden, dass die Besteuerung der wirt-schaftlichen Tätigkeit von gemeinnützigen Körper-schaften höher ist, als bei gewerblichen Wettbewerbern.Weiterhin geht es darum, die Fernsehlotterien „AktionMensch“ und „Die Goldene Eins“ auf eine sichere recht-liche Grundlage zu stellen.
Herr Kollege
Schulz, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Fromme?
Ja.
Herr Kol-
lege Schulz, teilen Sie meine Auffassung, dass es für das
Finanzministerium wichtig ist, dieser Debatte zu folgen,
da es sich um ein Gesetz handelt, bei dem dieses Haus die
Federführung hat?
Da meine Zeit knapp
ist, eine kurze Antwort: Ich teile Ihre Meinung.
Mit der Änderung des § 64 Abs. 6 Investitionszulagen-
gesetz wird eine nicht gewollte Auswirkung eines BFH-
Urteils von 1991 – so lange ist das schon im Gange – be-
seitigt. Das Problem lässt sich folgendermaßen
beschreiben: Ein steuerbegünstigter Verein veranstaltet
eine Autorenlesung und verkauft dabei dessen Bücher.
Der Verkauf ist wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb und
steuerpflichtig. Von diesen steuerpflichtigen Einnahmen
kann der Verein aber das Autorenhonorar, Reise- und Ho-
telkosten nicht absetzen. Der Erlös aus dem Verkauf der
Bücher unterliegt also in voller Höhe der Besteuerung.
Die Begründung für diese absurde Geschichte ist: Die
Kosten für den Autor und alle anderen Kosten hätte der
Verein ja auch gehabt, wenn er keine Bücher verkauft
hätte. Deswegen könne man das nicht von den Einnahmen
abziehen.
Ein Buchhändler aber, der in seinem Geschäft auch eine
dieser Lesungen veranstaltet und Bücher verkauft, kann
natürlich von den Erlösen aus dem Verkauf der Bücher die
Kosten für den Autor abziehen. Ergo: Der Verein wird
höher besteuert als der Buchhändler. Das ist ja wohl nicht
in unserem Sinne, die wir Vereine fördern wollen.
Dieses Problem wird gelöst, indem pauschal einfach
angenommen wird, dass der Gewinn aus solchen Veran-
staltungen und Geschäftstätigkeiten von Vereinen 15 Pro-
zent der Gesamteinnahmen beträgt, sodass nur 15 Prozent
der Gesamteinnahmen der Besteuerung unterliegen.
Ein weiterer Punkt betrifft die Fernsehlotterien. Die
zahlenmäßige Begrenzung der Zweckbetriebsfiktion wird
aufgehoben. Erlassen Sie mir bitte, zu erklären, was
Zweckbetriebsfiktion ist. Ich habe angefangen, das zu er-
läutern, aber dann wurde der Text zu lang. Nehmen wir
das einfach einmal so hin. Durch diese Änderung wird ge-
regelt, dass die beiden Fernsehlotterien ihre nicht zu ver-
nachlässigende Arbeit weiterführen können. Die Erlöse
können nach wie vor gemeinnützigen Zwecken zugeführt
werden.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die Neufassung von § 5Abs. 1 des Finanzverwaltungsge-
setzes. Durch die Änderung wird es dem Bundesamt für
Finanzen ermöglicht, eine zentrale Sammlung und Aus-
wertung von Informationen über Betrugsfälle im Bereich
der Umsatzsteuer einzurichten. Die Erweiterung des
Aufgabenkatalogs zielt auf bessere Kontrollmöglich-
keiten und eine wirksamere Bekämpfung von Mehrwert-
steuerbetrug. Da der Mehrwertsteuerbetrug in letzter Zeit
– so wird berichtet – sehr zunimmt, ist diese Maßnahme
durchaus gerechtfertigt. Es gibt viele Möglichkeiten, et-
was Unrechtes zu tun, und man sollte alles unternehmen,
um das zu verhindern.
Ich gebe zu, dass das viel trockenes Zeug war, aber es
musste gesagt werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Werner Schulz.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Fromme, Sie sehen, dass der mit Ihrer verklausu-liert vorgetragenen Zwischenfrage verfolgte Wunsch, einVertreter des Finanzministeriums möge Ihrer aufregendenDebatte folgen, sofort in Erfüllung gegangen ist.
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung denEntwurf eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszu-lagengesetzes 1999. Das wurde notwendig, weil die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Gerhard Schulz13001
Europäische Kommission der Änderung des Investi-tionszulagengesetzes, so wie sie durch das Steuerbereini-gungsgesetz erfolgt ist, nicht zugestimmt hat. Insofern ha-ben wir eine Änderung der Änderung. Aber über dieNotwendigkeiten, als Reparaturbetrieb tätig werden zumüssen, kann man sich streiten; in diesem Zusammen-hang würde mir einiges über die Häufigkeit von Ände-rungen in der Zeit von 1990 bis 1998 einfallen.Die Tatsache, dass wir hier etwas ändern müssen, hängtdamit zusammen, dass Ihr im August 1997 beschlossenesInvestitionszulagengesetz bei der EU-Kommission nichtnotifiziert worden ist. Der eigentliche Grund ist: Ihnen istsehr spät aufgefallen, dass die Ostförderung – darum,Herr Kollege Schulz, geht es ganz besonders – nicht nurmit steuerlichen Abschreibungen, die zu gewaltigenFehlallokationen geführt haben, zu machen ist, wie wirdas in der Regierungszeit von Kohl erlebt haben, sonderndass es besser ist, die Maßnahmen im Investitionszu-lagengesetz zu bündeln. Sie haben diese Bündelung aberso dilettantisch vorgenommen, dass Sie es in Brüssel nichtdurchbekommen haben. Deswegen ist die Änderung er-forderlich geworden. Das sage ich so, weil es den Tatsa-chen entspricht.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Gerhard Schulz?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Sie haben doch gerade erst geredet. Ist Ihr Drang,
zu reden, so groß? – Aber bitte.
Bitte.
Herr Kollege, sind Siebereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Notifizierungaller Fördermaßnahmen, die wir in der Vergangenheit aufden Weg gebracht haben, immer zu Problemen geführthat, dass die EU-Kommission immer etwas gefunden hat,von dem sie meinte, so könne es nicht gehen, und ent-sprechende Änderungen verlangt hat? Sind Sie weiterhinbereit zuzugeben, dass es durchaus zu den Gepflogenhei-ten gehört, in Erwartung möglicher Kürzungsmaßnahmeneine stärkere Förderung festzuschreiben, um letztlich dasMaß der Förderung erreichen zu können, das man habenmöchte?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN): Ich gestehe gerne zu, dass es schwierig ist, bei derEU-Kommission derartige Beihilfen und Investitionszu-lagen durchzubekommen; die Begründungen für dieMaßnahmen müssen hieb- und stichfest sein. In dem vor-liegenden Fall wurde der Umstand kritisiert, dass es keineUnterscheidung zwischen Erst- und Ersatzinvestitionengegeben hat. Nach zehn Jahren Aufbau Ost muss man aberin der Lage sein zu erkennen, dass jemand, der einen Be-trieb neu gründet, eine andere Anschubfinanzierungbraucht als bereits wettbewerbsfähige Betriebe, die in derLage sind, ihre Ersatzinvestitionen aus eigenen Mitteln zutätigen.Diese Unterscheidung mussten wir vornehmen; inso-fern ist die Kritik der Europäischen Union absolut be-rechtigt gewesen. Die CDU/CSU ist mit Steuermittelnsehr großzügig umgegangen. Das hat sich offensichtlichbis Brüssel herumgesprochen. Herr Kollege Schulz, diewunderschönen Einkaufszentren auf der grünen Wieseund die Investitionsruinen etwa in Leipzig zeugen davon.Es war wichtig, dass in diesem Bereich Änderungen vor-genommen wurden. Deshalb sind wir zu der notwendigenDifferenzierung aufgefordert worden. Das haben wir ge-tan und dieser Schritt ist mittlerweile auch anerkannt.Wir haben eine Qualifizierung der Investitionszulageund der Förderung Ost in der Hinsicht erreicht, dass beiErstinvestitionen eine Aufstockung auf 12,5 Prozent bzw.25 Prozent bei kleinen und mittelständischen Unterneh-men erreicht worden ist und dass es bei den Ersatzinves-titionen nicht mehr ganz so üppig läuft, wie das bislangder Fall war. Das ist die eigentliche Sachlage.In diesem Zusammenhang ist auch interessant zu er-wähnen: Als diese Änderung erfolgt ist, konnte im Grundeniemand genau sagen, wie der Förderumfang bei Erst-und Ersatzinvestitionen genau beziffert werden kann.So genau war das bis dahin nicht differenziert worden.Aber dass Sie dann gleich damit hausieren gegangen sind,dass dies 1 Milliarde DM weniger für den Aufbau Ost be-deuten würde, fand ich schon stark.
Bis heute ist es zu keinem Rückgang bei der Ostförde-rung gekommen. Wir sind im Gegenteil in der Lage, ge-rade den neu gegründeten Unternehmen wesentlich zuhelfen. Aber die eigentlichen Änderungen, die beim Inves-titionszulagengesetz vorgesehen sind, beziehen sich jaeher darauf, dass wir die Fördersätze für das Land Berlinvon 25 Prozent auf 20 Prozent zurücknehmen müssen unddass wir vor allen Dingen die Leitlinien der EuropäischenGemeinschaft für staatliche Beihilfen zur Rettung undUmstrukturierung von Unternehmen in Schwierigkeiten– so kompliziert wird das ausgedrückt – mit aufnehmenmüssen. Dem ist Genüge getan worden. Dies ist jetzt imGesetz enthalten. Das sind eigentlich die wesentlichenVeränderungen und nicht das viele Kleingedruckte, dasSie hier als das vorgestellt haben, was in diesem Gesetzverändert worden ist.Dass uns in letzter Minute noch eine Menge Änderun-gen zugemutet wird, erfreut keinen Parlamentarier undstrapaziert, glaube ich, jeden. Auch wenn das früher bei deralten Regierung passiert ist, habe ich es gerügt. Dass diesnun wieder der Fall ist, hängt möglicherweise damit zu-sammen, dass wir es mit den gleichen Beamten aus denMinisterien zu tun haben. Wir sollten nicht nur über Tarif-erhöhungen, sondern vielleicht auch einmal über Qua-litäts- und Leistungskriterien im öffentlichen Dienst reden.So weit zur Änderung des Investitionszulagengesetzes.
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Werner Schulz
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Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Investi-
tionszulagengesetzes vom 18. August 1997 hat die dama-
lige Bundesregierung aus Union und F.D.P. eines der
wichtigsten Förderinstrumente für die kleinen mittelstän-
dischen Unternehmen in den neuen Bundesländern in
Gang gesetzt.
Ich sage Ihnen auch, meine Damen und Herren: Die
Ausgabe von Steuermitteln in Milliardenhöhe war ge-
rechtfertigt. Ich will das kurz begründen.
Die Lage der kleinen mittelständischen Unternehmen
bleibt auch nach zehn Jahren deutscher Einheit zwischen
Ost und West grundsätzlich gespalten. Der typische mit-
telständische Betrieb „Made in West-Germany“ hat rund
300 Beschäftigte und ist im Osten eher selten zu finden.
Dominierend sind hier kleine und Kleinstunternehmen
mit maximal zehn Beschäftigten. Dementsprechend sieht
natürlich auch die Eigenkapitaldecke aus. Für kleine mit-
telständische Unternehmen ist sie nach Auskünften der
Deutschen Ausgleichsbank rückläufig, das heißt, der Ei-
genkapitalstock liegt nach zehn Jahren unter der 10-Pro-
zent-Grenze.
In diesem Sinne sind Investitionszulagen für Erst- und
Ersatzinvestitionen eigentlich so etwas wie ein Rechtsan-
spruch auf direkte Förderung, der in keinem anderen Ge-
setz ohne langwieriges Antragsverfahren gewährt wird.
Nicht nur Neugründungen, gerade auch die Bestands-
sicherung von mittelständischen Unternehmen bleibt ein
zentrales Thema für die Politik. Gerade deshalb ist es ei-
gentlich notwendig, die Förderung von Folge- bzw. Er-
satzinvestitionen fortzuführen. Wir halten deswegen das
Auslaufen der Investitionszulagen für Ersatzinvestitionen
für falsch, glauben aber, dass auf dem Weg über das Gut-
achten eine Lösung aufgezeigt wurde, um dies wieder
rückgängig zu machen.
Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich
um die notwendige Umsetzung einer EU-Richtlinie, die
es erforderlich macht, die Förderung zielgenauer zu ge-
stalten. Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen, wenn
die Treffsicherheit der Fördermaßnahmen für die Unter-
nehmen erhöht wird. So werden – das wurde schon er-
wähnt – Teile Berlins und Brandenburgs – Teile, die zum
so genannten Speckgürtel gehören – in Zukunft nicht
mehr die erhöhte Förderung bekommen. Insgesamt wer-
den die Investitionszulagen für Erstinvestitionen um je-
weils 2,5 Prozent erhöht. Die Ersatzinvestitionen für das
Handwerk laufen im Jahr 2001 vorzeitig aus. Das halten
wir für das falsche Signal.
Trotz des Erfordernisses, das Investitionszulagenge-
setz EU-konform zu gestalten, gibt es zwei gravierende
Kritikpunkte, die ich der rot-grünen Bundesregierung auf-
zeigen möchte.
Erstens. Angesichts der bevorstehenden EU-Ost-
erweiterung hätten wir eine Parteinahme für alle neuen
Bundesländer gegenüber der EU hinsichtlich erhöhter
Fördersätze für die Randgebiete, die an Osteuropa gren-
zen, erwartet. Bis jetzt sind Mecklenburg-Vorpommern,
Sachsen, Brandenburg und Thüringen berücksichtigt.
Sachsen-Anhalt bleibt außen vor. Sicherlich liegt Sach-
sen-Anhalt nicht an einer der Grenzen zu Osteuropa, aber
Thüringen auch nicht.
Handwerksbetriebe, Mittelständler und Freiberufler in
den neuen Bundesländern befürchten, dass sie angesichts
ihres rückläufigen Kapitalstocks förmlich überrannt wer-
den, wenn Polen und Tschechien in die EU integriert wer-
den; denn das wird einen ungeheuren Wettbewerbsdruck
zur Folge haben. Ich glaube, dass man diese Ängste ernst
nehmen muss. Wo bleibt das Engagement der Bundesre-
gierung, den kleinen und mittelständischen Unternehmen
in den neuen Bundesländern mit einheitlich erhöhten För-
dersätzen den Rücken zu stärken? Sie setzen zwar geset-
zestechnisch die Vorgaben der EU-Richtlinie um. Aber
Sie kämpfen erst gar nicht, wenn die neuen Bundesländer
über das dort vorgegebene Maß hinaus gefördert werden
sollen.
Zweitens. Die Gesetzesänderung – das wurde schon
angesprochen – erfordert ein Finanzvolumen von
2,5 Milliarden DM. Aber die Steuermehreinnahmen, die
durch diese Gesetzesänderung erzielt werden, betragen
3,5 Milliarden DM. Es bleibt also 1 Milliarde DM übrig,
die einfach im Bundeshaushalt verschwindet. Warum
lässt man diese Milliarde nicht in die Gemein-
schaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur bzw. in das Programm zur Förderung in-
novativer Wachstumskerne in den neuen Ländern, das von
der Bundesregierung – das halte ich für richtig – aufgelegt
worden ist, fließen?
Um es auf den Punkt zu bringen: Sie kommen mit
Ihrem Gesetzentwurf zwar rein technokratisch dem Er-
fordernis nach, die Vorgaben einer EU-Richtlinie umzu-
setzen. Die rot-grüne Bundesregierung ist nicht der An-
walt von Handwerk und Mittelstand in den neuen
Ländern. Das hat diese Gesetzesänderung wieder einmal
gezeigt.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Wie die anderen Fraktionen wirdauch die PDS-Fraktion dem vorliegenden Gesetz zustim-men. Wir begrüßen den Entwurf eines Gesetzes zur Än-derung des Investitionszulagengesetzes, weil die direkteWirtschaftsförderung gestärkt wird. Sie ist vom Prinzipher zielgenauer und effektiver als steuerliche Förde-rungsinstrumente. Sie ermöglicht es, insbesondere klei-nen und mittelständischen Unternehmen in Notsituatio-nen zu helfen.
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Steuerliche Förderung funktioniert nun einmal nachdem Gießkannenprinzip und nutzt vor allem ertragsstar-ken Unternehmen. Deshalb haben wir bereits in der letz-ten Legislaturperiode ein Einkommensteuerkonzept vor-gelegt, in dem vorgeschlagen wurde, einen Großteil dersteuerlichen Vergünstigungen für Unternehmen zuguns-ten der direkten Wirtschaftsförderung zu streichen. Zuden Inhalten haben sich meine Vorrednerinnen und Vor-redner schon ausführlich geäußert.Mit dem Gesetzentwurf wird das geltende Recht anEU-Recht angepasst. Der bisherige Verlauf der Debattedürfte bestimmt Befremden insbesondere bei den Zuhö-rerinnen und Zuhörern auf der Besuchertribüne ausgelösthaben. Obwohl die Investitionszulagenförderung dasThema ist, wird hier über das Gemeinnützigkeitsrecht,über die „Goldene Eins“ und – im Zusammenhang mitMehrwertsteuerbetrug – über das Bundesamt für Finan-zen geredet.Einen Punkt muss man wirklich sehr scharf kritisieren:Die steuerliche Behandlung von Verlusten aus dem Ak-tien- und Derivatenhandel wird im jetzt vorgelegten Ge-setz wieder neu geregelt.Diese Änderung ergibt sich als Folge aus dem Steuer-senkungsgesetz. Gerade wurde das Steuersenkungsergän-zungsgesetz verabschiedet. Nun kommt wieder eine Er-gänzung. Ich frage mich, welche Gesetzestechnik das ist,wenn fast jedes Gesetz, insbesondere solche aus demFinanzministerium, nach dem Gesetzgebungsverfahreneine erste, eine zweite und vielleicht noch eine dritteNachbesserung erfordert.
Es ist bezeichnend, wenn Sie eine Änderungs- und Er-gänzungspolitik bei Gesetzgebungsverfahren machen.Ein solches Gesetzgebungsverfahren macht es für Bürge-rinnen und Bürger immer schwerer, überhaupt zu verste-hen, was im Bundestag passiert. Die Transparenz von Ge-setzgebungsverfahren, von Gesetzen hat unmittelbarBezug auf die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger,die sich selbst kundig machen wollen. Ich finde es sehrb
Dieses Gesetz versteht
niemand mehr. – Scheinbar ist es so, dass wir Gesetze
nicht für die Menschen machen, die davon betroffen sind
und die damit umgehen sollen, sondern für Steuerberater,
Wirtschaftsprüfer, Anwälte und andere. So verstehe ich
unsere Aufgabe im Bundestag nicht.
Ich habe ein anderes Demokratieverständnis.
Ich fordere Sie aus Anlass der Beratung dieses Geset-
zes deshalb auf, den Gesetzgebungsstil sehr kritisch zu
hinterfragen und zu ändern. Gesetze müssen auch von den
so genannten normalen Menschen, die im täglichen Leben
stehen und einem Beruf nachgehen, verstanden werden
können. Nur dann haben wir im Parlament unsere Arbeit
gut und richtig erledigt.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Barbara Hendricks.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Erlauben Sie mir eine ganz kurze Bemer-
kung. Der wesentliche Gegenstand des Investitionszu-
lagengesetzes ist die verlässliche Förderung der Unter-
nehmen in den neuen Bundesländern. Darauf wird Herr
Kollege Schwanitz noch eingehen.
Ich will etwas zu dem sagen, was an das Gesetzge-
bungsverfahren angehängt worden ist, und um Verständ-
nis dafür werben, weil es möglicherweise falsch verstan-
den werden könnte. Zum einen mussten wir aufgrund von
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes sehr rasch tätig
werden. Das war bei den Gemeinnützigkeitsregelungen
der Fall. Zum anderen kann der Fall eintreten, dass man
einen Gesetzestatbestand für einen kleinen Regelungsge-
genstand braucht. Das betrifft in diesem Fall die Zustän-
digkeit des Bundesamtes für Finanzen bei der Bekämp-
fung des Umsatzsteuerbetruges. Die Alternative wäre,
dass man für diesen kleinen Regelungsgegenstand ein ei-
genes Gesetz machen würde. Es ist hierbei die Frage, ob
es nicht arbeitsökonomisch ist, ein anderes Steuergesetz
als Vehikel zu nutzen, um kleine Regelungsgegenstände
dort unterzubringen. Dies haben wir getan. Ich bitte hier
um Verständnis. Man kann nicht sagen, dass es an der Un-
fähigkeit der Beamten liegt, dass so verfahren wird. Es hat
etwas mit der Arbeitsökonomie dieses Parlamentes zu tun.
Ganz kurz zu dem, was Sie, Frau Höll, gerade gesagt
haben. Ich habe nicht gesagt, dass dieses Gesetz sowieso
keiner versteht, sondern ich habe zugesagt, zu diesem Re-
gelungstatbestand eine Broschüre des Bundesfinanz-
ministeriums herauszugeben, die leicht verständlich ist.
Das kommt den Bürgern auf jeden Fall eher entgegen, als
wenn man sie auf den Gesetzestext verweist.
Ich halte es im Übrigen für eine Mär, wenn man ver-
langt, dass alle Gesetze aus sich selbst heraus und für alle
Bürgerinnen und Bürger verständlich sein sollen. Alle
Juristen dieses Landes leben davon, Kommentare zu Ge-
setzen zu schreiben: vom Wasserrecht in Nordrhein-West-
falen, zu dem Herr Rüttgers einen Kommentar geschrie-
ben hat, bis zum Grundgesetz. Wenn also alle Gesetze aus
sich selbst heraus verständlich wären, dürfte es juristische
Kommentare gar nicht geben.
Das Wort hat
jetzt der Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ich will zum Schluss der Debatte eine Bemerkung zurBedeutung dieses Gesetzes machen. Das Gesetz zur Än-derung des Investitionszulagengesetzes 1999 ist nachAuffassung der Bundesregierung wichtig für den weiterenwirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern. Die
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Dr. Barbara Höll13004
Bedeutung dieses Themas darf überhaupt nicht klein ge-redet werden. Ich will dazu drei Bemerkungen machen.Der erste Grund dafür hängt mit der Entstehungsge-schichte des Investitionszulagengesetzes 1999 zusammen.Das hat der Kollege Werner Schulz bereits angesprochen.Ich erinnere mich noch an die Debatte 1996/1997, als manüber Fraktionsgrenzen hinweg zu der Auffassung kam,dass man von einer Förderung über Sonderabschreibungenwegkommen, zu einer unmittelbaren Förderung der Inves-titionszulagen im Interesse der Indus-trie und des indus-trienahen Dienstleistungsbereiches gelangen, den Kapital-stock stärken und etwas für die Eigenkapitalbildung tunsollte. Das war die Geburtsstunde dieser seinerzeit über-fraktionell getragenen Veränderung.Damals ist es allerdings nicht gelungen – das war nochin den letzten zwei Jahren Ihrer Tätigkeit –, für das I-Zu-lagengesetz 1999 die Genehmigung in Brüssel zu erlan-gen. Das heißt, das Flaggschiff der Investitionsförderungin den neuen Bundesländern lag in einer nicht rechtsver-bindlichen Fassung für die ostdeutschen Unternehmen vor.Das war die Ausgangsposition. Im Dezember 1998 beka-men wir eine Teilgenehmigung für 1999, jedoch nur bezo-gen auf die Erstinvestitionen und begrenzt auf die RegionBerlin. Natürlich waren damit Verunsicherungen für dieostdeutschen Unternehmungen verbunden, was die mittel-fristige Ausgestaltung dieses wichtigen Gesetzes anging.Dass es mit diesem Änderungsgesetz jetzt gelingt, eineGenehmigung aus Brüssel sicherzustellen, die eine För-dersicherheit und damit verbunden auch eine Investiti-onssicherheit für die gesamte Periode bis 2004 beinhaltet,ist ein ganz wichtiges Element für die wirtschaftlichenAufbauleistungen in den neuen Bundesländern, meineDamen und Herren. Das ist der erste Grund dafür, dassdieses Gesetz von großer Bedeutung ist.Als zweiten Grund spreche ich die Veränderungen an,die wir zwar nicht unmittelbar mit dem Änderungsgesetz,aber zuvor mit dem Steueränderungsgesetz 1999 vorge-nommen haben. Wir haben einen Schwerpunkt aufErstinvestitionen gesetzt. Dieses Thema haben wir nichtnur vor dem Hintergrund der Beanstandungen aus Brüs-sel aufgegriffen, sondern auch deshalb, weil es mit einerfür die neuen Bundesländer wichtigen Innovationsstrate-gie korrespondiert: mit einer Konzentration der Förde-rung, die zugleich verstärkt wird, auf neue Erzeugnisseund neue Technologien. Dies bringen wir mit unseremGesetzentwurf für die Zeit bis 2004 auf den Weg. Ich bindavon überzeugt, dass dies eine wichtige und richtigeWeichenstellung für die Modernisierung in den neuenLändern ist.Eine dritte Bedeutung dieses Gesetzes kann gar nichtklein geredet werden: Das Änderungsgesetz schafft imZusammenhang mit den Veränderungen, die Berlin undden Speckgürtel um Berlin betreffen, eine bessere Förde-rungspräferenz für den grenznahen Bereich im Osten undSüden der neuen Länder, also im Grenzraum zu den po-tenziellen Beitrittskandidaten. Die I-Zulage wird, bezo-gen auf die Grundförderung, auf 15 Prozent und, bezogenauf die erhöhte Förderung der kleinen und mittelständi-schen Unternehmen, auf 27,5 Prozent erhöht. Auch das istein ganz wichtiges Element für eine benachteiligte undmit großen Problemen belastete Region, die für den voruns stehenden Prozess der EU-Osterweiterung fit ge-macht werden müssen. Ich erinnere daran, dass beispiels-weise die SPD-Bundestagsfraktion dazu Erwartungshal-tungen formuliert hat. Wir steigen hier jetzt in eineStärkung der Investitionsanreize ein, wenn man es an derSubventionsintensität misst; das Ganze ist ja steuerfrei.Letzte Bemerkung, meine Damen und Herren: DieI-Zulage ist in den letzten Monaten und Jahren mit demImage einer nicht zielgenauen, nach dem Gießkannen-prinzip funktionierenden Förderung verbunden worden.Herr Kollege Schulz hat völlig zu Recht darauf hingewie-sen, dass ein Rechtsanspruch für einen investierenden Un-ternehmer einen nicht zu unterschätzenden Tatbestanddarstellt. Mit der Konzentration auf Erstinvestitionen undder regionalen Differenzierung machen wir deutlich, dassdie I-Zulage ein modernes Instrument ist, das seinschlechtes Image überhaupt nicht verdient. Deshalb ist esgut, wenn diese Gesetzesnovelle einen so breiten Konsenserfährt.Schönen Dank.
Ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderungdes Investitionszulagengesetzes, Drucksachen 14/3273und 14/4624. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfin der Ausschussfassung zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dasist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiterBeratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-wurf in der dritten Lesung einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenKlaus Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUAuswirkungen der Ökosteuer und der hohenKraftstoffpreise auf den Deutschlandtourismus– Drucksachen 14/3867, 14/4334 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort hat zunächst der Abgeordnete KlausBrähmig.
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Staatsminister Rolf Schwanitz13005
Frau Präsidentin!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute debattie-ren wir über die Antwort der Bundesregierung auf dieGroße Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu denAuswirkungen der Ökosteuer und der hohen Kraftstoff-preise auf den Deutschlandtourismus vom 4. Juli 2000.Einleitend möchte ich auf einige grundlegende Punktein der Beantwortung der Anfrage eingehen. Ich stützemich dabei auf den Titel der „Bild“-Zeitung von heute– dort werden die Belastungstatbestände ganz klar zu-sammengefasst –: Ökosteuer – Macht sie den ganzen Auf-schwung kaputt?
Die Bundesregierung behauptet wiederholt, dass derTourismusstandort Deutschland von der Ökosteuer profi-tiert, da sie einen Beitrag zum Erhalt einer intakten Um-welt und Natur leistet. Hören Sie endlich auf, sich selbstzu belügen! Das Herbstgutachten der sechs führendenwirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute hatdoch deutlich nachgewiesen, dass die Ökosteuer aufgrundder vielen Ausnahmetatbestände in ihrer jetzigen Formkeinerlei positive Lenkungseffekte für die Umwelt hat.
Die nun von der Bundesregierung geplanten Ausgleichs-maßnahmen konterkarieren dieses Ziel zusätzlich.Weiterhin behauptet die Bundesregierung wiederholt,dass die Einnahmen aus der Ökosteuer ausschließlich zurSenkung der Lohnnebenkosten verwendet werden.
Hören Sie auf, die Öffentlichkeit zu belügen!
Eine kurze Berechnung zeigt, dass im Jahre 2003 derBeitragssatz in der Rentenversicherung auf 18,2 Prozentsinken könnte. Sie aber wollen den Beitragssatz bei19,2 Prozent belassen. Der Rest fließt zweckentfremdet inden Bundeshaushalt.
Außerdem behaupten Sie, dass es keine Anzeichen füreine besondere, durch die Ökosteuer verursachte Belas-tung der deutschen Tourismuswirtschaft gibt.
Hören Sie auf, die gesamte Branche zu belügen! Dennnatürlich gehört die deutsche Tourismuswirtschaft zu denbesonders betroffenen Branchen. Dies gilt vor allem fürden Deutschlandtourismus, der überwiegend durch mit-telständische und eigentümergeführte Betriebe struktu-riert ist.Mobilität ist das Lebenselixier für den Deutschland-tourismus und die deutsche Wirtschaft insgesamt. 50 Pro-zent des PKW-Verkehrs in Deutschland sind auf Freizeit-und Urlaubsverkehr zurückzuführen. Der Anteil der Nut-zung des eigenen PKWs bei Urlaubsreisen im Inland wirdauf 73 Prozent und der Anteil der Busse auf weitere10 Prozent geschätzt.Da nach den vorläufigen Berechnungen des Mineral-ölwirtschaftsverbandes in den ersten zehn Monaten diesesJahres der Mineralölabsatz um 3,7 Prozent gegenüberdem Vorjahrszeitraum zurückgegangen ist, nimmt dieMobilität anscheinend deutlich ab. Der Bürger kann nichtbei den Wegen zur Arbeit einsparen und eine Flottenum-stellung kann diesen Rückgang beim Mineralölabsatz sokurzfristig nicht realisieren. Die Einsparungen gehen alsogrößtenteils zulasten des Urlaubs- und Freizeitverkehrs.
– Frau Kollegin Irber, das dürfte auch Ihnen letztendlichnicht entgangen sein.Der Rückgang an Mobilität ist auf zwei Ursachenzurückzuführen: die Ökosteuer und die gestiegenen Ener-giepreise. Beide sorgen für deutliche Kaufkrafteinbußenbei unserer Bevölkerung. Allein durch die Ökosteuer wirdein verheirateter Arbeitnehmer mit einem Jahresbrut-toeinkommen von 60 000 DM nach der erneuten Anhe-bung zum 1. Januar 2001 um 7 Pfennig inklusive Mehr-wertsteuer und mit einer Jahresfahrleistung von20 000 Kilometern im nächsten Jahr 179 DM weniger inder Tasche haben; ein Rentnerhaushalt mit 12 000 Kilo-metern Jahresfahrleistung wird sogar 432 DM wenigerhaben.
– Der Rentner zum Beispiel gar nichts. – In beiden Fällensteigt die Mehrbelastung in den Folgejahren noch kräftigan. In diesen Zahlen ist die neue Entfernungspauschalemit 80 Pfennig pro Kilometer und die Entlastung bei derSozialversicherung schon berücksichtigt.
Meine Damen, meine Herren, nach Berechnungen desRheinisch-Westfälischen Instituts fürWirtschaftsfor-schung haben die privaten Haushalte durch die gestiege-nen Energiekosten und die Ökosteuer vom 2. Quartal1998 zum 2. Quartal 2000 einen Kaufkraftverlust von37,3 Milliarden DM hinnehmen müssen. Die von derBundesregierung genannte Entlastung der privatenHaushalte im Zuge der Steuerreform 2000 von rund33 Milliarden DM ist also bereits mehr als verfrühstückt.Bei anhaltend hohen Energiekosten wird die von derBundesregierung angegebene Gesamtentlastung von65 Milliarden DM im Zeitraum von 1998 bis 2005 nochnicht einmal die höheren Energiekosten kompensieren.Hören Sie auf, sich selbst zu belügen!Insofern sind sehr wohl Rückgänge im Deutschland-tourismus zu befürchten. Bei den durchgeführten Reisenwird durch die Kaufkraftminderung natürlich bei Aus-gaben am Zielort gespart. Einbußen bei der Hotellerie undGastronomie, beim Einzelhandel, beim Souvenirverkaufsowie bei Ausflügen oder Konzertbesuchen sind vorpro-grammiert. Schon jetzt stagniert im Gastgewerbe der Um-
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satz und sinkt die Zahl der Arbeitsplätze. Belügen Sie alsonicht die Öffentlichkeit über die „Boombranche Touris-mus“, indem Sie einseitig auf steigende Gäste- und Über-nachtungszahlen in ausgewählten Regionen und Städtenhinweisen.
– Wir werden das dann weiter ausdiskutieren.
Ich fordere den Bundeskanzler, der heute leider nichtanwesend sein kann, auf: Verzichten Sie auf einen weite-ren Schluck aus der von Ihnen so geliebten „Ökopulle“ abdem 1. Januar 2001
und holen Sie sich lieber noch ‘ne Flasche Bier, die trin-ken wir dann hier!
Auch letztes Jahr wurde vom Bundeskanzler ein Weih-nachtsgeschenk verteilt; ich erinnere an den Fall Holz-mann AG.Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Auf-forderung an die Bundesregierung und die Koalitions-fraktionen lautet: Setzen Sie die Ökosteuer aus!
Machen Sie der deutschen Wirtschaft und besonders derTourismusbranche dieses Weihnachtsgeschenk! Die Fla-sche Bier erhalten Sie dann von der Branche gratis.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ich stelle immer wieder fest, dass die
Zwischenrufe umso lauter ausfallen, je weniger Abgeord-
nete im Raum sind.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brunhilde Irber.
Frau Präsidentin! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Eigentlich müsste ich jetzt meinManuskript zur Seite legen und dir, lieber KollegeBrähmig, einmal ein wenig heimleuchten. Du bistschlecht beraten, wenn du deine Informationen über einenangeblichen Kaufkraftverlust nur aus der „Bild“-Zeitungbeziehst. Manchmal kommt es mir schon so vor, als leidedie Opposition an Realitätsverlust und Gedächtnis-schwund.
Es tut mir Leid, aber das musste ich jetzt sagen, obwohlheute Freitag ist und wir kurz davor sind, ins Wochenendeaufzubrechen.Gedächtnisverlust liegt, wenn ich daran erinnern darf,insoweit vor, als die Parteivorsitzende Merkel früher alsUmweltministerin ständig die Ökosteuer gefordert hat,
um eine Entlastung der Arbeit zu erreichen. Genau dashaben wir dann gemacht.Jetzt muss ich Ihnen noch etwas anderes sagen: LieberHerr Brähmig, auch diese Woche treiben Sie die Öko-steuer wieder durchs Dorf,
diesmal unter dem Deckmantel des Tourismus. Leider fal-len Sie dieses Mal damit herein, weil es nicht gelingenwird, auch noch den Deutschlandtourismus schlecht zureden.
Es genügt schon, dass der Standort Deutschland immerschlecht geredet wird; der Gipfel der Frechheit ist es aber,auch noch den Tourismusstandort Deutschland herun-terzumachen.
– Nein, das stimmt nicht! Das möchte ich auch belegen.Ich habe hier einen Sonderdruck aus „Wirtschaft undStatistik“ des Statistischen Bundesamtes dabei. 1999,heißt es hier, war ein Rekordjahr im deutschen Inlands-tourismus.Als weiteren Beleg darf ich noch auf den Artikel „Tou-rismus in Deutschland brummt“ in der „Welt“ vom31. Oktober 2000 – also ganz aktuell – verweisen, in demHerr Ehlers, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Hotel-und Gaststättenverbandes, ganz klar zum Ausdruckbringt, dass unsere Politik richtig ist und dass sie dazu ge-führt hat, den Deutschlandtourismus zu steigern.
– Ich komme noch darauf.Ich muss schon sagen: Die Opposition ignoriert ein-fach alles. Sie ignorieren die Erholung auf dem Arbeits-markt, Sie ignorieren die Erholung der Sozialsysteme– mit der Absenkung der Lohnnebenkosten, die über die
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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. November 2000
Klaus Brähmig13007
Ökosteuer finanziert wird –, Sie ignorieren die Stabilisie-rung der Rentenversicherung und Sie ignorieren, dass wirdie dramatisch hohen Lohnnebenkosten, die wir aus IhrerZeit übernommen haben, gesenkt haben und weiter sen-ken werden.
– „Quatsch“ kann man natürlich sagen, wenn man allesignoriert. – Sie ignorieren auch, dass der Mittelstandenorme Probleme dadurch bekommen hat, dass die Lohn-nebenkosten immer weiter in die Höhe geklettert sind.Dann hat man mit 630-Mark-Kräften und mit jugendli-chen Auszubildenden versucht, das Problem zu lösen –wohlgemerkt auf deren Kosten. Das geht mit uns nicht.
Sie haben nur partielle Interessen, Sie übernehmenkeine Gesamtverantwortung. Sie suchen sich einigeGruppen heraus und glauben, wenn Sie die befriedigenkönnen, hätten Sie einen Dienst für das ganze Volk getan.Es geht Ihnen immer nur ums Geld. – Wenn ich boshaftwäre, würde ich sagen: Es geht nur um Bimbes. Ich binheute aber gnädig und sage es nicht. –
Es ist das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerunseres ganzen Landes, nicht nur das Geld einiger Inte-ressengruppen.Jetzt zum Tourismus: Der Tourismus ist eine Wachs-tumsbranche. Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee,das in Abrede stellen zu wollen? Das zieht nicht mehr, diePlatte hat einen Sprung. Ich möchte Sie daran erinnern,was Sie schon alles gefordert haben, wo Sie überall dasangebliche Siechtum der Branche an die Wand gemalt ha-ben. Es gab von Ihnen große Worte zur Senkung derMehrwertsteuer im Gastgewerbe; Sie meinten, ohne dieseSenkung gebe es ein Hotelsterben. Tatsache ist: Die Ho-tellerie liegt auf Erholungskurs. Die durchschnittlicheAuslastung der Hotels ist – trotz Ökosteuer – im ver-gangenen Jahr von 61,1 auf 63,6 Prozent gestiegen.
Hier eine kleine Anmerkung: Genau wie der Hotelver-band Deutschland habe ich nicht die Auslastung der Bet-ten gemeint, sondern die Zimmerauslastung. Die Betten-auslastung ist aber ebenso gestiegen.Dann haben Sie ein großes Schreckensszenario im Zu-sammenhang mit der Neuregelung bei den 630-Mark-Jobs an die Wand gemalt. Faktum ist, dass jetzt 5 Milliar-den DM pro Jahr in die Sozialversicherung fließen. Diesentlastet die Lohnnebenkosten und stabilisiert unsere So-zialversicherungssysteme.
Jetzt kommen Sie mit Ihrem Gerede daher, dass wegender Ökosteuer eine Katastrophe im Tourismus zu erwar-ten wäre.
– Das passt uns schon. Wir können das leicht parieren.Die Warnungen der Opposition waren bisher in allenPunkten falsch.
– Jetzt passen Sie einmal auf, Herr Burgbacher und HerrBrähmig! – Während Ihrer Regierungszeit ist die Kapa-zitätsauslastung in den Hotels kontinuierlich herunterge-gangen,
und zwar von 1992 bis 1998 um 11 Prozent in den neuenBundesländern. In unserer Regierungszeit haben wir al-lein von 1998 bis 1999 2 Prozentpunkte zurückgewonnen.
– Ja, genau.Eines sage ich noch dazu, weil Sie hier immer die ho-hen Energiekosten, speziell die Benzinkosten, anspre-chen – Herr Brähmig, seien Sie jetzt einmal ein bisschenaufmerksam; vielleicht können Sie sich auch hier nochbilden –: Der Deutschlandtourismus ist im Wesentlichenerdgebunden, also von der Ökosteuer belastet. Sie habenes angesprochen: Das Auto ist – das ist richtig – dasHauptverkehrsmittel. Trotzdem verzeichnen wir in die-sem Bereich Steigerungen. Die Dresdner Bank hat ermit-telt, dass im Vergleich von 1998 auf 1999 die erdgebun-denen Reisen um 5 Prozent zugelegt haben – das kannman nicht wiederlegen –, trotz Ökosteuer.
Natürlich werden Sie in der Antwort der Bundesregie-rung auch Problembeschreibungen für einzelne Branchenfinden.
Die Schausteller stehen sich schlechter – das geben wirzu – und auch das Gastgewerbe bilanziert negativ.Aber warum gibt es denn diese Problembereiche? Ichmuss jetzt noch einmal auf die Ökosteuer und die Lohn-nebenkosten eingehen. Sie haben in Ihrer Regierungszeitdie Lohnnebenkosten immer weiter in die Höhe getrieben.Diese Branchen sind dann natürlich ausgewichen und ha-ben – wie schon erwähnt – Auszubildende eingestellt, Fa-milienangehörige und 630-Mark-Beschäftigte beschäf-tigt. Die können natürlich nicht entlastet werden über eineSenkung der Sozialversicherungsbeiträge. Wer keineSozialversicherungsbeiträge zahlt, kann auch nicht auf
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diesem Wege entlastet werden. Die hat es jetzt erwischtund deshalb können wir hier nichts ändern.
Der DEHOGA hat davon gesprochen, dass 40 Prozentder Beschäftigung über 630-Mark-Verträge abgewickeltwerden. Solche Betriebe werden von einer unsozialenProblemlösung natürlich eingeholt. Es ist auch kein Qua-litätsmerkmal, wenn 40 Prozent der Beschäftigten in einerBranche Aushilfskräfte sind.
Unsere Betriebe brauchen in Europa vergleichbare Wett-bewerbsbedingungen. Deshalb haben wir mit der großenSteuerreform die Steuern gesenkt. Wir haben die für Unter-nehmen relevanten Steuern, die Körperschaftsteuer unddie Einkommensteuer, gesenkt. Das können Sie beim bes-ten Willen nicht ignorieren, weil es von allen Wirtschafts-verbänden anerkannt worden ist. Im europäischen Ver-gleich der Steuerbelastung sind wir jetzt in der Mittellage,bei Ihnen waren wir ganz oben. Bei der Steuerquote lie-gen wir mit 21,9 Prozent jetzt im unteren Drittel und beider Abgabenquote mit 37,1 Prozent im Mittelfeld. Es istbeschlossenes Programm dieser Bundesregierung, dieAbgabenquote noch weiter zu senken. Die Bemerkungenzu den Steuersätzen lasse ich jetzt weg, weil ich noch et-was zum Tourismus an sich sagen möchte.Wenn ich das letzte Jahr betrachte, stelle ich fest: 1999war bereits ein Rekordjahr für das deutsche Beherber-gungsgewerbe. Erstmals konnten die Hotels, Pensionenund sonstigen Beherbergungsbetriebe mit neun und mehrBetten in Deutschland über 100 Millionen Gäste be-grüßen.
Dieser positive Trend hält auch im Jahr 2000 an: In denersten sieben Monaten sind die Übernachtungen umweitere 6,1 Prozent gestiegen, und die Anzahl der Aus-künfte ausländischer Gäste hat sich um 8,8 Prozent er-höht. Die Zahl der Übernachtungen von ausländischenGästen ist um 9 Prozent gestiegen.Auch hier ist das Handeln der Bundesregierung dieUrsache. Herr Brähmig, Sie wissen, dass wir DZT-Mittelangehoben haben und auf positive Effekte verweisenkönnen.
Aber auch das ignorieren Sie. Sie fordern immer wiedermehr Geld.Bei den Inlandsreisen verzeichnen wir ebenfalls einedeutliche Steigerung. 1999 ist die Gesamtzahl der In-landsreisen mit wenigstens einer Übernachtung um6,3 Prozent auf 55 Millionen gestiegen und im erstenHalbjahr 2000 stieg diese Zahl erneut um 7 Prozent.Ein Plus hat es auch beim Campingtourismus gege-ben. Nach Rückgängen in drei aufeinander folgenden Jah-ren stieg hier die Zahl der Ankünfte in 1999 um 9,3 Pro-zent und die Zahl der Übernachtungen um 7,1 Prozent.
Auch die neuen Bundesländer profitieren von diesenpositiven Effekten unserer Wirtschaftspolitik. Der posi-tive Trend aus 1999 hat sich im Jahr 2000 weiter verstärkt.Paradebeispiele sind Mecklenburg-Vorpommern mit plus23 Prozent bei den Übernachtungszahlen und Berlin mitplus 31 Prozent – trotz Ökosteuer, Herr Brähmig!
Besonders erfreulich ist, dass der Trend sich auch aufdem Arbeits- und Ausbildungsmarkt niederschlägt. Sohat das Gastgewerbe 1999 die Rekordzahl von 13,7 Pro-zent mehr Ausbildungsplätzen gegenüber 1998 zur Verfü-gung gestellt. Das bedeutet, dass im Gastgewerbe 40 000Ausbildungsverhältnisse neu begonnen wurden. Die Ge-samtzahl der Ausbildungsplätze liegt jetzt bei rund90 000. Das bedeutet allein im Gastgewerbe eine Steige-rung der Ausbildungsplätze von 10,4 Prozent. Hinzukommen noch weitere Stellen in den übrigen Tourismus-berufen. Diese Zahlen zeigen, dass der Tourismus boomt.Es würde kein Personal eingestellt werden, wenn dieWirtschaft kein Geschäft machen würde.
Die Leistungsträger können auf ihre Leistung stolzsein. Ich möchte an dieser Stelle allen im Tourismus Be-schäftigten für die großartige Leistung danken, die sie fürdie deutsche Volkswirtschaft erbringen.
Der DEHOGA schreibt in seiner jüngsten Hotelmarkt-analyse – ich zitiere –:Nach einer fast zehn Jahre andauernden Durststreckeweisen die Konjunkturindikatoren der deutschenHotellerie endlich eine nachhaltige Entlastung aus.
Das einzige Problem der deutschen Hotelbetreiber ist dieselbstgeschaffene Überkapazität. Wir müssen aufpassen,dass nicht noch weitere Überkapazitäten – und damit eineVerstärkung des Verdrängungswettbewerbs – entstehen.
Nochmals der Hinweis: Der Deutschlandtourismus istim Wesentlichen erdgebunden. Ihrer Theorie zufolgemüssten wir in diesem Bereich sinkende Zahlen haben.Aber die Zahlen weisen nach oben.
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Ich möchte nochmals den DEHOGA als Zeugen an-führen. Herr Ehlers sagte am 30. Oktober in der „Welt“:Die Talsohle der letzten Jahre scheint durchschritten.Hotellerie und Gastronomie schauen zu großen Tei-len wieder mit Optimismus in die Zukunft.Herr Brähmig, der DEHOGAschaut also mit Optimismusin die Zukunft. Das gilt für die Hotellerie und für die Gast-stättenbetreiber; bei Letzteren allerdings besteht – dasgebe ich zu – „gedämpfter Optimismus“.Wir haben in den ersten zwölf Monaten unserer Regie-rungszeit gezielt die Kaufkraft gestärkt. Wir haben dasKindergeld zweimal erhöht, die Einkommen- und Unter-nehmensteuern gesenkt sowie ein Förderprogramm fürmehr Qualifizierung und Ausbildung im Tourismusbe-reich aufgelegt. Jede Familie mit zwei Kindern und einemdurchschnittlichen Einkommen – 50 000 DM im Jahr –wird nach der Steuerreform 2 500 DM mehr in der Taschehaben. Dieses Geld fließt unter anderem in den Urlaubund damit in den Tourismus.
Liebe Frau Kol-
legin, jetzt muss ich Sie doch ermahnen, zum Schluss zu
kommen.
Ich darf zum Schluss noch auf
das Modellprojekt verweisen, das wir finanzieren und das
für die Branche bestimmt sehr wichtig ist.
Herr Brähmig, ich möchte Ihnen ans Herz legen:
Schauen Sie sich die Zahlen an! Dann kommen Sie selbst
zu der Erkenntnis, dass es dem Deutschlandtourismus gut
geht, seit wir an der Regierung sind. Das wollen wir blei-
ben, damit es dem Deutschlandtourismus noch besser
geht.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meinesehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Irber,das Wort vom Realitätsverlust fällt auf die zurück, die esgebraucht haben.
Die Behauptung, der Deutschlandtourismus laufe besser,seit Sie an der Regierung sind, soll jeder selbst beurteilen.Sie verschweigen dabei völlig, dass wir insgesamt gese-hen eine wirtschaftliche Erholung haben
und dass wir erheblich höhere Steuereinnahmen haben.An beiden Entwicklungen hat die Regierung mit Sicher-heit keinen Anteil. Diese Entwicklung gibt es in Europainsgesamt, was Sie offenbar nicht begreifen.
Sie reden über Steuererhöhungen.
Wir hätten eine Steuerreform mit deutlichen Entlastun-gen vor drei, vier Jahren haben können. Aber Sie habensie abgelehnt.Einige Punkte, die angesprochen wurden, fordern michzu einer Entgegnung heraus. Angesichts meiner kurzenRedezeit will ich aber nur auf die wichtigsten Punkte ein-gehen.Wir haben im Tourismus Entwicklungen, die weder mitIhrer noch mit unserer Politik zusammenhängen, sonderneinfach dem Trend entsprechen.
Wir haben ein völlig verändertes Urlaubsverhalten. Wirhaben ein neues Marketing bei der DZT, mit dem schonweit vor Ihrer Regierungszeit angefangen wurde.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer nur schreien undlachen kann, entlarvt sich selbst. Zuhören wäre vielleichtbesser.
Ich finde es angesichts der Bedeutung dieses Themas be-schämend, dass Sie bei der Rede des Kollegen Brähmignur gegrinst und gelacht haben. Das muss ich Ihnen ganzoffen sagen.
Wir hatten in diesem Jahr die EXPO, die Weltausstel-lung. Im Tourismusausschuss haben Sie in dieser Wochealle gesagt, dass die Ausstellung tolle Auswirkungen aufden Deutschlandtourismus hatte. Aber in dieser Debattestellen Sie es so dar, als wäre das Ganze ein Verdienst derRegierung. Sie füllen nicht die Betten der Hotels, das ma-chen immer noch die Gäste!
Lassen Sie mich in aller Kürze noch drei Punkte an-sprechen.Erstens. Wenn Sie von Realitätsverlust reden, bitte ichSie, sich doch auch einmal die Realitäten anzusehen. Esist überhaupt keine Frage, dass die Benzinpreiserhöhun-gen, an denen die Ökosteuer mit schuld ist – nicht alleine,aber sie hat sie wesentlich mit beeinflusst –, und die Heiz-kostenerhöhungen im Geldbeutel ein Loch zurücklassen.Wir haben schon heute genügend Prognosen, die zumAusdruck bringen, dass insbesondere der Hotel- und
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Gaststättenbereich im Frühjahr darunter leiden wird, weildas Verhalten der Menschen von dieser Situation psycho-logisch abhängig ist. Das wollen Sie nicht wahrhaben.
Zweiter Punkt. Wir haben bei der so genannten ökolo-gischen Steuerreform eine wirklich schizophrene Ent-wicklung; denn die, die viel Energie verbrauchen, habenSie von dieser Steuer ausgenommen, während Sie ökolo-gisch sinnvolle Transportmittel wie Bus und Bahn nichtausgenommen haben.
Jetzt nenne ich Ihnen einmal zwei Zahlen. Die Treib-stoffkosten sind in den zwei Jahren der rot-grünen Regie-rung von 29 Pfennig auf 47 Pfennig pro Kilometer gestie-gen. Das macht für einen Bus Mehrkosten von 12 000 DMaus. Davon sind 3 600 DM auf die Ökosteuer zurückzu-führen; das lässt sich errechnen. Ein bestimmter mittel-ständischer Busbetrieb, den Frau Gradistanac wahrschein-lich sehr gut kennt, beziffert seine eigenen zusätzlichenAusgaben und Belastungen mit 1,4 Millionen DM. Daskönnen Sie, da die Franzosen im selben Augenblick ent-lasten, im Wettbewerb zu den Nachbarn nicht mehr auf-fangen.Dritter Punkt. Auch beim Hotel- und Gaststättenge-werbe gibt es zusätzliche Belastungen. Darüber könnenSie doch nicht so blauäugig hinweggehen. Die Hotels ha-ben eine durchschnittliche zusätzliche Belastung von10 000 DM. Sie wissen, dass der große Teil der Hotels fa-miliengeführt ist. In diesen Fällen haben Sie keine Entlas-tung bei der Rentenversicherung.Es tut mir furchtbar Leid, aber mir erschließt sich nicht,wie man hier noch lachen und über alle Tatsachen hin-weggehen kann.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir haben im Tourismusdeutliche Steigerungsraten. Dafür gibt es sehr viele Grün-de, sicherlich auch die, die die Kollegin Irber genannt hat.Wenn Sie den Deutschlandtourismus stärken wollen,dann nutzen Sie doch das Jahr des Tourismus dazu, diedritte Stufe und auch die bisherigen Stufen der Ökosteuerzu streichen.
Dann haben Sie einen Beitrag zum Jahr des Tourismus ge-leistet und werden den Tourismus fördern. Wir werden danicht locker lassen, sondern weiter bohren.Danke schön.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Sylvia Voß.
FrauPräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! HerrBurgbacher und liebe Kollegen von der rechten Seite desHauses, der Humor, der hier aufgekommen ist, kommtwahrscheinlich daher, dass hier ständig eine Ökoplatteaufgelegt wird, die einen Sprung hat.
Dem kann man nur noch mit Humor begegnen. Auchwenn Sie es nicht wahrhaben wollen: In der Tourismus-branche in Deutschland herrscht überwiegend Zufrieden-heit.
Einer Saisonumfrage des Deutschen Industrie- und Han-delstages zufolge, dessen Kompetenz Sie doch hoffent-lich nicht anzweifeln wollen, sind die Aussichten für denTourismus in Deutschland schlichtweg gut.
– Ja, genau, dank Rot-Grün. – Die Zahl der Touristen, dieaus dem Ausland nach Deutschland reist, wächst ständig,Herr Burgbacher. Auch nach der Einführung der erstenStufe der Ökosteuerreform im April 1999 gab es einen er-neuten Anstieg um 3,7 Prozent.Die Deutschen verreisen offensichtlich ebenfalls sehrgern innerhalb des eigenen Landes. Der Deutsche Touris-musverband – auch dem wollen Sie hoffentlich nicht dieKompetenz absprechen – macht Deutschland als belieb-testes Reiseziel der Deutschen aus. Trotz Ökosteuer, stel-len Sie sich das einmal vor! Da stellt sich mir doch dieFrage, wie diese Zahlen mit der Einschätzung zu verein-baren sind, die die CDU/CSU gerade getroffen hat:Die ersten beiden Stufen der Ökosteuer haben offen-sichtlich zu massiven Belastungen der deutschenTourismuswirtschaft und einer Schwächung ihrer in-ternationalen Wettbewerbsfähigkeit geführt.Diese offensichtlich doch komplette Fehleinschätzungder Christdemokraten lässt erkennen, dass die Oppositionlieber die Augen vor der Realität verschließt, als anzuer-kennen, dass die von ihr erwarteten negativen Auswirkun-gen tatsächlich ausgeblieben sind und dass die rot-grüneBundesregierung mit ihrer Reformpolitik, die man in ih-rer Gänze sehen muss, günstige Rahmenbedingungen fürdie deutsche Tourismuswirtschaft geschaffen hat undschafft. Der Präsident des Bundesverbandes der deut-schen Tourismuswirtschaft selbst hat kürzlich auf demWelttourismusgipfel in Hannover – da waren Sie allezugegen – genau diese Tatsache anerkannt.
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Ernst Burgbacher13011
Sie hören das nicht gerne; aber es ist schlichtweg so. Daist nichts mit Lügen, Herr Brähmig.Angefügt sei noch, dass zum einen seit Mai 199912 Pfennig der gestiegenen Benzinpreise auf die Öko-steuer zurückzuführen sind und dass zum anderen dieBenzinpreise im europäischen Vergleich im Mittelfeld lie-gen – das wissen auch Sie –, und zwar in der EU auf Platzneun und in Gesamteuropa auf Platz zwölf. Also schreienSie nicht immer im Zusammenhang mit der Ökosteuer!Auch die immer wieder sehr lauten Rufe nach einerAussetzung der Ökosteuer, die vor dem Hintergrund derBelastungen durch den Ölpreisanstieg auftauchen und diewir gerade wieder gehört haben,
sollten zugunsten konstruktiver Debattenbeiträge ver-stummen.
Nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die sechsgroßen wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinsti-tute – hören Sie jetzt einmal genau hin – begrüßen diedeutliche Entlastung von Unternehmen und Verbraucherndurch die Steuerreform und lehnen eine Senkung der Mi-neralölsteuer oder gar eine Abschaffung der Ökosteuer alsReaktion auf den Ölpreisanstieg ab. Bezweifeln Sie denSachverstand der führenden deutschen Wirtschaftswis-senschaftler
oder bezweifeln Sie den des früheren CDU-Bundesum-weltministers Töpfer? Dieser erklärte am 13. Novemberdieses Jahres im „Morgenmagazin“:Ich glaube nicht, dass die Ökosteuer eine K.o.-Steuerist. Wir brauchen marktwirtschaftliche Signale. Wirbrauchen Veränderungen von Energiepreisen, umTechnik zu stimulieren, um Verhalten zu verändern.Sie sollten Ihrem Herrn Töpfer besser zuhören, statt sichin der „Bild“-Zeitung zu bilden, Herr Brähmig.
Ein Ziel der Ökosteuer ist es, den Verkehr zunehmendauf öffentliche Verkehrsmittel zu verlegen. Schließlichprofitiert auch der Städtetourismus, der sich im Übrigentrotz Ihrer Äußerungen ebenfalls wachsender Beliebtheiterfreut, von einem Umstieg der Touristen vom eigenenPKW auf öffentliche Verkehrsmittel.
Wenn sich nun die CDU/CSU überzeugt zeigt, dass deröffentliche Nah- und Fernverkehr unter der Ökosteuerleide, so ist auch dieser Vorwurf von wenig Sachkenntnisgetragen. Denn die Bundesregierung hat in den Vereinba-rungen zur Ökosteuer die umweltfreundlichen Verkehrs-träger privilegiert.
Um nämlich die Verlagerung des Verkehrs auf öffentli-che Verkehrsmittel zu beschleunigen, zahlt die Bahn füreinen festgelegten Zeitraum nur den halben Satz derStromsteuer und der ÖPNV nur den halben Ökosteuersatzbeim Kraftstoffverbrauch.
Damit wird im Gegensatz zu Ihrer früheren Politiknicht nur die Wettbewerbssituation von Bahn und ÖPNVgestärkt. Es wird für die Touristen auch die Attraktivitätder Städtereisen vergrößert. Denn letztendlich – das seinur am Rande bemerkt – fällt bei der Anreise mit öffent-lichen Verkehrsmitteln das lästige Parkplatzproblem weg.Festgelegte Mineralölsteuersätze und somit ähnlicheBedingungen wie für den ÖPNV wurden für die Bustou-ristik vereinbart. Auch Sie sind ja auf die Bustouristikeingegangen. Bis 2003 sind hier die Mineralölsteuersätzefestgelegt worden. Den Unternehmern in diesem Bereichwurde durch diese Regelung also genügend Zeit einge-räumt, steuerliche Belastungen beim Kraftstoffverbrauchin die Preiskalkulation mit einzubeziehen.Nach Auskunft des Deutschen Tourismusverbandes– auch hier beziehe ich mich auf eine kompetente Institu-tion, wie Sie das immer einfordern – werden sich keinenegativen Auswirkungen auf den Tourismus bemerkbarmachen. Wenn die CDU/CSU nun weiterhin die Ansichtvertritt, dass „für Reisende aus Deutschland ... die Attrak-tivität des eigenen Landes als Urlaubsziel ... sinkt“, müs-sen von ihr künftig ganz andere Gründe als die Ökosteuergesucht werden. Noch besser wäre es jedoch, endlich ein-mal die Realität zur Kenntnis zu nehmen und umwelt- undtourismuspolitisch in der Wirklichkeit anzukommen.Beherzigen Sie doch die Worte Ihres ParteifreundesKlaus Töpfer, der seine Ausführungen im bereits ange-führten Interview mit dem Satz schloss:Also, ein gutes Wort an alle, die Verantwortung mittragen, hier nicht die kurzfristige Entwicklung, son-dern die mittel- und langfristige Entwicklung in denMittelpunkt zu stellen.Sie können nach dem Hau-drauf-Motto alles noch soverdrehen und schlechtreden, aber wahr werden Ihre Aus-sagen dadurch nicht.
Das Wort hat die
Kollegin Neuhäuser.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Es ist leider nicht möglich, in dreiMinuten auf all die Fragen, die in der Großen Anfrageeine Rolle spielen, einzugehen. Ich denke aber, dass ich
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Sylvia Voß13012
trotz der vielen Probleme, die hier aufgeworfen wurden,sagen kann, dass der Tourismus in Deutschland eine posi-tive Entwicklung nimmt. Die Zahlen sind aber nur eineSeite, die Fakten sprechen für sich.Ich denke, es ist wichtig, darauf aufmerksam zu ma-chen, dass viele in diesem Haus den Tourismus für dieJobmaschine schlechthin halten und ihn zur Leitökono-mie erklären. Sie reden dabei nur wenig – ich habe heutenur einmal das Wort Umwelt gehört – über die Ökologie.Gerade die Folgen des Tourismus für Natur und Umweltwerden oft im Zusammenhang mit der Touris-musentwicklung in Deutschland verdrängt. Das wird si-cherlich auch für die Tourismusentwicklung verheerendeFolgen haben.Die Entwicklungen im Tourismus können nicht bis insUnermessliche gefördert werden, meinen wir, weil Um-welt und Natur das Hauptkapital des Tourismus sind.
Zum Erhalt derselben brauchen wir andere Verbindlich-keiten, als Sie sie zum Beispiel im Papier der Bundesre-gierung zur Ökosteuer festgeschrieben haben.Meine Fraktion hat in vielen dieser Debatten deutlichgemacht, dass die ökologische Steuerreform der Bundes-regierung den Namen nicht verdient, weil sie nicht ökolo-gisch ist und keine ökologischen Lenkungswirkungen hat.
– Die hat sie nicht. Ich muss Ihnen doch nicht erklären,dass Steuern in der kapitalistischen Wirtschaft schon im-mer Lenkungscharakter hatten. Wenn es also eineökologische Steuerreform sein soll, dann muss sie der Be-völkerung Erleichterungen bringen und die Menschen indie Debatte über einen ökologischen Umbau einbeziehen.Kurz gesagt: Die ökologische Steuerreform brauchtAkzeptanz in der Bevölkerung. Von oben verordnetes um-weltbewusstes Handeln über das Geld steuern zu wollenwird von den Menschen als Bedrohung empfunden. Da-mit erreichen Sie, dass das Umsteuern im Verbrauch derRessourcen ad absurdum geführt wird. Es kann doch nichtangehen, dass Sie zum Beispiel die Energiesteuer beimVerbrauch, aber nicht bei der Herstellung erheben. Das istnicht ökologisch. Sie glauben doch selbst nicht, dass SieEnergie, Gas, Heizöl und Benzin verteuern, um den Ver-brauch zu beschränken.Ich möchte nun eine Anmerkung zur Benzinpreisstei-gerung machen. Sie trifft unter anderem – das ist hierschon deutlich geworden – die Bahn, die Busse und dasTaxigewerbe. Für mich bedeutet mehr Mobilität in dieserGesellschaft: niedrigste Fahrpreise, ein dichteres ÖPNV-Netz, neue Busanbindungen an Bahnhöfen und Flughäfenund den Ausbau, nicht den Abbau des Schienennetzes.
Das wiederum hätte auch positive Auswirkungen auf denTourismus. Aber wir haben uns schon oft genug darüberunterhalten, dass diese Maßnahmen nicht erfolgen. Einwichtiger Schritt aus unserer Sicht ist die Befreiung derÖPNV- und Reisebusse von der Mineralölsteuer. Dasheißt, dass die Auferlegung des halben Steuersatzes, diebis jetzt vorgeschrieben ist, ausgesetzt werden muss. Ge-nau dafür setzen wir uns ein.Unser Fazit lautet: Das, was uns die rot-grüne Bundes-regierung als Ökosteuer verkaufen will – ich kann dasvonseiten meiner Fraktion nur wiederholen; das habenwir schon des Öfteren gesagt –, ist kein Einstieg in denökologischen Umbau. Die Pläne der Regierung begünsti-gen Großunternehmen und belasten insbesondere Men-schen mit geringerem Einkommen. Das kann man nichtoft genug deutlich machen.Meine Damen und Herren, die Auswirkungen für denDeutschlandtourismus sind nahe liegend: Eine Familiemit Kindern wird künftig bei der Urlaubsplanung sehr ge-nau prüfen, welches Reiseziel das Familienbudget her-gibt. Ob dann das Ziel immer Deutschland sein wird,wage ich zu bezweifeln.Die Antwort der Bundesregierung auf die Große An-frage der CDU/CSU verstärkt in meinen Augen nochmalsdie soziale Ungerechtigkeit der Ökosteuer insbesonderemit Rücksicht auf die Tourismusbranche.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Anita Schäfer.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bereits die ersten zwei Stufendes rot-grünen Projektmanagements Ökosteuer habendem Tourismusstandort Deutschland im internationalenVergleich einen erheblichen Schaden zugefügt.
Diese Sondersteuer auf Benzin, Diesel, Strom und Heizölbelastet nicht nur die Reiseunternehmen und alle in derBranche Tätigen, sondern auch die touristischen Infra-struktureinrichtungen, zum Beispiel bei Volksfesten undin Freizeitparks.Im Schaustellergewerbe ist die Mehrbelastung durchdie gestiegenen Kraftstoff- und Energiekosten weitaushöher als die von der Bundesregierung viel geprieseneEntlastung bei den Lohnnebenkosten. Die Bundesregie-rung gibt auf unsere Anfrage hin sogar zu, dass das mo-bile Gewerbe, das Schaustellergewerbe, durch den hohenStrombedarf für die Beleuchtung und den Betrieb derenergieintensiven Fahrgeschäfte bei jährlich circa40 000 Volksfesten und durch die hohen Kraftstoffkostenmehr belastet als entlastet wird.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,das alles wissen Sie doch. Warum tun Sie dann nichts?Auch im Hotel- und Gaststättengewerbe liegt dieKostenbelastung über der Entlastung der Betriebe bei den
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Rosel Neuhäuser13013
Lohnnebenkosten. Selbst bei umweltfreundlich geführtenHotels macht das eine durchschnittliche Nettobelastungvon jährlich 10 000 DM pro Betrieb aus.
– Ich kann das nachweisen. – Gerade weil wir es in die-ser Branche in besonderem Maße mit Familienbetriebenzu tun haben, kommen die nicht rentenversicherungs-pflichtigen Selbstständigen und deren Familienange-hörige auch nicht in den Genuss geringerer Renten-beiträge. Das musste die Bundesregierung auf unsereGroße Anfrage hin zugeben.
Nicht nur wir von der CDU/CSU, sondern auch dieDEHOGA fordert schon seit Monaten, diese Belastungenund die Standortnachteile wieder zurückzunehmen.
– Das haben Sie schon einmal anders gesagt.Ein anderes Beispiel ist die Bustouristik. Die Busrei-seunternehmen sind von ihrer Veranlagung her mittel-ständisch geprägt. Der Bus ist unter ökologischenGesichtspunkten als vorbildlicher Verkehrsträger einzu-stufen. Die Bundesregierung gefährdet mit dieser so ge-nannten Ökosteuer die Busreiseunternehmen in ihrerExistenz. Die Fahrten nach und innerhalb Deutschlandshaben sich für den Touristen aus dem Ausland verteuert.Die Wettbewerbsverzerrungen gegenüber ausländischenKonkurrenzzielen vergrößern sich für den Tourismusstan-dort Deutschland. Damit haben Sie nicht nur der gesam-ten Branche einen Bärendienst erwiesen, sondern auchdem „Jahr des Tourismus“ eine jämmerliche Startpositionverschafft.
Für unsere Bürger sinkt die Attraktivität des eigenenLandes zugunsten ausländischer Ferienziele, welche nunzunehmend mit dem Flugzeug angesteuert werden.
Das heißt: Reiseland Deutschland, nichts wie weg! Ichfrage Sie: Kann diese unökologische Bilanz im Sinne desgrünen Umweltministers sein?
Offensichtlich bedenken Sie dabei auch nicht, dass derBus direkt und indirekt rund 750 000 Menschen inDeutschland den Arbeitsplatz sichert. Mit 10 000 produ-zierten Omnibussen in 1997 gehört die deutsche Automo-bilindustrie zu den weltweit führenden Omnibusherstel-lern. Kann die Gefährdung dieses Potenzials im Interessedes Automannes Gerhard Schröder sein?Lassen Sie mich abschließend noch das „UnternehmenZukunft“, die Deutsche Bahn, ansprechen. Genauso wieuns die Regierung nicht lange verheimlichen konnte, dassdie von Kanzler Schröder gemachten Entlastungsverspre-chen durch die Entfernungspauschale so wohl nicht zuhalten sind, ist nun klar, dass die Deutsche Bahn jährlichimmense Zuschüsse seitens des Bundes benötigt.
Warum also nehmen es die Verantwortlichen im Bundes-verkehrministerium hin, dass es für die umweltfreundli-che Bahn durch die Ökosteuer für die Jahre 1999 bis 2003zu einer Nettobelastung von sage und schreibe 1,1 Milli-arden DM kommt? Vom Nachfolger des zurückgetrete-nen Bundesverkehrsministers Klimmt erwarte ich mehrRückgrat.
– So kann man es auch sagen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bun-desregierung auf, eine angemessene und gleichmäßigeFörderung aller öffentlichen Verkehrsmittel umzusetzen,anstatt alle gleichmäßig zu belasten. Ich fordere Sie auf:Machen Sie Schluss mit der Ökosteuer!Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen allen einschönes Wochenende. Genießen Sie, wo immer Sie auchwohnen, Ihre reizvolle Landschaft!Danke.
Dafür bedanken
wir uns.
Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Dienstag, den 28. November 2000, 9 Uhr, ein.
Auch ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen so-
wie den letzten Besuchern ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.