Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ichbitte Sie, sich zu erheben.Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen undBürger der Bundesrepublik Deutschland trauern in die-sen Wochen mit der türkischen Nation um die Opfer deskatastrophalen Erdbebens, das in den frühen Morgen-stunden des 17. August weite Teile der Westtürkei zer-stört hat. Heute scheint sicher zu sein, daß das Erdbebenmehr als 20 000 Menschen das Leben gekostet hat.Hunderttausende, die diese Katastrophe überlebt haben,sind weiterhin ohne Obdach. Unvorstellbar ist das Leid,das die Menschen im Erdbebengebiet erfahren haben.Als Zeichen des Mitgefühls und der Solidarität mit ih-nen und den Angehörigen, die hier in Deutschland nachlangem Bangen um ihre Familien in der Türkei trauern,rufen wir zu weiteren Spenden auf.Spontan haben bereits in der ersten Zeit nach demverheerenden Beben zahlreiche private Initiativen mitGeld- und Sachspenden geholfen. Auch im Katastro-phengebiet selbst wurde aktive Hilfe geleistet. Dendeutschen Hilfstrupps, die Seite an Seite mit Hilfs-trupps aus anderen Ländern noch nach Tagen Ver-schüttete lebend aus den Trümmern bargen, gilt unserDank.Während die Menschen in der Türkei noch dabeisind, die tragischen Ausmaße und Konsequenzen desGeschehens zu begreifen, erreichten uns vor zwei Tagenaus dem Nachbarland Griechenland neue Unglücks-nachrichten. Auch dort hat ein Erdbeben viele Tote ge-fordert und erhebliche Schäden angerichtet. Unsere auf-richtige Anteilnahme in diesen schwierigen Tagen giltauch der griechischen Nation.Wir bitten alle Bürgerinnen und Bürger, in ihremMitgefühl und ihrer Hilfsbereitschaft nicht nachzulas-sen; denn unsere türkischen und griechischen Nachbarnhier in Deutschland werden noch sehr viel Trost und dieMenschen in der Westtürkei darüber hinaus noch sehrviel tatkräftige Hilfe benötigen, um mit den Folgen die-ser Naturkatastrophen fertigzuwerden. – Ich danke Ih-nen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8a bis 8c sowieden Zusatzpunkt 3 auf: 8a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Familienförderung– Drucksache 14/1513 –Überweisungsvorschlag:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Fortführung derökologischen Steuerreform– Drucksache 14/1524 –
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von
– Drucksache 14/1514 –
Metadaten/Kopzeile:
4488 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
, Rainer Brüderle, weiterer Abgeord-
braucht Mut zur Wahrheit und Mut zum Handeln.
Mit dem Zukunftsprogramm 2000, über dessen steu-erpolitischen Teil wir heute debattieren, stellen sich Bun-desregierung und die sie tragende Koalition von SPD undBündnis 90/Die Grünen dieser Herausforderung. Handelnund Mut zur Wahrheit sind um so notwendiger,
als die letzte Regierung, die Regierung Kohl, nicht nureinen Schuldenberg in Höhe von 1 450 Milliarden DMhinterlassen hat,
sondern auch ein verwüstetes Steuerrecht,
das soziale Schieflagen produziert hat
und darüber hinaus einen Mangel an Dynamik in unsererWirtschaft. Diese Lähmung muß endlich durchbrochenwerden.
Mit dem Antritt der neuen Bundesregierung imHerbst 1998 sind die Weichen zu mehr Gerechtigkeit, zumehr Nüchternheit und zu mehr Wahrheit in der deut-schen Politik gestellt worden.
Die Schieflage bei der sozialen Belastung im Steuerrechtwar nicht mehr zu ertragen.
Sie haben das nicht mehr wahrhaben wollen. Aber Siehaben diese Debatten doch selbst geführt.
– Herr Glos, es ist schön, daß Sie so fröhlich sind.
Aber Sie haben offenbar die Hinterlassenschaft der Re-gierung Kohl/Waigel nicht wahrgenommen.
Wir befanden uns in einer Situation, in der das Prinzip„Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit“ geradezu aufden Kopf gestellt wurde, weil es im damaligen Steuer-recht eine Fülle von Schlupflöchern gab, die es denjeni-gen, die ein hohes Einkommen hatten, ermöglichten,sich vor dem Finanzamt arm zu rechnen.
Das haben wir mit dem Steuerentlastungsgesetz be-seitigt. Wir sind zu dem Prinzip „Besteuerung nach derLeistungsfähigkeit“ zurückgekehrt.
Es kommt Schritt für Schritt zu einer Entlastung inbreiten Kreisen der Bevölkerung in diesem Lande. Einevon uns durchgeführte Entlastung der Familien mit Kin-dern ist bereits in diesem Jahr in Kraft getreten: ein zu-sätzliches Kindergeld in Höhe von 30 DM für jedes ersteund zweite Kind. Wir haben das Kindergeld bereits von220 auf 250 DM im Monat angehoben. Mit der heutigenVorlage werden wir eine weitere Anhebung des Kinder-geldes auf 270 DM durchsetzen.
Sie tun so, als wäre das nichts. Denn Sie haben verges-sen, was es für eine Familie bedeutet, ob 250 oder 270DM in der Kasse sind. Das wissen Sie gar nicht mehr!
Präsident Wolfgang Thierse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4489
(C)
(D)
Wir werden in den Jahren 2000 und 2002 – das ist be-reits geltendes Recht – für alle Bürgerinnen und Bürgermit einem normalen Einkommen – auch für die ohneKinder – eine spürbare Entlastung durchführen. Wirwerden auch endlich wieder zu der Situation kommen –auch das ist nicht geringzuschätzen –, daß Menschen miteinem hohen Einkommen einen angemessenen Beitragzur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben leisten.
Wir werden mit der zweiten Stufe der ökologischenSteuerreform die Zukunft auch in anderer Hinsicht sichern.
Wir werden sicherstellen, daß der Energieverbrauchnicht unbegrenzt steigt, daß wir faire Bedingungen bzw.Kostenrelationen in bezug auf den Faktor Arbeit und denFaktor Energieverbrauch haben. Unerträglich war ja, wiees Ihre Regierung damals hingenommen hat, daß derFaktor Arbeit durch eine unzumutbare Erhöhung der So-zialabgaben, der Lohnnebenkosten, immer teurer wurde.
Sie haben in Feiertagsreden immer das Gegenteil vondem behauptet, was Sie in Wirklichkeit getan haben.Das war bei der Familienpolitik so, und bei der Wirt-schaftspolitik war es ganz ähnlich.Wir haben zu beklagen – deswegen ist es eine beson-dere Dreistigkeit, daß die F.D.P. heute einen Antrag ein-bringt, in dem sie an die ordnungspolitische Orientie-rung im Steuerrecht erinnert –,
daß bei Ihnen die ökonomische Wirkung von Steuern of-fenbar überhaupt keine Rolle gespielt hat. Diesen Wustvon Sonderabschreibungen und Verlustzuweisungen, dergeradezu eine Umkehrung des gesunden marktwirt-schaftlichen Prinzips, daß sich Investitionen an Gewin-nerwartungen und nicht an Verlustzuweisungen zu ori-entieren haben, gebracht hat,
haben Sie, Herr Gerhardt, doch für Ihre Klientel herbei-geführt.
Es hat Sie auch gar nicht gestört, daß die Schiffe, die ir-gendwo in Korea gebaut wurden – –
– Herr Kollege Gerhardt, es scheint Sie irgendwie zutreffen.
Herr Kollege Ger-
hardt, Sie haben Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu
stellen; dann brauchen Sie sich nicht so anzustrengen.
– Dann melden Sie sich bitte.
Kollege Spiller, gestatten Sie zunächst eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Solms? Er hatte sich ordnungs-
gemäß erhoben und seine Zwischenfrage angemeldet.
Ich will die Hierarchie in
der F.D.P. nicht durcheinanderbringen; das ist nicht
meine Sache.
Herr Kollege Solms.
Herr Kollege
Spiller, könnten Sie mir eine einzige Ausnahmeregelung
im Steuerrecht nennen, der die SPD-Fraktion nicht zu-
gestimmt hat? Insbesondere im Hinblick auf den Schiff-
bau
kann ich mich gut daran erinnern, wie Ihr Kollege Krö-
ning um jeden Millimeter Schiffbauförderung gekämpft
hat. Das will ich gar nicht kritisieren. Ich will nur sagen,
daß es die gemeinsame Verantwortung von Ihnen und
uns war, denn spätestens im Bundesrat haben Sie jeweils
zustimmen müssen.
Herr Kollege Solms, das,was die SPD-Fraktion in der vorigen Wahlperiode ge-macht hat, war, vernünftige Übergangsregelungen zuverlangen.
Das ist auch zu rechtfertigen. Übergangsregelungen ja,aber nicht auf Dauer, wie Sie es gemacht haben, HerrKollege Solms.
Sie haben diese ganzen Vergünstigungen doch nichtgemacht, weil Sie damit eine wirtschaftspolitische Kon-zeption verfolgt haben, sondern nur weil Sie in völligerOrientierungslosigkeit eine Klientel bedienen wollten.Jörg-Otto Spiller
Metadaten/Kopzeile:
4490 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Herr Kollege Solms, besonders schön finde ich, daßSie sich zu der Behandlung von Lebensversicherungenäußern; Sie haben das neulich auch gegenüber der Pres-se gemacht. Ich darf einmal an folgendes erinnern: Ihredamalige Koalition hat in den Petersberger Beschlüssenvorgeschlagen, daß in die Bedingungen bestehender Le-bensversicherungsverträge eingegriffen wird.
In dem Gesetzentwurf, den Sie damals in den DeutschenBundestag eingebracht haben, wollten Sie Kapitalle-bensversicherungen besteuern, und zwar alle – egal,wann die Verträge abgeschlossen worden sind.
Das war Ihre Position.
– Unsere Position war immer – und sie ist überhauptnicht verändert –: Wir wollen eine faire und, Herr Kol-lege Solms, ordnungspolitisch neutrale Behandlung vonunterschiedlichen Anlageformen und von unterschiedli-chen Arten der Vorsorge, greifen aber nicht in bestehen-de Verträge ein.
Für die Öffentlichkeit muß ich noch einmal betonen:Niemand, der heute bereits eine Kapitallebensversiche-rung hat, wird die Sorge haben müssen, daß die Bedin-gungen dafür im nachhinein staatlicherseits verschlech-tert werden.
Das ist ganz anders als das, was Sie damals gemacht ha-ben. Jetzt plustern Sie sich auf. Das ist unehrlich, HerrSolms.
Ich weiß nicht, ob sich vorhin noch jemand zu einerZwischenfrage gemeldet hatte.
Es ist ungewöhnlich,
daß der Redner zu einer Zwischenfrage auffordert, aber
sie war vorhin avisiert. Herr Kollege Gerhardt, wenn Sie
noch wollen, können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.
Vielen Dank, Herr
Präsident. Es geht etwas gemischt zu, aber das ist parla-
mentarisch durchaus nicht ungewöhnlich.
Herr Kollege Spiller, ich möchte Ihnen die Frage
stellen – wobei es durchaus unterschiedliche Beweg-
gründe gibt, über Ausnahmebestimmungen so oder so zu
rechten –, weshalb Ihre Partei in der letzten Legislatur-
periode die gesamte Steuerreform, die der Deutsche
Bundestag mit der Mehrheit von CDU/CSU und F.D.P.
beschlossen hatte und die unter Aufhebung von Aus-
nahmebestimmungen eine deutliche Steuersenkung in
Deutschland bedeutet hätte, zwei Jahre lang blockiert
hat, ohne sich auf einen ernsthaften Dialog einzulassen.
Herr Kollege Gerhardt, das
will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: weil die Re-
form, die Sie vorgeschlagen haben, absolut unseriös
war.
[Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus
Wolfgang Müller [Kiel] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Mehrwertsteuer!)
Denn Sie haben Mindereinnahmen von Bund, Ländern
und Gemeinden in Höhe von 45 Milliarden DM pro Jahr
angekündigt. Dann gab es aber noch eine Fußnote, in der
stand, daß das vielleicht noch durch eine Anhebung indi-
rekter Steuern geregelt werden könnte. Gemeint war die
Mehrwertsteuer. Als die arme Frau Nolte in einem An-
flug von Ehrlichkeit
darauf hingewiesen hat, ist die gesamte Union über sie
hergefallen, weil die Union und auch die F.D.P. meinten,
es schicke sich nicht, den Leuten die Wahrheit zu sagen.
Herr Kollege Spiller,
gestatten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen Ger-
hardt?
Sehr gerne.
Darf ich Sie, Herr
Kollege Spiller, dann fragen, weshalb Ihr Fraktionsvor-
sitzender in dieser Sommerpause sogar noch eine wei-
tergehende Vorstellung der F.D.P. als Weg zu mehr
Gerechtigkeit im Steuerwesen bezeichnet hat?
Mir ist dabei bloß aufge-fallen, Herr Kollege Gerhardt, daß die F.D.P. gar nichtweiß, was sie will. Sie haben sich in der vorigen Wahl-periode mit Ihrem damaligen Koalitionspartner für diePetersberger Beschlüsse eingesetzt. Die hatten mit demModell, das Sie neuerdings vertreten, gar nichts zu tun.Daher ist es natürlich sehr spannend zu sehen, wie beiIhnen die Debatten laufen.Ein Punkt gilt für alle hier im Hause gemeinsam: DieDebatte über Steuerpolitik wird mit dem Abschluß die-ser Wahlperiode nicht zu Ende sein.
Jörg-Otto Spiller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4491
(C)
(D)
Wir werden auch in der neuen Wahlperiode darübernachzudenken haben, wie das Steuersystem vereinfachtwerden kann. Ich sage Ihnen allerdings auch: Das Mo-dell, das Ihnen vorschwebt, überzeugt mich überhauptnicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei einemso anspruchsvollen Programm sind auch schmerzhafteEntscheidungen zu treffen. Es geht um die Konsolidie-rung der öffentlichen Finanzen, um das Ausbrechen ausder Schuldenfalle, die die Regierung Kohl/Waigel hin-terlassen hat. Das bedeutet, wir müssen wegkommenvon der Verpflichtung, 80 Milliarden DM im Jahr anZinsen zu zahlen. Das sind pro Kopf der Bevölkerung1 000 DM, also für eine vierköpfige Familie 4 000 DMim Jahr lediglich als Zinsendienst, ohne daß eine müdeMark von der öffentlichen Verschuldung getilgt würde.Es ist doch wohl normal, daß über eine konsequente,mutige Politik, die Bundeskanzler Schröder und Bundes-finanzminister Eichel eingeleitet haben, auch debattiertwird. Wir haben in den beiden hinter uns liegenden Ta-gen hier im Hause, aber natürlich auch innerhalb derFraktionen und innerhalb der Parteien über die Traditionder öffentlichen Debatte gesprochen. Das muß auch sobleiben. Ich sage Ihnen einmal, wie es bei der SPD seinwird, nämlich so, wie es unsere Tradition ist: eine offeneDebatte und geschlossenes Handeln.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun
Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meinesehr geehrten Damen und Herren! In der 247. Sit-zung des Deutschen Bundestages in der 13. Wahlperiode– das ist gerade ein Jahr her – hat der AbgeordneteJoseph Fischer gesagt:Die hohe Arbeitslosigkeit ist das Krebsgeschwür,mit dem wir uns herumzuplagen haben. Wenn wirin diesem Bereich im ersten halben Jahr mit einerneuen Regierung keine Trendwende erreichen,dann wird diese Regierung scheitern.
Ich kann nur sagen: Wo der Vizekanzler recht hat, hater recht. Ich habe mir noch einmal die Liste der Prophe-ten angeschaut. Es gibt unter anderem den ProphetenJosua. Aber ich glaube, Herr Fischer ist näher am Pro-pheten Hiob, der Unheil richtig vorausgesagt hat.
Wenn wir uns einmal umschauen, erkennen wir, daßdie Arbeitslosenzahlen steigen. Das ist sehr gefährlich.Sie steigen auch saisonbereinigt: März plus 1 000, Aprilplus 12 000, Mai plus 13 000, Juni plus 13 000, Augustplus 4 000.Herr Bundeskanzler, der einzige wirksame Beitrag,den Sie bis jetzt zur Beseitigung der Arbeitslosigkeitgeleistet haben, war die Tatsache, daß Sie den arbeits-losen Ministerpräsidenten Eichel zum Finanzministergemacht haben.
Jetzt wollen Sie den arbeitslosen MinisterpräsidentenKlimmt zum Verkehrsminister machen. Ich frage mich:Wie lange dauert es, bis Heide Simonis und WolfgangClement hier herkommen?
Wir werden dafür sorgen, daß sie bald hier sind. Ichkann Sie ja gut verstehen, daß Sie die Leute nicht ausder Fraktion holen. Das zeigt auch Ihre ganze Verach-tung für diese Fraktion.
Ich meine, ein Stück weit hat sie es verdient; aber ganzso schlimm, wie Sie sie behandeln, Herr Bundeskanzler,hat sie es nicht verdient.
Für Schreiner hat man noch nichts gefunden; er standOskar zu nahe.
– Das hat mit den Steuern sehr viel zu tun, weil der An-stieg der Arbeitslosigkeit mit Ihrer verfehlten Wirt-schafts- und Finanzpolitik zu tun hat – wenn Sie das ge-nau wissen wollen, Frau Kastner.
Ich zitiere noch einmal den Vizekanzler – das wirdman doch noch tun dürfen. Er sagte weiter:Ich sage Ihnen: Dieser Aufschwung hält genau biszum 27. September 1998. Danach werden wir eineganz andere Situation haben.Recht hatte der Herr Fischer. Diese Weitsicht läßt sichauch an Zahlen belegen: 2,8 Prozent Wachstum brachtedie Regierung Kohl in 1998 auf die Waage. Sie, HerrBundeskanzler Schröder, sind auch in dieser Hinsichtein Leichtgewicht gegenüber Helmut Kohl.
Sie haben in 1999 nicht einmal die Hälfte des Wachstumsvorzuweisen. Das DIW schätzt das Wachstum für das er-ste Halbjahr 1999 auf 0,8 Prozent. In vergleichbaren Län-dern dagegen – ich nenne einmal die USA; sie können vorJörg-Otto Spiller
Metadaten/Kopzeile:
4492 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Kraft nicht laufen – haben wir ganz andere Wachstums-zahlen. Wir in Deutschland haben das schlechtesteWachstum innerhalb der Europäischen Union.
Das muß doch hausgemachte Ursachen haben, meinesehr verehrten Damen und Herren.
Ich komme noch einmal zu der Frage nach den Ursa-chen, die von Frau Kastner gestellt worden ist. Es ist ganzklar: Die Politik der Regierung Schröder hat Menschen undBetriebe in Deutschland verunsichert. Die Leute haben keinVertrauen in die Bundesregierung. Wo kein Vertrauenherrscht, wird weder investiert noch konsumiert.Wir kennen eine lange Kette von Fehlleistungen, diegemacht worden sind. Wir haben es heute ja mit soge-nannten Korrekturgesetzen zu tun. Sie geben selber zu,daß Sie die Hausaufgaben schlecht gemacht haben; dennSie müssen sie wieder korrigieren. Das zeigt alleine derName der Gesetze.
Ich darf nur ein paar Beispiele – wenn Sie es nichtmehr wissen – in Erinnerung rufen: Die Neuregelungdes 630-DM-Gesetzes ist ein Flop. Die SPD-Zentrale,so habe ich gelesen, hat fast zwei Drittel ihrer Mitarbei-ter verloren. Dort müssen über 70 630-DM-Kräfte be-schäftigt gewesen sein. Das ist schon abenteuerlich,wenn man bedenkt, wie gegen die Existenz der 630-DM-Jobs polemisiert worden ist – wie schlimm dasdoch sei –, während man gleichzeitig diese Art der Be-schäftigung selber weitlich genutzt hat. Auch das gehörtzur Doppelbödigkeit der SPD.
Weitere Beispiele sind das Gesetz gegen die soge-nannte Scheinselbständigkeit, der Rentenbetrug und diesteuerliche Mehrbelastung von Bürgern und Betrieben,die als Steuerentlastungsgesetz getarnt wurde. Das wareine böse Täuschung; denn in Wirklichkeit war dieNettobelastung danach höher.Beispiel Ökosteuer. Sie, Herr Bundeskanzler Schröder,haben eine Erhöhung der Mineralölsteuer um sechs Pfen-nig angekündigt, nachdem es vorher ein martialisches öf-fentliches Ringen darum gegeben hatte, das Ihnen wahr-scheinlich Ihre Spindoctors empfohlen hatten, um sichbesser in Szene setzen zu können. Wenn Sie das durch-gehalten hätten, dann hätte ich Sie gewisserweise sogarnoch bewundert. Tatsächlich herausgekommen sind fünfSteuererhöhungen à sechs Pfennig. Das macht insgesamt30 Pfennig. Die Bürger werden auch bei Strom, Heizölund Erdgas mehr belastet. Davon war vor der Wahl indieser Art und Weise nicht die Rede.
Herr Eichel, wenn Sie den Verkehrsinfarkt inDeutschland vermeiden wollen – auch auf den Autobah-nen rund um Frankfurt herum sieht es schlimm aus –,dann kann ich Ihnen nur empfehlen: Verwenden Sie ei-nen Teil der Mehreinnahmen, die Sie erzielen werden,wenn Sie Ihr Sparpaket in der jetzigen Form durchsetzenkönnen – wir können es nicht verhindern, weil Mineral-öl- und Energiesteuern reine Bundessteuern sind –, fürden Verkehrswegeausbau. Wenn Sie das nicht tun,wird es einen Verkehrsinfarkt auf den Autobahnen ge-ben.
Herr Müntefering verläßt das Kabinett mit einer ganzschlimmen Bilanz. Er hat während seines Jahres alsVerkehrsminister nichts gestaltet und nichts bewirkt. Erhat sich noch nicht einmal gegen die von Ihnen, Herr Ei-chel, geplanten Investitionskürzungen in seinem Etatwehren können. Er ist vielleicht in Sachen Wahlkampfein guter Mann. Aber man kann nicht drei Jahre langWahlkampf machen und Kampagnen führen, wenn dieLeistungen nichts taugen, die letztlich dahinterstehenmüssen.
Ich kann nur sagen: Die Autofahrer laufen Ihnen da-von. Ich habe kürzlich am Wahlkampf in Thüringenteilgenommen. Die Leute ärgern sich dort maßlos dar-über, daß man ihnen, wo sie jetzt endlich ordentlicheAutos und Straßen haben, das Autofahren vergällen will.Ihre Mineralölsteuererhöhung ist auch deshalb voll-kommen falsch, weil im Moment die Energiepreise aufden Weltmärkten steigen. Das wirkt sich dann doppeltauf die Autofahrer aus. Das ärgert die Autofahrer zuRecht. In dieser Phase sind massive Mineralölsteuerer-höhungen falsch.Sämtliche Stufen der Ökosteuerreform werden imnationalen Alleingang durchgeführt. Das ist besondersschlimm, weil es sich auf die Konkurrenzfähigkeit unse-rer Wirtschaft und unserer Betriebe auswirkt. Trotz derWachstumsschwäche in Deutschland und anziehenderEnergiepreise auf den Weltmärkten wird zusätzlich ander Steuerschraube gedreht. Ich möchte in diesem Zu-sammenhang auf das Ergebnis einer Umfrage der IHKWuppertal verweisen. Nach dieser hat die Ökosteuer beider Hälfte der Unternehmungen – trotz gleichzeitigerSenkung der Rentenversicherungsbeiträge – zu Kosten-erhöhungen geführt. Das kostet letztendlich Arbeitsplät-ze. Die überwiegende Mehrheit der Unternehmen setzttrotz der Ökosteuer keine energiesparenden Produk-tionsverfahren ein. Es wird also nichts aus der soge-nannten doppelten Dividende der vermeintlichen Öko-steuer.Beispiel Rente. Noch am 17. Februar 1999 habenSie, Herr Bundeskanzler, gesagt – zugegebenermaßen,es war im bayerischen Vilshofen; aber man sollte auchdie Bayern gut behandeln –: Ich stehe dafür, daß dieRenten in Zukunft so steigen wie die Nettoeinkommender Arbeitnehmer.
Michael Glos
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4493
(C)
(D)
So dürfen Sie sich selbst nicht beschädigen. Es geht umIhre Glaubwürdigkeit. Ich könnte natürlich sagen: Dasmacht uns wenig Sorgen, wenn Ihre persönliche Glaub-würdigkeit erschüttert ist. Aber ich stelle auch immerwieder fest: Die Menschen draußen, insbesondere unsereälteren Mitbürger, verlieren das Vertrauen in die Politik.Wenn man älter ist und nicht mehr für sich selbst sorgenkann, dann ist man darauf angewiesen, daß das, wasman während seines Berufs- und Arbeitslebens einge-zahlt hat, auch, wie versprochen, für die Zeit im Alterzur Verfügung steht. Deswegen müssen unsere Rentenkalkulierbar bleiben. Über sie darf nicht willkürlich undnach Kassenlage entschieden werden.
– Herr Poß, ich halte das insbesondere im wiederverei-nigten Deutschland für ganz schlimm, weil in der DDRimmer nach Kassenlage über Renten entschieden wor-den ist. Es ist ein Fortschritt, daß es in Westdeutschlandnie so gewesen ist.
Die Rentner sollen keine Almosenempfänger sein, undsie sollen nicht von der Barmherzigkeit der Politik undvon der Barmherzigkeit der jeweiligen Parlamentsmehr-heit leben müssen; vielmehr müssen die Renten langfri-stig kalkulierbar bleiben. Deswegen haben wir eineRentenreform durchgeführt, die diesen Namen verdient.Sie haben sie sofort kassiert. Was Sie jetzt an die gleicheStelle setzen wollen, ist Flickwerk.
– Da die Zwischenrufe von der SPD bei diesem Themanicht aufhören, kann man nur sagen: Betroffener Hundbellt.Ich möchte Oskar Lafontaine zitieren, auch wennich damit möglicherweise etwas aus seinem Buch vor-wegnehme.
– Es war Ihr Vorsitzender. Möglicherweise waren Siebeim Putsch in Mannheim sogar dabei und haben ihngewählt. Sie müssen sich jetzt anhören, was der Manngesagt hat, weil die Leute, die Ihre Partei gewählt haben,Lafontaine und Schröder, also beide, gewählt haben.Deswegen wird man zitieren dürfen, was Oskar Lafon-taine gesagt hat:Wir denken … an die, die 45 Versicherungsjahrehaben; wir denken vor allem an die Kriegerwitwen,die ihre Männer im Krieg verloren haben, die dieKinder allein großgezogen haben, die zuwenig ge-klebt haben, die von kleinen Renten leben müssenund die keine Nebeneinkünfte haben. Mein Wortsteht: Diesen Menschen die Rente zu kürzen ist undbleibt schamlos!
Zwar kann ich es nicht in der gleichen wortgewaltigen,polemischen Art und Weise sagen, wie Oskar Lafon-taine solche Dinge immer gegen uns gerichtet hat; aberSie müssen ertragen, daß man Ihnen jetzt in einer ruhi-geren Sprache vorhält, was er gesagt hat und was er ver-sprochen hat.
Beispiel Steuerreform. Ich zitiere Peter Struck: „Wirbrauchen eine Steuerreform, die diesen Namen ver-dient.“
Ich kann nur sagen: Wo der Mann recht hat, hat er recht.Von seinem Sprecher, den er hier hat reden lassen, habeich dazu wenig gehört. Erst jahrelang die Zustimmungzu einer kräftigen Absenkung der Steuersätze verwei-gern, dann selbst eine halbherzige, dafür aber kompli-zierte Reform beschließen und sich am Ende als großerVisionär darstellen – das geht nicht.Ich möchte kurz auf das eingehen, was Sie zum Bei-spiel zu den Abschreibungen für Schiffbau gesagt ha-ben. Wahr ist: Wir haben die Regelungen, die zu weitgingen, die zu immer abenteuerlicheren Konstruktionengeführt haben und die als Steuersparmodelle über Ver-triebskanäle behandelt worden sind, mit der Bundes-tagsmehrheit von CDU/CSU und F.D.P. geändert. DerBundesrat hat diese Regelung verhindert. Herr Eichelwar damals der Koordinator, der dafür verantwortlichwar. Machen Sie sich kundig, wenn Sie schon eineSprecherfunktion haben.
– Herr Poß, Sie sollten das wissen. Sie sind einer derje-nigen, der Steuerpolitik von Anfang an mitgestaltet hat.Wir beide waren damals Sprecher im Finanzausschuß.Daß Sie nicht hinter das Rednerpult getreten sind, dasehrt Sie. Aber daß Sie Herrn Spiller so ins Abseits lau-fen lassen, finde ich weniger gut.
Ich will gar nicht alle komplizierten Regelungen auf-zählen, die Sie eingeführt haben. Falls es noch arbeitslo-se Steuerberater gibt – es gibt sie eh nicht – , dann hättensie bald Arbeit, weil sie ungeheuer zu büffeln haben, umdie komplizierte Materie nachzulesen. Die Finanzver-waltung hat kräftig zu tun. Sie muß aufgestockt werden.Struck hat recht: Niedrigere Steuersätze, weniger Aus-nahmen
Michael Glos
Metadaten/Kopzeile:
4494 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
und das ordentlich in einem Ruck durchführen, so wiewir das gewollt haben und so wie es von Herrn Eichelblockiert worden ist, das ist das Richtige.
Die letzten Jahre im Bundesrat waren reine Blocka-dejahre. Mit Ihren Zwischenrufen können Sie darüberüberhaupt nicht hinwegtäuschen. Beispiel Familien-entlastung. Sie haben sich gerade gerühmt. Statt endlichein schlüssiges Konzept vorzulegen, beschränkt sich dieBundesregierung darauf, die zu beachtenden Vorgabendes Bundesverfassungsgerichts
nur halbherzig umzusetzen. Über Details wird hier nochgesprochen werden. Es ist eine halbherzige Umsetzung.Es ist lediglich Flickwerk.
Jetzt möchte ich gerne noch einmal – heute hat HerrSpiller das wieder gebracht, Herr Eichel bringt es immerwieder, und gestern abend bei einer Fernsehdiskussionkam Herr Struck mit der ollen Kamelle – ausführlich aufdie Geschichte mit den 1,5 Billionen DM Erblast ein-gehen.
– Hier tut überhaupt nichts weh, weil Zahlen für sichsprechen.Die Wahrheit ist: Wir haben von 1982 bis 1989 Kon-solidierungspolitik vorgemacht; davon sollten Sie ler-nen. Das Ausgabenwachstum lag damals im Schnitt bei2,5 Prozent im Jahr; diese Steigerung lag halb so hochwie das Anwachsen des Bruttosozialproduktes. Nur sokann man vernünftig konsolidieren.
Theo Waigel wäre der erste Finanzminister in der neue-ren Geschichte der Bundesrepublik gewesen, der die De-fizite zurückgeführt hätte, wenn nicht die von uns allenherbeigesehnte deutsche Wiedervereinigung gekommenwäre.Um Verdrehungen vorzubeugen, möchte ich nocheinmal sagen, wie es damals war: In den 90er Jahrenmußte der Bund die finanzielle Erblast von 40 JahrenKommunismus und Sozialismus in Höhe von 350 Milli-arden DM schultern. Diese Schulden hat er direkt über-nommen; das können Sie nachlesen. Die dafür und fürdie übernommenen Schulden der Regierung Schmidt zuzahlenden Zinsen und Zinseszinsen zusammen mit 600Milliarden DM an Transferleistungen, die allein derBund – ich lasse die Länder unberücksichtigt – geleistethat, ergeben letztlich diese Zahl.Natürlich ist es richtig, Herr Eichel, daß wir jetzt spa-ren müssen. Aber Sie sparen nicht wirklich, sondernverhalten sich wie auf einem Verschiebebahnhof. Au-ßerdem nehmen Sie die Steuergesetze von Oskar La-fontaine zurück, obwohl auch Sie dafür Verantwortungtragen. Sie ermöglichten es nämlich mit Ihrer Stimme imBundesrat, obwohl Sie von den hessischen Wählerinnenund Wählern schon abgewählt waren, daß dieser Haus-halt und diese Steuergesetze in Kraft treten konnten.Jetzt versuchen Sie, die Luftblasen, die damals in denHaushalt gekommen sind, wieder herauszulassen.
Wenn man unsere Finanzpolitik als liederlich be-zeichnet, ist das eine bewußte Lüge und Irreführung.
Wir haben die Maastricht-Kriterien trotz aller Unken-rufe auf Punkt und Komma erfüllt und den Anteil derBundesausgaben am Bruttosozialprodukt 1998 mit 11,8Prozent auf einen neuen historischen Tiefstand gedrückt.Der Bundeshaushalt ist ständig gesunken und nicht ange-stiegen; erst unter Oskar Lafontaine stieg er wieder an.Sie wissen, daß man Zahlen nicht fälschen kann.
Deswegen hören Sie sich doch noch einmal die Zahlenan. Der Anteil der Bundesausgaben betrug zu Zeiten derRegierung Helmut Schmidt 15 Prozent vom Bruttosozi-alprodukt. Am Ende der Amtszeit von Helmut Kohl undTheo Waigel waren es trotz der gewaltigen Belastungendurch die deutsche Wiedervereinigung lediglich 11,8Prozent. Alle finanzpolitischen Maßnahmen, die von unsin den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden sind,wurden blockiert, weil man das Gefühl von Stillstanderzeugen wollte. Die Rechnung ist ja letztendlich aufge-gangen. Die Suppe aber, die Sie sich eingebrockt haben,müssen Sie jetzt selbst auslöffeln.Wir werden uns dennoch nicht so verhalten, wie Siees getan haben. Wenn wir dazu in die Lage versetztwerden, werden wir unsere Mehrheit – wir haben ja kei-ne absolute Mehrheit im Bundesrat, Sie haben sie aberauch nicht mehr – nicht zur totalen Blockade gebrau-chen. Uns ist nämlich das Land und das Wohl und Weheder Menschen immer noch wichtiger als die Frage, obman selber oder jemand anders gerade regiert.
Die Methode, mit der Sie an die Macht gekommen sind,muß entlarvt werden.
Auch die Tatsache, Herr Bundeskanzler, daß Sie denblanken Hans, wie man ihn inzwischen nennt, zumFinanzminister gemacht haben,
wird Ihnen wenig helfen. Wenn man sich nämlich seineLeistungen in Hessen ansieht –
Michael Glos
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4495
(C)
(D)
das müssen Sie sich vorhalten lassen, Herr Bundes-finanzminister –, stellt man fest, daß sich in Hessen von1990 bis 1999 der Schuldenstand um 60 Prozent erhöhthat und die Zinsausgaben um fast 70 Prozent gestiegensind. Warum prangern Sie das eigentlich nicht an, HerrEichel, sondern gehen immer wieder auf die RegierungKohl/Waigel/Gerhardt los? Warum kritisieren Sie nichtdiese willkürliche Ausgabensteigerung in Hessen, wäh-rend der Bund die deutsche Wiedervereinigung zuschultern hatte? Diese Polemik und solche Erörterungenlassen wir Ihnen so nicht durchgehen.
Jetzt könnte ich noch auf Ausführungen von HerrnMetzger eingehen, aber ich fürchte, die Zeit reicht nichtaus. Er hat richtigerweise vor einem weiteren Durchmo-geln gewarnt. Sie, Herr Schlauch, sind gut beraten, wennSie sich ein Stück weit von der Politik absetzen, diehauptsächlich von Herrn Eichel und von Herrn Schrödergemacht wird.
Im Moment werden die Investoren und Bürger durcheine endlose Debatte über weitere Steuererhöhungenverunsichert. Ich nenne beispielsweise die Erbschaft-steuer und die Einführung einer Vermögensabgabe bzw.-steuer. Jetzt verlangt Frau Schreyer, die aus Ihren Rei-hen kommt, noch eine zusätzliche EU-Steuer. All das istnicht angetan, wieder die Dynamik in die Wirtschaft zubringen, die wir wollen. Hören Sie mit hektischen Re-formschritten auf; betreiben Sie eine kalkulierbare, län-gerfristig durchschaubare Steuerpolitik! Dann geht es imLand wieder aufwärts.Ich fürchte, Sie haben nicht die Kraft und nicht dieRückendeckung in Ihren Reihen, um so etwas durchzu-setzen. Ich will kein solcher Prophet wie der Prophet Jo-seph werden. Aber ich glaube trotzdem, daß die Unionguten Grund hat, den künftigen Wahltagen mit Zuver-sicht entgegenzusehen, weil die Wählerinnen und Wäh-ler die Möglichkeit haben, auch bei Landtagswahlenüber die verfehlte Politik der Bundesregierung abzu-stimmen.Danke schön.
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort der KollegeKlaus Müller.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Herr Glos, ich bin enttäuscht. Ich hatte eigent-lich gedacht, daß wir zu Beginn des Tages hier imReichstag, zu Beginn der wirklich spannenden Debattenüber die Zukunft des Sparpaketes, über das Zukunfts-programm von Ihnen eine spritzige Rede hören würden,eine Rede mit eigenen Vorschlägen.
Aber nein, es war eine rückwärtsgewandte Rede. Sietrauern noch immer Herrn Lafontaine hinterher. Daskann ich verstehen, ein interessanter Politiker.
Aber die Realitäten sind inzwischen etwas weiter fortge-schritten. Daß Sie das nicht gemerkt haben, tut mir leid.Ferner war Ihre Rede voller Halbwahrheiten undUnwahrheiten. Beispiel Ökosteuer – dazu werden wirheute hoffentlich noch etwas Qualifiziertes von IhrerFraktion hören –: Wenn Sie die ganze Zeit nur die eineSeite der Medaille betrachten, nämlich die Frage derEnergiepreise, dann ist das schlicht die Hälfte der Wahr-heit. Sie müssen sehen, daß das Geld zur Senkung derLohnnebenkosten verwendet wird, die Sie in IhrerAmtszeit immer weiter erhöht haben. Das ist eine richti-ge und kluge Politik.
Am Anfang haben Sie versucht, sich über die Perso-nalpolitik dieser Bundesregierung auszulassen. Mankönnte fast meinen, daß Sie angesichts der Ereignisse inIhrem Heimatland, in Bayern, wo Stoiber gerade gutdabei ist zu glänzen, wo ein bißchen der Lack abblättertvon Ihrem Ministerpräsidenten
– kräftig abblättert –, schon dabei wären, auch für ihneinen Posten im Bundeskabinett zu suchen.
Ich bin ganz sicher, der Bundeskanzler wird diesen Vor-schlag ablehnen.
Da müssen Sie nicht versuchen, uns Herrn Stoiber ir-gendwo unterjubeln zu wollen.
Noch ein Letztes zu Ihnen. Ich hätte gehofft, daß Sieirgendein Wort zu den Vorschlägen aus Ihren Reihen,von Herrn Uldall und Herrn Protzner, Ihrem ehemaligenGeneralsekretär, sagen, die das Arbeitslosengeld füreinen Monat streichen wollen. Das ist die Politik IhrerFraktion. Das finde ich extrem enttäuschend und extrembedauerlich.Ich habe auch vermißt, daß von Ihnen ein einzigerVorschlag zur Sache kommt.
Wir diskutieren heute die Steuerpolitik von Rotgrün. Ichhätte von einer wirklich guten Opposition eigentlich er-wartet, daß sie mit einem einzigen eigenen Vorschlagkäme. Schade, Fehlanzeige auf der ganzen Linie.Michael Glos
Metadaten/Kopzeile:
4496 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Was wir heute diskutieren müssen, ist, welchen An-satz Rotgrün verfolgt, um die Generationengerechtig-keit auch in der Steuerpolitik umzusetzen. Um zu er-gründen, warum wir tatsächlich Reformen benötigen, istes notwendig, zu schauen, was sie uns hinterlassen ha-ben. Wenn man die Bilanz Ihrer Politik zieht, dann stelltman fest, daß die steuerliche Entlastung von Familienzu gering gewesen ist – das hat Ihnen Karlsruhe insStammbuch geschrieben – und daß Sie einen Schulden-berg angehäuft haben. Egal wie man herumrechnet –„Zahlen lügen nicht“, haben Sie gesagt –, die Verschul-dung unter Ihrer Regierungszeit hat sich vervielfacht.Sie haben sich nicht getraut, es ehrlich zu finanzieren.
Unsere Familienpolitik, über die wir heute beratenwollen, beruht auf zwei Erkenntnissen: Erstens müssenwir etwas für die gegenwärtige Generation tun, die unse-re Zukunft ist; deshalb gibt es eine Kindergelderhöhung,eine Erhöhung der Freibeträge.
Aber zweitens – dies gehört elementar dazu – müssenwir auch etwas für den Abbau des erdrückenden Schul-denberges tun. Darum haben wir ein Zukunftsprogrammgeschnürt, mit dem wir sowohl die Familien jetzt för-dern als auch die Nettoneuverschuldung, die Sie unshinterlassen haben, sukzessive, Jahr für Jahr, abbauen.Beides gehört zusammen. Normalerweise kann man einErbe ausschlagen. Das Erbe Staatsverschuldung kannman leider nicht ausschlagen; darum haben wir diePflicht, für die nächste Generation vorzusorgen.
Als die Karlsruher Richter im letzten Herbst ihrenBeschluß zur Familienpolitik gefaßt haben, lag das Kin-dergeld noch bei 220 DM. Als wir angekündigt haben,die erste Maßnahme unserer Politik sei, hier für mehrGerechtigkeit durch das Steuerentlastungsgesetz zu sor-gen, hat sich die Kollegin Hasselfeldt noch hingestelltund gesagt, diese Erhöhung sei ja ganz erfreulich, abersie sei ein Wahlgeschenk. Das war keine respektierlicheBemerkung. Ich finde, es ist notwendig, an dieser Stelleetwas für die Familien zu tun.
Insofern haben wir Karlsruhe bereits vorgegriffen. Wirwerden jetzt noch etwas obendrauf legen, so daß eineFamilie mit zwei Kindern unter Rotgrün im nächstenJahr um insgesamt 1 200 DM entlastet wird. Das be-deutet fiskalisch, daß wir für Familien mit Kindern ins-gesamt etwa 10 Milliarden DM ausschütten. Das ist, sofinde ich, eine respektable Leistung.
Nach intensiver Prüfung des Karlsruher Urteils ha-ben wir uns entschlossen, neben der steuerlichen Entla-stung, die uns Karlsruhe vorschreibt, etwas für Familienzu tun, die keine Steuern zahlen oder in nicht so hohemUmfang Steuern einsparen können. Darum beträgt dasVolumen des Familienförderungsgesetzes – das hättenSie festgestellt, wenn Sie einen Blick in das Finanzta-bleau geworfen hätten, Herr Glos – 5,5 Milliarden DM.
Kollege Müller, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Gerne.
Herr Müller, Sie sprechen von
einer Entlastung der Familien mit Kindern und davon,
daß das Kindergeld erhöht werde. Ich würde von Ihnen
gerne die Auskunft haben – das haben ja Wissenschaft-
ler ausgerechnet –, wie hoch die Belastung der Familien
mit Kindern durch die Ökosteuer ist:
infolge der Mineralölsteuererhöhung, der Kostensteige-
rung beim Heizen, beim Wohnen. Können Sie mir dar-
auf bitte eine Antwort geben?
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Wenn Sie genau geprüft hätten, wie diese
Ökosteuer aufgebaut ist, dann hätten Sie festgestellt, daß
Hans Eichel insofern etwas traurig ist, als das Aufkom-
men der Ökosteuer nicht in sein Säckel fließt, sondern
durch die Senkung der Lohnnebenkosten – die Stabili-
sierung der Beiträge zu der Rentenversicherung – kom-
plett zurückgegeben wird.
Die Belastung durch die Ökosteuer wird für die Men-
schen, die erwerbstätig sind, in vollem Umfang kompen-
siert. Darüber hinaus ist gewährleistet, daß die Erhöhung
der Warmmiete von der Sozialhilfe abgedeckt ist. Das
heißt, insgesamt ist das plus/minus null.
[Jörg van Essen [F.D.P.]: Was ist bei Rentnern, was
ist bei Arbeitslosen? Das ist doch Unsinn!)
Kollege Müller, ge-
statten Sie eine Nachfrage der Kollegin Lenke?
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Gerne.
Herr Müller, so geht es nicht. Ichhabe gefragt, wie hoch die Belastung einer Familie mitzwei Kindern durch die Ökosteuer ist, monatlich oderjährlich. Diese Frage würde ich gerne von Ihnen beant-wortet bekommen angesichts der Tatsache, daß Sie voneiner Entlastung durch die Steuergesetzgebung sprechen.
Klaus Wolfgang Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4497
(C)
(D)
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Liebe Kollegin, ich habe von einem Paketvon Steuermaßnahmen gesprochen. Ich werde nachhernoch auf Ihren Entschließungsantrag zu sprechen kom-men, in dem Sie von Steuererhöhungen sprechen,
und Ihnen dezidiert darlegen, daß die verschiedenenSteuerpakete zur Entlastung führen und aufkommens-neutral sind. Ich bin sicher, daß Sie auch gerne eineschriftliche Anfrage an das Finanzministerium richtenkönnen, um für die verschiedenen Fälle noch einmal dieeinzelnen Zahlen dargelegt zu bekommen.
Kollege Müller, es
gibt zwei weitere Wortmeldungen, zunächst der Kollege
Michelbach, dann die Kollegin Höll.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Gerne.
Herr Kollege Mül-
ler, Sie geben an, daß Ihre zusätzlichen Ökosteuern zur
Senkung der Lohnnebenkosten verwandt werden und
dadurch ein Plus und mehr Wachstum und Beschäfti-
gung entstehen. Ich frage Sie, Herr Kollege Müller: Wo
steht in Ihrem Gesetz die definitive Verwendung der
Einnahmen für die Senkung der Lohnnebenkosten? Ist
es nicht so, daß Sie im Jahr über 20 Milliarden DM zu-
sätzlich einnehmen? Nehmen Sie nicht bis zum Jahre
2003 über 100 Milliarden DM mehr ein? Ist es nicht so,
daß die Senkung der Lohnnebenkosten um 0,5 Pro-
zentpunkte nur 8 Milliarden DM ausmachen? Wohin
fließt das Geld? Das ist doch ein Abkassieren, es fließt
einfach in den Haushalt und sonst nirgendwo hin.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Kollege Michelbach, ich bin sicher, daß Sie
die Vorlagen, die Sie im Finanzausschuß und im Bun-
destag abgelehnt haben, auch gelesen haben.
– Doch, das darf man ihm unterstellen. – Dann wissen
Sie, daß die Lohnnebenkosten bereits jetzt gesenkt sind,
daß in den Beschlüssen des Kabinetts, die wir breit dis-
kutiert haben und die veröffentlicht worden sind, die
Senkung bzw. Stabilisierung der Beiträge weitergehen.
Insofern ist genau das erfüllt, was wir angekündigt und
versprochen haben.
Das Steuerentlastungsgesetz, das Sie Anfang des Jah-
res so polemisch bekämpft haben, wird im Jahre 2002 zu
einer Entlastung der Menschen in dieser Republik von
über 20 Milliarden DM führen. Ich glaube, daß Sie das
wissen müßten und daß Sie deshalb nicht von einer
Steuermehrbelastung reden können.
Es gibt noch zwei
weitere Wortmeldungen zu Zwischenfragen. Bitte fassen
Sie sich sehr kurz, damit wir in der Debatte fortfahren
können.
Herr Kollege Mül-
ler, Sie konnten mir nicht erklären, wofür die zusätz-
lichen Einnahmen verwendet werden.
Es ist auch nicht so, daß die Arbeitskosten gesenkt
werden. Herr Müller, können Sie mir dahin gehend
recht geben, daß die Kosten einer Arbeitsstunde durch
Ihre Lohnnebenkostensenkung nur um 10 Pfennig ge-
senkt werden, daß aber gleichzeitig durch Ihre Steuer-
politik zusätzliche Arbeitskosten in Höhe von 18 Pfen-
nig pro Stunde entstehen, so daß unter dem Strich eine
Mehrbelastung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ent-
steht?
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Nein, Herr Michelbach, Sie haben leider
nicht recht. Ich kann Ihren Äußerungen nicht zustim-
men. Wir geben die Energiekostenerhöhung 1 : 1 zurück
bzw. verwenden sie zur Beitragsstabilisierung. Ich wie-
derhole mich an dieser Stelle nur ungern, aber nur des-
halb, weil Sie das Gegenteil behaupten, wird es nicht
wahr.
Kollege Müller, esliegen noch zwei weitere Wortmeldungen vor.Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ich würde jetzt gern weitermachen. Viel-leicht können wir bei Gelegenheit oder im Finanzaus-schuß eine Zwischenfrage unterbringen.Ich möchte gern zu der Politik zurückkommen, diewir jetzt beschließen und zu der es bisher keine Alterna-tive aus den Reihen der Opposition gibt. Ich habe ausge-führt, daß wir das Kindergeld und die Freibeträge erhö-hen werden. Wir haben noch ein Weiteres gemacht: Wirmachen Ernst mit einer Politik für vollstationär unter-gebrachte behinderte Kinder. Hier nehmen wir eineerstmalige Erhöhung des Kindergeldes vor. Auch dasgehört zu dem sozial gerechten Paket unseres Zukunfts-programms.
Metadaten/Kopzeile:
4498 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ich möchte noch einen kritischen Satz sagen. Wir ha-ben gerade von Gewerkschaften und Familienverbändendie Anfrage erhalten, ob es nicht für Alleinerziehendemit kleinen und mittleren Einkommen zu einer Bela-stung käme. Wir haben das intensiv geprüft und dasFinanzministerium gebeten, eine Sonderauswertung derDaten der Lohn- und Einkommensteuerstatistik vorzu-nehmen, um genau nachweisen zu können, daß das nichtder Fall ist. Wir können jetzt beruhigt sagen, daß es trotzder Vorgaben aus Karlsruhe, die besagen, daß wir Al-leinerziehende nicht besser stellen dürfen als verheira-tete Eltern, für mindestens 90 Prozent aller Alleinerzie-henden auf gar keinen Fall zu einer Schlechterstellungkommt. Bei den restlichen 10 Prozent gibt es mögli-cherweise in Einzelfällen eine Schlechterstellung. Ichgebe zu, daß ist eine sehr gute Auskunft aus dem Fi-nanzministerium gewesen, mit der man auch offensivnach außen gehen kann.Ich will noch etwas zu den Aspekten des KarlsruherFamilienurteils sagen, die uns nicht glücklich gemachthaben. Jeder normale Mensch auf der Straße, den Siedanach fragen, ob nicht jedes Kind steuerlich gleichbe-handelt werden müßte, sagt Ihnen: Ja. Jeder normaleMensch hat ein Gerechtigkeitsgefühl und sagt, ja, jedesKind müßte dem Staat eigentlich gleich viel wert sein.Darum ist meine Fraktion nach dem Karlsruher Urteilmit der Debatte um einen Kindergrundfreibetrag, derfür jedes Kind die gleiche steuerliche Entlastung bedeu-tet hätte, so wie es auch unserer Gerechtigkeitsvorstel-lung entspricht, in die Öffentlichkeit gegangen. Dazuhaben wir viel Zustimmung aus der Bevölkerung undvon Ökonomen bekommen. Leider – das bekomme ichdie ganze Zeit über ins Ohr geblökt – sind die Juristin-nen und Juristen in unserer Gesellschaft nicht dieserMeinung gewesen. Ich möchte nur eines deutlich ma-chen: Das Ziel, daß jedes Kind steuerlich gleich vielwert sein sollte, bleibt bestehen. Dies bleibt Ziel dieserKoalition; ich halte dies für richtig und notwendig.
Man kann niemandem erklären, warum das Kind einesMillionärs, wie die „Zeit“ so schön gefragt hat, Kaviarnötig hätte, das Kind eines normal verdienenden Men-schen aber nicht. Hier gibt es sicherlich noch Debatten-bedarf.Eine zweite Anmerkung. Im Koalitionsvertrag hattenwir vereinbart, über das Ehegattensplitting zu reden,eine Institution, die schon seit Jahren kritisiert wird undhinsichtlich derer uns Karlsruhe jetzt eine Handhabe ge-geben hat. Das Gericht hat nämlich gesagt, es gebe dieMöglichkeit, an die Förderung von Ehen heranzugehen,in der die Ehepartner sehr unterschiedliche Einkommenhaben, wo es also per se gar nicht um die Förderung derFamilie geht. Die Förderung steht hier nicht mehr imZusammenhang mit Kindern. Vielmehr muß es zu einerFörderung der Kinder unabhängig vom Ehegattensplit-ting kommen. Hier sehen wir gewisse Spielräume: Weilrund 20 Prozent der Familien nicht der klassischen Vor-stellung von verheirateten Eltern mit Kindern entspre-chen, weil der Splittingvorteil abschmilzt, wenn beideElternteile berufstätig sind, und sich auf Null reduziert,wenn beide gleich viel verdienen, und weil es eben vieleEhen ohne Kinder gibt, die heute noch davon profitie-ren. Im Sinne einer konsequenten Individualbesteuerungist es notwendig, hier weitere Schritte zu gehen.
In den weiteren Beratungen müssen wir darübernachdenken, was mit Kindern ist, die ein großes Vermö-gen haben, obwohl sie noch minderjährig sind. Nach dengegenwärtigen Regelungen gibt es sowohl das steuer-freie Existenzminimum von Kindern als auch die Mög-lichkeit für die Eltern, einen hohen Kinderfreibetrag inAnspruch zu nehmen. Hier sollten wir im Sinne von so-zialer Gerechtigkeit dafür sorgen, daß wir nicht zu einerUngerechtigkeit dergestalt kommen, daß wohlhabendeEltern wohlhabender Kinder zweimal steuerlich be-günstigt werden können.Das heißt, wir werden in den weiteren Beratungen,die ich als durchaus ernsthaft ansehe – ich hoffe, daß wirvon der Opposition auch eigenständige Vorschläge be-kommen –, noch zu Änderungen kommen können, wennwir uns verständigen. Herr Glos, Sie haben vorhin ge-sagt, Sie möchten keine Totalopposition sein, keineBlockade machen. Auch hörte ich in den vergangenenWochen von Ihren eigenen Ministerpräsidenten immerwieder die Worthülse, man wolle ja nicht blockieren,aber… Dann wurden von ihnen aber leider enorme Hür-den aufgebaut: Sie wollen dem nicht zustimmen, Siewollen dem anderen nicht zustimmen usw. Ich halte diesfür bedauerlich, weil Sie bisher keine eigenständigeVorstellung geäußert haben, und ich wünsche mir, daßSie in den kommenden Wochen Farbe bekennen und tat-sächlich eigene Vorschläge vorlegen.Gerade heute kann man hier in Berlin sehen, wieernst es Ihre Partei mit einer Haushaltskonsolidierungmeint. Rot und Grün strengen sich gemeinsam an, inBerlin zu wirklichen Einsparungen zu kommen. IhrePartei hingegen ergeht sich jetzt vor den Wahlen inPopulismus. Ich halte das nicht für ehrlich und wün-sche mir, daß wir hier im Bundestag eine andere De-batte mit Ihnen führen können und von Ihnen ehrlicheVorschläge bekommen, was Einsparungen im Haushaltangeht.
Zum Schluß möchte ich noch etwas zum Steuerberei-nigungsgesetz sagen, zu dem Sie schon wieder so pole-misch argumentiert haben, als dürfte man nichts ändern,wenn man gemerkt hat, daß eine Regelung nicht sofunktioniert, wie man sie vorgesehen hat. Wir werdenhinsichtlich des Steuerbereinigungsgesetzes vor allemüber einen Punkt diskutieren müssen – das hat der Kol-lege Spiller schon angesprochen –: über die Besteuerungder Erträge aus Lebensversicherungen.Sie werfen uns vor, wir machten hier eine wider-sprüchliche Politik.
Klaus Wolfgang Müller
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4499
(C)
(D)
Dazu kann ich nur sagen: Alle applaudieren, wenn esum eine konsequente Steuerreform geht. Auch Sie habendas in Ihrer Rede angebracht, Herr Glos. Alle sprechendavon, die Steuersätze müßten heruntergehen und dieBemessungsgrundlage müsse verbreitert werden.
Nur, wenn es konkret wird, Herr Michelbach, sind Siegegen jede einzelne Streichung von Steuerschlupflö-chern, gegen jede Verbreiterung der Bemessungsgrund-lage, wie sie beispielsweise bei Lebensversicherungennotwendig ist.
Wir sind uns mit allen Fachleuten einig, daß es eine steu-erliche Ungleichbehandlung von Lebensversicherungenund anderen Anlageformen gibt. Diese ist systematischnicht zu halten. Ich gebe zu, daß wir uns für den Fall, daßKarlsruhe in diesem Herbst tatsächlich das Urteil zu demKomplex der Besteuerung der Altersvorsorge spricht,rechtzeitig ein Signal aus Karlsruhe wünschen, damit wirgemäß dem Konzept der nachgelagerten Besteuerung zueiner Gesamtlösung kommen könnten.In der Koalition sind wir uns in der Frage der Be-steuerung der Lebensversicherungen absolut einig. Nurder Weg ist noch strittig. Daß es hier ein Steuerschlupf-loch und eine Ungleichbehandlung gibt, kann auch dieOpposition nicht leugnen.Zum Schluß möchte ich noch etwas zu dem Antragder verehrten Kollegen von der F.D.P. sagen. Über IhrenAntrag war ich, gelinde gesagt, etwas verwundert; aberimmerhin kommt er diesmal zu Beginn der Beratungund nicht erst am Schluß.Ich sehe ein, daß Sie am vergangenen Sonntag einenTiefschlag erlitten haben.
Aber ist das ein Grund, gleich Wahnvorstellungen zubekommen?In Ihrem Gesetzentwurf sprechen Sie von einer deut-lichen Erhöhung der Steuerbelastung. Also habe ich dieZahlen addiert: Unsere Ökosteuer ist – wie ich IhrerKollegin schon vorhin versucht habe deutlich zu machen– aufkommenneutral; das Familienförderungsgesetzbringt eine Kindergelderhöhung, einen zusätzlichenFreibetrag, also eine Entlastung von 5,5 Milliarden DM;aus dem Steuerbereinigungsgesetz folgen Steuerminder-einnahmen von 1,6 Milliarden DM. Das alles macht zu-sammen eine steuerliche Entlastung von gut 7 Milliar-den DM. Ich bin sicher, daß auch Ihr Taschenrechnerzum gleichen Ergebnis kommen wird wie unserer.Rechnet man noch das Steuerentlastungsgesetz hinzu,
dann kommen wir unter dem Strich noch einmal auf eineSteuerentlastung von 20 Milliarden DM. Alles in allemhaben wir eine Steuerentlastung von 27 Milliarden DM,die diese Koalition beschlossen hat bzw. beschließenw en kann also keine Rede sein.Zwei Erklärungsmöglichkeiten, verehrte Kolleginnenund Kollegen, warum Ihr Antrag das aussagt, was Siehineingeschrieben haben: Erstens. Sie wissen nicht, wasder Unterschied zwischen plus und minus ist. Das kannsein;
die desolate Haushaltslage, die Sie uns hinterlassenhaben, spricht leider dafür. Die zweite Erklärung: Sie betrachten nur die Steuer-schlupflöcher, die wir geschlossen haben; denn Sie alsF.D.P. haben nur einen Blick für große Unternehmenund Abschreibungskünstler.
Wenn Sie da über Steuererhöhungen klagen, wenn Sieda kritisieren, daß wir die Steuerschlupflöcher geschlos-sen haben, dann kann ich nur sagen, daß es Ihre Art vonPolitik war, mit der Sie sich über Steuerschlupflöcherarm gerechnet haben.Rotgrün hat eine andere Perspektive: Wir sind für ei-ne gerechte Besteuerung, für eine Ökosteuer, die zurSenkung der Lohnnebenkosten beiträgt, und für eine ge-rechte Entlastung von Familien mit Kindern. Das ist diePolitik von Rotgrün. Dafür werben wir um Unterstüt-zung und um Vertrauen. Dafür machen wir Politik, unddafür sind wir gewählt worden.Vielen Dank.
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat die Kollegin Höll, PDS-Fraktion.
Herr Kollege Müller, Siehaben sich eben über die F.D.P. mokiert. Wenn ich dieZahlen richtig im Kopf habe, dann lagen Ihre Wahl-ergebnisse am Sonntag auf dem Niveau der F.D.P. Des-wegen würde ich mich nicht über andere lustig machen.Sie haben von Redlichkeit und Ehrlichkeit gespro-chen. Dazu gehört für mich aber auch, mit den Zahlenrichtig zu rechnen. Ein Beispiel: Alleinerziehende miteinem mittleren Einkommen werden durch die Strei-chung der Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten ab1. Januar 2000 wesentlich höher belastet. Das heißt kon-kret, daß sie bei einem Gehalt von 50 000 DM undbei einer Aufwendung für Kinderbetreuung von jähr-lich 4 000 DM gegenüber 1999 pro Jahr 691 DMmehr an Steuern zahlen müssen. Bei einem Gehalt von60 000 DM macht das 899 DM aus. Sie haben zu diesemThema also nicht die Wahrheit gesprochen.Es ist gut, wenn Alleinerziehende eine Arbeit haben.Daß sie durch Ihre steuerlichen Vorschläge im nächstenJahr mehr Steuern zahlen müssen und schlechtergestelltwerden als selbst 1996 ,ist nicht sozial und nicht gerecht.Zum zweiten möchte ich bemerken: Sie haben ver-sucht, den Eindruck zu erwecken, als ob Ihre Politikzu einer Entlastung aller Familien mit Kindern führenKlaus Wolfgang Müller
ird. Von Steuererhöhung
Metadaten/Kopzeile:
4500 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
würde. Das ist unwahr. 1 Million Kinder und Jugendli-che bis 18 Jahre leben in der Bundesrepublik Deutsch-land von Sozialhilfe. Sie wissen, daß Sozialhilfe undKindergeld gegengerechnet werden. Solange Ihre Kin-dergeldvorschläge unter dem Sozialhilfesatz liegen, wirddas gegengerechnet. Das führt zu einer Entlastung derFinanzen der Kommunen, aber nicht zu einer Besser-stellung und Entlastung der Familien. Der Eindruck, denSie versucht haben, hier zu erwecken, war also falsch.Drittens. Sie wissen so gut wie alle anderen hier imRaum, daß die Umsetzung des Bundesverfassungsge-richtsurteils durchaus anders möglich gewesen wäre,nämlich durch ein einheitliches Kindergeld für alle Kin-der, um dem Staatsziel zu entsprechen, daß alle Kinderdem Staat tatsächlich gleich viel wert sind. Das wäre aufder Grundlage des Urteils möglich gewesen. Aber na-türlich brauchen wir dann ein Kindergeld von minde-stens 400 DM. Das kann man auch erwirtschaften unddurchsetzen.
Kollege Müller, Sie ha-
ben das Wort.
Klaus Wolfgang Müller (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Verehrte Kollegin Höll, vielen Dank für Ih-
re Nachfrage. Ich habe nicht die Unwahrheit gesagt. Wir
haben genau überprüft, wie das bei Alleinerziehenden
aussieht. Vor allem haben wir uns die Mühe gemacht,
nachzuprüfen, in welchen Einkommensgruppen welche
Betreuungsfreibeträge wirklich in Anspruch genommen
werden. Das ist das erste. Wir werden im Finanzaus-
schuß gern noch einmal Tabelle neben Tabelle legen.
Meine Tabellen sagen da etwas anderes aus als Ihre Ta-
bellen. Das werden wir überprüfen.
Das zweite ist, daß es in vielen Fällen beispielsweise
einkommensabhängige Kindergartenbeiträge gibt, so
daß wir auch hier davon ausgehen können, daß das zu
einem geläufigen Effekt führt. Ich bitte auch, nicht zu
vergessen, daß am 1. Januar 2000 die zweite Stufe des
Steuerentlastungsgesetzes in Kraft tritt, die ebenfalls da-
gegenwirken wird, so daß wir sicherlich noch einmal im
Detail Zahlen vergleichen können.
Das zweite, was Sie gesagt haben, ist richtig. Von
vielen Verbänden und Gewerkschaften ist kritisiert wor-
den, daß bei Sozialhilfeempfängerinnen die Kindergeld-
erhöhung nicht ankommt, weil sie systemimmanent ge-
gengerechnet wird. Die Kritik ist auch bei uns ange-
kommen; ich sage das ganz offen. Wir prüfen, welche
Möglichkeiten es hier gibt, und wir werden uns sicher-
lich im Laufe des weiteren Beratungsverfahrens darüber
verständigen, ob und, wenn ja, in welcher Weise es
möglich ist, etwas zu ändern.
Aber Ihre letzte Bemerkung, Frau Höll, ist etwas
populistisch, finde ich. Sie sagen, natürlich könnte man
für alle Familien das Kindergeld erhöhen. Natürlich
könnte man das Kindergeld auf 400 oder 500 DM erhö-
hen. Das würde ich mir auch wünschen, gar keine Frage.
Nur müssen Sie dann sagen, wie Sie das Ganze erwirt-
schaften wollen. Darauf habe ich von Ihnen bisher kei-
nerlei Antwort gehört. Sie wissen genauso wie ich: Die
Vorgabe des Karlsruher Verfassungsgerichtes ist, daß
wir die Freibeträge – leider – nicht senken können, daß
sie beibehalten werden müssen, so daß wir da auf Ihre
Vorschläge von der PDS doch sehr gespannt sind.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Hermann Otto Solms, F.D.P.-
Fraktion.
Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann dieAusführungen von Frau Höll voll bestätigen. Sie wider-legen die Aussagen des Kollegen Müller, die aus Wahr-heiten, Unwahrheiten und Halbwahrheiten gemischt wa-ren. Im einzelnen will ich darauf noch zurückkommen.Das Entscheidende aber ist, daß die drei Steuergeset-ze, die drei Pakete,die nun vorgelegt werden, nicht zu-sammenpassen.
Es gibt keine ordnungspolitische Leitlinie, an der ent-lang diese Gesetzentwürfe entwickelt worden seinkönnten. Sie widersprechen sich selber, sie sind in sichwidersprüchlich, und sie wirken dadurch natürlich ver-unsichernd, verwirrend und erzeugen keinen Mut für In-vestitionen und neue Arbeitsplätze.Das heißt also, nachdem der BundesfinanzministerHans Eichel – das will ich meinem hessischen Lands-mann zugestehen – in der Haushaltspolitik eine richtigeKehrtwende durchgeführt hat, die zu unterstützen ist,fährt er in der Steuerpolitik den Chaoskurs weiter, densein Vorgänger angerichtet hat.
Deswegen wird es auch nicht zu den Verbesserungenauf dem Arbeitsmarkt kommen, von denen Sie redenund die wir uns alle wünschen; denn Ihre Politik in die-sem Jahr hat geradezu einen Scherbenhaufen auf demArbeitsmarkt angerichtet.Die Zahlen bestätigen ja nicht nur, daß die Arbeitslo-sigkeit mehr oder weniger gleichgeblieben ist, sonderndahinter steht eine demographische Entwicklung, durchdie der Arbeitsmarkt in diesem Jahr um einige Hundert-tausende entlastet wird. In Wirklichkeit – das zeigt diebekannte Schröder-Uhr in der „Wirtschaftswoche“ – istdie Arbeitslosigkeit leicht gestiegen, aber die Zahl derBeschäftigen, die Zahl der Arbeitsplätze ist um über300 000 gesunken.
Damit wird deutlich – das zeigt ja auch die konjunktu-relle Entwicklung –, daß der Wachstumsprozeß mit Be-ginn dieser Regierung gestoppt worden ist, daß die Inve-stitionsquote heruntergegangen ist und daß der Arbeits-markt darniederliegt.Dr. Barbara Höll
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4501
(C)
(D)
Das „Handelsblatt“ hat vorgestern gerade erst seineneue westdeutsche Konjunkturanalyse vorgelegt. Eskommt zu dem Ergebnis, daß im September der Frühin-dikator gegenüber August von 1,6 Prozent noch einmalauf 1,3 Prozent zurückgegangen ist.
Es ist natürlich wirklich deprimierend, wenn man sichdas anschaut. Deswegen sehe ich auch für die nächstenMonate und wahrscheinlich für das nächste Jahr nochkeine deutliche Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt.Gerade in dieser Situation, Herr Eichel, wäre es nundringend geboten, Beschlüsse in der Steuerpolitik zufassen, die die Menschen ermutigen, zu investieren,
Existenzgründungen vorzunehmen, Leute einzustellenund nicht zu entlassen, nicht nur zu rationalisieren undnicht die Arbeitsplätze zu exportieren.
Das Gegenteil tun Sie.Ich will nun zu den einzelnen Vorschlägen kommen,die heute vorgelegt werden. Fangen wir mit der Öko-steuer an. Herr Müller hat sich mit dem, was er dazu ge-sagt hat, wirklich nicht mit Ruhm bekleckert.
– Es ist doch offenkundig, Herr Müller:
Zuerst einmal müssen Sie eine wahre Analyse machen.
Es ist keine Ökosteuer, es ist ganz schlicht eine Erhö-hung von vier Energiesteuern.Mit dem Begriff Ökosteuer wollen Sie dem Ganzeneinen guten Anstrich geben. In Wahrheit ist es eine Er-höhung von Energiesteuern. Auch darüber kann mannatürlich diskutieren.
– Moment. Ich gehöre ja eher zu denen in meiner Frak-tion, die diesem Gedanken nähertreten.
– Das zeigen ja auch unsere Beschlüsse.
Wir wollen das allerdings mit einem anderen Instrumenttun, nämlich mit einem dritten Mehrwertsteuersatz, weildas technisch viel einfacher ist.
Sie müssen hinsichtlich Ihrer Pläne erst einmal deut-lich sagen, wer davon betroffen ist. Bezüglich der ge-planten Entlastung steht in den Gesetzen überhauptnichts darüber, was Sie mit dem Geld machen wollen.Es gibt Absichtserklärungen, denen man glauben odernicht glauben kann. In einem Monat kann die Situationwieder eine andere sein, und dann brauchen Sie dasGeld für etwas anderes. Dann gilt es nicht mehr; es stehtja noch nicht im Gesetzesblatt. Rentner, Hausfrauen,Studenten, Schüler, Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerhaben von der von Ihnen geplanten Entlastung nichts;sie bekommen keinen Pfennig.
Das sind gerade die sozial Schwächsten, und sie müssennetto draufzahlen.
Auch die Leute auf dem Lande, die einen längeren Wegzwischen Arbeitsstätte und Wohnung zurücklegen müs-sen, werden natürlich mehr belastet, weil sie von derMineralölsteuererhöhung ganz besonders betroffen sind.Sie müssen sich das Ganze also sehr genau anschauenund ehrlich untersuchen.Eine weitere Bemerkung zur Ökosteuer: Wieso ver-wenden Sie die Einnahmen aus der Ökosteuer, um Sozi-alpolitik zu machen, um sich an der Notwendigkeit einerStrukturreform der Rentenversicherung vorbeizu-mogeln? Nichts anderes tun Sie.
Selbst der DGB hat das heute erkannt und sagt: Nein,wir müssen das Rentenniveau anders ausgestalten; wirbrauchen einen demographischen Faktor in der Renten-versicherung, damit das eine verläßliche Größe für unse-re Rentner ist.
Selbst der DGB hat das, wenn auch spät, erkannt undeingestanden. Aber Sie hängen immer noch Ihrem altenPlan nach.Wenn Sie schon eine Verbrauchsteuererhöhung ma-chen wollen – nichts anderes ist das –, dann sollten Siesie vornehmen, um unser Steuersystem zu reformieren.Das Ifo-Institut hat kürzlich gesagt: Hätten Sie das Gelddoch wenigstens genommen, um endlich die Gewerbe-steuer abzuschaffen.
Wenn Sie das machen würden, dann hätten Sie in einemSchritt eine Unternehmensteuerreform, die Sinn ma-chen würde. Was Sie, Herr Eichel, da planen und wasIhre Reformkommission vorgeschlagen hat, ist ja dasreinste Unding. Die Kapitalgesellschaften werden dochdurch Ihre Pläne entlastet, Herr Müller.
Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
4502 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Für die Personengesellschaften und die Einzelkaufleute
haben Sie noch keinen Plan, Herr Poß.
Da wollen Sie Modellspiele machen. Das hat Frau Hen-dricks gerade neulich in einer Diskussion gesagt. Sie ha-ben doch keinen Plan.
– Nein, ich unterstelle gar nichts. Ich habe mich mitFrau Hendricks ausgetauscht, und sie hat das bestätigt:Sie wollen Modellversuche machen.
Sie haben noch keinen Vorschlag.Ergebnis dieser Unternehmensteuerreform ist – es istja das Erstaunliche, daß das von der SPD vorgeschlagenwird –, daß nach Ihren Plänen die großen, internationalarbeitenden Kapitalgesellschaften, die ihre Steuerhöheohnehin im internationalen Rahmen stärker gestaltenkönnen, als das kleine Unternehmen hier tun können,weniger besteuert werden als die große Zahl der kleinenund mittleren Unternehmen hier,
aber auch weniger als die Arbeitnehmer in diesem Land,die Landwirte und die Leute, die von Vermietung undVerpachtung leben. Das ist doch eine enorme Diskredi-tierung gerade der natürlichen Personen.Das kann einen ja auch nicht wundern, wenn manhört, daß der Herr Bundeskanzler letzte Woche bei derVerabschiedung des Bundesbankpräsidenten Tietmeyerauf der Versammlung, bei der der gesamte Finanzsach-verstand im Frankfurter Palmengarten versammelt war,erklärte: Wir wollen eine Unternehmensteuerreform undeine Senkung der Unternehmensteuern, wir wollen aberkeine Senkung der Unternehmersteuern.
Das zeigt, daß er überhaupt kein Verständnis für die Zu-sammenhänge in der Wirtschaft hat.
Das ist unser Bundeskanzler, der Regierungschef einesIndustriestaates. Er versteht nicht, daß es keine Un-ternehmen gibt, wenn es nicht auch Unternehmer gibt.Einer muß ja die Initiative ergreifen, um ein Unterneh-men erst einmal zu gründen. Das geschieht nur dadurch,daß er mit seinen Ersparnissen ein Risiko eingeht undein Unternehmen startet.
– Ich habe das selber einmal gemacht, vor 20 Jahren.Ich weiß, wie es ist,
wenn man den letzten Pfennig hinlegen muß, um einUnternehmen zu starten. Sie dürfen diese Unternehmereben nicht dadurch entmutigen, daß Sie sie schlechterbehandeln als die Großunternehmen. Vielmehr brauchensie Gleichbehandlung.
Kollege Solms, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?
Bitte schön,
Herr Spiller.
Herr Kollege Solms, wä-
ren Sie bereit einzugestehen, daß es ein tragender Punkt
des Konzepts zur Unternehmensteuerreform, das diese
Kommission vorgelegt hat, ist, daß kleine und mittlere
Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform
die gleiche steuerliche Belastung erfahren sollen wie
Kapitalgesellschaften,
daß also diejenigen Unternehmen entlastet werden sol-
len, die ihre Gewinne im Unternehmen reinvestieren?
Wären Sie bereit zuzugestehen, daß eines der großen
Probleme der jungen Unternehmen insbesondere in Ost-
deutschland und der neugegründeten Unternehmen die
Bildung von eigenem Kapital ist und daß die Reform,
die wir vorschlagen – eine steuerliche Besserbehandlung
des Gewinnes, der zum Aufbau einer gesunden eigenen
Kapitalbasis im Unternehmen verbleibt –, ein Schritt ist,
der insbesondere kleinen und mittleren, vor allem aber
jungen Unternehmen helfen wird?
Herr KollegeSpiller, ich will fair sein: Ich akzeptiere, daß Sie die Ab-sicht haben, dies zu tun.
– Das habe ich nicht unterstellt.
Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4503
(C)
(D)
Bisher aber haben Sie keinen geeigneten Weg. Der Weg,den Sie gehen wollen, birgt so viele Schwierigkeiten,daß er nicht gangbar ist.
Deshalb wird dies scheitern, und deswegen wird es beieiner einseitigen Entlastung bleiben.Nächstes Gegenargument: Sie verbinden dies mitdem Plan, die einbehaltenen Gewinne zu bevorzugen.Das wiederum belastet natürlich den Kapitalmarkt. Dasführt dazu, daß das Geld im Unternehmen bleibt, ob-wohl vielleicht eine Investition in einem anderen Unter-nehmen oder in andere wirtschaftliche Vorhaben sinn-voller wäre. Die Volkswirte sagen: Dieser Lock-in-Effekt ist volkswirtschaftlich schädlich.Weiteres Gegenargument – dies ist für mich daswichtigste –: Indem Sie für unterschiedliche Einkunfts-arten – für Einkünfte aus selbständiger oder unselbstän-diger Tätigkeit, für Einkünfte aus einem Gewerbebetriebusw. – eigene Steuersätze postulieren, schaffen Sie dieVoraussetzung dafür, daß wieder manipuliert wird.Dann nämlich wird wieder versucht, die Einkünfte voneiner Einkunftsart in eine andere, günstiger besteuerteEinkunftsart zu verlagern.Auf Grund meiner langjährigen Beschäftigung mit derSteuerpolitik habe ich die Auffassung: Am besten wärees, Sie machten ein ganz einfaches Steuersystem; das ha-ben wir auf unserem Parteitag beschlossen. Ich will jetztgar nicht über die Steuersätze reden. Sie kritisieren immerdie Steuersätze. Lassen wir diese aber einmal außen vor!Es müßte ein einfaches Steuersystem geben, bei dem garnicht mehr zwischen Einkunftsarten unterschieden wird.Gleichbehandlung führt zu Gerechtigkeit. Dann nämlichgäbe es keine Gerechtigkeitslücke.
Durch Ihre Pläne werden zwangsläufig Ungerechtigkei-ten ausgelöst.
Unser Problem ist doch, daß wir das komplizierteste,undurchschaubarste Steuerrecht der Welt haben. Jederhat das Gefühl, der andere würde besser behandelt undman selber schlechter – aus welchen Gründen auch im-mer. Sie werden nur dann eine Akzeptanz des Steuersy-stems erreichen, wenn solche Gefühle nicht mehr auf-treten, wenn es Ihnen gelingt, das Steuersystem so ein-fach zu gestalten, daß es auch die Menschen verstehen,die keine Steuerspezialisten sind.
– Wir haben es auch nicht erreicht, Herr Poß; das weißich doch. Aber wir waren mit den Petersberger Be-schlüssen in dieser Richtung einen Riesenschritt weiter.
Unsere jetzigen Pläne gehen noch einen Schritt dar-über hinaus, denn wir sagen: Es darf keine Unterschiedezwischen den Einkunftsarten geben, alle Einkünfte müs-sen steuerlich gleich behandelt werden.Deswegen war es ein Lichtblick Ihres Fraktionsvor-sitzenden Peter Struck, als er sagte, es solle einen Stu-fentarif geben und keine Ausnahmen. Das wäre docheine gute Sache.
Ich dachte, daß es in der SPD wenigstens Gedankenfrei-heit gäbe. Die aber gibt es nicht. Dort werden wiederDenktabus aufgerichtet, und jeder, der sich dagegenauflehnt und einmal seine Meinung sagt, wird sofort zurOrdnung gerufen. Das ist das Schlimme in dieser Dis-kussion.Ich sage Ihnen – darüber werden wir noch diskutie-ren –: Unsere Philosophie, die Gleichbehandlung derSteuerzahler, ist die richtige Philosophie. Darauf kommtes in der Steuerpolitik an. Über eine maßvolle Höhe derBesteuerung muß man diskutieren. Aber die jetzt beste-henden vielen Unterschiede müssen verschwinden.Nun komme ich zu dem Thema Gerechtigkeitslücke.Das gehört dazu. Das spielt ja jetzt bei Ihnen eine großeRolle. Auch mit dem Argument der Gerechtigkeitslückewird eine ehrliche Diskussion verbrämt. Dies ist einThema, das Herr Gysi liebt, wenn er über eine Vermö-gensteuer bzw. eine Vermögensabgabe spricht.
– Ich weiß; aber ich kenne ja Ihre Argumente.
Ein ehrlicher Umgang bedeutet, festzustellen: DieVermögensteuer ist ja nicht aufgehoben worden.
Sie wird zur Zeit aus verfassungsrechtlichen Gründennicht erhoben.
– In der Kürze der Zeit hätten wir uns auch nicht einigenkönnen.
– Herr Poß, wir stimmen überein.Der Wegfall der Vermögensteuer ist – das müssen Siehinzufügen – durch die Erhöhung der Grunderwerb-steuer, durch die Erhöhung der Erbschaftsteuer im Rah-men der Erbschaftsteuerrefom und durch die Verände-rung des Bewertungsgesetzes überkompensiert worden.
Auch das müssen Sie den Menschen sagen.
Sonst heißt es ja immer: Die Reichen können geben.Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
4504 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ein weiterer Punkt: Anstatt von einer Vermögensteu-er wird jetzt von einer Vermögensabgabe gesprochen.Ich kann mich sehr gut daran erinnern, daß mein leiderso früh verstorbener Kollege Gattermann in der12. Legislaturperiode in der Koalition die Frage zur Dis-kussion gestellt hat, ob man nicht aus Gründen derFinanzierung der deutschen Einheit eine Vermögensab-gabe einführen sollte. Ich möchte hier nicht ins Detailgehen. Der Vorschlag kam von uns. Nach langer, inten-siver Diskussion haben wir uns – zwar nicht zu unsererFreude, aber es ist so gewesen – auf eine Ergänzungsab-gabe geeinigt, den sogenannten Solidaritätszuschlag.Die Argumente aber, die gegen eine Vermögensab-gabe sprachen, waren stichhaltig. Das will ich hier be-stätigen. Denn es wäre ungeheuer kompliziert, würdeeinen ungeheuren Verwaltungsaufwand bedeuten und eswürde große Bewertungsprobleme, insbesondere imImmobilienbereich, auslösen.
Der Verwaltungsaufwand hätte das gar nicht mehr sinn-voll erscheinen lassen. Deswegen bitte ich diejenigen, die eine Vermögens-abgabe wollen, diesen Gesichtspunkt in der öffentlichenDiskussion einzubeziehen, Herr Gysi. Man kann immerüber alles sprechen. Erst muß man die Voraussetzungenklären, und dann muß man fragen: Was sind die ökono-mischen Ergebnisse, die ich damit bewirke?Hier möchte ich ein weiteres Argument ansprechen.Denn ich glaube, daß in Ihren Köpfen noch nicht ange-kommen ist, daß wir nicht mehr in einer geschlossenenVolkswirtschaft leben.
Die Möglichkeiten nationaler Gesetzgebung sind extrembegrenzt.
Die Ökonomie ist heute weltweit tätig. Der Wettbe-werb findet weltweit statt. Mit strikten Regelungen inDeutschland können wir unsere Unternehmen nur be-hindern. Wenn wir auf dem Arbeitsmarkt Erfolg erzie-len wollen, dürfen wir unsere Unternehmen nicht mithöherem Ballast belegen als die Wettbewerber in ande-ren Industriestandorten, die mit uns im Wettbewerbstehen.Wenn ich an die Vermögensteuer bzw. die Vermö-gensabgabe denke, muß ich feststellen: Sie können heuteVermögen, also mobiles, liquides Vermögen – dies giltnicht für Immobilienvermögen –, nicht einschließen. Siekönnen es auch nicht kontrollieren. Das ist völlig ausge-schlossen. Dazu bräuchten Sie noch ein paar hunderttau-send Betriebsprüfer mehr, trotzdem könnten sie es nicht.Denn heute kann jeder Schuljunge in Sekundenschnellemit Hilfe des Internets sein Sparvermögen von der Spar-kasse hier zur Sparkasse in Hongkong transferieren.Darauf haben Sie überhaupt keinen Zugriff mehr.
Was können Sie also tun? Sie können die Sparer inDeutschland so behandeln, daß sie keinen Anreiz haben,ihr Geld an einen anderen Ort zu tragen.
Das ist heute, im Zeitalter der Globalisierung – die istnun einmal da, ob man das will oder nicht –, die eigent-liche ökonomische Begründung, warum wir auf dieWettbewerbsregeln, auf die Rahmenbedingungen welt-weit, insbesondere in den Industrieregionen der Welt, zuachten haben, und warum wir dafür sorgen müssen, daßunsere Wettbewerber nicht behindert werden.Ich erinnere an eine Glosse in der „SüddeutschenZeitung“ vor ungefähr einem Jahr. Hier wurde ein Ru-derwettkampf zwischen Amerika und Deutschland ver-glichen. Die Amerikaner sind angetreten mit acht kräfti-gen Ruderern und einem zierlichen Steuermann. DieDeutschen sind angetreten mit acht kräftigen Steuer-männern und einem zierlichen Ruderer. Wie, glaubenSie, geht dieser Wettbewerb aus?
– Das ist übertrieben, das weiß ich. Aber es ist ein schö-nes Bild.
– Leider hat es sich noch verschlechtert, Herr Schmidt.Sie wollten ja antreten, es besser zu machen, aber bisjetzt ist es schlechter geworden.Legen Sie Ihre alten ideologischen Denkschrankenbeiseite! Lassen Sie uns über eine grundsätzliche Steuer-reform diskutieren, die uns allen, insbesondere denMenschen in diesem Lande, nützt und die zu neuen Ar-beitsplätzen führt! Dazu sind wir gerne bereit; dazu istsicherlich auch die CDU/CSU-Fraktion bereit; dazu sinddie Experten, die wir in diesem Lande haben, ebenfallsbereit. Dann können wir ein gutes Ergebnis erzielen.Alleine und auf dem Weg, den Sie jetzt begonnen haben,werden Sie das nicht erreichen.Vielen Dank.
Ich erteile nun dem
Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Da-men und Herren! Ich glaube, dieser Bundestag ist in ei-ner gewissen Schwierigkeit. Das hängt damit zusam-men, daß die CDU/CSU- und die F.D.P.-Fraktion natür-lich nicht umhinkommen, daran erinnert zu werden,welche Politik sie noch vor einem Jahr gemacht haben.Gelegentlich ist es für Sie deshalb etwas schwer, sichmit der heutigen Regierung auseinanderzusetzen. Sie hateine ähnliche Schwierigkeit: Sie muß es sich gefallenlassen, gelegentlich an das erinnert zu werden, was sienoch vor einem Jahr gesagt hat, und daß man das zumMaßstab macht. Damit haben Sie offensichtlich IhreProbleme.Dr. Hermann Otto Solms
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4505
(C)
(D)
Ich möchte gerne daran erinnern, daß wir vor einemJahr einen sehr grundsätzlichen Streit um den Begriff derReform hatten. Damals haben Sie Altbundeskanzler Kohlund der gesamten Regierung vorgeworfen, daß sie denReformbegriff mißbrauchen würden. Unter dem BegriffReform finde lediglich ein Sozialabbau statt, und im übri-gen gehe es sowieso immer nur um Zahlen nach oben undnach unten, aber nie um strukturelle Veränderungen. Jetztschaue ich mir einmal Ihr Rentenkonzept und Ihr Konzeptzu Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe an und frageSie, was daran außer Kürzungen eine Reform ist. Struktu-relle Veränderungen finden nicht statt.Das Problem ist doch, daß SPD und Grüne vor gut ei-nem Jahr durchs Land zogen und gegen das Sparpaket vonKohl und gerade gegen die Rentenkürzungspläne wetterten.In Brandenburg wurden 45 000 Unterschriften gegen dasSparpaket gesammelt. Die Leute haben heute bei dem, wassie lesen und hören, doch nicht ganz zu Unrecht den Ein-druck, daß Ihre Vorschläge ein wenig geklont sind.
Das löst dann die entsprechende Unzufriedenheit aus.Zum Teil ist das, was Sie machen, tatsächlich anders,aber nicht immer besser, sondern teilweise auch eindeu-tig schlechter. Es wird so viel über Rente gesprochen.Lassen Sie mich dazu etwas sagen. Wir müssen sehen,daß Sie die Nettolohnanpassung nicht nur bei derRente, sondern auch beim Arbeitslosengeld, bei der Ar-beitslosenhilfe und bei den Unterhaltsbeiträgen ausfallenlassen wollen. Damit belasten Sie Gruppen, denen Sieüberhaupt keinen Ausgleich in irgendeiner anderenForm geben. Während Sie dort, wo Sie Abschreibungs-möglichkeiten streichen, sofort darüber nachdenken, wieman den Betroffenen durch Senkung des Spitzensteuer-satzes wiederum entgegenkommen kann, gibt es für dieanderen Gruppen einen solchen Gedanken nicht.Was Sie damit anrichten, ist aus vielen Gründenschlimm. Das schlimmste ist, daß Sie die Nettolohnan-passung zur Willkürmasse einer Regierung machen, jenach Kassenlage. Wenn das einmal einreißt, wird sichdas auch fortsetzen.
Von besonderer Bedeutung – darüber werden wirheute vielleicht zu späterer Zeit noch sprechen – ist fol-gendes: Sie organisieren, daß bei Arbeitslosengeld, Ar-beitslosenhilfe, bei der Rente und bei den Unterhalts-beiträgen die Entwicklung zwischen West und Ost wie-der auseinandergeht. Unter Kohl war es immerhin so,daß es, weil die Nettolohnanpassung nach Ost und nachWest differenziert erfolgte, wenigstens eine allmählicheAngleichung gab; der Prozentsatz im Osten war immeretwas höher als im Westen. Jetzt nehmen Sie einedurchschnittliche Inflationsrate. Sie müssen aber wissen:Die Inflationsrate ist im Osten höher als im Westen. Dasheißt, daß Sie im Osten faktisch unterhalb der Inflations-rate bleiben und damit die Entwicklung von Renten, Ar-beitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Unterhaltsbeiträ-gen wieder weiter auseinanderklaffen lassen. Das istvöllig konträr zum Einigungsauftrag, den wir haben undfür den wir Politik zu machen haben.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang gleichnoch etwas zur Ökosteuer sagen. Ich behaupte: Wennder Bundestag in seiner Mehrheit etwas auf sich hielte,müßte er die erste beschlossene Ökosteuerreform zu-rücknehmen. Wissen Sie auch weshalb? Weil sie unterfalschen Voraussetzungen – man kann fast sagen: mitein bißchen Täuschung – beschlossen wurde.Ich weiß noch, wie ich im März hier stand
– stimmt, nicht hier, in Bonn – und darauf hinwies, daßArbeitslose und Rentner die Ökosteuer voll zu zahlenhätten. Daraufhin trat ein Minister an das Pult und sagte,das sei nicht wahr, und zwar aus folgendem Grund nichtwahr: Weil die Einnahmen verwendet würden, um dieBeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu sen-ken, entstünde eine Erhöhung der Nettolöhne. Davonhätten die Rentnerinnen und Rentner sowie die Arbeits-losen ein Jahr später durch die Nettolohnanpassung et-was. Die Ökosteuer wurde ausdrücklich damit begrün-det, daß es dann – wenn auch mit einjähriger Verzöge-rung – zumindest teilweise eine Entlastung gäbe. Unterdiesen Bedingungen hat der Bundestag die Ökosteuerbeschlossen. Wenn dann einen Monat später gesagtwird, man lasse die Rentenanpassung an die Nettolohn-steigerung ausfallen, müßte dieser Bundestag eigentlichsagen: Wir sind damals getäuscht worden. Das lassenwir uns nicht bieten. Wir heben die Ökosteuer wiederauf. – Das wäre die Konsequenz.
Oder man hätte es damals wenigstens gleich ehrlich sa-gen müssen. Das haben Sie aber nicht getan.Wissen Sie, was eine strukturelle Rentenreformwäre? Das wäre, wenn wir über zwei Dinge nachdenkenwürden. Erstens. Kann es dabei bleiben, daß Unterneh-men die zweite Hälfte der Beiträge – ich sage es verein-facht – als feste Größe, unabhängig von ihrer Produkti-vität, unabhängig von ihrer Wertschöpfung für ihre Be-schäftigten in die Versicherungssysteme einzahlen, alseine Größe, die belastet und dazu führt, daß nicht gerneingestellt wird, und die im übrigen dazu führt, daß beiEntlassungen immer eine doppelte Belohnung stattfin-det, indem man bei Entlassungen nicht nur den Lohn,sondern auch die Beiträge spart, die man für Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer einzuzahlen hat?Deshalb wäre es viel sinnvoller, einmal eine richtigeReform zu machen und zu sagen: Unternehmen zahlenkünftig einen bestimmten Prozentsatz nach ihrer Wert-schöpfung in die Versicherungssysteme ein: Geht diesehoch, zahlen sie mehr, geht sie herunter, zahlen sie we-niger, unterschreitet sie eine bestimmte Grenze, zahlensie gar nichts. Das wäre höchst flexibel und der wirt-schaftlichen Leistungsfähigkeit angepaßt. Wir hättenmehr in den Kassen, und es wäre gerechter, weil ein ar-beitskräfteintensives Unternehmen nicht mehr so be-straft würde wie heute, aber ein Hochtechnologieunter-nehmen entsprechend seiner Leistungsfähigkeit heran-gezogen werden könnte.
Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
4506 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Wir müßten uns noch einen zweiten Gedanken ma-chen: Da nun einmal die Zahl der Lohnabhängigen imVergleich zu den Menschen, die auf andere Art Ein-kommen beziehen, sinkt, ist es auf Dauer vielleicht nichtrichtig, daß nur die Lohnabhängigen Beiträge in dieVersicherungssysteme zahlen. Wir müssen uns einfachGedanken darüber machen, wie auch Bezieher andererEinkommen herangezogen werden könnten. Dann hättenwir keine Probleme. Dann müßte hier niemand überNettolohnanpassung oder, besser gesagt, über derenAusfall diskutieren. Dann könnte es dabei bleiben. Dannbrauchten wir im übrigen auch keine Rentenniveausen-kung.
Die Grünen machen wirklich eine extrem alten-feindliche Politik.
– Entschuldigen Sie. Sie haben ein Papier vorgelegt,nach dem die Nettolohnanpassung für immer ausfallensoll. Dann wollen Sie gleich noch das Rentenniveau um5 Prozent senken. Aber was ich Ihnen dabei so übelnehme, ist, daß Sie dabei immer von Generationenge-rechtigkeit reden, daß Sie so tun, als ob das eine Politikfür die Jugend und eine Politik für Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer sei. Deshalb dazu von mir drei Be-merkungen.Erstens. Ich glaube im Unterschied zu Ihnen nicht,daß sich die Jugend wohlfühlt, wenn man ihr erklärt, essoll ihr zu Lasten der Arbeitslosen, der Rentnerinnenund Rentner etwas besser gehen.
Das mag Ihre Einstellung sein, aber so denkt die Jugendin dieser Gesellschaft in Wirklichkeit nicht. Sie versu-chen eine Entsolidarisierung, die nicht hinzunehmen ist.
Zweitens. Was verschweigen Sie dabei? Nehmen wireinmal ein konkretes Beispiel eines Arbeitnehmers, denSie angeblich entlasten wollen. Sie verschweigen natür-lich zwei Dinge, nämlich erstens, daß auch die Unter-nehmen Beiträge zahlen. Aber wie wirkte es, Herr Bun-desfinanzminister, wenn der Kanzler in einen Brief aneine Rentnerin nicht hineinschriebe: Bitte haben SieVerständnis, daß wir die Beiträge der nächsten Genera-tion nicht so hoch schrauben wollen. Denken Sie an IhreKinder und Enkelkinder. Deshalb werden Sie das Ganzeverstehen. – Die Arbeitslosen sollen das auch noch ver-stehen. Wenn er vielmehr schriebe: „Bitte haben Siedoch Verständnis dafür: Das Unternehmen Daimler-Chrysler zahlt seit vier Jahren keine Ertragsteuer, undwir wollen ihm jetzt nicht auch noch höhere Beiträgezumuten“, wäre das natürlich etwas unangenehmer. Dasschreibt sich nicht so gut in einem Brief. Also lassen Siedie zweite Seite der Zahler in Ihren Briefen völlig aus.Drittens. Eines sagen Sie natürlich überhaupt nicht.Angenommen, wir hätten in den nächsten Jahren für dieDurchschnittsrente bei Dynamisierung immer einen An-stieg um 10 DM, dann wären das nach zehn Jahren100 DM. Für den Arbeitnehmer, der in zehn Jahren inRente geht, heißt das: Beginnt er mit 100 DM mehr,falls er die Durchschnittsrente bekommt, oder mit 100DM weniger? Sie kürzen doch nicht nur die Renten derheutigen Rentnerinnen und Rentner, sondern aller künf-tigen Rentnerinnen und Rentner. Das verschweigen Siejedesmal.
Auch für die 20jährige, die heute Beiträge zahlt, stehtfest: Wenn die Dynamisierung ausfällt, hat sie in 40oder 45 Jahren eine geringere Rente als im Falle einerDynamisierung. Diese Tatsache verschweigen Sie re-gelmäßig. Sie schaffen eine Entsolidarisierung, dieschon aus moralischen Gründen nicht geht, die aberauch faktisch falsch ist.
Wenn man über ein Konsolidierungspaket spricht,dann muß man selbstverständlich auch über Einnahmenund Ausgaben reden. Ich kann das hier nur stichwortar-tig tun.Herr Solms, Sie haben schon wieder tapfer gegen dieVermögensteuer polemisiert. Sie haben dabei auf dieUSA und auf das Ruderboot verwiesen. Ich möchte Ih-nen dazu einmal sagen: Wenn wir eine US-amerikanische Vermögensteuer in Deutschland hätten,gäbe es bei uns jährliche Mehreinnahmen in Höhe von30 bis 40 Milliarden DM. Ihr ganzes Problem, HerrBundesfinanzminister Eichel, wäre mit einem Schlaggelöst. Man wird doch als demokratischer Sozialist indiesem Hause noch eine US-amerikanische Vermö-gensteuer vorschlagen dürfen! Weiter gehen wir dochgar nicht. Das wird doch noch erlaubt sein!
Kollege Gysi, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte.
Herr Kollege
Gysi, ich glaube, ich habe deutlich gemacht – ich weiß
nicht, ob Sie das verstanden haben – , daß man, wenn
man von einer zusätzlichen Vermögensteuer oder Ver-
mögensabgabe spricht, die volkswirtschaftlichen Aus-
wirkungen in einer globalisierten Welt beachten muß
und man deswegen aufpassen muß, daß es nicht mehr
schadet als nutzt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einverstanden, Herr Solms.Nur, da alle Industriestaaten mit Ausnahme vonDeutschland und den Niederlanden eine Vermögensteu-er haben, kann in diesem Falle das Standortargumenteinfach nicht zählen. Wir würden nur etwas tun, wasauch alle anderen Industriestaaten machen.Übrigens, Grüne und SPD haben es schwer kritisiert,als Sie die Vermögensteuer abgeschafft haben. Nur,Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4507
(C)
(D)
seitdem Herr Schröder Bundeskanzler ist, will er davonnichts hören, obwohl es in der Koalitionsvereinbarungsteht, obwohl es in beiden Wahlprogrammen steht. Dasmacht eben die Unglaubwürdigkeit aus.
Natürlich haben wir eine soziale Schieflage, und zwareine extreme.Ich will Ihnen auch etwas zu den Unternehmensteu-ern sagen. Ich nenne nur eine Zahl, die Ihnen, glaubeich, nicht bekannt ist: Hätten wir noch die Sätze von1980, hätten wir eine jährliche Mehreinnahme in Höhevon 100 Milliarden DM. Das ist mehr als dreimal soviel,wie Bundesfinanzminister Eichel sparen will – mehr alsdreimal soviel!
– Moment! Natürlich, wir haben jetzt andere Bedingun-gen; ich will die alten auch nicht wiederhaben. Sie müs-sen schon zu Ende zuhören!Mein Problem sind nicht die kleinen und mittel-ständischen Unternehmen; sie sind wirklich zu hoch be-steuert. Mein Problem sind die Großen, die Banken, dieVersicherungen, die Konzerne, die sich aus der Finan-zierung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedethaben. Daimler-Chrysler zahlt bei Reingewinnen inHöhe von 9, 10 oder 12 Milliarden DM – sie liegen im-mer in dieser Größenordnung – seit vier Jahren keineMark Ertragsteuer in Deutschland. Die Deutsche Bankhat für das letzte Jahr einen Gewinn von über 60 Mil-liarden DM ausgewiesen. Da gehen Sie nicht heran.Aber Sie kürzen Renten und behaupten, es gäbe keine,aber auch gar keine Alternativen. Die gibt es selbstver-ständlich, auch bei der Einkommensteuer.
Sie erklären immer, das sei alles so sozial ausgegli-chen und verweisen auf das Kindergeld. Beim Kinder-geld erwähnen Sie aber nicht, daß die Erhöhung nur fürdas erste und zweite Kind gilt. Ab dem dritten Kind gibtes nicht mehr.
Ich frage mich immer, ob das Ansätze chinesischer Po-litik sind.Das Zweite ist – Sie haben auf das Problem selberimmer hingewiesen –: Die Sozialhilfeempfängerin be-kommt die 20 DM Erhöhung sofort wieder abgezogen;sie hat netto nichts davon. Ich bekomme sie netto ausge-zahlt; niemand nimmt mir die 20 Mark wieder weg. Dassagt doch alles über die soziale Schieflage. Ist es dennvon einer sozialdemokratisch geführten Bundesregie-rung wirklich zuviel verlangt, das Sozialhilfegesetz sozu verändern, daß dieser Frau wenigstens die 20 DMnetto verbleiben und sie ihr nicht gleich wieder abgezo-gen werden?
Das war schon zum 1. Januar 1999 so, und das wirdauch zum 1. Januar 2000 wieder so sein. – Nein, das istnicht hinzunehmen.Zum Eingangssteuersatz der Einkommensteuermöchte ich kurz sagen: Es gibt Millionen, die davonnichts haben, weil sie kein Einkommen beziehen, das sieversteuern könnten: Rentnerinnen und Rentner, Sozial-hilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Arbeits-lose und all diejenigen, die sich in prekären Beschäf-tigungsverhältnissen befinden. Trotzdem – das ist rich-tig –, auch wir würden den Eingangssteuersatz senken.Sie verschweigen eine Tatsache, nämlich daß Sie dann,wenn Sie den Eingangssteuersatz senken, nicht nur denWenig- und Normalverdienenden, sondern auch denBesser- und Bestverdienenden helfen, also auch unsallen hier im Hause; es gehört zur Ehrlichkeit dazu, soetwas zu sagen.
– Herr Poß, eines räume ich ein: Ich könnte es auchnicht anders machen, wenn ich die Verantwortung trüge.
– Nein, Sie müssen auch den zweiten Teil meiner Aus-führungen hören. Gerade weil es so ist, nämlich daß iches nicht ändern könnte, werfe ich Ihnen vor, daß Siegleichzeitig auch den Spitzensteuersatz senken. Wir allesind doch schon durch die Senkung des Eingangssteuer-satzes begünstigt. Deshalb müssen Sie nicht auch nochden Spitzensteuersatz senken. Das werfe ich Ihnen vor.
Aber Sie machen es so und sagen dann, daß sie keinGeld hätten und deshalb bei den Renten sowie dem Ar-beitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe sparen müßten.Das ist das eigentlich Unerträgliche.
Die geplante Reduzierung der Abschreibungsmög-lichkeiten geht in Ordnung. Man kann hier über vielesdiskutieren. Aber die Besteuerung der Kapitallebens-versicherungen ist und bleibt problematisch.
– Ich weiß, daß Sie sich immer aufregen, wenn ich dar-über rede. Nur, Sie müssen doch auch einmal über Ihreeigene Politik nachdenken. Sie sagen andauernd, daß dieLeute selbst Vorsorge betreiben sollten, weil sie späternicht mehr die Renten erhalten, die ursprünglich geplantwaren. Aber im gleichen Atemzug sagen Sie, daß dieLebensversicherungen besteuert werden müssen. Das istein Widerspruch in sich. Man muß sich für eine Rich-tung in der Politik entscheiden. Ich kritisiere, daß Siedas bisher nicht getan haben.
Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
4508 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Zur Ökosteuer möchte ich nur noch so viel sagen:Sie können das Benzin Jahr für Jahr immer teurer ma-chen. Das kann man immer extremer betreiben. WennSie das tun, wäre es nur unter einer Bedingung nach-vollziehbar,
nämlich dann, wenn Sie für einen öffentlichen Perso-nennah- und Fernverkehr sorgten, der sich nicht rechnenmuß, der sicher ist, der bequem und extrem preisgünstigist. Durch Ihre Ökosteuer dagegen werden Bus undBahn immer teurer. Damit gibt es für die Leute keineAlternative zum Auto. Wir beide, Herr Schwanhold,können uns die 5 DM, die Sie irgendwann verlangenwerden, leisten. Aber die anderen Menschen müssendann zu Hause bleiben. Das ist nicht akzeptabel. DurchIhre Ökologiepolitik betreiben Sie soziale Ausgrenzung.Wir wollen eine sozialverträgliche Ökologiepolitik. Sieist ganz wichtig, damit die Leute einen ökologischenUmbau auch akzeptieren und ihn nicht immer als Ver-lust empfinden.
Sie leisten der Ökologie den schlechtesten aller Dienste,wenn Sie Ihre gegenwärtigen Regelungen umsetzen.Ihr Paket ist auch deshalb noch unehrlich, weil Sieeine Kostengröße nie erwähnen. Die Finanzierung desKrieges, der Stationierung deutscher Soldaten im Aus-land und des Wiederaufbaus macht Ihre geplanten Erhö-hungen notwendig. Nennen Sie doch wenigstens einmaldie Zahlen!
Herr Kollege Gysi,
ich möchte Sie nur darauf hinweisen, daß Sie die ge-
samte Redezeit Ihrer Fraktion aufgebraucht haben. Sie
haben sie sogar schon überschritten.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Joachim Poß,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Die heutige Debatte beweist, daß sich dieKoalition auf dem richtigen Weg befindet.
Sie hat ein Zukunftsprogramm. Hier im Parlament habenwir nur Demagogie von links und von rechts erlebt, zu-letzt Gysi von links und vorher Amigo-Glos und Solmsvon rechts. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Eine persönliche Bemerkung möchte ich noch ma-chen: Herr Solms und ich mögen uns persönlich sehr.Daß Sie sich mit der Steuerpolitik lange beschäftigt ha-ben, hat zu dem Ergebnis geführt, daß das Steuerrecht inDeutschland total verwüstet wurde, Herr Solms. Das istdas tatsächliche Ergebnis.
Wir kennen die Beispiele aus dem Finanzausschuß: Poli-cendarlehen – von wegen Kapitallebensversicherung –,Schulgeld und andere Themen. Herr Solms, treten Siehier nicht so auf, wie Sie es tun! Sie müßten sich nachdem, was Sie angerichtet haben, eher aus der Politik zu-rückziehen, als solche Reden wie heute morgen zu hal-ten.
Zur Globalisierung. Herr Gysi, Sie sollten hier nichtWahlkampf für Thüringen und andere Länder machen,sondern sich statt dessen das internationale Unterneh-mensteuerrecht anschauen. Dort gibt es eine stärkereTrennung zwischen Privat- und Betriebssphäre als inDeutschland. Wir vollziehen diese Entwicklung nach.Wir machen unser Unternehmensteuerrecht europafähig.Das haben Sie, meine Damen und Herren von der altenKoalition, doch nicht zustande gebracht. Das muß manhier festhalten. Sie haben doch kein Konzept vorgelegt.
Ich möchte auch noch etwas zur Gerechtigkeitslückesagen, obwohl der Oberdemagoge, Herr Gysi, nichtmehr da ist. Was haben wir nicht alles für die Arbeit-nehmer und die Familien in den letzten zehn Monatenzuwege gebracht, um die Arbeitnehmerrechte wieder zuverbessern und die Fehlentwicklungen aus der Vergan-genheit zu korrigieren! Wir haben die Trendwende fürMillionen von Arbeitnehmern und Familien in zehnMonaten zustande gebracht, nicht Sie. Sie haben vorhernur für Belastungen gesorgt. Das sind die Fakten.
Diese Koalition kann auf ihre Leistungsbilanz stolzsein, auch wenn ich zugeben muß, daß nicht alle Mit-glieder dieser Koalition das schon richtig verstanden ha-ben. Wenn das so wäre, dann hätten wir nicht die De-batten, die wir gelegentlich erleben. Das muß man ehrli-cherweise zugeben.
CDU/CSU und F.D.P. haben seit Jahren über Steuer-senkungen geredet und das Gegenteil getan. ZwischenAnspruch und Wirklichkeit klaffen Welten. Sie habendie Steuerzahler Jahr für Jahr mit Milliarden und Aber-milliarden DM zusätzlich belastet. Den Soli haben Siefür die Jahre 1991 und 1992 eingeführt und ihn dannwieder abgeschafft – zickzack, von wegen Stetigkeit inder Steuerpolitik –: je 11 Milliarden DM. Erhöhung derMineralölsteuer 1991 und 1994: 25 Milliarden DM. Er-höhung der Tabaksteuer – damit kann man einverstan-Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4509
(C)
(D)
den sein –: 2 Milliarden DM. Erhöhte Mehrwertsteuerauf Grund höherer Mineralölsteuer und Tabaksteuer:3 Milliarden DM. Ich erinnere auch an die Versiche-rungsteuer. Soll ich Ihnen all das vorlesen, was Sie anSteuerbelastungen in der Bundesrepublik Deutschlandauf dem Buckel haben? Stellen Sie sich doch hier nichthin, und tun Sie nicht so, als wäre das nicht die Realität,die Sie geschaffen haben!
Wir haben die schwierige Aufgabe, Ihre Hinterlas-senschaft aus 16 Jahren schrittweise zu korrigieren. Dasist die Doppeloperation, die wir vornehmen. Wir be-grenzen die Staatsverschuldung. Wir führen aus demSchuldenstaat heraus, und wir entlasten diejenigen, dievon Ihnen systematisch belastet wurden; das können wirmit Zahlen belegen. Das ist unsere Politik.
Wenn Sie das akzeptieren, dann können wir darübersprechen, ob wir noch eine Gerechtigkeitslücke haben.Wir haben eine Koalitionsvereinbarung für vier Jahre.Auch in unseren Reihen verläuft die Diskussion etwasungeordnet. Das gebe ich zu. Ich hoffe, daß wir die Dis-kussion ordnen können. Aber natürlich muß man überVermögensbesteuerung im internationalen Zusammen-hang reden können. Herr Gysi hat in diesem Punkt aus-nahmsweise recht. Übrigens, in den Niederlanden wirdjetzt eine neue Vermögensbesteuerung diskutiert. Esmuß doch möglich sein, tabufrei über solche Dinge zureden.Man muß hinzufügen: Wir haben eine relativ niedrigeGewinnbesteuerung. Man muß alles berücksichtigen,damit wir endlich aus dieser verdammten ideologischenDiskussion über die richtige Steuerpolitik in der Bundes-republik Deutschland herauskommen. Wir sollten dieSache in den Vordergrund stellen. Ich bin ganz zuver-sichtlich, daß uns das gelingt.
Es ist schon ein Problem, daß die Wählerinnen undWähler offenbar ein kurzes Gedächtnis haben – ich ma-che keine Beschimpfungen – und schon verdrängt ha-ben, was CDU/CSU und F.D.P. uns hinterlassen haben.Wir müssen mit dieser Hinterlassenschaft fertig wer-den.Herr Glos, stellen Sie sich einmal vor, Ihre Koalitionwäre am 27. September 1998 bestätigt worden. Wiewäre das Drehbuch für die anschließende Koalitionsver-einbarung gewesen? Es hätte ein „Drehbuch Protzner/Uldall“ gegeben. Protzner hat etwas mit Ihnen zu tun. Erwar einmal Generalsekretär in der F.D.P.
– Entschuldigung, in der CSU.
Wir sollten nicht so kleinlich sein, auch die F.D.P. hattekeine besseren Generalsekretäre.Durch die Arbeitslosenversicherung sollte die Ar-beitslosigkeit nicht länger subventioniert werden. Sosollten Arbeitslose im ersten Monat ohne Job keine Lei-stungen mehr erhalten und diese Zeit durch den Rück-griff auf Reserven überbrücken. Die Arbeitslosen habensehr wahrscheinlich viele Reserven. In der Krankenver-sicherung sollten alle Leistungen begrenzt werden, dieüber das notwendige Maß hinausgehen. So sollten dieZuzahlungen für Medikamente erhöht werden. Jedersollte zudem, wie bei einer Teilkaskoversicherung fürAutos, einen jährlichen Selbstbehalt von 300 DM über-nehmen. – Wir haben die Medikamentenzuzahlung ab-gesenkt. Darin liegt der Unterschied zwischen dem, waswir machen, und dem, was bei Ihnen gedroht hätte. Ichkönnte die Reihe der Punkte, die in diesem fulminantenPapier von Herrn Protzner und Herrn Uldall zu lesensind, fortsetzen.
Ich glaube, in Deutschland muß sich herumsprechen,was Ihre Absicht ist. Mit Ihren polemischen Angriffenvernebeln Sie ständig. Nichts anderes findet statt.Wir sind mit den heute morgen zu diskutierenden Ge-setzentwürfen auf dem richtigen Weg. Sie sind wesentli-cher Bestandteil unserer Reformvorhaben. Die Koalitionund ihr Finanzminister Hans Eichel werden diese Fi-nanz- und Steuerpolitik fortsetzen. Wir haben dieTrendwende in Gang gesetzt. Was bedeutet das in Zah-len?Das Steuerentlastungsgesetz bedeutet eineLohnsteuerabsenkung von 7,9 Milliarden DM in diesemJahr. Im nächsten Jahr wird die Lohnsteuerabsenkungbei 18,3 Milliarden DM liegen. Im Jahre 2001 wird dieLohnsteuerabsenkung bei 20,4 Milliarden DM liegen.Im Jahre 2002 liegt die Absenkung dann insgesamt bei46 Milliarden DM. Das heißt, bis zum Jahre 2002 wirddie Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer um 14 Pro-zent gegenüber dem bisher geltenden Steuerrecht redu-ziert. Das ist fast ein Sechstel des Aufkommens. Das,was wir realisieren, ist doch wohl ein Wort!
Die große Masse der Bürgerinnen und Bürger wird dasbei ihren Nettobezügen in den nächsten Jahren spüren.Die Familien mit Kindern merken es schon heute. Diebreite Masse der Arbeitnehmer und Familien – ich wie-derhole es – ist der große Gewinner unserer Politik.Sie haben dem Publikum vorgelogen, Sie wollten diedeutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen. Haben Siedas vergessen? Kennen Sie nicht mehr Ihre Anzeigevom November 1990? Es hat auch zu Ihrem Wahlerfolgbeigetragen, daß Sie systematisch getäuscht haben.
Das hat doch zum Politikverdruß in Deutschland beige-tragen. Wir machen das nicht, bleiben bei allem Gegen-Joachim Poß
Metadaten/Kopzeile:
4510 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
wind unbeirrt bei einer Politik der Wahrhaftigkeit undvertreten sie auch.
Bei Ihnen wurden immer mehr Bezieher kleiner undmittlerer Einkommen höher belastet. Sie haben doch zu-gelassen, daß Steuerkünstler und Spitzenverdiener sichtrotz hoher und höchster Einkommen armrechnen durf-ten und das Finanzamt leer ausging. Diese Ihre Erb-schaft, meine Damen und Herren, hat sich aber nochnicht richtig herumgesprochen. Wir haben mit demSteuerentlastungsgesetz einen Schritt genau in die an-dere Richtung gemacht. Die Zahlen zeigen es ja schon:Das Steueraufkommen aus der veranlagten Einkom-mensteuer steigt, weil wir Schlupflöcher geschlossenhaben. Wir haben das gemacht, was Sie nicht gemachthaben.
Wir werden diese Politik der sozialen Gerechtigkeitauch fortsetzen. In dieser Situation sagen wir, daß allegesellschaftlichen Gruppen Opfer bringen müssen. Vordem Hintergrund der Umsetzung einer sozial gerechtenPolitik muten wir allen Gruppen etwas zu und beziehendabei zugegebenermaßen auch die Rentner und Ar-beitslosen mit ein. Was wäre denn Ihre Alternative ge-wesen? Im Zusammenhang mit der Aufstellung desHaushaltes 2000 und der Festlegung der mittelfristigenFinanzplanung hätten Sie, wenn Sie ehrliche Politikbetreiben würden – es wußte doch jeder, daß da dieStunde der Wahrheit kommt –, Farbe bekennen müssen.Das war klar, unabhängig vom Wechsel des Finanzmi-nisters. Wir haben mit unserem Zukunftsprogramm dierichtige Antwort gegeben.
Hätten Sie eine Alternative dazu gehabt? Jeder seriö-se Mensch, der sich ein wenig mit Finanz-, Steuer- undHaushaltspolitik auskennt, weiß doch, daß die konser-vativen Zeitungen diesen Kurs unterstützen. Das kannIhnen nicht passen, wo ist denn die Alternative? TretenSie doch einmal vor, und nennen Sie eine! Ich jedenfallskenne keine.
Wir sind auf dem richtigen Kurs, um die Gestaltungsfä-higkeit der Politik wiederzugewinnen.Die nicht gerechtfertigte steuerliche Begünstigungvon Lebensversicherungen, soweit sie als reine Kapi-talanlage abgeschlossen werden, wird beseitigt. Damitwerden reine Kapitalanlagen, die aus steuerlichen Grün-den mit dem Mantel einer Lebensversicherung verhülltwerden, anderen Geldanlageformen gleichgestellt –nicht mehr und nicht weniger.
Im übrigen – ich wiederhole mich auch dabei – hatte dieabgewählte Regierung eine ähnliche Regelung vorgese-hen. Sie hätte aber außerdem noch den Bestand besteu-ert, was wir nicht machen. Wir wahren den Vertrauens-schutz. Das ist der Fall.
Wenn man sich anhört, wie Sie hier über das Fami-lienförderungsgesetz reden, kommen einem ja die Trä-nen.
– Nein. – Herr Waigel wollte aber damals, als die Neu-regelung auf Grund des Urteils des Bundesverfassungs-gerichtes anstand, das Kindergeld für das zweite Kindum 20 DM erhöhen. Gemeinsam mit der Mehrheit derLänder haben wir im Bundesrat einen großen Schrittvollzogen und das Kindergeld auf 250 DM angehoben.Wir setzen diese Politik unverändert fort. Wir brauchtendie Ermahnung des Bundesverfassungsgerichts garnicht, die dann gekommen ist, weil wir schon auf demrichtigen Weg waren.
Wie haben Sie denn im letzten Herbst diskutiert? Siewaren doch gegen die Anhebung um 30 DM, weil daskeine Arbeitsplätze schaffe.Mich würde einmal interessieren – das hat keiner vonIhnen gesagt –, wie Sie sich zu den einzelnen Gesetzenverhalten.
Das ist eine spannende Frage. Werden Sie dem Famili-enförderungsgesetz zustimmen? Die Ökosteuer – so ha-be ich das verstanden – werden Sie wohl ablehnen, weilSie da den reinen Populismus fortsetzen. Aber wartenwir doch einmal ab, wie Sie sich beim Steuerbereini-gungsgesetz verhalten. Ich verspreche Ihnen nur folgen-des: Intellektuell werden wir es Ihnen nicht einfach ma-chen, Ihren Zickzackkurs vor der Öffentlichkeit zu ver-schleiern.
Das Kindergeld wird zum 1. Januar um weitere 20DM auf 270 DM für die ersten beiden Kinder angeho-ben. Was ist das denn? Der steuerliche Freibetrag wirdauf knapp 10 000 DM erhöht. Eine Familie mit zweiKindern hat ab dem Jahre 2000 ein steuerfreies Ein-kommen von knapp 50 000 DM. Von einer solchensteuerlichen Entlastung, die wir hier realisieren, konntenFamilien unter der Regierung Kohl nur träumen.
Im nächsten Akt werden wir uns mit der zweiten Stu-fe des Familienförderungsgesetzes beschäftigen und dieFamilien weiter entlasten, möglicherweise auch gerech-Joachim Poß
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4511
(C)
(D)
ter durch einen Systemwechsel, den der Kollege Müllerhier erwähnt hat. Darüber besteht zwischen beidenFraktionen Übereinstimmung. Denn wir wollen insbe-sondere den Familien mit kleinen und mittleren Ein-kommen helfen, die finanziellen Lasten der Kinderer-ziehung besser tragen zu können.Wir werden ebenso die Regelungen bezüglich derSozialhilfeempfänger noch einmal prüfen. Auch hiergilt: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
– Wissen Sie, wir haben mit zwei Dingen zu tun. Dieeinen fragen: Was habt ihr bisher denn eigentlich schonzuwege gebracht? Und die anderen sagen: Ihr habt euchda verhaspelt. Da muß man sich schon für eine Linieentscheiden. Wir haben viel angepackt und mußten vielanpacken, weil wir Ihre Erbschaft hatten. Das ist dieWahrheit in der Bundesrepbulik Deutschland.
Wenn Sie dann mit dem Thema Rente kommen, kannich nur sagen: Ich verstehe ja den Ärger von Rentnerin-nen und Rentnern. Aber es ist eine verlogene Kampa-gne, die die Union sich erlaubt, wenn man weiß, daß beiHelmut Kohl die Rentensteigerungsrate in 16 Jahrenachtmal unterhalb der Preissteigerungsrate lag.
Sie haben überhaupt kein Recht, eine solche Debatte zuführen.Da bin ich, genau wie bei der Frage der Vermögens-besteuerung, dafür, daß wir hier eine ehrliche Debatte,einen ehrlichen Diskurs führen. Natürlich muß und kannman über Rentenkonzepte kontrovers diskutieren, so-wohl innerhalb von Parteien als auch zwischen Parteien.Aber lassen Sie uns diese Diskussion um der Zukunftunserer Gesellschaft willen, unserer Kinder wegen, umdas einmal etwas pathetisch zu sagen, nicht auf dem Ni-veau führen, auf dem Sie diese Debatte führen. So wer-den Sie unserem Zukunftsprogramm und unserem An-satz in keinster Weise gerecht. Ein bißchen bessereGegner hätten wir heute morgen schon erwartet.
Herr Kollege Poß, ich
weiß, Sie sind ein leidenschaftlicher und temperament-
voller Redner. Ich möchte aber doch die Empfehlung aus-
sprechen, daß Sie mit Titulierungen wie „Demagoge“
oder „Oberdemagoge“ sehr vorsichtig umgehen.
Damit erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Rauen,
CDU/CSU-Fraktion.
Herrn Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr Poß, wenn Sieglauben, auf dem richtigen Wege zu sein, dann muß IhreWahrnehmung schon stark getrübt sein.
Die Steuerdiskussion ist doch in der Tat chaotisch. Ichhabe niemals vorher erlebt, daß in der Wirtschaft, beiHandwerkern und Selbständigen die Irritation, die Rat-losigkeit und der Vertrauensverlust bezüglich der politi-schen Rahmendaten so groß gewesen wären wie zumheutigen Zeitpunkt.Ich bleibe einmal bei dem, was heute vorgelegt wird.Die Wirtschaftsverbände und die Steuerberaterkammernhaben in das heute vorgelegte Steuerbereinigungsge-setz teilweise große Hoffnungen gesetzt. Diese werdenmit der heutigen Vorlage allesamt enttäuscht. Sie neh-men lediglich die Abzugsbesteuerung bei ausländischenWerkvertragsunternehmen zurück, womit Sie sich ohne-hin international blamiert hatten. Ferner hat offenbar derDruck aus der Industrie gereicht, um das Betriebsausga-benabzugsverbot für steuerfreie ausländische Schachtel-dividenden zu reduzieren. Letztendlich wollen Sie beiden lang laufenden kapitalbildenden Lebensversiche-rungen Kasse machen, indem Sie diese besteuern, ohnedaß Sie dabei auch nur im Ansatz eine Antwort auf diestrukturellen Probleme der Rentenversicherung gebenwürden. Alle unzumutbaren Belastungen für kleine undmittlere Betriebe, die sich jetzt bei der Umsetzung desSteuerentlastungsgesetzes ergeben, haben Sie nicht an-gepackt und nicht zurückgenommen, trotz teilweise gra-vierender Fehler. Ich komme darauf an Hand von zweiBeispielen zurück.Es bleibt dabei: Dieses sogenannte Steuerentla-stungsgesetz ist und bleibt ein Belastungsgesetz für denMittelstand.
Durch die Änderung der Gewinnermittlungsvorschriftenkassiert diese Regierung bei den kleinen und mittlerenBetrieben auf brutalste Weise ab. Sie entlastet nicht, wieversprochen, sondern sie belastet genau diejenigen, diein den vergangenen Jahren nachweisbar zusätzliche Ar-beitsplätze in Deutschland geschaffen haben.Bei dem ganzen Chaos, das Sie seit Monaten anrich-ten – auch durch die widersprüchlichen Äußerungen in-nerhalb Ihrer eigenen Reihen –, fällt mir ohnehin auf,daß Sie kaum mehr von der Entwicklung auf dem Ar-beitsmarkt sprechen. Ihre vollmundigen Versprechun-gen, alles zu tun, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren,spielen zwischenzeitlich offenbar keine Rolle mehr.Bundeskanzler Schröder hat bei seinem Amtsantritt inder Regierungserklärung gesagt, daß er genau daran ge-Joachim Paß
Metadaten/Kopzeile:
4512 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
messen werden wolle. Herr Bundeskanzler – er ist jetztnicht da, aber ich nehme an, es wird ihm übermittelt –, IhreZwischenbilanz ist verheerend. Seit Ihrem Amtsantritt imOktober 1998 ist die Zahl der Arbeitslosen um 135 000 aufmehr als 4 Millionen gestiegen. Das Ganze muß ja vor demHintergrund gesehen werden, daß die Arbeitslosigkeit 1998im Jahresdurchschnitt noch um 400 000 gegenüber 1997zurückgegangen war. Das aber war noch der Erfolg deralten Regierung unter Bundeskanzler Dr. Kohl.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung inBerlin nennt 1999 zu Recht ein verlorenes Jahr für dieArbeitslosen. Das Ganze ist aus meiner Sicht aber nochviel schlimmer – Kollege Solms hat es eben kurz ange-sprochen –: Die Arbeitsgemeinschaft deutscher wirt-schaftswissenschaftlicher Institute hat am 27. April 1999in ihrem „Bericht zur Lage der Weltwirtschaft und derdeutschen Wirtschaft“ ausgeführt – ich zitiere –:Für dieses und das nächste Jahr wird mit einer Ab-nahme des Erwerbspersonenpotentials um fast eine
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Aha, aha!Sensationell!)Wenn das nur annähernd stimmt – daran habe ichüberhaupt keine Zweifel –, erhebt sich die Frage, wie esmit der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäf-tigten in Deutschland aussieht. Die Zunahme der Ar-beitslosigkeit und der Rückgang des Erwerbsperso-nenpotentials lassen darauf schließen, daß wir inDeutschland seit dem Amtsantritt von Schröder 350 000Beschäftigte weniger haben.
Ich wollte gestern dieser Frage exakt nachgehen undhabe dabei eine erschreckende Feststellung gemacht. Daich seit Jahren die Arbeitslosen- und Beschäftigtenzah-len monatlich verfolge, habe ich meinen Mitarbeiter ge-beten, diese Zahlen, die bis Dezember 1998 bzw. Okto-ber 1998 vorlagen, durch Rückfragen beim Arbeitsmi-nisterium zu vervollständigen. Die Bemühungen warenerfolglos; das Ganze war äußerst enttäuschend und fru-strierend. Ich darf Ihnen die Aktennotiz meines Mitar-beiters vorlesen. Er schreibt:Auf meine Bitte, mir die monatlichen Zahlen der so-zialversicherungspflichtig Beschäftigten ab Novem-ber 1998 zu nennen, teilte mir Herr MinisterialratLepper mit, daß es auf Grund neuer Methoden beider Datenerfassung und eines differenzierteren Mel-deverfahrens seit Jahresbeginn keine Zahlen über diesozialversicherungspflichtig Beschäftigten gibt.
Die Pressestelle der Bundesanstalt für Arbeit bestä-tigte diesen Sachverhalt und ergänzte, daß der Prä-sident, Herr Jagoda, monatlich bei der Bekanntgabeder Arbeitslosenzahlen diesen Mißstand anpran-gere, da es sich bei den Beschäftigtenzahlen umeinen volkswirtschaftlich äußerst relevanten Para-meter handele.Meine Damen und Herren, ich habe vermutet, daßdas, was ich da hörte, nicht wahr sein kann,
da die „Wirtschaftswoche“ jeden Monat die „Schröder-Uhr“ veröffentlicht. Mein Anruf bei einem maßgeb-lichen Journalisten der „Wirtschaftswoche“ hat dann er-geben, daß auch diese Zeitschrift seit Monaten keineaktuellen Zahlen mehr über die Beschäftigten bekommtund sie bei dieser „Schröder-Uhr“ folglich alte Zahleneinstellen muß.Ich habe dann vergeblich versucht, Herrn Jagoda zuerreichen. Sein Mitarbeiter Herr Hönig hat diese Anga-ben jedoch meinem Mitarbeiter gegenüber bestätigt undmir das Statement von Herrn Jagoda zur Pressekonfe-renz vor ein paar Tagen zu den Arbeitsmarktzahlen vonAugust 1999 zukommen lassen. Dort heißt es im zwei-ten Absatz:Nach wie vor fehlen aktuelle Daten zur Erwerbstä-tigkeit, weil es wegen der Neugestaltung des Melde-verfahrens zur Sozialversicherung vorübergehend zuProblemen gekommen ist. Jedoch sprechen die Da-ten zur Personalentwicklung in einzelnen Bereichen– besonders Industrie, Bauwirtschaft und Hand-werk –, aber auch die Veränderungen der Arbeits-losigkeit dafür, daß die Zahl der Erwerbstätigen imbisherigen Jahresverlauf nicht weiter gewachsen ist.Meine Damen und Herren, der Präsident drückt sich sehrzurückhaltend aus.Diese Regierung quetscht nicht nur den Mittelstandund die Bauern aus, sorgt nicht nur für Chaos in derSteuer- und Finanzpolitik, vernichtet nicht nur Arbeits-plätze und Existenzen, nein, sie fängt jetzt auch an zutricksen und zu manipulieren.
Ich halte es für einen Skandal, daß den Parlamentari-ern und der Öffentlichkeit solch wichtige volkswirt-schaftliche Daten wie die Beschäftigtenzahlen vorent-halten werden. Der kleinste Handwerksbetrieb inDeutschland kann es sich nicht leisten, 10 Monate langnicht zu wissen, woran er ist, nur weil er seine Datener-fassung auf Computer umgestellt hat. Das kann sich keinsolider Betrieb leisten, aber von Solidität kann bei dieserBundesregierung offenbar keine Rede mehr sein.
Es muß – ich sage das noch einmal – angenommenwerden, daß unter der Regierung Schröder die Zahl derordentlich Beschäftigten in Deutschland um 350 000 zu-rückgegangen ist. Ich habe es oft in Bonn gesagt, undich sage es hier wieder: Herr Bundeskanzler, Herr Ei-chel, wer wie Sie in Deutschland eine Politik gegen denMittelstand und gegen die kleinen und mittleren Betrie-be betreibt, wird niemals eine Wende auf dem Arbeits-markt herbeiführen können!
Peter Rauen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4513
(C)
(D)
Der Unfug mit der Fortführung der Ökosteuerreformund das völlig unzulängliche Steuerbereinigungsgesetzwerden diese negative Entwicklung nur noch beschleu-nigen. Wissen Sie eigentlich noch exakt, was Sie tun?Haben Sie überhaupt ein Stückchen Ahnung von derPraxis?
Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. In meinerNachbarschaft hat der 68jährige Besitzer sein Hotelre-staurant, das er mit seiner Frau und seiner Tochter be-trieben hat, verkauft, weil die Tochter nicht mehr wei-termachen wollte. Er hat bei dem Verkauf einen Erlös inHöhe von 1,8 Millionen DM gehabt. Bei einem Buch-wert des veräußerten Anlagevermögens in Höhe von400 000 DM betrug der Veräußerungsgewinn1,4 Millionen DM. Darauf muß er exakt 787 000 DMSteuern zahlen. Es verbleiben dem Mann gerade noch613 000 DM.
– Sie würden besser zuhören, als andere der Polemik zubezichtigen, Herr Poß.
Seine Verbindlichkeiten bei der Bank aus dem Hotel-bau betrugen noch 600 000 DM. Es bleiben dem Mannalso 13 000 DM übrig. Sie haben diesem Mann mit Ihrervollen Besteuerung bei Betriebsveräußerungen die Al-tersversorgung kaputtgemacht. Ich will das sehr deutlichsagen.
Sie haben alle Hinweise in den Wind geschlagen, dieszurückzunehmen.
Mein zweites Beispiel: Durch die Abschaffung desMehrkontenmodells nach § 4 Abs. 4 a Einkommen-steuergesetz – Herr Eichel, hören Sie bitte genau zu –tritt ein Nebeneffekt ein, der mit dem Mehrkonten-modell überhaupt nichts zu tun hat. Wenn zum Beispielein Handwerksmeister über das Kontokorrentkontoeine Maschine für 100 000 DM finanziert, im gleichenJahr 80 000 DM für sich und seine Familie entnimmt,damit sie leben können, und insgesamt 100 000 DMGewinn macht, kann er die Schuldzinsen, obwohl dasKontokorrentkonto das ganze Jahr bei minus100 000 DM stand, zukünftig nicht mehr als Betriebs-kosten absetzen.Herr Eichel, das kommt einem Entnahmeverbotgleich. Die Finanzierung aller betrieblichen Investitio-nen einschließlich aller Entnahmen und Einnahmen überdas Kontokorrentkonto ist die Regel bei den meistenkleinen und mittleren Betrieben. Obwohl Sie, Herr Ei-chel, zigmal durch Briefe über diesen Unfug informiertworden sind, ist nichts bei der Bereinigung geändertworden. Durch diese unverständliche Regelung zumNachteil des Mittelstands werden Hunderttausende vonSelbständigen bei der nächsten Steuerprüfung erheblicheSteuernachzahlungen bekommen.Ich kann abschließend nur eines feststellen. Ich willdieser Regierung keine Böswilligkeit unterstellen, abereines steht für mich fest: Ihr wißt nicht, was Ihr tut.Schönen Dank.
Das Wort hat nunder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Re-aktorsicherheit, Jürgen Trittin.Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Wir haben mit unserem Gesetzent-wurf heute eine Verstetigung dessen vorgelegt, womitwir im letzten Jahr angefangen haben: die ökologisch-soziale Steuerreform.
Wir steigern damit nicht nur die Wettbewerbsfähigkeitund die Innovationsfreude unserer Wirtschaft, sondernwir verbessern auch und gerade den Stand der Wirtschaftim Vergleich zu anderen Volkswirtschaften und leisteneinen Beitrag zu einem nachhaltigeren Wirtschaften.
Wir bemühen uns, die Frage des Klimaschutzes mit ei-nem neuen Schub zu versehen.Die ökologische Steuerreform ist kein Modell zumAbkassieren, sondern das Angebot an Bürgerinnen undBürger sowie Unternehmen, legal Steuern zu sparen, in-dem durch umweltbewußtes Verhalten der Energie-verbrauch eingeschränkt und damit der Schadstoffaus-stoß verringert wird.
Mit der Verstetigung, die wir heute vorlegen, korri-gieren wir eine dramatische Fehlentwicklung, die Sie zuverantworten haben.
Das Aufkommen aus Steuern und Abgaben, aufgeglie-dert nach verschiedenen Faktoren, lag in den 70er Jahrenund noch Ende der 80er Jahre, bezogen auf das Ge-samtsteueraufkommen, deutlich unter 60 Prozent, näm-lich bei 54 Prozent, das Steueraufkommen aus demUmweltbereich bei 7 Prozent. Als Sie die Regierungverlassen haben, lag der Anteil, den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer durch Steuern und Sozialabgaben amGesamtsteueraufkommen zu erbringen hatten, inzwi-schen bei zwei Dritteln, bei 66 Prozent.Die rotgrüne Koalition ist darangegangen, diese so-ziale Schieflage zu korrigieren. Zugleich leiteten Sie ei-ne katastrophale ökologische Entwicklung ein. Als allevon Ressourceneffizienz sowie davon sprachen, tat-sächlich weniger Schadstoffe auszustoßen und wenigerPeter Rauen
Metadaten/Kopzeile:
4514 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Energie zu verbrauchen, ist als Ergebnis Ihrer Steuerpo-litik folgendes übrig geblieben: Der Anteil des Auf-kommens an Umweltabgaben ist auf knapp 5 Prozentgesunken.Wenn ich höre, daß die ökologische Steuerreform ei-ne Steuererhöhung sei, dann sage ich ganz ruhig: Nein,meine Damen und Herren, hier geht es nicht um mehrSteuern, sondern um Umsteuern. Als Ergebnis diesesProzesses wird im Jahre 2003 die Steuerbelastung ausdem Faktor Arbeit um 2 Prozentpunkte gesenkt und dieSteuerbelastung aus Abgaben aus dem Faktor Umweltwieder um 2 Prozentpunkte erhöht worden sein.
Zu einer ökologisch-sozialen Steuerreform gehört –das möchte ich gleich im Zusammenhang mit den Äuße-rungen einiger Kollegen sagen – Stetigkeit. Man kauftnicht an jedem Tag ein neues Auto oder einen neuenFernseher, Unternehmen investieren nicht an jedem Tagneu. Es muß also ein Stück Berechenbarkeit bei Inve-stitionen gegeben sein, und es muß klar sein, ob es sichlohnt, beispielsweise bei der Neuanschaffung eines Pkwauf ein verbrauchsärmeres, energieeffizienteres Modellzu setzen, oder ob bei Investitionen in Betrieben Ener-giespartechniken bevorzugt eingeführt werden. Mit demjetzt vorgelegten Gesetzentwurf schaffen wir Berechen-barkeit für Unternehmen, aber auch und gerade Bere-chenbarkeit für private Konsumentinnen und Konsu-menten.
Herr Glos hat vorhin gesagt, die 30 Pfennige seienaber ein Skandal.
Mit Gregor Gysi hat er einen prominenten Fürsprecher;„Seit' an Seit'“ könnten sie auch in der Autofahrerparteistreiten.
Aber es gibt einen Unterschied zu Herrn Gysi, meineDamen und Herren von der CSU: Herr Gysi hat da einesaubere Weste, Sie nicht.
Sie haben 1987, 1988, 1989, 1991, 1992 und 1994 dieMineralölsteuer erhöht, und zwar teilweise um Sätzevon jährlich 14 bis 22 Prozent. Der Unterschied zu die-ser Koalition ist: Sie haben diese Einnahmen den Ar-beitgebern und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mern nicht zurückgegeben, sondern sie für Ihre Haus-haltssanierung mißbraucht.
Herr Kollege Trit-
tin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Bulling-Schröter?
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Bitte.
Herr MinisterTrittin, Sie haben über die Einsparpotentiale gesprochen.Mich interessiert, wo Sie die Einsparpotentiale bei Ar-beitslosen und Sozialhilfeempfängern sehen. Wo sehenSie die Einsparpotentiale bei der Industrie, die momen-tan von der Ökosteuerbelastung weitgehend ausgenom-men ist?Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit: Meine liebe Kollegin,Sie wissen als Umweltpolitikerin sehr genau: Für dieBeantwortung der Frage nach der Belastung durchdie Ökosteuer gibt es – aus diesem Grunde konnteKollege Müller die Frage der Kollegin Lenke nichtmit der von ihm bekannten Präzision beantworten –keine statistische Grundlage, weil die Belastung vomsubjektiven Verhalten des einzelnen abhängt. Wir ge-ben den Menschen die Mündigkeit zurück, indem sieselbst entscheiden können, in welcher Höhe die Steuersie trifft.
– Lachen Sie nicht! Ich kann Ihnen an einem ganz einfa-chen Beispiel vorführen, wie Sie Ihre Stromrechnungunabhängig von der Liberalisierung auf diesem Marktum 10 Prozent reduzieren können: Vermeiden SieStand-by-Schaltung Ihrer Elektrogeräte, dadurch könnenSie 11 Prozent des Stromverbrauchs einsparen. Sie kön-nen mir nicht erzählen, liebe Kolleginnen und Kollegen,daß solch einfache Maßnahmen Arbeitslosen und ande-ren verwehrt sind.Ich will noch eine zweite Argumentation aufgreifen.Mir kommen immer die Tränen in die Augen, wenn ichden geschätzten Fraktionsvorsitzenden Gysi über dieHöhe der Benzinpreise in diesem Land reden höre.Wenn wir schon von Ehrlichkeit an dieser Stelle reden,dann gehört das Erwähnen der Tatsache dazu, daß in derBundesrepublik Deutschland die Benzinpreise ein Ni-veau haben, das die niederländische Regierung dazu ge-bracht hat, Tankstellen in Grenznähe zu subventionie-ren, weil nämlich die Niederländer zum Tanken in dieBundesrepublik Deutschland gefahren sind.Mit dem Einstieg in eine ökologisch-soziale Steuer-reform haben wir im europäischen Konzert einen Gleich-klang erreicht. Ich will auf zwei Punkte eingehen, die beidieser ökologisch-sozialen Steuerreform für mich vongroßer Bedeutung sind. Durch diese Steuerreform werdenwir bei der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe inEuropa weit vor dem europäischen Durchschnitt liegen.Wir werden nicht erst 2005, sondern bereits 2001– daserlaubt die Konstruktion und Nutzung sehr verbrauchs-effektiver Motoren – schadstoffarmes Benzin mit einemSchwefelanteil von 50 ppm einführen. Wir werden einennoch niedrigeren Wert, nämlich 10 ppm, bereits 2003 er-Bundesminister Jürgen Trittin
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4515
(C)
(D)
reichen. Wir können heute auf diese Weise Fahrzeuge aufden Markt bringen, die zwischen 10 und 25 Prozent desheutigen Verbrauchs einsparen. Schließlich sorgen wirmit der ökologisch-sozialen Steuerreform für ein StückWettbewerbsgleichheit auf dem Energiemarkt.Ich kann nicht mit ansehen, daß auf einem liberali-sierten Strommarkt das Rückgrat der Energieversorgungder Zukunft, nämlich hocheffiziente Gas- und Dampf-kraftwerke, im Vergleich zu anderen Energieträgerndurch die Besteuerung des Primärenergieeinsatzes be-nachteiligt wird. Die nun durchzuführende Steuerfrei-stellung von GuD-Kraftwerken, ähnlich der von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, sorgt hier für Wettbewerbs-gerechtigkeit und -gleichheit.
Wettbewerbsgerechtigkeit und -gleichheit für dieseEnergieversorgung brauchen wir dringend; denn wirkönnen nicht mit ansehen, wie moderne Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und moderne GuD-Kraftwerke teil-weise nicht gebaut und teilweise sogar stillgelegt wer-den, weil sie mit abgeschriebenen Altanlagen, derenStillegungszeitpunkt – unabhängig von allen Debattenum die Atomenergie – absehbar ist, nicht mehr konkur-rieren können. Wer dieser Entwicklung tatenlos zusehenwürde, der würde in der Tat dann die Verantwortung da-für tragen, daß die Bundesrepublik Deutschland voneinem Land, in dem Energie nicht nur konsumiert undgehandelt, sondern auch produziert wird, zu einemreinen Stromhandelsland absinken würde. Dies kannund darf nicht sein, und deswegen haben wir hier ent-sprechende Regelungen im Rahmen dieser ökologisch-sozialen Steuerreform vorgesehen.
Meine Damen und Herren, wenn ich mir die erstenDebatten um die ökologisch-soziale Steuerreform auchvor dem Hintergrund des Beitrages des Kollegen Solmshier anhöre, dann muß ich doch ein gewisses Erstaunenan den Tag legen.
– Meinen Glückwunsch! – Sie haben sich den „Stern“offensichtlich zu Herzen genommen.
Meine Damen und Herren, es ist ja prophezeit wor-den, daß die ökologisch-soziale Steuerreform Nachteilebringen würde. Das Gegenteil ist richtig: Die ökolo-gisch-soziale Steuerreform verbessert die Standortbe-dingungen, und das ist offensichtlich eine Lehre, die inganz Europa verstanden wird. Nicht nur in den skandi-navischen Ländern, sondern auch in Großbritannien undanderen Ländern wie Italien hat inzwischen die Lehreum sich gegriffen: Wer Energie spart, schont die Um-welt; wer Energie spart, der spart dann auch Steuern.Die Einnahmen aber können benutzt werden, um denFaktor Arbeit zu verbilligen und so einen Schritt hin zumehr Beschäftigung zu tun.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Lippold.
HerrPräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DasÖkosteuergesetz ist absolut untauglich. Herr Trittin weißdas, und Herr Trittin hat deshalb so über die soziale Kom-ponente gesprochen, falsch und unrichtig, weil er auf denökologischen Lenkungsansatz nicht eingegangen ist.Er läßt wissenschaftliche Aufträge in diesem Bereichvergeben und erhält durch die Gutachten bestätigt – dasist eine schallende Ohrfeige –, wie untauglich seine Re-form ist. Darauf aufbauend läßt er bereits die Reformder Reform machen, nämlich ein neues Steuergesetz inPlanung, an das er anknüpfen will. Und dann stellt ersich hier hin und spricht von Stetigkeit und spricht vonBerechenbarkeit!Herr Eichel, es ist, ehrlich gesagt, eine schallendeOhrfeige für Sie:
Sie dürfen das Ökosteuergesetz jetzt hier einbringen,begründen, vertreten, und er denkt über eine neue Re-form nach, läßt das wissenschaftlich begründen, unddann sagt er hier nichts. Dann bringen Sie doch die Ge-samtheit dessen, was Sie wissen, hier in die Diskussionein! Dazu gehört, daß Ihnen Ihre Wissenschaftler dieUntauglichkeit bescheinigen.
Ich kann zitieren, Herr Trittin:Andere Ziele als umweltpolitische Ziele gewinnendie Oberhand. Umweltpolitische Lenkungsaufga-ben werden falsch gestellt.– Das sagt Ihr Gutachter!Wenn das umweltpolitische Ziel nicht völlig ausden Augen verloren werden soll, müssen andereWeichenstellungen erfolgen.– Ihr Gutachter!Anreizfunktionen werden weitgehend ausgehebelt.– Ihr Gutachter!Herr Eichel, das müssen Sie sich sagen lassen:Der im Gesetz angelegte und im neuesten Entwurf desBundesfinanzministers auch formal beschrittene Wegist in doppelter Hinsicht zum Scheitern verurteilt.Bundesminister Jürgen Trittin
Metadaten/Kopzeile:
4516 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Die gegenwärtige Konstruktion des Ökosteuerge-setzes wird sich daher weder mit Blick auf die EUnoch binnenwirtschaftspolitisch aufrechterhaltenlassen.Das, Herr Trittin, müssen Sie hier im Parlament zuden von Ihnen genannten Konstruktionen einbringen,nicht aber sich hier hinstellen und sagen, das sei ökolo-gisch, das sei sozial. Es ist weder ökologisch noch sozi-al. Ihre Leute wissen das, und Sie enthalten uns das vor.Wir werden das mit Ihnen diskutieren. So lassen wirdiese Reform nicht durchgehen.
Herr Eichel, ich verstehe ja: Der Bundeskanzler istschon gewohnt, daß er von diesem Minister fortlaufendans Schienenbein getreten wird, aber Sie sollten dochwenigstens noch die Sensibilität haben, um zu wissen,daß man so nicht mit sich umspringen läßt.
Das ist im Grunde genommen nicht mein Problem, son-dern es ist Ihr Problem.
Herr Kollege Lip-
pold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Matschie?
Nein, im Moment nicht. Wir müssen die ganze Schandemal aufgreifen.
Da er ja weiß, wie schwierig das Ganze ist, läßt erseinen Experten das dänische Modell der Energiebe-steuerung prüfen. Dabei geht es um eine weitere Öko-steuererhöhung, Herr Trittin. Das muß man ja auch ein-mal sagen. Von dem Aufkommen dieser weiteren Ener-giesteuererhöhung geben Sie dann gnädig den Unter-nehmen, die ein Energieaudit machen, etwas zurück –nicht alles, sondern nur etwas. Das geschieht mit einemungeheueren bürokratischen Aufwand. Das ist ja derreine Lustgewinn für die Beratungsagenturen, aber dasbedeutet den Tod für den Mittelstand, dem Sie damit ei-ne weitere Schlinge um den Hals legen. Denn diese Bü-rokratie ist nicht weiter zu ertragen.
Davon sagen Sie hier nichts.Zu dem gesamten Schwachsinn, den Sie veranstalten,
sagt der Rechtsexperte: An meinen formalverfassungs-rechtlichen Bedenken gegenüber diesem Gesetz halteich ebenso fest wie an den materialverfassungsrechtli-chen Bedenken. – Damit sind die Bedenken zum Re-formmodell des Reformmodells gemeint. Das heißt,auch darin ist schon das Scheitern angelegt. Es ist alsonicht nur das falsch, was jetzt diskutiert wird, sondernauch das, was daran anschließen soll. Auch das wird mitverfassungsrechtlichen Fragezeichen versehen.Im übrigen lobt derselbe Gutachter unser Modell derSelbstverpflichtung als die bessere Alternative, weil esadäquat und angepaßt ist und keine Überregulierung be-deutet.Das sind die Positionen. Deshalb sage ich Ihnen, HerrLoske, da Sie etwas zur Selbstverpflichtung in dem so-genannten Realo-Papier ausgeführt haben: Ich bin ein-mal gespannt, ob Sie dazu auch stehen, ob das wirklichnicht nur eine wahltaktische Geschichte war. Sie hattendas ja rechtzeitig vor den Brandenburger Wahlen vor-gelegt, und Sie wollten damit ein Stück Unionspolitikkopieren. Das ist Ihnen fast gelungen, aber nicht ganz.Es reicht nicht, wenn Sie das einfach nur formal kopie-ren; Sie müssen auch die Inhalte übernehmen und hierim Parlament vertreten. Das sollten Sie tun.Das ist nicht alles.
Auch das Umweltbundesamt übt ja Kritik – wenn auchindirekt – an der Ökopolitik dieser Regierung undschlägt ein neueres, breiteres Modell vor. Weitere Steu-ererhöhungen werden vorgeschlagen, etwa 1 DM für dasBenzin, und zwar sowohl für Diesel wie für das andere.Die Abwasserabgabe kommt vor. Weitere Abgabenwerden genannt. Es ist ein Paket, dessen Umfang in kur-zer Zeit – das kann man hochrechnen – zusätzliche150 Milliarden DM erreichen wird. Damit ist nicht diejetzige Ökosteuerreform gemeint; das ist das, was dasUBA zusätzlich vorschlägt. Dies, Herr Trittin, stellenSie alles unter das Stichwort „Berechenbarkeit“: dreiVorschläge zur gleichen Zeit! Stichwort „Stetigkeit“:drei Vorschläge zur gleichen Zeit! Ja, das Chaos ist per-fekt. Legen Sie uns doch einmal dar, wo Ihre eigentlicheLinie ist.Herr Loske, wenn Sie wirklich zu dem stehen, wasSie gesagt haben, nämlich: „Bürokratie weg“, dann ha-ben Sie jetzt eine Lebensaufgabe vor sich, und zwar mitIhrem eigenen Minister. Nur so könnten Sie dies eini-germaßen in den Griff bekommen.
Ich will Ihnen noch etwas anderes sagen. Das ist indieser UBA-Presseerklärung noch schöner angelegt.Mich wundert eigentlich, daß Sie sie so einfach habenherausgehen lassen. Das ist schon erstaunlich.
– Herr Loske, hören Sie erst zu!Dort steht: Mit diesen 150 Milliarden lassen sich be-stimmte Minderungen – dann werden Prozentsätze vondrei bis 15 Prozent genannt – bei Schadstoffen errei-chen. Aber das Entscheidende ist doch: Sie wissen garnicht, ob das wirklich so ist. Dort steht, Sie erwarteteneine Verringerung der Umweltbelastung, und dannkommt hinterher der Satz: Das sind Schätzwerte, dieDr. Klaus W. Lippold
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4517
(C)
(D)
mit erheblichen Unsicherheiten verbunden sind. Dasheißt: keine Lenkungsgenauigkeit, zusätzliches Abkas-sieren, und Sie wissen hinterher noch nicht einmal, obdie ökologische Lenkungsfunktion überhaupt erfülltwird. Was Sie hier vorführen ist ein Fiasko, wie man esnoch nicht erlebt hat.
Dann hat Herr Trittin auch von einer sozialen Kom-ponente gesprochen. Das hat man bei ihm zwar nicht sooft gehört.
– Wenn er das jetzt nicht hört, dann bekommt er esschon noch gesagt.
In der UBA-Presseerklärung steht wörtlich zu den Maß-nahmen, die Sie vorschlagen: Relativ am stärksten zuihrem Einkommen werden die unteren Einkommens-gruppen belastet. – Das ist in Ihren Augen sozial! Ichgratuliere! Teure Anzüge tragen, teure Zigaretten rau-chen und die unteren Einkommensgruppen am stärkstenbelasten – das ist es, was wir von Ihnen zu erwarten ha-ben.
Nein, meine Damen und Herren, so kommen Sie nichtdavon.Was sagt der Chef der Bahn? Sie sagen doch im-mer: Der Bahnverkehr ist ökologisch günstig. Mit Ih-ren Ökosteuervorstellungen – hat er gesagt – kann erkeine Bahnreform machen, eine Reform, die die Schie-ne wettbewerbsfähig erhält und neue Investitionen zu-läßt. Das heißt also, das ökologische Verkehrsmittel,das Sie propagieren, wird genau durch Ihre Maßnah-men blockiert. Es ist also auch in diesem Bereichnichts mit Ökologie.Ich sage ganz offen: Es ist erstaunlich, wieviel UnfugSie in kürzester Zeit zusammentragen, diesem Haus prä-sentieren, und daß Sie dann noch hoffen, daß wir Ihnendas durchgehen lassen. Das können Sie innerhalb Ihrereigenen Truppe so halten – die glauben Ihnen das viel-leicht, wenigstens für eine kurze Zeit –, aber machen Siedas nicht mit dieser Opposition. Wir werden das in denAusschußberatungen anmahnen; darauf können Sie sichverlassen.
Ich gebe für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Ernst Ulrich von Weiz-
säcker das Wort.
Herr Prä-sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ineinem Buch des leider gegenwärtig abwesenden Frak-tionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Dr. WolfgangSchäuble,
habe ich 1994 den, wie ich empfand, richtungsweisen-den Satz gelesen: Ökonomisch wie ökologisch sinnvol-ler wäre es, im Mix der Produktionsfaktoren menschli-che Arbeit billiger und im Gegenzug den Verbrauch vonRohstoffen und Energie teurer zu machen.
Im Dezember 1995 haben 17 Abgeordnete – signifi-kanterweise junge Abgeordnete – von CDU/CSU, SPD,F.D.P. und Grünen zum Klimaschutz durch eine ökolo-gische Umgestaltung des Steuersystems aufgerufen.
Wenige Wochen zuvor hatte die damalige F.D.P.-Spitzenachdrücklich die EU-weite Einführung eines ökologi-schen Steuerkonzepts gefordert. Wörtlich hieß es dazu:Wir sind jedoch bereit, auf nationaler Ebene mit gutemBeispiel voranzugehen.Meine Damen und Herren, Sie sehen: Der Grundge-danke der ökologischen Steuerreform ist parteiüber-greifend akzeptiert.
An der Ausgestaltung aber scheiden sich, wie es in derPolitik nicht unüblich ist, die Geister.
In der Debatte zum Einstieg in die ökologische Steu-erreform habe ich im März dieses Jahres eingeräumt,daß eine einmalige Veränderung des Preisgefüges zwi-schen Energie und Arbeit weder eine große ökologischeLenkungswirkung hat noch ein bedeutendes Signal fürden Arbeitsmarkt sein kann; das wissen wir alle. Alsohaben wir die langfristige Fortsetzung über die Legisla-turperiode hinaus als notwendig bezeichnet. Eben des-halb habe ich in dieser Frage für einen parteiübergrei-fenden Konsens plädiert. Unser heutiger Gesetzentwurfsoll als Signal in diese Richtung verstanden werden.Wir suchen und schaffen im Rahmen unserer politi-schen Handlungsmöglichkeiten Planungssicherheit fürUnternehmen und Bürger. Die vorgesehenen Preisstei-gerungen bei Kraftstoffen und bei Strom bis 2003 sindverkraftbar. Sozial verkraftbar sind sie im Rahmen einerSteuerentlastungspolitik, die wir für die Bezieher kleinerund mittlerer Einkommen ja betreiben. Wirtschaftlichverkraftbar sind sie insbesondere in einer Phase generellsinkender Strompreise. Dennoch gibt unser Reformpaketdurch seine langfristige Ausrichtung ein klares Signal inDr. Klaus W. Lippold
Metadaten/Kopzeile:
4518 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Richtung Verhaltensveränderung beim Verbrauch undTechnologieentwicklung.In einer seriösen neuen Studie zweier Institute, dieder Kollege Lippold soeben angesprochen hat, wird zu-gegebenermaßen eingewandt, daß für eine deutlicheökologische Lenkungswirkung noch wesentlich höhereSteuersätze, als sie von uns vorgeschlagen werden, wün-schenswert wären. Aber es wird auch ganz klar die De-vise „Langfristigkeit und Stetigkeit vor Höhe“ vertreten.Langfristigkeit und Stetigkeit bekommen wir aber nichtdurch brutale Steuersätze.
Und genau das ist der Grund, weshalb wir sozialpoli-tisch Konzessionen machen, die um der Langfristigkeitwillen dann auch ökologisch die bessere Alternativesind.
Wir sind uns natürlich über eines im klaren: Geradeweil wir diese Konzessionen machen müssen, wird dieökologische Steuerreform alleine die notwendigen öko-logischen Veränderungen nicht herbeiführen.
Sie ist Bestandteil eines größeren Pakets. Ich würdelieber sagen: Sie soll langfristig eine Art Grundton derMelodie sein, der dann tagespolitische Obertöne aufge-setzt werden können.
Herr Lippold, dazu gehören selbstverständlich auchdie freiwilligen Vereinbarungen. Die sind aber, derNatur solcher Vereinbarungen entsprechend, immer nurein paar Jahre gültig. Mehr wäre von der Wirtschaftnicht zu verlangen.Auch der jetzt eingeführte Oberton einer Differenzie-rung nach Schadstoffgehalten beim Benzin – übrigensein Gedanke aus einem CDU-geführten Bundesland – istvon uns mit aufgenommen worden. Das ist aber nur einOberton. Wir erwarten von dieser Besteuerung keinsonderlich berückendes zusätzliches Einkommen für denStaat. Aber das, was wir jetzt beschließen, wird in derGesamtheit ausreichen, um, wie Minister Trittin gesagthat, die Rentenbeiträge noch einmal um insgesamt 1Prozentpunkt zu senken.Kollege Solms hat aber vollständig recht, wenn erdarauf hinweist, daß allein über diesen Weg die Kala-mität im Bereich der Rentenfinanzierung nicht gelöstwerden kann. Es kommt also darauf an, daß gerade wirUmweltpolitiker mit daran arbeiten, daß diese Kalamitätmit Hilfe von zusätzlichen Maßnahmen beseitigt bzw.bearbeitet wird.
Auch dabei sind wir selbstverständlich auf einen par-teiübergreifenden Konsens angewiesen. Ich vernehmemit großem Interesse die neuen Töne nach den letztenLandtagswahlen, die dahin gehen, daß man seitens derBundestagsopposition keine Obstruktion betreiben will.Da müssen wir sie beim Wort nehmen.
Wir müssen im Interesse der Gesamtgesellschaft, derUmwelt und insbesondere der Jugend eine langfristige,stabile Politik hinbekommen. Das verlangt an einigenzentralen Punkten, die ich die Grundmelodie genannthabe, einen parteiübergreifenden Konsens.
Wir haben deswegen ein Konzept vorgelegt, welchesüber die Grenze der Legislaturperiode hinausgeht. Dasist für die Planungssicherheit wichtig. Es wäre für unsalle sehr wünschenswert, wenn sich dieses Hohe Hausüber diese für den Generationenvertrag entscheidendeFrage nicht weiter zerstreiten würde.Vielen Dank.
Für die FraktionBündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Rein-hard Loske.
Ich bin an und für sich ein großer Freund der Holzar-chitektur. Aber heute bin ich froh, daß wir hier mehrStein und Beton haben; denn die Balken hätten sich an-gesichts dessen, was uns die Opposition hier gebotenhat, gebogen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kir-che.
Herr Kollege Lippold, ich möchte den Begriff derGlaubwürdigkeit ins Zentrum rücken und feststellen:Es ist völlig unglaubwürdig, was Sie hier tun. Auf dereinen Seite singt Kollege Rauen das Lied vom Nieder-gang des Standortes Deutschland durch die ökolo-gische Steuerreform und tut so, als ob die gesamteWirtschaft kollabierte. Auf der anderen Seite zitierenSie Studien, die besagen, die ökologische Steuerreformgehe nicht weit genug. Dies ist in vielen Punkten si-cherlich richtig; aber von der Tendenz her wird uns jazugestimmt. Das heißt, Sie können nicht beides fest-stellen. Entweder kollabiert der Standort, oder dieseReform geht nicht weit genug. An die Regeln der Lo-gik sollten auch Sie sich halten.
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4519
(C)
(D)
Genauso unschlüssig ist Ihr Vorgehen in folgendemBereich: Auf der einen Seite werfen Sie Herrn Trittinvor, daß er einen bürokratischen Moloch herstellt. Dasstimmt objektiv nicht. Jeder, der genau hinschaut, kanndas erkennen. Auf der anderen Seite verlangen Sie tau-senderlei Ausnahmeregelungen, die in der Tat einenbürokratischen Moloch erzeugen würden. Auch das isttotal unglaubwürdig.
Ein weiterer Punkt bei der Opposition, den ich wirklichnoch einmal ansprechen muß: Sie sehen immer nur dieeine Seite der Medaille. In Wahrheit wissen Sie es natür-lich besser, stellen aber immer nur die eine Seite derMedaille in den Raum. Denn Sie betonen immer nur dieErhöhung der Energiepreise. Sie wissen doch ganzgenau, daß die Schritte, die wir über die Legislaturperiodehinaus bis zum Jahr 2003 festgelegt haben – viermalsechs Pfennig beim Sprit und viermal einen halben Pfen-nig bei der Stromsteuer –, eine Entsprechung haben. Die-se Entsprechung heißt: Absenkung der Lohnneben-kosten. Das ist doch das, was wir uns immer gemeinsamvorgenommen haben; das ist das Entscheidende. DieRentenversicherungsbeiträge sind zum 1. April bereitsvon 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent gesunken. Bis 2003werden sie um insgesamt knapp zwei Prozentpunkte sin-ken. Das enthebt uns nicht der Verpflichtung – das hat derKollege von Weizsäcker vollkommen zu Recht gesagt –,eine vernünftige Rentenreform zu machen. Es ist aber einBeitrag zur Lösung dieser Problematik.
Wenn ich dann diese Horrorszenarien erlebe! Ichweiß nicht, ob der Kollege Austermann jetzt im Saal ist– ich sehe ihn gerade nicht –, aber er hat gestern wiedereine Presseerklärung herausgegeben, bei der sich dieBalken wirklich gebogen hätten; wahrscheinlich wärensie sogar gesprungen. Kollege Austermann behauptet,die ökologische Steuerreform würde dem Bund jährlich19 Milliarden DM in die Kasse spülen. Wenn wir so vielGeld für die Entlastung des Haushalts hätten, dann wäreuns Hans Eichel sicher dankbar. Es ist aber nicht so,denn das Geld fließt in die sozialen Sicherungssystemeund zu einem kleinen Teil in die Förderung erneuerbarerEnergien. Das wissen Sie ganz genau.
Hören Sie doch mit solchen Märchen auf!
Zum nächsten Punkt. Für uns Grüne – das sage ichals umweltpolitischer Sprecher meiner Fraktion – stehtdie ökologische Lenkungswirkung der Ökosteuer na-türlich im Mittelpunkt. Das ist völlig klar. Herr Lippold,Sie haben das angemahnt. Ich will die Punkte im einzel-nen nennen: Die Kraft-Wärme-Kopplung wird gezieltgefördert. Wenn Wirkungsgrade von über 70 Prozent er-reicht werden, wird sie von der Mineralölsteuer freige-stellt. Das war bei Ihnen nicht so. Die kleinen Block-heizkraftwerke – ganz wichtig für die dezentrale Ener-gieerzeugung – werden sowohl von der Mineralölsteuerals auch von der Stromsteuer freigestellt und erhaltendadurch einen ganz klaren Wettbewerbsvorteil. Auchdas ist gut so. Die modernen Gas- und Dampfturbinen-kraftwerke werden bessergestellt. Das Erdgas im Ver-kehrsbereich wird für zehn weitere Jahre privilegiert,was für die öffentlichen Busflotten und auch für die ge-werblichen Flotten ganz wichtig ist. Die schwefelarmenKraftstoffe werden vier Jahre eher eingeführt, als das beiIhnen der Fall gewesen wäre. Schließlich haben wir einFörderprogramm für erneuerbare Energien in Höhe von200 Millionen DM jährlich. Das alles läßt sich vorzei-gen; das alles ist ein wichtiger Beitrag zum Klima-schutzprogramm.
Zu meinem letzten Punkt. Kollege Gysi ist leidernicht mehr da. Es geht um die soziale Komponente.
Dazu muß man doch die Gesamtschau anstellen. Ichmuß sagen, dieser blanke Populismus geht mir langsamauf den Geist.
Man muß das Steuerpaket also in der Gesamtschau be-trachten, und dann ist die soziale Komponente sehr wohlausgewogen. Ich darf vielleicht darauf hinweisen – alsÖkologe sehe ich das durchaus mit einem weinendenAuge –, daß wir uns im Moment in einem Umfeld starksinkender Strompreise bewegen. Das, was wir durchdie ökologische Steuerreform auf den Strompreis drauf-packen, reicht möglicherweise gar nicht aus, um diesesAbsinken zu kompensieren. Damit werden wir uns nochbeschäftigen müssen. Wir alle wollen ja den Wettbe-werb. Gott sei es gedankt: Die Monopolrenten schmel-zen ab. Wenn das aber im Gegenzug dazu führte, daßEnergiesparaktivitäten praktisch eingestellt werden,wäre das ökologisch verheerend.
Ich komme zum Schluß. Ich glaube, das, was wir –obwohl bekannt ist, daß wir Grünen durchaus gewilltgewesen wären, in diesem Punkt noch ein bißchenweiter zu gehen – guten Gewissens vorzeigen können,ist zunächst das, was von Weizsäcker gesagt hat, näm-lich die Verstetigungsperspektive. Wir alle wissen nun:Auf diese Sache kann man sich verlassen; sie bekommteine Perspektive, und zwar auch über die Legislaturpe-riode hinaus. Das ist ein Mut, den ich mir in der Ver-gangenheit manchmal auch bei Ihnen gewünscht hätte.
Dr. Reinhard Loske
Metadaten/Kopzeile:
4520 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Zudem kommen wir von der hechelnden Kurzatmigkeitweg, mit der Sie sozusagen je nach Kassenlage die Mi-neralölsteuer erhöht haben. Heute wissen die Leute es;sie können sich darauf verlassen.
Noch eines: Für das Erreichen des Klimaschutzziels,das wir uns mit der CO2-Reduktion um 25 Prozent biszum Jahre 2005 gesetzt haben – das sind nur noch sechsJahre, und wir haben mit 13 Prozent die Hälfte derWegstrecke erreicht, dennoch ist noch ein ganzes Stückzu gehen –, brauchen wir in der Tat mehr Maßnahmenals nur die ökologische Steuerreform. Dabei ist zweierleibesonders wichtig. Erstens müssen wir uns im Raum-wärmebereich etwas ausdenken, denn wir haben in dennächsten Schritten Öl und Erdgas von der Besteuerungausgenommen. Es muß etwas anderes kommen. DieEnergiesparverordnung muß dafür sorgen, daß auch imGebäudebestand wirklich gespart wird. Zweitens habenwir die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes alsgroße Aufgabe vor uns. Sie sehen also, wir haben fürden Klimaschutz noch genug zu tun. In diesem Sinnebitte ich um Ihre Unterstützung für unser Gesetz.Danke schön.
Als nächste spricht
die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis.
Dr
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Heute reden wir über den Entwurf des Familienförde-
rungsgesetzes, den die Koalitionsfraktionen vorgelegt
haben. Familienpolitik ist ein wichtiges Herzstück mo-
derner Gesellschaftspolitik. Damit Sie von der CDU/
CSU jetzt nicht wieder auf die Idee verfallen, hier platte
Oppositionspolitik zu machen, will ich Ihnen gleich
vorweg sagen: In Ihrer Regierungszeit hat die Familien-
politik nur so vor sich hergedümpelt.
– Herr Merz, bleiben Sie ganz ruhig. Sie brauchen mich
überhaupt nicht, um eine kritische Bilanz über die Fa-
milienpolitik der Kohl-Regierung zu ziehen. Das kann
man mittlerweile von Leuten aus Ihren eigenen Reihen
lang und breit lesen.
Sie können bei dem CDU-Landesvorsitzenden in
NRW nachfragen, was er über die Familienpolitik der
Kohl-Regierung sagt.
Sie können auch bei der Generalsekretärin der CDU
nachfragen, was sie überall über die alte Familienpolitik
sagt. Noch heute habe ich in einer dpa-Meldung gelesen,
daß sie in der „Mitteldeutschen Zeitung“ gesagt hat, in
der Familienpolitik habe die Partei Defizite. Sie führt
das auch näher aus.
Im Kern trifft Sie der Vorwurf, daß Sie nicht bereit
gewesen sind, die Lebenswirklichkeit von Familien
wahrzunehmen, daß Sie nicht bereit gewesen sind, zu
sehen, daß es mittlerweile viele Formen von Familien
gibt, und daß Sie auch nicht bereit gewesen sind, das
Rollenverständnis der Frauen, der Mütter, der erwerbs-
tätigen Mütter ernsthaft in Ihre Familienpolitik einzube-
ziehen.
Sie sind – lassen Sie mich das ganz freundschaftlich
sagen – auch jetzt nicht auf einem guten Weg, wenn in
Ihren Reihen das Erziehungsgehalt intensiv diskutiert
wird. Meine Damen und Herren, das Erziehungsgehalt
wäre ein familienpolitischer Rückschritt, würde zu einer
erneuten Polarisierung der Geschlechterrollen in der
Familie führen und letztendlich erneut die Frauen in den
Familien benachteiligen.
Wir haben aber Grund genug, auch über die materi-
elle Situation von Familien zu reden, was wir heute tun.
Wie erging es denn den Familien unter den Familienmi-
nisterinnen und den Finanzministern der CDU/CSU?
Das Bundesverfassungsgericht verkündete ein Urteil
nach dem anderen und mahnte einen deutlich verbes-
serten Familienlastenausgleich an. Es war schon be-
merkenswert, wie taub sich die alte Bundesregierung
gegenüber diesen Verfassungsgerichtsurteilen gestellt
hat.
Wer weiß denn noch, daß das Kindergeld für das er-
ste Kind 1995 gerade einmal 70 DM mit der Folge be-
trug, daß die Gutverdienenden auf Grund des vorherr-
schenden Kinderfreibetrags für ihr Kind vom Staat weit-
aus mehr bekamen als die Gering- und Normalverdie-
nenden?
Wir alle wissen – das wurde heute auch schon ge-
sagt –, daß es einer erheblichen Einflußnahme seitens
der SPD-Mehrheit im Bundesrat bedurfte, um das Kin-
dergeld 1996 auf 200 DM und 1997 auf 220 DM für das
erste und das zweite Kind anzuheben. Nach langer Zeit
zog damals, vor zwei Jahren, so etwas wie soziale Ge-
rechtigkeit wieder in die Familienpolitik ein.
Aber 250 DM Kindergeld konnten wir als Opposition
bei Ihnen nicht durchsetzen. Dazu brauchte es in der Tat
den Regierungswechsel.
Frau Parlamentari-sche Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrageder Kollegin Schenk?Dr. Reinhard Loske
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4521
(C)
(D)
Dr
Ja, bitte.
Frau Parlamentarische
Staatssekretärin, Sie haben kritisiert, daß die Politik der
alten Bundesregierung in Sachen Familienförderung so
zu charakterisieren ist, daß insbesondere die Besserver-
dienenden davon einen Vorteil hatten. Sind Sie bereit
einzuräumen, daß sich mit dem heute vorliegenden Vor-
schlag daran nichts Wesentliches ändert? Ab einem Ein-
kommen in Höhe von 50 000 DM für Einzelpersonen
oder 100 000 DM für Ehepaare ist der Ertrag aus der
Steuerersparnis höher als das Kindergeld. Im Prinzip ist
dies also nichts anderes als das, was wir vorher hatten.
Dr
Frau Schenk, ich habe gerade erst angefangen. Ich
wollte gerade erzählen, was wir tun. Vielleicht können
wir uns darauf einigen, daß Sie erst einmal zuhören und
dann, wenn Ihnen noch etwas einfällt, noch einmal
nachfragen.
Ich möchte nämlich erwähnen – da kann ich gleich an
die Frage von Frau Schenk anknüpfen –, daß die Steu-
erpolitik der jetzigen Bundesregierung in jedem Fall
dazu führt, daß die Arbeitnehmerfamilien, die Familien
mit mittleren und durchschnittlichen Einkommen, die
Gewinner unserer Steuerpolitik sein werden, und zwar
durch die Absenkung des Eingangssteuersatzes und die
Anhebung des Grundfreibetrages.
Sie können nicht nur einen Ausschnitt aus einem großen
finanzpolitischen Bereich nehmen.
Heute diskutieren wir wieder ein familienpolitisches
Versäumnis der alten Bundesregierung. Vollkommen zu
Recht hat das Bundesverfassungsgericht angemahnt,
auch bei verheirateten Eltern nicht nur das sächliche
Existenzminimum von Kindern finanziell zu berück-
sichtigen, sondern auch den Betreuungs- und Erzie-
hungsbedarf.
Auf Grund der schlechten Erfahrungen mit unserer
alten Bundesregierung, die nichts umsetzte, hat das
Bundesverfassungsgericht unserer neuen Bundesregie-
rung leider eine ganz enge Frist zur Umsetzung gegeben.
Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes für die
Politik sind ausschließlich auf das Steuerrecht bzw. die
Steuerfreistellung von bestimmten Aufwendungen und
von Eltern – im Gegensatz zu Kinderlosen – erbrachten
Betreuungs- und Erziehungsleistungen ausgerichtet.
Das bedeutet konkret: Es hätte ausgereicht, die Kin-
derfreibeträge anzuheben, um das Verfassungsgerichts-
urteil umzusetzen. Das wäre auch noch die kostengün-
stigste Lösung für den öffentlichen Haushalt gewesen.
Insofern wäre das eine verführerische Variante insbe-
sondere für einen Bundesfinanzminister gewesen und
zwar angesichts der Tatsache, daß wir die gigantische
Staatsverschuldung, die in 16 Jahren Kohl-Regierung
entstanden ist, abbauen wollen und abbauen müssen –
das im übrigen auch um unserer Kinder willen.
Auch wenn eine leistungsgerechte Besteuerung fami-
lienpolitisch von besonderem Gewicht ist, kann ich doch
nicht daran vorbeigehen, Frau Schenk, daß eine aus-
schließliche Verfolgung dessen dazu führen würde, daß
die Bezieher höherer Einkommen sehr viel für ihr Kind
erhalten würden und die Bezieher niedriger und mittlerer
Einkommen gar nichts oder wenig für ihr Kind bekä-
men. Das wäre eine Familienpolitik, die – da brauchen
wir nur auf die Straße zu gehen – alle für äußerst un-
gerecht halten. Eine solche Familienpolitik könnte daher
nicht zufriedenstellen.
Das heißt, meine Damen und Herren: Horizontale
Steuergerechtigkeit darf nicht der wesentliche Maßstab
für Familienpolitik sein. Vielmehr muß immer auch eine
bedarfsgerechte Familienförderung hinzukommen.
Darum ist es richtig und wichtig, was die Regie-
rungskoalition in ihrem Gesetzentwurf gemacht hat:
Obwohl das Kindergeld in diesem Jahr schon um 30 DM
erhöht wurde, hat sie gesagt: Wir nehmen das Verfas-
sungsgerichtsurteil zum Anlaß, noch einmal 20 DM
Kindergeld dazuzulegen. Es gibt also 50 DM Kinder-
gelderhöhung innerhalb eines Jahres. Das hat es in einer
Regierungspolitik noch nie gegeben.
Frau Kollegin Nie-
huis, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lenke?
Dr
Ja, bitte.
Frau Niehuis, als erstes: Es är-gert mich, daß die Regierungsmitglieder immer diedeutsche Einheit vergessen, wenn sie von den Schuldender Bundesrepublik Deutschland sprechen.
Ich denke, dazu gehört auch ein Stück Ehrlichkeit. DaßSie das immer vergessen, zeigt, daß das eine Strategievon Ihnen ist.
Jetzt komme ich zu meiner Frage: Frau Niehuis, kön-nen Sie mir sagen, weil Herr Müller das nicht konnte,wie hoch die Belastung durch die Ökosteuer bei einerFamilie mit zwei Kindern pro Haushalt und pro Jahr ist?
Metadaten/Kopzeile:
4522 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Dr
Zunächst einmal zu der Staatsverschuldung: OhneZweifel war die deutsche Einheit ab 1990 eine besonde-re Herausforderung. Aber wenn Sie sich die Haushaltebis 1989 anschauen – vielleicht wissen Sie das als neueAbgeordnete im Bundestag nicht –, die hier im Bundes-tag verabschiedet wurden, dann stellen Sie fest, daß dieStaatsverschuldung von Jahr zu Jahr auch ohne deutscheEinheit zugenommen hat.
Das Zweite: Natürlich muß man über die ökologischeSteuerreform reden. Der Hintergrund Ihrer Frage ist,nehme ich an: Bei mehr Köpfen in der Familie gibt esmehr Stromverbrauch. Aber immerhin bleibt es in derRegel noch bei einem Auto; es passen dort vier Personenhinein.Ihre Argumentation, über die Ökosteuer würde unse-re familienpolitische Gerechtigkeit in Schwierigkeitenkommen, ist total falsch. Rechnen Sie doch einmal nach:Wenn die Steuern auf Strom, Diesel und Benzin nachdem neuen Konzept höher werden, dann bedeutet das fürden von Ihnen genannten Haushalt einer vierköpfigenFamilie gerade einmal eine Mehrbelastung von vier bisfünf DM im Monat.
Sie können einmal gegenrechnen, wieviel diese Familieim Rahmen des Familienlastenausgleichs erhält.
Wir reden aber heute über das Urteil des Bundesver-fassungsgerichts. Es kann passieren, daß uns die steuer-politische Ausrichtung dieses Urteils eine zu enge fami-lienpolitische Diskussion aufzwingt. Aber durch dieFokussierung des Urteils auf den Betreuungs- und Er-ziehungsbedarf haben wir auch die Möglichkeit, die fa-milienpolitische Diskussion zu erweitern.Wir alle wissen zum Beispiel, daß Eltern mit volljäh-rigen behinderten Kindern, die vollstationär unterge-bracht sind, von der Politik seit langem fordern, anzuer-kennen, daß sie – auch wenn das sächliche Existenzmi-nimum der Kinder durch Eingliederungshilfe abgedecktist – einen erheblichen Betreuungsaufwand haben, zumBeispiel durch häufige Besuche, durch Betreuung anWochenenden und in den Ferien. Lange haben Elternvon behinderten Kindern darauf warten müssen, daß diePolitik dies anerkennt. Mit dem vorliegenden Gesetz-entwurf wird dies anerkannt, weil nun diese Eltern einTeilkindergeld oder einen teilweisen Betreuungsfreibe-trag beanspruchen können.
Ich halte dies für einen ganz wichtigen Schritt in derFamilienpolitik; denn ich kenne so viele Eltern, die ihrebehinderten Kinder liebevoll und intensiv betreuen, auchdann, wenn diese Kinder im Heim untergebracht sind.Diese Eltern haben es wirklich verdient, daß man ihreLeistungen heute auch steuerpolitisch anerkennt.
Auch für Alleinerziehende ist es wichtig, daß der Ge-setzgeber berücksichtigt, daß ein Elternteil das Kind be-treut, während sich der andere nicht an der Betreuungbeteiligt. Wenn es so ist, dann ist es nur recht und billig,daß der Alleinerziehenden auf Antrag der Betreuungs-freibetrag voll übertragen werden kann. Auch dies wirdmit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg ge-bracht.Wir beschränken uns bei der Umsetzung des Be-schlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 10. No-vember 1998 bewußt zunächst nur auf die zum 1. Januar2000 geforderte Regelung. Familienpolitisch lohnt essich, noch einmal genau zu prüfen, ob im Hinblick aufBetreuungs- und Erziehungsbedarf die Gesichtspunkteder horizontalen Steuergerechtigkeit ebenso beachtetwerden müssen wie beim Grundbedarf in Höhe dessächlichen Existenzminimums. Das Bundesverfassungs-gericht
fordert, Frau Frick, daß der Betreuungs- und der Erzie-hungsbedarf einkommensteuerrechtlich generell zu be-rücksichtigen sind,
unabhängig davon
– lassen Sie uns familienpolitisch doch einmal weiter-denken –, ob überhaupt Aufwendungen die finanzielleLeistungsfähigkeit der Eltern mindern. Ich möchte die-sen Gedankengang einmal weiterspinnen: Wenn dersächliche Unterhalt die finanzielle Leistungsfähigkeitder Eltern zwingend mindert, die Betreuungs- und Er-ziehungsleistungen jedoch nicht oder nur zu einem dis-ponierbaren Teil, dann kann meines Erachtens die steu-erliche Berücksichtigung des Betreuungs- und Erzie-hungsbedarfs zumindest prinzipiell zu einem Teil andersgeregelt werden als die des Grundfreibetrags.Ich möchte Sie einfach einladen, mit uns darübernachzudenken, ob nicht auch diese Lösung verfassungs-konform wäre; denn eine differenzierte Betrachtung desBetreuungsbedarfs macht auch eine differenzierte finanz-politische Argumentation möglich. Dieser Gedanke weistin die Zukunft. Ich gebe zu: Die Verfassungskonformitätdieser Regelung muß äußerst streng geprüft werden.Aber warum dürfen wir nicht einmal weiterdenken? Gibtes denn nicht noch einen gerechteren Maßstab als nurdie horizontale Steuergerechtigkeit?
Das Finanzielle ist nur das eine. Als Familienpolitike-rin bedauere ich sehr, daß wir über all die anderen fami-lienpolitischen Themen heute nicht mehr diskutierenkönnen. Aber wir werden demnächst noch weitere Vor-lagen einbringen. Dann können wir auch über die ande-ren Rahmenbedingungen für Familien reden. Ich freuemich auf die weitere familienpolitische Debatte.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4523
(C)
(D)
Danke schön.
Für die CDU/CSU-
Fraktion spricht die Kollegin Ilse Falk.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Es ist viel die Rede von Wider-sprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewesen.Je nachdem, auf welcher Seite man steht, greift man aufdas eine oder andere zurück. Es würde jetzt Spaß ma-chen, aus alten Protokollen zu zitieren. Ich will Ihnendas nicht in aller Ausführlichkeit zumuten; denn daswürde zu weit führen. Sie kennen das.Sie werden heute an Dingen gemessen, die wir da-mals vielleicht nicht so gerne gehört haben. Wir sahendamals keinen anderen Weg. Wir haben eine Familien-politik entwickelt, die unseren Vorstellungen von Fami-lie in einem umfassenden Maße entsprach. Heute hättenSie die Möglichkeit gehabt, mit der Macht Ihrer Mehr-heit Ihre damalige Kritik konstruktiv in einen ideenrei-chen, großen Entwurf zur Familienförderung umzuset-zen. Es hätte sich zum Beispiel angeboten, schon jetztden Erziehungsbedarf mitzuregeln und keine Zweitei-lung vorzunehmen, um damit erst einmal wieder mitdem denkbar kleinsten Aufwand die unausweichlichenVorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen.Es scheint mir übrigens ein sehr merkwürdiges Zu-sammentreffen in dieser Debatte zu sein, daß ein steuer-erhöhendes Gesetz wie das über die ökologische Steuer-reform, die die Familien belastet, für die nächsten vierJahre festgeschrieben wird. – So sah es zumindest bisheraus. Nach dem, was Herr Trittin gerade gesagt hat,scheint darüber aber schon wieder Unsicherheit zu be-stehen. – Wenn es um die Entlastung von Familien geht,dann können Sie sich zunächst nur auf die erste Stufeverständigen. Die erforderliche zweite Stufe soll in ei-nem Gesetzgebungsverfahren für das Jahr 2002 geregeltwerden. Was von der Parlamentarischen StaatssekretärinNiehuis eben anklang, war zu diffus, als daß es Pla-nungssicherheit für Familien geben könnte.
Ein Zitat will ich Ihnen dennoch nicht ersparen.
– Eine Zwischenfrage möchte ich jetzt nicht beantworten.Ich möchte jetzt vortragen, was wir zu Ihrem Gesetzent-wurf zu sagen haben. Fragen haben Sie zu beantworten.
Frau Ministerin Bergmann hat sich an dem messen zulassen, was sie selber angesichts des Urteils in der Aktu-ellen Stunde vom 22. Januar 1999 gesagt hat.
– Man wird es ihr schon weitersagen. – Sie sagte, daßdie Regierung bei der Neuregelung des Einkommen-steuergesetzes die Erfahrungen berücksichtigen werde,die – Zitat –… wir mit dem kumulierenden dualen System desFamilienlastenausgleichs gemacht haben. DiesesSystem hat gesellschaftspolitisch falsche Auswir-kungen, weil die Freibeträge bei niedrigen Ein-kommen nicht oder nur teilweise genutzt werdenkönnen, dafür aber bei steigendem Einkommen ei-ne immer höhere Entlastung eintritt. Diesen Effektwollen wir nicht erreichen.Das Protokoll notiert Beifall bei der SPD und beimBündnis 90/Die Grünen. – Weiter sagte Frau Bergmann:In einer solchen Herausforderung liegt auch dieChance, … strukturell moderne Wege einzuschla-gen.Wo sind denn jetzt die „strukturell modernen Wege“?Sie sind doch Ihren eigenen Ansprüchen mit diesem Ge-setzentwurf nicht ansatzweise gerecht geworden. Sieselbst arbeiten sich heute mühsam an den Vorgaben desBundesverfassungsgerichts ab und werden diesen Min-destanforderungen kaum gerecht. Sie haben die Chancenicht genutzt, einen verfassungsrechtlich auf Dauer un-anfechtbaren, ordnungspolitisch richtigen, steuersyste-matisch einfachen und sozial gerechten Gesetzentwurfvorzulegen. Wo ist denn Ihre Perspektive einer zu-kunftsfähigen Familienpolitik? Natürlich freuen wir uns,wenn die Familien jetzt für das erste und zweite Kind je20 DM mehr bekommen und damit 270 DM pro Monaterhalten.
Schade ist nur, daß Sie alle weiteren Kinder vergessen.
Was ist eigentlich mit den Mehrkinderfamilien? Wo sinddie bei Ihnen?Wir begrüßen auch die Einführung eines Betreu-ungsfreibetrages von 1 080 DM für ein Elternpaar unddie Einführung des Kindergeldes von 30 DM monatlichfür volljährige behinderte Kinder, die vollstationär un-tergebracht sind.
– Ich werde Ihnen gleich die Zahlen nennen, die ange-ben, was wir gemacht haben. Bis ich zu diesem Punktkomme, möchte ich noch eine Kritik vortragen: Der indem Gesetzentwurf vorgesehene pauschale Betreuungs-betrag von 3 024 DM ist geringer als der bisher beiNachweis abzugsfähige Betreuungsbetrag von 4 000 DMfür Alleinerziehende. Damit stellen Sie die Alleinerzie-henden schlechter, bei denen Kosten in Höhe von mehrals 3 024 DM für die Betreuung durch Dritte, zum Bei-spiel durch Tagesmütter, Au-pair-Mädchen usw., anfal-len.
Parl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
Metadaten/Kopzeile:
4524 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ist das sozial und gerecht?
– Ich möchte jetzt erst einmal zusammenhängend vor-tragen, damit Sie auch hören, was wir gemacht haben.An einer Stelle greifen Sie diese Schlechterstellungauf: bei nicht miteinander verheirateten Eltern im BAföG-Gesetz. Es wird in den Diskussionen zu klären sein, wasSie im einzelnen damit gemeint haben, daß diese die4 000 DM wieder geltend machen können. Ich verstehees bisher so, daß miteinander verheiratete Eltern, dieBAföG-Leistungen beziehen, dieses nicht geltend ma-chen können. Aber das werden Sie mir sicherlich erklä-ren. Hier haben wir noch Fragen an die Regierung.Für Nicht-Steuerbelastete und Geringverdiener bringtdie Anhebung des Kindergeldes um 20 DM Verbesse-rungen, die bei den Sozialhilfeempfängern wieder vollabgeschöpft werden. Es wurde hier schon gesagt, daßdie Bundesregierung damit gerade im Sozialleistungsbe-reich keine Verbesserungen herbeigeführt hat.
Im Gegenteil: Diejenigen, für die die steuerlichen Wir-kungen unterhalb der Kindergeldfreibeträge liegen, ha-ben nichts von der optisch deutlichen Verbesserung ei-ner Freibetragsanhebung. Mehrkinderfamilien sind auchin diesem Falle die Benachteiligten, denn sie werden imRegelfall nur über ein Einkommen verfügen und schnellden Freibetrag ausgeschöpft haben.
Damit werden – das ist auch hier schon häufig gesagtworden – Spitzenverdiener stärker entlastet als Durch-schnitts- und Geringverdiener. Das ist zwar steuersyste-matisch durchaus richtig, entspricht aber nicht Ihreneigenen Forderungen. Daran messen wir Sie zur Zeit.
Wenn Sie immer wieder betonen, Sie machten alles sehrviel sozialer und gerechter, als wir es seinerzeit gemachthaben, dann müssen Sie sich auch diesen Vorwurf ge-fallen lassen.Kommen wir zum Urteil des Bundesverfassungsge-richts: Sie bezeichnen es gerne als eine schallende Ohr-feige für unsere Familienpolitik.
Ich habe es immer als eine Aufforderung empfunden,den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, weil es der rich-tige Weg war.
Wir haben den Alleinerziehenden zunächst etwas zuge-standen, was nun die Familien im Rahmen des Gesetzesim Nachtrag bekommen.Nun will ich Ihnen sagen, welche Leistungen wir fürdie Familien erbracht haben. Dazu einige Zahlen, umendlich mit der Fehlinformation aufzuräumen, es seiwährend unserer Regierungszeit überhaupt nichts pas-siert, Familienpolitik sei nur so dahingedümpelt. DieErhöhung des Kindergeldes von 70 DM auf zunächst200 DM fand im Rahmen der Umstellung auf das soge-nannte Optionsmodell statt.
Das war eine grundsätzliche Änderung, die Ihren Wün-schen, daß die Höherverdienenden nicht stärker entlastetwerden sollten als diejenigen, die nicht viel absetzenkönnen, in hohem Maße entgegenkam. Wir haben esmiteinander so vereinbart.
Das hat auch dazu geführt, daß 95 Prozent aller Familiendas Kindergeld in Anspruch genommen haben, also nur5 Prozent davon nicht erfaßt wurden. Nachdem der Kin-dergeldbetrag von 200 auf 220 DM angehoben wurde,haben wir zugleich das Kindergeld für das dritte Kindauf 300 DM und ab dem vierten auf 350 DM erhöht.Das ist bis heute so geblieben – unverändert von Ihnen.Die Umstellung auf das Optionsmodell, die Sie gerneals Schönfärberei bezeichnen, da sich dadurch für Fami-lien angeblich nichts geändert habe, hat den Familiendamals tatsächlich 11 Milliarden DM mehr gebracht.
Dann bekommen Niedrigverdienende in den erstenbeiden Jahren nach der Geburt eines Kindes 600 DMErziehungsgeld monatlich. Außerdem will ich eineSumme nennen, die von Ihnen nie herangezogen wird;ich weiß nicht, ob das gegen Ihre familienpolitischeAusrichtung ist. Wir haben eine Erziehungsrente einge-führt, nach der zunächst ein Jahr bzw. bei Müttern, de-ren Kinder nach 1992 geboren sind, drei Jahre Erzie-hungszeit in der Rente anerkannt werden. Diese bemißtsich im nächsten Jahr an 100 Prozent des Durch-schnittseinkommens. Das heißt in Zahlen, daß der Bun-deszuschuß in die Rentenkasse für diese Mütter monat-lich 862 DM Rentenversicherungsbeitrag bedeutet. Die-se Zahl kommt bei Ihnen an keiner einzigen Stelle vor.Ist denn das überhaupt nichts?
Diese Zahlen – einschließlich des Kindergeldes inHöhe von 220 DM – summieren sich – ich sage dazu:bei niedrigen Einkommen – auf 1 682 DM im Monatwährend der ersten beiden Jahre und auf 1 083 DM imMonat im dritten Jahr. Inzwischen sind auch noch die 30DM dazugekommen, die Sie in diesem Jahr beschlossenhaben.Erziehungsgehalt war ein Stichwort. Aber ich glaube,dazu muß ich nichts mehr sagen, denn das ist für unskein Punkt, an dem Familienpolitik stattfindet. Wir erar-Ilse Falk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4525
(C)
(D)
beiten zur Zeit ein umfangreiches Konzept, das wir Ih-nen dann rechtzeitig vorlegen werden.Wir werden Gelegenheit haben, den Gesetzentwurf inden nächsten Wochen intensiv zu diskutieren. Aber ichappelliere zum Schluß schon heute an Sie: Lassen Sienicht zu, daß die Familien diese verbesserten Leistungenselber bezahlen müssen.
Die Umsetzung Ihrer Wahlversprechen – dazu gehörtauch die Anhebung des Kindergeldes – hat dazu geführt,daß der Bundeshaushalt erheblich ausgeweitet wurde.Das wird jetzt über das sogenannte Sparpaket wiederaufgefangen. Da wir aus Ihren Plänen wissen, daß etli-ches auf die Kommunen abgeschoben und zusätzlich dieÖkosteuer erhoben wird, sehen wir, daß damit Belastun-gen auf die Familien zukommen, die nach all Ihren Aus-sagen von Ihnen so nicht gemeint sein können. Verges-sen Sie eines nicht: Familienpolitik ist mehr als nur An-hebung von Kindergeld.
Zu einer Kurzinter-
vention gebe ich nunmehr zunächst das Wort der Kolle-
gin Christina Schenk und anschließend zu einer weiteren
Kurzintervention der Kollegin Nicolette Kressl.
Frau Dr. Niehuis hat vor-
hin meine Frage nicht beantwortet. Das nehme ich zum
Anlaß, einige Anmerkungen zu ihren Ausführungen zu
machen.
Zum einen hat sie auf die Kindergelderhöhung ver-
wiesen und betont, daß es ohne das Wechselspiel zwi-
schen Kindergeld einerseits und Steuerfreibeträgen an-
dererseits eine noch größere Gerechtigkeitslücke gäbe.
Das ist zweifellos richtig. Aber das eigentliche Problem,
die soziale Schieflage, wird damit überhaupt nicht be-
seitigt. Ich sage es noch einmal: Mit den jetzt vorge-
schlagenen Steuerfreibeträgen von 10 000 DM ergibt
sich für die Spitzenverdiener ein Ertrag von monatlich
420 DM. Das sind immerhin 150 DM mehr, als das
Kindergeld von 270 DM gegenwärtig beträgt. Das ist für
mich eine unakzeptable Sache.
Es bleibt also festzustellen: Mit dem, was man hier-
zulande unter Steuergerechtigkeit versteht, ist soziale
Gerechtigkeit nicht herzustellen. Es führt kein Weg an
dem vorbei, was die PDS schon lange vorgeschlagen
hat, nämlich ein einheitliches Kindergeld für alle zu
zahlen.
Der zweite Punkt, auf den ich eingehen will, ist die
Anrechnung der Kindergelderhöhung auf die Sozial-
hilfe. Ich verstehe wirklich nicht, warum seit Januar, als
die erste Kindergelderhöhung um 30 DM stattgefunden
hat – selbst wenn Sie das Problem vorher nicht in voller
Schärfe erkannt haben sollten –, nicht genügend Zeit
gewesen sein sollte, um heute hier einen Vorschlag vor-
zulegen. Ich finde, in dieser Sache hat sich die rotgrüne
Regierung nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Eine dritte Anmerkung zu der Situation von Allein-
erziehenden: Sie hatten vorher einen Betreuungsfreibe-
trag von 4 000 DM, jetzt haben sie einen von 3 000 DM.
Das ist ganz klar eine Schlechterstellung. Das heißt, un-
ter dem Strich kommt heraus, daß die Alleinerziehenden
die finanzielle Besserstellung verheirateter Eltern finan-
zieren.
Insgesamt habe ich den Eindruck, daß wir es hier mit
einem Diktat der Finanzpolitik in der Weise zu tun
haben, daß nicht einmal ernsthafte Bemühungen erkenn-
bar sind, zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschlie-
ßen. Nach Berechnungen des DIW beläuft sich zum
Beispiel der Steuerausfall durch das Ehegattensplitting
pro Jahr auf 60 Milliarden DM. Damit – so hat der
Deutsche Frauenrat errechnet – ließe sich mühelos ein
Kindergeld von über 500 DM finanzieren. Das, was Sie
hier vorgelegt haben, bleibt insgesamt also außerordent-
lich dürftig.
Frau Kollegin
Kressl.
Ich wende mich sowohl andie Kollegin Falk als auch an die Kollegin Schenk: Sehrgeehrte Kolleginnen, ich bin zu der Kurzinterventionveranlaßt worden, weil es mir ein wichtiges Anliegenist, daß Sie sich, wenn Sie schon über Steuerpolitik undFreibeträge diskutieren, das dann bitte auch genau an-schauen. Sie haben einfach zwei Zahlen nebeneinander-gestellt und behauptet, Alleinerziehende seien automa-tisch benachteiligt, weil sie jetzt „nur“ einen Freibetragvon 3 024 DM haben, während sie vorher 4 000 DMgeltend machen konnten. Dies entspricht nicht derWahrheit. Die Wahrheit ist, daß jetzt alle Alleinerzie-henden diesen Freibetrag pauschal, das heißt, ohnenachweisen zu müssen, daß sie Kosten in dieser Höhehatten, geltend machen können, während es bisher sowar, daß dieser Betrag nur in dem Fall abziehbar war,wenn tatsächlich Kosten in Höhe von 4 000 DM nach-gewiesen werden konnten. Hinzu kam in der Regel einSelbstbehalt, so daß überhaupt nicht 4 000 DM in An-spruch genommen werden konnten. Ich bitte Sie, sich indie Steuersystematik so einzuarbeiten, daß Sie nichthinterher in reine Polemik verfallen und falsche Dingebehaupten.
Ein Weiteres: Frau Niehuis hat in ihrer Rede sehrdeutlich gemacht, daß wir uns neben Änderungen beiFreibetrag und Kindergeld noch anderes gewünschthätten. Aber das ist eben der Punkt, den auch ich Siefragen wollte, Frau Kollegin: Wie kommen Sie dazu, zubehaupten, wir hätten nur das verfassungsrechtlich Not-wendigste gemacht?
Sie müßten doch wissen, daß es verfassungsrechtlichnicht notwendig war, das Kindergeld um 20 DM zu er-höhen, daß wir das lediglich aus Gründen der sozialenIlse Falk
Metadaten/Kopzeile:
4526 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Gerechtigkeit gemacht haben und daß es gereicht hätte,allein die Freibeträge zu erhöhen. Natürlich hätten auchwir den Betrag lieber auf 400 DM angehoben. AberVerantwortung für Kinder wahrzunehmen bedeuteteben, sowohl das Kindergeld zu erhöhen als auch sichum einen soliden Haushalt zu kümmern.
Ich bitte Sie, in Ihrer Argumentation etwas seriöser zubleiben.
In der Aussprache
hat für die SPD-Fraktion nun die Kollegin Lydia We-
strich das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Steuerpolitik ist immer spannend.Aber wenn in der Steuergesetzgebung eines besondersSpaß macht, dann dieses: die Familienförderung immerweiter voranzutreiben. Die Freude, diesen Gesetzent-wurf der rotgrünen Regierungskoalition als erste Stufeder Neuregelung des Familienleistungsausgleichs in denBundestag einzubringen, lassen wir uns auch nicht durchIhre Reden nehmen, die nur in den Krümeln suchen undnichts Konkretes dagegensetzen können.
Wir sind angetreten, die desolate Lage vieler Fami-lien zu beenden, in die sie erst durch Ihre familienfeind-liche Politik hineingeraten sind. In der öffentlichen Dis-kussion heißt es, Kinder seien heute das ArmutsrisikoNummer eins, Kinder seien ein Luxus, den man sichnicht leisten könne oder wolle. Das ist doch ein ver-nichtendes Urteil über eine Bundesregierung, die einst-mals die geistig-moralische Wende propagiert hat.
Noch im Februar 1999, nach Ergehen des Urteils desBundesverfassungsgerichtes, war öffentlich große Freu-de von Ihnen, Herr Merz, darüber zu hören, daß dieGleichmacherei in der Familienpolitik damit endlichaufhören müsse. Eine Freude für die Familien war dassicher nicht. So ehrenwert der Grundsatz der horizonta-len Gerechtigkeit auch sein mag – also der Vergleichvon Familien mit Kindern und kinderlosen Paaren –: Diemeisten Bürgerinnen und Bürger akzeptieren und ver-stehen ihn überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Und esgibt ja auch den Anspruch auf eine vertikale Gerechtig-keit, auf die Gleichbehandlung aller Kinder. Das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler– nun gerade kein Intimfreund der Sozialdemokraten –hat erst neulich wieder aufgelistet, wie viele Male diesozialdemokratische Bundestagsfraktion seit der 11. Le-gislaturperiode Anträge auf ein einheitliches Kindergeldgestellt hat. Es gibt eine stattliche Anzahl von Drucksa-chen dazu. Der Bund der Steuerzahler hat es natürlichsehr beklagt, daß wir es erst in der 13. Legislaturperiodeendlich geschafft haben, der damaligen Regierungsko-alition das einheitliche Kindergeld abzuringen. Auch dahat natürlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtsnachgeholfen.Unsere Forderung nach einem einheitlichen Kinder-geld ist schließlich in das Jahressteuergesetz von HerrnWaigel eingeflossen. Das Kindergeld ist auf 200 DM fürdas erste und zweite Kind erhöht worden. Der Kinder-freibetrag wurde auf 6 264 DM erhöht. Dies war zwarim Vergleich zur bisherigen Regelung, Frau Falk, einFortschritt, dennoch wollten wir schon immer mehr. Sohaben wir, wenn ich die Kollegen und Kolleginnen ausdem Finanzausschuß daran erinnern darf, 1997 einenEntschließungsantrag gestellt, in dem wir die Erhöhungdes Kindergeldes auf 250 DM und die Erweiterung dersteuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungsko-sten bei erwerbstätigen Eltern generell gefordert haben.Das ist natürlich abgelehnt worden.Wir haben damals dem Bundesverfassungsgerichts-urteil vom Anfang dieses Jahres vorgegriffen. Direktnach dem Regierungswechsel haben wir unsere ersteForderung umgesetzt. Immer wieder hört man, daß wirdas Geld mit vollen Händen hinausgeschmissen hätten,weil wir das Kindergeld für das erste und zweite Kindab Januar 1999 von 220 DM auf 250 DM erhöht haben.Allein diese Erhöhung ergibt – ich will einmal die Zah-len nennen – in 1999 für Familien mit zwei Kindern eineEntlastung von 720 DM im Jahr.Des weiteren haben wir den Grundfreibetrag ange-hoben und den Eingangssteuersatz gesenkt. Nach die-sen steuerlichen Verbesserungen – rechnen Sie nach –zahlt ein verheiratetes Ehepaar mit zwei Kindern bei ei-nem Bruttoeinkommen von weniger als 90 000 DM1 100 DM bis 1 200 DM weniger Steuern als zuvor.
Wir haben damit vor allem Familien mit niedrigen undmittleren Einkommen entlastet, wie wir das immer ge-wollt haben.
Das ist, Frau Falk, eine Politik, wie sie die Familienin den letzten 16 Jahren nicht erleben durften. Währenddieser Zeit konnten sie nur zusehen, wie andere immerweiter steuerlich begünstigt wurden und sich immer bes-serstellten, während bei den Familien mit Kindern dasGeld in der Tasche immer weniger wurde und sie außermoraltriefenden Phrasen nichts bekamen.Was Familien aber wirklich brauchen, sind steuerli-che Erleichterungen. Deutlicher ausgedrückt: Sie brau-chen einfach mehr Geld; denn Kinder großzuziehen ko-stet Geld – siehe die öffentliche Diskussion. Was sindwir dafür, daß wir dieses Geld gleich zu Beginn unsererRegierungszeit aufgebracht haben, von der Opposition,also von Ihnen, gescholten worden! Bis zum Urteil desBundesverfassungsgerichts, das uns die Rechnung fürdie verfehlte Politik von 16 Jahren konservativ-liberalerRegierung präsentiert hat, so daß jede Kritik an Auf-wendungen für Familien im Keim ersticken mußte, hießes, wir würden das Geld mit vollen Händen zum Fensterherauswerfen.
Nicolette Kressl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4527
(C)
(D)
Frau Kollegin
Westrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Carl-Ludwig Thiele?
Bitte.
Herzlichen Dank. –
Frau Kollegin. Sie erklären immer, daß unter der alten
Koalition nichts für die Familien getan worden sei.
Darf ich daran erinnern, daß das Kindergeld während
der Zeit der alten Koalition ab 1996 von 70 auf 200 DM
gestiegen ist
und um weitere 20 DM auf 220 DM erhöht wurde und
daß ausweislich der Äußerungen der Staatssekretärin im
Finanzministerium die Summe der Entlastungen für
Familien in diesem Zeitraum um mehr als 50 Prozent
erhöht wurde, so daß man nicht sagen kann, die alte Ko-
alition habe nichts für die Familien getan. Das Gegenteil
ist der Fall.
Wenn ich sehe, daß das Kindergeld von 70 DM auf
220 DM gestiegen ist, habe ich nicht den Eindruck, daß
das eine Politik der sozialen Kälte war. Ich habe auch
nicht den Eindruck, daß die kleinen Schritte, die Sie ge-
gangen sind bzw. momentan gehen – eine Erhöhung auf
250 DM, dann auf 270 DM – , ein Riesenschritt sind. Es
ist nur die Fortsetzung der von der alten Koalition ver-
nünftigerweise eingeleiteten Linie. Stimmen Sie mir zu?
Herr Thiele, wir haben dasim Finanzausschuß zusammen gemacht. Ich weiß nicht,ob Sie sich noch an den Kollegen Dr. Fell, der leiderverstorben ist, erinnern. Er hat sich zurückgezogen, weilihm die Diskussion über den Familienleistungsaus-gleich, der mit dem Jahressteuergesetz 1996 einherge-gangen ist, einfach zu viel war. Er war damals Vorsit-zender des katholischen Familienbundes. Er war es leid,zu sehen, wie darüber diskutiert wurde. Deswegen hat ersich zurückgezogen. Wir haben es dennoch zusammengemacht, und ich hoffe, daß wir auch dieses Gesetz zu-sammen vorwärtsbringen; denn die Familienförderungist das Lohnendste, was es gibt. Herr Thiele, ich kannSie nur herzlich dazu einladen, das mit uns gemeinsamzu machen.
Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müßteIhnen doch in höchstem Maße peinlich sein. Können Siesich noch an die alte Bundesverfassungsgerichtsent-scheidung erinnern, die wir 1996 mit durchgesetzt ha-ben? Es hat dann drei Jahre gedauert, bis überhaupt ir-gend etwas passiert ist. Das heißt, von Ihnen ist die Fristbis zum letzten Moment ausgeschöpft worden. Wir da-gegen haben uns unverzüglich darangemacht, das Urteilzur steuerlichen Gleichstellung von Familien und Al-leinerziehenden umzusetzen.Wir haben unsere Pflicht erfüllt: Wir haben alle Vor-gaben des Karlsruher Urteils geprüft und abgewogen,was daraus zu machen ist. Wir haben verschiedene Op-tionen, um die Karlsruher Entscheidung durchzusetzen.Die Freibetragslösung, die verfassungskonform gewesenwäre, ist in hohem Maße unsozial und scheidet deswe-gen aus. Eine reine Kindergeldlösung, bei der sich dasKindergeld an der Höhe des Kinderfreibetrages und amSpitzensteuersatz orientiert, wäre zwar sozial gerechtund uns am liebsten, ist aber angesichts der leeren Kas-sen und der Verantwortung, die wir für die Finanzen zuübernehmen haben, im Moment nicht umzusetzen.Schließlich schied der von uns favorisierte Kindergrund-freibetrag, der eine gleichmäßige Entlastung aller Elterngarantiert hätte, wegen verfassungsrechtlicher Bedenkenaus. Wir haben uns daher für die Beibehaltung des bis-herigen Modells von Kinderfreibetrag und Kindergeldentschieden.Mit dem Gesetzentwurf zur ersten Stufe einer Neure-gelung des Familienleistungsausgleichs sind wir einenweiteren entscheidenden Schritt in die richtige Richtunggegangen. Der Gesetzentwurf sieht im Kern die Einfüh-rung eines Betreuungsfreibetrags in Höhe von 3 024 DMfür Eltern zusätzlich zum bisherigen Kinderfreibetragvor. Daneben wird das Kindergeld für das erste undzweite Kind nochmals um 20 DM auf 270 DM zum1. Januar 2000 erhöht werden. Im Jahr 2002 werden wirdas Kindergeld nochmals erhöhen.Auch für die Eltern volljähriger Kinder, die seelischoder geistig behindert und in Einrichtungen unterge-bracht sind, haben wir endlich eine Lösung gefunden,damit diese Eltern die Leistungen, die sich an einenKindergeldanspruch knüpfen, wieder erhalten können.Das war für uns das wichtigste. Wie haben wir imFinanzausschuß nach Möglichkeiten gesucht! Immerhieß es, es sei nicht durchsetzbar. Kreativität in der Fa-milienpolitik war noch nie Ihre starke Seite.
Auch für die Grenzgänger in die Schweiz – könnenSie sich daran noch erinnern, Frau Frick? – haben wirendlich Gerechtigkeit wiederhergestellt. Marion Cas-pers-Merk und Karin Rehbock-Zureich können ein Liedvon Familien singen, die Sie viele Monate lang bedrängthaben. Aber immer hieß es, es gehe nicht.Dieses Gesetz ist nur ein erster Schritt. Aber es bringteinem Arbeitnehmerhaushalt mit zwei Kindern und einemdurchschnittlichen Familieneinkommen von rund 7 000DM monatlich brutto im Jahre 1999 gegenüber 1998rund 1 100 DM, im Jahr 2000 rund 2 400 DM und imJahr 2002 sogar rund 4 200 DM Entlastung.Wir haben es trotzdem nicht aufgegeben, einen Sy-stemwechsel zur einheitlichen steuerlichen Entlastungfür Erziehungs- und Betreuungsbedarf zu erreichen. Wirwerden uns das noch in allen Richtungen überlegen. Biszum Jahr 2002 werden wir die Familien, von 1997 angerechnet, mit rund 40 Milliarden DM entlastet haben.
Metadaten/Kopzeile:
4528 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Auch die besondere Entlastung für Alleinerziehendewird nicht vergessen.Kinder sind kostbar; aber ein Luxus dürfen sie trotz-dem nicht werden.
Frau Merkel hat es gestern eingesehen. Ich hoffe, daßwir eine gute Beratung dieses Gesetzentwurfes bekom-men und das Gesetz gemeinsam verabschieden können.Danke schön.
Das Wort hat nun-
mehr der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Heute war vielfach gar nicht von dem eigentlichen An-laß dieser Debatte die Rede, nämlich von den drei Steu-ergesetzentwürfen, die ins Parlament eingebracht wor-den sind. Ich habe nichts dagegen, daß Sie diese dreiGesetzentwürfe in einen Zusammenhang mit der Haus-haltspolitik und der Steuerpolitik dieser Regierung stel-len wollen. Darauf, Herr Solms, will ich Ihnen antwor-ten, daß dieser Zusammenhang selbstverständlich be-steht und daß die Gesetzentwürfe kein Flickwerk sind.Die fünf Elemente, aus denen die Wirtschafts- undFinanzpolitik der Bundesregierung besteht, lassen sichnämlich genau beschreiben:Erstens. Es gibt eine deutliche Steuersenkung für dieBezieher kleiner und mittlerer Einkommen für die Fa-milien und für den Mittelstand, um die Kaufkraft imLande zu stärken.
– Rufen Sie doch nicht dazwischen, und hören Sie ein-mal einen Moment zu!
Zweitens. Es geht um die Senkung der Lohnneben-kosten, um die Chancen zur Schaffung von mehr Ar-beitsplätzen und um die Wettbewerbsfähigkeit für Be-triebe, die mit Menschen statt mit Maschinen arbeiten,zu erhöhen.Drittens. Es geht um die Verteuerung des Ressour-cenverbrauches, die in unserer Wirtschaft für einen Mo-dernisierungsschub sorgen soll.
Viertens. Es geht um die Verbesserung der Chancenfür Investitionen. Dazu gehört das Thema Unterneh-mensteuerreform, dem Sie sich, Herr Solms, ausführlichgewidmet haben, obwohl dazu noch kein Entwurf derRegierung auf dem Tisch liegt.Fünftens. Es geht um Haushaltskonsolidierung. Ichwill nebenbei bemerken, daß dieser fünfte Punkt in derRegel in den Reden der Oppositionsmitglieder nicht nurvöllig nachrangig, sondern überhaupt nicht behandeltwird. Das ist das fundamentale Problem Ihrer Regie-rungstätigkeit von 16 Jahren. An diesem Punkt muß ichansetzen.
Bitte wärmen Sie folgenden Punkt nicht immer wie-der auf: Ich habe nie die Kosten der Wiedervereinigungkritisiert – ich bekenne mich ausdrücklich dazu –, son-dern ich habe nur darauf hingewiesen, daß die Art, wieSie die Wiedervereinigung finanziert haben, extrem un-solide war und daß uns die Folgen in Form der hohenStaatsverschuldung jetzt einholen.
– Darüber können wir gerne reden. Aber wir reden hierüber die Situation des Bundes, die sehr viel problemati-scher ist.Von den Gesamtschulden in Höhe von 1,5 BillionenDM stammen Schulden in Höhe von 1,2 Billionen DMaus der Zeit, in der Sie die Regierungsverantwortunghatten. Diese Schulden sind nämlich im Zeitraum von1982 bis 1998 entstanden.Übrigens muß man auch mit der Mär von den niedri-gen Schulden in den 80er Jahren vorsichtig sein. Immer-hin haben Sie in dieser Zeit Schulden in Höhe von 300Milliarden DM angehäuft. Diesen Punkt muß man fest-halten.Heute ist der Bund in einer schlechteren finanziellenVerfassung als das Haushaltsnotlagenland Saarland. Nurnoch das Haushaltsnotlagenland Bremen befindet sich ineiner schlechteren finanziellen Verfassung als der Bun-deshaushalt. Das ist das Ergebnis Ihrer Regierungstätig-keit.
– Ich bin völlig einverstanden. Wir haben im Bundesratvieles gemeinsam gemacht. Sie können meine Rede vom25. September des vergangenen Jahres nachlesen, in der ichden Sachverhalt minutiös dargestellt habe. Es steht aber fest– über diesen Punkt brauchen wir gar nicht zu diskutieren –,daß nicht nur ich als hessischer Ministerpräsident, sonderndaß alle 16 Ministerpräsidenten sich nicht in erster Linie alsdie Interessenwahrer des Bundes hinsichtlich seiner Fi-nanzsituation gefühlt haben. Das ist wahr.
Das galt also sowohl für die Ministerpräsidenten IhrerCouleur wie auch für die sozialdemokratischen Mini-sterpräsidenten.
Lydia Westrich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4529
(C)
(D)
Ich habe immer gesagt: Ich beklage mich nicht, daßich jetzt für die Aufräumarbeiten infolge Ihrer Hinterlas-senschaft verantwortlich bin. Ich sage nur, daß dieHauptverantwortlichen, die 80 Prozent der Gesamt-schulden in Höhe von 1,5 Billionen DM zu verantwortenhaben, wenigstens einen kleinen Beitrag dazu leistenkönnen, daß wir aus dieser Schuldenfalle herauskom-men. Man kann schon verlangen, daß sie uns nicht nochKnüppel zwischen die Beine werfen.
Bei der Bewertung der Schulden hilft Ihnen auchnicht die trickreiche Aussage, der Finanzminister Eichelnehme das zurück, was der Finanzminister Lafontainedraufgetan habe.
– Auf diesen Punkt komme ich sofort zurück, Herr Glos.– An dieser Legende können Sie nur deswegen stricken,weil wir die Zahlen ein halbes Jahr nach Regierungsan-tritt auf den Tisch gelegt haben; ansonsten wäre Ihnendiese Ausrede verbaut.Sie müssen schon einräumen, daß die Schulden inHöhe von 1,5 Billionen DM nicht zwischen dem Sep-tember des vergangenen Jahres und dem 23. Juni diesesJahres entstanden sind. Aber genau diese Schulden ver-ursachen jetzt die Zinskosten in Höhe von 82 MilliardenDM.
Ich sage übrigens einmal mit Blick auf die PDS: Esist schon ein erstaunlicher Vorgang, daß jemand, dersich für links hält oder jedenfalls so tut als ob, die The-men Staatsverschuldung und Umverteilung von untennach oben – das ist nämlich die schlimmste, die es über-haupt gibt – und ihre sozialpolitischen Probleme über-haupt nicht in den Blick nimmt, sondern wie viele dieAugen fest zumacht und die Debatte erst dahinter an-fängt. Das ist ein schwerer Fehler.
Deswegen: Wer überhaupt eine soziale Politik in die-sem Land machen will, der muß an dieser Ursache an-setzen, so bitter das ist.Meine Damen und Herren, es muß auch noch einmalgesagt werden – und daran erinnere ich mich nun sehrgut –: Im Jahr 1990 haben wir eine Debatte über dieFinanzierung der Kosten der Einheit geführt. Erstenshaben Sie konsequent die Kosten geleugnet. Daran wer-den Sie sich erinnern. Zweitens haben Sie aber auchkonsequent die damalige Bereitschaft im Volke, die La-sten zu tragen, weil wir sie gern getragen hätten, nichtgenutzt
und die Debatte darüber vermieden. Die SPD, die Ge-werkschaften und übrigens auch viele aus der Wirtschafthaben Ihnen damals vor der Bundestagswahl Steuerer-höhungen zur Finanzierung der Kosten der Einheit vor-geschlagen. Sie haben das alles in den Wind geschlagen.
Ich bin ganz sicher, daß das Wahlergebnis von 1990für Helmut Kohl nicht einen Deut anders ausgefallenwäre, wenn er den Mut gehabt hätte, damals vor derBundestagswahl den Menschen zu sagen: Jawohl, zeit-lich befristet müssen wir jetzt für die Kosten der Einheitmehr Geld nehmen, weil wir es andernfalls in eine ganzferne Zukunft verschieben, unsere Kinder das finanzie-ren lassen und im übrigen unseren Staat nach ein paarJahren handlungsunfähig machen. Das ist genau die La-ge, in der wir uns heute befinden.
Das heißt, das fundamentale Versäumnis kurz vor derWahl, die Solidarität der Menschen nicht eingefordert zuhaben, als sie bereit waren, sie zu geben, und als dieOpposition bereit war, Ihnen zuzustimmen, holt uns jetztein. Deswegen bitte ich schon sehr herzlich darum, daßsich alle, die sich zur Einheit und ihren Kosten beken-nen, jetzt wenigstens auch zur seriösen Finanzierungeben dieser Kosten bekennen.Nun etwas, Herr Glos, zu der Mär, daß ich jetzt daszurücknehmen müßte, was Herr Lafontaine draufgetanhätte. Sie wissen doch wie ich – das können Sie nunnachlesen, und das habe ich in der Bundesratsrede am25. September 1998 einzeln dargelegt –, daß der Haus-haltsentwurf für 1999, den Sie damals auf den Tischgelegt haben, eine Fülle von Dingen, die eigentlich hin-eingehört hätten, überhaupt nicht beinhaltet hat. Er warja in der offiziellen Darstellung schon ganz knapp unterder Grenze der Verfassungsmäßigkeit. Sie haben nichteinmal die Hilfen für die HaushaltsnotlagenländerSaarland und Bremen eingestellt. Da fehlten 3 Milliar-den DM. Die mußten natürlich hinein.
Sie haben so getan, als ob die Sowjetunion oder dannRußland immer weiter die Schulden tilgen würde, die siebei uns haben. Daß das nicht so ist und daß wir nun inParis umschulden mußten und daß das jetzt zum Bei-spiel zu einer laufenden Belastung von knapp 3,5 Milli-arden DM im Haushalt führt, haben wir Ihnen damalsvorausgesagt. Sie haben keinerlei Vorsorge im Haushaltgetroffen. Das mußte aber in den Haushalt 1999 hinein.Zu den Postunterstützungskassen: Sie haben dochdas ganze Dilemma, daß Sie eigentlich gar keinen verfas-sungsgemäßen Haushalt mehr vorlegen konnten – übri-gens seit 1996 nicht mehr –, immer nur durch Privatisie-rungserlöse verdeckt. Diese Mittel stehen erstens nichtmehr so zur Verfügung, zweitens waren sie dafür niegedacht. Sie waren immer dafür gedacht, die Pensionenfür die Beamten, die da übergegangen sind – es geht um6,5 Milliarden DM mit wachsender Tendenz –, langfristigabzudecken. Wenn wir aber die Privatisierungserlöse beider Telekom in großen Tranchen nehmen und in denHaushalt stecken, dann kommt in etwas späterer ZukunftBundesminister Hans Eichel
Metadaten/Kopzeile:
4530 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
– und diese ist gar nicht lange hin – die volle Last derPensionen für die Beamten auf den Bundeshaushalt zu.
Sehen Sie, meine Damen und Herren, so kann manHaushaltspolitik doch nicht betreiben.Abgesehen davon: Wir haben ja Gott sei Dank einebreite Privatisierung bei der Telekom erreicht, nicht nurAktienoptionspläne für die Vorstände. Das meine ichnicht. Wir haben erreicht, daß dann doch bitte alle betei-ligt wurden. Dabei muß man auch wissen, wie der Bund,nach wie vor noch Hauptaktionär, mit der Privatisierungumgehen soll. Man kann überhaupt nicht mit so großenTranchen an den Markt gehen, weil die Konsequenzdann der Kursverfall wäre. Im übrigen könnten wir vonden Kleinaktionären bei der Telekom strafrechtlich zurVerantwortung gezogen werden, wenn wir uns so ver-hielten. Das geht alles überhaupt nicht.
Aber so ist das gelaufen. In diesem Fall ist ein großesPaket bei der KfW geparkt worden. Aber so etwas hat jaalles seine Grenzen; vor allen Dingen ist es dann in kür-zester Zeit aufgebraucht. Es waren übrigens 6,5 Milliar-den DM, die dort gefehlt haben.Auf den folgenden Punkt werde ich anschließendnoch einmal zurückkommen, wenn wir über die Lohn-nebenkosten reden. Jetzt will ich nur folgendes sagen:Sie haben doch auch ein Viertel des Aufkommens ausder Mehrwertsteuer vergessen. Wir haben zusammenzum 1. April 1998 eine Mehrwertsteuererhöhung um 1Prozent beschlossen, damit der Rentenversicherungs-beitrag nicht über 21 Punkte steigt. Das war aber für dasbetreffende Jahr nur für ein dreiviertel Jahr veranschlagt.Jetzt, 1999, müssen wir das für das gesamte Jahr veran-schlagen. Auch das sind schon wieder 4 Milliarden DM.Wenn ich das alles zusammenrechne – ich habe das jetztnicht mehr so genau im Kopf –, bewegen wir uns ineiner Größenordnung zwischen 15 und 20 Milliarden –und dies bei 30 Milliarden, die dadurch zustande kom-men, daß Herr Waigel damals schlicht das nicht veran-schlagt hat, was veranschlagt werden mußte.
Es kommt eine andere Sache hinzu – hierbei gebe ichIhnen zu, das haben wir im Bundestagswahlkampf na-türlich weidlich ausgeschlachtet. Sie müssen das abervertreten –: Sie haben vor der Bundestagswahl die Mit-tel für die aktive Arbeitsmarktpolitik – vorzugsweisefür die ostdeutschen Länder – ordentlich heraufgesetzt,damit Sie noch schnell vor der Wahl eine schöne Stati-stik vorweisen konnten. Die Mittel mußten alle auchschnell, schnell ausgegeben werden. Im Haushalt 1999hatten Sie dann dafür überhaupt nichts mehr vorgesehen.So kann man auch mit den Arbeitslosen nicht umgehen,etwa nach dem Motto: Mal vor der Wahl schnell rein inden Job und hinterher wieder raus.
Das sind auch noch einmal 6,5 Milliarden DM. WennSie, verehrter Herr Glos, wollen, daß wir über diese Fra-ge weiter reden, machen wir das.
Übrigens glaubt diese Legende, die Sie hier bilden wol-len, in der Bevölkerung sowieso keiner. Sie führen jasozusagen lauter Bäume vor. Die Leute sehen aber trotzder vielen Bäume den Wald sehr genau. Sie sehen die1,5 Billionen DM Staatsverschuldung und sagen: Genaudas ist es. Sie wissen genau: Es ist etwas faul im Staate –der Satz heißt eigentlich – Dänemark. Dieser Satz istfalsch, weil die Dänen eine viel bessere Finanzpolitikhaben als wir. Der Satz muß lauten: Es ist etwas faul imStaate Deutschland. Das wissen die Leute.
Wir hatten ja auch den Sommer über genügend Streit inden eigenen Reihen. Es ist ja nicht einfach, so etwasklarzumachen und durchzuziehen. Aber glauben Sie,meine Damen und Herren von der Opposition, nicht, daßSie aus dem Streit und der Verwirrung, die es da gab,langfristig einen Gewinn ziehen können.
– Ja, natürlich; dieser Herbst wird schwierig für uns.
Ich sage Ihnen einmal, daß viele Menschen – wildfrem-de – mich jeden Tag ansprechen und sagen: Sie habendoch ganz recht; das geht doch wirklich nicht so weiter.Ziehen Sie das einmal durch! – Das sagen mir sehr vieleMenschen, übrigens auch aus Ihrem Lager, und das gehtquer durch die ganze Bevölkerung. Die Leute wollenendlich, daß ihnen reiner Wein eingeschenkt wird. Siewissen es im Grunde schon; sie wollen, daß das einmalklargemacht wird.
Sie wollen vor allen Dingen auch, daß ein Ausweg auf-gezeigt wird. Sie sind ja auch bereit, etwas mitzutragen,wenn sie wissen, daß es ihren Kindern zugute kommt,und wenn sie wissen, daß alle nach ihrer Leistungsfä-higkeit mit dabei sind. Das ist ein völlig richtiger Satz,gegen den ich überhaupt nichts einzuwenden habe. Daskann man im einzelnen durchdeklinieren; das will ichaber heute nicht tun. Wir werden ja in der nächsten Wo-che die Debatte um den Haushalt führen.Ich will jetzt nur kurz auf die Steuerpolitik eingehen.Es sind dabei ja mehrere Elemente zu beachten. Einigehaben sich noch einmal mit dem Steuerentlastungsgesetzbeschäftigt. Es ist richtig: Ich habe das mitgetragen. Dasist völlig wahr. Ich will jetzt nicht über die Verwirrungim März reden; das war immer falsch. Aber wie demauch sei: Das war damals der erste Baustein – das gehörtalles zusammen –, nämlich eine starke Entlastung derBezieher kleiner und mittlerer Einkommen und der Fa-milien.Bundesminister Hans Eichel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4531
(C)
(D)
Sie müssen sich jetzt einmal die Steuerpolitik, die Siein 16 Jahren gemacht haben, und die Steuerpolitik, diewir jetzt machen, ansehen. Eines gestehe ich Ihnen, HerrThiele, zu: Den ersten großen Schritt haben wir zusam-men getan, als wir das steuerfreie Existenzminimum,den Grundfreibetrag, nach dem betreffenden Urteil desBundesverfassungsgerichts und das Kindergeld ordent-lich angehoben haben. Ich finde es schon sehr schön,wenn Sie das heute auf Ihre Habenseite schreiben.
Lesen Sie doch bitte einmal nach, was damals im Vor-feld die F.D.P. – die ganz besonders –, aber auch dieCDU/CSU zu diesem Thema gesagt haben. Das konntenur deshalb umgesetzt werden, weil wir eine Mehrheitim Bundesrat hatten; ohne diese hätte man es nichthinkriegen können.
Es war immer das Prinzip sozialdemokratischer Steuer-politik, das steuerfreie Existenzminimum möglichsthoch anzusetzen, also wenigstens – jetzt sage ich eseinmal präzise, weil dort ein großes Mißverständnis liegt– auf der Höhe der Sozialhilfe. Wir wollten das alssteuerfreies Existenzminimum definieren und es auchwirklich steuerfrei stellen; das war bis dahin nämlichnicht der Fall, und das war verfassungswidrig.Wir haben in der Tat die Vorstellung, daß jedes Kind– um es präzise zu sagen: das des Sozialhilfeempfängersund das des Millionärs – dem Staat das gleiche wert seinsoll.
Es gibt viele, die sagen: Bei meinem Einkommen habeich es gar nicht nötig, Kindergeld zu bekommen. Daswäre verfassungswidrig; Sie wissen das. Es kann aller-dings verteilungspolitisch geregelt werden. Es ist nureine Frage der Höhe des Spitzensteuersatzes und derMöglichkeiten der Steuergestaltung. So können Sie vonder Verteilung her genau das richtige Ergebnis erzielen.Insofern ist es richtig, den Weg eines einheitlichenKindergeldes für alle zu gehen.Es ist aber Populismus, wenn jetzt gesagt wird, wirmüßten dies gleichmachen. Die Ungerechtigkeit beziehtsich übrigens nicht auf die Bezieher der Sozialhilfe. DieUngerechtigkeit bezieht sich auf die Bezieher kleinerTarifeinkommen. Bei der Sozialhilfe handelt es sich umden einzigen Fall, wo wir nach dem Bedarfsdeckungs-prinzip ein kostendeckendes Kindergeld in Höhe von408 DM haben.
Derjenige aber, der ein kleines Tarifeinkommen bezieht,guckt ins Röhrchen, und zwar nicht wegen des kleinenTarifeinkommens – da ist das Lohnabstandsgebot zurSozialhilfe gewahrt; das wird in der Öffentlichkeit im-mer falsch diskutiert –, sondern weil die Familienkom-ponenten in der Sozialhilfe andere sind. Das ist nicht inOrdnung. Deshalb müssen wir endlich dahin kommen,daß die Familienkomponente genauso hoch ist wie beider Sozialhilfe. Das ist die Zielsetzung.[Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)Deswegen wird die Haushaltskonsolidierung immervöllig aus dem Blick gelassen. Sie reden nicht von derStaatsverschuldung, weil Sie dann nämlich konkret wer-den müßten, wenn es darum geht, was noch möglich istund was nicht. Eine Erhöhung des Kindergeldes vonjetzt 250 DM auf 410 DM kostet mehr als 30 MilliardenDM. Mir muß einmal jemand vorrechnen, wie dies fi-nanziert werden soll. Das kann mit keinem Rechen-schieber ermittelt werden.
Wenn das Komma verschoben würde, dann wäre diesmöglich. – Das ist die eine Seite.In Wirklichkeit war in der Gesellschaft die Situationentstanden, daß nur diejenigen, die den Steuern nichtausweichen konnten – das sind die, die fast ihr gesamtesGeld zum Leben brauchen –, die volle Steuerlast getrof-fen hat. De facto ist die Steuerlast schwergewichtig in derMitte der Gesellschaft, bei den Beziehern kleiner undmittlerer Einkommen, übrigens auch bei den kleinen Un-ternehmen, die nur in diesem Lande ihre Tätigkeit entfal-ten, abgeladen worden. Denn durch die vielen Steuerge-staltungsmöglichkeiten der Bezieher höherer Einkommen– ich rede nur von den legalen Möglichkeiten – könntendiese in großem Umfang am Finanzamt vorbeikommen.So ist zum Beispiel der Aufbau Ost über die Sonderab-schreibungen – Sie wissen, daß wir dies ursprünglichnicht wollten; wir wollten ein Zulagensystem – zu einemVermögensbildungsprogramm West geworden. Das isteines der Probleme, die wir vorgefunden haben. Dieshätte vernünftigerweise anders geregelt werden müssen.
Meine Damen und Herren, ich muß der Wahrheit dieEhre geben: Dies hat begonnen mit dem, was wir zuvorgemeinsam verabschiedet haben. Herr Poß hat vorhin zuRecht gesagt, daß die veranlagte Einkommensteuer wie-derkommt. In diesem Frühjahr haben wir die Beendi-gung der Sonderabschreibungen „Aufbau Ost“ mitWirkung zum 31. Dezember vergangenen Jahres ge-meinsam beschlossen und die Finanzierung auf ein Zu-lagensystem umgestellt. Im nächsten Frühjahr werdenSie sehen, was das, wogegen Sie wütend angerannt sind,obwohl es auch in Ihren Petersberger Beschlüssen ent-halten ist, hervorgerufen hat.
Beispiele: Teilwertabschreibung, das absolute Wertauf-holungsgebot, die Einschränkung der gegenseitigen Ver-rechnung von Gewinnen und Verlusten aus unterschied-lichen Einkunftsarten, das Abzinsungsgebot zum Bei-spiel für Rückstellungen bei den Energieversorgungs-unternehmen, die sie für die Entsorgung von Kernkraft-werken gebildet hatten.
Bundesminister Hans Eichel
Metadaten/Kopzeile:
4532 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Allein das – und deswegen ist die Mär von der Mit-telstandsbelastung falsch – macht 16,7 Milliarden DMaus.Jetzt komme ich zu Ihren niedrigeren Steuersätzen.Ihr Problem war – das wissen Sie ganz genau; deswegenhaben Sie Frau Nolte am Schluß auch nicht durchgehenlassen, daß sie die Wahrheit gesagt hat –: Ihre Steuerre-form bedeutete einen Einnahmeausfall von rund 40 Mil-liarden DM für alle öffentlichen Kassen. Hinzu kamnoch 1 Prozentpunkt mehr an Mehrwertsteuer. Das warpolitisch nicht verantwortbar.[Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)Die Wahrheit ist, daß kein Ministerpräsident, auch kei-ner von der CDU, dies gewollt hat. Wir nehmen imRahmen des Steuerentlastungsgesetzes eine Entlastungvon – und das fällt für alle öffentlichen Haushalte hartgenug aus – mehr als 20 Milliarden DM vor. Aber eineHerabsetzung auf 40 Prozent wäre nicht möglich gewe-sen. Sie haben sich ja am Schluß nicht einmal zu ihrerGegenfinanzierung bekannt, die ja in dem gesamten Pa-ket vorgesehen war.Nun komme ich zum zweiten Teil der Unterneh-mensteuerreform, über den Herr Solms ausschließlichgesprochen hat, obwohl der noch gar nicht vorliegt. Erhat über Empfehlungen der Kommission gesprochen, die– ganz zu Recht – drei Elemente der Besteuerung vonPersonengesellschaften vorsehen. Wir machen die ent-sprechenden Planspiele ja deshalb, weil wir bei demeinen Element, bei dem es in der Tat zu einer Belastungder kleinen und mittleren Unternehmen kommt, sagen:Genau das wollen wir nicht. Deswegen brauchen wireine sorgfältige Gesetzgebung. Trotzdem bauen Sie im-mer einen solchen Popanz auf. Ich weiß nicht, ob Siedamit noch jemanden beeindrucken. Aber mit Wahrheithat das jedenfalls gar nichts zu tun.
Wir müssen eine Unternehmensteuerrefom durchfüh-ren, um die Investitionen zu begünstigen; denn das istwichtig. Auch das Realkapital bei uns muß erneuertwerden. Das ist für die Schaffung von Arbeitsplätzenbedeutend.Nun müssen Sie sich entscheiden – denn sie wech-seln ständig die Prioritäten –, ob Sie jetzt, wenn wireine ordentliche Senkung der Unternehmensteuersätzeund eine Nettoentlastung vor allem der kleinen undmittleren Unternehmen vornehmen, auch noch eineSenkung des privaten Spitzensteuersatzes fordern, ob-wohl, wie Sie auch wissen – deswegen ist Ihre Argu-mentation in volkswirtschaftlicher Hinsicht, HerrSolms, nicht sehr überzeugend –, in allen Industrielän-dern zwischen dem im Unternehmen verbliebenen Ge-winn und dem privaten Spitzensteuersatz unterschiedenwird.[Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die habendoch eine andere Gesellschaftsstruktur! –Weitere Zurufe von der CDU/CSU und derF.D.P.)Wenn wir die Unternehmensteuerreform mit unserenEckpunkten hinter uns haben und bei einer Belastungder Unternehmen von 38 Prozent und bei einem Spit-zensteuersatz von 48,5 Prozent liegen, kommt es zueiner Spreizung von 10 Prozentpunkten. Das ist imeuropäischen Umfeld so ziemlich die niedrigste Sprei-zung, die es gibt. Die benachbarte Niederlande habeneine Spreizung von 25 Prozentpunkten, und zwar bei 35auf der einen und 65 Prozent auf der anderen Seite. DieNiederländer reduzieren jetzt den Spitzensteuersatz auf52 Prozent. Es bleibt aber immer noch eine Spreizungvon 17 Prozentpunkten übrig.Angesichts dessen müssen Sie sich fragen, ob Sie,wenn Sie eine europaweit konkurrenzfähige Unterneh-menbesteuerung durchführen wollen – das müssen wir –,gleichzeitig an die Senkung des Spitzensteuersatzes he-rangehen wollen und woher Sie das Geld dafür nehmen.Das mag alles schön sein. Aber in Wirklichkeit heißtdas, daß Sie die Unternehmen nicht so sehr entlastenkönnen, wie wir das eigentlich wollen.Beim Rückblick auf die 16 Jahre Ihrer Regierungs-politik ist festzustellen: Durch unser Steuerentlastungs-gesetz, das in diesem Jahr in Kraft getreten ist, wird indieser Wahlperiode der Spitzensteuersatz um 4,5 Punktegesenkt, und zwar von 53 auf 48,5 Prozent. Das ist be-reits Gesetz. Sie haben in Ihren 16 Regierungsjahren ge-rade einmal eine Senkung um 3 Prozentpunkte hinbe-kommen, und zwar von 56 auf 53 Prozent. Mehr nicht!Auch aus diesem Grunde sollten Sie mit Ihrer Polemikein bißchen vorsichtig sein.
Was den unteren Rand, dem unsere Leidenschaft –auch aus vernünftigen ökonomischen Gründen – zuge-gebenermaßen mehr gehört, betrifft: Da haben Sie einemerkwürdige Politik gemacht. Es ging immer hin undher: einmal bis zu 3 Prozentpunkte runter und dann wie-der 3 Prozentpunkte rauf. Im Rahmen unserer Steuerre-form, die wir Anfang dieses Jahres beschlossen haben,geht der Eingangssteuersatz in einer Wahlperiode um 6Prozentpunkte zurück, und zwar von 25,9 auf 19,9 Pro-zent. Das hat es noch nie in Deutschland gegeben.
Herr Gysi hat natürlich recht, wenn er sagt, daß dasallen zugute kommt. Aber es kommt vorrangig denEmpfängern unterer Einkommen zugute – deswegen istdiese Reform ja so teuer –, und das wollen wir auch.Daher weise ich darauf hin: Wer darüber nachdenkt, wiewir das Problem des Transfereinkommens, also das desÜbergangs von Nichtbeschäftigten zu Beschäftigten,besser lösen, der wird sich, wenn er denn kann, nocheinmal mit dem Eingangssteuersatz beschäftigen müs-sen. Das wäre eine vernünftigere Idee als manch andere.
Zum vorliegenden Gesetzentwurf zur Familienför-derung: Es ist zu betonen, daß trotz einer solchenHaushaltslage sehr viel in sehr kurzer Zeit getan wird. InBundesminister Hans Eichel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4533
(C)
(D)
der Koalitionsvereinbarung haben wir für diese Wahlpe-riode eine Erhöhung des Kindergeldes um 40 DM ver-sprochen. Wenn das, was wir hier vorgeschlagen haben,am 1. Januar 2000 im „Bundesgesetzblatt“ steht – ichvermute einmal, daß Sie nicht dagegen stimmen werden,
obwohl Sie im vergangenen Jahr immer erklärt haben,daß eine Erhöhung des Kindergeldes nicht so wichtigsei; dazu könnte man einmal Reden aus dem vergange-nen Jahr heraussuchen; ich bin mir aber sicher, daß Sienicht dagegen stimmen –, dann werden wir bereits nacheiner Regierungstätigkeit von 14 bzw. 15 Monaten mehrgetan haben, als wir am Beginn der Wahlperiode inKenntnis der schwierigen Haushaltslage versprochenhaben. Das sollte uns einmal jemand nachmachen.
Zum Steuerbereinigungsgesetz sage ich nur: Ich ha-be mit großem Amüsement gehört, daß Sie, Herr Gysi,jetzt zum Befürworter der Steuerfreiheit der Erträge ausder Kapitallebensversicherung mutieren. Das werde ichden Versicherungen erzählen. Die werden Ihnen die Bu-de einrennen. Da können Sie noch Stimmen sammeln.Dieses Steuerschlupfloch wollen wir wirklich schlie-ßen. Ich weiß, Sie von der Opposition wollten es mitEingriffen in die bestehenden Verträge schließen. Dashaben wir uns nicht getraut. Das gebe ich offen zu. Dasist vielleicht auch nicht richtig. Aber wir wollen esschließen, weil es uns zuallererst darauf ankommt – dasist doch das Interesse der Gemeinschaft –, daß alle imAlter ein regelmäßiges gesichertes Einkommen haben,mit dem sie vernünftig auskommen können, das über derSozialhilfe liegt und das ihren Lebensstandard einiger-maßen sichert. Das wollen wir steuerlich fördern.
Darüber hinaus kann von mir aus jeder machen, was erwill. Aber Gegenstand besonderer Steuersubventionenmuß das wirklich nicht sein.
Herr Gysi, ich bin sehr gespannt, ob die PDS das fordert.Wir sollten an anderer Stelle einmal darüber sprechen,was das eigentlich bedeutet.Ferner aber, meine Damen und Herren, gibt es eineMenge an Bereinigungen, die wir im Hinblick auf EU-Recht machen müssen. Es gibt auch einige Bereinigun-gen – das ist jedes Jahr so – im Zusammenhang mit demSteuerentlastungsgesetz. Es ist wahr – und das solltenwir lernen –, daß der bloße Steuersatz, den man festlegt,das Geld nicht bringt, wenn sich das ganze Umfeld nichtentsprechend bewegt. Deswegen müssen wir selbstver-ständlich eine Steuerpolitik – künftig wird das übrigensauch bei den Abgabensystemen so sein – mit Blick aufunsere Nachbarn machen; denn wir sind nun einmalnicht mehr alleine. Der Hinweis, daß das so sein muß, istrichtig. Die europäische Einigung muß in diesem Punktvorangehen. Sie wird in vielen anderen Feldern voran-gehen müssen. Wir müssen uns mit unserem Rechtssy-stem darauf einstellen.Zum letzten Punkt: Ökosteuer und der Lohnnebenko-sten. Ich sage es noch einmal in aller Ruhe: Ich hatte denEindruck – Herr von Weizsäcker hat das sehr nachdrück-lich geschildert –, daß inzwischen zwei Dinge Gemeingutsind – unabhängig davon, ob man schon in der Lage war,das in Handeln umzusetzen: Zum einen ist es in der Zeithoher Arbeitslosigkeit ein fundamentaler Fehler, die Ar-beit so teuer zu machen. Das bedeutet jetzt nicht, manmuß Druck auf die Einkommen der Arbeitnehmer aus-üben. Es geht darum, daß wir zu hohe Lohnnebenkostenhaben. Das hängt auch von den Tarifvertragsparteien– nicht nur vom Staat – ab. Wir müssen die Lohnneben-kosten senken, wenn wir Chancen für Arbeit schaffenwollen. Zum anderen ist es gut, wenn wir mit dem knap-pen Gut unserer natürlichen Ressourcen sparsamer umge-hen und wenn wir insbesondere entsprechende Preis-signale setzen. Denn das ist marktwirtschaftlich die ver-nünftigere oder jedenfalls die interessantere Lösung, alsnur Ordnungspolitik zu betreiben. Denn Ordnungspolitikverlangt immer sogleich einen größeren Überwachungs-apparat. Diese beiden Punkte sind richtig und könnenüberhaupt nicht bestritten werden.Meine Damen und Herren, wenn Sie uns nun vorwer-fen, daß wir vorsichtiger als Sie Anfang der neunzigerJahre – da waren es nämlich bei der Mineralölsteuer 50Pfennig in fünf Jahren –,
aber systematischer an das Problem herangehen, weilwir ein langfristiges Signal setzen und nicht einfachHaushaltslöcher stopfen wollen und weil wir gleichzei-tig das Geld für die Senkung der Rentenversicherungs-beiträge nutzen werden, während in Ihrer Zeit sowohldie Mineralölsteuer als auch die Lohnnebenkosten ge-stiegen sind, dann sind Sie schlechte Kritiker unseresVorhabens.
Auch an dieser Stelle gilt eines wieder: Ganz plötz-lich – das betrifft Sie, Herr Solms – wechseln Sie diePrioritäten und sagen: Wenn ihr die Verbrauchsteuernerhöht, dann macht das, um die direkten Steuern zu sen-ken. Dabei haben Sie selbst die ganze Zeit davon gere-det, was für ein Problem die Lohnnebenkosten darstel-len. Sie kamen doch gar nicht ohne unsere Hilfe aus. Siehätten das auch mit der Mineralölsteuer machen können.Sie haben aber über die Mehrwertsteuer verhindert, daßder Rentenversicherungsbeitrag gestiegen ist. Jetzt sagenSie mir einmal, was daran im Prinzip anders als bei un-serem Konzept ist und wieso Sie jetzt plötzlich, nur weilwir das fortsetzen, die Prioritäten wechseln. Damals ha-ben Sie doch mit uns – das ging sogar auf Ihre Initiativezurück; wir hatten doch gar keine Veranlassung dazu –beschlossen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, um dieRentenversicherungsbeiträge nicht über 21 Prozent stei-gen zu lassen.Bundesminister Hans Eichel
Metadaten/Kopzeile:
4534 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ich fände es ganz in Ordnung, wenn wir auf der Basisunseres gemeinsamen Verhaltens – also auf Basis dessen,was jeder von uns in der Vergangenheit gemacht hat –miteinander diskutieren würden. Das würde manche De-batte – es ist schon witzig, welche Volten so geschlagenwerden – ein ganzes Stück versachlichen und würde hierund dort vielleicht auch zu breiteren Mehrheiten führen,aber jedenfalls nicht dazu, daß wir den Leuten heute dasGegenteil von dem erzählen, was gestern noch galt.
Herr Minister Eichel,
gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Solms? Ich
will vorweg darauf hinweisen, daß sich die Debatte we-
gen der Überschreitung der Redezeiten verlängert.
Gleich haben wir auch noch zwei Kurzinterventionen. –
Nun der Kollege Solms.
Herr Minister,
darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, daß es ein Kompro-
miß mit der Koalition war, einen demographischen
Faktor in die Rentenversicherung einzubauen und einen
Teil der versicherungsfremden Leistungen – das war
unser Zugeständnis – über 1 Prozentpunkt mehr Mehr-
wertsteuer mitzufinanzieren. Das war der Kompromiß.
Das gehört zusammen.
Seitdem hat aber selbst Ihr Arbeitsminister zugestan-
den – insbesondere auch nach dem, was Sie jetzt bei der
ersten Stufe der Ökosteuer gemacht haben –, daß die ver-
sicherungsfremden Leistungen durch die Zuschüsse aus
dem Haushalt voll abgedeckt sind. Einen zusätzlichen
Anlaß oder eine Begründung dafür, weitere Zuschüsse in
die Rentenversicherung zu leiten, gibt es nicht. Was jetzt
zu tun ist, ist, die Rentenversicherung in ihrer Struktur zu
reformieren, damit sie auf Dauer bestandsfähig wird, und
die Steuerpolitik so zu reformieren, daß sie auch den An-
sprüchen des Kapitalmarktes und insbesondere der wirt-
schaftlichen Entwicklung des Arbeitsmarktes gerecht
wird. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie sich nicht an diesen
Kompromißzusammenhang erinnern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr
Solms, das war ein Kompromiß in Ihrer Koalition. Der
erste Teil war nie Bestandteil unserer Zustimmung, wie
Sie wissen. Gegenstand unseres Kompromisses – also
zwischen der damaligen Regierungskoalition und der
damaligen Opposition respektive der Bundesratsmehr-
heit – war der, daß der Rentenversicherungsbeitrag nicht
über 21 Punkte steigen sollte und daß deswegen die
Mehrwertsteuer um einen Punkt erhöht wird. Das war
der Gegenstand unseres Kompromisses. Zu dem beken-
ne ich mich auch. Der ist qualitativ nicht anders als das,
was wir machen.
Herr Gysi hat seine
Kurzintervention zurückgezogen, da es ohnehin eine
Debatte dazu geben wird. Aber Herr Thiele möchte sei-
ne Kurzintervention aufrechterhalten. Bitte sehr.
Herr Minister, Siehatten mich direkt zur Familie angesprochen. Sie habenauch die Wahrhaftigkeit angesprochen. Dazu möchte ichwie folgt Stellung nehmen: Erstens. Das Bundesverfas-sungsgericht hatte dem Gesetzgeber einen Auftrag er-teilt. Nicht der Bundesrat hat die Änderung des Gesetzesund die Erhöhung des Kindergeldes von 70 DM auf 200DM beschlossen. Das hat vielmehr der Finanzausschußund in der Folge des Finanzausschusses der DeutscheBundestag beschlossen. Es gab keinen Druck des Bun-desrates, sondern das hat der Deutsche Bundestag be-schlossen. Der Bundesrat hat dem nachher zugestimmt.
Der Deutsche Bundestag hat in diesem Zusammen-hang nach dem Modell der F.D.P. und nicht der SPD –die SPD wollte eine reine Transferleistung als sozialeWohltat an die Bürger, die F.D.P. wollte, daß die Bürgerdas Existenzminimum ihrer Kinder aus steuerfreienGeldern bestreiten können – 1996 erstmalig das Kinder-geld im Einkommensteuergesetz als negative Einkom-mensteuer geregelt. Das ist vernünftig so, weil die Lei-stungen für die Familien in Form des Kindergeldes kei-ne Wohltat eines Arbeitsministers oder des Staates sind.Jeder, der erwerbstätig ist, hat einen Anspruch darauf,das Existenzminimum aus steuerfreien Geldern bestrei-ten zu dürfen. Das war der Punkt, den wir damalsdurchgesetzt haben.Zweitens. Sie haben angesprochen, daß die Unter-nehmen entlastet würden. Mit keinem Gesetz, das heutevon Ihnen vorgelegt wird, werden die Unternehmenauch nur um einen Pfennig entlastet: Im Gegenteil:Durch das Steuerbelastungsgesetz sind sie mehr belastetworden. Wenn Sie dann Ihre Unternehmensteuer-reform, die eigentlich zum 1. Januar 2000 kommensollte – das war im Bündnis für Arbeit verabredet –, jetztaber auf 2001 verschoben wird, als Vision in den Raumstellen, kann ich nur sagen: Dazu werden wir noch fröh-liche Debatten erleben. Denn Sie übersehen einen Un-terschied: In Deutschland haben wir Personen und Per-sonengesellschaften und keine Kapitalgesellschaften.Deshalb ist der Handwerker, der mittelständische Unter-nehmer nicht genauso zu behandeln wie eine große Ak-tiengesellschaft in Deutschland. Insofern ist das, was Siewollen, ein Bruch mit unseren mittelständischen Wirt-schaftsunternehmen. Damit werden wir uns in Zukunftnoch konkret beschäftigen.Drittens. Die Lohnnebenkosten werden mit keinemdieser Gesetze auch nur um einen Pfennig gesenkt. Auchin dem Gesetz über die Erhöhung der ökologischenSteuer, die Verbrauchsteuererhöhung, die Sie anspre-chen, ist mit keinem Wort davon die Rede, daß die Gel-der zweckgebunden für die Rente genutzt werden.
Bundesminister Hans Eichel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4535
(C)
(D)
Wenn Sie schon zu diesen Gesetzen sprechen, dann ge-hört das dazu.Viertens, zur Art der Finanzierung der deutschenEinheit: Ich glaube, inzwischen durchschaut jeder, daßman nicht sagen kann: In den 16 Jahren Regierung Kohlist nur ein Schuldenberg entstanden. Diese 16 Jahre be-stehen aus zweimal acht Jahren: acht Jahre bis zur deut-schen Einheit und acht Jahre ab der deutschen Einheit.
Wir haben versucht – auch die damalige CDU/CSU-F.D.P.-Bundesregierung –, die Finanzierung der deut-schen Einheit in einem Solidarpakt mit einer stärkerenBerücksichtigung der Länder zu regeln. Die westdeut-schen Länderministerpräsidenten haben sich dieser Her-ausforderung verweigert.
Deshalb hatte die Last ausschließlich der Bund zu tra-gen. Wenn Sie auf eine solche Gruppe von Ministerprä-sidenten gestoßen wären, hätten Sie überhaupt nicht an-ders handeln können, als die damalige Bundesregierunggehandelt hat – vorausgesetzt, daß man die deutscheEinheit wollte und auch den Aufbau in den neuen Bun-desländern wollte. Insofern ist es unredlich, diese Ver-schuldung der alten Koalition zuzuweisen. Sie ist dieFolge eines sozialistisch ruinierten Landes. Dieser Lasthat sich jeder zu stellen. Das haben wir gemacht.Deshalb bitte ich Sie, das Ammenmärchen, daß dasalles die Regierung Kohl zu vertreten habe, nicht weiterzu erzählen und den wirklichen Zusammenhang zukünf-tig klarer darzustellen.
Diese Kurzinterven-
tion war mindestens eine Minute zu lang; ich weise dar-
auf nur hin. Es war eine „Langintervention“.
Nun kehren wir sozusagen zur normalen Debatte zu-
rück.
– Entschuldigung! Der Herr Minister darf antworten.
Das war eine Kurzintervention.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie ha-ben völlig recht: Den Freibetrag haben Sie durchge-boxt. Das war nie sozialdemokratische Politik. Insofernbin ich für Ihre Klarstellung dankbar. Wir wollten im-mer gleiches Kindergeld für alle. Sie haben ganz beson-ders den Anteil betont, der die Entlastung oben amhöchsten macht. Das ist richtig so.
Zweiter Punkt – über dieses Problem wird man imErnst reden müssen. Sie haben ja recht: Eine Unter-nehmensteuerreform zum 1. Januar 2000 kann es nichtgeben, wenn man sie einigermaßen seriös machen will.Denn für die Personengesellschaften die gleiche Steuer-entlastung zu erzielen, wie wir sie für die Kapitalgesell-schaften relativ leicht erzielen können, ist steuerrechtlichschwierig. Das ist der ganze Hintergrund.
– Ich sagte doch schon: Das Thema Haushaltskonsoli-dierung scheint es in Ihren Köpfen überhaupt nicht zugeben. Sie können doch die Mark nur einmal ausgeben!Weil Sie immer geglaubt haben, wir könnten sie zwei-mal ausgeben, sind wir doch in der heutigen Situation.
Dann können Sie den Körperschaftsteuersatz eben nichtauf 25 Prozent senken. Allerdings müssen Sie dann fra-gen, wo Sie im europäischen Vergleich stehen.An diesem Punkt müssen wir auch über die Großensprechen: Wir haben die meisten transatlantischen Un-ternehmen im Lande. Deren Ausschüttungsverhalten –das kenne ich sehr gut – hat sehr viel damit zu tun, wieunsere Steuersätze im Vergleich zum übrigen Europabzw. zu den Vereinigten Staaten aussehen. Da müssenSie ehrlicherweise bekennen, daß Sie die Unternehmen-steuern ein ganzes Stück höher lassen wollen, wenn Siegleichzeitig den privaten Einkommenspitzensteuersatzdrankoppeln. Das macht keinen Sinn. Das können wir zueinem späteren Zeitpunkt immer noch regeln, wenn dasgewünscht wird. Wir müssen dann, glaube ich, auchnoch einmal über den Eingangssteuersatz reden.Wer aber bei der Körperschaftsteuer einen Steuersatzvon 25 Prozent – das erfordert eine große Kraftanstren-gung – und eine genauso hohe Belastung bei den Perso-nengesellschaften will, der hat nicht mehr das Geld, umden Einkommenspitzensteuersatz beim Privateinkom-men zu senken, wie Sie das vorhaben; Sie machen daden Leuten etwas vor.
Letzter Punkt: Ich habe den Zusammenhang mit derdeutschen Einheit völlig klar dargelegt.
– Dann wollen Sie nicht zuhören. Ich habe gesagt, dieKosten waren nötig; die bestreite ich nicht. Ich bestreiteaber Ihre Finanzierung. Sie haben die Kosten in die Zu-kunft geschoben, statt seriös zu einem Zeitpunkt, wo wires Ihnen noch angeboten hatten, eine solide Finanzie-rung, das hieß damals Steuererhöhung, zu machen. Dasallein ist der Punkt.
Sie wissen das alle auch selber. Deshalb haben Sie einensolchen Scherbenhaufen hinterlassen.Ich beschwere mich nicht, daß diese Regierung dasjetzt hauptverantwortlich abtragen muß. Aber es mußschon festgehalten werden, daß die Schulden in Höhevon 1,2 Billionen DM in Ihrer Zeit entstanden sind undCarl-Ludwig Thiele
Metadaten/Kopzeile:
4536 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
daß Sie die Pflicht haben, an der Aufräumarbeit bei dem,was Sie selber hinterlassen haben, mitzuwirken.
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Friedrich Merz.
Frau Präsidentin! Mei-ne sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundes-finanzminister, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede kriti-siert, daß sich die Debatte des heutigen Vormittags zumTeil mit Themen beschäftigt, die nicht Gegenstand dereingebrachten Gesetzesentwürfe sind. Trotzdem habenSie selber einen großen Teil Ihrer Redezeit darauf ver-wandt, um über andere Themen zu sprechen. Ich kriti-siere das nicht. Ich glaube, die erste Sitzungswoche desDeutschen Bundestages in Berlin ist eine gute Gelegen-heit, um auch über die Finanzpolitik im allgemeinen zusprechen. Ich hätte es begrüßt, wenn Sie etwas früherdas Wort ergriffen hätten; denn dann hätten wir wesent-lich früher mit derselben Aussprache beginnen können.Lassen Sie mich nun etwas zur Entwicklung der öf-fentlichen Finanzen seit 1990 sagen. Richtig ist, daßviele von uns die tatsächliche Herausforderung, die mitder Überwindung der deutschen Teilung verbundenwar, unterschätzt haben. Aber es ist auch richtig, daß esim Jahr 1990, als Sie, Herr Eichel, noch Ministerpräsi-dent eines großen Bundeslandes waren –
– oder gerade werden wollten –, eine Facette in denVerhandlungen über den Einigungsvertrag gab, die inder deutschen Öffentlichkeit fast vollständig vergessenworden ist. Auf sie möchte ich hinweisen. Die SPD-geführten Bundesländer haben im Jahr 1990, als der Ei-nigungsvertrag zur Ratifikation im Bundesrat anstand,verlangt, im Rahmen einer Protokollerklärung zum Rati-fikationsgesetz festzuhalten, daß der zu erwartende Pri-vatisierungserlös aus der Tätigkeit der Treuhandanstaltzur Hälfte zwischen Bund und Ländern aufgeteilt wird.
Der damalige Verhandlungsführer der SPD-geführtenBundesländer ist ein Mann, der in der deutschen Öffent-lichkeit noch immer nicht vergessen ist: Es war OskarLafontaine, der damalige Ministerpräsident des Saarlan-des. Er selbst hat den zu erwartenden Erlös aus der Pri-vatisierungstätigkeit der Treuhandanstalt auf 500 Milli-arden bis 1 Billion DM beziffert. Wer damals eine soeklatante Fehleinschätzung abgegeben hat, der hat nichtdas Recht, andere zu kritisieren, die auch die Herausfor-derung der deutschen Einheit unterschätzt haben.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch an einenanderen Punkt. Als die Treuhandanstalt am 31. Dezem-ber 1994 ihre Tätigkeit eingestellt hat, stand nicht einPrivatisierungserlös, sondern – wenn ich es richtig inErinnerung habe – ein Defizit in Höhe von 270 Milliar-den DM in den Büchern. Zu diesem Zeitpunkt redeteallerdings niemand mehr vom Teilen zwischen Bundund Ländern.
– Damals waren Sie Ministerpräsident, Herr Eichel. – Eswar völlig selbstverständlich, daß die bis zu diesemZeitpunkt aufgelaufenen Defizite einschließlich der da-nach noch folgenden Altschulden der Kommunen ausder DDR vom Bund übernommen wurden. Ich sage Ih-nen deshalb an dieser Stelle in aller Nüchternheit undKlarheit: Wer damals die deutsche Einheit nicht wollte– die meisten SPD-Ministerpräsidenten wollten sienicht –, der hat heute nicht das Recht, uns zu kritisieren,daß wir sie falsch gemacht hätten.
In dem Jahr, als das von mir erwähnte Defizit derTreuhandanstalt offensichtlich wurde, hat es Verhand-lungen zwischen dem Bund und den Ländern über dieNeuverteilung des Steueraufkommens gegeben. Auchzu diesem Zeitpunkt waren Sie, Herr Eichel, Minister-präsident. Damals haben sich die Ministerpräsidenten –ich gebe zu, es waren nicht nur die SPD-Minister-präsidenten –, nach dem Abschluß der Verhandlungenmit dem Bund landauf, landab gerühmt, daß sie denBund über den Tisch gezogen und es fertiggebrachthätten, mehr als die Hälfte des Steueraufkommens, dasder Gesamtstaat ausweist, für die Länder und die Kom-munen zu vereinnahmen. Zu Beginn der 90er Jahre flos-sen fast zwei Drittel aller Steuereinnahmen in den Bun-deshaushalt. Seit Mitte der 90er Jahre verfügt der Bunddurch Ihr Mitwirken, Herr Eichel, nur noch über runddie Hälfte der Steuereinnahmen des Gesamtstaates.Wenn Sie das heute beklagen, dann beklagen Sie eineEntwicklung, die Sie selber als Ministerpräsident mitzu-verantworten haben.
Sie stehen jetzt mit Ihrem Haushalt von zwei Seitenunter erheblichem Druck. Ich will Ihnen jetzt sagen –wir werden die Diskussion fortsetzen, wenn der Bun-deshaushalt für das Jahr 2000 nächste Woche von Ihneneingebracht wird –: Wir werden uns der konstruktivenMitwirkung an der Konsolidierung der Staatsfinanzennicht versagen. Wir werden nicht nach dem Vorbild Ih-res Amtsvorgängers Oskar Lafontaine Obstruktion undBlockade im Bundesrat praktizieren, und wir werdenauch im Deutschen Bundestag als Opposition unserenBeitrag leisten. Ich füge gleichzeitig hinzu: Sie könnenvon uns nicht erwarten, daß wir den grundlegend fal-schen Weichenstellungen der Steuer- und Finanzpolitikder Bundesregierung unsere Zustimmung geben.
Ich möchte ein Thema ganz konkret aufgreifen, dasSie angesprochen haben, nämlich die Steuerpolitik derletzten 16 Jahre. Herr Eichel, die Steuerpolitik derletzten Bundesregierung hat nicht bei der NeuordnungBundesminister Hans Eichel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4537
(C)
(D)
des Kindergeldes zum 1. Januar 1996 begonnen; viel-mehr haben wir insbesondere in den 80er Jahren eineSteuerpolitik betrieben, die auch Vorbild für die Steuer-politik des nächsten Jahrhunderts in Deutschland seinkönnte. Ich meine eine Steuerpolitik, die sich im we-sentlichen auf die Stärkung der Wachstums- und Inve-stitionskräfte der Volkswirtschaft der BundesrepublikDeutschland konzentriert hatte.Ich erinnere daran, weil die alte Regierung in den80er Jahren in Deutschland eine Steuerreform auf denWeg gebracht hat – diese Steuerreform verbindet sicheng mit dem Namen des damaligen FinanzministersGerhard Stoltenberg –, die Sie alle in der SPD nichtwollten. Am Ende dieser Steuerreform stand genau derErfolg, den Sie heute für Ihre Politik beanspruchen,nämlich mehr Arbeitsplätze und eine niedrigere Staats-quote.In diesem Zusammenhang fällt auf, daß das ThemaStaatsquote in den Reden des Bundesfinanzministersüberhaupt keine Rolle spielt, obwohl der unmittelbareNachbar des Bundesfinanzministers – er sitzt nebenIhnen, Herr Eichel – keinen Jahreswirtschaftsbericht –für den ist er nicht mehr zuständig –, aber einen Wirt-schaftsbericht für das Jahr 1999 herausgegeben hat, indem das ehrgeizige Ziel formuliert ist, die Staatsquote inder Bundesrepublik Deutschland auf 40 Prozent abzu-senken.Herr Eichel, bei irgendeiner Gelegenheit hätte ichgern von Ihnen gewußt, ob Sie das Ziel Ihres Nachbarn,des Bundeswirtschaftsministers, teilen, die Staatsquotein Deutschland auf 40 Prozent abzusenken. Mit derPolitik, die Sie gegenwärtig betreiben, werden Sie ge-genüber der Staatsquote des Jahres 1998 am Ende desJahres 1999 vermutlich eine höhere Staatsquote erzielen.
Ich erinnere an die Steuerpolitik der 80er Jahre, weilin dieser Zeit in drei Stufen – 1986, 1988 und 1990 –eine steuerliche Nettoentlastung in der BundesrepublikDeutschland für Betriebe und für Familien in einer Grö-ßenordnung von gut 45 Milliarden DM realisiert wordenist. Auch damals gab es in den öffentlichen HaushaltenZwänge. Aber Gerhard Stoltenberg und die damaligeBundesregierung haben immer den richtigen Ansatzvertreten, daß eine auf die Stärkung der Investitions- undWachstumskräfte in der Volkswirtschaft ausgerichteteSteuerpolitik innerhalb sehr kurzer Zeit auch wieder zuhöheren Steuereinnahmen führen wird.Ich habe in den letzten Tagen die Zahlen nachgelesen,um sie Ihnen hier vorzutragen. Die mit der dritten Stufeder Steuerreform 1990 in Kraft getretene Nettoentla-stung hat bereits im ersten Jahr nach der dritten Stufe,nämlich im Jahr 1991, Steuermehreinnahmen von Bund,Ländern und Gemeinden in einer Größenordnung von115 Milliarden DM gegenüber dem Jahr vor Beginn die-ser dreistufigen Steuerreform gebracht.Das zeigt eines ganz deutlich: Wenn Sie eine wirt-schaftspolitisch ausgerichtete Steuerpolitik in der Bun-desrepublik Deutschland betreiben, dann können Sie da-durch nicht nur höheres Wachstum und mehr Arbeits-plätze schaffen, sondern auch einen erheblichen Teil anMehreinnahmen für die öffentlichen Haushalte.
Sie sollten wenigstens den Versuch machen, IhreSteuerpolitik, die Sie mit der am 1. April in Kraft getre-tenen ersten Stufe begonnen haben, auf diese wirklichentscheidende Zielrichtung abzustellen, nämlich auf dieStärkung der Wachstumskräfte in Deutschland. Biszum heutigen Tag ist Ihnen aber nachweislich das Ge-genteil gelungen.Wir hatten im Jahr 1998 – das war das letzte dieser„schrecklichen“ Jahre, in der die CDU/CSU regiert hat –ein reales wirtschaftliches Wachstum von 2,8 Prozent.
Im ersten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit hat es im Ver-gleich zu allen europäischen Ländern – ich mache die-sen Vergleich bewußt, damit Sie nicht behaupten kön-nen, es handele sich um externe Schocks aus Asien,Rußland oder Südamerika – in der BundesrepublikDeutschland den höchsten Wachstumseinbruch gegeben.Sie stehen am Ende dieses Jahres mit einem wirtschaft-lichen Wachstum von nur noch 1,5 bis 1,6 Prozent da.
So sieht das erste Jahr der rotgrünen Bundesregierungaus, wo doch, wie wir gehört haben, in diesem Jahr nichtalles anders, aber vieles besser werden sollte. Nichts istdurch Ihre Steuerpolitik besser geworden. Der KollegeThiele hatte eben völlig zu Recht darauf hingewiesen:Sie haben mit dieser Steuerpolitik Vertrauen in die aufStetigkeit bedachte und langfristig angelegte Wirt-schaftspolitik der Bundesregierung zerstört.
Sie haben kritisiert, daß es uns in 16 Jahren nicht ge-lungen sei, den Spitzensteuersatz zu senken. Zu einersolchen Kritik gehört wirklich Mut. Sie haben doch zudenen gehört, die im Jahre 1997 eine grundlegende Re-form unseres Steuersystems im Bundesrat verhinderthaben, durch die der Spitzensteuersatz in der Bundesre-publik Deutschland von 53 auf 39 Prozent abgesenktwerden sollte. Sie können sich doch heute nicht darüberbeklagen, daß das nicht gelungen ist, wenn Sie selbst zudenen gehört haben, die dafür Verantwortung tragen,daß es verhindert wurde.
In diesem Zusammenhang will ich auch ganz freimü-tig zugeben: Natürlich gab es ein gewisses Gegenfinan-zierungsrisiko bei dieser Steuerreform, die wir 1996/97konzipiert haben. Wir haben aber immer gesagt, daß wirbereit gewesen wären, mit der Opposition im DeutschenBundestag wie mit der Mehrheit im Bundesrat Ver-handlungen darüber zu führen, ob eine solche Steuerre-form, wenn die öffentlichen Haushalte es nicht herge-ben, nicht möglicherweise in Stufen verwirklicht werdenFriedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
4538 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
sollte. Wir haben immer gesagt, ein Satz von 39 Prozentmuß nicht im ersten Schritt realisiert werden. Die Re-form ist aber nicht daran gescheitert, daß Sie gesagthätten, 39 Prozent seien zu niedrig, 45 Prozent wärenbesser, sondern sie ist gescheitert, weil Sie, Herr Eichel,im Bundesrat eine parteipolitisch motivierte Strategiemitgetragen haben, die damals überhaupt keine Kom-promißfähigkeit mehr erkennen ließ.
Erlauben Sie mir, daß ich einige Anmerkungen zudem Thema Ökosteuer mache. Es ist ja schon in den er-sten Runden hier etwas dazu gesagt worden. In diesemZusammenhang haben Sie hier ein Wort gebraucht, dasmich außerordentlich hellhörig gemacht hat. Dem Sinnenach haben Sie gesagt: Ordnungspolitik in diesem Zu-sammenhang hat immer etwas mit mehr Überwachungdurch den Staat zu tun.
– Nein, er sprach von Ordnungspolitik, aber sei es drum;vielleicht hat er sich versprochen. Sprechen wir lieberüber den Kern des Themas.Natürlich kann man die Frage diskutieren, ob es nichtrichtig ist, in unserem Steuersystem den Anteil der indi-rekten Steuern zugunsten einer Absenkung der direktenSteuern zu erhöhen. Insbesondere vor dem Hintergrundder Liberalisierung der Energiemärkte, durch die Mono-polgewinne und tatsächliche Belastungen erheblich re-duziert werden, kann man die Frage stellen, ob es nichtrichtig wäre, durch eine etwas höhere Besteuerung vonEnergie Probleme zu lösen, die wir im Steuer- und So-zialsystem der Bundesrepublik Deutschland insgesamthaben.
– Das ist übrigens keine neue Erkenntnis, sondern dieseDiskussion führen wir schon viel länger, als Sie hier sit-zen.
Gleichzeitig haben wir aber immer gesagt, daß dieeinseitige Anhebung von Ökosteuern und die Verwen-dung dieser Erträge zur Quersubventionierung der So-zialversicherungssysteme aus mehreren Gründen der fal-sche Weg ist. Ich will Ihnen einen entscheidendenGrund nennen: In den letzten Jahren haben wir uns überdie sogenannten versicherungsfremden Leistungengestritten. Die Leistungen der Rentenversicherung, dienicht durch Beiträge abgedeckt gewesen waren, hattenein Volumen von etwa 90 Milliarden DM.Über eine Finanzierung der versicherungsfremdenLeistungen aus dem allgemeinen Staatshaushalt sind wirlängst hinaus. Die Finanzierung der Rentenversicherungdurch Ökosteuern und allgemeine Steueraufkommen hatin diesem Jahr eine Höhe von 119 Milliarden DM er-reicht. Die zweite, dritte, vierte und fünfte Stufe derÖkosteuer, die Sie von den Koalitionsfraktionen unsheute in diesem Gesetz vorgelegt haben, werden dazuführen, daß wir nach der fünften Stufe 150 MilliardenDM auszahlen, die nicht mehr durch Beiträge, sonderndurch allgemeine Steuern finanziert werden. Ein Staat,der auf diese Art und Weise mehr als ein Drittel derRentenauszahlungsleistung nicht mehr durch Beiträge,sondern durch allgemeine Steueraufkommen finanziert,eröffnet sich damit – ich will es vorsichtig formulieren –einen wesentlich größeren Spielraum für Rentenanpas-sungen je nach tagespolitischer Opportunität. Ich könnteauch sagen: einen wesentlich größeren Spielraum fürManipulationen.
Vor diesem Hintergrund erscheinen Ihre Beschlüsse,die Rentenanpassung in den Jahren 2000 und 2001 nurnoch entsprechend der Inflationsrate vorzunehmen, na-türlich in einem völlig anderen Licht. Sie befinden sichgeistig schon auf dem Weg in die Staatsrente. Nur der-jenige, der eine Staatsrente will, kann nach Maßstäbender tagespolitischen Opportunität Rentenanpassungenvornehmen.Wir widersprechen nachhaltig dem Versuch, die Pro-bleme der Rentenversicherung dadurch zu lösen, daß Sienur eine neue Finanzierungsquelle suchen. Das ist dieentscheidende Kritik, die wir an diesem Konzept der so-genannten ökologisch-sozialen Steuerreform üben. Siebefinden sich mit dieser Steuerpolitik und dieser Sozial-politik auf einem grundlegend und, wenn Sie so wollen,ordnungspolitisch völlig falschen Weg.
Sie werden die Probleme der Rentenversicherung, diewir unbestritten haben, nicht dadurch lösen, daß Sie nureine neue Finanzierungsquelle suchen.In diesem Zusammenhang spreche ich etwas an, wasSie in dem vorliegenden Gesetzentwurf konkret ändernwollen, nämlich die Bedingungen für die Lebensversi-cherung. Auch wir haben nie bestritten, daß man dieeinseitige Privilegierung dieser besonderen Form derKapitalbildung durch das Einkommensteuerrecht über-prüfen muß. Wir haben damals eine Form diskutiert, diedurchaus auch kritikwürdig war. Aber ich frage mich:Warum verschlechtern Sie die Bedingungen der Le-bensversicherung jetzt, zu einem Zeitpunkt, zu dem eseigentlich an der Zeit wäre, eine grundlegende Neuord-nung der Besteuerung der Alterseinkommen insgesamtvorzunehmen?
Ich frage mich auch: Warum warten Sie nicht wenig-stens die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtesim Herbst über die Besteuerung der Alterseinkommenab,
um danach eine in sich geschlossene, für alle Formender betrieblichen, privaten und gesetzlichen Altersver-Friedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4539
(C)
(D)
sorgung gültige Lösung vorzuschlagen? Mit dem, wasSie jetzt machen, Herr Eichel, belasten Sie insbesonderediejenigen, die die Versorgungslücke haben werden,weil Sie nämlich nicht jetzt zugreifen, sondern, bei einerdurchschnittlichen Dauer einer Lebensversicherung von25 Jahren, erst im Jahr 2025 – in Kraft treten soll das jaab dem 1. Januar 2000 –, also bei denen, die heute 20,30, 40 Jahre alt sind und im Jahr 2025 eine Versor-gungslücke in der gesetzlichen Rentenversicherung ha-ben werden. Bei denen schlagen Sie mit der Besteuerungder Lebensversicherung zu, wenn sie das Kapitalwahl-recht in Anspruch nehmen.Übrigens: Ich halte die Differenzierung, die Sie imGesetz vornehmen, für grob willkürlich. Sie beschrän-ken damit die freie Verwendung des Kapitals aus einerLebensversicherung in einer nicht sachgerechten undmeines Erachtens auch verfassungsrechtlich höchst an-fechtbaren Weise.
Ich will nur der Vollständigkeit halber darauf hinwei-sen, daß Sie mit dieser Form der Besteuerung der Le-bensversicherung in der Bundesrepublik Deutschlandeinen Markt zerstören, der sich erst seit dem 1. Januar1994 herausbilden konnte, nämlich im Zuge der Libera-lisierung und der Öffnung des europäischen Binnen-marktes. Die Besteuerung betrifft nämlich auch alle Le-bensversicherungen, die von nichtdeutschen Bewohnernbei deutschen Gesellschaften erworben werden, also vonAusländern, die außerhalb der BundesrepublikDeutschland eine DM-Police erwerben. Die Besteuerungin Deutschland, die zwangsläufig all diejenigen erfaßt,die hier in Deutschland eine Lebensversicherung abge-schlossen haben, zerstört einen erheblichen Markt derDienstleistungen, die in der Bundesrepublik Deutsch-land für ausländische Steuerbürger erbracht werdenkönnen, die in Deutschland, nachdem das, was Sie hiervorschlagen, Wirklichkeit geworden ist, keine Lebens-versicherung mehr erwerben werden.
Ich will in diesem Zusammenhang ein weiteres The-ma ansprechen, bei dem Sie mittlerweile Gefangene Ih-rer eigenen Wahlkampfrhetorik sind. Sie diskutieren seitder Sommerpause intensiv über die Wiedereinführungder Vermögensteuer, die Einführung einer Vermögens-abgabe und jetzt über die Erhöhung der Erbschaftsteu-er. Herr Eichel, nachdem nun gestern unwidersprochendie Nachrichten durch die Medien gingen, daß das Bun-desfinanzministerium plant, die Bewertungsgrundlagenfür die Anwendung des Erbschaftsteuergesetzes zu än-dern, hätte ich von Ihnen an dieser Stelle eine Klarstel-lung erwartet, daß Sie solche Pläne nicht haben. Ich er-innere daran, daß wir in der letzten Legislaturperiode,Ende 1996, rückwirkend in Kraft getreten zum 1. Januar1996, schon einmal eine massive Anhebung der Erb-schaftsteuer beschlossen haben. Wir haben damals übri-gens, was die meisten von Ihnen offensichtlich nichtmehr wissen, den von uns geschätzten Privatanteil ander Vermögensteuer auf die Erbschaftsteuer übertragenund sie erheblich erhöht. Wir haben gleichzeitig aufBetreiben des Bundesrates sogar die Grunderwerbsteuervon 2 auf 3,5 Prozent erhöht und damit fast verdoppelt.Jetzt geht die Diskussion über die Erbschaftsteuerwieder los. Ich will Sie darauf hinweisen: Wir habendamals eine außergewöhnlich große Spreizung in derBewertung des Betriebsvermögens und des Privatver-mögens vorgenommen. Wir haben das gemeinsam ge-tan, Bundestag und Bundesrat, weil wir uns von demGedanken haben leiten lassen, daß in Deutschland dieBetriebsübergänge beim Erbgang von der Erbschaftsteu-er weitestgehend verschont bleiben sollen. Wenn Sie dieBewertungsgrundlagen für die Anwendung des Erb-schaftsteuergesetzes heute verschärfen, dann verschärfenSie zwangsläufig die steuerliche Belastung all der Un-ternehmen, die sich in den nächsten Jahren und Jahr-zehnten im Erbübergang an die nächste Generation be-finden.
Sie kommen wegen dieses Sachzusammenhangs, denich aufgezeigt habe, nicht umhin, eine höhere Steuerbe-lastung zu realisieren.
Die eigentümergeführten Unternehmen in Deutschland –insbesondere die des Mittelstandes – können eine höhereErbschaftsteuerbelastung beim Übergang in die nächsteGeneration ohne Gefährdung ihrer Existenz nicht tragen.
Das sollten Sie wissen, Herr Eichel, wenn die Diskussi-on über die Erbschaftsteuer ihren Fortgang nimmt.Ich will Ihnen an dieser Stelle sagen, wo es in derSteuerpolitik eine Gerechtigkeitslücke gibt. Ich bindankbar, daß Sie, Herr Bundeskanzler, wieder da sind.
– Nein, er war eben nicht da; aber das ist ja auch in Ord-nung.
– Ich war die ganze Zeit da; andere waren es nicht. Aberdas ist doch kein Thema!
– Ich habe gesagt: Ich freue mich, daß der Bundeskanz-ler wieder da ist. Teilt die SPD-Bundestagsfraktion dieseFreude? – Danke schön.Ich will auf eine wirkliche Gerechtigkeitslücke hin-weisen, die in der Steuerpolitik in der Tat besteht: DieBesteuerung von Kapitalerträgen ist nach wie vornicht gleichmäßig. – Herr Bundeskanzler, Sie nicken. Eswar eines Ihrer großen Vorhaben für die deutsche Rats-präsidentschaft, während der ersten sechs Monate desFriedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
4540 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Jahres 1999 eine entsprechende Richtlinie in der Euro-päischen Union durchzusetzen,
die diese Gleichmäßigkeit der Besteuerung in Europatatsächlich verwirklicht. Das war eines Ihrer großenVorhaben.
Nur, in der entscheidenden Phase, als dies in Brüsselmöglich war – und zwar auf Grund von Vorarbeiten, dieTheo Waigel geleistet hat –, ist der BundesrepublikDeutschland der Finanzminister abhanden gekommen.
Ich komme zum letzten Thema, den sogenanntenSteuerschlupflöchern, die auch heute schon mehrfachzitiert worden sind. Richtig ist, daß unser außergewöhn-lich kompliziertes Steuerrecht eine ganze Reihe von Ge-staltungsmöglichkeiten eröffnet, die wir aber, als derGesetzgeber sie verabschiedet und in Kraft gesetzt hat,fast alle gekannt haben. Es handelt sich also nicht umSteuerschlupflöcher, sondern es handelt sich in der Re-gel um Steuergestaltungsmöglichkeiten, die wir ausfinanz-, steuer- oder wirtschaftspolitischen Begründun-gen für richtig gehalten haben.Sie haben jetzt eines dieser sogenannten Steuer-schlupflöcher geschlossen, indem Sie die sogenannteMindestbesteuerung eingeführt und die eigentlich rich-tige und notwendige Verrechnungsmöglichkeit vonpositiven und negativen Einkünften bei den ver-schiedenen Einkunftsarten des Einkommensteuergeset-zes stark begrenzt haben. Das ist sehr kompliziert. Aberich will Sie auf eine Konsequenz hinweisen: Durch die-se Mindestbesteuerung und durch die nicht mehr vor-handene Möglichkeit, entstandene Verluste bei der einenEinkunftsart mit Überschüssen der anderen Einkunftsartzu verrechnen, gefährden Sie in ihrer Existenz ganzeBranchen, insbesondere diejenigen, deren Unternehmenin den ersten Monaten ihrer unternehmerischen Tätigkeitzwangsläufig hohe Anlaufverluste erwirtschaften.Ich nenne Ihnen eine Branche, die zu den in der Bun-desrepublik Deutschland sich wirklich gut entwickeln-den Branchen gehört und die gar nicht weit von diesemOrt ihr neues Zentrum gründet, nämlich die Filmwirt-schaft in Deutschland. Die produzierenden Unternehmender Filmwirtschaft erwirtschaften in den ersten Monatenihrer Tätigkeit typischerweise hohe Verluste, weil in denersten Monaten der Tätigkeit eines solchen Produktions-unternehmens sämtliche Kosten anfallen. Sie versagenmit der fehlenden Möglichkeit der Verlustverrechnungmit anderen Einkunftsarten diesen Unternehmen jedeStartchance. Sie werden in den nächsten Jahren erleben,daß in der Bundesrepublik Deutschland die Filmwirt-schaft kaum noch eine Chance hat, weil auf diese Artund Weise Verluste mit anderen Einkommen nicht mehrverrechnet werden können. Dieser Weg ist falsch, HerrEichel, und er sollte im Zuge des Steuerentlastungsge-setzes korrigiert werden.
Lassen Sie mich zum Schluß deutlich machen, daßwir uns hier nicht um Details streiten. Manche steuer-politische Einzelfallregelung erweckt den Eindruck, alsgehe es hier wirklich nur um Stellen hinter dem Komma.In Wahrheit geht es in der steuerpolitischen Auseinan-dersetzung zwischen Regierung und Opposition um diegrundlegende Ausrichtung der Steuerpolitik in Deutsch-land.Wir widersprechen Ihnen mit Nachdruck, daß dieSteuerpolitik, wenn sie nur ein höchstmögliches Maß anVerteilungsgerechtigkeit und ein höchstmögliches Maßan Binnenkaufkraft realisiert, zu den gewünschten Er-gebnissen auf dem Arbeitsmarkt führen kann. Die Bun-desrepublik Deutschland braucht eine Steuerpolitik, diesich ganz strikt darauf konzentriert, die internationaleWettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Deutschlandzu verbessern und nicht zu verschlechtern, eine Steuer-politik, die sich strikt darauf konzentriert, die Investiti-ons- und Wachstumskraft dieser Volkswirtschaft zustärken. In den ersten zehn Monaten einer real existie-renden rotgrünen Bundesregierung in Deutschland istgenau das Gegenteil von dem eingetreten.
Herr Kollege, den-
ken Sie an die Redezeit?
Deswegen sage ich Ih-
nen eine sehr konstruktive, sehr kritische, in der Sache
aber harte Auseinandersetzung über den zukünftigen
Weg der Steuerpolitik dieser Bundesregierung voraus.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Kollegin Barbara Hen-
dricks.
Herr Kollege Merz,ich will nicht auf alles eingehen, was Sie in Ihrer Redevorgetragen haben.
Das geht auch nicht im Wege einer Kurzintervention. Ihre Rede hat sich nahtlos in das eingefügt, was wir inder letzten Zeit von Oppositionspolitikern erleben müs-sen. Sie beklagen die Verunsicherung der deutschenWirtschaft und tragen dennoch durch Fehlinformationenin allen steuerpolitischen Bereichen massiv zur Verunsi-cherung der deutschen Wirtschaft bei.
Friedrich Merz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4541
(C)
(D)
Sie tun das teilweise wider besseres Wissen, teilweiseaber auch in Unkenntnis des Steuerrechts.Ich will jetzt nur ganz kurz auf das eingehen, was Siezum Erbschaftsteuerrecht gesagt haben, und dem HohenHause folgendes mitteilen. Es gibt im Bundesfinanzmi-nisterium eine Arbeitsgruppe von Beamten aus Bundund Ländern, die sich mit Bewertungsfragen befaßt.Sie wird im nächsten Jahr ihren Bericht vorlegen. DieBeamten kommen, wie gesagt, aus dem Bund und meh-reren Ländern. Die Länder sind nicht politisch sortiert,sondern es handelt sich um eine ganz normale Arbeits-gruppe, die sich mit Bewertungsfragen befaßt.Bewertungsfragen gelten natürlich nicht nur für dasErbschaftsteuerrecht, sondern Bewertungsfragen vonImmobilienvermögen gelten natürlich auch für dasGrundsteuerrecht. In der Tat gibt es auch aus techni-schen Gründen möglicherweise Anpassungsnotwendig-keiten. Es ist im übrigen so, daß wir das bebaute und dasunbebaute Immobilienvermögen durchaus unterschied-lich bewerten und daß wir es anders bewerten als ande-res Vermögen. Das ist auch ein Grund dafür gewesen,weswegen gerade das im Vermögensteuerurteil desBundesverfassungsgerichts gegeißelt worden ist. Ver-gleichbares, was im Vermögensteuerrecht als nicht mehrzulässig bezeichnet worden ist, haben wir im Erb-schaftsteuerrecht.Damit ist aber keinesfalls irgendeine politische Vor-entscheidung darüber gefällt worden, wie man mit demErbschaftsrecht in Zukunft umgehen wird. Es muß aberdoch möglich sein, daß sich Beamte Gedanken über dieFortentwicklung des Steuerrechts unter verfassungs-rechtlichen Gesichtspunkten machen können.Sie haben davon gesprochen, daß es schwierig ist,den Übergang von Betriebsvermögen zu organisieren.Deshalb darf ich die gesamte Öffentlichkeit darauf hin-weisen – Ihnen, Herr Merz, ist das wohl bewußt; Sie sa-gen das wider besseres Wissen –, daß wir so umfangrei-che Freibeträge bei der Erbschaftsteuer auf Betriebs-vermögen haben, daß eine Witwe mit zwei Kindern einBetriebsvermögen in Höhe von 2,7 Millionen DM voll-kommen erbschaftsteuerfrei erben kann. Der von Ihnenangesprochene Mittelstand, der normale Handwerksbe-trieb und alle anderen, die man dabei ins Auge fassenkann, können also im Regelfall erbschaftsteuerfrei er-ben.
Herr Kollege Merz,
möchten Sie darauf antworten? Es muß nicht sein. Bitte.
Ich mache nicht von
den drei Minuten Gebrauch, die die Kollegin bean-
sprucht hat. Ich will nur eines sagen: Ein Betriebsver-
mögen in Höhe von 2 Millionen DM oder 2,5 Millionen
DM ist noch nicht einmal das Vermögen eines sehr klei-
nen mittelständischen Unternehmens.
Ich nehme Ihre Kurzintervention zum Anlaß, festzu-
stellen, daß Sie im Bundesfinanzministerium nur über
Bewertungsfragen und nicht über Steuererhöhungsfra-
gen nachdenken lassen. Wenn das anders ist, bitte ich
um ausdrücklichen Widerspruch, damit wir bei Gele-
genheit darauf zurückkommen können.
Herzlichen Dank.
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Gisela Frick.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Die Kurzintervention der Frau Staats-sekretärin Hendricks kann nicht ganz unwidersprochenbleiben, auch wenn Herr Merz schon selbst geantwortethat. Sie haben damit einen ganz interessanten Punkt an-gesprochen, nämlich die Diskussion über die Vermö-gensteuer bzw. Vermögensabgabe in Ihrer Koalition,insbesondere in der SPD-Fraktion. Sie haben gesagt: DieBewertung brauchen wir nur für die Erbschaftsteuer, al-lenfalls noch für die Grundsteuer. Genau das war einwesentlicher Vorteil der Neuregelung, die wir, unsereKoalition, in der letzten Wahlperiode getroffen haben.Wenn Sie jetzt wieder zur Vermögensteuer oder zueiner Vermögensabgabe zurückwollen, stehen Sie wie-der vor dem Problem, daß Sie eine Dauerbewertung fürdie Immobilien – egal, ob bebaut oder unbebaut, ob pri-vat oder betrieblich – brauchen. Insofern haben Sie hierschon wunderbar die Argumente vorgetragen, die wirspäter beim Kampf gegen eine Vermögensteuer oder ei-ne Vermögensabgabe benutzen werden. Wir brauchen soetwas in Zukunft nicht mehr, und wir wollen auch nichtdahin zurück. Das ist ganz eindeutig unsere Position.Deshalb wollen wir auch nichts mehr von der Bewer-tung des Immobilienvermögens hören.
Daß die Vermögenswerte für Immobilien verhältnis-mäßig schonend festgesetzt werden, haben wir über-haupt nicht bestritten. Aber das Bundesverfassungsge-richt hat dies ausdrücklich zugelassen. Nicht zugelassenhat das Bundesverfassungsgericht, daß sozusagen aufkaltem Wege die Werte bei der Einheitsbewertung nichtmehr stimmten.
Das Gericht hat aber ausdrücklich gesagt, wenn es –insbesondere aus Gründen der Sozialpflichtigkeit, wie esbeim Betriebsübergang der Fall ist – gewollt sei, dannkönne es gemacht werden. Das gilt natürlich auch fürimmobiles Vermögen. Das haben wir damals auf meinBetreiben – daran erinnere ich mich noch – in die Be-gründung hineingeschrieben, so daß wir auch deshalbetwas schonender an die Bewertung des Immobiliarver-mögens herangegangen sind, weil hier eben die Sozial-bindung gegeben ist. Insofern müssen hier andere Re-geln als beim Geldvermögen oder bei sonstigem leichtzu bewertenden Vermögen herrschen.Ich möchte die Mahnung von Ihnen, Herr Eichel,aufgreifen, beim Thema zu bleiben. Ich weiß allerdingsnicht, ob bei Ihnen die Freude größer wird, wenn ichDr. Barbara Hendricks
Metadaten/Kopzeile:
4542 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
beim Thema bleibe. Versprechen kann ich Ihnen dasbeim besten Willen nicht.Wir haben heute drei Steuergesetze zu debattieren.Bei allen drei Steuergesetzen stimmt schon die Über-schrift nicht.
– Ich komme gleich zur Familienförderung, Herr Mül-ler; keine Sorge! – Es wäre ja nicht schlimm, wenn esnur eine Frage der Sprache wäre. Aber diese falschenÜberschriften zeigen eben auch die falsche „Denke“, diebei Ihnen in der Regierungskoalition herrscht.Fangen wir gleich mit der Familienförderung an,Herr Müller. Der Entwurf heißt „Gesetz zur Familien-förderung“. Familienförderung ist aber ein äußerstschmaler Bereich des Inhalts dieses Gesetzentwurfes.Das haben Sie in § 31 selbst ganz klar ausgeführt –schauen Sie in Ihren eigenen Entwurf hinein –, wo esheißt, Aufgabe des Freibetrages sei es, das sächlicheExistenzminimum und den Betreuungsbedarf steuerfreizu stellen. Die entsprechende Forderung haben wirschon seit langer Zeit immer wieder vom Bundesverfas-sungsgericht auf den Tisch bekommen. Wenn es nur umdie Freistellung des Existenzbedarfes geht, ist von För-derung noch überhaupt keine Rede,
ob es sich nun um das sächliche Existenzminimum oderum den jetzt neu einzuführenden Betreuungsbedarf han-delt. Es ist eine selbstverständliche Folge der Besteue-rung nach der Leistungsfähigkeit.
Wenn Aufwand für den Unterhalt von Kindern und fürdie Betreuung von Kindern anfällt, dann ist die Steuer-freistellung eine Selbstverständlichkeit
und noch keine Förderung.Förderung ist nur in dem schmalen Bereich gegeben,in dem das Kindergeld für die Steuerfreiheit des Exi-stenzminimums – wohlgemerkt: unter Einschluß desBetreuungsbedarfes – nicht erforderlich ist. Da ist einkleiner Überschuß und manchmal auch ein etwas größe-rer Überschuß vorhanden, und da gibt es eine Förde-rung. Aber der Schwerpunkt des Gesetzes liegt ganzeindeutig auf der Steuerfreistellung des Existenzmini-mums und damit natürlich auch auf einer entsprechen-den Durchführung mittels Freibeträge.In diesem Zusammenhang muß ich leider auf etwaszurückkommen, was ich in meiner allerersten Rede imJanuar 1995, in meiner sogenannten Jungfernrede, imBundestag schon einmal gesagt habe und was leiderimmer noch aktuell ist: Wenn Sie immer wieder ge-betsmühlenhaft behaupten – das gilt beileibe nicht nurfür Sie, Herr Müller, der sie gerade so erwartungsfrohgucken, sondern für die ganze Koalition –,
daß jedes Kind dem Staat gleich viel wert sein muß,dann sage ich: Genau das wird mit den gleich hohenFreibeträgen gemacht.
Ich will nicht für Kinder von Beziehern höherer Ein-kommen den Kaviar berücksichtigen, indem ich einenhöheren Freibetrag für das sächliche Existenzminimumeinsetze, und ich will auch nicht die englische Nurse be-rücksichtigen, indem ich einen höheren Freibetrag fürdie Kinderbetreuungskosten einsetze. Vielmehr ist es einund derselbe Freibetrag. Die Tatsache, daß er sich unter-schiedlich auswirkt, ist ausschließlich nur eine Folge derSteuerprogression.
Ich habe schon 1995 gesagt: Wenn Sie diese Situationnicht wollen, dann seien Sie bitte auch konsequenter-weise gegen einen progressiven Tarif bei der Einkom-mensteuer. Das höre ich aber von Ihnen beileibe nicht.Seien Sie also konsequent!Wenn Sie darüber hinaus mehr für eine echte Förde-rung der Familien tun wollen, dann erhöhen Sie dasKindergeld.
Diese Maßnahme können Sie zusätzlich durchführen. Indiesem Punkt werden Sie uns immer an Ihrer Seite fin-den. Es geht aber in erster Linie um die steuerlicheKomponente. In diesem Zusammenhang – das hat ebenauch die Staatssekretärin gesagt – reicht die Regelungbezüglich des Freibetrages natürlich aus, weil es dabeinur um eine gerechte Erfassung der Leistungsfähigkeitgeht.Soweit meine kurzen Ausführungen zu dem Gesetz-entwurf zur sogenannten Familienförderung.Wenn Sie den Gesetzentwurf zur Ökosteuer als den„Entwurf eines Gesetzes zur Fortführung der ökologi-schen Steuerreform“ bezeichnen, dann kann ich nursagen: Dieser Gesetzentwurf ist nicht nur für die Op-position, sondern für die gesamte Bevölkerung eineDrohung,
weil Sie diesen Unsinn, den Sie mit der ersten Stufe derökologischen Steuerreform angerichtet haben, noch fort-führen wollen. Obwohl es heute schon häufiger gesagtworden ist, stelle ich noch einmal fest: Es handelt sichum ein Abkassieren und hat überhaupt keinen ökologi-schen Sinn.
Gisela Frick
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4543
(C)
(D)
Ich will es einmal ein wenig auf die Spitze treiben.Wir haben heute von der Koalition mehrfach gehört, daßdiese Ökosteuer hinsichtlich der volkswirtschaftlichenGesamtbelastung aufkommensneutral ist. Ich sage: Eshandelt sich um eine reine Aufkommenssteuer, die,wenn Sie Glück haben, im besten Falle ökoneutral ist.Aber auch das bezweifle ich.
Ich brauche nicht noch einmal zu betonen – dieser Punktist schon x-mal angesprochen worden –, daß eine sozialeSchieflage vorliegt, weil eine Deckung allenfalls im ge-samtvolkswirtschaftlichen Vergleich einigermaßen vor-handen ist.Ich komme zu dem dritten Gesetzentwurf, zu demEntwurf des sogenannten Steuerbereinigungsgesetzes.Wie kann man um Gottes Willen etwas bereinigen, wasim Kern so verkorkst ist, daß es verkorkster gar nichtmehr sein kann?
Da ein kleines bißchen Kosmetik zur Bereinigung zubetreiben reicht überhaupt nicht aus.Herr Eichel, ich habe mich sehr gefreut, als Sie in derersten Woche nach ihrem Amtsantritt dem Finanzaus-schuß einen Besuch abgestattet haben – im Gegensatz zuIhrem Vorgänger, der nie erschienen war. Sie haben unsbei diesem Besuch die Agenda für die künftige Arbeitim Finanzausschuß vorgetragen. Vielleicht erinnern Siesich, daß ich damals schon gesagt habe: Alles, was Sievorgetragen haben, insbesondere in bezug auf die Un-ternehmensteuerreform, ist richtig; das sehen wir genau-so. Wir warten gerne ab, welche Regelungen folgenwerden. Ich habe Ihnen damals auch gesagt, daß Sie et-was ganz Wichtiges vergessen haben. Ich habe Sie dar-auf aufmerksam gemacht, daß wir – damit meine ich dieRegierungsfraktionen im Bundestag und nicht die Oppo-sitionsfraktionen – die ganze Legislaturperiode damitbeschäftigt sein werden, Korrekturgesetze durchzuzie-hen, um den Unsinn, der zu Beginn dieser Legislaturpe-riode angerichtet wurde, wieder einigermaßen aus derWelt zu schaffen.Jetzt machen Sie mit dem sogenannten Steuerbereini-gungsgesetz einen allerersten zaghaften Schritt; denninteressanter als das, was darin enthalten ist, ist eigent-lich all das, was fehlt, was aber auch bereinigt werdenmüßte.
Es ist eine Katastrophe, daß es in diesem Zusammen-hang nur wenige Änderungen, zum Beispiel hinsichtlichdes § 50a Abs. 7, gibt. In der Begründung zu dieser Än-derung heißt es, daß sich nach den bisherigen Erkennt-nissen die neue Vorschrift zur Erreichung des ge-wünschten Zieles nicht bewährt hat. Das haben Sie im-merhin schon im August erkannt, nachdem Sie im Märzdieses Gesetz, das am 1. April in Kraft treten sollte, er-lassen hatten. Konsequenterweise wird es rückwirkendzum 1. April schon wieder außer Kraft gesetzt. Mit an-deren Worten: Es galt also nie. Dennoch wollen Sie unserzählen, daß durch Ihre Politik die Wirtschaft nichtverunsichert wird. Ja, man weiß doch überhaupt nicht,was heute gilt.
Wir haben keine Klarheit darüber, ob Sie im Oktobernicht rückwirkend zum April Gesetze ändern, die dieUnternehmer und die Bürger heute für geltendes Rechthalten.Eine Bereinigung reicht nicht aus. Sie müssen viel-mehr neu von vorne anfangen. Ich habe schon in eineranderen Diskussion über die Steuerpolitik gesagt: Ihregrundsätzliche Konzeption ist falsch. Stampfen Sie allesein! Der Papierkorb reicht dazu nämlich nicht aus, allen-falls der Reißwolf. Machen Sie alles noch einmal neu,und machen Sie es richtig!Sie haben uns damals im Finanzausschuß – das habeich mit großem Vergnügen gehört – versprochen: In Zu-kunft soll Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen. Ich erinnereSie an dieses Versprechen.Das Steuerbereinigungsgesetz ist schon wieder einSchnellschuß, von Sorgfalt ist nichts zu sehen. Also ma-chen Sie alles noch einmal neu! Gucken Sie sich die Er-kenntnisse bitte noch einmal im Lichte des Septembersdieses Jahres an, und Sie werden feststellen, daß sichnoch viele andere Regelungen im sogenannten Steuer-entlastungsgesetz, das seit dem 1. April dieses Jahresgilt, nicht bewährt haben und sich gar nicht bewährenkönnen. Und deshalb holen Sie es bitte alles wieder zu-rück.Danke schön.
Jetzt hat das Wort
der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, sicher. Sachsen kommtauch noch.
– Na, nun übertreiben Sie doch nicht so schamlos.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich mußschon etwas zu den Vorwürfen des Bundesfinanzmi-nisters an unsere Adresse sagen. Das kann ich so nichtstehenlassen. Sie haben zunächst kritisiert, daß über die eigentli-chen Gesetze kaum gesprochen worden sei – was jaauch stimmt – und haben dann wiederum kritisiert, diePDS-Fraktion habe keine Vorschläge gemacht und sichüberhaupt nicht mit dem Thema des Abbaus der Staats-verschuldung befaßt. Das war heute eigentlich nicht derGegenstand der Debatte. Das wird in der nächsten Wo-che Gegenstand sein, wenn es denn um den Bundes-haushalt für das Jahr 2000 geht.Gisela Frick
Metadaten/Kopzeile:
4544 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Abgesehen davon ist aber diese Darstellung vonIhnen auch falsch, Herr Bundesfinanzminister. Es gibtzahlreiche Vorschläge der PDS-Bundestagsfraktion,wieman Staatsverschuldung abbauen kann. Sie können sa-gen, daß Ihnen diese Vorschläge nicht gefallen. Sie kön-nen ja auch sagen, sie gehen Ihrer Meinung nach in diefalsche Richtung. Aber Sie können nicht behaupten, daßes diese Vorschläge nicht gibt. Das finde ich dann un-redlich.
Wenn wir sagen, die Einführung einer Vermögen-steuer nach amerikanischem Vorbild würde in Deutsch-land zum Beispiel eine Mehreinnahme von 30 bis 40Milliarden DM bringen, dann ist das eben ein Vor-schlag. Wir fordern, den Spitzensatz der Einkommen-steuer nicht zu senken. Wenn man diesen Steuersatz umeinen Prozentpunkt senkt, dann bedeutet das eben, daßman pro Prozentpunkt 1 Milliarde DM weniger hat. Siewollen ihn insgesamt um 4,5 Prozentpunkte senken. Dassind dann 4,5 Milliarden DM.Wir haben auch Vorschläge zu den Unternehmen-steuern gemacht, wobei ich noch einmal vor Mißver-ständnissen warne. Auch ich sage, die kleinen und mit-telständischen Unternehmen sind in Deutschland zuhoch besteuert. Das Problem sind die Banken, die Versi-cherungen und die Konzerne, die sich aus der Finanzie-rung der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet ha-ben. Dafür haben Sie keine Lösungsansätze vorgelegt.Also machen wir Vorschläge.
Genauso haben wir Vorschläge auch zur Ausgaben-seite gemacht. Glauben Sie denn, wir haben alle verges-sen, daß Frau Matthäus-Maier Jahr für Jahr, bei jedemHaushalt – wie ich meine, völlig zu Recht – die alte Re-gierung für den Eurofighter kritisiert hat? Was lese ichin Ihrem Entwurf`? 1,7 Milliarden DM für das Jahr2000. Nichts hat sich diesbezüglich an der Ausgaben-seite geändert.
Da können wir auch über den Transrapid reden und überandere Großprojekte.Jetzt können Sie sagen, das sei alles falsch. Sie ma-chen lauter andere Vorschläge, Herr Bundesfinanzmini-ster; in Ordnung. Aber Sie können nicht sagen, daß wirkeine machen. Das, finde ich, geht einfach zu weit.Dann noch einen Satz zum Kindergeld. Es ist dochnicht so, daß wir das im luftleeren Raum vorschlagen,sondern dahinter steckt doch ein anderes Konzept. Wirsagen eben, die Methode, über Freibeträge zu gehen, istim Ergebnis falsch, weil es Millionen gibt, die eben keinEinkommen haben, die keine Einkommensteuer zahlenund die deshalb nichts davon haben.
Deshalb schlagen wir vor, langfristig den Weg zu gehen,das Kindergeld zu erhöhen und die Freibeträge abzubau-en und im übrigen das Ehegattensplitting aufzugeben.Damit wäre das Ganze auch finanzierbar.
Nun lassen Sie mich noch ein Wort zu den Kapital-lebensversicherungen sagen.
Aber nur ein Wort,
denn ich habe Ihnen schon ein bißchen Redezeitüber-
schreitung eingeräumt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wissen Sie, ich habe gar
nicht gesagt, ob ich dafür oder dagegen bin. Nein, da bin
ich viel zu vorsichtig.
– Ja, ich habe nur auf einen Widerspruch hingewiesen. –
Sie können doch nicht einerseits überall erklären, die
Rente sei zukünftig nicht mehr sicher und die Leute
sollten deshalb durch Lebensversicherungen privat vor-
sorgen, um dann andererseits zu sagen, daß sie, falls sie
es tun, steuerlich zur Kasse gebeten werden. Das ist ein
Widerspruch in sich. Auf den wird man doch wohl noch
hinweisen dürfen.
Danke schön.
Ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwür-fe auf den Drucksachen 14/1513, 14/1524, 14/1514 und14/1546 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? –Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9a bis 9d sowie dieZusatzpunkte 4 bis 6 auf: 9a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Michael Luther, Dr. Angela Merkel, GerdaHasselfeldt, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUAufbau Ost endlich wieder richtig machen– Drucksache 14/1210 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder(federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuß für die Angelegenheiten derEuropäischen UnionHaushaltsausschußDr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4545
(C)
(D)
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Michael Luther, Kurt-Dieter Grill, Dr. AngelaMerkel, weiterer Abgeordneter und der Frakti-on der CDU/CSUStrompreise in Deutschland angleichen –neue Stromsteuern im Osten aussetzen– Drucksache 14/1314 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder(federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitc) Beratung des Antrags der Fraktion der PDSFahrplan zur Angleichung der Lebensver-hältnisse und zur Herstellung von mehrRechtsicherheit in Ostdeutschland – „Chef-sache Ost“– Drucksache 14/1277 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder(federführend)InnenausschußRechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuß für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuß für Kultur und Mediend) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie wirtschaftliche Stärkung der neuenLänder – Voraussetzung für die Gestaltungder deutschen Einheit– Drucksache 14/1551 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder(federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuß ZP4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Cor-nelia Pieper, Dr. Karlheinz Guttmacher, JoachimGünther, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs einesZweiten Gesetzes zur Änderung des Ver-kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes– Drucksache 14/1540 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen(federführend)RechtsausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Angelegenheiten der neuen LänderAusschuß für Tourismus ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTürk, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Aufbau Ost muß weitergehen– Drucksache 14/1542 –
Haben Sie nicht neun Jahre Zeit gehabt, die Weichenrichtig zu stellen?
Gerechterweise will ich zugeben, daß die Ostdeutschenin Ihrer Fraktion schon öfter den Mund gespitzt haben.Aber gepfiffen haben sie nie.Sie wissen wie ich, in welcher Haushaltssituation wirsind; wir haben gerade über drei Stunden darüber debat-tiert. Die Tatsache, daß ein Fünftel der Haushaltsmittelallein für den Zinsendienst aufgewendet werden muß,zeigt, wie eng die Handlungsspielräume für gestaltendePolitik geworden sind. Daran sind nicht wir Sozialde-mokraten schuld, sondern die alte Regierung, die dieseSchulden aufgehäuft hat. Ich weiß natürlich – und stelledas in Rechnung –, daß die Finanzierung der deutschenEinheit dazu beigetragen hat. Dies will ich in keinerWeise herunterreden.Ein paar Zahlen zur Illustration. Die Gesamtschul-den aller Gebietskörperschaften in der Bundesrepublikstiegen von 1 048 Milliarden DM im Jahre 1990 auf2 341 Milliarden DM im Jahre 1999; das ist ein Anstiegvon 1 297 Milliarden DM in weniger als 10 Jahren. Ver-glichen mit dem Jahrzehnt zuvor hat sich das Verschul-dungstempo verdoppelt.Vizepräsidentin Anke Fuchs
Metadaten/Kopzeile:
4546 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Besonders dramatisch ist dabei die Verschuldungs-lage beim Bund. Nahm der Bund in den 80er Jahren ins-gesamt 290 Milliarden DM neue Schulden auf, so stiegdie Verschuldung in den 90er Jahren um 847 MilliardenDM, das heißt, das Verschuldungstempo verdreifachtesich fast.
– 1,5 Billionen DM.Die Tragweite dieser Staatsverschuldung ist nurschwer zu begreifen, weil das menschliche Denkver-mögen kaum ausreicht, diese Zahl mengenmäßig zu er-fassen. Um es plastisch auszudrücken: Pro Kopf dergesamten Bevölkerung, vom Säugling bis zum Greis,stieg die Bundesschuld von 6 777 DM auf 16 945 DM;also ein Anstieg von über 150 Prozent in nur neun Jah-ren. Das ist die schwere Erblast, die uns alle so be-drückt und der die Regierung Schröder nun endlichauch zu Leibe rückt. Dazu gibt es keine, aber auch kei-ne Alternative.Auch wenn mancher Wähler den steinigen Weg, denwir nun gehen müssen, nicht mitgehen mag, bleibt dasZiel doch richtig. Wer einen besseren, einen bequemerenWeg weiß, der möge das auch sagen.Wir Ostdeutschen sind bereit, unseren Beitrag zurHaushaltskonsolidierung zu leisten, weil diese Konso-lidierung kein Selbstzweck ist. Sie ist unumgänglich,um die notwendigen Handlungsspielräume für gestal-tende Politik zurückzugewinnen, die in der Regie-rungszeit von Kohl verlorengegangen sind. Der falscheMix aus Kreditaufnahme, Ausgabenkürzungen undSteuererhöhungen hat zwar am Beginn der 90er Jahrezu einer Scheinblüte in Ost und West geführt, aber fürdiese Scheinblüte zahlen wir heute bitter mit Zins undZinseszins.Deshalb ist das Zukunftsprogramm 2000 der neuenBundesregierung so wichtig und so richtig.
Ich denke, es liegt vor allem im Interesse der neuenLänder, weil uns die Verringerung der Ausgaben für dieZinsen im Bundeshaushalt wieder in die Lage versetzt,politisch zu gestalten und die Förderung der neuen Län-der fortzusetzen.Die neuen Länder brauchen noch auf absehbare Zeiteinen wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitisch ak-tiven Staat, um gleichwertige und einheitliche Lebens-bedingungen in ganz Deutschland zu verwirklichen.Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren;denn wir können es auf Dauer nicht hinnehmen, daß dasLeben in einem begrenzten Teil Deutschlands einenNachteil bedeutet. Dabei sind populistische Anträgeohne brauchbare Finanzierungsvorschläge genausowenighilfreich wie Wahlkampfanträge, die uns hier vorliegen.
Eines möchte ich betonen: Niemandem in Deutsch-land, auch nicht unseren westdeutschen Mitbürgern, kanndaran gelegen sein, durch überzogene Haushaltsbeschlüs-se des Bundes den wirtschaftlichen Aufbau in den neuenLändern zu beeinträchtigen oder gar zu gefährden.
Je länger es dauert, die wirtschaftliche Leistungsfähig-keit und damit die Lebensverhältnisse anzugleichen,desto länger wird Ostdeutschland am Tropf hängen müs-sen. Der Aufbau Ost behält – das kann ich für meineFraktion sagen – auch in dieser schwierigen Haushalts-situation höchste Priorität. Dies ist auch die Linie derBundesregierung.
Im übrigen: Für den Aufbau Ost ist nicht die absoluteHöhe des Fördervolumens entscheidend, sondern dasPräferenzgefälle zwischen Ost und West. Eine intelli-gente Sparpolitik kann beides erreichen: den Haushaltkonsolidieren und durch ein Präferenzgefälle zwischenOst und West das Investieren in den neuen Ländernwieder attraktiver gestalten.Deshalb ist es richtig, die bisher angewandten Förder-instrumente auf den Prüfstand zu stellen, um Effizienzund Zielgenauigkeit zu verbessern. Wenn dabei Finanz-mittel eingespart werden können – um so besser. Wirwerden aber nicht nur Förderprogramme auf den Prüf-stand stellen, sondern auch Sonderregelungen daraufhinprüfen, ob sie noch ostdeutschen Sondertatbeständen ent-sprechen oder ob inzwischen die Voraussetzungen dafürgegeben sind, gesamtdeutsche Regelungen zu treffen.Ein Sondertatbestand, dem wir besondere Aufmerk-samkeit widmen müssen, ist die Tatsache, daß wir auchunter den Bedingungen der liberalisierten Strommärktefür die ostdeutsche Braunkohleproduktion und die Ver-stromung der Braunkohle eine wettbewerbskonformeÜbergangsregelung brauchen werden.Im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost treibt michein anderes Thema um: Die F.D.P. will den Solidarzu-schlag abschaffen, die CSU will die Förderung im Ostenvom Wohlverhalten oder besser Wahlverhalten der Bür-ger abhängig machen,
und die Südländer stellen den Finanzausgleich in Frage.
Der Angriff einiger unionsgeführter Länder auf dasFöderale Konsolidierungsprogramm zielt unmittelbarauf die neuen Länder; denn 85 Prozent der durch dasFKP umverteilten Steuereinnahmen fließen im Momentnoch dorthin. Nach Berechnungen des Finanzministe-riums von Sachsen-Anhalt würde die Verwirklichungder Vorschläge der Südländer in den ostdeutschen Län-dern zu Mindereinnahmen in Höhe von über 10 Mil-liarden DM führen. Andere Berechnungen weisen sogarzirka 20 Milliarden DM aus.
Sabine Kaspereit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4547
(C)
(D)
Die Finanzkraft der Einwohner der neuen Länder liegtjedoch nur bei 60 Prozent des Durchschnitts aller Bun-desländer.
Deshalb ist es für uns Ostdeutsche völlig unverständ-lich, daß sich CDU-geführte Länder, die ihren eigenenWohlstand der Solidarität der Länder untereinander ver-danken, nun aus diesem Zusammenhalt verabschiedenwollen. Hätten diejenigen Länder, die heute dem Wett-bewerbsföderalismus das Wort reden, dies vor 30 Jahrengetan, wäre Bayern vermutlich ein Agrarland geblieben– vielleicht mit der lila Kuh als Wahrzeichen.
Ich frage mich: Wie stehen eigentlich die Ministerpräsi-denten Vogel und Biedenkopf zu den Vorschlägen derHerren Stoiber, Teufel und Koch? Nebenbei: War es nicht Franz Josef Strauß, der zu-sammen mit Karl Schiller in der großen Finanzreform1967 das Konzept des kooperativen Föderalismus voll-endet und verfassungsrechtlich abgesichert hat? DiesesKonzept wird heute von seinen politischen Enkeln alsbürokratisch, bürgerfern und unitaristisch-zentralistischdenunziert, nun, da man es offensichtlich selber nichtmehr braucht.Was wäre die Folge für den Osten? Die Investitions-tätigkeit der öffentlichen Hand käme zum Erliegen. Dergerade für die wirtschaftliche Gesundung notwendigeAufbau der öffentlichen Infrastruktur würde abgebro-chen werden. Dies wiederum hätte erhebliche Konse-quenzen für die private Investitionstätigkeit. Kurz ge-sagt: Der Aufbau Ost würde auf den Sankt-Nimmer-leins-Tag verschoben werden, mit all den Folgen, vordenen ich nur warnen kann. Ein solcher Wettbewerbs-förderalismus muß zum Scheitern dessen führen, was imOsten schon erreicht wurde.Nun dürfen wir wirklich nicht auf halbem Wege ste-henbleiben. Lassen Sie uns lieber in den Wettbewerb derbesseren Konzepte eintreten.
Ich denke, es werden viele Schritte und auch viele guteGedanken notwendig sein. Dazu würde ich Sie gerneinladen.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Paul Krüger.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatzzu Frau Kaspereit denke ich, es ist angemessen, daß wiruns etwa ein Jahr nach Antritt der neuen Bundesregie-rung – zumal dies unsere erste Sitzungswoche hier andiesem Ort ist – mit dem Aufbau Ost beschäftigen. FrauKaspereit, liebe Kollegen von der rotgrünen Koalition,was ich nicht angemessen finde, ist der Zeitpunkt, andem wir hier diskutieren. Mich ärgert schon, daß Sie denZeitpunkt für diese, wie ich meine, wichtige Debatte aufden Nachmittag anberaumt haben.
Wir können dem Bundeskanzler nicht durchgehen las-sen, daß er aus vermeintlichen Termingründen heutenicht hier sein kann. Das ist Ausdruck der Bedeutung,die die ganze Koalition dieser Problematik, nämlich demAufbau Ost, beimißt.Wenn wir uns nach einem Jahr die Bilanz Ihrer Ar-beit anschauen, dann stellen wir fest, daß die Wirtschaftin den neuen Bundesländern stagniert. Auch schonvorher gab es bedenkliche Einbrüche im Bereich derBauwirtschaft. Aber im Bereich des verarbeitenden Ge-werbes kam es noch zu hervorragenden Entwicklungen.Diese Zeit ist jetzt vorbei. Wir haben vor allen Dingeneinen Rückgang im Bereich der Arbeitsplätze zu ver-zeichnen, was mich noch mehr bedrückt als die Erhö-hung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern.Das steht im Gegensatz zu den vielen Versprechen, dieSie vor den Wahlen gemacht haben. Sie haben viel ver-sprochen und angekündigt. Mittlerweile haben sich inOstdeutschland in bezug auf Ihre Politik Enttäuschung,Resignation und Verunsicherung breitgemacht.Wir werden heute von Herrn Schwanitz und auch vonanderen Rednern wahrscheinlich wieder die üblicheFloskel hören, der Aufbau Ost werde auf hohem Niveauweiter gefördert.
Jeder, der in der Politik zu Hause ist, weiß, was daseigentlich heißt. Auf hohem Niveau weiter fördern heißtabsenken.
Dies bedeutet nicht mehr eine Förderung auf dem glei-chen Niveau wie bisher, sondern nur noch auf hohemNiveau.
In der Tat, die Leistungen für die neuen Länder sindreduziert worden und werden nach Ihren Planungenweiter reduziert.
Das geben Sie schon heute mehr oder minder zu. DieOstdeutschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, „habenverstanden“. Eigentlich wollte ich in diesem Zusam-menhang den Bundeskanzler direkt ansprechen; aber derist ja bekanntlich nicht anwesend.Meine Damen und Herren, wir haben uns anzu-schauen, was die Bundesregierung tut. Das für michgrößte und gravierendste Problem hat erst einmal garnichts mit der Förderung zu tun, sondern mit den Bela-stungen, die diese Bundesregierung den Menschen inden neuen Bundesländern zusätzlich aufbürdet.
Sabine Kaspereit
Metadaten/Kopzeile:
4548 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ich nenne das „Benachteiligung durch Gleichbehand-lung“. Die alte Bundesregierung hat die ostdeutschenProbleme sehr wohl immer wieder differenziert be-trachtet und differenziert darauf reagiert. Jetzt wird allespauschal heruntergebügelt.Wir haben zu konstatieren, daß in den neuen und inden alten Bundesländern unterschiedliche Verhältnissebestehen. In den neuen Bundesländern gibt es eine Ver-mögensbasis, die wesentlich schlechter ist als die in denalten Bundesländern. Das haben uns die Kollegen vonder SED bzw. der PDS hinterlassen. Die Menschen inOstdeutschland haben im Durchschnitt ein Geldvermö-gen, das ungefähr einem Drittel dessen entspricht, wasder Bürger in Westdeutschland im Durchschnitt zur Ver-fügung hat.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Nein, ich möchtediesen Gedanken gerne zu Ende bringen. – Sie haben einViertel des Immobilienvermögens, und sie haben niedri-ge Einkommen. Die liegen – wir wissen und bedauern,daß das immer noch der Fall ist – zur Zeit bei 75 Pro-zent. Das ist eine Kluft zwischen Ost und West, die sichnoch verstärkt. In Ostdeutschland gibt es – das sage ichim Zusammenhang mit der Mineralölsteuererhöhung –eine wesentlich geringere Bevölkerungsdichte. Vor die-sem Hintergrund verstärken Sie die Belastungen in Ostund West gleichermaßen.Die Ostdeutschen – das wissen wir inzwischen ausvielen Umfragen – haben als das höchste Ziel, das sieverfolgen, die Gerechtigkeit in den Vordergrund gestellt.Ich habe schon zu DDR-Zeiten einen Spruch über mei-nem Schreibtisch gehabt, der lautete: „Nichts ist un-gerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher!“ Sieaber behandeln Ost und West gleich. Ich nenne im Hin-blick auf die Belastungen einige Beispiele. Die Öko-steuererhöhung wirkt für die Ostdeutschen doppelt hart,weil Sie die gleiche Belastung auf Ost und West vertei-len, die Ostdeutschen aber höhere Mobilitätsanforderun-gen zu realisieren haben. Sie differenzieren überhauptnicht. Auch die Energiepreissteigerungen wirken dop-pelt hart, weil bei der niedrigeren Einkommensbasis einhöherer Anteil des Einkommens für Energie gezahltwerden muß und weil die Energiepreise in Ostdeutsch-land ohnehin schon höher sind. Dann haben Sie be-schlossen, die Renten nur noch um die Inflationsrate zuerhöhen. Das trifft Ostdeutschland doppelt hart, weil dieSteigerungen, an denen die Ostdeutschen bislang teil-hatten, nicht mehr stattfinden. Alles das sind Dinge, diedie Ostdeutschen in doppelter Weise bestrafen. Daswerden wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,nicht durchgehen lassen.
Im übrigen verstoßen Sie mit Ihrer Politik auch gegenArt. 3 des Grundgesetzes, wozu das Bundesverfassungs-gericht festgestellt hat, daß Gleiches gleich und Ver-schiedenes seiner Eigenart entsprechend unterschiedlichzu behandeln ist. Die ehemalige Bundesregierung hatdas immer – bei allen Entscheidungen, die sie getroffenhat – berücksichtigt. Wir fordern Sie auf, die neuenLänder ungleich zu behandeln – bezogen auf die Zu-kunft und auf das, was bisher schon beschlossen ist.Darüber hinaus nehmen Sie – Frau Kaspereit, das istnun wirklich keine Erfolgsstory – Kürzungen in fastallen Bereichen der Förderung vor. Das beginnt beim In-frastrukturausbau, dem nachgewiesenermaßen wichtig-sten Bereich für Ostdeutschland. Sie stehen nicht an, in-soweit zu Streichungen zu kommen. Ich denke, zur ICE-Strecke Nürnberg–Erfurt werden einige Kollegen vonuns heute noch etwas sagen.
Auch andere Dinge werden in Frage gestellt. ObwohlSie die Mineralölsteuer erhöht haben, geht kein Pfennigvon dieser Erhöhung in den Verkehrswegeausbau. Da-mit bestrafen Sie die Ostdeutschen, die ohnehin schonüberproportional zahlen, wiederum doppelt. Sie kürzenbei der Förderung in verschiedenen Bereichen; das istschon gestern abend in der Debatte angesprochen wor-den. Ich erinnere nur an die 900 Millionen DM bei derBvS und 200 Millionen DM GA-Wirtschaftsförderung.
Zudem wird bei der Städtebauförderung und in vielenanderen Bereichen gekürzt. Was mich besonders betrof-fen gemacht hat, ist – das muß ich Ihnen ganz ehrlichsagen – die Tatsache, daß jetzt auch noch im BereichForschung und Entwicklung, von dem ich immer dachte,daß die Bundesregierung dort einen Schwerpunkt setzt,gekürzt werden soll.
– Innoregio ist einmal aus meiner eigenen Feder ent-standen. Machen Sie sich einmal richtig sachkundig!Sie kürzen des weiteren durch die Verhängung einerHaushaltssperre; darauf wird der Kollege Schmidt nocheingehen. Das einzige und wichtige Programm für Exi-stenzgründer in den neuen Bundesländern, FUTOUR,wird durch Sie zum Jahresende gekappt. Auch das wer-den wir Ihnen nicht durchgehen lassen.Sie betreiben eine völlig falsche Akzentsetzung in derArbeitsmarktpolitik. Wir haben versucht, die Integrati-on von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt durcheine Brückenfunktion zu vollziehen. Wir haben ver-sucht, das über Lohnkostenzuschüsse, über Vergabe-ABM und andere Instrumente verstärkt zu pushen. Jetztwird das um 180 Grad umgedreht: Sie versuchen jetztwieder, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine reineBeschäftigungsfunktion zu installieren. Ich sage Ihnen:Das ist der falsche Weg. Wir werden dagegen sein.
Wenn ich mir anschaue, was die Bundesregierung imBereich der Energiepolitik macht, dann muß ich sagen,daß das für die neuen Bundesländer geradezu tödlich ist.Es ist nicht nur so, daß Sie nichts dagegen tun, daß wirDr.-Ing. Paul Krüger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4549
(C)
(D)
in Ostdeutschland schon erhöhte Energiepreise haben,was seine Ursache darin hat, daß wir mehr investierenmußten, weil wir die gesamte Energiewirtschaft neuaufbauen mußten. Nein, Sie erhöhen die Energiepreisein den neuen Bundesländern durch die Ökosteuer nochweiter. Das führt natürlich dazu, daß für die ostdeutscheEnergiewirtschaft überhaupt keine Chancen im Wettbe-werb zur internationalen Energiewirtschaft, aber auchzur westdeutschen Energiewirtschaft bestehen. Darüberhinaus belasten Sie die Privathaushalte und vor allemdie gesamte ostdeutsche mittelständische Wirtschaftüberproportional. Das wird sich nicht nur negativ auf diewirtschaftliche Entwicklung, sondern vor allem auch aufdie Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den neuenBundesländern auswirken. Im übrigen betrifft das auchdie gesamte Braunkohlewirtschaft in den neuen Bun-desländern. Das ist der falsche Weg.Wir haben einen Antrag eingebracht, die Belastungendurch die Ökosteuer – also die sogenannte zweite Stufeder Ökosteuerreform – auszusetzen. Damit würden wirauf gleiche Energiepreise kommen und alle diese nega-tiven Effekte, die ich eben genannt habe, umgehen.
Meine Damen und Herren, dazu, was dieser Bundes-kanzler im Bereich der Strukturpolitik macht odernicht macht, will ich nur ein Beispiel nennen: denA3XX. Das ist das größte europäische Infrastrukturvor-haben bzw. Wirtschaftsvorhaben, das von wesentlicherstaatlicher Unterstützung getragen und begleitet wird.Der alte Bundeskanzler Helmut Kohl hat zum Stand-ort Rostock/Laage ganz klar Position bezogen. Von sei-ten des neuen Bundeskanzlers ist hierzu bisher keineÄußerung erfolgt, obwohl wir ihn mehrfach direkt imPlenum des Deutschen Bundestages dazu aufgeforderthaben. Ich will gar nicht darauf eingehen, was dies wirt-schafts- und arbeitsmarktpolitisch für die neuen Länderbedeutet. Ich will Sie nur darauf hinweisen, wie ent-täuscht die Menschen in Ostdeutschland, insbesonderein Mecklenburg-Vorpommern und Rostock von dieserHaltung der neuen Bundesregierung sind.Ich kann Ihnen nur sagen: Setzen Sie sich dafür ein,daß sich Ihr Bundeskanzler und Ihre Bundesregierungnachhaltig dafür aussprechen und auf internationalerEbene dafür kämpfen, daß der Standort Rostock/Laageeine faire Chance bekommt oder/und darüber hinaus dieneuen Bundesländer an diesem großen Vorhaben inten-siv beteiligt werden.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit!
Meine Damen
und Herren, all das, die Kulisse, die ich hier eben ge-
schildert habe, führt dazu, daß die Chefsache Aufbau
Ost in Ostdeutschland langsam als Drohung empfunden
wird.
Herr Kollege, den-
ken Sie bitte an die Redezeit.
Wir alle wün-
schen uns, daß Sie es nicht zur Chefsache, sondern es
wie unser alter Bundeskanzler zur Herzenssache erklä-
ren, den Aufbau im Osten zu betreiben. Wir haben unse-
re Anträge heute eingebracht, um den wirklich schlim-
men Entwicklungen, die im Moment in Ostdeutschland
im Gange sind, entgegenzuwirken.
Sie werden die Suppe, die Sie uns eingebrockt haben,
auslöffeln müssen.
Vielen Dank.
Ich habe zwei Bitten
um Kurzinterventionen vorliegen. Frau Kollegin Luft,
bitte sehr.
Herr Kollege Krüger, als Sienoch auf der Bank der Regierungsfraktionen gesessenhaben, haben Sie schon keine Zwischenfragen zugelas-sen. Jetzt sitzen Sie auf der Oppositionsbank, aber diessetzt sich fort. Ich finde, das ist kein besonders guterStil. Aber egal.Ich gehe doch sicher richtig in der Annahme, wennich sage, daß die Überschrift des Antrages Ihrer Fraktion„Aufbau Ost endlich wieder richtig machen“ suggerie-ren soll, er sei schon einmal richtig gemacht worden,nämlich unter der Regierung Kohl.
– Ich wußte, daß Sie applaudieren würden. – Jetzt darfich Sie fragen: Wie erklären Sie sich dann, daß sich we-nige Monate nach für die CDU verlorengegangenerBundestagswahl über 120 ehemalige christdemokrati-sche Abgeordnete der frei gewählten Volkskammer derDDR in einem Brief an Fraktionschef Schäuble über dasbeschwert haben, was beim Aufbau Ost gelaufen ist? Ichhabe hier eine Pressenotiz – ich könnte Ihnen viele Noti-zen bringen –, in der insbesondere gesagt wird, daßArt. 28 und 29 des Einigungsvertrages verletzt wordenseien – ich zitiere wörtlich –durch die „bloße Übertragung der Wirtschaftsme-chanismen der alten Bundesländer nach 40jährigerEntwicklung in Richtung Ost“.Ganz oben bei dieser Initiative stand Frau Bergmann-Pohl. Ich nehme an, daß auch Sie zu diesen 120 Abge-ordneten gehörten. Wir beide waren in der frei gewähl-ten Volkskammer und saßen dort gemeinsam im Haus-haltsausschuß. Ich erinnere mich sehr gut.Dr.-Ing. Paul Krüger
Metadaten/Kopzeile:
4550 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Sie haben angesprochen, daß die Energiepreise imOsten höher sind als in den alten Ländern, daß die Ver-mögensverhältnisse unterschiedlich sind und daß dieRenten differieren. Hier kann ich Ihnen nur zustimmen.Das sind richtige Feststellungen. Aber diese Tatsachensind nicht seit September vergangenen Jahres in derWelt, sondern die gibt es schon eine ganze Weile.
Wenn Sie die Ansiedlungspolitik, die betrieben wird,beklagen, möchte ich dazu etwas Konkretes sagen: Wirbeide sind gebürtige Mecklenburger. Mir liegt derStandort Rostock/Laage genauso am Herzen wie Ihnen.Im Wirtschafts- und im Haushaltsausschuß hat die PDSin dieser Legislaturperiode als erste Fraktion den Antrageingebracht, die Ausschüsse mögen sich parteiübergrei-fend darauf verständigen, die Bundesregierung aufzu-fordern, alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, um dieProduktion des Großraumpassagierflugzeuges in Ro-stock/Laage anzusiedeln. Das ist auch von den Kolle-ginnen und Kollegen Ihrer Fraktion abgelehnt worden.
Ich will zum Ende kommen. Meine Erfahrung ist ge-rade in diesen Tagen, in denen der Wahlkampf läuft: DieMenschen in den neuen Bundesländern verdrießt total –die schlechte Wahlbeteiligung unterstreicht das –, daßdie Parteien, die früher an der Regierung waren, heutedie damaligen Oppositionsargumente benutzen, unddiejenigen, die heute in der Regierung sind, frühere Re-gierungsargumente benutzen. Das ist für die Menscheninzwischen nicht mehr erträglich.
Herr Kollege Krü-
ger, möchten Sie jetzt antworten oder nach der zweiten
Kurzintervention?
– Jetzt. Bitte sehr.
Liebe Frau Luft,Zwischenfragen habe ich schon damals nicht gerne zu-gelassen, wenn ich den Eindruck hatte, daß sie nichtsweiter als meinen Redefluß stören sollten,
damit ich den Gedanken, den ich vortragen wollte, nichtherüberbringen konnte.
Sie haben gefragt, ob wir den Aufbau Ost richtig ge-macht haben. Darüber kann man sich natürlich bestensstreiten. Wir waren der Auffassung, daß wir sehr vielesrichtig gemacht haben. Wir sind nicht der Meinung, daßwir alles richtig gemacht haben. Das kann auch nie-mand. Jeder, der etwas tut, macht Fehler. Die habenauch wir gemacht. Das sollten Sie uns auch einräumen.Aber ich glaube, wir haben sehr viel Wesentliches rich-tig gemacht.Von dem Brief, den Sie eben erwähnten, habe ich inder Zeitung gelesen. Ich habe allerdings auch nach einge-henden Recherchen nicht ermitteln können, wer diesenBrief geschrieben haben soll. – Nicht alles, was in derZeitung steht, stimmt. Das sollte auch Ihnen, Frau Luft,nicht entgangen sein. – Ich habe viele von den Kollegen,die heute noch im Bundestag sind, gefragt. Niemand vonihnen hat diesen Brief unterzeichnet. Mir ist auch nichtein einziger Kollege aus der ehemaligen Volkskammerbekannt, der diesen Brief unterzeichnet hat. Ich bin mirbis heute nicht sicher, ob das nicht nur eine Zeitungsentegewesen ist, die möglicherweise wohlweislich aus ir-gendwelchen Gründen lanciert worden ist.Ich will auch auf das noch eingehen, was Sie, FrauLuft, im Zusammenhang mit der Haushaltssituation an-gesprochen haben. Auch als wir den Aufbau Ost betrie-ben haben, sind die Bäume nicht in den Himmel ge-wachsen. Damals mußten wir sehen, daß wir bei den ho-hen Belastungen, die wir aus der ehemaligen DDR über-nehmen mußten, das Ausgabevolumen tatsächlich aufdas konzentrierten, was für den Aufbau in den neuenBundesländern wesentlich war. Das haben wir versucht,und das ist uns im großen und ganzen, glaube ich, gutgelungen. Wir hatten dabei immer auch die Unterstüt-zung der Bundesregierung.Sicher, wir haben sehr hart dafür kämpfen müssen.– Ich schaue mich hier um und sehe einige Kollegen, diedas mitgetragen haben. – Wir haben manchmal auch war-nende Blicke von unseren Kollegen bekommen – ich ent-decke hier den Kollegen Uldall –, daß wir das wegen derHaushaltsverschuldung nicht überziehen. Einen Teil derHaushaltsbelastungen, die wir heute hier beklagen, habenwir natürlich deshalb, weil wir dringende und wichtigeMaßnahmen für den Aufbau Ost realisiert haben.Frau Luft, zu Ihrem Antrag zum A3XX, der etwazeitgleich mit unserem Antrag in den Ausschuß über-wiesen wurde
– das ist auch egal; darüber brauchen wir uns nicht zustreiten; mittlerweile gibt es eine ganze Reihe solcherAnträge mit unterschiedlicher Substanz und unter-schiedlicher Forderung –: Sie wissen, daß wir uns mitdieser Problematik im Ausschuß sehr intensiv beschäfti-gen. Es gibt bisher überhaupt keine Ablehnung dieserAnträge. Die Anträge liegen noch im Ausschuß; die Ent-scheidung ist im Moment nicht aktuell. Gerade gesternhaben wir in der Obleutebesprechung darüber geredet,daß wir eine öffentliche Anhörung zum A3XX durch-führen wollen, um dieses Thema intensiv auch in die Öf-fentlichkeit zu bringen.Ich denke, daß wir alle gemeinsam dafür kämpfensollten – das tun wir auch –, daß ein möglichst hoherAnteil von der sogenannten Workshare mit dem A3XXverbunden ist und somit möglichst viele Arbeitsplätze inden neuen Bundesländern entstehen können.
Dr. Christa Luft
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4551
(C)
(D)
Denken Sie bitte an
die Redezeit! Ich muß jetzt ein bißchen strenger sein,
weil wir sonst den ganzen Tag der Zeit hinterherlaufen.
Frau Präsidentin,
ich schließe dann. Ich glaube, es war wichtig, daß ich
das noch einmal anmerken konnte.
Danke.
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich das Wort der Kollegin Hustedt.
Herr Krüger, Sie haben hier Krokodilstränen darüber
geweint, daß die Energiepreise in Ostdeutschland höher
sind als in Westdeutschland – was in der Tat stimmt:
ungefähr zwei Pfennig bei der Industrie, und teilweise
gibt es sogar noch größere Unterschiede.
Jetzt frage ich Sie: Warum ist das so? Auch Sie waren
in der letzten Legislaturperiode in diesem Parlament. Ich
kann mich nicht erinnern, daß Sie dagegen protestiert
haben, daß diese Bundesregierung genau dies mit ihren
Maßnahmen vorbereitet hat.
Wir haben einen Wettbewerb im Energiebereich. Wir
als Grüne haben das immer begrüßt, unterstützt und ge-
fördert.
– Herr Ulldal, wir haben einen Vorschlag auf den Tisch
gelegt, der weiter geht als der der Bundesregierung. Das
mußte selbst Herr Rexrodt zugeben.
Wir müssen Ihren Vorschlag ablehnen; denn Sie ha-
ben während Ihrer Regierungszeit den gesamten Ener-
giebereich im Osten vom Wettbewerb ausgenommen.
Sie haben einen Schutzzaun um die Veag gezogen. Das
hat genau den Effekt erzielt, daß die Energiepreise im
Osten höher als die im Westen sind. Es gibt also ein
zweigeteiltes Recht auf dem Energiemarkt dieser Repu-
blik. Sie ziehen damit eine virtuelle Mauer zwischen Ost
und West. Die Folgen sind, daß die ostdeutsche Indu-
strie, aber in Zukunft auch die ostdeutschen Bürger –
wenn die freie Wahl des Stromlieferanten im Westen
sehr schnell umgesetzt wird – höhere Energiepreise
zahlen müssen. Das geht zu Lasten der Entwicklung der
ostdeutschen Industrie. Damals habe ich keinen Protest
von Ihnen gegen diese Entwicklung gehört. Jetzt weinen
Sie Krokodilstränen.
Jetzt schlagen Sie vor, die virtuelle Mauer – das
zweigeteilte Recht für Ost und West – durch ein zwei-
geteiltes Steuerrecht noch zu erhöhen. Das wäre auch
überhaupt nicht EU-kompatibel. Nach unserem Vor-
schlag, den wir schon in der letzten Legislaturperiode
unterbreitet haben und den wir in dieser wahrscheinlich
realisieren werden, sollen durch die Einführung einer
bundesweiten Quote die Investitionen, für die Ost und
West gemeinsam aufkommen sollen – gemeint sind neue
Investitionen –, in die Produktion von Strom aus Braun-
kohle gesichert werden.
Damit soll gleichzeitig ermöglicht werden, daß auch Ost-
deutschland in den Genuß des Wettbewerbs gelangt. Auf
diese Weise sollen sich die Energiepreise in Ost und West
zügig aneinander angleichen. Das ist unser Weg, nicht der
des zweigeteilten Rechts zwischen Ost und West.
Jetzt darf der Kolle-
ge Krüger antworten. Bitte sehr.
Vielen Dank fürIhre Kurzintervention. Sie gibt mir zunächst die Gele-genheit, auch noch auf einige Ausführungen von FrauLuft zu erwidern, auf die ich vorhin aus Zeitgründennicht eingehen konnte.Frau Luft, Sie haben vorhin gefragt, warum wir frü-her nicht das umgesetzt haben, was ich jetzt fordere. Dereinzige Grund liegt darin, daß wir früher den Ostdeut-schen keine zusätzlichen Belastungen aufbürden woll-ten. Wir haben versucht, die Bürger und auch die Wirt-schaft in Ostdeutschland in allen möglichen Bereichenzu entlasten oder „incentives“, also Anreize, zum Bei-spiel für Investitionen, zu geben. Wir haben immer ver-sucht, Ostdeutsche dort zu präferieren, wo es nur mög-lich war. Aber wir haben den Ostdeutschen – jedenfallsist mir das nicht bekannt – nicht solche Belastungenaufgebürdet, die auf einer differenzierten Betrachtungs-weise der Vermögens- und Einkommenssituation inWest- und Ostdeutschland beruht hätten; denn die Ver-hältnisse in Ostdeutschland waren generell schlechter alsdie in Westdeutschland, und zwar deutlich. Deshalbkannten wir während der Regierung Kohl das heutigeProblem – Gott sei Dank – nicht. Darauf wollte ich nocheinmal hinweisen.Kurz zu Frau Hustedt. Frau Hustedt, wir haben unsschon damals um die um zwei Pfennig im Vergleich zuWestdeutschland höheren Energiepreise in Ostdeutsch-land sehr gesorgt. Uns war klar, daß diese Differenz dieostdeutsche Wirtschaft belastet. Wir hatten kaum eineChance, daran etwas zu verändern, obwohl wir immerversucht haben, Lösungen für dieses Problem zu finden.Um die Investitionen zu schützen und gleichzeitig auchdie Braunkohlewirtschaft in Ostdeutschland wenigstensin einem bestimmten Umfang zu erhalten, haben wirkeinen Schutzzaun errichtet – wir konnten ja nicht Sub-ventionen für die ostdeutsche Braunkohlewirtschaft inHöhe der Subventionen für den Steinkohlenbergbauin Westdeutschland durchsetzen; die Subventionen fürWestdeutschland haben insbesondere Sie durchgesetzt –,sondern versucht, eine möglichst wettbewerbsverträgli-che Übergangsregelung zu schaffen, damit nicht zu vieleArbeitsplätze in der ostdeutschen Wirtschaft verlorenge-hen mußten. Das ist uns sicherlich nicht super gelungen.Es ist mehr oder weniger gut gelungen.
Metadaten/Kopzeile:
4552 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Wenn wir tatsächlich einen großen Schutzzaun umdie Veag errichtet hätten, dann müßte dieser Energie-konzern jetzt jubeln und große Renditen abwerfen. Aberdas ist leider nicht der Fall. Die Veag hat große Proble-me, von denen Sie wissen dürften, wenn Sie sich mit derMaterie auskennen. Wir haben damals versucht, einenvernünftigen Kompromiß zu finden.Mir scheint, daß es für die ostdeutsche Wirtschaft,insbesondere für die ostdeutsche Energiewirtschaft, töd-lich ist, daß sie einer zusätzlichen Belastung ausgesetztist – und das bei schlechterer Eigenkapitalsituation, beihöheren Abschreibungen für Investitionen und bei allden Lasten, die sie zusätzlich zu tragen hat. Sie habendas – ohne mit der Wimper zu zucken – hingenommen.Das war bisher kein Thema. Die Gruppe in Ihrer Frakti-on, die sich jetzt entschlossen hat, für den Aufbau Ost zukämpfen – ich frage mich, gegen wen sie kämpfen will –,hat sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet. Es ist einThema, das wir mit unserem Antrag einbringen. Wirsollten es ernst nehmen. Für die Entwicklung in Ost-deutschland ist es gravierend.
Mir liegen weitereWünsche nach einer Kurzintervention vor. Ich lasse sieaber nicht zu, weil es auf die Antwort auf eine Kurzin-tervention keine erneute Kurzintervention gibt. Die Prä-sidentin oder der Präsident kann entscheiden, ob sie oderer eine Kurzintervention zuläßt. Da wir in der erstenRunde dieser Debatte sind und in den weiteren Rundennoch eine Menge Argumente vorgetragen werden, lasseich jetzt keine weiteren Kurzinterventionen mehr zu.Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Schulz.Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her-ren! Der Zeitpunkt und der Ort der heutigen Debattezum Aufbau Ost geben mir die Gelegenheit, an das zuerinnern, was wir bereits bewältigt haben, und uns zuvergegenwärtigen, was noch zu leisten ist. Herr KollegeKrüger, wir sind nicht gut beraten, den Aufbau Ost zueiner derartigen Erbsenzählerei zu machen und einewichtige Sache dadurch so zu zerfasern.
– Herr Kollege Türk, man kann sich leidenschaftlichdarüber streiten, ob der Aufbau Ost Chef- oder Herzens-sache ist. Sie machen ihn lediglich zu einer schlechtenDrucksache.
Die Drucksache ist in sich widersprüchlich, weil Sie be-haupten, die Bundesregierung mache kaum etwas ande-res als das, was Sie gemacht hätten. Gleichzeitig be-haupten Sie, nur Sie selbst könnten es gut machen. Dashaben wir in der Zeit unserer Opposition längst wider-legt, obwohl wir es uns gar nicht so einfach gemacht ha-ben.Ich will diese Debatte in eine andere Dimension rük-ken. Wir haben vorgestern hier, in diesem neuen Hausdes Bundestages, 50 Jahre parlamentarische Demokratiein Deutschland gefeiert. Das ist möglich geworden, weilwir vor zehn Jahren eine friedliche Revolution hatten.Das „Haus der Demokratie“ in der Friedrichstraße, alsounweit von hier, ist in das Eigentum des Beamtenbun-des übergegangen. Es ist das Schicksal deutscher Revo-lutionen, irgendwie institutionalisiert zu werden undschwere Eigentumsfragen aufzuwerfen – aber das nurnebenbei.Vor genau 10 Jahren, am 9. September 1989, ist inBerlin-Grünheide der Aufruf zur Gründung des „NeuenForums“ verfaßt worden. Das war ein Aufschrei zumWiderstand gegen einen Überwachungsstaat. Es war einAufbruch, um aus diesen festgefahrenen, betoniertenStrukturen und Verhältnissen auszubrechen. Der Mauer-fall hat uns wenig später beidseitig überrascht. Im We-sten Deutschlands hatte man ein Ministerium für inner-deutsche Fragen, aber keines für gemeinsame gesamt-deutsche Antworten. Wir im Osten waren überrascht,wie schnell das Ganze geht und daß es überhaupt keinenSinn mehr gemacht hat, die DDR zu reformieren, wasursprünglich der Anspruch war.Der Zustand der DDR war katastrophal. Das belegtdas Geheimpapier, der Offenbarungseid von GerhardSchürer, den er an die Staatliche Plankommission imHerbst 1989 gerichtet hat. In diesem Papier kommt zumAusdruck, daß dieser Staat zahlungsunfähig war. Er warruiniert, die Arbeitsproduktivität lag am Boden. Es gingso gut wie nichts mehr. Viele Kommunen und vieleStädte sind dem Tod im letzten Moment von der Schip-pe gesprungen. Auch die rettende Vereinigung hat nurkurzzeitig Freude und Optimismus hervorgerufen; dennArbeitslosigkeit und Zukunftsängste haben diese An-fangsfreude relativ schnell verdrängt.Die Ostdeutschen haben sehr schnell erfahren, was esheißt, wenn Entscheidungen woanders fallen und wennman doch wieder fremdbestimmt wird. Manche Ent-scheidungen der Treuhand waren leider so undurchsich-tig wie die der Staatlichen Plankommission – wobei ichbeide nicht vergleichen möchte.
– Auch das, aber unter Ihrer Verantwortung, Herr Kol-lege!
Ich spreche das an, um unsere Ausgangssituationklarzumachen. Die heutige Bundesregierung hat einedoppeltschwere Erblast übernommen, und zwar die derSED, aber auch die der letzten Koalitionsregierung. WieDr.-Ing. Paul Krüger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4553
(C)
(D)
gesagt, man darf sich die Sache nicht so einfach machen.Man hat auch in der Opposition redlich zu urteilen.Diesbezüglich hat Ihnen Ihr Fraktionsvorsitzender dieseWoche ja ins Gewissen geredet. Es geht jetzt eben nichtnur um die Vollendung der inneren Einheit, sondernauch um die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft. Vordieser Aufgabe stehen wir, sie müssen wir lösen.Von der PDS hätte ich mir zumindest gewünscht, daßsie im Vorspann ihres Antrages etwas dazu ausführt,was für eine kaputte Piste sie hinterlassen hat, wenn sieschon den Osten zu einem neuen Experimentierfeld ma-chen und dort ein Pilotprojekt starten möchte.
Die Angleichung der Lebensbedingungen war dochder Anspruch Ihrer Ursprungspartei. Ich verwende un-gern die Formel von 40 Jahren SED-Herrschaft. Aberdie SED hatte doch wirklich den Anspruch, West- bzw.Weltniveau zu erreichen. Sie hatte dazu ja auch alleGelegenheit, und die PDS könnte jetzt in Mecklenburg-Vorpommern sofort diesen Pilotversuch starten. Ich fra-ge mich, warum Sie, Kollege Gysi, das dort nicht tunund statt dessen Forderungen an diese Bundesregierungstellen, obwohl Sie wissen, daß diese eigentlich nicht fi-nanzierbar sind, wie es übrigens auch ein internes Papieraus Ihrem Haus, dem Karl-Liebknecht-Haus, belegt.
Ich wollte das hier jetzt nicht ausschlachten, aber derKollege Bartsch, unter dessen Federführung es entstan-den ist, hat einmal die Forderungen, die Sie so locker indie Welt hinausposaunen und vor allen Dingen in denostdeutschen Wahlkampf tragen, unter die Lupe ge-nommen und festgestellt, daß diese jeglichen finanzpo-litischen Rahmen sprengen würden. Die Aufstellung er-folgte wohl nach dem alten „Wünsch dir was“-Katalog.So steht es auch wortwörtlich in diesem Papier. Siesollten stärker solche kritischen Papiere beachten, bevorSie solche Anträge einbringen.
Bei aller Kritik, die wir aus der Rolle der Oppositionheraus damals geübt haben, haben wir durchaus auch diepositiven Leistungen der alten Bundesregierung gewür-digt. Hier muß man ja differenzieren. An dem Grund-fehler, daß die Vereinigung auf Pump gemacht wurdeund dem politischen Mut zur Wirtschafts- und Wäh-rungsunion leider nicht der Mut zu einem Lastenaus-gleich gefolgt ist, kommen wir auch heute nicht vorbei.Wir hätten es sonst in finanzieller Hinsicht um einigesleichter, bräuchten diesen Schuldenberg nicht abzutra-gen, und Hans Eichel hätte nicht so schwer an derErblast von Theo Waigel zu schleppen, wenn dieserFehler am Anfang nicht passiert wäre. Dazu müssen Siesich politisch bekennen.
Die Länder, die so keß die Reduzierung der Finanz-hilfen für den Osten fordern, sollten sich auch daran er-innern, daß sie damals mit dem Bund mächtig gefeilschthaben und ihrer Verantwortung eigentlich nicht gerechtgeworden sind. So begegnet heute mancher Finanzmi-nister dem ehemaligen Ministerpräsidenten und stelltfest, daß das Herz nicht nur links schlägt, sondernmanchmal auch zwei Herzen in einer Brust schlagen. Das Versprechen von den blühenden Landschaftenhat einerseits völlig überzogene Erwartungen geweckt,auf der anderen Seite kann niemand bezweifeln, daß einTeil dieses Versprechens durchaus eingelöst worden istund man einiges davon sehen kann. Allerdings müssenwir uns von der Illusion befreien, daß eine größere An-zahl von industriellen Kernen wirklich zu retten gewe-sen wäre. Trotz aller Anstrengungen und Mühen, dieman sich gegeben hat, finden wir kein Headquarter einesGroßkonzerns im Osten, und im Deutschen Aktienindexsucht man vergeblich nach einem ostdeutschen Unter-nehmen. Die Dresdner Bank ist in Frankfurt gebliebenund die Gothaer Versicherung in Köln. Ich könnte dasweiter fortsetzen. Weil im Osten nur Filialbetriebe ein-gerichtet worden sind, ergibt sich, wie Sie wissen, dasProblem, daß die wirtschaftliche Basis dort eben nochnicht ohne weiteres einen selbsttragenden Aufschwungermöglicht.Sicherlich wurden auch kapitale Fehler begangen:Fehlallokationen in Hotel- und Bürobauten sowie inGewerbegebiete. Es ist aber schon ein Witz, daß ausge-rechnet aus Bayern immer wieder Vorwürfe kommen,nachdem man jetzt durch das Aufdecken des LWS-Skandals sieht, wie dort zum Teil mit Geldern umgegan-gen wurde. Es ist manchmal ratsam, nicht nur vor, son-dern auch hinter der eigenen Tür zu kehren. Das geschiehtja im Moment auch ein wenig. Der Aufbau Ost eignetsich nicht, um die eigenen Versäumnisse zu rechtfertigen.
Der Aufbau Ost selbst kommt voran; wir sind zwarnoch nicht über den Berg, aber auf gutem Weg. DieBundesregierung hat mit dem Zukunftsprogramm eineMarschroute festgelegt, die uns in den nächsten Jahrenauch finanzielle Spielräume eröffnet, um weiterhin ent-sprechende Mittel für den Aufbau Ost zur Verfügung zustellen.Mittlerweile ist im Osten eine sehr leistungsfähigeund moderne Wirtschaft entstanden. Sie ist aber noch zuschmal. Die Experten sagen: ,,too small but beautiful“.Das heißt, wir dürfen uns künftig nicht nur um die Exi-stenzgründer, sondern müssen uns auch um die Wach-stumskräfte der bereits bestehenden Unternehmen stär-ker kümmern.
Auch das ist erkannt worden; auch das tut diese Regie-rung. Es geht um die Zielgenauigkeit der Fördermittel.
Werner Schulz
Metadaten/Kopzeile:
4554 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
– Sie tut es, Herr Kollege Luther. Daß Sie daran Zweifelhaben, kann ich nicht verstehen. Das können Sie dochaus Ihrer eigenen Region bestätigen.Leider ist die Arbeitsplatzbilanz, die Arbeitsmarkt-entwicklung nicht positiv. Das wissen wir. Die saison-bereinigte Arbeitslosenquote ist weiter gestiegen. DieseEntwicklung ist also auf dem Arbeitsmarkt leider nochnicht angekommen. Das ist schon bedrückend. Dasschafft im Grunde genommen auch die schlechte Stim-mung im Osten. Denn die wirtschaftliche Entwicklung,vor allen Dingen der Strukturwandel, gäbe eigentlich je-den Grund zu Hoffnung und zu Optimismus. Denn essind sehr leistungsfähige Betriebe, die hier entstandensind.Aber die Bundesregierung tut vieles, um hier voran-zukommen. Denken Sie beispielsweise an das erfolgrei-che Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit,
oder denken Sie an den Innoregio-Wettbewerb zur För-derung der regionalen Strukturen. Das sind, finde ich,wichtige Impulse, die hier gesetzt werden.Es gibt also im Moment noch keinen Grund, beimAufbau Ost einen Gang zurückzuschalten. Die Bundes-regierung wird deswegen – da brauchen wir uns überdie einzelnen Fördertöpfe hier gar nicht zu streiten –den Aufbau Ost auf sehr hohem Niveau fortführen. Dasist festzuhalten. Es ist eine Unterstellung, wenn Siehier sagen, es werde gekürzt. Im Gegenteil, wenn Siesich einmal die Bundeshaushalte vor Augen führen, se-hen Sie, daß die Priorität des Aufbaus Ost noch vieldeutlicher zum Vorschein kommt, weil alle anderenRessorts sparen müssen. Der Bundesfinanzminister hatdeutlich gemacht, daß man gerade beim Aufbau Ostnicht spart.
Daher ist es im Interesse der ostdeutschen Bundesländer,dem Sparpaket zuzustimmen, weil das den finanziellenSpielraum schafft, den wir brauchen, um den Osten dau-erhaft unterstützen zu können.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja.
Bitte sehr, Frau
Kollegin.
Herr Kollege Schulz,
wenn Sie sagen, die Bundesregierung treibt den Aufbau
Ost voran: Wie erklären Sie dann bitte, daß im Spar-
haushalt von Herrn Eichel allein 3 Milliarden DM für
den Aufbau Ost gestrichen werden, unter anderem für
die Eigenkapitalstärkung gerade mittelständischer Un-
ternehmen in den neuen Bundesländern in Höhe von,
wenn ich mich recht entsinne, 5 Millionen DM? Darüber
hinaus werden insgesamt 3 Milliarden DM im Sparpro-
gramm vorgesehen bei wichtigen Infrastrukturmaßnah-
men, auch in den neuen Bundesländern, nicht nur beim
ICE von Nürnberg nach Erfurt über Halle, Leipzig, Ber-
lin, sondern auch beim Autobahnausbau, beim Straßen-
ausbau und bei Ortsumgehungen, die dringend ge-
braucht werden und die Voraussetzungen sind für die
Investitionen und Arbeitsplätze. Wie können Sie bei sol-
chen Zahlen und Fakten, wie ich sie Ihnen hier nenne,
vom Aufbau Ost sprechen? Ich bezeichne das als Abbau
Ost, was Sie hier betreiben.
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Kollegin Pieper, es ist zwar eine große Leistung,
wie Sie mit diesen Zahlen hier jonglieren, aber das sind
keine Fakten, sondern im Grunde genommen kann man
das alles relativieren und widerlegen, was Sie sagen. Zur
ICE-Strecke Nürnberg–Erfurt wird mein Kollege
Schmidt hier in der Debatte noch sprechen. Das muß
man ein bißchen ausführlicher erklären. Wir schaffen
eher neue Chancen für den Osten.
– Aber natürlich. Sie müssen nämlich dazusagen, daß
wir die Mitte-Deutschland-Bahn und die Franken-
Sachsen-Magistrale dafür bauen werden, daß hier Mittel
frei werden für Projekte, die Sie ins Blaue hinein geplant
haben.
Das Geld ist doch gar nicht da. Wir wären ja froh, wenn
dieses Geld da wäre, das der Kollege Waigel eingeplant
hatte, obwohl er es nicht hatte und das immer nur auf
Pump gemacht worden ist.
Außerdem wissen Sie ganz genau, daß bei der Ge-
meinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur“ die Mittel gerade aus Ihrem Land Sach-
sen-Anhalt bisher nicht wie geplant abgerufen wurden,
daß die Kofinanzierung der Länder vielfach nicht ge-
klappt hat oder daß Mittel gebunkert werden. Gerade
daraus, wie man mit den bisherigen Fördermitteln um-
gegangen ist, hat die neue Bundesregierung Konsequen-
zen gezogen, um, wie gesagt, die Zielgenauigkeit zu er-
höhen. Es stimmt also nicht, was Sie sagen. Die Zahlen
kann ich Ihnen nicht bestätigen.
Jetzt gibt es nochden Wunsch nach einer Zusatzfrage der Kollegin Pieperund den Wunsch nach einer Zwischenfrage des HerrnKollegen Luther. Möchten Sie beide zulassen?Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ich lasse nur noch die Zusatzfrage zu; sonstzerfasert die Debatte immer mehr.Werner Schulz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4555
(C)
(D)
Zusatzfrage, Frau
Pieper, bitte.
Wenn Sie sagen, die
Mittel im Bundeshaushalt seien nicht da, wie erklären
Sie sich dann, Herr Kollege Schulz, daß zwar bei den
Subventionen für die neuen Bundesländer gekürzt
wird, sprich: bei den Mitteln für den Aufbau Ost? Man
kann dies eigentlich gar nicht als Subvention bezeich-
nen;
denn es geht ja um die Chancengleichheit der Aus-
gangsbedingungen der Menschen. Wie erklären Sie es
sich, daß ausgerechnet bei den Subventionen zum Bei-
spiel für den Steinkohlebergbau der alten Länder nicht
oder nicht in ausreichendem Maße gekürzt wird?
Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Auseinandersetzung um die Steinkohlesub-
ventionen ist beliebt. Sie wissen, daß wir diese Unter-
stützung immer kritisch gesehen haben, daß wir sie viel
drastischer reduziert hätten. Aber die Verbindlichkeiten
der alten Bundesrepublik lasten sehr stark. Bei der
Steinkohle handelt es sich ja um eine Verpflichtung, die
die alte Bundesregierung eingegangen ist.
– Ich bitte Sie! Natürlich kommt immer das Argument,
daß sich Joschka Fischer bei der Demonstration in Bonn
vor die Steinkohlekumpel gestellt hat. Das alles können
Sie lassen. Er hat sich im Grunde genommen dort nur
hingestellt, damit die F.D.P.-Zentrale, die Zentrale der
Partei der Besserverdienenden, nicht demoliert wurde.
– Das können Sie mir glauben! Denn die Kumpel aus
dem Saarland waren schon bereit, sich die Fensterschei-
ben vorzunehmen.
.
– Sie freuen sich, weil Sie nichts abbekommen haben?
Das kann ich gut verstehen.
Also: Freuen Sie sich, daß wir die Braunkohle nicht
subventionieren müssen, daß wir damit eine wettbe-
werbsfähige Energienform haben. Genaugenommen
fließen in die neuen Länder gar keine Subventionen,
Kollegin Pieper. Ich glaube, Sie haben sich in Ihrer Fra-
ge auch dahin gehend berichtigt. Vielmehr handelt es
sich im Moment um Förderhilfen. Wir wollen ja gerade
vermeiden, daß Betreibe an den Subventionstropf kom-
men.
Ich glaube, wir müssen uns auch um die föderalen Fi-
nanzbeziehungen kümmern, das heißt, das Föderale
Konsolidierungsprogramm muß neu geordnet werden.
Wir wissen, daß wir den eingegangenen Verpflichtungen
nachkommen müssen. Wir werden den Solidarpakt auch
nach 2004 fortsetzen. Ich freue mich, daß auch der Herr
Kollege Teufel aus Baden-Württemberg das noch ein-
mal bestätigt hat. Allerdings finde ich es etwas unred-
lich, daß er sich bereits im Vorfeld über die künftige
Höhe der Mittel geäußert hat.
Ich glaube, die Lastenteilung muß zwischen Bund
und Ländern fair neu bestimmt werden. Wir werden uns
auch darüber unterhalten müssen, ob der Zuschnitt des
heutigen Bundesgebietes wirklich noch zeitgemäß ist.
Eine föderale Reform verlangt vielleicht auch die Zahl
von 16 Ländern und diesen hochkomplizierten Finanz-
ausgleich von Geber- und Nehmerländern zu überden-
ken. Insofern denke ich, daß die Forderung nach
Vollendung der inneren Einheit – ein Sammelbegriff
für all die Defizite, die sich angehäuft haben – heute ei-
ne Frage nach der Gestaltung der Zukunft ist.
Ich will zum Schluß aus dem eingangs erwähnten
Gründungsaufruf des „Neuen Forums“ zitieren. Da
stand:
Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative,
aber keine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das
Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung
schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich
zu leben.
Auch wenn diese Sätze damals in einem anderen Zu-
sammenhang entstanden sind: Sie haben bis heute ihre
Aktualität nicht verloren. Eben auch diese Ansprüche
will die rotgrüne Bundesregierung mit ihrer Politik in
die Tat umsetzen. In diesem Sinne werden wir, wie ge-
sagt, die innere Einheit vollenden: indem wir die ge-
meinsame Zukunft gestalten.
Das Wort hat jetzt
der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe KolleginLuft, Sie haben von der Schuld der alten und der neuenRegierung gesprochen, aber Sie haben so ganz nebenbeivergessen, welche Schuld die ganz alte Regierung aufsich geladen hat. Ohne die brauchten wir heute keinenAufbau Ost zu betreiben. Es ist einfach nicht seriös, dieseinfach wegzulassen; denn es ist die Ursache dafür, daßwir jetzt solche Anstrengungen für den Aufbau Ost un-ternehmen müssen.
Jetzt geht es wieder einmal um den Aufbau Ost. Dageht es nicht nur um eine Drucksache, sondern es mußimmer wieder Druck gemacht werden, weil der AufbauOst noch nicht abgeschlossen ist. Der Grund dafür ist,daß die vorgebliche Chefsache des Kanzlers zur Neben-sache geworden ist. Das ist kein Populismus, das ist eineFeststellung.
Metadaten/Kopzeile:
4556 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Es ist auch keine Erbsenzählerei, Herr Schulz, wie Siesie, als Sie noch in der Opposition waren, betrieben ha-ben. Wir werden Fakten aufzeigen und uns auch daranhalten.Das, was die F.D.P.-Wirtschaftsminister Möllemannund Rexrodt – daran darf man nebenbei erinnern – initi-iert bzw. erfolgreich fortgesetzt haben – ich erinnerezum Beispiel an die Rettung von EKO Eisenhüttenstadt;das war zwar ein ordnungspolitischer Sündenfall, aberjetzt arbeitet EKO und bringt Gewinn –, befindet sich inakuter Gefahr. Weil sich der Aufbau Ost in Gefahr be-findet, gibt es heute diese Debatte.Es geht nicht um das Einklagen von Dauersubven-tionen – ich unterscheide zwischen Start- und Dauer-subventionen; das ist nämlich ein riesengroßer Unter-schied –, sondern es geht nach wie vor um Mittel für denAusgleich von entwicklungsbedingten Nachteilen imOsten, um hier so schnell wie möglich den selbsttragen-den Aufschwung zu erreichen. Noch ist er nicht erreicht,also müssen wir gemeinsam etwas dafür tun.Es war auch Unsinn, als gestern in der AktuellenStunde von der SPD behauptet wurde, daß wir jetzt inder Opposition gegen das Sparen seien. Das ist natürlichnicht so. Auch in der Opposition – jedenfalls kann ichdas für die F.D.P. sagen – sind wir für einen sparsamenEinsatz der Mittel. Man darf aber nicht nur vom Sparenreden, man muß es tun.Man kann sich nicht mit Einsparungen in Höhe von30 Milliarden DM schmücken – damit kann man wirk-lich Schlagzeilen machen – , wenn das gar nicht stimmt.Wenn man zunächst 22 Milliarden DM auf den Haushaltder alten Koalition draufpackt und dann 30 MilliardenDM einspart, sind das nur 8 Milliarden DM Unterschied.Diese 8 Milliarden DM sind auch nicht eingespart, siesind zum großen Teil nur verschoben worden. So kom-men wir mit Sicherheit nicht weiter, hier muß wirklichgespart werden. Das wollte ich nur zur Klarstellung sa-gen.Wahrscheinlich sind Sie sich nicht bewußt, daß SieInvestitionsruinen produzieren, wenn Sie schon vor derFertigstellung eines Hauses die Mittel für das Dachstreichen. Dann regnet es rein, und das Haus geht kaputt.Genau das machen Sie beim Aufbau Ost. Es ist ange-kündigt worden, daß die neue Koalition jetzt 10 Milliar-den DM drauflegen will. Sie wollte es also besser ma-chen, weil es Chefsache ist. Unterm Strich sind minus 3Milliarden DM herausgekommen. Das muß man hierganz einfach aufzeigen. Wir kommen auch nicht daranvorbei, daß das so nicht weitergehen kann.Vom Streichkonzert ist auch ein so wichtiges Ver-kehrsprojekt wie die ICE-Strecke Nürnberg–Erfurtbetroffen. Man kann das nicht oft genug sagen. Das istin hohem Maße kontraproduktiv; denn es behindert denwirtschaftlichen Aufholprozeß und fördert die Krise imBauhandwerk. Deshalb sollten Sie dem F.D.P.-Antragzustimmen, in dem wir fordern, daß der Investitions-schwerpunkt für die Entwicklung der Verkehrsinfra-struktur nach wie vor in den neuen Bundesländern lie-gen sollte, daß der angekündigte Baustopp für die ICE-Strecke Nürnberg–Erfurt zurückgenommen wird unddaß alle Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zügigrealisiert werden.
Lassen Sie mich noch etwas zu den geforderten Dek-kungsvorschlägen sagen. Die Frage, wo soll das Geldherkommen, können Sie stellen. Überprüfen Sie zumBeispiel einmal, ob das Verkehrsprojekt „Deutsche Ein-heit“ Havelausbau – wir sind jetzt in Brandenburg – imvorgesehenen Umfang nötig ist und ob die Verkehrspro-gnosen noch stimmen. Wenn wir dort Mittel freischau-feln könnten, bräuchten wir sie nicht aus den Mitteln fürden Aufbau Ost zu streichen, sondern könnten sie fürVerkehrsinfrastrukturmaßnahmen einsetzen, die unbe-dingt verwirklicht werden müssen.
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Bitte schön.
Bitte sehr.
Herr Kollege Türk, Sie ha-
ben uns soeben aufgefordert, Ihrem Antrag zuzustim-
men. Darf ich Sie zu Ihrem Antragspunkt 14 fragen, ob
Sie künftig einem PDS-Antrag auf Wiederauflegung
einer kommunalen Investitionspauschale zustimmen
würden? Wir stellen diesen Antrag seit Jahren. Zu Zei-
ten der Regierungsmitgliedschaft der F.D.P. haben Sie
das immer abgelehnt. Darf ich jetzt davon ausgehen, daß
wir künftig mit Ihrem Ja dazu rechnen dürfen?
Ich möchte noch zu zwei weiteren Punkten Fragen
stellen. In Punkt 7 sagen Sie, durch Investivlohn-
modelle solle insbesondere in Ostdeutschland die Ver-
mögensbildung verbessert werden. Ich nehme an, daß
Sie ganz gut wissen, welche Durchschnittslöhne im
Osten vor allem im verarbeitenden Gewerbe verdient
werden. Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen,
wer davon noch etwas für Investivlohnmodelle ab-
knapsen könnte.
Bisher habe ich von der F.D.P. immer gehört, die
Löhne im Osten seien zu hoch, weshalb sich Unterneh-
mer im Osten zurückhielten, den Standort mieden oder
sich dort nicht ansiedelten.
Jetzt beklagen Sie, daß die Löhne im Osten zwischen 60
und 85 Prozent des westdeutschen Niveaus betragen,
was bekanntlich ein Faktum ist. Ich frage Sie, was nun
in Ihrer Argumentation gilt.
Die erste Frage war, ob wirder Wiedereinführung einer Investitionspauschale zu-stimmen würden. Natürlich; anderenfalls hätten wir dasja nicht gefordert.
Jürgen Türk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4557
(C)
(D)
Was zweitens den Investivlohn angeht, so muß manzumindest darüber sprechen, wobei natürlich beachtetwerden muß, ob sich die Arbeitnehmer so etwas leistenkönnen. Aber man sollte das im Gespräch halten und eswenigstens prüfen.
– Daß die Löhne geringer sind, ist doch eine Tatsache.Ich wüßte nicht, daß wir schon einmal etwas anderesbehauptet hätten.
– Ja, das muß man beklagen, um Druck zu machen, daßauch in dem Punkt eine Angleichung erfolgt.Lassen Sie mich zu unserem Antrag betreffend dieVerkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zurückkommen.Diese Projekte dürften nicht gestrichen, sondern müssenzügig realisiert werden.Nun möchte ich noch etwas zu den geforderten Dek-kungsvorschlägen sagen. Daß der Havelausbau nicht imvorgesehenen Umfange kommen muß, habe ich bereitsgesagt. Wir sehen im übrigen auch generell die Mög-lichkeit, daß man Projekte, Objekte und Maßnahmendaraufhin überprüft, ob sie im vorgesehenen Umfangrealisiert werden müssen. Aber das heißt dann noch lan-ge nicht, daß Mittel für den Aufbau Ost gestrichen wer-den, weil wir noch lange den Nachteilsausgleich brau-chen. Die Schere zwischen Ost und West schließt sich janicht, sondern sie öffnet sich wieder. Deswegen sagenwir: Die Mittel müssen für sinnvolle andere Infrastruk-turmaßnahmen eingesetzt werden. Die Streichung vonMitteln für den Aufbau Ost ist also schlichtweg falschund kontraproduktiv.Ein weiterer Deckungsvorschlag: Wir betreiben inOstdeutschland und in Westdeutschland – es ist alsonicht ein Ost-West-Gegensatz – Verschwendung in er-heblicher Größenordnung. Die geniale Lösung ist über-haupt, daß wir uns zusammensetzen – ich wiederholeden Vorschlag von gestern – und uns an einem Spar-pakt beteiligen, bei dem wir aufzeigen, wo in Deutsch-land, und zwar in Ost- und Westdeutschland, Mittel ver-schwendet werden. Brächten wir diese Verschwendungweg, hätten wir genügend Geld, das der öffentlichenHand heute auf allen Ebenen fehlt. Man sollte auf jedenFall den Versuch machen.Dafür gibt es ja auch eine Grundlage: Wir haben denBund der Steuerzahler und den Bundesrechnungshof.Sie weisen in jedem Jahr 70 Milliarden DM an Ver-schwendung aus. Ich frage mich, warum es den Bundes-rechnungshof gibt, wenn wir nach seinen Feststellungengleich wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir solltenuns also zusammensetzen und fragen, wo wir auf dieseArt und Weise einsparen können.Ebenso sinnvoll wäre es, besser zwischen Straßenbauund Verlegung unterirdischer Vorsorgungsleitungen zukoordinieren. Heute geht es ja immer noch nach demPrinzip „Straße auf, Straße zu“, was wahnsinnig vielGeld kostet. Warum setzen wir hier nicht zum Beispielprivate Ingenieurbüros ein, die solche Baumaßnahmenkoordinieren? Sie könnten ordentlich Geld verdienen,würden aber durch ihre Tätigkeit sehr viel mehr Geldeinsparen. Das sind keine Illusionen; wir brauchen esnur einmal anzugehen.Ich denke, daß der F.D.P.-Gesetzentwurf zur Verlän-gerung und Erweiterung des Verkehrswegeplanungs-beschleunigungsgesetzes auch ein Beitrag zur Verbes-serung der ostdeutschen Infrastruktur sein kann. DasGesetz läuft ja bekanntlich am 31. Dezember 1999 aus.Damit würden die Beschleunigungsmöglichkeiten in denneuen Ländern wegfallen. Es geht aber gerade umschnelle Planungen.Es darf nicht sein, daß dieses Gesetz Ende 1999 weg-fällt: Erstens gibt es im Osten trotz großer Leistungenimmer noch erhebliche Rückstände. Zweitens hat sichdas Gesetz bewährt, was man von jeder Seite erfahrenkann. Drittens sind ja bekanntlich die Planungsprozesseauch im Westen viel zu lang und stellen daher Investiti-onshemmnisse dar. Wir fordern daher in unserem An-trag, daß die Geltungsdauer des Gesetzes um 10 Jahreverlängert und der Geltungsbereich auf ganz Deutsch-land auszudehnen ist. Vielleicht kann man bei dieserGelegenheit für diesen langen, schlecht auszusprechen-den Namen des Gesetzes einen kürzeren Namen finden.Abschließend will ich noch ein paar Fragen stellen,die durch den Antrag der Regierungskoalition zum Auf-bau Ost nur unzureichend beantwortet werden konnten.
Erste Frage: Wann ändern Sie das Gesetz zur Rege-lung der 630-Mark-Jobs
und das Gesetz zur Scheinselbständigkeit? Ich kannnicht verstehen, daß Sie zuerst dieses Gesetz machenund dann eine Studie zur Überprüfung seiner Wirk-samkeit in Auftrag geben. Genau dasselbe gilt für dasGesetz zur Scheinselbständigkeit, mit dem sich eineKommission befaßt. Damit zäumen Sie das Pferd vonhinten auf und verunsichern die Menschen. Das istganz eindeutig. Wer weiß denn noch, was da gehauenund gestochen ist? Es müßte doch eigentlich umge-kehrt ablaufen: erst eine Studie und dann ein vernünf-tiges Gesetz.Zweite Frage: Wann entlasten Sie endlich die kleinenund mittleren Betriebe des Ostens? Haben Sie wirklichvor, die zweite und dritte Stufe der „Ökosteuerreform“durchzuführen, womit Sie die kapitalschwachen Betrie-be – wenn auch in Stufen – weiter belasten?Dritte Frage: Wollen Sie den kapitalschwachen ost-deutschen Betrieben die Mehrwertsteuer erlassen,wenn sie ihre Rechnungen noch nicht bezahlt bekom-men haben? Wir haben schon die Umsatzgrenze von100 000 DM auf 1 Million DM heraufgesetzt, weil dervorherige Zustand für die Betriebe nicht auszuhaltenwar.
Jürgen Türk
Metadaten/Kopzeile:
4558 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
– Wenn wir in diesem Punkt übereinstimmen, ist dasokay. – Trotz der Erhöhung dieser Grenze von 100 000DM auf eine Million DM müssen wir feststellen, daßdas Problem noch nicht gelöst ist. Die Grenze für denJahresumsatz müßte auf mindestens 5 Millionen DMhochgesetzt werden. Diese Regelung wäre dann im Ge-setz zur Zahlungsmoral zu berücksichtigen.Vierte Frage: Wann erhöhen Sie das Wohngeld inganz Deutschland, und mit welchen Instrumenten wollenSie den großen und immer größer werdenden Leerstandabbauen?
Fünfte Frage: Könnten Sie sich damit anfreunden,daß das von der F.D.P. geforderte Bürgergeldsystem imOsten getestet wird? Gerade im Osten wäre dieser Testwegen der geringeren Entlohnung sinnvoll.
Sechste Frage: Wann beginnen Sie endlich, HerrSchwanitz, mit der Entwicklung strukturschwacher Re-gionen, insbesondere an der östlichen EU-Außengrenze?Ganz konkret gefragt: Werden Sie mit einer Grenzland-förderung beginnen?
Wir hatten eigentlich erwartet, daß während Ihrer EU-Ratspräsidentschaft die entsprechenden Weichen gestelltworden wären. Aber Ihre Politik dümpelt weiter vor sichhin. In der Zwischenzeit entvölkern sich diese Regionen.
– Ja, das war eine Gelegenheit, zum Beispiel für Bran-denburg, zur Zusammenarbeit. Aber genau dort düm-pelte die Politik vor sich hin.Siebente Frage: Wann wird in einer erneuten Vermö-gensauseinandersetzung sichergestellt, daß die für dieLandwirtschaft nicht verwendbaren Wirtschaftsgüteraus der Bilanz herausgenommen werden? Bis jetzt sindsie immer noch in der Bilanz enthalten und belasten sodie kleinen und mittelständischen Betriebe. Es ist jetztnach 10 Jahren nicht nur eine Zwischenkontrolle, wie siedas Moratorium vorgesehen hat, sondern eine Korrekturfalscher Bilanzwerte und damit eine Entschuldung vor-zunehmen, um diesen kleinen und mittelständischenBetrieben Entwicklungsmöglichkeiten zu geben und sienicht weiter zu hemmen.Außerdem wollen wir – das sagte Frau Luft schon –die kommunale Investitionspauschale, natürlich einezweckgebundene Pauschale, wieder haben, zum Bei-spiel, um das Abwassersystem in Ordnung zu bringen.Das ist ja überall in den neuen Bundesländern ein Pro-blem. Wann wollen Sie und werden Sie diese Pauschaleauflegen? Es wäre jedenfalls ein Beitrag, um den Kom-munen und der Bauwirtschaft zu helfen.Letztlich stellt sich auch die Frage, Herr Staatsmi-nister Schwanitz, ob schon ein Plan zur Vereinfachungdes Förderkonzeptes vorliegt. Wir hatten das ja einmalin einer Fragestunde erörtert. Sie sagten, das kann manin Stufen machen. Ich frage heute nach, ob wenigstensdie erste Stufe vorliegt und welche Schwerpunkte ge-setzt wurden, falls sie vorliegt.Es ist auch denkbar, daß über die vereinfachte Inve-stitionsförderung hinaus vielleicht eine neue Strategievorgelegt wird. Wird sie vorgelegt, und wie wird sieaussehen?Schließlich will ich sagen: Den Aufbau Ost zur Chef-sache zu erklären ist eine relativ einfache Sache, aberihn dann wirklich auch zu machen, das ist natürlich eineandere, und genau das wollen wir hier erreichen. Wirwollen Druck machen, damit es vielleicht doch zurChefsache wird, auf jeden Fall, daß der Aufbau Ostnicht in Vergessenheit gerät. – Vielen Dank.
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich weiß gar nicht, weshalbSie sich aufregen. Bei uns war der Aufbau Ost immerChefsache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrWerner Schulz, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, undich habe festgestellt, Ihre Beiträge gleichen sich nunauch seit zehn Jahren. Sie sind immer geprägt erstensvon tiefem Zynismus, zweitens erteilen Sie in alleRichtungen Ihre Zensuren, und es ist immer der notwen-dige Schuß Anti-PDS-Stimmung enthalten. Sie sollteneinmal darüber nachdenken, ob das vielleicht auch etwasmit dem Grad der Akzeptanz der Grünen in den neuenBundesländern zu tun hat. Vielleicht sollte man irgend-wann den Stil auch einmal ändern.
– Ja, das sind Sie nie. Ich weiß.Wenn man schon meint, zum Beispiel ein Papier derArbeitsgruppe des Parteivorstandes hier anführen zukönnen, dann sollte man es wenigstens gelesen haben.Wenn Sie es gelesen hätten, dann würden Sie feststellen,daß darin überwiegend Lob und zum Teil auch Kritik anLandeswahlprogrammen enthalten ist, was mit innerenLandesprojekten zu tun hat.
Jürgen Türk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4559
(C)
(D)
Mit unserem heutigen Antrag auf Gleichstellung derLebensverhältnisse in Ost und West hat es überhauptnichts zu tun. Deshalb geht Ihre Bemerkung völlig fehl.Herr Kollege Krüger, Sie haben am Anfang denKanzler dafür kritisiert, daß er nicht da ist. Das finde ichnicht fair. Das will ich ehrlicherweise sagen. Sie wissen,daß ich mich auch sehr deutlich mit ihm auseinanderset-ze, aber das finde ich nicht fair.Wenn wir hier im Bundestag nicht in der Lage sind,einigermaßen eine Zeitdisziplin an den Tag zu legen, sodaß die Debatte viel später beginnt, als sie vorgesehenwar, können wir ja nicht im Ernst von ihm erwarten, daßer sich einen ganzen Tag in der Erwartung freinimmt,daß irgendwann einmal diese Debatte stattfindet.
Insofern wollte er daran teilnehmen. Er hat sich bei unsallen persönlich entschuldigt. Mehr kann man vielleichtin dieser Situation von ihm nicht erwarten.Aber – und das hätten Sie sagen können – daß so gutwie überhaupt kein Bundesminister hier auf der Banksitzt, das ist allerdings wirklich Ausdruck von Desinter-esse,
und das muß man auch ganz klar kritisieren. Beim The-ma Steuern sind alle da; wenn es um den Osten geht,fehlen auch alle.Sie haben außerdem noch, Herr Abgeordneter Krü-ger, darauf hingewiesen, daß Sie schon zu DDR-Zeitenüber Ihrem Schreibtisch den Spruch hatten, daß es dasUngerechteste sei, wenn man ungleiche Verhältnissegleich behandele. Das wundert mich nicht; ich finde nur,Sie hätten dann schon der Vollständigkeit halber daraufhinweisen müssen, daß das ein Zitat von Karl Marx ist,aus der „Kritik am Gothaer Programm“. Das ist ja auchrichtig, aber ich finde, man hätte es dann auch wenig-stens erwähnen dürfen.
Herr Kollege Gysi,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte.
Sind Sie bereit
zur Kenntnis zu nehmen, Herr Gysi, daß ich ausdrück-
lich gesagt habe, ich lasse dem Bundeskanzler nicht
durchgehen, daß seine Fraktion bzw. die Koalition von
Rotgrün vorher den Termin, der ursprünglich – zumin-
dest in unserer Intention – auf den Vormittag angesetzt
war, auf den Nachmittag verschiebt
und daß sich dann, wenn sich die Debatte etwas verzö-
gert, der Bundeskanzler entschuldigt, daß er nicht dabei-
sein kann. Das ist nach meiner Einschätzung sympto-
matisch für diese Regierung, und genau das wollte ich
zum Ausdruck bringen.
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Erstens bin ich bereit, daszur Kenntnis zu nehmen; zweitens habe auch ich dieBundesregierung kritisiert. Allerdings war die Verzöge-rung nicht klein; sie war ziemlich erheblich.
Er wollte um 12.30 Uhr da sein. Zwei Stunden sind vielZeit.Was die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte be-trifft: Darin stimmen wir wieder völlig überein. Wasglauben Sie, wie ich mich darüber schwarz ärgere, daßvon uns beantragte Tagesordnungspunkte immer mitter-nachts an die Reihe kommen. Da hätten wir gern einmaleine Änderung. Aber das ist bisher nicht durchzusetzengewesen.
Nur aus dem Grund, daß auch Sie einen entsprechen-den Antrag gestellt haben, hatten wir einmal die Chance,daß ein Antrag von uns in der Nachmittagsstunde be-handelt wird. Das schätzen wir ja auch an solchen An-trägen von Ihnen.
Wenn ich zu einem weiteren Punkt kommen darf: Siehaben hier etwas zu unserem Antrag zum Airbus A3XX, der in Rostock-Laage montiert werden soll, und zuder entsprechenden Großinvestition gesagt. Sie, HerrKollege Krüger, haben in dieser Beziehung nicht voll-ständig informiert. Im Haushaltsausschuß und im Wirt-schaftsausschuß haben die Abgeordneten der CDU/CSUgegen diesen Antrag gestimmt; sie haben ihn abgelehnt.Nur im Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Ländermuß noch über ihn entschieden werden; das ist wahr.
Sie sollten mit Ihren Kolleginnen und Kollegen, die imHaushalts- und im Wirtschaftsausschuß sind, über dieseFrage noch einmal gründlich reden.
– Ja, sehen Sie, das ist eben nicht besonders klug.
Es kommt der Tag, an dem Sie das noch bereuen wer-den.
Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
4560 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ich will Ihnen auch noch folgendes sagen. Sie habenkein Wort zu Bayern gesagt. Das geht mir langsam aufdie Nerven. Nach jeder Wahl und vor jeder Wahl meldetsich Bayern zu Wort, beklagt die Transferleistungen indie neuen Bundesländer und knüpft das Ganze noch anWohlverhalten und an entsprechende Wahlergebnisse.Wissen Sie: Mir gefallen die Wahlergebnisse in Bayernauch nicht. Ich finde merkwürdig, was da seit 40 Jahrengewählt wird. Nur käme ich nie auf die Idee, entspre-chende Wahlergebnisse zur Bedingung für die Bereit-stellung der Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe undanderer Mittel, die vom Bund in das Land Bayern flie-ßen, zu machen. Was von Bayern nie erwähnt wird– setzen Sie, Herr Krüger, sich doch wenigstens einmaldamit auseinander! –, ist zum Beispiel, daß Bayern vomBund nach wie vor sehr viel mehr Geld erhält als etwaSachsen und Thüringen. Das ist übrigens wahrscheinlichauch berechtigt. Bayern hat ja sehr viel mehr Einwohne-rinnen und Einwohner.
Es gibt allerdings keinen Grund dafür, daß ständigauf diese Art und Weise der Osten von Spitzenpolitikernder CSU gedemütigt und diskreditiert wird, ohne daßSie, Herr Krüger, jemals ernsthaft dagegen aufgetretenwären.
Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den beidenMinisterpräsidenten Vogel und Biedenkopf sagen. Werdas in den Zeitungen richtig liest, der bekommt dochjetzt schon mit – so habe ich übrigens auch Ministerprä-sident Vogel bei „Sabine Christiansen“ verstanden –,daß wahrscheinlich beide dem Sparpaket zustimmenwerden.
Die Kritik bezieht sich auf diese ICE-Strecke. Herr Vo-gel hat in der Sendung ausdrücklich gefragt: Wiesokriegen wir diese Mittel nicht? Wenn wir diese Mittelbekommen, dann kann man über alles reden.
Das heißt, sein Maßstab ist nicht die Kürzung beim Ar-beitslosengeld, die Kürzung bei der Rente, die Kürzungbei den Unterhaltsleistungen, bei der Arbeitslosenhilfe.Das läßt er alles durchgehen.
Nur der ICE ist sein Maßstab. Wissen Sie, es ist mir einbißchen wenig – das muß ich ehrlich sagen –, wenn mandas zum Gegenstand der Auseinandersetzung beimSparpaket macht. Ganz ähnlich verhält sich auch Bie-denkopf.
Herr Kollege Schulz, Sie haben gesagt, es würde imOsten nicht gekürzt werden. Das ist wirklich schlichtfalsch. Darf ich Ihnen ein paar Einzelbeträge nennen?Die Sachkostenzuschüsse an Träger von Arbeitsbeschaf-fungsmaßnahmen werden um 800 Millionen DM redu-ziert, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ werden um67 Millionen reduziert, die Mittel für die Bundesanstaltfür vereinigungsbedingte Sonderaufgaben werden um915 Millionen DM gekürzt, bei Forschung und Ent-wicklung wird um 15 Millionen gekürzt, die Mittel fürdie Finanzhilfen für Pflegeeinrichtungen werden um 109Millionen gekürzt. Angesichts dieser Zahlen können Siedoch nicht im Ernst behaupten, da würde nicht drama-tisch gekürzt werden. Das hat alles Auswirkungen, wasSie im Sparpaket in dieser Beziehung vorsehen. Deshalbkann man nicht im Ernst davon sprechen, daß der Auf-bau Ost auf hohem Niveau fortgesetzt wird. Nein, erwird auf niedrigerem Niveau fortgesetzt. Das ist dieWahrheit, und dazu sollte sich die Bundesregierungdann auch wenigstens ehrlich bekennen.Nun sind wir für unseren Antrag kritisiert worden,zum Beispiel in bezug auf das Pilotprojekt Ost. Worumgeht es denn da? Wir wollen doch, daß der Osten end-lich auch für die alten Bundesländer zu einer Chancewird. Man kann dort mehr ausprobieren, mehr machen,weil bestimmte Strukturen noch nicht so festgefahrensind. Wir möchten, daß das einfach einmal genutzt wird,damit gesagt werden kann: Da entwickelt sich etwas,was für die gesamte Bundesrepublik Deutschland vonVorteil sein könnte. Was wir unter anderem kritisierthaben, ist doch nicht, daß Sie dort marode Strukturenbeseitigt haben. Ich bin ja auch bereit, meinen Teil derVerantwortung dafür zu übernehmen. Was wir immerkritisiert haben, ist, daß Sie nie genau hingeguckt haben.Wenn ich mir jetzt die Pläne der Gesundheitsministerinanschaue, stelle ich fest: Sie entdeckt die Poliklinikenwieder, die Sie, meine Damen und Herren von der jetzi-gen Opposition, neun Jahre lang beseitigt haben. Sie ha-ben damals nicht genau hingeschaut.
– Ja, ich meine die rechte Seite dieses Hauses.Dasselbe könnte ich Ihnen hinsichtlich der Sekundär-rohstofferfassung und zu vielen anderen Sachverhaltensagen. Das ist es, was uns ärgert; hier wollen wir eineandere Weise des Herangehens. Wenn man das zum Teilim Westen übernommen hätte, dann hätten die Men-schen in den alten Bundesländern gesagt: Durch dieVereinigung kommt auch etwas Vernünftiges auf unszu. Dann hätte man die Einheit nicht nur unter Kosten-gesichtspunkten behandelt, wie das in den letzten Jahrender Fall gewesen ist.Ich könnte noch viele Themen ansprechen, zum Bei-spiel die Altschulden. Sie kennen das alles. Die Fehl-entwicklungen, die es da gegeben hat, geschahen unterIhrer Leitung; das können Sie nicht der heutigen Regie-rungskoalition vorwerfen. Der kann man nur vorwerfen,daß es kein Programm gibt.Was beantragen wir? Wir beantragen doch nicht dieAngleichung der Verhältnisse zum 1. Oktober 1999. Daskann der Bundeskanzler nicht leisten. Das können auchdie Regierungsfraktionen und die Bundesregierung nichtDr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4561
(C)
(D)
leisten. Was wir aber beantragen, ist, daß Sie wenigstenseinen Fahrplan vorlegen, damit wir wissen, in welchenSchritten und innerhalb welcher Fristen dies vollzogenwerden soll, damit wir eine Perspektive haben, mit derwir umgehen können. Und wenn hier immer das Finanz-argument vorgebracht wird, dann kann ich das nicht ak-zeptieren. Wir kämen doch auch in keinem alten Bun-desland auf die Idee, bei einem Ministerwechsel zu sa-gen: Dein Vorgänger hat zwar mehr verdient als du.Aber du weißt, unsere Kassen sind knapp. Du fängstjetzt einmal mit 80 Prozent des Gehalts an. – Einensolch absurden Gedanken hätte kein Mensch. Aber derOsten soll das immer akzeptieren.Vielleicht könnte man dies ja akzeptieren, aber nurunter der Bedingung, daß auch unsere Preise bei 70 bis80 Prozent der Westpreise liegen. Wir aber haben Preisein Höhe von 100 bis 110 Prozent und Einnahmen zwi-schen 65 und 85 Prozent. Das ist nicht hinnehmbar; daspaßt einfach nicht zueinander.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Hier ist dem We-sten etwas gelungen, was der DDR nie gelungen ist, wo-von sie nur geträumt hat. Sie kennen den alten Spruch:Überholen, ohne einzuholen. Also, bei den Energieprei-sen, bei den Wasser-, Abwasser- und Straßenbaubeteili-gungsgebühren haben wir das geschafft. Da haben denWesten überholt, ohne ihn je einzuholen. Diese Preisesind bei uns inzwischen bei weit über 100 Prozent. Dasist nicht hinnehmbar.
Deshalb sage ich: Hier muß sich etwas verändern.Neun Jahre nach der Herstellung der deutschen Ein-heit können Sie dies auch nicht mehr erklären. Was sa-gen Sie denn zu den beiden Polizisten in Greifswald?Trotz längerer Dienstzeit bekommen sie bei gleichemDienstgrad und gleichen Dienstaufgaben nach BAT Ostanstatt nach BAT West
– nein, Sie wissen, daß das nichts mit dem Land zu tunhat; über den BAT wird hier entschieden
– 250 bis 300 DM weniger als die tausend Kollegen inBayern, die ohne Erfolg durch den Wald streifen, wäh-rend sie zu zweit, wie es sich gehört, den Mörder auf derStraße festnehmen. Das können Sie nicht mehr erklären.
Und kommen Sie mir bloß nicht mit der Produktivität!
– Ja, Berlin. Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, HerrNooke, wenn Sie etwas von mir wissen wollen. Dannwerde ich es Ihnen erklären.In Berlin haben wir eine andere Situation. Weil dortdie Konfrontation viel zu unmittelbar war, hat sich derBerliner Senat diesbezüglich vernünftig gehalten. Soweites aber auch dort um den BAT geht, ist der Unterschied inallen Bereichen nach wie vor derselbe. Ich sage Ihnen: Esmuß etwas passieren, und zwar nicht nur wegen der heu-tigen Preisstruktur, sondern auch wegen der Zukunft.Wenn heute ein 19- oder 20jähriger als, nur einmal an-genommen, Angestellter im öffentlichen Dienst anfängtund dort seine Arbeit leistet, für die er etwa 80 Prozentdessen bezieht, was er in den alten Bundesländern dafürbekäme, dann bekommt er noch in 45 Jahren, wenn er inRente geht, per Rentenbescheid schriftlich bestätigt, daßer Ossi war bzw. ist, weil von ihm jetzt geringere Beiträgeabgeführt werden, so daß er bei gleicher Lebensleistungeine geringere Rente bekommt. Und da er nicht nur einJahr Rentner sein wird, sondern wahrscheinlich 20 Jahre,bekommt er dies 20 Jahre lang bestätigt.Wir fragen: Wann kommt der erste Jahrgang insBerufsleben, der weder beim Arbeitslosengeld noch beider Arbeitslosenhilfe – sollten diese traurigen Fälle ein-treten –, noch bei der Rente spürt, daß er in Ostdeutsch-land geboren ist, weil er unter gleichen Bedingungen ge-startet ist? Welcher Jahrgang wird das sein? Wenn nichtbald etwas geschieht, werden wir dieses Problem nochin 100 Jahren haben. Schon jetzt steht fest, daß wir dieUnterschiede in den Rentenbescheiden noch in 65 Jah-ren haben werden. Jedes Jahr, das tatenlos verstreicht,verlängert auch diesen Prozeß.
Dies kann nicht einfach mit dem Vorwand der Finanz-schwierigkeiten abgetan werden. Wir brauchen vielmehreinen klaren Fahrplan, in dem festgelegt ist, innerhalb wel-cher Fristen und mit welchen Schritten die Verhältnisse an-geglichen werden sollen. Alles andere ist nicht akzeptabel.Es kommen noch nichtmaterielle Dinge wie Berufs-abschlüsse etc. hinzu. Um darauf einzugehen, habe ichaber keine Zeit mehr. Sie wissen, da könnte man vielesmachen, was nicht einmal Geld kostet. Aber auch dies-bezüglich passiert nichts.
Ich gebe das Wort
für die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Mathias Schu-
bert.
Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen!
Dr. Gregor Gysi
Metadaten/Kopzeile:
4562 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte frage ichmich, warum die Opposition – damit meine ich haupt-sächlich Sie von der CDU/CSU – mit polemischen At-tacken zur Erklärung der eigenen Verantwortungslosig-keit für ehemaliges Tun ein Thema behandelt, das früherdankenswerterweise eher zu den gemeinsamen Anliegendes Hauses gehörte. Ich will Ihnen sagen, was ich ver-mute: Offenkundig drückt das Ihre Angst vor der Aus-sicht aus, daß sich wirklich etwas zum Besseren wendet,wenn wir unser Haushaltskonsolidierungsprogrammrealisieren und damit dem Staat auch in den neuen Bun-desländern wieder mehr Handlungsspielräume verschaf-fen.
Diese Handlungsspielräume sind dringend nötig, umzwei der wichtigsten Ziele des Aufbaus Osts, nämlichneue Arbeitsplätze durch zukunftsfähige Investitionen,umzusetzen. Dazu taugt die plakative Formel der PDSvon der sozialen Gerechtigkeit nicht. Sie bleibt nämlichschlicht die Antwort schuldig, wie das soziale Netz auchin den neuen Ländern dauerhaft belastbar bleiben kann.Das Wort von der „Wünsch-dir-was-PDS“ ist ja nichtzufällig im Liebknecht-Haus geprägt worden.Es taugt auch nicht die summarische Forderung derCDU/CSU nach eindeutigen inhaltlichen Prioritätenbeim Aufbau Ost, wenn Sie der Kritik in Ihrem Antragnicht einen konkreten Vorschlag beifügen.
– Das ist so; das können Sie nachlesen. Sie schließen miteinem Fünfzeiler, der nichts aussagt.Während ich bei der PDS wenigstens noch ein Zip-felchen an Bemühungen um Konstruktivität entdecke,verharren Sie im alten Denken und sind offensichtlichunfähig, eine umsetzbare politische Konzeption zurNeuorientierung des Aufbaus Ost zu entwickeln. Dennwenn Sie hier von Rotrot sprechen, dann bescheinigenSie sich bloß, daß Sie nicht mehr fachlich, sondern nurnoch in Ideologien denken können.
Wir dagegen haben in einer ersten Etappe der Neu-orientierung wesentliche und dringend notwendige Kor-rekturen vorgenommen. Der vor allem im Osten drama-tisch hohen Jugendarbeitslosigkeit begegnen wir wirk-sam mit unserem Sofortprogramm, das, wie auch Sie si-cherlich schon wissen, fortgesetzt werden wird. Wir ha-ben mit der Forschungsförderung nach vielen Jahren denfinanziellen Kahlschlag endlich beendet und die längstüberfällige Voraussetzung für zukunftsfähige Investitio-nen in den neuen Ländern geschaffen.
Herr Kollege Schu-
bert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Christa Luft?
Bitte schön.
Herr Kollege Schubert, ich
freue mich, daß Sie uns eine gewisse Konstruktivität
unterstellen. – Ich möchte Sie folgendes fragen: Was
halten Sie denn davon, daß die Kollegin Röstel, die
Parteisprecherin der Bündnisgrünen, vorgestern – so ha-
be ich das am 8. September in der Zeitung gelesen – ei-
ne Initiative der ÖTV zur Angleichung der Ostlöhne
an die Westlöhne unterstützt hat. Dort heißt es, daß es
nicht mehr länger hinnehmbar sei, daß eine Kranken-
schwester im Osten über 13 Prozent weniger verdiene
als im Westen. Besteht in diesem Zusammenhang ein
Dissens in der Koalition, oder hat sie nur für sich ge-
sprochen? Hat sich die Parteisprecherin der Grünen
nicht mit ihrer Fraktion abgestimmt? Ich möchte gerne
wissen, wie Sie das sehen.
Ich versuche, Ihnen
eine Antwort zu geben, aber nicht genau in diesem
Punkt. Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Dinge abge-
stimmt worden sind und welche nicht. Ich kann Ihnen
nur meine Meinung zu diesem Thema sagen. Das Gere-
de über Rotrot lasse ich jetzt einmal außen vor. Wir
werden nämlich nicht rotrot zusammenkommen.
Ich gebe Ihnen völlig recht, daß wir die Lohnanglei-
chung hinbekommen müssen, wenn wir nicht weiterhin
eine Zweiklassengesellschaft kultivieren wollen. Das
Problem ist nicht – darüber sollten wir ernsthaft disku-
tieren –, daß wir das hinbekommen, sondern wie und in
welchem Zeitraum wir das mit Blick auf die öffentlichen
Kassen erreichen.
Es gibt ein weiteres Problem – auch darüber müssen
wir sprechen –: Nicht nur die öffentlichen Kassen sind
von einer Lohnangleichung betroffen. Wir können nicht
den öffentlichen Dienst auf allen Ebenen bevorzugen
bzw. bevorteilen und die anderen Einkommensempfän-
ger, die mehrheitlich außertariflich bezahlt werden – das
wissen wir ja alle –, bei 60, 70 oder 80 Prozent der
Westeinkommen hängen lassen. Wenn wir das Thema
Lohnangleichung als Gerechtigkeitsprojekt in den neuen
Bundesländern verstehen – den Fahrplan, von dem Ihr
Fraktionsvorsitzender, Frau Luft, gesprochen hat, finde
ich nicht uninteressant –, dann sollten wir uns nicht nur
über einen solchen Fahrplan, sondern auch – um im Bild
zu bleiben – über die einzelnen Haltestellen unterhalten.
Denn dann ginge es nicht, daß der Beamte hie 100 Pro-
zent erhält und der Gießer da 60 Prozent. Das funktio-
niert nicht.
Gestatten Sie, Herr
Kollege, eine weitere Zwischenfrage von Frau Kollegin
Sonntag-Wolgast?
Ich bitte ganz herzlich.
KollegeSchubert, können Sie mir über das hinaus, was Sie ebenschon erläuternd gesagt haben, bestätigen, daß die Un-Dr. Mathias Schubert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4563
(C)
(D)
terschiede bei den Tarifen zwischen Ost und West nurfünf Prozent betragen, wenn Sie die Nettoberechnungzugrunde legen?
Das kann ich bestäti-
gen. Vielen Dank, Frau Kollegin.
Liebe Kollegin, an
einer knappen Auskunft ist nichts auszusetzen.
Außerdem war daseine korrekte Antwort, wenn Sie einmal nachdenken.Das Inno-Regio-Programm hat in einer Reihe vonRegionen schon jetzt zu wirtschaftlichen und struktu-rellen Synergieeffekten geführt wie kaum ein anderesFörderprogramm bisher. Bitte vergessen Sie eines nicht:Der Bund wird – später werden Sie hier wieder anderesbehaupten – trotz Haushaltskonsolidierung im Jahr 2000mehr Geld für die neuen Länder bereitstellen, als es imletzten Haushalt der schwarz-gelben Bundesregierung1998 der Fall war.
Das ist erst der Anfang. Denn die Bilanz nach nun-mehr neun Jahren Aufbau Ost zeigt ein Bild voller Kon-traste. Wer wollte das leugnen? Absturz und Auf-schwung, Wachstumszentren und Problemregionen! Ineinem beispiellosen solidarischen Kraftakt haben Ost-deutsche und Westdeutsche gemeinsam Hunderte Milli-arden an Steuergeldern für die neuen Länder aufge-bracht. Dennoch ist flächendeckend keine tragfähigeWirtschaftsstruktur entstanden. Die bedrückende Ar-beitslosigkeit liegt durchweg und stabil bei über 17 Pro-zent, die Abwanderung von Ost nach West konnte nichtgestoppt werden, ganze Regionen drohen leerzulaufen.
– Wenn Sie mir zuhören würden, könnten Sie sich soetwas sparen.
Die immer wieder beschworene Angleichung der Le-bensverhältnisse stagniert. Und da wundern wir uns, daßsich immer mehr Ostdeutsche als Menschen zweiterKlasse fühlen!Dennoch habe ich als Ostdeutscher nicht vor, die Lei-stungen der alten Bundesregierung für die neuen Länderpauschal zu disqualifizieren. Erstaunlicherweise machendas die Autoren des CDU/CSU-Antrags. Darin stehenim Zusammenhang mit Strompreisangleichung undWohngeldreform folgende Sätze:Eine Verbesserung für Ostdeutschland gibt es nicht.Bestenfalls wird der Status quo gewahrt.Was heißt denn das? Damit diskreditieren Sie denStand der deutschen Einheit, den Sie zu verantwortenhaben,
und bezeichnen damit natürlich auch Ihre bisherige Auf-bau-Ost-Politik pauschal als schlecht.
– Dann lesen Sie doch noch einmal nach.Herr Krüger, wenn die Bankrotteure die Konkurs-verwalter für ihren Bankrott verantwortlich machen,dann zeugt das von der Unfähigkeit zur Realitätsbewäl-tigung und damit letztlich von Ihrer Unfähigkeit, kon-struktive Politik zu gestalten.
Ich sehe mich fast genötigt, Sie gegen sich selbst inSchutz zu nehmen.
Es geht jetzt um eine zweite Phase beim Aufbau Ost,und dieser ist als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabezu begreifen. Deshalb werden wir das Zerbrechen dergesamtdeutschen Solidarität nicht zulassen. Es mußunsere gemeinsame parlamentarische Aufgabe bleiben,im Rahmen der Möglichkeiten dieses Hauses den ange-strebten Ausstieg etwa Bayerns oder Baden-Württem-bergs aus der Bund-Länder-Solidargemeinschaft mitOstdeutschland zu verhindern – und zwar unabhängigdavon, wie die notwendige Anschlußregelung des Soli-darpakts nach 2004 im Detail gestaltet wird.
Wer den Aufbau Ost als Erfolg will, darf ihn nichtauf eine Finanzbeziehung zwischen Bund und neuenLändern reduzieren. Denn das ist ein fahrlässiges Spielmit der inneren Einheit. Wir werden ja sehen, wievielSie an solidarischer Kraft im eigenen Lager dazu auf-bringen. Denn eines ist sicher: Die ererbte Finanzlagedes Bundes ist derart desolat, daß der Aufbau Ost ohneHaushaltskonsolidierung in Zukunft nicht mehr in dernotwendigen Form gesichert werden kann. Dieser Zu-sammenhang ist zwingend.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Metadaten/Kopzeile:
4564 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Herr Kollege Schu-
bert, die Kollegin Pieper möchte eine Frage an Sie stel-
len.
Bitte schön, Frau
Kollegin.
Ich werde in der Tat dafür
bezahlt, daß ich hier im Interesse des Aufbaus Ost die
richtigen Fragen stelle.
Herr Kollege Schubert, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, was das Wirtschaftsinstitut in Halle unter
Führung von Professor Pohl letztens veröffentlicht hat,
nämlich daß auf Grund der im letzten Jahr von Ihrer Re-
gierung beschlossenen Gesetze – ich meine jetzt nicht
nur das Ökosteuer-Gesetz, sondern auch alle anderen
Gesetze – eine unheimliche Belastung gerade des Mit-
telstandes in den neuen Bundesländern stattgefunden
hat? Er hat nachgewiesen, daß allein durch die damit
einhergehende Verunsicherung viele Firmen einen Auf-
tragsverlust erlitten haben. Darüber hinaus ist in den
neuen Bundesländern auf Grund der Unsicherheiten, die
es gerade für kleine und mittelständische Unternehmen
gibt, mit einem Beschäftigungsabbau zu rechnen.
Sind Sie bereit, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen
und zuzugeben, daß die Politik, die von Ihnen betrieben
worden ist, letztendlich nicht zum Aufbau Ost beiträgt?
Verehrte Frau Kolle-gin, Sie werden von mir schlechterdings nicht erwartenkönnen, daß ich dem letzten Teil Ihrer Frage zustimme.Ich kenne – das muß ich Ihnen ehrlicherweise zugeste-hen – diese Studie nicht. Was mich wundert, ist: HerrPohl hat – wie übrigens andere Wirtschaftsinstitute auch– bislang immer einen ganz anderen Standpunkt vertre-ten. Er hat nämlich gesagt: 2004 brauchen wir im Ostenkeine Sonderförderung für die Wirtschaft mehr; undjetzt plötzlich dies.
– Verunsichert worden ist vielleicht Herr Pohl. Aber ichkenne zumindest aus meinem Umfeld – ich kenne IhrUmfeld nicht – kein Unternehmen, das durch unseresteuerpolitischen Maßnahmen verunsichert worden wä-re.
Man muß ein Wort zur hoffnungslosen Unterfinan-zierung – jetzt wird es wieder ernsthaft – zum Beispieldes Bundesverkehrswegeplans sagen, eines Bundes-verkehrswegeplans, den Sie, die Vorgängerregierung– dafür tragen Sie die Verantwortung –, als eine ArtMärchenbuch geschrieben haben. Das zwingt zu einerrealistischen Zurückführung auf das Machbare, und dasMachbare ist in diesem Fall das Bezahlbare.
– Herr Türk, ich komme gleich zu Ihnen. – Meinen Sieetwa, es macht uns Spaß, das Verkehrsprojekt Nr. 8 zucanceln?
– Herr Kollege, haben Sie es noch nicht kapiert? Wennwir sagen würden, wir machen das Projekt Nr. 8 undnicht das Projekt Nr. 17, garantiere ich Ihnen, daß Sieals Opposition bei der nächsten Debatte zum Aufbau Osthier fragen: Warum macht ihr Nr. 17 und nicht Nr. 8?Das ist schwierig.Bei diesen Aufräumarbeiten sind leider auch alsschmerzhaft empfundene Einschnitte nicht zu vermei-den. Es ist wohlfeil und pharisäerhaft zugleich, sichauch hier aus der eigenen Verantwortung zu stehlen.Auch als Opposition können Sie doch nicht übersehen,daß auf der Grundlage von Bund-Länder-Vereinbarungen – die Sie im übrigen so gut kennen wieich – andere Verkehrsvorhaben wie die A 17, die A 38und die A 71 sowie die B 247 einschließlich Ortsumge-hungen gebaut werden. Herr Parlamentarischer Staats-sekretär, herzlichen Dank für diese am Montag vor einerWoche in Leinefelde erteilte Auskunft. Diese Projekteliegen alle im Osten der Republik.Ein letzter Punkt: Neuorientierung der Wirtschafts-förderung. Auch hier, meine Damen und Herren, liebeKolleginnen und Kollegen, sind einige unbequemeWahrheiten zu diskutieren. Wie entwickelt man lei-stungs- und innovationsorientierte Standorte in Ost-deutschland? Weder Dauersubventionen noch konflikt-vermeidende sogenannte Transferleistungen allein rei-chen zur Realitätsbewältigung aus. Zukunftsfähiges mußgefördert werden. Dazu müssen wir Bedingungen schaf-fen, die besser sind als anderswo, um nicht zuletzt histo-risch bedingte Nachteile auszugleichen.Dazu gehört zum Beispiel die Förderung von Vernet-zungseffekten, von Marktzugang, von Managementkom-petenz, von Kooperation zwischen Branchen und Regio-nen. Nachdem die Privatisierung der ostdeutschen Unter-nehmen abgeschlossen ist und die meisten industriellenKerne – wenn auch auf sehr unterschiedlichem Niveau –erhalten sind, geht es nun darum, den wirtschaftlichen Er-folg zu organisieren. Die Regeln westdeutscher Industrie-politik der 60er und 70er Jahre, nach denen sehr vieleWirtschaftsförderprogramme Ost immer noch gestricktsind, sind offenbar nicht mehr zukunftsfähig.Ich weiß, daß solche Überlegungen zur Neuorientie-rung in Einzelfällen zu bitteren Konsequenzen führenund sich der Widerstand derer, die den Status quo alskonservatives Politikinstrument bewahren wollen, regt.Aber an den Fakten kommt letztlich niemand vorbei.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4565
(C)
(D)
Das Ziel heißt: mehr Effizienz, mehr Arbeitsplätze,mehr Innovation, mehr Zukunftssicherheit – mit dem-selben finanziellen Einsatz.Da Frau Kollegin Hustedt vorhin das Thema Strom-preisdiskussion dankenswerterweise genau in derselbenRichtung diskutiert hat, die auch ich vertrete, will ichdas nicht mehr ansprechen.Ich möchte noch auf den A3XX, Herr Krüger, zusprechen kommen. Das Engagement des ehemaligenBundeskanzlers Kohl für den A3XX in Rostock bestehtnach Recherchen der Schweriner Staatskanzlei aus einemBrief an die Staatskanzlei und ein paar Wahlkampf-reden. Es war also nichts als laue Luft, die hinten her-auskam.
– Dafür hat sie nicht lange gebraucht.
Ich fasse zusammen und komme zum Ende: MeineDamen und Herren, soziale Gerechtigkeit ist nicht zu-letzt durch Innovation, Investition und Schaffung vonArbeitsplätzen zu organisieren. Dazu braucht es Geld –aber nicht nur. Dazu braucht es auch intelligente Ideen,gemeinsames politisches Engagement, risikobereite,pfiffige Unternehmer und qualifizierte sowie motivierteArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Essentialswerden unsere Arbeit am Aufbau Ost bestimmen.Vielen Dank.
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Finanzminister des Landes Thüringen,
Andreas Trautvetter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
HerrPräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Schubert, Sie haben ein Bild von Ostdeutschlandgezeichnet, das für Ihre Heimat Brandenburg zutreffenmag. Für Sachsen und für Thüringen ziehe ich mir – beialler regionalen Differenzierung, die auch bei uns ange-bracht ist – diesen Schuh allerdings nicht an.
Sie haben sich über die Verantwortungslosigkeit,über ehemaliges Tun beschwert. Ich möchte ein Bei-spiel nennen – das bezieht sich mehr auf die letzteDebatte –: Über die Konsolidierung der öffentlichenHaushalte reden wir nicht erst seit 1998, sondernschon viele Jahre.
1997 gab es eine Finanzministerkonferenz in Merseburg.Bis am Vorabend dieser Finanzministerkonferenz vonMerseburg waren sich alle SPD- und CDU-Finanz-minister über ein Konsolidierungsprogramm in Höhevon 15 Milliarden DM einig. Das war der kleinste ge-meinsame Nenner von Vorschlägen über insgesamt35 Milliarden DM. Dann kam am Vormittag das Ausaus der Baracke, und der gemeinsame Beschluß kamnicht zustande. Das ist verantwortungsloses Tun Ihresehemaligen Bundesvorsitzenden Lafontaine.
Auch dazu sollte man stehen.
Es gibt eine weitere verantwortungslose Aussage ausden letzten Tagen.
– Hören Sie mir doch einmal zu!
Es gibt ein Zitat von Herrn Bundesfinanzminister Eichelam 30. August in der „Leipziger Volkszeitung“:Ich erwarte auch von den neuen Ländern, daß siebegreifen, daß die Konsolidierung des Bundeshaus-haltes jetzt die Voraussetzung dafür ist –
– Sehr geehrter Herr Abgeordneter, dürfen Bundesrats-mitglieder hier im Bundestag reden, ist das nicht parla-mentarischer Brauch? Oder möchte der Deutsche Bun-destag seine Geschäftsordnung diesbezüglich ändern?
Ich darf noch einmal Bundesfinanzminister Eichel zitie-ren:Ich erwarte auch von den neuen Ländern, daß siebegreifen, daß die Konsolidierung des Bundeshaus-haltes jetzt die Voraussetzung dafür ist, daß derBund auch in Zukunft weiter seinen Verpflichtun-gen für den Aufbau Ost nachkommen kann
und daß damit die ostdeutschen an die westdeut-schen Länder herangeführt werden können.Auf die Frage, ob die Zustimmung zum Sparpaket dieVoraussetzung für die Fortführung des Solidarpaktessei, erklärte Eichel: „Ja, sicher.“ Darauf kann ich freinach Bundeskanzler Schröder sagen: Wir haben ver-standen. Nur dann, wenn wir uns im Osten mit kind-licher Seele dem Willen des guten, großen Onkels ausDr. Mathias Schubert
Metadaten/Kopzeile:
4566 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
dem Westen anpassen, bekommen wir zur Belohnungunseren Solidarpakt. So kann ein Bundesfinanzministernicht mit uns umspringen.
Diese Parolen mögen an einem Stammtisch in Kasselgut ankommen, aber sie haben nichts mit einer Politik zutun, die sich am Allgemeinwohl orientiert.Meine Damen und Herren von der SPD, Sie habenmittlerweile die verhängnisvolle Neigung entwickelt,Politik per Dekret zu verkünden. Aber das Wesen derparlamentarischen Demokratie besteht darin, Mehrheitendurch Überzeugungsarbeit und nicht durch Muskelspieleund böse Blicke zu gewinnen.
Vorhin ist gesagt worden, uns interessiere nur derICE. Nein, meine Damen und Herren! Thüringen wirddem Bundesfinanzminister keine Knüppel zwischen dieBeine werfen, jedenfalls nicht dort, wo echte Einsparun-gen zu erwarten sind. Aber wir erlauben uns, immerdann nachzufragen, wenn elementare Interessen derOstländer tangiert sind. Wir werden uns auch querlegen,wenn zentrale Punkte beeinträchtigt werden. Zu diesengehören der Ausbau der Infrastruktur und die Wirt-schaftsförderung.Wenn Herr Schulz uns die Mitte-Deutschland-Verbindung für den ICE verkaufen möchte, dann kannich nur darauf sagen: Diese Mogelpackung nehmen wirnicht an; denn für die Mitte-Deutschland-Verbindung istkeine Mark mehr als vorgesehen in den Haushalt einge-stellt worden. Es gibt keine überregionale Strecke, wenndie Züge in Weimar das elektrifizierte Gleis verlassenund in Glauchau wieder auf dieses zurückkehren. DieElektrifizierung der Mitte-Deutschland-Verbindung ha-ben Sie einfach vergessen. Damit ist Ihr Angebot eineMogelpackung.
Herr Minister
Trautvetter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Ich hatte in den letzten
Wochen Gelegenheit, sehr viel mit Minister Schuster
über den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den
neuen Ländern zu sprechen. Gestehen Sie mir zu, daß
die Bundesregierung zur Sicherung der Infrastruktur
immer wieder dafür gesorgt hat, daß die neuen Bun-
desländer, insbesondere Thüringen und Sachsen, bei
den Hauptbautiteln an vorderster Stelle stehen? Räu-
men Sie auch ein, daß die Bundesregierung mit beson-
derer Priorität die A 71 und A 73 sowie im Rahmen ih-
res Ortsumgehungsprogramms auch die Infrastruktur in
Thüringen – wie übrigens auch in Sachsen und Sach-
sen-Anhalt – im Vergleich zu den alten Bundesländern
auf höchstem Niveau gefördert hat und die Mittel dafür
gegenüber 1998 sogar noch erhöht hat? Ist Ihnen be-
kannt, daß die alte Bundesregierung unter Kohl keine
Finanzierungsvereinbarung für die 8.1 und für die 8.3
getroffen hatte?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich ge-
stehe Ihnen zu, daß Sie in der letzten Woche sehr häufig
in Thüringen waren, um Investitionen in Gang zu brin-
gen, die alle die letzte Bundesregierung auf den Weg
gebracht hat.
Ich möchte Sie bitten, sich einmal einen Autoatlas
von 1952 anzuschauen. Wenn Sie das tun, merken Sie,
worum es geht. 1952 gab es das dichteste Autobahn-
netz von Deutschland in Sachsen und in Thüringen.
Wir klagen nicht irgendwelche großen Vorhaben vom
Staat ein, weil dieser zuviel Geld hat; vielmehr klagen
wir den Aufbau einer Infrastruktur ein, und zwar so, wie
wir sie längst hätten, wenn es keine deutsche Teilung
gegeben hätte.
Das sind keine Geschenke, sondern politische Not-
wendigkeiten.
Herr Minister
Trautvetter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Scheffler?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Die Regierung Kohl hat
zwar viele Spatenstiche gemacht, aber die Finanzierung
war nicht gesichert. Meine Frage zur Finanzierung der
8.1, der 8.3, der A 71 und der A 73 haben Sie nicht be-
antwortet. Sie hatten die Finanzierung nicht unter Dach
und Fach. Wir haben im Bundeshaushalt 1999, im Bun-
deshaushalt 2000 und darüber hinaus die Finanzierung
gesichert.
Das gilt im übrigen auch für die Verkehrsprojekte
Deutsche Einheit. Man kann zwar vollmundig viel auf
den Weg bringen, aber man muß die Finanzierung si-
chern. Darin besteht der Unterschied zwischen der alten
und der neuen Bundesregierung. Die neue Bundesregie-
rung hat angefangen, mit dem Haushalt 1999 und auch
mit dem Haushalt für das nächste Jahr, die jetzt begon-
nene Verkehrsinfrastruktur finanziell abzusichern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie ha-ben keine Frage gestellt. Ich bitte um Entschuldigung,ich kann keine Antwort geben, weil Sie keine Frage ge-stellt haben.
– Sie haben eine Feststellung getroffen. Zu den Finan-zierungsfragen komme ich noch. Warten Sie einen Mo-ment! Erst möchte ich über ein paar andere Punkte spre-chen.Minister Andreas Trautvetter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4567
(C)
(D)
Schauen wir uns die Neuregelung zum Wohngeld an.Sie verkaufen hier die nächste Mogelpackung. Sie brü-sten sich damit, daß die Wohngeldbeträge in den neuenLändern um durchschnittlich 35 DM pro Monat erhöhtwerden, gleichzeitig verschweigen Sie aber, daß alleVorschriften, von denen ein zu abrupter Übergang zumVergleichsmietensystem abgefedert werden soll, aufeinmal abgeschafft werden. Das ist die Realität.
Gerade die sozial schwächeren Gruppen wie Arbeitslo-se, Rentner und Alleinerziehende werden durch dieseRegelung mit Mehrbelastungen zu rechnen haben.Ein Weiteres kommt hinzu. Wenn man das ganzeSparpaket durchgearbeitet hat, dann erkennt man, daßsich der Bund um Milliardenbeträge entlastet, währendLänder und Kommunen sehen müssen, wo sie ihr Geldherbekommen.
Ich frage mich manchmal, ob sich der Bundesfinanzmi-nister noch in seine Zeit als Oberbürgermeister von Kas-sel zurückversetzen kann.
– Ja, das hat er alles vergessen. Bei der Einhaltung der Maastricht-Kriterien kommtes nicht darauf an, welche Schulden durch den Bundes-haushalt gemacht werden; vielmehr kommt es auf diegesamtstaatliche Verschuldung von Bund, Ländern undGemeinden an. Das wird vergessen. Wenn das so wei-tergeht, dann garantiere ich Ihnen, daß wir nicht nureinen Solidarpakt II benötigen; vielmehr können Siegleich einen dritten Solidarpakt planen.Wir haben – nicht nur aus reinem Länderinteresse –gar keine andere Möglichkeit, als gegen ein solchesSparpaket zu stimmen. Man muß unser Abstimmungs-verhalten bald wirklich Notwehr nennen. Wie sollen wirunseren Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung im Ostenleisten, wenn die Finanzausstattung von Ländern undKommunen deutlich reduziert wird?
Wenn der Aufbau Ost zur Chefsache gemacht wird,dann ist das gut und richtig. Aber der Bundeskanzlerhält sich nicht daran, und mittlerweile ist dieser Gedankeauch in Thüringen eher als Drohung denn als Zusage zuverstehen. Bis 1998 gab es unter den Länderfinanzmi-nistern und zwischen den Länderfinanzministern unddem Bundesfinanzminister einen anderen Umgang. Esgab kaum etwas Schwieriges, was vorher nicht auch mitden SPD-Finanzministern aus den Ländern besprochenworden ist. Das wird heute nicht mehr gemacht. Mantagt jetzt in parteiinternen Zirkeln, wie letztens in Wis-mar. Diese Hinwendung zu einem Parteienstaat, der nureine Sicht der Dinge zuläßt, betrachten vor allem wir inden neuen Ländern mit Skepsis, denn wir haben damitschon vor 1989 entsprechende Erfahrungen gemacht.
Meine Damen und Herren, noch einmal zurück zuden Verkehrswegen: Ich hoffe ja, daß sich bezüglich desWeiterbaus der ICE-Trasse etwas ändert, wenn dem-nächst ein neuer Verkehrsminister sein Amt aufnimmt.Ich habe das SPD-Wahlprogramm für das Saarland sehraufmerksam studiert: In ihm wurde die transeuropäischeICE-Strecke von Paris über Saarbrücken nach Frankfurtals ein notwendiges Projekt für die Entwicklung vonWirtschaftsstrukturen bezeichnet. Vielleicht wird manja, wenn der neue Bundesverkehrsminister im Amt ist,noch einmal über die ICE-Strecke reden können, da eroffensichtlich die Bedeutung eines solchen Projektesrichtig einschätzt.
Dann bekommen wir es vielleicht vor Ablauf der näch-sten fünf Jahre auf die Reihe. Es war ja auch eine Mo-gelpackung, als man davon sprach, die Finanzierungszu-sage auf zehn Jahre auszudehnen. Sie wissen ganz ge-nau, daß man laut Gesetz das Baurecht nur einmal fürfünf Jahre verlängern kann. Wenn Sie dieses Projekt erstin zehn Jahren finanzieren wollen, dann müssen Sie öf-fentlich sagen, daß Sie den Bau aufgeben wollen, weildas Baurecht es nicht mehr zuläßt.
Sie haben nach der Finanzierung gefragt: Wenn derStaat kein Geld hat, muß er intelligente Lösungen an-streben. Man sollte sich dabei vom volkswirtschaftlichenSachverstand und nicht vom Bleistift eines Buchhaltersleiten lassen. Wenn man nämlich 1 Millionen DM in-vestiert, dann fließen 400 000 DM direkt in Form vonSteuern und Sozialabgaben in die öffentlichen Kassenzurück. Wenn ich noch den Beschäftigungsaspekt hin-zunehme, ergibt sich bei der Bundesanstalt für Arbeiteine Entlastung um weitere 300 000 DM. Das heißt,70 Prozent der öffentlichen Investitionen fließen direktin die Kassen des Staates zurück bzw. entlasten ihn aufder Ausgabenseite. Ausgehend von dieser Basis sollteman sich darüber unterhalten.Herr Staatssekretär, es stimmt ja nicht, daß Sie nurdie ICE-Strecke zur Disposition stellen. Es gibt Finan-zierungsvorbehalte für Bauabschnitte der A 4: DieFinanzierung für das Projekt im Leutratal und für dieNordumfahrung Hörselberge ist nicht gesichert. Ichstelle jetzt einmal eine volkswirtschaftliche Rechnungfür das Leutratal auf: Wenn die A 4 dort nicht ausgebautwird, dann verursachen die entstehenden Staus täglicheinen volkswirtschaftlichen Schaden zwischen 500 000und 1 Millionen DM. Wenn Sie das auf ein Jahr hoch-rechnen und die jetzige Steuerbelastung von Unterneh-men zugrunde legen, dann kommen Sie zu dem Ergeb-nis, daß der Nichtausbau dieses Abschnittes der A 4Steuermindereinnahmen von mindestens 80 bis 100 Mil-lionen DM im Jahr verursacht. Insgesamt geht es dabeium eine Investition in Höhe von 300 Millionen DM, dieMinister Andreas Trautvetter
Metadaten/Kopzeile:
4568 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
hinausgeschoben wird. Wenn ich den Aspekt der Rück-flüsse der Gelder und der Mehreinnahmen durch Ver-hinderung eines solchen Nadelöhrs zusammenrechne,refinanziert sich diese Investition in spätestens zwei Jah-ren. Jeder Unternehmer würde sich eine solche Amorti-sation von Investitionen wünschen. Deswegen gehört es auf die Tagesordnung, daß mansich neue Modelle überlegt und volkswirtschaftlichestatt rein fiskalische und buchhalterische Erwägungenbei Investitionsentscheidungen ins Feld führt.
Wir haben damit gute Erfahrungen insbesondere im Be-reich des Hochschul- und Hochschulklinikbaus gemacht.Damit haben wir strukturelle Nachteile schneller abbau-en, Arbeitsplätze schaffen und trotz schwieriger Kas-senlage hohe Investitionen beibehalten können.Man könnte noch viele Punkte ansprechen; doch da-von sehe ich jetzt einmal ab. Nur soviel noch: Vorhinwurden Zahlenangaben bezweifelt. Ich möchte Ihneneinmal die konkreten Zahlen der Energiesteuer für Thü-ringen nennen. Im privaten Bereich gibt es in Thüringeneine Mehrbelastung von 60 Millionen DM im Jahr. Dasist ein Finanztransfer von Ost nach West. Diese Mehr-belastung entsteht durch die unterschiedlichen Löhne inWest und Ost, weil die Entlastung bei den Sozialversi-cherungsbeiträgen geringer, aber die Kostenbelastungdie gleiche ist. Das erste Gesetz, das die neue Bundes-regierung beschlossen hat, ist ein Gesetz, das einenFinanztransfer von Ost nach West erzeugt. Dazu kannman Ihnen gratulieren. Machen Sie in dieser Sache ruhigso weiter.Wir werden uns niemals gesamtstaatlichen Konsoli-dierungsbemühungen widersetzen. Ganz im Gegenteil,wir werden alle echten Sparbemühungen unterstützen.Aber etwas darf nicht passieren – dort werden wir unswidersetzen –, nämlich erstens, daß der Osten überpro-portional belastet wird – und das ist der Fall –,
und zweitens, daß eine soziale Unausgewogenheit ver-ankert wird; auch das ist in Ihrem Sparprogramm derFall. Deswegen werden wir ihm in der jetzigen Formnicht zustimmen können.
Machen Sie den Aufbau Ost endlich wieder zu dem,was er einmal war, nämlich zur Chefsache.Vielen Dank.
Es spricht nun fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege AlbertSchmidt.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eine Bemerkung vorweg zu dem, was es fürmich schwer erträglich macht, dieser Debatte gelassenzu folgen: Wer selbst einen derart gigantischen Schul-denberg hinterlassen hat,
in einer Größenordnung, welche die Handlungsfähigkeitund Gestaltungsfähigkeit des Staates in Frage stellt, undjetzt hier eine scheinheilige Empörung darüber zele-briert, daß wir nicht alle Ihre haltlosen Versprechungenvon gestern erfüllen können, der ist für mich völlig un-glaubwürdig.
Dieses Haushaltskonsolidierungsprogramm veran-stalten wir doch nicht aus Jux und Tollerei, um mitten inschwierigen Landtagswahlkämpfen möglichst vieleWählerinnen und Wähler zu verschrecken, sondern dasveranstalten wir, weil es bitter notwendig ist, um die Ge-staltungs- und Handlungsmöglichkeit des Staates wiederzurückzugewinnen und nachhaltig zu sichern.
Denn wenn ich jede vierte Mark aus Steuereinnahmensofort an die Banken weiterüberweisen muß – als Zin-sen, nicht als Tilgung; in diesem Land wurden seit Jah-ren keine Schulden mehr getilgt –, kann ich nicht mehrhandeln und gestalten. Das ist der Hintergrund, vor demwir diskutieren.
– Da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege. Ich gebe Ihnenausdrücklich recht, daß uns dies nicht der Verantwor-tung entbindet, sehr sorgfältig zu schauen, wo Sparenvernünftig und sinnvoll und wo es vielleicht geradezufalsch und kontraproduktiv ist.Damit komme ich zur Sache im Detail, zur jetztmehrfach beklagten Planungskorrektur bei der ICE-Verbindung Nürnberg–Erfurt. Was ist eigentlich pas-siert? Was sieht man, wenn man einmal hinter den gan-zen Pulverdampf des Wahlkampfs und den Rauch derpolitischen Nebelkerzen schaut?
Die Planung einer Neubaustrecke durch den ThüringerWald – das hat bereits die Anhörung in der letzten Le-gislaturperiode gezeigt – war von Anfang an eine un-wirtschaftliche Planung. Sie ist dennoch aus politischenGründen, einfach auf Grund der Mehrheitsverhältnisse,zunächst einmal weiter verfolgt worden. Es gab abergleichwohl innerhalb des Bundesunternehmens Deut-sche Bahn AG – das ist eine privatisierte Aktiengesell-schaft; wir alle hier im Haus wollten das – schon immerintensive Überprüfungen, inwieweit diese Strecke über-haupt rentabel ist. Diese Überprüfungen wurden nichtMinister Andreas Trautvetter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4569
(C)
(D)
nur an dieser Stelle durchgeführt, sondern im gesamtenNetz sämtlicher Infrastrukturplanungen der DeutschenBahn und damit auch des Bundes, der sie bezahlen muß.Das Ergebnis war – das wurde am 7. Juli dieses Jahreszu einem Beschluß im Aufsichtsrat –, daß sich dieseStrecke in dieser Form derzeit nicht rechnet.Sie wurde aber nicht ersatzlos gestrichen. Vielmehrwurde statt dessen beschlossen – das unterschlagen Sieimmer –, endlich die Finanzierung der Mitte-Deutsch-land-Bahn zu sichern und damit auf hohem Niveauprioritär voranzutreiben, ein von der alten Regierungvergessenes Projekt der deutschen Einheit,
in einer Region, in der sämtliche Städte Mitteldeutsch-lands wie auf einer Perlenschnur aufgereiht sind, in derMillionen von Pendlerinnen und Pendlern fahren, diezum Beispiel östlich von Erfurt jetzt noch Fahrge-schwindigkeiten von 50 km/h haben. Das ist völlig un-haltbar. Das mußte vorangetrieben werden. Gleiches giltfür die andere wichtige Achse, die Franken-Sachsen-Magistrale, die sich in Chemnitz mit der Mitte-Deutschland-Bahn vereint. Zur Mitte-Deutschland-Bahngehört eben auch der Abschnitt Dresden–Görlitz. Denndie Welt hört nicht in Dresden auf. Diese Achse inRichtung Polen wollen wir ebenfalls ausbauen, und des-halb wird dort zusätzlich Geld investiert.
Des weiteren wurde beschlossen – im wesentlichenwerden dafür Bundesmittel eingesetzt –, daß das ge-samte Netz bundesweit mit 48 Milliarden DM moderni-siert wird: mit moderner elektronischer Leit- und Si-cherungstechnik, mit elektronischen Stellwerken. DieseMaßnahmen werden doch nicht um Thüringen herumdurchgeführt, sondern kommen natürlich auch dem ma-roden Netz in Thüringen zugute. Denn es nützt unsnichts, wenn wir deutschlandweit zwei oder drei De-Luxe-Vorzeigeprojekte haben, während nebenan vonTag zu Tag das Netz verfällt, bis es buchstäblich nichtmehr befahrbar ist.
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu Thüringen, HerrMinister Trautvetter: Wissen Sie, daß das Nahverkehrs-netz in Thüringen schon heute zu 9 Prozent nicht mehrbefahrbar ist, weil es technisch k.o. ist? Da hat nie eineStillegung stattgefunden; es ist einfach marode und ka-putt und darf aus Sicherheitsgründen nicht mehr befah-ren werden. Zudem häufen sich die Langsamfahrstellen.Auf diesen Strecken sind die Menschen jeden Tag un-terwegs – nicht von Stockholm nach Verona, sondern imNahverkehr. Dort muß investiert und modernisiert wer-den, und das werden wir tun.
Ich möchte noch einer anderen üblen Legendenbil-dung entgegenwirken, nämlich dem Latrinengerücht vongekürzten oder gestrichenen investiven Mitteln, daslandauf, landab gestreut wird. Es war gerade die Lei-stung – eine sehr clevere, wie ich meine – des scheiden-den Bundesverkehrsministers, Franz Müntefering, eshinbekommen zu haben, daß trotz des Konsolidierungs-paketes die investiven Mittel für Straße und Schieneim Bundeshaushalt 1999/2000 faktisch auf gleichem Ni-veau geblieben sind. Schauen Sie in den Bundeshaushalt– Sie können das doch nachlesen; das sind Zahlenwerke,die Ihnen als Drucksache zur Verfügung stehen –: Stra-ßenbau: einstmals 8,3 Milliarden DM, jetzt 8,2 Milliar-den DM; Schienenbau: letztes Jahr 6,7 Milliarden DM,jetzt 6,8 Milliarden DM. Im Grunde wurde das Niveaugehalten. Von einer Streichorgie kann überhaupt keineRede sein. Gerade die investiven Mittel haben wir imwesentlichen halten können; im Bereich Schiene wurdensie sogar erhöht. Also, lassen Sie diese üblen Gerüchte!
Herr Kollege
Schmidt, eigentlich ist Ihre Redezeit vorbei; aber wenn
Sie noch eine Frage des Kollegen Kolbe beantworten
möchten, dann sollten Sie dazu Gelegenheit bekommen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Wenn es denn um diese Zeit noch der
Wahrheitsfindung dient, bitte, Herr Kollege.
Ob es der Wahrheits-findung dient, hängt von Ihnen ab.Herr Schmidt, Sie haben von zahlreichen Alternativ-projekten gesprochen. Können Sie mir bitte erstens sa-gen, welche Beträge die Bundesregierung für diese al-ternativen Eisenbahnprojekte im mitteldeutschen Raumin die Haushalte einzustellen plant? Sind überhauptMittel eingeplant, und wenn ja, in welcher Höhe werdensie anstelle des gestrichenen ICE-Projektes eingestellt?
– Ja, zusätzliche Mittel; denn Sie haben ja von Ihrenzahlreichen zusätzlichen Projekten gesprochen. Ich habeim Bundeshaushalt bis jetzt nichts gefunden. Aber viel-leicht können Sie uns da weiterhelfen.Zweitens. Wann werden die mitteldeutschen StädteErfurt, Leipzig und Dresden an das reguläre europäischeund deutsche Schnellbahnnetz angebunden, erhalten alsoeinen regulären ICE-Anschluß? Damit meine ich nichtdas, was in Dresden derzeit passiert, daß ein BerlinerICE einmal über Nacht abgestellt wird. Wann erhaltenErfurt, Leipzig und Dresden einen regulären ICE-Anschluß? Als Verkehrspolitiker wissen Sie da sicherBescheid und können uns die Jahreszahl verraten.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Präsident, es waren eigentlich zweiZwischenfragen. Ich will jedoch versuchen, kurz daraufeinzugehen.Albert Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
4570 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Zunächst haben Sie noch einmal nach den Alterna-tivprojekten gefragt. In einem Punkt möchte ich HerrnTrautvetter übrigens ausdrücklich Recht geben: DieElektrifizierung muß auch nach meiner Einschätzungdurchgehend sein. Es macht keinen Sinn, sie zwischen-durch zu unterbrechen. Ich versichere Ihnen: Wir wer-den koalitionsintern massiv dafür eintreten, daß dies tat-sächlich geschieht.
Das aber nur als Randbemerkung.Sie finden – ich habe das angedeutet – zusätzlicheMittel für den Abschnitt Dresden-Görlitz. Das gehörtebisher offiziell nicht zur Planung. Darüber hinaus wurdebei der Europäischen Kommission Geld im Rahmen desStrukturfonds, des EFRE-Programms, für die Mitte-Deutschland-Bahn beantragt.
Bisher hat die Finanzierung des Konzeptes gefehlt. Dasist das Entscheidende. Die schönsten Pläne nützennichts, wenn sie Wolkenkuckucksheim, wenn sie nichtbezahlbar sind. Damit ist die Finanzierung gesichert.Zu Ihrer zweiten Frage nach der Jahreszahl darf ich inKürze sagen: Es wird Ihnen derzeit niemand, auch nie-mand in der Landesregierung, auf den Tag und auf dasJahr genau sagen können, welche Stadt in welchem Jahrmit welchem Anschluß bedient wird. Ich nehme dieseFrage aber gern auf, sie behandelt das Bedienungskon-zept. Sie betrifft eigentlich nicht die Bundesregierung,sondern die Deutsche Bahn AG.ICE und erst recht die ICE mit moderner Neigetech-nik, die auch engere Kurvenradien verkraften, könnenprinzipiell auf jeder Strecke fahren. Ich werde das gernnoch einmal nachrecherchieren. Wir treten nachdrück-lich dafür ein, daß insbesondere die LandeshauptstadtThüringens möglichst bald eine hochwertige Anbindungan das Schnellbahnnetz, und zwar nicht nur in der Nord-Süd-Achse, sondern auch in der West-Ost-Achse, be-kommt.Ich versichere Ihnen: Das verfolgen wir nicht erst seitheute. Wer mich kennt, weiß, daß wir genau dafür seitvielen Jahren massiv Druck machen.
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Manfred Heise, CDU/CSU.
Herr Präsident! Ver-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Gern nimmt Bundes-kanzler Schröder für sich in Anspruch, ein Mann derWirtschaft zu sein, ein Mann also, der wirtschaftlichdenkt und somit sein finanzielles Konzept und Engage-ment primär unter dem Aspekt der Investitionen be-trachtet, um ein Projekt produktiv voranzubringen.Blicken wir vor diesem Hintergrund auf die aktuelleVerkehrspolitik der Bundesregierung in den neuen Bun-desländern, so stellt sich ein völlig anderes Szenario dar:Der derzeitig noch zuständige Bundesminister Müntefe-ring hat in den letzten zehn Monaten die Politik seinesVorgängers Matthias Wissmann deutlich umgekehrt. Vonnotwendigen Investitionen im Verkehrsbereich, so wie sienoch unter der alten Bundesregierung – ich sage: trotzvergleichbar schwieriger Haushaltslage – üblich waren,kann gegenwärtig nicht mehr gesprochen werden.Betrachtet man die Situation in Thüringen, so zeigensich für alle deutlich sichtbar die Früchte einer sinnvol-len Verkehrsplanung aus den vergangenen Jahren. Diewirtschaftlichen Daten des Freistaates Thüringen liegenim Vergleich der neuen Bundesländer auf einem Spit-zenplatz, vielleicht sogar auf dem Spitzenplatz. Daß die-ser wirtschaftliche Erfolg maßgeblich durch die konse-quente Umsetzung der Verkehrsprojekte Deutsche Ein-heit unterstützt wurde, ist für mich mehr als offensicht-lich.Allerdings ist der weitere Aufschwung durch diePolitik der Bundesregierung massiv gefährdet. Nachdemeine konkrete Aussage zur ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Berlin erst monatelang durch Herrn Münteferingverzögert wurde, bietet sich nun vor Ort ein traurigesBild. Es sei nur am Rande erwähnt, daß man mit einerderartigen Vorgehensweise kein investitionsfreundlichesKlima für zukünftige Industrieansiedlungen schafft.
Wie will Minister Müntefering den Menschen in Thü-ringen, aber auch in den anderen Bundesländern ein650 Millionen DM teures Investitionsgrab plausibel er-klären? Ich sage Ihnen: Über ein eindeutiges Wählervo-tum am 12. September in Thüringen darf sich die Bun-desregierung nicht wundern.Allein die bis Herbst 1998 gut begründete Aussicht,daß in Erfurt ein ICE-Verkehrsknotenpunkt entstehenwird, war für viele private und öffentliche Investitionenin Thüringen maßgeblich. Beispielsweise wird der indiesem Jahr in Betrieb genommene Container-Terminalim Güterverkehrszentrum Erfurt auf Grund desBaustopps nur unzureichend ausgelastet bleiben. Welchefatalen Folgewirkungen sich aus einer solchen Abkop-pelung aus dem überregionalen, ja europäischen Ver-kehrsnetz für eine Wirtschaftsregion und gleichzeitigauch für den Arbeitsmarkt ergeben, braucht wohl nichtweiter erläutert zu werden.Indem die Bundesregierung auf dringend notwendigeVerkehrsinvestitionen verzichtet, werden de facto Ar-beitsplätze vor Ort nicht geschaffen und bestehende so-gar vernichtet.
Bei einem Verzicht auf jeweils 1 Milliarde DM an Inve-stitionsvolumen schickt die Bundesregierung gleichzei-tig etwa 15 000 Menschen aus dem Baugewerbe in dieArbeitslosigkeit – für den ostdeutschen Arbeitsmarkteine geradezu beängstigende Vorstellung.
Albert Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4571
(C)
(D)
Um Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dieDramatik einmal am Beispiel der bereits erwähnten ICE-Strecke Nürnberg–Erfurt–Leipzig–Berlin deutlich vorAugen zu führen, mache ich folgende konkrete Rech-nung auf: Das VDE 8.1 Nürnberg–Erfurt hat ein Inve-stitionsvolumen von 3,9 Milliarden DM. Hinzu kommtdas VDE 8.2 Erfurt–Leipzig–Berlin mit 4,2 Milliar-den DM. Selbst unter Berücksichtigung der bereits reali-sierten Bauvorhaben bleibt noch eine Restinvestitions-summe in Höhe von 7,45 Milliarden DM. Dies bedeu-tete mehr als 100 000 Arbeitsplätze vor Ort.Will sich die Bundesregierung diesen Erfolg wirklichentgehen lassen? Wo, meine verehrten Kolleginnen undKollegen von der SPD, bleiben hier Ihre sichtbaren Tatenzu Ihrem Wahlkampfslogan „Wir wollen Arbeit finanzie-ren, nicht Arbeitslosigkeit“? Auch ist es nur ein Bekennt-nis des Kollegen Schmidt, wenn er davon spricht, manmüsse in den SPNV, also in den Schienenpersonennah-verkehr, investieren und ihn attraktiver machen. Ich mei-ne, es fahren schon eine Reihe leerer Züge durch die Ge-gend. Das Schienennetz muß nicht ausgebaut werden; derNahverkehr muß nur attraktiver werden.Die Realität ist leider eine völlig andere. Die Bundes-regierung kaschiert mit dem am 19. Mai 1999 gegenüberder Presse angekündigten „Verkehrsprogramm Ost bis2006“ ihre Streichlust bei den wichtigsten Verkehrsin-frastrukturmaßnahmen in den neuen Ländern. Diesesgroß angekündigte Programm mit einer Bausumme voninsgesamt 7,9 Milliarden DM dient eigentlich nur derEntlastung des Bundes um 3 Milliarden DM, die ausEU-Strukturfondsmitteln stammen.Letztlich zeichnet sich ein Bild ab, das noch zahlrei-che dramatische Einsparungen auf dem Investitionssek-tor der Verkehrsplanung erwarten läßt. So müssen dieKollegen aus Mecklenburg-Vorpommern wohl nachhal-tig um ihre A 20 bangen. Welche Folgen dies für dasohnehin strukturschwache Bundesland hat, mag sich je-der selbst ausmalen.Die beabsichtigte Konzentration der Bauvorhaben derDeutschen Bahn auf den Ausbau der bestehenden Schie-nenwege verhindert gleichzeitig eine Anpassung derostdeutschen Infrastruktur an das westdeutsche Niveau.Dies stellt durch eine veränderte Schwerpunktsetzungden langjährigen Konsens über den Vorrang für denAufbau Ost in Frage. Der Osten unseres Vaterlandeswird somit aus der allgemeinen wirtschaftlichen Ent-wicklung in Deutschland und Europa abgekoppelt. Sosieht die Wirklichkeit aus, wenn Herr Schröder von der„Chefsache Aufbau Ost“ spricht.
Unter der vormaligen Bundesregierung wurden Ver-kehrsprojekte in den neuen Ländern nicht zuletzt dankdes Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes zü-gig in Angriff genommen. Der entscheidende Unter-schied zur jetzigen Regierung ist, daß ihr einfach derpolitische Wille fehlt, konsequent zu handeln und offen-sichtlich notwendige Bauvorhaben zu realisieren.
Stellt man nun die Gretchenfrage, wie es um den so-genannten Wirtschaftsmann Schröder steht, so reibt mansich verwundert die Augen. Von unternehmerischemDenken und zukunftsweisenden Investitionen in eineVerkehrspolitik für die neuen Länder fehlt hier jedeSpur. Daß Herr Müntefering vor diesem Hintergrundden politischen Scherbenhaufen bereitwillig HerrnKlimmt überläßt und sogar das Kreuz der SPD-Zentraleauf sich nimmt, spricht Bände. Die Bilanz des MinistersFranz Müntefering fällt eindeutig negativ aus.
Weiterhin könnte man – leider verbietet es die Zeit –noch auf die desaströse Wohngeldpolitik des Ministershinweisen. Aber auch hier muß man ja gespannt sein, obEichel oder Müntefering Herr des Verfahrens ist. DieUnterlegenen in diesem unwürdigen Streit stehen ohne-hin schon fest – Minister Trautvetter hat es gesagt –: Essind die Länder und die Kommunen.
Noch ein letzter Nachtrag, der die verkehrte Welt indieser Regierung verdeutlicht: Die ICE-Strecke über Er-furt ist an Rot-Grün unter Beifall der Thüringer Partei-genossen gescheitert, obwohl sie vorher etwas anderesgesagt haben, allen voran Herr Dewes. Dieser trommeltgleichzeitig für den Bau der A 71 und A 73, nun unterdem Beifall der Bündnisgrünen vor Ort. Ich muß fest-stellen, daß die angeblichen Vorreiter einer ökologi-schen Steuerreform konkret den Autobahnbau dem Aus-bau der Schiene vorziehen.
So weit sind wir mittlerweile gekommen.Herzlichen Dank.
Es spricht nun
Staatsminister Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Die heutige Debatte zum Aufbau Ost atmet die Luftdes momentan tobenden Wahlkampfes
in einer Intensität, die es in den Jahren zuvor nicht gege-ben hat, was man auch bei einigen eingebrachten Anträ-gen, insbesondere bei dem Antrag der CDU/CSU, soforterkennen kann. Ich will gar nicht auf das abstellen, wasKollege Schubert schon zu Recht angemerkt hat, näm-lich daß kein einziger neuer Vorschlag in dem Antragenthalten ist. Das wäre ja auch eine Premiere gewesen.
Manfred Heise
Metadaten/Kopzeile:
4572 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ich will auf einen Punkt besonders eingehen, dermich sehr geärgert hat und der heute schon eine Rollegespielt hat. In diesem Punkt steckt ein wenig Verdrän-gung, was ich nicht unkommentiert lassen will. Ihr An-trag hat die Überschrift „Aufbau Ost endlich wiederrichtig machen“. Auf dem Wort „wieder“ liegt die Beto-nung.
Sie entwerfen damit ein Bild, das ausdrücken soll, daßSie alles richtig gemacht haben und wir jetzt alles falschmachen.
In den zurückliegenden acht Jahren, in denen ich aufder Oppositionsbank saß, habe ich Ihnen nie unterstellt,daß Sie beim Aufbau Ost alles falsch machen.
Es gab sehr wohl richtige Entscheidungen. Sie müssensich aber schon fragen lassen – ich will Sie gar nicht andie vergangenen Debatten erinnern –: Erinnern Sie sichwenigstens an die großen und schwerwiegenden Fehl-entscheidungen, die mit Ihrer Mehrheit gefällt wordensind und die bis heute in der ostdeutschen Realität fort-wirken?
Sie haben zum Beispiel die Zeiträume falsch einge-schätzt, indem Sie gesagt haben, in drei bis fünf Jahrenwerde alles in Ordnung sein. Dementsprechend sindLohnabschlüsse getätigt worden. Heute klagen wir dar-über, daß die Lohnentwicklung schneller war als derZuwachs an Produktivität. Hier gibt es entsprechendeKausalitäten.
Haben Sie vergessen, daß die offene Vermögensfragebis heute fortwirkt? Wir haben lang und breit über dasThema „Rückgabe vor Entschädigung“ geredet. Sie ha-ben Ihre Entscheidung durchgesetzt und damit das Han-deln der Verwaltungen der Kommunen im Osten in denletzten Jahren auf Grund der entstandenen Kosten beein-flußt.
Zum Thema Treuhandanstalt. Heute ist gesagt wor-den, daß viele Unternehmen weggebrochen sind. Das hatnatürlich mit der Tatsache zu tun, daß Konzeptionen inder Schublade geblieben sind und daß gerade zu Beginnder 90er Jahre nicht saniert worden ist.
Zum Thema Staatsverschuldung: Ich weiß, daß Sie daschon wieder aufjaulen. Ich erinnere mich noch an dieZeitungsannoncen, in denen Steuererhöhungen wegender Deutschen Einheit ausgeschlossen wurden. Sie ha-ben statt dessen die Verschuldung nach oben getrieben,die Ausgaben den Versicherungssystemen per Gesetzaufgebürdet und dadurch die Einheit von den Arbeitge-bern und Arbeitnehmern finanzieren lassen. Auch diesmüssen wir nach dem Regierungswechsel als große Lastmitschleppen. Die Situation einfach zu ignorieren undzu sagen, man habe alles richtig gemacht, ist schon derGipfel der Frechheit.
Ich will noch auf den Vorwurf einer angeblichen Er-pressung durch Hans Eichel eingehen. Natürlich ist dieHandlungsfähigkeit des Bundes entscheidend dafür, wielange und wie stark wir Ostdeutschland unterstützenkönnen. Während wir diese Debatte abhalten, in diesenzwei Stunden gehen zirka 20 Millionen DM an Steuer-geldern als Zinszahlungen an die Banken. Dieser Betragist so hoch wie der Betrag, den wir für die Absatzförde-rung in Ostdeutschland im gesamten Haushalt zur Ver-fügung stellen können. Das ist die Lage. Trotzdem stel-len Sie sich hin und sagen, dies habe nichts miteinanderzu tun. Das ist Politik nach Art eines Wolkenkuckucks-heims.
Deswegen sage ich ganz klar: Es gibt zu der Konsoli-dierung auch aus ostdeutscher Sicht überhaupt keineAlternative; wir haben ein großes Interesse daran. Ähn-lich wie die Tatsache, daß sich nur ein Reicher einenarmen Staat leisten kann, gilt natürlich auch, daß nureine prosperierende und ökonomisch potente Region,wie sie vielleicht im Fall von Bayern oder Baden-Württemberg, aber nicht für den Fall der ostdeutschenLänder gegeben ist, einen armen Bundesstaat verkraftenkann. Wir brauchen einen Bundesstaat, der über vieleJahre hinweg helfen kann. Die Konsolidierung ist beiallen Schmerzen, die gar nicht wegdiskutiert werden,zutiefst im Interesse des Ostens, und das muß man denLeuten sagen.
Es werden auch nicht nur Lasten geschultert, sondernwir machen natürlich auch etwas, um Mißstände zu be-seitigen, die letztlich durch Ihre Politik verursacht wor-den sind. Wir entlasten zum Beispiel die Familien.Wenn wir nach unserer Konzeption – der Familienla-stenausgleich ist ein Element davon – einer typischenostdeutschen vierköpfigen Familie, in der der Vater einostdeutsches Durchschnittseinkommen verdient, dieMutter arbeitslos ist und in der zwei schulpflichtigeKinder leben, in den nächsten vier Jahren insgesamtüber 7 600 DM in Form geringerer Belastung zurückge-ben können, dann ist das nicht nur sozial gerecht, son-dern auch ökonomisch vernünftig, auch für die Wirt-schaft in den neuen Ländern.
Staatsminister Rolf Schwanitz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4573
(C)
(D)
Herr Krüger, das nur einmal so nebenbei: Sie habenvorhin gesagt, Sie hätten niemand gefunden, der dasCDU-Papier unterschrieben hat. Sie sagten, Sie kennenkeinen. Ich will es Ihnen sagen. Das ist Frau Grehn. Dasist eine ehemalige Kollegin von Ihnen. Ich stelle Ihnendas gern zur Verfügung, wenn Sie das wollen. Ich habedas Papier, und ich habe es auch im Original unter-schrieben. Ich rede nämlich im Gegensatz zu Ihnen mitden Leuten. Das unterscheidet uns.
Meine Damen und Herren, wir haben im Osten in denletzten Jahren unabhängig von großen politischen De-batten und auch Fehlentscheidungen, die getroffen wor-den sind – ich habe einiges angesprochen –, viel er-reicht. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Obwohldas natürlich seine Voraussetzungen in der Solidaritätder alten Bundesländer gegenüber Ostdeutschland hat,es ist vor allen Dingen der Leistungskraft, dem Engage-ment und dem Durchhaltewillen der Ostdeutschen zudanken, daß wir heute, zehn Jahren nach der friedlichenRevolution, an einer solchen Stelle sind.Aber ich finde, man darf auch in seiner Dramatiknicht verschweigen, daß die Probleme, vor denen wirstehen, noch riesig sind. Dazu gehört natürlich, daß wirseit 1997 ein langsameres gesamtgesellschaftlichesWachstum als in den alten Ländern haben. Auch daswerden wir in diesem Jahr noch nicht kompensierenkönnen. Seit zwei Jahren, jetzt im dritten Jahr haben wirdiesen Pfad. Da haben wir noch nicht regiert, Herr Türk,da gab es noch andere, die die Mehrheit in diesem Par-lament hatten.
Das ist eine schwere Last. Dazu gehört, daß der in-dustrielle Bereich zu schmal ist. Dazu gehört, daß sichder Baubereich in einer massiven Krise befindet unddaß die Arbeitsplatzgewinne – denn wir haben auchGewinne in der ostdeutschen Industrie und im Dienstlei-stungsbereich – überkompensiert werden durch nach wievor überproportional hohen Arbeitsplatzabbau in derBauwirtschaft. Das ist die Situation. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren,glaube ich, ist es wichtig, daß wir den Menschen deut-lich sagen: So schwierig ist der Weg. Wir dürfen es unsauch nicht zu leicht machen, indem wir meinen, mitPlanspielen oder mit ähnlichen anderen schnellen Lö-sungen könnten diese schwierigen Wegstrecken jetzt indrei bis vier Jahren geschultert werden. Ich glaube, werdas tut – da setzt auch meine Kritik an der PDS undihrem Papier an –, der nimmt nicht das ureigenste Inter-esse der Ostdeutschen wahr – ich will nicht sagen, ervergeht sich an diesen Interessen –, denn wir haben nocheine längere Wegstrecke vor uns. Das darf man, so un-bequem es auch ist, nicht verheimlichen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung fängtnach acht Jahren Vereinigungspolitik natürlich nicht imluftleeren Raum an. Es sind im Prinzip drei Ebenen, diesich parallel durch die Politik der Bundesregierung fürdie neuen Länder in den letzten Monaten gezogen ha-ben, und ich behaupte einmal, daß sie sich auch in denkommenden Jahren, bis zur nächsten Bundestagswahlimmer bei ostdeutschen Angelegenheiten manifestierenwerden.Erstens müssen wir Fehlentwicklungen, soweit wirdas heute noch können, soweit wir auch politisch dafürnoch zuständig sind, die Sie durch eine falsche Politik,bezogen auf den Aufbau Ost, eingeleitet haben, korrigie-ren. Das ist der erste Punkt.
– Ich sage Ihnen gleich, welche das sind.Der zweite Punkt, um den es geht, ist folgender: Wirmüssen Dinge, die Sie richtig gemacht haben, die ver-nünftig sind, bei denen Sie aber nicht mehr die politi-sche Kraft hatten, sie für Ostdeutschland bereitzustellen,verlängern und bewahren, denn wir müssen das Fahrradnicht neu erfinden.Dann gibt es die dritte Ebene, auf der wir Zukunfts-felder definieren, deren Bearbeitung man verstärkenmuß, wo Sie das gar nicht getan haben. Dort, auf dieserZukunftsebene, liegen die wichtigen Dinge, die verstärktwerden müssen, und genau das haben wir getan.Sie haben nach Beispielen gefragt, meine Damen undHerren, und diese will ich Ihnen nicht vorenthalten. Ichkomme zu dem ersten Punkt, zu dem, welche Fehlent-wicklungen da waren. Da erinnere ich Sie an etwas,womit Sie in Ostdeutschland durch den Wahlkampf ge-tigert sind, nämlich das Investitionszulagengesetz. Dashaben Sie damals übrigens gemeinsam mit uns verab-schiedet. Wir haben ja 1994 zugestimmt. Sie haben jetztverschwiegen – vielleicht wußten Sie es nicht; dann sageich Ihnen, daß das Ihre damalige Regierung verschwie-gen hat –, daß das Investitionszulagengesetz von derEuropäischen Kommission gestoppt worden ist undnicht in Kraft treten konnte.
Sie haben 1998 in Ostdeutschland einfach Wahlkampfgemacht und haben sich nicht um diese Dinge geküm-mert. Ihre Regierung hat das auch nicht getan. Wirmußten als erstes dieses zentrale, wichtige Investitions-instrument für Ostdeutschland wieder frei bekommenund grünes Licht aus Brüssel bekommen. Das ist einerder Fehler, die wir korrigieren mußten.
Einen zweiten Fehler will ich ebenfalls ansprechen– darüber werden wir uns demnächst im Parlamentstreiten –: Das ist der Landerwerb durch ostdeutscheBauern. Sie wissen, daß die Kommission das Ganze ge-stoppt hat. Wir werden im Geist der Vereinbarung von1994 eine Veränderung der Flächenerwerbsregelungfür Ostdeutschland hinbekommen, die die ostdeutschenBauern nicht benachteiligt, die vielmehr Chancengleich-heit gewährleistet. Das ist etwas anderes als das, wasStaatsminister Rolf Schwanitz
Metadaten/Kopzeile:
4574 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
auch aus Ihren Reihen zum Teil gefordert wird. Auch indieser Frage haben wir die Fehlentwicklung, die darinbestand, daß man ein Vorhaben nicht der EuropäischenKommission zur Genehmigung vorgelegt hat, korrigiert.Wenn Sie auch noch ein drittes Beispiel hören wol-len, dann nenne ich Ihnen die Altschuldenregelung.
– Ich bin jetzt gerade so schön in Fahrt, Sie können mirhinterher gern eine Frage stellen, Herr Luther.Bei der Altschuldenregelung haben wir auf der unter-gesetzlichen Ebene, im sogenannten Lenkungsausschuß,Erleichterungen geschaffen. Herr Luther, Sie werdenmir das bestätigen; Sie wissen, die Erleichterungen gibtes. Über 700 ostdeutsche Wohnungsgesellschaften sindseit dem Regierungswechsel durch unsere Erleichterun-gen vorfristig entschuldet worden. Das ist doch nichtnichts; vielmehr ist das für die Wohnungsunternehmen,die investieren können, für die ostdeutsche Bauwirt-schaft und für viele andere wichtig.Das waren einige Beispiele aus der ersten Ebene, derFehlerkorrektur. Beispiele aus der zweiten Ebene willich ebenfalls nennen. Dabei geht es darum, richtige Din-ge weiterzuführen, zu deren Weiterführung Sie nicht dieKraft hatten. Ich nenne ein Beispiel – wir waren geradebei der Baubranche –, nämlich das KfW-Wohnraum-modernisierungsprogramm.
Wir haben durch die mittelfristige Finanzplanung vonHerrn Waigel einen objektiven Maßstab in der Hand;dort können wir nämlich genau nachlesen, wie das beieiner Regierung Kohl gelaufen wäre, wenn es den Re-gierungswechsel nicht gegeben hätte. Ich kann Ihnen nursagen: Das KfW-Wohnraummodernisierungsprogrammwäre nicht verlängert worden; es wäre im April ausge-laufen.
– Ja, schütteln Sie nicht den Kopf; das ist so. Das stehtso in der mittelfristigen Finanzplanung. Wir haben 199910 Milliarden DM daraufgelegt.
Daran hängen über 60 000 Arbeitsplätze in der ostdeut-schen Bauwirtschaft, sagen mir Experten. Das, was wirgemacht haben, ist wichtig gewesen. Sie haben dazunicht die politische Kraft gehabt; wir haben sie gehabt,und das ist in Ordnung.
Ich komme zu der dritten Ebene, dazu, wo wir neueSchwerpunkte und andere Schwerpunkte als Sie setzen.Da kann ich auch eine ganze Reihe von Dingen nennen.Das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslo-sigkeit ist genannt worden. Wenn ich in ostdeutsche Re-gionen komme und mir die Leute zum Teil sagen: „Wirhaben eine Jugendarbeitslosigkeit, die um 22 Prozentgeringer als im Vorjahr ist“, dann sage ich Ihnen: Das isteine tolle Leistung. Ich bin auch ein wenig stolz darauf,daß das gelungen ist und daß wir einen ordentlichenSchwerpunkt mit 40 Prozent der Mittel für Ostdeutsch-land zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gesetzthaben. Das war in Ordnung. Diesen Schwerpunkt habenSie nicht gesetzt; wir setzen ihn, weil die Fragen der Ju-gend letztendlich Zukunftsfragen sind.
Es gehört auch der gesamte Bereich der Forschungs-förderung dazu. Das Programm Inno-Regio ist genanntworden. Sie haben nichts, gar nichts, für benachteiligteRegionen gemacht. Wir haben einen Wettbewerb ausge-schrieben, um Innovationspotentiale in diesen Regionenfreizusetzen. Wir wollen dabei erstmalig 25 Modell-regionen fördern. Dafür werden wir 500 Millionen DMin die Hand nehmen. Ich höre jetzt, daß infolge der Aus-schreibungen über 400 Anträge eingegangen sind. Dasist mehr als erfreulich. Ich weiß, da ist ein richtigerRuck durch die Regionen gegangen. Wir werden sienicht alle fördern können. Es sind Potentiale vorhanden,die nicht alle brachliegen werden. Wir werden über die-se 25 Modellregionen hinaus dort vieles anstoßen kön-nen.Es wäre noch vieles weiter auszuführen. Wenn manhier sitzt und das alles mit anhört, könnte man versuchtsein, die ganze Rede wegzuwerfen und die Redezeit mitEntgegnungen zu füllen. Ich will das alles nicht tun.Eine Sache tut richtig weh. Zum Bundesverkehrs-wegeplan ist viel gesagt worden; ich habe da nichts zuergänzen. Es verhält sich genauso: Wir verstärken dieMittel. Wir werden im nächsten Jahr mehr für den Infra-strukturaufbau und für Wohnungen zur Verfügung ha-ben, als Sie das in dem betreffenden Jahreshaushalt, mitdem Sie in den Bundestagswahlkampf 1998 gezogensind, stehen hatten. Das ändert aber nichts daran, daßdennoch mittelfristig das Loch von 90 Milliarden DMbleibt. Das ist so. Das ist bitter. Wir kürzen dort nichts;im Vergleich mit dem Haushalt der Regierung Kohl von1998 bauen wir auf, und trotzdem können wir die90 Milliarden nicht finanzieren. Das ist die Lage. UndSie setzen sich hier wohlfeil hin und tun so, als obFinanzfragen mittelfristig nie eine Rolle gespielt hätten.Offensichtlich ist es so, meine Damen und Herren.
Ich will zum Schluß noch etwas zu Hans Eichel unddem abermaligen Vorwurf der Erpressung sagen. HerrTrautvetter ist nicht mehr da; ich möchte aber trotzdemdarauf zurückkommen.
Das hat sehr viel mit Wahlkampf zu tun; das sehe ichgenauso. Ich erinnere mich aber noch daran, als imFrühjahr 1996, als hier im Parlament die kommunalenAltschulden verhandelt wurden, der damalige Bundes-Staatsminister Rolf Schwanitz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4575
(C)
(D)
finanzminister Waigel dafür gesorgt hat, daß für dieEigenkapitalhilfe der Konsolidierungsfonds nicht ausdem Parteienvermögen aufgestockt worden ist. Ein Jahrlang gab es die Verknüpfung dieser beiden Themen.Damals sind die ostdeutschen Länder im wahrsten Sinnedes Wortes erpreßt worden. Darüber habe ich von HerrnTrautvetter nichts gehört, auch nicht von einem CDU-Ministerpräsidenten. Das ist eine Politik, die wir nichtbetreiben werden. Diese Politik aber haben Sie in denletzten Jahren gepflegt.Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nunmehr der Kollege
Dr. Joachim Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst eineBemerkung zur Rede von Herrn Schwanitz: HerrSchwanitz, Sie haben ein Thema, das früher zu IhrenLieblingsthemen gehörte, wenn Sie uns bei unseren Be-mühungen für den Osten mit Kritik, häufig auch mitHäme bedacht haben, heute überhaupt nicht behandelt:den zweiten Arbeitsmarkt. Ich habe einmal mit Ihnenin Dresden bei den Gewerkschaften eine Podiumsdis-kussion geführt. Damals haben Sie über nichts anderesgeredet als über den zweiten Arbeitsmarkt. Dieses The-ma gibt es offensichtlich nicht mehr.
Ich will Ihnen sagen: Sie haben das wichtigste Pro-gramm des zweiten Arbeitsmarktes im Osten, die Lohn-kostenzuschüsse, kaputtgemacht,
ein Programm mit einer Umsetzungsquote von 60 Pro-zent. Dieses Programm ist durch Ihre Maßnahmen beer-digt worden.
– Reden Sie mit Handwerkern in den neuen Bundeslän-dern! Die werden es Ihnen erzählen. Das war eine IhrerFehlleistungen in diesem Jahr.
Sie haben zuletzt über Innovationen geredet. ImFrühjahr waren Sie bei sächsischen Forschungs-GmbHs;denen Sie etwas vollmundig erzählt haben: Auch aufdiesem Gebiet wird alles besser. Wollen wir einmal se-hen, wie die Bilanz im Moment aussieht. Ich will michzur Situation in der wirtschaftsnahen Forschung äußern.Offenbar besteht kein Zweifel, daß sich die auf langeSicht klein- und mittelständisch geprägte Wirtschaft nurdurch Innovationen auf nationalen und internationalenMärkten halten kann. Nur so ist es auf Dauer möglich,wettbewerbsfähige Produkte anzubieten. Innovationenaber – das weiß jeder – hängen mit gezielter Forschungund Entwicklung, hier vor allen Dingen wirtschaftsnaherForschung zusammen.Wie sieht die Situation aus? Nach 1990 gab es in Fol-ge des totalen Wirtschaftsumbruchs einen starken Rück-gang der Mitarbeiterzahlen. Seit 1995 ist ein leichterAnstieg zu verzeichnen, der sicherlich steigerungsfähigist. Im Moment haben wir in der wirtschaftsnahen For-schung im Osten 21 000 Beschäftigte. Das ist erfreulich,entspricht aber erst 6 Prozent des gesamtdeutschen Indu-strieforschungspotentials. Das heißt: Auf niedrigem Ni-veau hat eine Stabilisierung stattgefunden. Deshalb ist esunbedingt notwendig, die wirtschaftsnahe Forschungweiterhin gezielt und intensiv zu unterstützen.
Dies ist eine der Hauptaufgaben im Hinblick auf dieEntwicklung der ostdeutschen Forschungslandschaft.Im vergangenen Jahr haben etwa 2 700 Betriebe For-schung und Entwicklung betrieben. Das entspricht einerSteigerungsrate von zirka 10 Prozent; das ist sehr er-freulich. Nach einem Gutachten der ForschungsagenturBerlin sind die Unternehmen, die Forschung und Ent-wicklung betreiben – das ist nicht überraschend –, ande-ren in allen betriebswirtschaftlichen Daten überlegen.Dies betrifft den Umsatz, aber auch die Exportrate. Indiesem Zusammenhang ist ganz besonders interessant,daß die meßbaren Fortschritte – es hat sich gelohnt, dieForschungslandschaft zu unterstützen – in erster Linieauf die Förderung durch den Bund und die ostdeutschenBundesländer zurückzuführen sind; denn weit über 90Prozent der FuE betreibenden Unternehmen haben För-dermittel beantragt und auch erhalten. Das heißt: Wirhaben wirklich etwas für sie getan. Und die Leute sindauch dankbar dafür.Rückblickend ist es daher erfreulich, daß sechs vonzehn Firmen innerhalb der letzten drei Jahre im Zusam-menhang mit Förderprojekten Personal eingestellt ha-ben. Dadurch sind einige Tausend Arbeitsplätze ge-schaffen worden. Besonders wichtig ist, daß – daskonnte nachgewiesen werden – durch die FuE-Förderung neue Geschäftsfelder erschlossen wordensind. Das ist das entscheidende, um sich überhaupt aufden Märkten zu behaupten.Zur weiteren Konsolidierung der wirtschaftsnahenForschungslandschaft, die unabdingbar ist, ergeben sichnach wie vor drei Aufgaben:Erstens. Die verstärkte Wiederansiedlung von Per-sonal für Forschung und Entwicklung in kleinen undmittelständischen Unternehmen, vor allem, um eine er-heblich intensivere Kooperation zwischen den kleinenund mittelständischen Betrieben und der aus außeruni-versitärer Forschung, Hochschulforschung und externerIndustrieforschung bestehenden Forschungslandschaftzu erreichen. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß dieBeiträge der gesamten ostdeutschen Forschungsland-schaft zur Wertschöpfung in den neuen Bundesländern –was notwendig ist – deutlich erhöht werden. Darüberhinaus ist die gezielte Kooperation aller beteiligten Un-Staatsminister Rolf Schwanitz
Metadaten/Kopzeile:
4576 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
ternehmen und Institutionen ein entscheidender Faktorfür die schnelle und effiziente Umsetzung von Ideen inwettbewerbsfähige Produkte.Zweitens. Die weitere angemessene finanzielle Un-terstützung der Einrichtungen der externen Industrie-forschung – die Sie, Herr Schwanitz, besucht haben –,die zur Zeit die wesentlichsten Träger der wirtschaftsna-hen Forschung sind.Drittens – dies ist besonders wichtig –: die bevor-zugte Förderung von technologieorientierten, innovati-ven Existenzgründungen.Diese Aufgaben sind unumstritten. Ihre Erfüllungmuß vor allem mittelfristig gesichert werden. Aus die-sem Grunde darf es zukünftig keine Degressionen beider Forschungsförderung geben.
Bis zum Auslaufen des Solidarpaktes, das heißt bis2004, sollte die Förderung der wirtschaftsnahen For-schung auf gleichem Niveau gehalten werden. Es gibtkein – auch kein ordnungspolitisch überzeugendes – Ar-gument, die Förderung früher abzusenken. Das gilt ins-besondere für die Personalförderung. Der noch vor-handene 30prozentige Produktivitätsunterschied zwi-schen Ost und West ist nur auf diese Art und Weisespürbar und in einem überschaubaren Zeitraum zu redu-zieren.Die neue rotgrüne Bundesregierung hat im Wahl-kampf auch verkündet, die wirtschaftsnahe Forschung inden neuen Ländern noch stärker als bisher zu unterstüt-zen. Herr Schwanitz hat dies den sächsischen Landsleu-ten gesagt. Auch hier sollte alles besser werden.Wie sieht die Situation heute, nach einem Jahr, aus?Die neue Regierung hat im Sommer heimlich, still undleise eine Haushaltssperre verfügt, die alle der ostdeut-schen Industrieforschung gewidmeten Programmelahmlegt.
Sie hat diese Haushaltssperre, nachdem ein Sturm derEntrüstung durch das Land gegangen war, vor wenigenTagen partiell von 12 auf 6 Prozent zurückgenommen.Immer noch gilt, daß in diesem Jahr für diese Program-me praktisch keine Neuanträge gestellt werden können.Dies gilt ebenso für das Jahr 2000, da auch die Ver-pflichtungsermächtigungen für das Jahr 2000 zurückge-fahren werden.Weiterhin führt die Sperre dazu, daß in diesem Jahrnach unseren Recherchen 20 Millionen DM, nach Re-cherchen der AiF 40 Millionen DM nicht verfügbarsind. Wie wir weiter erfahren haben, beabsichtigt dieRegierung, das der Unterstützung von technologie-orientierten innovativen Existenzgründungen – ich be-ziehe mich auf die dritte von mir genannte Aufgabe –gewidmete Programm FUTOUR zum Jahresendegänzlich einzustellen.[Dr.-Ing. Paul Krüger [CDU/CSU]: Das ist dasschlimmste!)Auf diese Weise wird eine der innovationspolitisch her-ausragenden Aufgaben in den neuen Bundesländern defacto ad absurdum geführt.
Weiterhin sehen die Planungen der neuen Regierungvor, das Programm „Forschung und Entwicklung inden neuen Bundesländern“ bis zum Jahre 2003 dra-stisch von 270 auf 180 Millionen DM, das heißt um einDrittel, zu reduzieren. Die Regierung beweist damit, daßsie noch immer nicht begriffen hat, wo und auf welcheWeise dem Osten wirklich wirkungsvoll geholfen wer-den kann.
Bezeichnend für den Geist der Regierung bei derKürzung der Ostförderung ist, daß aus der berühmtenZukunftsmilliarde für den Aufwuchs von Forschung undEntwicklung nicht eine einzige Mark in das der ostdeut-schen Industrieforschung gewidmete Programm „For-schung und Entwicklung in den neuen Bundesländern“fließt.
Im Gegenteil: Dieses Programm wird gerade um einDrittel gekürzt. Ich gebrauche dieses Wort nicht allzugerne; aber ich muß Ihnen sagen: Das wird dann Chef-sache Ost in Sachen Industrieforschung genannt.In den letzten Wochen bin ich von vielen Menschenin dieser Angelegenheit angesprochen worden. Die Be-troffenen empfinden dies als Betrug – es gibt kein ande-res Wort dafür –
an ihren Interessen und an ihrer Entwicklung.
Jedenfalls sieht man, welch unglaublich große Scherehier zwischen Anspruch und Realität besteht.Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, unver-züglich die Haushaltssperre für die ostdeutschen For-schungsprogramme aufzuheben.
– Im Interesse der Sache, Herr Schmidt, und im Interes-se des ostdeutschen Vorwärtskommens.
– Ich habe immer so geredet.
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4577
(C)
(D)
– Ja, sicher. Ich will Ihnen sagen: Ich habe genug Erfah-rung, wie es ist, wenn man gegen den Stachel löckt. Ichhabe von keinem einzigen in diesem Raum, von Ihnenzuletzt, Nachhilfeunterricht nötig in der Vertretung ost-deutscher Interessen oder ostdeutscher Forschungsinter-essen.
Wir fordern weiterhin, daß die Verpflichtungser-mächtigungen zurückgenommen werden, und vor allenDingen, daß das Programm FUTOUR ohne Kürzungenfortgesetzt wird. Ich füge hinzu, daß die Förderung derwirtschaftsnahen Forschung nach 2004 ohne Wenn undAber integraler Bestandteil eines Fortsetzungspro-gramms Aufbau Ost sein muß, das sich an den auslau-fenden Solidarpakt anschließt.Ich komme zum Schluß. Wir rufen auch die ostdeut-schen Bundesländer auf – über die Parteigrenzen hin-weg, denn sie sind alle betroffen –, sich unseren Forde-rungen anzuschließen. Das gilt auch für die ostdeutschenAbgeordneten der Koalition. Sie können auf unsere Un-terstützung bauen, denn für uns gilt nach wie vor ohneAbstriche: Der Aufschwung Ost war, ist und bleibt unse-re wichtigste politische Aufgabe.Vielen Dank.
Als letzte Rednerin
in dieser Debatte hat nun die Kollegin Barbara Wittig
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Da-
men und Herren! Gestatten Sie mir bitte, daß ich mich
zunächst einmal an Herrn Dr. Schmidt wende. Wenn
Sie, Herr Dr. Schmidt, behaupten, wir hätten ein wichti-
ges Förderinstrument kaputtgemacht, dann muß ich Ih-
nen sagen, wir haben zum 1. August die Zielgenauigkeit
dieses Instrumentes hergestellt,
indem wir beispielsweise für junge Menschen unter 25
die Förderungsmöglichkeiten herstellen und – das hat es
noch nie gegeben – für ältere Menschen ab 50 ebenso.
Das möchte ich Ihnen einfach einmal mitteilen, weil
Ihnen das anscheinend entfallen ist.
Aufbau Ost richtig machen! Aufbau Ost muß weiter-
gehen! Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit noch einmal
auf die ostdeutsche Arbeitsmarktpolitik lenken, die
Herr Dr. Schmidt ebenfalls vermißt hat. Meine Damen
und Herren, wir arbeiten arbeitsteilig, deshalb spreche
ich speziell dazu. Diesbezüglich bedeutet Aufbau Ost
für uns, arbeitsmarkpolitische Instrumentarien und An-
strengungen zu verstetigen. Das heißt: Arbeitnehmer-
schaft, Betriebe und Verwaltungen müssen den Einsatz
der Mittel längerfristig kalkulieren können. Ich weiß,
m er Opposition, daß das
für Sie ein wunder Punkt ist. Denn Sie haben der Regie-
rung Schröder eine arbeitsmarktpolitische Achterbahn
hinterlassen: mal rauf, mal runter, mal kürzen, mal klot-
zen – weil gerade Wahlen vor der Tür standen.
Das war Ihre Politik. Alle Fachleute waren sich einig,
daß das der falsche Weg ist.
Die Wahlkampf-ABM der alten Bundesregierung
sind ausgelaufen bzw. laufen aus. Deshalb hat die Re-
gierung Schröder Stetigkeit in die Arbeitsmarktpolitik
Ost gebracht. Sie hat das Finanzvolumen für die aktive
Arbeitsmarktpolitik
– hören Sie sich doch zuerst einmal die Zahlen an – von
39 Milliarden DM auf 45,3 Milliarden DM im Jahre
1999 aufgestockt.
Auf die neuen Länder entfallen davon 22,8 Milliarden
DM oder 50,3 Prozent. Dadurch haben wir die Arbeits-
ämter wieder handlungsfähig gemacht.
Dieser hohe Mitteleinsatz zeigt übrigens Wirkung:
1999 war die Zahl der in ABM Beschäftigten in den
neuen Ländern mit rund 163 000 im Jahresdurchschnitt
um zirka 10,7 Prozent über dem Vergleichswert von
1998.
Frau Kollegin Wit-
tig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klin-
kert?
Ja, Herr Klinkert, gerne.
– Er will bestimmt nach dem Bergbau fragen.
Man sollte Ihnen hell-
seherische Fähigkeiten zusprechen, ob es auch zu logi-
stischen reicht, werden wir sehen. – Frau Kollegin Wit-
tig, Sie haben eben über die Verstetigung der Arbeits-
marktpolitik gesprochen.
Genau.
Wie bewerten Sie dievertragsbrüchige Kürzung der Mittel für die Braun-kohlesanierung? Sie wissen, daß es ein zwischen derBundesregierung und den Ländern abgeschlossenesBund-Länder-Verwaltungsabkommen gibt, das bis zumJahre 2002 gilt. Dieses Abkommen will die rotgrüneBundesregierung brechen, indem sie in den Jahren 2001Dr.-Ing. Joachim Schmidt
eine Damen und Herren von d
Metadaten/Kopzeile:
4578 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
und 2002 je 50 Millionen DM streicht. Ist das Ihre Ver-stetigung der Arbeitsmarktpolitik?
Herr Klinkert, ich antworteIhnen gerne, denn gerade mit diesem Argument sind Sieschon landauf, landab durch Brandenburg und Sachsengezogen. Ich möchte zunächst einmal vermerken: In derZeit, als Sie noch als Parlamentarischer Staatssekretärim Bundesumweltministerium Verantwortung trugen,hätten Sie die Möglichkeit gehabt, die Mittel in dem er-sten Verwaltungsabkommen zu erhöhen. Sie haben sichdamals dafür ausgesprochen, sie zu senken, weil einGroßteil der Sanierungsaufgaben bereits erledigt ist.
Wenn Sie mit Herrn Dr. Fritz von der LMBV spre-chen, wird er Ihnen sagen, daß die Hälfte der Sanie-rungsarbeiten erledigt ist.
– Ich habe gar nicht bestritten, daß das eine gute Lei-stung war.
– Jetzt halt doch einmal den Mund, dort drüben, jetzt re-de ich.
Aber man muß in diesem Zusammenhang auch be-rücksichtigen, daß die Beschäftigungswirkung geradewährend der ersten Jahre unwahrscheinlich hoch war.All das, was jetzt noch kommen wird, wird wesentlichweniger beschäftigungsintensiv sein, weil die jetzt nochzu erfüllenden Aufgaben der Grundwasserhebung undall diese Dinge – das wissen Sie besser, als ich das jetztin der Kürze darstellen kann – einfach nicht mehr so be-schäftigungsintensiv sind.Ich habe auch bei der LMBV nachgefragt, wie dieLMBV als Projektträger dazu steht. Man hat mir gesagt:Okay, das können wir verschmerzen. – Reicht das?
Ich fahre mit den Ausführungen zu den arbeitsmarkt-politischen Maßnahmen fort und möchte in diesem Zu-sammenhang ergänzen, daß auch bei den Strukturan-passungsmaßnahmen der Beschäftigungsstand in denneuen Ländern im Juni 1999 deutlich über dem Niveaudes Vorjahresmonats lag. 1999 werden hier voraussicht-lich 240 000 Arbeitnehmer beschäftigt werden. ZumVergleich: 1998 waren es nur 174 000. Insgesamt stehenfür die Strukturanpassungsmaßnahmen 1999 rund 6,3Milliarden DM bzw. 37 Prozent mehr als 1998 zur Ver-fügung. 90 Prozent davon – das muß natürlich auch ge-sagt werden – fließen in die neuen Länder. Ich weißnicht, wo Sie immer hernehmen: Der Aufbau Ost sei einAbschwung Ost.Was bedeuten nun diese Zahlen für die Entlastungdes Arbeitsmarktes? Nach Berechnungen des Institutsfür Arbeitsmarkt- und Berufsforschung lag die Entla-stung der Arbeitslosenzahl durch die wichtigsten ar-beitsmarktpolitischen Instrumentarien wie ABM, SAMund die Förderung der beruflichen Weiterbildung 1998bei nur 654 000 Personen im gesamten Bundesgebiet,davon 395 000 in den neuen Ländern. Für das Jahr 1999 wird der Entlastungseffekt auf727 000 Personen geschätzt, davon 427 000 in denneuen Ländern. Dies ist wiederum ein Anstieg von 11,2bzw. 8,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr.Werfen wir bitte auch noch einen Blick auf die Au-guststatistik bezüglich des Abbaus der Jugendarbeits-losigkeit: 100 000 arbeitslosen und noch ausbildungs-suchenden Jugendlichen wollten wir eine Ausbildung,Qualifizierung oder Beschäftigung anbieten. Dieses Zielhaben wir bereits im Mai erreicht. Bis Ende August sindrund 178 000 Jugendliche in Maßnahmen des Sofortpro-gramms eingetreten, davon entfallen auf die neuen Län-der wiederum 37 Prozent. Insgesamt befanden sich imAugust 107 000 Jugendliche in Maßnahmen, davon 38,5Prozent im Osten.Ihnen wird auch nicht ganz unbekannt sein, daß inden neuen Bundesländern die Maßnahmen der Nach-und Zusatzqualifizierung, ABM mit integrierter berufli-cher Qualifizierung und schließlich außerbetrieblicheAusbildung bzw. Begründung von Arbeitsverhältnissenmit Lohnkostenzuschüssen am häufigsten genutzt wur-den. Da kann ich nur sagen: Aufschwung Ost!Die Jugendarbeitslosigkeit konnte mit diesen Maß-nahmen reduziert werden. Deshalb – wie bereits gesagtwurde – hat die Bundesregierung bereits am 29. Juni be-schlossen, dieses Programm fortzusetzen.Die Arbeitsmarktpolitik ist natürlich nur ein Bereich,mit dem die Bundesregierung ihr Ziel der Schaffung zu-sätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten verfolgt. DieAusweitung neuer Beschäftigungsfelder, der Einsatzneuer Instrumente zur Schaffung von Arbeitsplätzen imersten Arbeitsmarkt und die zielgerichtete Förderungvon Arbeitsplätzen durch eine beschäftigungsfreundli-che Wirtschafts- und Haushaltspolitik gehören ebensodazu. Die jüngsten positiven Wirtschaftsprognosen füh-render Wirtschafts- und Forschungsinstitute hinsichtlicheiner wieder anziehenden Konjunktur lassen hoffen.In einem trifft der CDU/CSU-Antrag meiner Mei-nung nach übrigens ins Schwarze: Die Weichen wurdenin der Vergangenheit falsch gestellt; das ist Ihrem An-trag zu entnehmen. Um auf einen der vorhergehendenRedner einzugehen: Wir haben schließlich die Suppeauszulöffeln.Im Zusammenhang mit dem Aufbau Ost muß überdie Verantwortung der Länder unbedingt noch einWort gesagt werden. Herr Trautvetter aus Thüringen hathier für Sachsen und Brandenburg gesprochen. Er hatsehr polarisiert, indem er Sachsen und Brandenburg ge-genübergestellt hat. Deshalb gestatten Sie mir an dieserStelle einen kleinen Exkurs in meine Heimat, Sachsen.Ulrich Klinkert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4579
(C)
(D)
Die Arbeitslosenquote im Freistaat Sachsen – dassind die neuen Zahlen – liegt wie in Brandenburg undwie in Mecklenburg-Vorpommern bei über 17 Prozent.Das heißt, es gibt einen Gleichstand. Deshalb kann mandas nicht so ausspielen, wie er das gemacht hat. DasWirtschaftswachstum des Freistaates Sachsen bleibthinter den ostdeutschen Konkurrenten zurück – leider!Was mich als Kommunalpolitikerin, die ich gleichzeitigbin, natürlich besonders bedrückt: Nirgendwo in Ost-deutschland sind die Kommunen so hoch verschuldetwie gerade im Freistaat Sachsen.Wenn die Regierung des Freistaates Sachsen nurLeuchtturmpolitik macht und strukturschwache Regio-nen, zum Beispiel meine Heimat, die Lausitz, vernach-lässigt, wird sich nichts ändern lassen. Für die Lausitzgab es bisher leider nur populistische Ankündigungs-politik von seiten der Landesregierung. Als Beispielmöchte ich nennen, daß 1992 eine Arbeitsgruppe mitdem pompösen Namen „Zukunft Laubusch“ ins Lebengerufen wurde. Null Ergebnis mangels der von der Lan-desregierung eingebrachten Masse.Der Gipfel war jedoch die erneute Ankündigung einerLausitzinitiative von Biedenkopf und Schönbohm EndeAugust in Brandenburg, obwohl Ende Juni dieses Jahreseine länderübergreifende Lausitzinitiative von beidenLandesregierungen unterzeichnet wurde. Ein Lenkungs-ausschuß sollte sich treffen, mit Hilfe der LausitzerSparkassen sollten Risikofonds aufgelegt werden, dieLMBV sollte die Projektsteuerung übernehmen undvieles mehr. Das heißt, diese Lausitzinitiative war längstgegründet, wurde aber noch einmal als eine Superideeverkauft.Nun müssen insbesondere im sächsischen Teil derLausitz Taten folgen. Angekündigt wurden sie schonüber viele Jahre. In dem Beitrag vorhin klang es so an:Brandenburg trägt da die Schuld. Das ist aber nicht so.Für den brandenburgischen Teil der Lausitz möchte ichfür denjenigen, der das noch nicht weiß, nur sagen: InBrandenburg wurde der Lausitzring gebaut, in Branden-burg wird die Internationale Bauausstellung vorbereitet,und das alles in der Lausitz. Das schafft Arbeit, dasschafft Arbeitsplätze und damit ein Stückchen Auf-schwung Ost.Kommen wir zurück zur Bundespolitik; ich will zurLandespolitik keine weiteren Ausführungen machen.Zum Schluß möchte ich noch auf das eingehen, was ichfür den Aufschwung Ost für ganz wichtig halte, nämlichdas Inno-Regio-Programm, das von der Bundesregie-rung initiiert wurde. Ich kann an dieser Stelle nur sagen:Die Menschen in der Lausitz haben verstanden. Einewirkliche Lausitzinitiative für Unternehmensentwick-lung, Transfer, Kommunikation und Innovation hat ih-ren Antrag abgegeben. Aus den Anfangsbuchstaben lei-tet sich übrigens der nette Name LUTKI her; das paßt sorichtig schön in die Lausitz. Das sind Projekte, die wirbrauchen. Das bringt den Aufschwung Ost voran.Fazit: Der Kurs der Bundesregierung beim AufbauOst ist richtig.
Ich schließe dieAussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 14/1210, 14/1314, 14/1277,14/1551, 14/1540, 14/1542 und 14/1543 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zu-satzpunkt 7 auf: 16. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung insolvenzrechtlicher und kreditwesen-rechtlicher Vorschriften– Drucksache 14/1539 –
Metadaten/Kopzeile:
4580 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 b auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- undWohnungswesen zu dem Antragder Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. KlausGrehn, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der PDSSofortige Bauunterbrechung an der Bundes-autobahn A 17– Drucksachen 14/128, 14/1272 –Berichterstattung: Abgeordneter Peter LetzgusHierzu möchte die Kollegin Ostrowski eine Erklärungzur Abstimmung abgeben. Bitte schön.
Herr Präsident! In
aller Kürze: Ich werde dieser Beschlußempfehlung
nicht zustimmen. Meine Gründe dafür sind: Seit zwei
Tagen hauen wir uns gegenseitig Zahlen um die Ohren.
Seit zwei Tagen wird behauptet, daß der Staat angeb-
lich arm wie eine Kirchenmaus sei. Wer dann in einer
solchen Situation 1,3 Milliarden DM für eine Autobahn
ausgeben will, obwohl am Grenzübergang zu Tsche-
chien das Verkehrsaufkommen auf schlappe 20 000
Kfzs prognostiziert wird, der ist nicht von dieser Welt.
Wer in einer solchen Zeit 1,3 Milliarden DM für eine
Autobahn ausgeben will, durch die die Landschaft zer-
schnitten wird, die durch Landschaftsschutzgebiete
führt, für die teure Umweltmaßnahmen notwendig
sind, die die Umwelt dennoch belasten wird und die
Folgekosten mit sich bringt, der hat vom sinnvollen
Sparen keine Ahnung.
Sachsen hat eines der dichtesten Verkehrsnetze
Deutschlands. Wer 1,3 Milliarden DM für eine Auto-
bahn ausgeben will und gleichzeitig die wesentlich billi-
gere Alternative ausschlägt, die vorhandenen Fernver-
kehrsstraßen auszubauen, um eine Verbindung nach
Tschechien zu schaffen, der hat vom Sparen keine Ah-
nung, der ist falsch an diesem Platz.
Rotgrün hatte eine Wende in der Verkehrspolitik
versprochen. Der Kollege von der CDU/CSU-Fraktion
– seinen Namen habe ich vergessen – behauptete wäh-
rend seiner etwas langatmigen Rede über die ICE-
Strecke, Müntefering hätte die Politik der alten Kohl-
Regierung nicht fortgesetzt. Ich behaupte das Gegen-
teil: Müntefering war kaum Minister, als er nichts Bes-
seres zu tun hatte, als anzukündigen: Alle während der
Kohl-Regierung begonnenen Projekte werden fortge-
setzt. Einzig die Planung für die Trasse durch Thürin-
gen hat man verändert, indem man zwei Alternativen
unter anderem mit der Deutschlandbahn geschaffen
hat.
Bei den Autobahnprojekten bleibt alles beim alten.
Hier steht Müntefering noch im Wort. So steht es auch
in der Koalitionsvereinbarung. Nun ist Müntefering Ge-
neralsekretär der SPD geworden. Wie ich gehört habe,
wird Klimmt der neue Verkehrs- und Bauminister.
Vielleicht wird er eine Wende in der Verkehrspolitik
einleiten.
Frau Kollegin
Ostrowski, ich muß Sie jetzt unterbrechen, weil der Sinn
einer Erklärung zur Abstimmung im Regelfall darin be-
steht, eine Erklärung zum abweichenden Stimmverhal-
ten zur eigenen Fraktion abzugeben. Aber die Erklärung
zur Abstimmung darf nicht für eine Aussprache zu
einem Punkt genutzt werden, obwohl keine Aussprache
vereinbart worden ist. Ich möchte Sie daher bitten, zum
Schluß zu kommen.
Ich möchte noch mei-
nen dritten Grund für die Ablehnung nennen, nämlich
meine Enttäuschung über die Kollegen von der Fraktion
der Grünen, insbesondere über die Kollegen aus Sach-
sen.
Sie gehörten zu den heftigsten Gegnern dieses Auto-
bahnbaus. Sie, Frau Hermenau, und Ihre Parteikollegen
aus Sachsen hatten noch kurz nach dem Regierungsan-
tritt einen Beschluß gegen die Autobahn gefaßt. Es tut
mir leid, wie Sie sich verhalten; denn Ihr Verhalten ist
auch ein Zeichen für das Absinken in der Wählergunst.
Frau Kollegin, ichmuß Ihnen jetzt das Wort entziehen. Bitte verlassen Siedas Rednerpult!Ich möchte darauf hinweisen, daß wir, was Erklärun-gen zur Abstimmung angeht, großzügig verfahren. Dassage ich an die Adresse aller Fraktionen. Aber bei die-sem Verhalten müssen wir uns seitens des Präsidiumsüberlegen, ob wir solche Erklärungen zur Abstimmungkünftig zulassen; denn dieses Verhalten ist ein Miß-brauch der Geschäftsordnung. Darauf wollte ich hinwei-sen.
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache14/128 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußemp-Vizepräsident Rudolf Seiters
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4581
(C)
(D)
fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-schlußempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses ge-gen die Stimmen der PDS angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 c auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungAufhebbare Sechsundvierzigste Verordnungzur Änderung der Außenwirtschaftsverord-nung– Drucksachen 14/1068, 14/1187 Nr. 2.1, 14/1552 –Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. FritzWer stimmt für diese Beschlußempfehlung? – Ge-genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlußempfehlungist einstimmig angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf:Aktuelle StundeHaltung der Bundesregierung zur Finanzie-rung des Sparpaketes zu Lasten der Pflegever-sicherungDie Aktuelle Stunde findet auf Verlangen derCDU/CSU-Fraktion statt.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeUlf Fink.
Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Meine Fraktion hat dieseAktuelle Stunde beantragt, weil der Pflegeversicherungernste Gefahren durch das Eichelsche Sparpaket drohen,in dem die Senkung der Beiträge für Empfänger von Ar-beitslosenhilfe vorgesehen ist. Dadurch entgehen denPflegekassen erhebliche Einnahmen. Es muß mit Ein-nahmenminderungen der Pflegeversicherung in Höhevon jährlich mindestens rund 400 Millionen DM ge-rechnet werden für den Fall, daß die Bundesanstalt fürArbeit, wie im Sparpaket beabsichtigt, die Sozialversi-cherungsbeiträge für Arbeitslose nur an der Höhe dertatsächlich bezogenen Unterstützungsleistung bemißt –das sind im ungünstigsten Fall 53 Prozent des pauscha-lierten Nettoentgeltes – und nicht mehr 80 Prozent desBruttoverdienstes berechnet. Dies ist inakzeptabel, weildadurch die ohnehin schon absehbare defizitäre Finanz-entwicklung der Pflegeversicherung noch einmal deut-lich verschärft würde.Ich glaube, ein Teil Ihrer Beschlüsse ist darauf zu-rückzuführen ist, daß Sie der Ansicht sind, die Pflege-versicherung habe viel Geld. In der Tat verfügt die Pfle-geversicherung über ein solides Finanzpolster von rund9,5 Milliarden DM. Aber diese 9,5 Milliarden DM sindim wesentlichen in den ersten zwei Jahren der Pflege-versicherung entstanden. Bereits 1997 war der Über-schuß auf 1,6 Milliarden DM und 1998 auf 250 Millio-nen DM pro Jahr gesunken.Nach den Berechnungen des Bundesversicherungs-amtes ist in diesem Jahr mit keiner positiven Entwick-lung mehr zu rechnen; vielmehr muß man sogar voneiner kleinen defizitären Entwicklung von 20 MillionenDM ausgehen. Das ist eine Folge der zunehmenden In-anspruchnahme von teureren Sachleistungen und vonmehr stationären Leistungen.Durch das Sparpaket der Bundesregierung kanndieses Defizit nach den Berechnungen des Bundes-versicherungsamtes bis zum Jahre 2000 auf 850 Mil-lionen DM pro Jahr und bis Ende des Jahres 2002 aufjährlich 1,35 Milliarden DM anwachsen. Diese Ent-wicklung ist um so kritischer zu werten, als bei allenFinanzberechnungen des Bundesversicherungsamteskeine Anpassung der Versicherungsleistung unter-stellt worden ist. Das ist aber eine schlicht undenk-bare Prognose. Bei der Rentenversicherung streitenwir uns zu Recht darum, ob man die Leistungen derNettolohnentwicklung oder der Inflationsrate anpaßt.Bei allen Finanzberechnungen des Bundesversiche-rungsamtes ist aber überhaupt keine Anpassung derLeistung unterstellt.Wenn man unterstellen würde, daß die Leistungenjährlich um 1 Prozent angepaßt werden müßten, dannergäbe sich allein für das Jahr 2002 die Notwendigkeit,bei den Leistungen eine Anpassung in Höhe von 1,5Milliarden DM vorzunehmen. Nach den Berechnungendes Bundesversicherungsamtes, die das nicht unterstel-len, und ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß wireine Mindestrücklage aufrechterhalten müssen, würdenspätestens im Jahre 2005 die Beitragssätze erhöht oderdie Leistungen gekürzt werden müssen. Es ist aber lautGesetz ausgeschlossen, daß der Beitragssatz zur Pflege-versicherung in Höhe von 1,7 Prozent erhöht wird. Lei-stungskürzungen sind auch nicht hinnehmbar. Im Ge-genteil: Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungser-klärung angekündigt, etwas zugunsten der altersver-wirrten Patienten tun zu wollen. Das ist ja auch richtig.Sie, meine Damen und Herren, bringen die Pflegeversi-cherung durch Ihre Beschlüsse in eine ausweglose Si-tuation. Außerdem ist der vorgesehene Eingriff nicht sy-stemkonform.Schließlich gilt der Grundsatz, daß die Pflegeversi-cherung der Krankenversicherung folgt. Die ursprüng-lich beabsichtige Senkung der Beiträge zur Krankenver-sicherung für Empfänger von Arbeitslosenhilfe hat mannun aber nicht realisiert. Kann es denn wirklich richtigsein, daß Sie in den Bereichen, wo es eine starke Lobbygibt, nicht kürzen, bei der Pflegeversicherung aber, de-ren Lobby, wie Sie meinen, nicht so stark ist, zuschla-gen?
Was Sie da machen, hat nichts mit Sparen zu tun. DieStaatsausgaben und das Staatsdefizit werden dadurchnicht gesenkt. Es gibt zwar ein geringeres Defizit beimBund, aber dafür ein höheres Defizit bei der Pflegeversi-cherung.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Metadaten/Kopzeile:
4582 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Nein, meine Damen und Herren, dieser Teil desEichelschen Sparpakets darf auf gar keinen Fall Wirk-lichkeit werden. Wir dürfen nicht zu Lasten der Aller-ärmsten sparen.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Georg Wagner.
Haben Sie da mal kei-ne Bange, ich werde es Ihnen gleich sagen.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Re-de von Herrn Fink kann noch so sachlich vorgetragenworden sein, es bleibt die Tatsache, daß er damit dieLügenserien fortgesetzt hat, mit der Sie die jetzige Bun-desregierung und Koalition seit Monaten überziehen.
Sie wissen doch ganz genau, daß die Pflegeversicherungeinen Überschuß von 9,7 Milliarden DM hat,
während die Mindestsumme 4 Milliarden DM beträgt.Nach Abzug der von Ihnen genannten Möglichkeitensind immer noch 8 Milliarden DM in der Kasse, so daßüberhaupt keine Gefährdung der Pflegeversicherung be-steht.
Erinnern Sie sich, Herr Kollege Fink, an das Jahr1997? Da waren Sie ja auch Mitglied des Bundestages.Damals hat die damalige Koalition den Versuch unter-nommen, der Pflegeversicherung ganze 4,5 MilliardenDM zu entziehen. Sie hätte ihr damals beinahe den To-desstoß versetzt. Das ist Gott sei Dank verhindert wor-den. Jetzt geht es um maximal 400 Millionen DM, dieihr durch die Veränderung der Bemessungsgrundlagegenommen werden.
Abgesehen von Ihrem Gerede besteht sonst keine Ge-fahr. Sie verbreiten Angst und Panik; das ist ja auch dieAbsicht dieser Debatte. Aber es steht absolut nichts da-hinter.Wer für ein Defizit von 30 Milliarden DM und füreine Zinslast von 80 Milliarden DM verantwortlich ist,weil er 1,5 Billionen DM Schulden gemacht hat, sollteendlich einmal zu einer sachlichen Auseinandersetzungzurückkehren und konstruktive Vorschläge machen;aber Sie sind dazu nicht in der Lage.
– Ich würde Ihnen als christliche Parteien empfehlen,endlich einmal das achte Gebot „Du sollst nicht falschZeugnis reden wider Deinen Nächsten!“ einzuhalten.Halten Sie sich einmal daran, zumal Sie sich ja christlichnennen.
Die Angstmache von seiten der Union um die Pflege-versicherung soll von der Verantwortung für die 1,5Billionen DM Schulden ablenken, von denen Sie undsonst niemand 1,2 Billionen selber verursacht haben. Siehaben ein Finanzloch von 30 Milliarden DM hinterlas-sen. Nun habe ich heute morgen gehört, wie jemandsagte, Herr Eichel sammle nur das ein, was Herr Lafon-taine vorher verbraten habe. Das ist falsch. Sie kennenIhre eigenen Haushalte nicht. Herr Kolb, Sie reden janachher und müßten eigentlich wissen, welche falschenBeschlüsse die alte Bundesregierung gefaßt hat. Ein fal-scher und zu niedrig veranschlagter Ansatz im Haushaltvon Waigel führte dazu, daß 10 Milliarden DM finan-ziert werden mußten.
– Nein, diese 10 Milliarden DM Defizit im Haushalt desehemaligen Bundesfinanzministers, sind echte Waigel-Schulden.Von uns wurde der Ansatz „Postunterstützungskasse“in den Haushalt aufgenommen. Das ist, wie Sie wissen,aufkommensneutral; 8 Milliarden DM Einnahmen und 8Milliarden DM Ausgaben. 1999 haben wir zur Absen-kung der Beiträge 15 Milliarden DM mehr Zuschüsse andie Rentenversicherung gezahlt. Wahrscheinlich sindSie dagegen gewesen. Auch das ist aufkommensneutral;wir werden das über die Ökosteuer und die Mehr-wertsteuer finanzieren.Die Gründe dafür sind die 30 Milliarden DM struktu-relles Defizit, das wir bei der Regierungsübernahmevorgefunden haben. Sie können das, was ich sage, kon-trollieren, indem Sie einmal in den Haushaltsentwurfschauen. Die Nettokreditaufnahme ist in diesem Haus-haltsjahr um 3 Milliarden DM geringer als vorher. Alsokann das, was Sie hier über die 30 Milliarden DM sagen,absolut nicht stimmen. Auch das ist ein Satz in Ihrer Lü-genserie.Ich muß Sie auch daran erinnern, daß Sie gegen dieKindergelderhöhung waren. Wir haben es geschafft, dasKindergeld für das erste und zweite Kind innerhalb von13 Monaten um 50 DM zu erhöhen. Sie waren dagegen.Sie haben diese familienfreundlichen Beschlüsse abge-lehnt. Wir haben auch den Eingangssteuersatz gesenkt.Sie waren dagegen. Wir haben das Existenzminimumangehoben. Sie waren dagegen.
Heute werden wir beim Schlechtwettergeld die alte Re-gelung wiederherstellen, die den Bauarbeitern die Si-cherheit gibt, ganzjährig verdienen zu können und nichtin die Arbeitslosigkeit zu fallen, was Sie wollten und be-schlossen haben. Wir haben auch die Lohnfortzahlungim Krankheitsfall wiedereingeführt und den Kündi-Ulf Fink
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4583
(C)
(D)
gungsschutz verbessert. Alle sozialen Tiefschläge, dieSie in den letzten Jahren losgelassen haben, haben wirzurückgenommen, und es ist eine gute Sache, daß dasgemacht worden ist.Was bei Ihnen fehlt, sind die konstruktiven Alternati-ven; sie sind nicht sichtbar. Sie sind Meister in Anträgenund Debatten zur Geschäftsordnung und im BeantragenAktueller Stunden. Sie werden beim nächsten Punktvermutlich Jubiläum feiern, weil das die 25. aktuelleAussprache über irgendein Thema ist – nur um die Be-völkerung zu verunsichern. Ich bin der Auffassung, Siesollten damit aufhören. Kommen Sie zu einer konstruk-tiven Politik, und machen Sie das, was Ihr Vorsitzenderlauthals verkündet hat, nämlich daß die Union auf ver-schiedenen Politikfeldern zur Zusammenarbeit mit derKoalition bereit sei. Bitte machen Sie das, und lügen Sienicht ins Bodenlose.Schönen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Bundesregie-rung mit der Pflegekasse vorhat, ist genau das, was wirimmer befürchtet haben und wovor wir auch immer ge-warnt haben. Denn wo Gelder im Zugriffsbereich desStaates angehäuft werden, entstehen Begehrlichkeiten,die in Zeiten knapper Kassen dann die Hemmschwelleauf ein solch niedriges Maß senken, daß man wirklichdavon sprechen muß – ich will nicht so weit gehen, HerrKollege Wagner, hier das vierte Gebot zu strapazieren –,daß Sie hier schamlos in die Kassen der Pflegeversiche-rung greifen.
Damit tun Sie genau das, was Sie in allen früherenDiskussionen um die Pflegeversicherung immer weitvon sich gewiesen haben. Es ist traurig, aber es istbeileibe nicht das erste Mal, daß sich das grundsätzlicheMißtrauen der F.D.P. gegenüber dem Aufbau von Ka-pitalstöcken in den sozialen Sicherungssystemen wiedereinmal bewahrheitet hat.Um der Gefahr des Mißbrauchs von Finanzsystemenentgegenzutreten und gleichzeitig dem von uns allen alsabsolut vorrangig anerkannten Ziel der Senkung derLohnnebenkosten ein Stück näher zu kommen, fordernwir seit zweieinhalb Jahren die Senkung der Beitragssät-ze – leider, so muß ich sagen, ohne Erfolg. Auch dieÜberlegung, Beiträge zurückzuerstatten, hat keine aus-reichende Unterstützung gefunden. Das ist bedauerlichfür die Beitragszahler, denn es ist deren Geld, über daswir hier reden.
Inzwischen zeichnet sich das Abschmelzen des Über-schusses der Pflegekasse bereits ab, und in nicht allzuferner Zukunft – das steht bereits jetzt fest – droht wie-der eine Diskussion über Beitragssatzanhebungen. DieBerechnungen des Bundesversicherungsamtes zeigen,daß die Rücklagen viel schneller aufgebraucht sein wer-den, als viele von uns gehofft hatten. Diese Entwicklungwird durch die heute hier zur Diskussion stehenden Plä-ne der Bundesregierung natürlich weiter beschleunigtwerden. Es ist deswegen nicht falsch, anzunehmen, daßwir bereits ab 2005 wieder an die Grenze, an den Deckelstoßen werden.Ich will heute auch folgendes anmerken. Bereits jetztschlägt sich die demographische Entwicklung in denLeistungssteigerungen der Pflegeversicherung nieder.Der Kreis der Pflegebedürftigen wird von Jahr zu Jahrgrößer. 1996 gab es 1,55 Millionen berechtigte Antrag-steller, 1997 bereits 1,66 Millionen und 1998 1,72 Mil-lionen. Ich denke, auch diese Entwicklung müssen wirberücksichtigen.Weil wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, uns ein Bildüber die aktuelle Situation der Pflegeversicherung ma-chen wollten und weil wir fünf Jahre nach der Einfüh-rung eine Zwischenbilanz ziehen wollten, haben wir imJuni ein Gespräch mit zahlreichen Experten geführt.Daraus ergab sich insgesamt ein durchaus positives Ge-samtbild. Aber natürlich wurden auch Probleme aufge-zeigt. Eines der großen Zukunftsprobleme ist – wie beider Rente – der demographische Faktor. Die langfristi-gen Berechnungen lassen uns eher sorgenvoll dreinblik-ken. Deswegen steht, Frau Ministerin Fischer, für dieF.D.P. eines fest: Die Spendierhosen kann man jeden-falls nicht anhaben. Eher schon sollte man daran denken,der Pflegeversicherung schnellstens die Taschen zuzu-nähen, damit wir auch zukünftig noch in der Lage sind,auf neu entstehende Belastungen einzugehen und dieseabzufedern.
Ich will in dieser Debatte auch noch ein Wort zurFrage möglicher Leistungsausweitungen sagen. Vor derSommerpause haben wir ja einige – auch aus unsererSicht notwendige – Verbesserungen beschlossen, die fürdie Betroffenen im Einzelfall eine große Hilfe sein kön-nen. Wir haben damals zugestimmt, weil es bei Anwen-dung des Gesetzes offensichtliche Schwächen gab. Na-türlich gibt es auch weiterhin Probleme und Bereiche, indenen wir noch bessere Lösungen suchen müssen. Ichdenke da vor allem an die Demenzkranken und derenAngehörige. Demenzkranke zu Hause zu betreuen isteine enorm schwierige Aufgabe. Man erkennt schnell,welche Tragweite diese Krankheit für die Betroffenenund ihr Umfeld hat, wenn man sich einmal damit befaßt.Ich sehe hier und in anderen Bereichen entsprechendenHandlungsbedarf.Ich meine, es ist insgesamt ein Gebot der politischenRedlichkeit, den Menschen klar zu sagen, daß der Staatnicht in der Lage ist, jedwedes Lebensrisiko für sie zuübernehmen. Zu verschenken hat die Pflegekasse jeden-falls nichts, schon gar nicht, um damit an anderer StelleLöcher zu stopfen.Hans Georg Wagner
Metadaten/Kopzeile:
4584 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Frau Ministerin Fischer, zum Schluß möchte ich dochnoch ein Wort zur Art und Weise sagen, wie diese ein-seitige Belastung der Pflegeversicherung durch dasSparpaket zustande gekommen ist.
Aber bitte nur
ganz kurz; Ihre Redezeit ist nämlich vorbei.
Sie läßt nämlich
Rückschlüsse auf den Stellenwert zu, die die Pflegever-
sicherung bei Ihnen offenbar hat. Als der Finanzminister
nämlich genau dasselbe, was er nun bei der Pflege
macht, mit den Krankenversicherten vorhatte, sind Sie –
zugegebenermaßen mit Erfolg – auf die Barrikaden ge-
gangen. Seltsam ist nur, daß Ihnen die Pflegebedürftigen
jetzt ein solches Engagement nicht wert waren. Deshalb
muß ich Sie fragen: Sind die Versicherten der Pflegever-
sicherung in Ihren Augen etwa Versicherte zweiter
Klasse? Anscheinend erbringen Sie ein Bauernopfer für
den Bundesfinanzminister, das zur Rettung Ihrer wag-
halsigen Ausgabenpolitik im Gesundheitswesen nötig
wurde.
Herr Kollege,
ich glaube, Sie haben gesagt, was Sie sagen wollten. Sie
müssen jetzt Schluß machen.
Frau Präsidentin, ich
hätte noch viel zu sagen. Aber ich nehme natürlich Ihren
Hinweis ernst.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Kolb, ich bin ganz überrascht. Ich kann mich garnicht erinnern, daß Sie schon bislang so engagiert für diePflegeversicherung gekämpft haben, und bezweifle, daßSie sich qualifiziert darüber äußern können, was meinEngagement in diesem Bereich angeht.
Ich glaube, diese Art von kasuistischer Beweisführung– wem mein Engagement gilt – ist wenig überzeugend.Ganz grundsätzlich gilt: Wir unternehmen mit demSparpaket eine große Anstrengung zur Konsolidierungdes Haushalts. Das Ziel ist, wenn Sie ehrlich sind, auchbei Ihnen unumstritten: Es geht nicht, daß wir uns – so-zusagen mittels einer Hypothek auf die Zukunft – stän-dig weiter verschulden. Wir brauchen hier eine Kehrt-wende in der staatlichen Haushaltspolitik.
– Ich verstehe das ja; so macht man das halt in der Op-position. Da braucht man sich um das Ganze nicht sosehr zu kümmern. Ihre Haltung ist die: Sparen? – Ja, un-bedingt, aber nicht hier!
Das kann natürlich jeder sagen. Genau deshalb führenwir zur Zeit diese Debatten.
Vor diesem Hintergrund haben wir ein Paket ge-schnürt. Und, es ist richtig, daß auch die Pflegeversiche-rung davon betroffen ist.
Es ist hier vorhin gesagt worden – zum Glück hat derKollege Fink die inzwischen korrigierten Zahlen genom-men –: Es geht um einen Einnahmeausfall von 400 Mil-lionen DM pro Jahr. Herr Kollege Fink, glauben Sienicht – was Sie in Ihrer Rede unterstellt haben –, wirhätten das nach dem Motto „Die Pflegeversicherunghat's ja!“ gemacht. Das ist nicht richtig. Es ist einfach so– ich habe das schon neulich, nicht in diesem Haus, son-dern woanders gesagt –: Auch mich schmerzen die Ein-griffe; auch ich hätte das lieber vermieden.
So geht es auch in anderen Bereichen.Jetzt stellt sich die Frage: Wie groß ist das Problem,das wir damit anrichten? Das ist der interessante Punkt.Daß man es lieber anders und bequemer hätte, ist klar,aber wenn man es tun muß, dann lautet die interessanteFrage: Ist das Problem so groß, wie hier behaupet wird?Ich sage: Nein.Sie haben gesagt, es sei unsystematisch.
Das stimmt nicht. Wir stellen die Beiträge,
die der Bund zahlt, um. Deswegen stimmt es auch nicht,daß wir dem Beitragszahler schaden, wie Sie es be-haupten. Hier geht es um Beiträge, die nicht von denArbeitnehmern entrichtet werden, sondern vom Bundes-haushalt. Sie werden auf eine andere Bemessungs-grundlage, nämlich auf den Zahlbetrag der Arbeitslo-senhilfe, umgestellt.
Dr. Heinrich L. Kolb
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4585
(C)
(D)
– Zumindest ist es nicht unsystematisch, weil wir auchsonst das tatsächliche Einkommen als Bemessungs-grundlage für die Entrichtung von Beiträgen zur Sozial-versicherung heranziehen.Jetzt möchte ich noch einmal auf die Frage, ob dasProblem so groß ist, wie Sie behaupten, eingehen. Wennwir das bei einer veränderten Finanzentwicklung ma-chen, die zu erwarten ist – Sie haben andere Zahlenverwendet; die Bundesregierung teilt die Einschätzungdes Bundesversicherungsamtes nicht ganz, weil diemittelfristige Finanzplanung eine andere Einkommens-entwicklung voraussagt –, wird diese Maßnahme dazuführen, daß sich die Rücklagen in den nächsten Jahrenzwar geringfügig vermindern, daß aber die gesamtenRücklagen der Pflegeversicherung immer noch drastischüber der vorgesehenen Schwankungsreserve von rund4 Milliarden DM liegen werden.Das soll heißen: Es besteht nicht die Gefahr, daß diePflegeversicherung in dem Sinne ins Defizit gerät, daßman befürchten muß, wir müssen entweder sofort dieBeiträge anheben oder die Leistungen kürzen.
Diese Gefahr besteht nicht.
Die Veränderung der Bemessungsgrundlage macht dieEinkommenslage der Pflegeversicherung nicht besser,aber wir müssen deswegen nicht so tun, als wäre diePflegeversicherung akut gefährdet,
als müßten die Versicherten die Sorge haben, daß ihreLeistungen nicht mehr gewährleistet sind.Völlig unabhängig von der Frage der 400 MillionenDM, die hier Gegenstand der Debatte sind, werden wirdie großen Probleme, die in der Pflegepolitik anstehen,zu lösen haben. Diese Probleme betreffen die Qualitäts-sicherung. Der Gesetzentwurf dazu wird in Kürze an dieFachleute zur ersten Beratung weitergegeben.Wir werden die große Aufgabe, die Sie uns hinterlas-sen haben, angehen – wir haben schon in der vergange-nen Legislaturperiode viel darüber geredet –, nämlichdie Abgrenzung der verschiedenen Versicherungssyste-me und Leistungsträger zueinander. Tun Sie jetzt nichtso, als wäre unser Vorgehen ein Ausdruck dafür, daß ichmich nicht für die Pflegeversicherung interessieren wür-de. Dieses Problem ist uns schon seit mehreren Jahrenbekannt. Sie haben es uns hinterlassen,
und nur weil wir es nicht sofort im ersten Jahr lösenkönnen, müssen Sie sich nicht mit fremden Federnschmücken.Wir werden diese Fragen angehen, und wir werdenauch über die Demenzkranken zu reden haben. Das sindaber Probleme, die auf der Tagesordnung stehen und de-ren Lösung nicht durch die 400 Millionen DM, die derStaat vorher an Beiträgen in die Pflegeversicherung ent-richtet hat, leichter geworden wäre. Das, was Sie sagen,ist nicht wahr; denn Sie tun einfach so, als hätte dasProblem nur die Dimension von 400 Millionen DM.Die langfristige demographische Entwicklung hataber eine ganz andere Dimension. Es hätte uns die Din-ge sicherlich leichter gemacht. Aber es ist falsch, denEindruck zu erwecken, als würde es mit dieser Maß-nahme unmöglich gemacht, die anstehenden Problemezu lösen.Die Lösung dieser Probleme liegt ganz woanders. Sieliegt auch in der sozialpolitischen Phantasie. Wir müs-sen uns mit den verschiedenen Trägern, die für die Pfle-ge zuständig sind, einigen. Die Lösung liegt zum Bei-spiel im Bereich der Qualität. Da geht es gar nicht umsGeld, sondern darum, daß man sich über Standards ver-ständigt und sie einhält.Über diese Fragen werden wir zu diskutieren haben.Das, was Sie heute machen, ist ein Scheingefecht. Vorallem ist es Kirchturmpolitik nach dem Motto: Ja, ihrmüßt sparen, aber wenn ihr irgendwo anfangt,
sind wir grundsätzlich dagegen. Sie werden wahrschein-lich in den nächsten Jahren noch viele solcher kirch-turmpolitischer Debatten anregen. Das macht es abernicht besser und verantwortungsbewußt im Blick auf dasGemeinwesen ist es auch nicht.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Auf die sozialpolitische Phantasie derFrau Ministerin, insbesondere im Bereich der Absiche-rung des Pflegefalles, bin ich sehr gespannt. Ich hoffe,daß sie zu einer Ausweitung und nicht zu Kürzungenführt.So bequem, wie Sie, Herr Wagner, es sich machen,geht es natürlich wirklich nicht. Sie tun hier so, als gäbees das Problem gar nicht. Die 400 Millionen DM gibtsogar die Ministerin zu.
Nach Schätzungen beispielsweise des Sozialverban-des VdK – der mir politisch nicht so nahesteht, wie Sievielleicht vermuten – kann man auch mit 1,5 MilliardenDM rechnen – oder eine solche Summe zumindest be-fürchten. In diesem Zusammenhang möchte ich daraufhinweisen, daß schon vor Ihrem Sparpaket und vor IhrenRentenplänen bekannt war, daß die Pflegeversicherungihre bisherigen Überschüsse in Zukunft nicht mehr er-wirtschaften wird. Eigentlich hatte ich angenommen –Bundesministerin Andrea Fischer
Metadaten/Kopzeile:
4586 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
das wurde mir zumindest eingeredet –, daß die Pflege-versicherung Menschen helfen soll, die auf fremde Hilfeangewiesen sind. Jetzt habe ich den Eindruck, daß dieSparpläne der Koalition einer Regierung helfen sollen,die auf helfende Fremde angewiesen ist. In diesem Fallist die Pflegeversicherung der Fremde, der helfen soll.Das kann nicht sein.Unmittelbar vor der Sommerpause ist – nicht in die-sem Gebäude, aber in diesem Haus – sehr ausführlichdarüber debattiert worden, daß wir etwas für Demenz-kranke tun müssen. Stets wurde gesagt, dies müsse imZusammenhang mit der Pflegeversicherung geschehen.Ich habe damals erklärt, daß ich es für unmöglich halte,im Rahmen der Pflegeversicherung demenzkrankenMenschen und ihren Angehörigen wirklich zu helfen;denn Demenzkranken kann man nur durch Anwesenheithelfen. Das heißt, 24 Stunden täglich muß jemand da-sein. Das ist aus den Mitteln der Pflegeversicherungnicht zu bezahlen.Deshalb komme ich gerne auf den Vorschlag zurück,sozialpolitische Phantasie einzusetzen, und erinnere dar-an, daß gerade in der vergangenen Woche eine Delega-tion des Gesundheitsausschusses in Österreich war undsich dort über die Pflegevorsorge informierte. Die Pfle-gevorsorge ist in Österreich eine staatliche, steuerfinan-zierte Leistung. Auch dort gibt es Probleme mit der Ver-sorgung von demenzkranken Menschen. Aber immerhinhaben sie das Problem, über das wir heute reden müssen,nicht.Wenn Sie, Frau Ministerin, davon reden, daß wir so-zialpolitische Phantasie brauchen, dann bitte ich darum,nicht immer nur darüber zu reden, wo man angeblichetwas einsparen kann, um den Haushalt zu sanieren. Da-gegen bin ich ja nicht; aber das darf nicht auf Kostenderjenigen gehen, die sich wirklich nicht wehren kön-nen. Ein Land und sogar eine Kommune – grundsätzlichbin ich der Meinung, daß die Kommunen von Ihnen vielzu schlecht bedacht werden – können sich leichter alsein Mensch wehren, der morgens nicht weiß, wie er al-leine auf die Toilette kommt. Das ist ja eine der Aufga-ben der Pflegeversicherung. Angesichts dessen kannman nicht so tun, als wäre ein Minus bei den Einnahmenin Höhe von 400 Millionen DM nur ein Klacks.Ich hatte mich zunächst gewundert, weshalb dieCDU/CSU diese Aktuelle Stunde verlangte. Inzwischenist mir klar, daß es darum geht, Herrn Fink die Möglich-keit zu geben, sich als zukünftiger Sozialminister inBrandenburg zu empfehlen. Das können Sie auch gernetun; Wahlkampf ist schließlich immer wieder.
– Das bezweifle ich nun ernsthaft; aber das ist ein ande-res Thema. Ich mache hier keinen Wahlkampf, sondernrede für Menschen, die keine andere Möglichkeit haben,als über die mäßigen Leistungen der Pflegeversicherungihre Lebensbedingungen wenigstens ein bißchen zu ver-bessern. Wenn wir in diesem Bereich Phantasie aufbrin-gen und die Leistungen tatsächlich so ausweiten, daß dieMenschen das bekommen, was sie benötigen, dann wäredies ein Fortschritt. Der Fortschritt liegt aber nicht ineiner Haushaltssanierung, die in vielen Bereichen un-sozial, in manchen Bereichen ökologisch schädlich undin diesem Falle unverantwortlich ist.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva-Maria Kors.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierung be-treibt Sozialpolitik mit der Überzeugung, die Zukunfts-probleme ließen sich nur über den Aufbau eines Kapital-stocks bewältigen. Mit ihrer Pflegepolitik macht sie abergenau das Gegenteil.
Den Kapitalstock, den es in der Pflegeversicherung be-reits gibt, zerstört sie wieder. So schafft sie es, viel zutun und trotzdem stehenzubleiben, Vollgas zu geben imLeerlauf. So kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“die Stellungnahme von Ministerin Fischer zu den Aus-wirkungen des Sparpakets auf die Pflegeversicherung.Treffender und besser läßt sich die Konzeptionslosigkeitder rotgrünen Bundesregierung im Bereich der Pflege-versicherung kaum beschreiben. Das gilt für die gesamteSozialpolitik.
Es ist jetzt knapp drei Monate her, da beschloß derDeutsche Bundestag Änderungen des Pflegeversiche-rungsgesetzes. Frau Fischer, das waren Änderungen, dieunbestritten sinnvolle und notwendige Verbesserungenbrachten und deshalb unsere Unterstützung erhielten.Was wir aber bereits damals vermißt haben und bis zumheutigen Tag vermissen, sind Vorschläge der Bundesre-gierung, die das drängende Problem der Einbeziehungdemenzkranker Menschen in das System der Pflegever-sicherung lösen, und Regelungen, die eine längerfristigeStabilisierung und Sicherung der Pflegeversicherungbeinhalten. Denn im Gegensatz hierzu drohen der ge-setzlichen Pflegeversicherung durch die verfehlte Fi-nanzpolitik dieser Bundesregierung nunmehr Einnah-meverluste in dreistelliger Millionenhöhe.Eines ist sicher: Diese beabsichtigten Maßnahmen derBundesregierung verschärfen die ohnehin schwierigeSituation der Pflegeversicherung. Sie haben nichts, aberauch rein gar nichts mit einer sachorientierten und vor-ausschauenden Politik zu tun, geschweige denn mit dervon Ihnen so oft zitierten sozialen Gerechtigkeit.
Denn soziale Gerechtigkeit beinhaltet auch den fairenund verantwortungsvollen Umgang mit erworbenen undberechtigten Ansprüchen von Beitragszahlerinnen undBeitragszahlern.Im übrigen ignoriert die Bundesregierung – auch die-ser Punkt ist schon angeklungen – die Einschätzung vonExperten des Bundesversicherungsamtes. Sie berück-Dr. Ilja Seifert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4587
(C)
(D)
sichtigt in keiner Weise den in den kommenden Jahrenanstehenden erhöhten Finanzbedarf der Pflegeversiche-rung etwa durch die demographische Komponente sowiedurch Preissteigerungen oder auch durch Lohnerhöhun-gen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung benutzt nunschon die Pflegeversicherung zum Stopfen von selbstgeschaffenen Haushaltslöchern
und zerstört damit mehr und mehr das Vertrauen derBürgerinnen und Bürger in unsere sozialen Sicherungs-systeme.
Wir fordern die Bundesgesundheitsministerin daherauf, sich ihrer politischen Verantwortung für eine ver-nünftige, sachgerechte und zukunftsfähige Politik imBereich der Pflegeversicherung zu stellen und sich ge-genüber den Finanz- und Haushaltspolitikern, die heutefür die SPD-Regierungsfraktion hier geredet haben,endlich durchzusetzen.Die Union hat als Opposition bereits im Frühjahr die-ses Jahres zur Frage der langfristigen Sicherung der fi-nanziellen Grundlage und zur Weiterentwicklung dergesetzlichen Pflegeversicherung ihr Konzept auf denTisch gelegt. Dieses Konzept lehnten Sie, Frau Fischer,und die die Regierung tragenden Bundestagsfraktionenim Mai schlichtweg ab.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition, beenden Sie nach einem Jahr nun end-lich Ihre Jammerei über die frühere Regierung! DieseJammerei nimmt Ihnen ohnehin keiner mehr ab. Neh-men Sie endlich Ihre politische Verantwortung wahr!
Beenden Sie eine Rentenpolitik, die auf Kosten derRentnerinnen und Rentner geht! Beenden Sie eine Ge-sundheitspolitik zu Lasten der Patientinnen und Patien-ten! Verhindern Sie Maßnahmen, die das System der ge-setzlichen Pflegeversicherung in absehbarer Zeit aus-höhlen werden und allein wieder auf Kosten der Pflege-bedürftigen gehen!
Lassen Sie mich am Ende noch eines sagen: WennBundeskanzler Schröder jedesmal behauptet, er habeverstanden und Sie hätten verstanden, so wage ich dieszu bezweifeln. Wer verstanden hat, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition, das sind die Wäh-lerinnen und Wähler – Gott sei Dank.
Jetzt hat das
Wort der Abgeordnete Walter Schöler.
Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Kors, wenneiner die Haushaltslöcher geschaffen hat, dann war dasdie von Ihnen gestützte ehemalige Regierung. Wir habendiese Haushaltslöcher leider vorgefunden, und Siemüßten an und für sich vor Scham rot werden, denn jah-relang hat die von Ihnen gestellte Regierung den Men-schen in die Tasche gegriffen. Das ist die Tasche, dieHerr Kolb jetzt zunähen möchte. Man hat denen ge-nommen, die sich am wenigsten wehren können, undheute bauen Sie auf die Vergeßlichkeit dieser Menschen.
Sie zeigen mit dem Finger auf uns, und Sie wollen sichzum Sozialwächter der Nation erklären. Das wird Ihnennicht gelingen.Sie wollen hier heute ein Horrorszenario eröffnen,wenn Sie behaupten, die Pflegekassen würden um le-benswichtige Einnahmen gebracht und zerstört.
Sie wissen, Ihre Schwarzmalerei dient nicht der Klar-heit, dient nicht der Wahrheit. Sie soll vielmehr die Be-troffenen verunsichern, weiter Ängste schüren, wie Siedas in anderen Politikfeldern auch machen.Es wird Ihnen, meine Damen und Herren der ehema-ligen Regierungskoalition, nicht gelingen, davon abzu-lenken, daß Sie die unsoliden Staatsfinanzen zu verant-worten haben, daß die Verschuldung ein unverantwortli-ches Maß erreicht hat, daß die Arbeitslosigkeit, die jaAuswirkungen auf die Sozialsysteme und die Kassenhat, nicht wirkungsvoll genug bekämpft worden ist
und daß dennoch all die Menschen, auch die alten Men-schen, die Sie jetzt hier als Ihre Zeugen anführen, mitunerträglich hohen Belastungen von Ihnen belegt wor-den sind. Das, was die alte Regierung jahrelang ver-säumt hat, muß jetzt die Gesellschaft – nicht wir – ineinem Kraftakt schultern,
um von den Folgen Ihrer unsozialen und einseitigenPolitik wegzukommen.Wir werden dafür sorgen, daß der Staat handlungsfä-hig bleibt. Dazu dient auch unser Zukunftsprogramm.Dem dient auch das Haushaltssanierungsgesetz, über daswir demnächst hier beraten werden, und dem dienenauch die Reformen der sozialen Sicherungssysteme.Wir werden den Menschen langfristig Sicherheit ge-ben, denn jahrelang haben wir von Ihnen und auch vonIhren Sprachrohren immer vernommen: So kann es nichtweitergehen; es muß gespart werden, wir alle müssenden Gürtel enger schnallen, der Sozialstaat blutet aususw. usf. Aber was haben Sie in den Jahren dagegengetan? Das müssen Sie sich jetzt fragen lassen.
Eva-Maria Kors
Metadaten/Kopzeile:
4588 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
– Das war im übrigen ein gemeinsames Werk, falls Siedas vergessen, sogar mit Zustimmung der F.D.P.
Vor einem Jahr haben Sie uns zum Beispiel massiv kriti-siert, wir hätten in unserem Regierungsprogramm einenFinanzierungsvorbehalt. Ja, den haben wir aus gutenGründen aufgenommen. Daß er notwendig war, habenwir selber mit großem Bedauern erkannt, als nach derRegierungsübernahme der Kassensturz kam, und unsereBefürchtungen sind bei diesem Kassensturz noch weitübertroffen worden.Das Sparpaket sieht eine gerechte Verteilung derSparmaßnahmen vor, und wir hätten uns gewünscht, aufEinsparungen im Sozialbereich verzichten zu können.Aber Einschnitte sind hier in vertretbarem Maß leidernotwendig, um das Ziel zu erreichen, auch angesichtsdes Umfangs des Sozialhaushalts, gemessen am Ge-samtetat.Sie wissen selbst, daß diese Einsparungen angesichtseiner Rücklage von 9,7 Milliarden DM vertretbar sind,daß sich eine Unterdeckung der Höhe nach in Grenzenhält und ab Mitte des nächsten Jahrzehnts wieder Über-schüsse zu verzeichnen sein werden. Die Beitragssen-kung ist auch für uns sicherlich nicht wünschenswert,aber haushaltspolitisch notwendig und aus Sicht derPflegekasse vertretbar.Wenn Sie heute von Plünderung dieser Pflegekassereden, dann überziehen Sie damit maßlos, denn Sie müs-sen sich fragen lassen: Wer war es denn, der im Rahmender EU-Kriterien, im Rahmen der Sicherung von Ren-tenbeitragshöhen an die Rücklagen der Pflegekasse her-anwollte? Wer ist es denn, der, wie eben Herr Kolb, voneiner Senkung des Beitrages um 0,2 Prozentpunkte redet
und dabei vergißt, daß dieser Beitrag im Grunde ge-nommen von den Arbeitnehmern kompensiert wird?
Er ist doch überkompensiert worden. Das vergessen Sie.Ich weiß gar nicht, wie Sie, Herr Kolb, demnächst zweiStunden des Buß- und Bettages wieder arbeitsfrei ma-chen wollen.
Wer hat zum Beispiel die Investitionsleistungen fürdie Pflege Ost, jährlich 800 Millionen DM, im Jahre1997 ausgesetzt? Ihr Finanzminister Theo Waigel wares. Wir dürfen diese Beträge in den nächsten zwei, dreiJahren zusätzlich veranschlagen. Meine Damen undHerren von der Opposition, deshalb haben Sie das Rechtverwirkt, heute mahnend den Finger zu heben.Zu Ihren eigenen Vorschlägen zur Haushaltskonsoli-dierung: Fehlanzeige – das haben wir bei den Debattengestern und heute wieder festgestellt.Meine Damen und Herren, die Finanzlage der sozia-len Pflegeversicherung ist und bleibt stabil. Das giltauch für den Beitragssatz, und das gilt vor allen Dingenfür die Leistungen an die Versicherten, Leistungen, dienicht gekürzt werden. Wenn Sie, meine Damen und Her-ren von der Opposition, jetzt nur von Einnahmeausfällensprechen, dann sind Sie – so muß ich Ihnen sagen – aufeinem Auge blind. Denn Sie verschweigen, daß diesenvorübergehenden Mindereinnahmen der Pflegekassenachhaltige Mehreinnahmen gegenüberstehen.
Herr Kollege,
die Zeit!
Kollege Wagner wollte mir
seine 47 Sekunden zur Verfügung stellen.
Das ist leider
nicht möglich.
Ich weiß, nur fünf Minuten
Rede.
Es sei mir noch gestattet, auf diese Mehreinnahmen
hinzuweisen, die aus unserem Zukunftsprogramm und
mittelbar auch aus dem Familienleistungsausgleich ent-
stehen werden. Sie entstehen aus dem Steuerentla-
stungspaket, ein Paket, das wir aufgelegt haben und das
Sie nie zustande gebracht haben.
Meine Damen und Herren, Ihre Vorwürfe gehen ins
Leere. Wir werden in den nächsten Monaten die Debatte
führen. Sie werden sehen: Die Sozialsysteme werden
durch uns nachhaltig gesichert werden.
Nur zur Klar-
stellung: In der Aktuellen Stunde sind wir immer gehal-
ten, die fünf Minuten Redezeit präzise einzuhalten. Man
darf sich auch keine Zeit von anderen leihen, sondern
muß seine eigene Zeit einhalten.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Aribert Wolf.
Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Wenn in Versamm-lungen draußen Politiker von SPD und Grünen über diePflegeversicherung und die ohne Zweifel immer schwie-rige Situation von Pflegebedürftigen sprechen, dann istviel von sozialer Verantwortung, von Mitgefühl und vonEinsatzbereitschaft für die Schwachen die Rede. Aberwas erleben wir hier?
Walter Schöler
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4589
(C)
(D)
Welch andere Welt im Bundestag! Hier ist der Ort, andem wir unseren Worten und Versprechungen Tatenfolgen lassen müssen.
Aber wie sieht die Wirklichkeit hier aus? Wo Verbes-serungen für die Pflege gefragt sind, werden wir traurigeAugenzeugen, wie Schröder, Eichel und Riester die Pfle-geversicherung schamlos für ihr Sparpaket ausplündern.
Gelder, die für Leistungsverbesserungen in der Pflegedringend gebraucht werden, verschwinden mit einemTrick auf Nimmerwiedersehen im Bundeshaushalt. Meine Damen und Herren, die Beitragszahler derPflegeversicherung haben mühsam in vier Jahren10 Milliarden DM angespart. Dieses Geld sollte alsRücklage zur Absicherung demographischer Risikendienen und Leistungsanpassungen möglich machen.Doch statt das Geld für die zu verwenden, für die es ein-gezahlt wurde, beispielsweise für eine Verbesserung derSituation der Demenzkranken, wie es Bayern und Ba-den-Württemberg in einem Gesetzentwurf vorgeschla-gen haben, schallt und tönt es aus dem Kanzleramt: Geldher! Sparpaket!Meine Damen und Herren, ich finde es beschämend,mit welcher Gefühlskälte dieser Kaschmirkanzler denSchwächsten in unserer Gesellschaft die ersparten Not-groschen abknöpft.
Da mag er sein Falschspiel noch so geschickt tarnen:Wir haben den Riester-Rüssel längst erkannt. Über denUmweg der Absenkung der Bemessungsgrundlage beider Arbeitslosenhilfe saugt Riester gierig die Rücklagender Pflegeversicherung auf.
Jahr für Jahr dirigiert er 400 Millionen DM in den Bun-deshaushalt um –
Geld, das für eine menschliche Pflege dringend benötigtwird.Meine Damen und Herren von Rotgrün, woher habenSie den Wählerauftrag für diesen Sozialraub?
Aber das paßt nur zu gut zum Bild der Neuen Mitte:dicke Zigarren und Brioni-Anzüge. All das ist wichtiger,als den Pflegebedürftigen die bitter nötigen Spargro-schen zu erhalten.
Dabei hat die Pflegeversicherung nichts zu verschenken.Mein Kollege Ulf Fink hat schon auf die Berech-nungsgrundlagen des Bundesversicherungsamtes hinge-wiesen. Ich erinnere noch einmal daran: Für 1999 ist al-lein in der Pflegeversicherung eine negative Bilanz zuerwarten; es ist mit einem Defizit von 20 Millionen DMzu rechnen. Angesichts solch alarmierender Zahlensollte eigentlich ein Aufschrei des Entsetzens von derGesundheitsministerin durchs Land hallen; denn ihr ob-liegt es, auf das Geld der Pflegebedürftigen aufzupassen.
Frau Fischer, was sagen Sie eigentlich einer altenFrau, die ein Leben lang schwer gearbeitet hat und keineKraft mehr hat, ihren an Alzheimer erkrankten Mannrund um die Uhr zu Hause zu beaufsichtigen, sonderndazu fremder Hilfe bedarf und auf die Pflegeversiche-rung hoffte? Dieser armen Frau stellen Sie jetzt denStuhl vor die Tür.
Ohne Moos nichts los; so ist es doch.Auch in den Pflegeheimen ist es nicht anders. Wiewollen Sie denn dort den Pflegeschlüssel wirksam ver-bessern, wenn Sie das dafür notwendige Geld HerrnRiester und Herrn Eichel kampflos überlassen, meineDamen und Herren?
Wie steht es denn mit Ihren Versprechungen in derKoalitionsvereinbarung? Dort steht schwarz auf weiß:Die Rücklage der Pflegeversicherung wird vorran-gig für die dauerhafte Stabilisierung des Beitrags-satzes verwendet. Die Bildung eines Teilkapital-stocks wird angestrebt.Aber jetzt ist das Geld futsch, und Sie mucken nichteinmal auf, Frau Fischer. Das ist bedauerlich. Das mußich Ihnen ganz ehrlich sagen.
Offensichtlich hat man sich bei Rotgrün damit abgefun-den, daß es bei dieser Bundesregierung und diesemBundeskanzler auf einen Wortbruch mehr oder wenigergar nicht mehr ankommt.
Ich muß Ihnen wirklich sagen: Haben Sie von derSPD und den Grünen etwas Mumm! Lassen Sie sichnicht zum bloßen Stimmvieh von Schröder und Eicheldegradieren! Zeigen Sie ein wenig Rückgrat! Kippen Siedas Sparpaket zumindest an diesem Punkt, und haltenSie wenigstens gegenüber den Pflegebedürftigen, wasSie den Menschen vor der Wahl versprochen haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.Aribert Wolf
Metadaten/Kopzeile:
4590 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Herr Kollege Wolf, man kann als OppositionspolitikerFundamentalopposition gegen ein Sparpaket betreiben.Das ist ja die Linie, die die CDU/CSU jetzt fährt. Ersthat sie uns den Schuldenberg hinterlassen, dann hat siesich nicht mehr darum geschert, und nun betreibt sieFundamentalopposition. Aber bei den Menschen denEindruck zu erwecken, wir würden mit diesen Maßnah-men die Pflegeversicherung abschaffen – Herr KollegeWolf, hören Sie einen Moment zu; wir haben Ihnen auchruhig zugehört –, halte ich persönlich für eine bodenloseUnverschämtheit.
Herr Kollege Wolf, man kann Fundamentaloppositiongegen ein Sparpaket betreiben, auch wenn man selbst fürden Schuldenberg verantwortlich ist. Sich aber hier hin-zustellen und so zu tun, als würden sich durch dieseMaßnahmen die Leistungen für die Pflegebedürftigen inirgendeiner Form ändern, finde ich persönlich bodenlosunverschämt.
Und, Herr Kollege Wolf: Man kann sich hier hinstel-len und Leistungsausweitungen in der Pflegeversiche-rung fordern. Sie aber in der eigenen Regierungszeitnicht durchgesetzt zu haben finde ich mindestens genau-so unverschämt.
Mich regen einige Krokodilstränen, die in dieser De-batte geflossen sind, ungeheuer auf. Die F.D.P. ist diePartei, die Leistungsausweitungen in der Pflegeversiche-rung verhindert hat.
Wenn es nach denen gegangen wäre, hätte es keinePflegeversicherung gegeben. Dann würden wir eine völ-lig andere Debatte führen.
– Den Streit zwischen Ihnen beiden habe ich schon mit-bekommen.Meine Damen und Herren, wenn wir Ihren Weg wei-terverfolgen und entsprechend weiterdiskutieren, dannwerden wir ein Ziel nicht erreichen: Wir werden diesenHaushalt nicht ins Gleichgewicht bringen.Das Ziel dieser Bundesregierung ist es, die hoheVerschuldung und die dadurch hohe Zinsbelastung desBundes zurückzufahren. 83 Milliarden DM gehen Jahrfür Jahr nur für die Bedienung der Schulden drauf. EinViertel aller Steuereinnahmen geht verloren, nur umdie Schulden, die Sie uns hinterlassen haben, zu zah-len.Unser Ziel ist es, den Haushalt ins Gleichgewichtzu bringen, die Nettoneuverschuldung auf Null zu fah-ren. Dazu – das räume ich gerne ein – sind auch Maß-nahmen nötig, die nicht der reinen Lehre entsprechenund über die wir uns nicht freuen. Die Ministerin, aberauch alle anderen Rednerinnen und Redner der Regie-rungsfraktionen haben deutlich gemacht, daß wirselbstverständlich sehen, daß 400 Millionen DM we-niger Rücklagen in der Pflegeversicherung vorhandensind.Aber – ich komme zu dem zurück, was am Anfangder Debatte gesagt wurde, Herr Kollege Fink – esstimmt nicht, daß Pflegebedürftige in uns keine Lobbyhaben. Sie können uns trotz aller Polemik abnehmen:Sie haben in uns eine große Lobby. Ministerin Fischerwird kreativ daran arbeiten, Leistungsverbesserungen inder Pflegeversicherung für diejenigen Menschen, die esnötig haben, durchzusetzen. Die Koalition wird unsereMinisterin darin unterstützen.
Es geht um etwas anderes: In uns haben die Beitrags-zahler insgesamt endlich eine Lobby. In den letzten achtJahren haben Sie den Beitragszahlern im Rahmen derSozialversicherung Mehrbelastungen von insgesamt10 Prozent zugemutet. Das Ziel dieser Bundesregierungist es, die Beiträge stabil zu halten bzw. sie sogar zusenken, damit Arbeit wieder billiger wird und ein weite-res wichtiges Ziel erreicht wird, nämlich die Arbeitslo-sigkeit in diesem Lande zu bekämpfen. Das gibt mir Anlaß, auf eines hinzuweisen: Ich haltees für ein gutes Zeichen, wenn die Beiträge für dieKrankenversicherung in diesem Jahr nicht weiter stei-gen.
Ich finde, das ist eine Leistung, was Ministerin Fischervollbracht hat. Sie wissen aus Ihrer Amtszeit, wieschwer es ist, Beitragsstabilität in der gesetzlichenKrankenversicherung zu erreichen.
Ich halte es für eine gute Leistung, daß es der Bundesre-gierung mit Hilfe der Ökosteuer gelungen ist, die Bei-träge zur Rentenversicherung abzusenken. Das sindDinge, die in Ihrer Regierungszeit überhaupt nichtdenkbar und möglich gewesen wären. Ich freue michdarüber, daß das geklappt hat. Bei uns haben also dieBeitragszahler insgesamt eine Lobby, und unser Ziel istdie Beitragssatzstabilität.Vorhin wurde gesagt, Ministerin Fischer habe nichtfür die Pflegeversicherung gekämpft. Herr KollegeWolf, ich kenne Andrea Fischer ganz gut. Ich kannIhnen versichern: Sie hat ziemlich gekämpft. Nur, siehat sich nicht ganz durchsetzen können, weil wir voreinem riesigen Problem stehen: Wir müssen die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4591
(C)
(D)
Staatsausgaben in diesem Lande zurückfahren, umSchulden abzubauen.
Wir in der Koalition müssen unangenehme Entschei-dungen treffen. Sie können dagegen opponieren. Aberich garantiere Ihnen: Die Menschen werden es uns dan-ken, wenn wir den Haushalt wieder ins Gleichgewichtbringen.
– „Das sehen wir bei den Wahlen“, sagt er. Er ist zumerstenmal in diesem Parlament. Ich kann mich an vieleWahlen erinnern, die wir gewonnen haben, Herr Kol-lege. Dann haben wir uns zurückgelehnt,
die Realitäten weiter verleugnet und haben gedacht:Kohl ist übernächste Woche nicht mehr da. Das hat sonicht geklappt.Ich weiß wohl, daß die Menschen im Moment einigeProbleme mit uns haben.
Aber ich weiß eines auch: Die Menschen sind mehrheit-lich dafür, daß wir die Ausweitung der Staatsausgabenso nicht weiterführen, daß wir den Haushalt konsolidie-ren. Ich bin ganz sicher, daß uns die Menschen diesdanken werden. Ich bin auch sicher, daß die finanzielleBasis der Pflegeversicherung nach wie vor auf einemderart hohen Niveau ist, daß wir eine dauerhafte Siche-rung der Pflege in Deutschland garantieren können,
wenngleich wir alle gemeinsam wissen, Frau Schnieber-Jastram, daß in der langfristigen Perspektive auf Grundder demographischen Entwicklung – die geringereRücklage in Höhe von 400 Millionen DM ist da keinemaßgebliche Stellgröße – Probleme sowohl auf die Pfle-geversicherung als auch auf die Rentenversicherung zu-kommen.Das gibt mir Anlaß, Sie um eines herzlich zu bitten,und zwar darum, wieder zu der Politik zurückzukehren,die Sie in der letzten Wahlperiode gemacht haben. Dahaben Sie die Realitäten der Rentenversicherung, dendemographischen Wandel und die Belastungen, die aufdie Rentenversicherung zukommen, anerkannt.
Sie sollten jetzt nicht den Fehler machen, weiterhinFundamentalopposition zu betreiben. Wenn Sie die de-mographische Entwicklung als Problem ernst nehmen,dann sollten Sie sowohl in der Rentenpolitik als auch inder übrigen Politik zu einem konstruktiven Dialog zu-rückkehren.
Sie sollten nicht den Fehler machen, weiterhin billigemPopulismus das Wort zu reden.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.
Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Berninger,wenn man Sie so reden hört, dann ist festzustellen: DasZiel, das Sie haben, ist richtig. Auch wir haben diesesZiel.
Nur, das Werkzeug, das Sie in die Hand nehmen, umdieses Ziel zu erreichen, ist für jeden Handwerker eineBeleidigung. Das ist das Problem, das Sie haben.
Auch bei diesem Thema wird das verkehrte Werk-zeug in die Hand genommen. Ich gehöre dem Bundestagseit 1990 an. Ich habe damals in der entsprechendenKommission meiner Fraktion mitgearbeitet, in der wirdie Pflegeversicherung durchgesetzt haben. Die Pflege-versicherung war in ihren Inhalten nie umstritten. Heißumstritten war, wie man sie finanziert. Deswegen habenNorbert Blüm und viele andere in der CDU, liebe Kolle-gin Fischer, immer darauf geachtet, daß wir die Finan-zen bei der Pflegeversicherung solide voreinander ha-ben. Es hat ja genug gegeben, die uns gewünscht haben,daß die Pflegeversicherung schon nach einem Jahr vordie Wand gefahren wäre. Ich kann mich daran erinnern,daß von manchen im Parlament gesagt worden ist, wieunfinanzierbar eine soziale Pflegeversicherung ist. Ichwar immer ein leidenschaftlicher Anhänger der sozialenPflegeversicherung. Wir werden sie aber nur behalten,wenn wir gerade in diesem System sehr auf die Finanzenachten.Dadurch, daß wir drei Monate eher Beiträge erhobenhaben, als Leistungen erbracht worden sind, und daß inden letzten Jahren immer ein bißchen weniger ausgege-ben worden ist, als man eingenommen hat, haben wir er-reicht, daß eine Rücklage da ist. Sie wissen alle, daß dasauf Grund von verschiedenen Entwicklungen kippt. Diestationäre Pflege wird häufiger in Anspruch genommenMatthias Berninger
Metadaten/Kopzeile:
4592 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
als die ambulante; da steigen die Kosten. Das hat direktmit den Ausgaben der Pflegeversicherung zu tun.Daß man den Beitrag des Staates, den er für Arbeits-losenhilfebezieher zahlt, für die Krankenkasse bei 80Prozent beläßt, wie es immer war, und bei der Pflege-versicherung auf den tatsächlichen Zahlbetrag bringt, istnun wirklich unmöglich.
Ich sage Ihnen: Wenn Norbert Blüm noch für die Pfle-gekasse zuständig wäre, wäre das nicht passiert.
Die Sozialpolitiker bei SPD und Grünen sollten, da-mit das System soziale Pflegeversicherung nicht be-schädigt wird, bei den Beratungen in der Fraktion allesdaransetzen, einen anderen Hebel zu finden. Ich weißdoch, wie das ist, wenn eine Regierung ein Sparpaketmacht: Die Gesamtvolumina müssen erbracht werden.Ich habe ja auch Sparpakete mitgemacht.
Ich denke, man sollte bei dieser Frage noch einmalnachdenken. Wir sollten das Image der Sozialversiche-rung – da geht es nämlich um mehr – nicht verletzen.Wir müssen einen weiteren Punkt im Auge haben. Ir-gendwann werden wir bei der Pflegeversicherung ein-mal die Leistungen erhöhen müssen. Durch Preissteige-rungen bei den Pflegestunden bekommen die Leute fürdas Geld, das sie konstant seit einigen Jahren zahlen –wir haben die Beiträge nie erhöht –, immer wenigerPflegeleistungen. Wir müssen aufpassen, daß die Lei-stungen in der Pflegeversicherung und die Leistungen,die wir in der Beihilfe für Pflege haben, nicht zu weitauseinandergehen. Bei der Beihilfe ist das wie folgt ge-regelt: In der Pflegestufe I sind es 30 ambulante Pflege-einsätze, in der Pflegestufe II sind es 60 und in der Pfle-gestufe III dann 90. Dort bekommt man also nach wievor 90 Pflegesätze, auch wenn die Preise steigen. Derje-nige aber, der in der gesetzlichen Pflegeversicherung ist,bekommt heute keine 90 Pflegesätze, sondern kann sichallenfalls noch 78 kaufen. Wenn Sie jetzt das Geld fürden Staatshaushalt verfrühstücken,
dann machen Sie diesen Unterschied immer größer.
Darauf müssen Sie achten!Sie sind wirklich auf dem Weg – das muß man ganzklar sagen –, beitragsfinanzierte Leistungen stärker zubelasten, damit Sie steuerfinanziert etwas in den Griff be-kommen. Ich sage Ihnen: Es ist nicht mehr als recht undbillig, daß auch diejenigen, die über die Beihilfe eine ver-dammt gute Absicherung in der Pflege haben als Beamteüber die Steuergelder zumindest für die Arbeitslosen ei-nen reelen Beitrag in die Pflegeversicherung entrichten.
Das wird aber durch Sie und Ihre Mehrheit zerstört.Kehren Sie auf diesem schlimmen Weg, den Sie einge-schlagen haben, um!Danke schön.
Kann ich dem
nächsten Redner das Wort geben?
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Ich möchte doch gerneauf zwei, drei Punkte eingehen. Das eine Argument, dasSie, Frau Fischer, verwendet haben, war, der Vorwurfder Unsystematik treffe nicht zu. Dann frage ich Sieaber: Wie können Sie es denn vertreten, daß die Ar-beitslosenhilfe die Beiträge für die Krankenversicherungder Arbeitslosenhilfeempfänger auf der Basis von 80 Pro-zent des früheren Bruttolohns zahlt, daß aber die Bei-träge für die Pflegeversicherung der Arbeitslosenhilfe-empfänger nur auf Grund von 53 Prozent des Nettoent-gelts gezahlt werden?Können Sie mir irgendeine sachliche Begründungdafür nennen, warum das in dem einen Fall so und indem anderen Fall anders geregelt wird? Dies ist docherkennbar lediglich dem Umstand zu verdanken, daßdas eine Mal, nämlich bei der Gesundheitsreform, fürSie die Notwendigkeit bestand, die Leute einigermaßenbeieinanderzuhalten, die es Ihnen nicht verziehen hät-ten, wenn Sie ihnen einen Milliardenausfall oktroyierthätten, während Sie das andere Mal gedacht haben: Na,da sind ja noch 9,5 Milliarden DM! Die Haushaltspoli-tiker der SPD haben auch gerade zugegeben, daß dasnach dem Motto „Da kann man es schon einmal ma-chen“ ging.Das hat mit Ordnungspolitik, mit Sozialpolitik über-haupt nichts zu tun. Das steht damit in keinem sachli-chen Zusammenhang.
Das ist auch der Grund dafür, weshalb hierzu keineinziger Sozialpolitiker der SPD geredet hat.
Karl-Josef Laumann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4593
(C)
(D)
Dies waren vielmehr zwei Haushaltspolitiker, weil sichauch bei Ihnen die Sozialpolitiker ganz offensichtlichdafür schämen, daß so etwas gemacht wird.
– Lieber Herr Andres, warum hat keiner von Ihnen dazugeredet? Keiner von Ihnen hat dies verteidigt, denn es istnicht zu verteidigen.Zweiter Punkt. Das sage ich jetzt zu Ihren Wirt-schafts- und Finanzpolitikern: Es wäre noch eine ein-sichtige Argumentation zu sagen: Es muß auch bei derPflegeversicherung etwas getan werden, damit dieHaushaltszahlen zu einer besseren wirtschaftlichen Ent-wicklung beitragen. Das wäre eine mögliche Argumen-tation. Herr Berninger hat es probiert. Aber diese Argu-mentation wäre nur dann schlüssig, wenn sich dadurchirgend etwas bei den Staatsausgaben oder dem Staatsde-fizit insgesamt ändern würde. Aber genau das tritt nichtein.Durch Ihre Operation erreichen Sie nur, daß der Bundum 400 Millionen DM pro Jahr entlastet wird. SeinAusgabengebaren wird dadurch überhaupt nicht verän-dert. Dagegen fällt bei der Pflegeversicherung das Defi-zit um 400 Millionen DM höher aus, als wenn Sie esnicht gemacht hätten. An den Ausgaben der Pflegeversi-cherung ändert sich auch nichts. Das heißt, daß lediglicheine Umschichtung des Gesamtstaatsdefizits vom Bundauf die Pflegeversicherung stattfindet. Das ist volkswirt-schaftlich in keiner Weise von Belang. Das Ergebnis istdasselbe wie vorher. Sie haben nicht einmal die gering-ste Aussicht, daß sich durch diese Operation an der wirt-schaftlichen Entwicklung irgend etwas ändert.Das einzige, was bei dieser Operation geschieht –deshalb können Sie auch nicht die Argumente des Spa-rens oder der Konsolidierung für sich in Anspruch neh-men –, ist, daß Sie ein grundlegendes Prinzip verletzen,nämlich daß man nicht in anderer Leute Kasse greifensollte.
Das ist – um es einmal ganz klar zu sagen – ein reinerDiebstahl an den Pflegeversicherten und den Pflegebe-dürftigen, der jetzt stattfindet. Das ist nichts anderes.
Der Diebstahl ist durch nichts anderes als durch die Tat-sache zu begründen, daß Sie sagen: Es fällt uns leichter,bei den Pflegebedürftigen zuzugreifen, da diese keine sostarke Lobby haben, während die andere Seite, nämlichBund und Krankenversicherungen, eine starke Lobbyhaben, so daß Sie sagen: Hier können wir es uns nicht soleisten.
Nein, meine Damen und Herren, dies ist ein ganzschlimmer Verstoß.Wir müssen alles daran setzen, daß Sie daran gehin-dert werden, eine solche Politik, die sowohl auf wirt-schaftlichem wie auch auf sozialem Gebiet versagt,weiter durchzusetzen.
Wir müssen Sie daran hindern, daß Sie solch eineschlechte Weichenstellung in der sozialen Entwicklungvornehmen.
Damit ist die
Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der
Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in
der Bauwirtschaft – Schlechtwettergeldgesetz
– Drucksache 14/1516 –
Metadaten/Kopzeile:
4594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Das ist das Problem, wenn Sie an solche Dinge herange-hen.Klaus Wiesehügel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4595
(C)
(D)
Ab der 101. Ausfallstunde wird das Winterausfall-geld von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert. Da-durch werden die Belastungen für die Baubranche redu-ziert. Die Bundesanstalt hat dadurch einen Mehrbedarfvon 55 Millionen DM. Das sind die Kosten, die durchdas neue Gesetz entstehen. In diesem Haus und an ande-ren Stellen ist schon mehrfach behauptet worden, daßfür diese Neuregelung tief in die Tasche der öffentlichenHand gegriffen werden muß. Dies ist völliger Unsinn.Die 55 Millionen DM decken sich automatisch, wennman bedenkt, daß für einen Bauarbeiter, der drei Monatearbeitslos gewesen ist, 7 300 DM aufgebracht werdenmüssen. Dies ist ein Erfahrungswert, den wir aus denvergangenen Wintern abgeleitet haben. Wenn Sie dieZahl von 7 300 DM nur mit der Zahl von 8 000 arbeits-losen Arbeitnehmer multiplizieren, dann liegt die Sum-me schon deutlich über den 55 Millionen DM. Ich rech-ne damit, daß von den 160 000 Bauarbeitern, die imletzten Jahr arbeitslos waren, mindestens die Hälfte –wenn die Regelung vernünftig und mit gutem Willenumgesetzt wird – nicht mehr arbeitslos sein wird. Dasbedeutet also sogar einen erheblichen Gewinn für dieBundesanstalt für Arbeit. Die Neuregelung ist auch ar-beitsmarktpolitisch richtig. Die 55 Millionen DM anMehrbedarf werden in vollem Umfang gedeckt. Daraufmöchte ich hier hinweisen. Ich hoffe, daß Sie zumindestdiesmal in der Lage sind, richtig zu rechnen. Damals ha-ben Sie falsch gerechnet.Mit unserem Gesetzentwurf wird eine weitere Neue-rung eingeführt, die in den alten Gesetzen nicht enthal-ten war, aber notwendig ist, nämlich das Verbot derwitterungsbedingten Kündigung. Sie kann erst jetzteingeführt werden, nachdem schon sehr viel in derBranche kaputtgeschlagen wurde. Die Tarifvertragspar-teien haben schon immer das Verbot der witterungsbe-dingten Kündigung im allgemeinverbindlichen Tarif-vertrag festgelegt. Nur, heutzutage halten sich leidernicht mehr allzuviele Arbeitgeber an den Tarifvertrag.Sie werden dazu auch immer wieder aufgefordert: Wennman wie der Wirtschaftsminister von Sachsen, HerrSchommer, täglich zum Tarifbruch auffordert, dann darfman sich nicht wundern, daß die Tarifverträge nichtmehr die Kraft entfalten, die ihnen ursprünglich inne-wohnte.Jetzt wird dieser Tarifvertrag durch eine entsprechen-de arbeitsmarktpolitische Maßnahme, die äußerst sinn-voll ist, ergänzt. Wer nun den Tarifvertrag bricht unddennoch kündigt, der kündigt in einer Zeit, in der dieKündigung eigentlich verboten ist, und er muß der Bun-desanstalt für Arbeit und damit der Allgemeinheit denSchaden erstatten. Das ist das Neue und auch das Gutein dem Gesetzentwurf. Ich bin mir sicher, daß das Ge-setz in diesem Punkt tatsächlich wirkt.Daß eine solche Regelung Teil des Gesetzes werdenmuß, hat noch einen anderen Grund. Daß die Arbeitge-ber, aufgehetzt von vielen Ihrer politischen Freunde, dieArbeitgeberverbände verlassen, hat noch einen ande-ren, sehr großen Nachteil. Es geht nicht nur darum, daßman sich den Tarifverträgen entziehen kann. Arbeitge-berverbände haben nicht nur die Funktion, Verhandlun-gen über Tarifverträge zu führen und für die Tarifver-träge verantwortlich zu sein; Arbeitgeberverbände habenauch die Funktion, ihre Mitglieder zu informieren.Indem Teile der CDU mit unverantwortlichen Redendie Menschen dazu bringen, die Arbeitgeberverbände zuverlassen, haben wir es mit großen uninformierten Ar-beitgebergruppen zu tun, besonders in den neuen Bun-desländern. Kein Mensch sagt diesen Arbeitgebergrup-pen, wie neue Gesetze funktionieren, was hinter neuenGesetzen steht und wie sie sich darauf einzurichten ha-ben. Deswegen kommen wir gar nicht darum herum,jetzt entsprechende Maßnahmen durchzuführen. DurchIhre damalige Streichung des Schlechtwettergeldes ist soviel Schaden entstanden, daß dieses Gesetz hoffentlichschon im nächsten Winter erheblich wirkt. Ich hoffe,daß wir in der Lage sind, diejenigen Informationen, diejetzt nicht über die Verbände fließen, dann über dieBundesanstalt für Arbeit zu vermitteln.Die Winterbauausschüsse waren immer ein Instru-ment, die Zahlung von Schlechtwettergeld, ganzjährigeBeschäftigung und ganzjähriges Einkommen umzuset-zen und arbeitsmarktpolitisch in diesem Sinne zu wir-ken. Sie haben auch diese Winterbauausschüsse abge-schafft. Ich habe bis heute nicht begriffen, warum Siedas getan haben und was Sie daran gestört hat, daß sichArbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam mit der Bun-desanstalt für Arbeit in Drittelparität zusammengesetztund überlegt haben, wie die schwierige Zeit des Winterszu überbrücken ist und welche Maßnahmen man ergrei-fen kann, um die Arbeitnehmer in Arbeit zu halten.Wir reparieren das, was dadurch kaputtgegangen ist,daß die Winterbauausschüsse abgeschafft worden sind.Die Winterbauausschüsse werden wieder eingerichtet,und sie sind als arbeitsmarktpolitisches Instrument die-sem Gesetzentwurf hinzugefügt, damit die Menschenvor Ort, die sich mit der Situation am besten auskennen,die die jeweilige Witterungssituation kennen, die wis-sen, welche Sorgen die Betriebe haben, die wissen, wiedie Situation der Arbeitnehmer aussieht, zusammen mitden Winterbauausschüssen tatsächlich in der Lage sind,die Dinge so zu regeln, daß möglichst wenig Menschenarbeitslos werden.Ein anderer Punkt – ich habe schon vorhin einmal aufihn hingewiesen – ist die Flexibilisierung. Wir habensie ausgedehnt. Mit der Summe der 1,7 Prozent derUmlage, die ursprünglich überhaupt nicht ausreichensollte, schaffen wir ein zusätzliches Instrument zur Fle-xibilisierung. Zukünftig wird es so sein, daß jedem, derim Sommer Überstunden gemacht hat, im Rahmen einergroßen Flexibilisierung 2 DM im Winter, wenn dieÜberstunden zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit undzur Inanspruchnahme dieser Regelung genommen wer-den, zusätzlich vergütet werden. Für diese Flexibilisie-rung habe ich mich immer klar und deutlich ausgespro-chen. Diejenigen Unternehmen, die das begriffen haben– es sind einige –, machen schon jetzt in den BetriebenWerbung und vereinbaren mit den Betriebsräten we-sentlich mehr Flexibilisierungsmodelle als früher, weildie entsprechenden Anreize vorhanden sind. So ist esgedacht: Gesetze müssen Anreize schaffen. Diese An-reize sind von den Tarifvertragsparteien eingebrachtworden, und diese Anreize werden hoffentlich so wir-Klaus Wiesehügel
Metadaten/Kopzeile:
4596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
ken, daß wir uns zukünftig über Winterarbeitslosigkeitnicht mehr unterhalten müssen. Dieser Gesetzentwurfsoll die Dinge entsprechend regeln.
Es ist immer wieder der Gedanke in die Diskussioneingebracht worden, tarifvertragliche Regelungen gin-gen vor und als Gesetzgeber dürfe man nicht eingreifen,man solle die Tarifpartner die Probleme alleine klärenlassen. Dieser Gesetzentwurf ist so konzipiert, daß ernicht in die Tarifverträge eingreift. Kenner der Materiewissen, daß wir in unterschiedlichen Branchen, die vonschlechtem Wetter betroffen sind, verschiedene Tarif-verträge haben. Es handelt sich nicht nur um das Bau-gewerbe, sondern auch um das Gerüstbaugewerbe, umdas Dachdeckergewerbe und um den Garten- und Land-schaftsbau. Alle diese Tarifverträge können in ihrer Ver-schiedenheit in vollem Umfang funktionieren, und trotz-dem kann die Ihnen heute vorliegende Regelung dortangewandt werden. Damit ist in diesem Bereich der Be-weis gelungen, daß die Arbeit der Tarifvertragsparteienmit der Gesetzgebung gekoppelt werden kann, so daßarbeitsmarktpolitisch Erfolg erzielt werden kann.Ich zumindest, meine Damen und Herren, bin davonüberzeugt, daß dieses neue Gesetz seinen arbeitsmarkt-politischen Aufgaben nachkommen wird und damit er-neut beschäftigungspolitischer Schaden, den die alteBundesregierung ja in großem Umfang verursacht hat,behoben wird. Darüber bin ich froh, denn ich habeziemlich lange darauf gewartet, daß das kommt.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Hans-Peter Friedrich.
FrauPräsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Durch die Vorlage dieses Gesetzentwurfes, den Siewahrheitswidrig Gesetzentwurf zur Förderung derganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft nen-nen, wird einmal mehr deutlich, in welch unglaublichemMaße Sie die Menschen vor der Wahl in die Irre geführthaben. Jetzt, ein Jahr nach der Wahl, backen Sie ganzkleine, aber leider ungenießbare Brötchen. Deswegenbrauchen Sie sich überhaupt nicht zu wundern, wenn Ih-nen die Menschen von einer Wahl zur anderen dieQuittung für Ihre Unwahrhaftigkeit erteilen.
Herr Kollege Wiesehügel, ich wundere mich schonüber Ihre Rede. Sie waren, wenn ich mich richtig erinne-re, einer von denjenigen, die sich im April, also siebenMonate nach der Wahl, noch an die Parolen erinnert ha-ben, die man vor der Wahl ausgegeben hatte. Sie wollten,wenn ich es richtig in Erinnerung habe – vielleicht habendie Zeitungen da ja etwas völlig Falsches geschrieben –
wieder ein Winterausfallgeld ab der ersten Arbeits-stunde einführen. Heute wissen Sie davon offensicht-lich nichts mehr. Gegen Ihre Versprechen, Herr Wie-sehügel, an die Sie offensichtlich geglaubt haben, hataber auch schon im April gesprochen, daß sie weit vonder Realität in der deutschen Bauwirtschaft, die vonKonkurrenzdruck und Wettbewerb bestimmt ist, ent-fernt waren.
Durch ihren Gesetzentwurf bestätigt die Regierungs-koalition im Grunde genommen – Sie haben das ja vor-hin ausgeführt – das von der Kohl-Regierung refor-mierte und flexibilisierte Dreisäulenmodell. DiesesModell steht gleichsam symbolisch für die Richtung, indie die Reformen unseres Sozialstaates und unserer so-zialen Marktwirtschaft gehen müssen.Erste Säule: Jeder muß im Rahmen des ihm Mögli-chen und ihm Zumutbaren Arbeitslosigkeit und Ver-dienstausfall vermeiden.
Die Bauarbeiter haben dieses Prinzip begriffen und ak-zeptiert, weil damit der richtige Weg aus der Arbeitslo-sigkeit aufgezeigt wurde: während des Jahres Über-stunden ansammeln, sie in der Schlechtwetterperiodeeinsetzen und dadurch Lohnausfall mit allen unange-nehmen Begleiterscheinungen vermeiden. Wenn ich esrichtig einschätze, hat das ja auch funktioniert. DerZentralverband des Deutschen Baugewerbes gibt an,daß zwei Drittel der Baubetriebe Arbeitszeitkontenführen, was sie, wie Sie sagten, immer wollten. BeimHauptverband der Deutschen Bauindustrie heißt es, so-gar 88 Prozent der Unternehmen hätten solche Arbeits-zeitkonten.Zweite Säule: Ab einer gewissen zumutbaren Eigen-leistung muß die nächstgrößere Einheit, nämlich derZusammenschluß der Unternehmen in einer Branche,einen Ausgleich finden, also zum Beispiel durch eineWinterbauumlage Solidarität der Branche beweisen.Für diese ersten beiden Stufen brauchen die Tarif-partner noch nicht einmal gesetzliche Regelungen. Daskönnten sie eigentlich im Rahmen ihrer Tarifautonomieselber lösen. Deswegen wundere ich mich, daß Sie alsGewerkschafter mehr kleinlaut sagen, Sie griffen garnicht in Tarifverträge ein. Sie sollten diese Möglichkei-ten zur Flexibilisierung selber nutzen. Die dritte Säule greift dann, wenn es ganz schlimmkommt, wenn es harte Winter oder kaum Winterbautä-tigkeit in klimatisch schwierigen Bereichen gibt. Vorallem in den Mittelgebirgen, wo die Winter sehr hartund sehr lang sind, im Thüringer Wald oder im Bayri-schen Wald, haben wir natürlich Schwierigkeiten. Hierist die Solidarität aller gefordert, erst hier kommt dasbeitragsfinanzierte Winterausfallgeld zum Zuge.
Diese drei Stufen der Subsidiarität gilt es zu stärken,denn sie haben dazu beigetragen, daß die Winterar-Klaus Wiesehügel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4597
(C)
(D)
beitslosigkeit am Bau im Januar und Februar 1999 imVergleich zu den Vorjahresmonaten rückläufig war.
Ich dachte, Sie, Herr Wiesehügel, hätten bestätigt, daßsie im Februar immerhin um 9,4 Prozent zurückgegan-gen ist.
Das war, wie ich denke, eine gute Nachricht für dieBauarbeiter in Deutschland.Sie hätten sagen müssen: Dies war der richtige Weg,und wir gehen ihn weiter, weil dadurch die Bruttoar-beitseinkommen der Arbeitnehmer stabilisiert werden.Statt dessen machen Sie erst die Leute mit falschen Pa-rolen verrückt, verunsichern dann die Bauwirtschaft undmachen am Schluß eine Minireform, die Signale in diefalsche Richtung gibt nach dem Motto: Die Selbstver-antwortung der Tarifpartner war nicht so ernst gemeint.
Die Bauwirtschaft muß schon froh sein, daß die Lohn-nebenkosten durch die Wintergeldumlage nicht nochsteigen.Sie verpassen damit die Chance, die Umlage und dieLohnnebenkosten zu senken – auch dieses Ziel stehtübrigens in Ihrer Koalitionsvereinbarung –, um damitImpulse für die Schaffung neuer und die Erhaltung be-stehender Arbeitsplätze zu geben. Sie senden permanentSignale in die falsche Richtung, auch mit diesem Ge-setzentwurf, obwohl gerade in diesen Tagen der Inter-nationale Währungsfonds die Bundesregierung ermahnt,Reformen am Arbeitsmarkt anzugehen.In der gemeinsamen Erklärung von Arbeitgebern undDGB vom 6. Juli 1999 heißt es:Auf allen Ebenen des sozialen und wirtschaftlichenLebens ist eine auf mehrere Jahre angelegte Politikzur Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit und Be-schäftigung notwendig.Die Bundesregierung macht genau das Gegenteil: Sieschränkt die neu geschaffenen Flexibilisierungsreservender Bauwirtschaft wieder ein.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiese-
hügel?
Ja,
bitte.
Herr Kollege, Sie haben
gerade gesagt, daß wir es versäumt hätten, die entspre-
chende Umlage und die Lohnnebenkosten zu senken. Ist
Ihnen denn bekannt, daß die Winterbauumlage zusam-
men mit den Beiträgen zur Sozialversicherung des Bau-
gewerbes erhoben wird? Und ist Ihnen bekannt, daß die
Tarifvertragsparteien diese justament vor dieser Rege-
lung schon einmal gesenkt haben? Kennen Sie sich
überhaupt in diesem System aus, über das Sie jetzt hier
so hervorragend zu referieren versuchen?
Lie-ber Herr Kollege, das ist doch genau das, was ich sage.Die Chance durch die Flexibilisierung zwischen der er-sten und der zweiten Säule, die Sie als Tarifpartner hät-ten nutzen können, haben Sie nicht wahrgenommen,sondern Sie haben dieses System zu Lasten der zweitenStufe wieder aufgegeben.
Natürlich ist mir klar, daß das die Bauwirtschaft aufregt.Schließlich sind es Lohnnebenkosten, lieber Herr Kolle-ge Wiesehügel.
Sie haben das Ziel, sie zu senken. Aber mit dieser Maß-nahme senken Sie sie nicht.Ich hatte bisher eigentlich den Eindruck – mehr in derRealität draußen, vielleicht nicht in den oberen Gewerk-schaftsetagen –, daß viele Tarifpartner in ihrem Denkenschon viel weiter sind. Vielleicht trifft das auf den DGBnicht zu.Aber ich möchte noch einmal aus der Erklärung vonBDA und DGB vom 6. Juli zitieren:Bei der Arbeitszeit stehen die tariflichen Vereinba-rungen von Arbeitszeitkorridoren, Jahresarbeits-zeiten, die Schaffung von Jahres-, Langzeit- undLebensarbeitszeiten im Mittelpunkt.So heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Ar-beitgeber und der Arbeitnehmer.Wir reden über Langzeitarbeitskonten, das heißt, eswird in Lebenszeitabschnitten gerechnet. Wir reden überLeistungen eines 35jährigen, die ihm zugute kommen,wenn er 55 ist. Und diese Bundesregierung hält es fürunzumutbar, 30 oder 50 Überstunden vom Sommer inden Winter zu schieben! Ich denke, das zeigt, wie weitSie von der Realität entfernt sind.
Sie fordern immer den Abbau von Überstunden.Genau das passiert hier: Im Sommer aufgebaute Über-stunden werden im Winter beschäftigungswirksam ab-gebaut. Das war das Ziel der Reform vor drei Jahren. Siesehen hier offensichtlich einen neoliberalen Exzeß. Je-denfalls greifen Sie mit Ihrem Gesetzgebungsaktionis-mus hier ein.Das erklärt auch, warum Sie mit den großen Proble-men in unserer Wirtschaft nicht fertig werden. Hören Sieauf, in den Verantwortungsbereich der Tarifpolitik ein-zugreifen, wie Sie es schon beim Kündigungsschutz ge-tan haben. Die wahren Bündnisse für Arbeit finden tau-sendfach in den Betrieben der Republik statt. Es ist derfalsche Weg, den Tarifpartnern Verantwortung abzu-nehmen, in einer Phase, in der sie meiner Meinung nachDr. Hans-Peter Friedrich
Metadaten/Kopzeile:
4598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
bewiesen haben, daß sie gemeinsam Verantwortung zumWohl der Arbeitnehmer und der Wirtschaft übernehmenkönnen.
Das eigentliche Problem, auch im Baubereich, liegtnicht darin, daß das Wetter so schlecht ist, sondern dar-in, daß die Auftragslage schlecht ist. Hier entsteht Ar-beitslosigkeit. Eigentlich sind die Rahmenbedingungenfür den Baubereich derzeit günstig. Wir haben dankeiner soliden Finanzpolitik des Finanzministers Waigelweiterhin günstige Finanzierungsbedingungen.
Wir haben stabile Preise für Bauleistungen. Beides bie-tet die Chance einer Stabilisierung der Inlandsnachfrageauch im Bereich der deutschen Bauwirtschaft.Die Bundesbank sagt in ihrem jüngsten Bericht ver-halten optimistisch, daß insbesondere bei den öffentli-chen Bauaufträgen eine positive Tendenz feststellbar ist,vor allem im Hochbau. Auch hier zeigt die investitions-fördernde Politik der Regierung Kohl Langfristwirkung.Jetzt bereiten Sie einen rotgrünen Doppelschlag ge-gen die öffentliche Investitionstätigkeit vor: Erstenssenken Sie die Investitionsausgaben des Bundes imHaushalt 2000 nachhaltig, auf weniger als 58 Mil-liarden DM. 2003 sollen es sogar nur 53 Milliarden DMsein. Damit ist die Investitionsquote auf historischemTiefstand. Zweitens nehmen Sie mit der geplanten Ver-schiebung von Belastungen auf Länder und Gemeindenvor allem den Kommunen die notwendigen Finanzspiel-räume für Investitionen, die sie vor allem im Hochbautätigen. Sie sind dabei, die positiven Ansätze im öffent-lichen Baubereich, die momentan feststellbar sind, zuzerstören. Die Leidtragenden werden in erster Linie dieBauarbeiter und ihre Familien sein.
Das ist einer von vielen Gründen dafür, daß die Re-gierung Schröder Monat für Monat mehr Arbeitslosig-keit produziert – 40 000 alleine in den letzten sechsMonaten. Der Bundeskanzler, der angetreten ist, dieMassenarbeitslosigkeit zu bekämpfen, schaut zu, wiesich seine Minister und, wie ich jetzt feststelle, auch dieAusschußmitglieder seiner Fraktion Sandkastenspielenwidmen und kleinkarierte Ideologie betreiben.Das 630-Mark-Chaos und die Regelungen zurScheinselbständigkeit waren schon politische Kurz-schlußhandlungen mit verheerenden Auswirkungen.Aber es reicht der SPD offensichtlich immer noch nicht.Weitere Steuererhöhungen, die die Bürger und dieWirtschaft strangulieren, werden derzeit permanent dis-kutiert: Stromsteuer, Mineralölsteuererhöhung, neueVermögensteuer, Erbschaftsteuererhöhung, Vernichtungmittelständischer Existenzen in der Landwirtschaft – dasalles zerstört Vertrauen und schafft Unsicherheit.Im Ergebnis ist die rotgrüne Politik eine Politik aufdem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Kehren Sie auf diesem falschen Weg um! Wir sind zueinem zukunftsorientierten Dialog bereit.Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Herr Kol-lege Friedrich, ich muß mich schon sehr wundern, daßSie hier plötzlich das Bündnis für Arbeit reklamieren,welches auf einzelbetrieblicher Ebene an vielen Stellenstattfindet. Sie gehören doch zu der Partei, die unter ih-rem Bundeskanzler alles darangesetzt hat, das Zustande-kommen eines Bündnisses für Arbeit zu verhindern.
– Ja, Herr Hirche, natürlich ist es auf Betriebsebene ver-nünftig. Aber wir sind doch diejenigen, die in diesemLand Bündnisse für Arbeit auf allen gesellschaftlichenEbenen voranbringen wollen. Wir können mit Zahlenbelegen, daß das bei Ihnen eben nicht funktioniert hat,gerade im Bereich Bau.
Durch die Abschaffung des Schlechtwettergeldes ha-ben Sie doch die Entwicklung losgetreten, daß trotz ein-zelbetrieblicher Lösungen im Zusammenhang einesBündnisses für Arbeit die Winterarbeitslosigkeit in denletzten Jahren extrem in die Höhe gegangen ist. Die Ar-beitgeber hätten doch die Chance gehabt, das zu bewei-sen, was Sie immer behaupten, nämlich daß diese Bran-che, die unter extrem schwierigen Bedingungen – mandenke nur an die Witterungsabhängigkeit – arbeitenmuß, in der Lage ist, diese Regelungen alleine zu tref-fen. Das war nicht der Fall. Deswegen sind die Regelun-gen des Kompromisses, der erzielt worden ist, gesell-schaftlich und gesamtwirtschaftlich notwendig und hel-fen sowohl den kleinen und mittleren Betrieben in derBauwirtschaft als auch den Beschäftigten.Meine Damen und Herren, Ziel der rotgrünen Politikist es, die Arbeitslosigkeit zu senken. Die Regelung zumSchlechtwettergeld in der Bauwirtschaft ist ein Bausteinim Zusammenhang mit diesem Projekt.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht einfach nurein guter Kompromiß, der zwischen den Handelnden zu-stande gekommen ist, sondern er ist auch in der Sub-stanz eine gute Lösung, weil er die Winterarbeitslosig-keit tatsächlich reduzieren wird und auf der anderenSeite die Einkommen der Beschäftigten verstetigenkann. Gegenüber dem jetzigen Zustand, den Sie herge-stellt haben und der tatsächlich zu einer Verschärfunggeführt hat, ist hier für alle Seiten, für die Arbeitgeber,und zwar gerade für diejenigen in den kleinen und mitt-leren Betrieben, für die Beschäftigten, aber auch für dieBundesanstalt für Arbeit eine vernünftige Lösung ge-Dr. Hans-Peter Friedrich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4599
(C)
(D)
funden worden, die für alle Seiten vorteilhaft ist. Des-wegen kommt das Lob von allen Seiten.
Die Winterarbeitslosigkeit ist nicht einfach nur einProblem der Baubranche. Die Winterarbeitslosigkeit istein gesamtvolkswirtschaftliches Problem. Sie bedeutetnicht nur eine soziale Härte für die Beschäftigten, son-dern sie bedeutet insbesondere ökonomische Problemefür die kleinen Betriebe im Baugewerbe, die durch dieWinterarbeitslosigkeit in eine Situation geraten, in der esimmer schwieriger wird, die notwendigen Fachkräfteüberhaupt halten zu können.Wir haben hier eine hohe Fluktuation, die die Situati-on in spezifischer Weise verschärft. Mit diesem Gesetzwird es uns gelingen – das glaube ich jedenfalls –, einegute Hilfe für die kleineren und mittleren Betriebe zubieten, damit sie ihre notwendigen Fachkräfte über denWinter hinweg beschäftigen können.Wir können uns gern darüber streiten, Herr Fried-rich, in welchem Ausmaß die nachweislich verschärfteWinterarbeitslosigkeit durch die Abschaffung desSchlechtwettergeldgesetzes erzeugt worden ist undwelche anderen Einflüsse, beispielsweise konjunktu-relle, es gegeben hat. Wir können uns darüber streiten,wie stark die einzelnen Einflüsse waren. Aber dasHochschnellen der Winterarbeitslosigkeit um bis zu80 Prozent läßt auf alle Fälle ganz deutlich sichtbarwerden, daß die Abschaffung des Schlechtwettergeldswirklich zu einer signifikanten Verschlechterung indiesem Bereich geführt hat.
Deswegen bin ich sehr froh, daß es gelungen ist, beieiner sehr schwierigen Ausgangsposition diesen fairenInteressenausgleich herzustellen und das Drei-Säulen-Modell – Arbeitgeber, Arbeitnehmer und die Bundesan-stalt für Arbeit tun gemeinsam etwas gegen die Winter-arbeitslosigkeit – durchzusetzen.Wenn Sie behaupten, das ginge zu Lasten der Steuer-zahler, hier entstünden zusätzliche Kosten in Millionen-höhe, dann hat Ihnen Herr Wiesehügel soeben in guterWeise vorgerechnet, daß es eine Milchjungenrechnungwar, die Sie aufgemacht haben.Kosten in Höhe von ungefähr 55 Millionen DM wer-den der Bundesanstalt für Arbeit durch diese Regelungentstehen. Aber sicher ist auch, daß etwa 7 500 bis 8 000Arbeitslose weniger im Winter genau dieses Geld ein-spielen werden.
Bedenken Sie, daß wir in den letzten Jahren zu Silvesterungefähr 160 000 Arbeitslose im Baubereich hatten. Esliegt doch auf der Hand, daß es gelingen wird, minde-stens 8 000 Arbeitsplätze mehr über den Winter sichernzu können.
Mit großer Wahrscheinlichkeit werden wir durch diesesGesetz sehr viel mehr Winterarbeitslosigkeit verhindern.Dann wird sogar eine positive Rechnung für die Bun-desanstalt für Arbeit herauskommen.Ein anderer Aspekt dieses Kompromisses, dererstritten worden ist, wurde bereits angesprochen: DieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bringen etwas indiese Regelung ein, sie bringen Arbeitsstunden als Ka-pital ein. Ich finde es ausgesprochen gut, daß infolge derEntwicklung der letzten Jahre die Förderung von Ar-beitszeitkonten in der Bauwirtschaft auch mit diesemGesetz noch einmal befördert wird. Natürlich brauchenwir diese Flexibilität auch und gerade in der Bauwirt-schaft. Durch das Angebot eines Wintergeldes in Höhevon 2 DM pro Stunde für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, die mehr als 30 Überstunden einbringen,besteht auch ein großer Anreiz, zusätzliche Arbeitszeit-konten zu befördern. Die Beschränkung auf 30 anstatt50 Stunden ist zugleich eine Regelung, die kleine Be-triebe nicht überfordert.Meine Damen und Herren, dieses Gesetz bringt nichtnur Vorteile im Sinne der Verhinderung von Winterar-beitslosigkeit, sondern es bringt auch den Arbeitgebe-rinnen und Arbeitgebern Vorteile, weil es ihnen dasSchlechtwetterrisiko nimmt, ohne daß dies mit einer Er-höhung der Lohnnebenkosten verbunden wäre, wie Sieimmer wieder fälschlich behaupten. Der Beitrag für dieWinterbauumlage bleibt bei 1,7 Prozent. Das Gesetzbringt ihnen auch deshalb Vorteile, weil die Arbeitgebe-rinnen und Arbeitgeber – in den kleineren und mittlerenBetrieben haben sie es besonders nötig – von den zu-sätzlichen Sozialabgaben beim Schlechtwettergeld nunvollständig befreit werden. Sie alle wissen, daß Betriebesich im Winter immer wieder gezwungen sahen, zurEinsparung von Sozialabgaben Arbeitskräfte in die Ar-beitslosigkeit zu schicken, und zwar auch solche Betrie-be, die das gerne verhindert hätten. Diese Regelung wirdes ihnen ermöglichen, ihre Arbeitskräfte zu halten.Wenn Sie behaupten, wir träfen eine Überregelungfür einen Bereich, der sich selbst regulieren könnte,dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die Ent-wicklung der Winterarbeitslosigkeit in den vergangenenJahren gezeigt hat, daß sich dieser Bereich nicht selberregulieren kann. Im Ausland gibt es vergleichbare Re-gelungen. Deswegen ist das, was hier als Kompromißvorgelegt wird, keine Überregelung zu Lasten Dritter,sondern eine gemeinsame Anstrengung der Arbeitgeber,der Arbeitnehmer und Gewerkschaften sowie der Bun-desanstalt für Arbeit, um eine sehr mißliche Entwick-lung in dieser Volkswirtschaft, nämlich die Winterar-beitslosigkeit, zu stoppen.Meine Damen und Herren von der Opposition, es isteinfach eine falsche, eine populistische Argumentation,wenn Sie sagen, diese Regelung gehe zu Lasten derSteuerzahlerinnen und Steuerzahler. Umgekehrt wird einSchuh daraus: Die Verstetigung der Arbeit und die Ver-hinderung von Winterarbeitslosigkeit nützen der ge-samten Volkswirtschaft. Die Lohnnebenkosten werdennicht steigen. Die zusätzlichen Kosten der Bundesanstaltfür Arbeit werden über eine Reduzierung der Arbeitslo-sigkeit wieder eingespielt werden. Nicht zuletzt könnendie spezifischen Härten für die Beschäftigten im Bau-gewerbe abgebaut werden.Dr. Thea Dückert
Metadaten/Kopzeile:
4600 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Deswegen lautet meine abschließende Bewertung: Daswar in der Tat ein Ergebnis eines kleinen Bündnisses fürArbeit, das allen Vorteile gebracht hat. Es bringt denArbeitgebern, aber auch den Arbeitnehmern Vorteile.
Hier ist also ein guter Kompromiß erarbeitet worden. In-soweit hoffe ich, daß Sie alle, meine Damen und Herren– auch die F.D.P., auch Herr Hirche –, diesem Gesetz-entwurf zustimmen können.
Das Wort hat
jetzt der Kollege Niebel.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich vorhindem Kollegen Wiesehügel zuhörte, ging ich davon aus,daß es sinnvoll wäre, meine Rede vom 30. Juni zu zitie-ren, weil sich seine Argumente seitdem überhaupt nichtverbessert haben.
Aber die Rede von Frau Kollegin Dückert hat mich dazugebracht, das doch lieber zu lassen. Frau Dückert, es istmir einfach unbegreiflich, daß Sie hier allen Ernstes sotun, als sei das Drei-Säulen-Modell die Erfindung derrotgrünen Bundesregierung.
– Sie haben so getan, als hätten Sie erfunden, daß sichArbeitnehmer, Arbeitgeber und die Bundesanstalt fürArbeit ganz toll in dieses Problem hineinteilen. Ichmöchte Ihnen sagen, was los ist: Der Kollege Wiesehü-gel ist noch im April durch die Reihen gegangen und hatUnterschriften für eine Bezahlung ab der ersten Ausfall-stunde gesammelt.
Er ist dann von Ihrem Fraktionsvorsitzenden, Frau Ren-nebach, zurückgepfiffen worden, weil diese Regelungdann doch übertrieben gewesen wäre.
Sie hätten sich im Rahmen dieser Regelung das großeZiel für die Zukunft vornehmen sollen, die Arbeitszeit-flexibilisierung weiter voranzutreiben, Jahresarbeits-zeitkonten und Lebensarbeitszeitkonten zu schaffen.Das haben Sie versäumt. Wie sieht die Situation jetztaus? Sie haben eine Vorarbeitszeit von 30 Stunden stattbisher 50 Stunden – also deutlich weniger als bisher –eingeführt. Sie haben die Umlage für den Zeitraum vonder 31. bis zur 100. Stunde eingeführt. Die Bundesan-stalt für Arbeit greift ab der 101. statt ab der 120. Ar-beitsstunde ein. Welchen Sinn sollte es angesichts dieserRegelung für einen Bauarbeiter machen, auch nur eineMinute länger als diese 30 Stunden vorzuarbeiten?
– Frau Kollegin Rennebach, wenn Sie mir zuhören wür-den, müßten Sie bemerken, daß ich das weiß.
Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie hatfestgestellt, daß durch die Vorarbeit die Zahl der Entlas-sungen trotz des harten und kalten Winters im letztenJahr dramatisch zurückgegangen ist. Über 80 Prozentder Betriebe mit mehr als 20 Arbeitnehmern nutzten die-se Möglichkeit der Vorarbeit, um mehr Flexibilität zuschaffen und um den Arbeitnehmern am Bau die Mög-lichkeit zu geben, auch ein Stück Eigenleistung für ihreArbeitsplatzsicherheit zu erbringen.Das Ifo-Institut hat im Oktober 1998 in einer Umfragefestgestellt, daß Gutzeiten von durchschnittlich 64 Stun-den erarbeitet worden sind, die mit der Betriebsgröße an-steigen. 98 Prozent aller erarbeiteten Gutzeiten sind tat-sächlich für Schlechtwettertage eingesetzt worden.Herr Kollege Wiesehügel, ich möchte auf Ihr Kampf-blatt „SWG-Express“ eingehen und wiederholen, wasich schon am 30. Juni gesagt habe, weil dies bezeich-nend ist. Sie schreiben im „SWG-Express“: Beharrlich-keit bei der eigenen Interessenvertretung zahlt sich aus.– Ich möchte Ihnen heute zustimmen; denn es handeltsich tatsächlich um die Vertretung der Partikularinteres-sen der Mitglieder der Gewerkschaft BAU. Sie habendie Interessen der Allgemeinheit überhaupt nicht zurKenntnis genommen. Sie sichern mit diesem Kompro-miß keinen einzigen Arbeitsplatz am Bau, und Sie ver-hindern damit überhaupt nicht, daß die Lohnzusatzko-sten weiter steigen.55 Millionen DM Mehrbelastung bei der Bundes-anstalt für Arbeit rechnen Sie mit zweifelhaften Zahlengegen, wie auch in der Begründung zu Ihrem Gesetz-entwurf – ich zitiere aus dem Teil C auf Seite 18 –: Al-lein schon wegen urlaubs- und krankheitsbedingter Ab-wesenheit vieler Bauarbeiter in der Schlechtwetterzeitwird sich das vermindern. – Man kann doch beim bestenWillen nicht das Einsparen von Schlechtwettergeld aufGrund von Krankheit gegen die 55 Millionen DM auf-rechnen. Diese Rechnung ist ziemlich gewagt. Ich kannIhnen versichern, daß diese Regelung mit Sicherheitnicht sozial gerecht ist. Ihre Politik ist nämlich Politikfür Arbeitsplatzbesitzer. Diejenigen aber, die vor der Türstehen und in die Arbeitswelt wollen, stehen auf Grundder durch Ihre Regelung bewirkten Erhöhung der Lohn-nebenkosten vor einer zusätzlichen Hürde und werdenso von Ihnen draußen gehalten.
Dr. Thea Dückert
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4601
(C)
(D)
Herr Kollege Wiesehügel, im „SWG-Express“ istebenfalls zu lesen, daß Sie, als Sie das Programm zu-sammen mit dem Herrn Bundeskanzler vorgestellt ha-ben, gesagt haben, ein kleines Bündnis für Arbeit sei da-bei herausgekommen.
– Mir ist völlig klar, daß Sie diese Zeitschrift gerne se-hen.
Es ist wieder einmal deutlich festzustellen, daß 244von 298 Abgeordneten der SPD-Fraktion Mitglieder ei-ner Gewerkschaft sind und daß sie die Partikularinteres-sen der Gewerkschaften vertreten.
Es gibt eine zwingende Notwendigkeit für Gewerk-schaften in diesem Land, um Ungerechtigkeiten in derArbeitswelt zu verhindern. Aber das ist noch lange keinGrund, daß die Gewerkschaften in diesem Land dieRichtlinien der Politik bestimmen.
Sie bewirken mit diesem Gesetzentwurf eine Verlage-rung der Kosten und Verantwortung auf die Allgemein-heit.
Sie machen genau das, was der Kollege Friedrich gesagthat: Sie entmündigen die an der Tarifpolitik Beteiligten.Es ist mir unbegreiflich, wie Sie als Gewerkschaftsfüh-rer es zulassen können, daß nicht die Tarifpartner eineRegelung finden müssen, sondern daß der Gesetzgebereingreifen muß. Sie entmündigen sich selbst als Ge-werkschaftsfunktionär, frei nach dem Motto „Vater Staatnimmt den deutschen Michel an die Hand und führt ihnmit seiner Schlafmütze durchs ganze Leben“. Lassen Sieden Menschen in diesem Land ein bißchen mehr Eigen-verantwortung!
Lassen Sie den Menschen doch die Möglichkeit, dasZiel zu erreichen, an dem Sie sich selbst messen lassenwollen, nämlich an dem Abbau der Arbeitslosigkeit!Auf diese Art und Weise werden Sie das mit Sicherheitnicht schaffen, und das finde ich sehr bedauerlich.
Herr Kollege Wiesehügel, diese Regelung wird na-türlich auch, weil die Lohnnebenkosten steigen werden,wieder mehr Anreiz für Schwarzarbeit bringen. Undwas ist Ihre Lösung dafür? Sie wollen eine neue Behör-de schaffen, eine neue Behörde, die am besten wiedermit Gewerkschaftsvertretern in der Selbstverwaltung be-setzt ist und die Schwarzarbeit durch Überwachungvermeiden soll. Sie können mir nicht erzählen, daß Siedie Planstellen von Behörden, die bisher damit zu tunhaben, dazu hernehmen werden, um diese Behörde auf-zubauen. Das ist wieder die typische Selbstbedienungs-mentalität, die uns Sozialdemokraten und Gewerk-schafter über Jahrzehnte in dieser Republik vorgemachthaben.
Ihre Regelung führt dazu, daß der technische Fort-schritt im Winterbau an der deutschen Bauwirtschaftvorbeigehen wird.
Der technische Fortschritt im Winterbau wird an derdeutschen Bauwirtschaft vorbeigehen, wird die Wettbe-werbsfähigkeit im internationalen Bereich dramatischverschlechtern und wird im Endeffekt dazu führen, daßauch hier wieder Arbeitsplätze verlorengehen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiese-
hügel?
Selbstverständlich.
Lieber Herr Kollege, da
Sie gerade sagen, wir verhindern die technische Ent-
wicklung im Winterbau, frage ich Sie, ob Ihnen die Ab-
kürzungen MKZ und IKZ etwas sagen.
Selbstverständlich, Herr Kol-
lege.
Warum haben Sie das
dann abgeschafft? – Das waren nämlich genau die Mög-
lichkeiten, die von der sozialliberalen Koalition geschaf-
fen worden sind, Winterbau in Deutschland technisch zu
fördern. Genau diejenigen Instrumente, die zur Verfü-
gung gestellt worden sind und die die ersten zarten An-
sätze von geschütztem Winterbau hervorgebracht hatten,
haben Sie wieder abgeschafft.
Warum werfen Sie das eigentlich uns vor, wo Sie
selbst verhindert haben, daß qualifizierter Winterbau wie
in Skandinavien und in anderen Ländern um uns herum
tatsächlich passiert? Warum werfen Sie uns das vor, was
Sie selbst abschaffen, oder ist Ihnen das entfallen?
Herr Kollege Wiesehügel,MKZ und auch IKZ, als Investitionskostenzuschuß
Dirk Niebel
Metadaten/Kopzeile:
4602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
– ja, ja, ich habe das einmal gelernt, Entschuldigung –,sind natürlich Mittel gewesen, die den Winterbau geför-dert haben. Das ist unbestreitbar. Sie haben aber in derVergangenheit feststellen können, daß es wesentlichsinnvoller ist, wenn die Industrie aus eigenen Stückenheraus auf Grund der Notwendigkeit, daß sie in dieserSituation lebt und arbeitet, solche Entwicklungen vor-antreibt, anstatt daß sie auf Grund staatlicher Förderpro-gramme dazu gezwungen wird.
Ich finde übrigens, das war ein Fehler. Da haben wir re-giert.Das gleiche haben Sie im Bereich der Katalysator-technik gesehen. Hier wurde eine Technologie vorge-schrieben, statt ein Ziel vorzuschreiben. Hätte man einZiel vorgeschrieben, wäre vielleicht etwas ganz anderesdabei herausgekommen.Genauso ist das bei der Abschaffung von IKZ undMKZ. Es war viel zu eng gefaßt; die Industrie hatte vielzu wenig Anreize, tatsächlich Wege zu suchen, in ihrerspeziellen Situation den Winterbau voranzutreiben.Der technische Fortschritt im Winterbau wird also ander deutschen Bauindustrie vorbeigehen und wird dieinternationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern. Wirhaben wieder einmal die Situation, daß die rotgrüne Re-gierung zwar vollmundig verkündet, Arbeitslosigkeitabbauen zu wollen, aber genau wie bei der sogenanntenScheinselbständigkeit oder bei den 630-DM-Jobs dieWeichen exakt in die falsche Richtung stellt. Mit Ihrengesetzlichen Regelungen werden Sie genau das Gegen-teil dessen bewirken, was Sie sich vorgenommen haben,was Sie in der Öffentlichkeit vertreten haben.Kollege Wiesehügel, daß Sie hier so vehement und soglorifizierend diesen sogenannten Kompromiß vorgetra-gen haben, verwundert mich tatsächlich. Ich hätte Ihnenda ein wenig mehr Redlichkeit gegenüber Ihren Mitglie-dern in der Gewerkschaft zugetraut. Im Wahlkampf sindSie noch durch die Gegend gerannt und haben gesagt,das Drei-Säulen-Modell ist schlecht, wir brauchen dieBundesanstalt ab der ersten Ausfallstunde, und jetzt istdas Drei-Säulen-Modell das Tollste, was Sie habenwollten. Sie machen die Rolle rückwärts, und das istziemlich unglaubwürdig. – Vielen Dank.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ach, Herr Niebel,wenn Sie bei Ihrer zugegebenermaßen immer kleinerwerdenden Klientel die Selbstbedienungsmentalität an-prangern, dann ist das schon ziemlich witzig.
Aber na gut.Der Regierungsentwurf zum Schlechtwettergeld, überden wir hier debattieren – das hat der Kollege Wiesehü-gel heute noch einmal sehr deutlich ausgeführt –, istnatürlich keine Wiedereinführung des Schlechtwetter-geldes. Daß ich das bedauere, wissen Sie ja bereits.Was hier heute auf dem Tisch liegt, ist ein mit denArbeitgebern ausgehandelter Kompromiß zur Neure-gelung der ganzjährigen Beschäftigung am Bau.
Ob er wirklich dafür tragfähig sein wird, das muß in derTat erst einmal der Winter zeigen.Die PDS wollte die Wiedereinführung des Schlecht-wettergeldes. Wir waren uns sehr wohl dessen bewußt,daß dazu kompatible Tarifverträge gehören und natür-lich auch Mehrausgaben bei der Bundesanstalt für Ar-beit entstehen würden. Ich halte das für vertretbar, undzwar deshalb, weil wir Jahr für Jahr Unsummen für Ar-beitslosigkeit – auch für Winterarbeitslosigkeit – ausge-ben. Ich denke, es wäre durchaus ein vernünftiger Weg,Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.Etwa 400 000 arbeitslose Bauarbeiter mehr seit Ab-schaffung des Schlechtwettergeldes – das ist in der Tateine schlimme Hypothek, die Ihnen die Vorgängerregie-rung hinterlassen hat. Um den Bauarbeitern mehr sozialeSicherheit und endlich wieder eine Chance auf eineganzjährige Beschäftigung zu geben, muß gehandeltwerden. Ihr Gesetzentwurf ist ein Instrument dazu. Obes das entscheidende und richtige ist, wird sich zeigenmüssen.Bei der ganzjährigen Arbeit am Bau geht es nicht nurum die völlig berechtigten Interessen der Bauarbeiter ankontinuierlicher Beschäftigung und sicherem Einkom-men, sondern auch um eine volkswirtschaftliche Notwen-digkeit. Stilliegende Kräne und Bagger sowie längereBauzeiten verteuern das Bauen. Das hat Auswirkungenauf Mieten und die Auftragslage. Das geht weit über dieInteressen von Bauwirtschaft und Bauarbeitern hinaus.Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß es in derBundesrepublik im europäischen Vergleich immer nocherhebliche technologische Defizite im Winterbau gibt.Auch das ist eine Belastung der Volkswirtschaft insge-samt. Trotzdem glaube ich, daß es nicht richtig ist, dasWitterungsproblem dieser Branche allein zu überlassen,weil das auch den Interessen insbesondere der kleinenUnternehmen zuwiderläuft. Aus diesen Gründen findeich es nach wie vor richtig, daß die Bundesanstalt mög-lichst weitgehend in die soziale Flankierung der Winter-arbeit einsteigt.Nun noch kurz zu Ihrem Gesetzentwurf. Die Rege-lungen, die Sie vorschlagen, sind – das räume ich gerneein – besser als das, was die alte Regierung hinterlassenhat. Wenn es gelingt, mehreren zehntausend Arbeiterndie Winterarbeitslosigkeit zu ersparen – die IG Baurechnet das vor –, so ist viel für die Beschäftigten undauch für deren Familien erreicht.
Ich will trotzdem auf ein paar Probleme hinweisen.Dirk Niebel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4603
(C)
(D)
Die Flexibilisierung ist – zwar in reduziertem Um-fang – geblieben. Sie geht eindeutig allein zu Lasten derBauarbeiter und nutzt nur den Unternehmen, die keineZuschläge zu zahlen haben. Ich sehe diese Flexirege-lung, die Sie so positiv bewertet haben, sehr kritisch. Siezwingt die Bauarbeiter, in der Sommerhitze Stunden fürdie kalte Zeit zu hamstern.
Es passiert jetzt schon, daß sie zwölf und mehr Stundenarbeiten, auch samstags. Das ist weder aus gesundheitli-chen Gründen noch für die Familien akzeptabel.
Wenn diese Tendenz durch das Wintergeld auch nochgefördert wird, dann halte ich das für eine ausgespro-chen problematische Entwicklung.Es bleibt die Frage offen, was mit den angesammel-ten Stunden passiert, wenn ein Betrieb pleite geht. Daßdas gerade in der Bauwirtschaft nicht selten ist, wissenSie so gut wie ich.
Auch ist mir nicht klar, ob es gelingen kann, trotz Kün-digungsverbot Mißbrauch der Unternehmer zu verhin-dern, wenn aus anderen als Witterungsgründen gekün-digt wird. Ich weiß nicht, wie das kontrolliert werdensoll. Das wird wahrscheinlich auch erst die Erfahrungzeigen.Zum Schluß: Ich finde es – wie ganz sicher auchSie – besonders dreist, daß die Unternehmer jetzt nachden Verhandlungen den Tarifvertrag zum Lohnausgleichfür die Weihnachts- und Neujahrstage gekündigt haben.
Das lehrt uns zumindest eines: Gibt man ihnen den klei-nen Finger, wollen sie immer gleich die ganze Hand.
Sie werden viel Kraft brauchen, um diese Unternehmerzu zügeln. Das ich Ihnen diese Kraft von Herzen wün-sche, nehmen Sie mir hoffentlich ab.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Meister.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle politi-schen Entscheidungen, die die deutsche Bauwirtschaftbetreffen und damit insbesondere die Arbeitnehmer, diedort tätig sind, müssen sich daraufhin prüfen lassen, obsie den Rahmenbedingungen gerecht werden. Als Rah-menbedingungen sehe ich zum einen die Baukonjunktur,zum anderen die internationale Wettbewerbsfähigkeitder Arbeitnehmer und die Wettbewerbsfähigkeit unsererUnternehmen auf diesem Feld.
Die Baukonjunktur verzeichnete im Zuge der deut-schen Einheit einen riesigen Boom, der sich anschlie-ßend wieder abgekühlt hat. Wir haben damals alles ge-tan, auch mit Hilfe niedriger Zinsen, um diese Abküh-lung aufzufangen und die Situation wieder zu stabilisie-ren. Sie aber fahren die öffentlichen Investitionshaus-halte massiv zurück. Mit der Kürzung des Verkehrs-haushalts um 1 Milliarde DM gefährden Sie rund 10 000Arbeitsplätze im Baubereich. Deshalb können wir dieheutige Diskussion nicht isoliert betrachten. Wir müssensie vielmehr vor dem Hintergrund der Kürzungen imVerkehrsressort – es handelt sich um Einsparungen imInvestitionsbereich in Milliardenhöhe –, der Verschie-bung der Lasten zu den Kommunen – diese kürzen dannebenfalls die Investitionshaushalte – und der Kürzungenim Wohnungsbausektor sehen. Hier nenne ich nur dieStichworte Eigenheimzulage und sozialer Wohnungs-bau. Gleichzeitig stehen die deutschen Bauarbeitnehmerund die Bauwirtschaft unter dem Druck des internatio-nalen Wettbewerbs.Deswegen, Frau Kollegin Dr. Dückert, ist es eineMilchmädchenrechnung, wenn Sie das Winterausfall-geld – Sie haben eine positive Bewertung hinsichtlichder Bundesanstalt für Arbeit abgegeben – für sich alleinbetrachten und so tun, als sei Deutschland eine Insel.Das aber ist nicht der Fall. Wir müssen bei allen Maß-nahmen, die sich auf die Arbeitskosten auswirken, dieinternationale Konkurrenz im Auge haben. Ob es unsgefällt oder nicht, müssen wir feststellen, daß viele in-ternationale Konkurrenten mit deutlich geringeren So-zialstandards arbeiten, zum Teil sogar – auch das ist unsbekannt – mit illegalen Methoden. Dagegen muß eindeutscher, regulär beschäftigter Bauarbeitnehmer antre-ten. Das wird durch diese Maßnahme wesentlich er-schwert.Sie selbst haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt,Sie wollten etwas tun, um die Lohnnebenkosten zusenken und damit die Beschäftigung in Deutschland zusichern. Ich sage Ihnen: Durch diese Maßnahme senkenSie die Lohnnebenkosten nicht. Sie tun das schiere Ge-genteil dessen, was in Ihrer Koalitionsvereinbarungsteht: Sie erhöhen die Lohnnebenkosten. Damit regenSie an zu weiterem Mißbrauch und zu weitererSchwarzarbeit und fördern die Arbeitslosigkeit vondeutschen, regulär beschäftigten Bauarbeitern.Die Bundesregierung hat die Fragen der Baukon-junktur, der Wettbewerbsfähigkeit und das Problem desAnreizes zur Schwarzarbeit überhaupt nicht angespro-chen. Sie sind darauf mit keinem Wort eingegangen.Das, was Sie in der Begründung des Gesetzentwurfesangeführt haben, ist meines Erachtens typisch für einenalten Verteilungsstaat, der es zuläßt, daß sich Tarif-partner an einen runden Tisch setzen, sich dort zu LastenDritter einigen und dies dann als „Bündnis für Arbeit“ausgeben. Dadurch wird nicht nur, wie es in dieser De-Dr. Heidi Knake-Werner
Metadaten/Kopzeile:
4604 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
batte schon angeführt worden ist, eine Vereinbarung zuLasten Dritter getroffen. Nein, es wird auch der Grund-gedanke eines „Bündnisses für Arbeit“ diskreditiert. Indiesem Fall muß die Arbeitslosenversicherung die La-sten tragen.In dieser Debatte haben Sie eine schöne Verschleie-rung vorgenommen: Sie haben immer von den Arbeit-gebern und den Arbeitnehmern gesprochen Man mußaber aufpassen, über welche Arbeitgeber und Arbeit-nehmer man redet. Es geht eben nicht nur um die Bauar-beitgeber und Bauarbeitnehmer; es geht um alle. Dieseaber saßen nicht mit am Tisch, obwohl sie von diesemUnsinn, den Sie machen, genauso betroffen sind.
– Nein, das ist eben nicht positiv, Herr Kollege Wiese-hügel, weil Sie schlicht und ergreifend vergessen, daßwir uns auf einem internationalen Markt befinden undim EU-Binnenmarkt Konkurrenz aus Osteuropa haben.
– Sie haben hier die Möglichkeit gehabt, in aller Ruhevorzutragen. Ich habe Ihnen auch in aller Ruhe zugehört.Vielleicht können Sie Ihre Emotionen etwas zurückfah-ren und rational diskutieren.Wenn ich an dieser Stelle einmal darauf hinweisendarf: Der Bundeskanzler ist in den letzten Wochen vordas deutsche Volk getreten und hat gesagt, er müsse die-ses Land konsequent modernisieren. Wenn man sichaber einmal ansieht, was im Bereich des Schlechtwetter-geldes und der Nachfolgeregelung geschieht, so tut ergenau das Gegenteil von dem, was er draußen in seinenReden verkündet. Es wird nichts modernisiert; es wer-den alte Besitzstände konserviert. Das Allerschlimmsteaber ist: Das alles geschieht unter seinem Vorsitz. – Sodeutlich ist Reden und Handeln selten auseinanderge-fallen.
Meine Damen und Herren, wir haben mit Sicherheit –das gebe ich gerne zu – nicht im ersten Anlauf eine guteRegelung zustande gebracht. Wir haben 1995 eine Re-gelung gehabt, die wir 1997 nachgebessert haben.
In dieser Debatte ist mir, wenn es um die Zahl der Ar-beitslosen im Winter ging, aufgefallen, daß Sie sich aufdie Daten beziehen, die aus dem Jahre 1995 stammen.
Ich gebe zu, daß wir mit unserem ersten „Schuß“auch nicht absolut richtig gelegen haben. Das war einStück weit zu komplex, nicht flexibel genug und miß-brauchsanfällig. Deshalb haben wir 1997 nachgebessert.Wenn Sie sich die 1997 nachgebesserte Regelung an-schauen, dann müssen Sie feststellen, daß sie eben nichtdazu geführt hat, daß die Arbeitslosigkeit im Winter ge-stiegen ist. Wenn Sie die aktuellsten Zahlen, etwa dievom Januar bis zum März dieses Jahres, betrachten,dann können Sie erkennen, daß diese Regelung, was denWinterbetrieb im Baubereich betrifft, zu einer Absen-kung der Arbeitslosenzahlen um mehr als 20 Prozent ge-führt hat.Ich bitte Sie, während der Diskussionen, die wir so-wohl im Ausschuß als auch in der zweiten und drittenLesung führen werden, die Tatsache zur Kenntnis zunehmen, daß wir nicht mehr über die Regelung aus demJahre 1995 diskutieren, sondern über die von 1997, dienach meiner Meinung sehr ausgewogen ist und in derdarauf geachtet wird, daß hier tatsächlich ein Drei-Säulen-Modell entsteht. Meine Damen und Herren, die Arbeitnehmer verfü-gen – auch das ist angesprochen und als tolle Errungen-schaft dieser Neuregelung verkündet worden – seit derRegelung von 1997 über ein stetiges, abgesichertesGanzjahreseinkommen. Sie sind ganzjährig beschäf-tigt, und sie haben auf betrieblicher Ebene auch in bezugauf die Vereinbarung über Mehrarbeit Mitspracherechtebekommen. Die Unternehmen können sich auf der ande-ren Seite sehr flexibel auf die Auftragseingänge einstel-len. Deshalb gibt es überhaupt keinen Grund – wennhier im Deutschen Bundestag nicht einige Lobbyistensitzen würden –, diese funktionierende Regelung jetztwieder zu kritisieren.
– Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, warum Sie sichaufregen. Aber eines können Sie mir mit Sicherheit nichtunterstellen, nämlich daß ich in diesem Punkt für ir-gendeine Lobby spreche. Ich versuche einfach, denSachverhalt zu analysieren.Wenn Sie betrachten, daß mittlerweile etwa 80 Pro-zent der deutschen Betriebe im Bereich des Bauwesenssehr flexible Regelungen auf der Grundlage der gültigenRechtslage abgeschlossen haben, dann zeugt dies davon,daß dies hervorragend funktioniert und von den Mitar-beitern und Betrieben hervorragend angenommen wird.
– Das ist so, Herr Wiesehügel.Die nun vorgelegte Gesetzesnovelle schließt leider –zwischendurch mit einer Diskontinuität – lückenlos andas an, was Sie bis zum Dezember 1998 getan haben:verteilen. Dahin sind Sie wieder zurückgekehrt. Der Sa-che wäre es viel dienlicher, wenn Sie weniger auf Lob-byisten hören und sich ein bißchen mehr mit den Reali-täten auseinandersetzen würden.Das, was Sie, Herr Wiesehügel, vorhaben und wasSie vorhin in Ihrer Rede ausführlich vorgetragen haben,wird zwei wesentliche Effekte haben: Die Arbeitslo-senversicherung muß künftig schon ab der 101. Stundeeintreten statt, wie bisher, ab der 121. Das führt natür-lich dazu, daß die Kosten der Arbeitslosenversicherungsteigen werden. Diese 55 Millionen DM können Sieeben nicht, wie Sie es getan haben, durch Kosteneinspa-rung, die dadurch entsteht, daß es angeblich zu 8 000Dr. Michael Meister
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4605
(C)
(D)
Arbeitslosen weniger kommt, ausgleichen. Da wir beiden Lohnnebenkosten insgesamt höhere Lasten haben,
wird dies angesichts des internationalen Konkurrenz-drucks vielmehr dazu führen, daß diese Arbeitslosennach wie vor arbeitslos sein werden.
Ein zweiter Punkt: Sie haben im Rahmen der Öko-steuer davon gesprochen, daß Sie die Ökosteuer einfüh-ren, um die Lohnnebenkosten zu senken.
Wenn Sie sich einmal den Effekt klarmachen, den dieÖkosteuer bringt, und diesen mit den Zusatzlasten ver-gleichen, die vor allem für den mittelständischen Baube-reich entstehen – Sie müssen sich ansehen, was Sie spe-ziell für die Unternehmen tun, über die wir hier reden –,dann stellen Sie fest: Die führt nicht zu einer Reduzie-rung der Lohnnebenkosten, wie Sie dies aller Welt ver-künden, sondern zum krassen Gegenteil.Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, dieWinterbauumlage. Es wird behauptet, es bleibe bei derWinterbauumlage in Höhe von 1,7 Prozent der Brutto-lohnsumme. Dies kann man natürlich zunächst einmalbeschließen. Aber in unserem Lande ist es ja leider nichtso, daß Geld wie Manna vom Himmel regnet.
Wenn irgendwann die Winterbauumlage durch dieMehrbelastung, die Sie hier einführen, entsprechendstrapaziert worden ist, werden Sie beschließen müssen,daß Sie diesen Prozentsatz anheben, wenn die Rücklageaufgebraucht ist. Dann nützt es nichts, sich hier hinzu-stellen und zu sagen: Wir beschließen das jetzt nicht,sondern wir werden es dann tun, wenn die Rücklageaufgebraucht worden ist. Dann aber heißt es wieder: Wirsind in Handlungszwängen; wir haben keine andereMöglichkeit.
Fazit des Ganzen: Die Schlechtwettergeldregelung,die Sie vorsehen, ist nichts anderes als eine Restaurationbzw. Konservierung von unwirtschaftlichen, unsozialenVerhältnissen. Leider – so muß ich sagen – machendiejenigen in der Bundesregierung, die diesen Staat mo-dernisieren wollen, einen Kniefall vor den Lobbyisten.Sie verändern ohne Not eine Regelung, die sich bewährthat, und sie verschlechtern damit auch die Lage derdeutschen Bauwirtschaft. Was Sie vorlegen, ist ein Anti-Baukonjunktur-Programm. Das einzige, was Sie, Herr Wiesehügel, da-bei machen, ist, Ihre eigene Klientel zu befriedigen.
Ich möchte deshalb abschließend an Sie appellieren –wir stehen heute ja in der ersten Lesung dieses Gesetz-entwurfes –, Einsicht in die Realtitäten zu gewinnen,
diesen Schaden zu erkennen und nach Anhörungen undDiskussionen im Ausschuß nicht den Lobbyisten, son-dern den Realitäten näher zu kommen. Wenn Sie dasgetan haben, sollten Sie, anstatt Arbeitsplätze inDeutschland zu vernichten, sagen, daß Sie diesen Ge-setzentwurf schlicht und ergreifend zurücknehmen.Dann könnten wir zusammenkommen und gemeinsamEntscheidungen im Sinne der deutschen Bauunterneh-men und der deutschen Bauarbeitnehmer treffen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister
für Arbeit und Sozialordnung, Gerd Andres.
G
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe jetztdie ganze Debatte verfolgt und sage – trotz vieler fal-scher Argumente und trotz heftigen Gejammers durchVertreter der Opposition –: Ich finde, heute ist eine guterTag für die Kollegen auf dem Bau.
Heute bringen wir ein dringend notwendiges Gesetz aufden parlamentarischen Weg, das die besonderen Interes-sen der Beschäftigten in der Bauwirtschaft berücksich-tigt. Damit setzt diese Bundesregierung ihre Politik dersozialen Gerechtigkeit fort, mit der wir direkt nach derWahl, vor knapp einem Jahr, begonnen haben. Dasheißt: Wir räumen den Schutt in den Bereichen weg, indenen Sie den Sozialstaat in Trümmer gelegt haben.
In der Koalitionsvereinbarung haben SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen das so festgelegt, und das halten wirauch. Ich erinnere nur an die Lohnfortzahlung imKrankheitsfall, den Kündigungsschutz und unsere Maß-nahmen gegen Lohndumping auf dem Bau.Mit diesem Gesetzentwurf bekämpfen wir die Win-terarbeitslosigkeit bei den Bauarbeitern. Auch imletzten Winter waren sie – was nicht weiter hinnehmbarist – erneut in einem erschreckend hohen Ausmaß vonArbeitslosigkeit betroffen. Das hat seinen Grund: DerAnstieg der Winterarbeitslosigkeit auf dem Bau begannmit der Streichung des Schlechtwettergeldes zum1. Januar 1996. Das haben Sie zu verantworten, meineDamen und Herren von der Opposition. Denn damalshaben Sie in der Regierung die falschen und zu teurenErsatzregelungen durchgesetzt. Ich sage: Das war da-mals Pfusch am Bau. Denn im folgenden haben sich dieDr. Michael Meister
Metadaten/Kopzeile:
4606 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Bauunternehmer für die kostengünstigere Alternativeentschieden, massenhaft wurden Bauarbeiter in denWintermonaten entlassen.Daran haben auch die Korrekturen 1997 nichtsgrundlegend geändert.
Deshalb verstehe ich nicht, daß Sie immer noch weitereKorrekturen des Gesetzes ablehnen. Ich empfehle Ihneneinen Blick in die amtliche Statistik:
Im vergangenen Februar lag die Arbeitslosenquote inden Bauberufen mit 25,7 Prozent erneut doppelt sohoch wie im Durchschnitt aller Berufe. In den neuenBundesländern waren sogar 29,8 Prozent der Bauarbei-ter arbeitslos. Wie wollen Sie den Bauarbeitern erklären,daß da kein Handlungsbedarf besteht, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren? Für uns sind 30 Prozent Ar-beitslose in einem Wirtschaftsbereich jedenfalls keineGröße, die wir vernachlässigen dürfen; deshalb handelnwir. Der Gesetzentwurf zeigt: Die Regierungskoalitionreagiert auf drängende soziale Probleme auch unterschwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zügigund konsequent.Zur kommenden Schlechtwetterzeit, ab 1. November,sollen die gesetzlichen Regelungen wirksam werden.Wir haben ganz bewußt darauf gesetzt, einen breitenKonsens aller Beteiligten zu erreichen, auch wenn Siedas als falschen Lobbyismus oder dergleichen kritisie-ren. Ich finde, daß es sehr vernünftig war, die Beteilig-ten an einen Tisch zu bekommen und mit Bauwirtschaft,mit Bauhandwerk, mit der Gewerkschaft und mit derBundesregierung zu einer einvernehmlichen Lösung zugelangen.
Ich füge hinzu: Dieser Konsens war nicht einfach. VieleVerhandlungen waren notwendig, aber es hat sich ge-lohnt. Unter Leitung des Bundeskanzlers sind die Eck-werte für die neue Regelung zustande gekommen. Daszeigt die gemeinsame Bereitschaft, die Winterarbeitslo-sigkeit von Bauarbeitern effektiv zu bekämpfen.Die Regierungskoalition hat dem Deutschen Bun-destag diese Eckwerte bereits im Juni vorgestellt. Sieumfassen gesetzliche und tarifvertragliche Regelungen;Gesetz und Tarifvertrag greifen eng ineinander. Die In-teressen der drei beteiligten Seiten sind ausgewogen be-rücksichtigt. Bauarbeiter und Baubetriebe werden nichtaus ihrer Verpflichtung zur eigenständigen Vorsorgeentlassen. Die Arbeitslosenversicherung wird durch diePflicht zur Übernahme von weitergehenden Risikennicht überfordert. Dieser Kompromiß wird mit dem vor-liegenden Gesetzentwurf umgesetzt.Es bleibt bei dem Drei-Säulen-Modell: Arbeitgeber,Arbeitnehmer und die Bundesanstalt für Arbeit sind ge-meinsam dafür verantwortlich, die Bauarbeiter bei witte-rungsbedingtem Arbeitsausfall im Winter sozial abzusi-chern. Die Verteilung der Mindestbeiträge unterhalb dendrei Kostenträgern wird korrigiert. Das Interesse derUnternehmen, Bauarbeiter zu entlassen, wird verringert.Ergänzende Maßnahmen wirken Entlassungen zusätz-lich entgegen.Die wesentlichen Inhalte des Gesetzentwurfes sindmit den zuständigen Tarifpartnern abgestimmt. Ich willsie noch einmal kurz darstellen:Bauarbeiter und Baubetriebe werden in den ersten100 witterungsbedingten Ausfallstunden entlastet.Das ist das Markenzeichen dieses Gesetzentwurfes. Mitder Übernahme der vollen Sozialversicherungsbeiträgebis zur 100. Ausfallstunde durch die Umlage wird dasRisiko der Bauarbeiter, aus witterungsbedingten Grün-den entlassen zu werden, weil der Arbeitgeber die Bei-träge nicht tragen kann oder es nicht will, deutlich redu-ziert. Die Vorredner haben bereits darauf verwiesen:Eines der zentralen Elemente, warum es reihenweise zuKündigungen gekommen ist, ist, daß die Betriebe dieSozialversicherungsbeiträge einsparen wollten odermußten, weil die wirtschaftlichen Bedingungen entspre-chend waren. Dies ist abgestellt und eines der Schlüssel-elemente der Vereinbarung. Wir haben vereinbart, daßder Arbeitgeber, wenn er dennoch tarifwidrig kündigt,dem Arbeitsamt künftig die Kosten in Höhe des Ar-beitslosengeldes erstatten muß. Das ist übrigens eineRegelung, die wir auch aus anderen Bereichen kennen.Auch dem Anliegen der Beschäftigten wird Rech-nung getragen. Der Eigenbeitrag der Bauarbeiter wirdmit 30 Stunden neu und angemessen festgelegt. Die vonden Arbeitgebern der Bauwirtschaft aufzubringendeWinterbauumlage bleibt mit 1,7 Prozentpunkten derBruttolohnsumme konstant. Zu dem Hinweis, der hier inder Diskussion kam, es sei bereits absehbar, daß das al-les hinten und vorne nicht mehr reiche, will ich Ihnensagen: Wir sind mit der Position angetreten, die Lohn-nebenkosten abzusenken. Wir haben dies – im Gegen-satz zu der vorherigen Regierung, die das jedes Jahrwieder in Sonntagsreden beschworen hat – gemacht.Allein den Rentenversicherungsbeitrag haben wir um0,8 Prozentpunkte gesenkt.
Die Bundesanstalt für Arbeit hat höhere Kosten fürdas beitragsfinanzierte Winterausfallgeld. Diese Kostenwerden jedoch durch geringere Ausgaben beim Ar-beitslosengeld wieder ausgeglichen.Zweitens ist ganz wichtig: Mit der geplanten Neure-gelung wird nicht in tarifliche Regelungen über dasSchlechtwettergeld eingegriffen. Sie haben weiter Vor-rang. Auch tarifvertraglich vereinbarte Arbeitszeitflexi-bilisierungen behalten ihren Nutzen. Allerdings mußich sagen, daß ich in der heutigen Debatte sehr viel Un-sinn zu der Frage gehört habe, daß man nicht flexibelreagieren könne. Es gibt die „kleine Flexi-Lösung“ unddie „große Flexi-Lösung“. Alle, die hier darüber reden,daß wir mit gesetzlichen Maßnahmen die notwendigeFlexibilität abbremsen oder verhindern, sollten sicheinmal die Realitäten im Baubereich anschauen, auchdie tarifvertraglichen Vereinbarungen, die es dort gibt,Parl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4607
(C)
(D)
die Klaus Wiesehügel und seine Gewerkschaft schon vorlanger Zeit abgeschlossen haben.
Die Einführung eines besonderen Wintergeldesfördert die Anreize für die Beschäftigten, mit Arbeits-zeitguthaben aus dem Sommer Ausfallzeiten im Winterauszugleichen, und zwar auch über die 30 Stunden hin-aus, die sie nach der tariflichen Regelung leisten sol-len. Dies fördert nicht nur die flexible Arbeitszeitge-staltung, sondern das verbessert auch die soziale Absi-cherung der Bauarbeiter im Winter. Dies hat aber nocheinen weiteren wünschenswerten Effekt. Die Winter-bauumlage der Arbeitgeber und der Haushalt der Bun-desanstalt für Arbeit werden, wenn dies entsprechendgreift, entlastet.Drittens. Es werden bei den Arbeitsämtern wiederWinterbauausschüsse eingerichtet. Dies ist ein weitererSchritt, um die Arbeitslosigkeit von Bauarbeitern in denWintermonaten zu bekämpfen. Ein wichtiges Ziel istdabei, die Auftragslage im Winter zu verstetigen.In diesem Zusammenhang, meine sehr verehrten Da-men und Herren von der Opposition, appelliere ich ganzherzlich an Sie: Wenn es Ihnen ernst damit ist, mit derWinterarbeitslosigkeit auf dem Bau Schluß zu machenund sie zu bekämpfen, dann helfen Sie mit. Sorgen Siedort, wo Sie Verantwortung tragen, dafür, daß auch fürdie Winterzeit Aufträge vergeben und ausgeführt wer-den.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin si-cher, daß dieser Gesetzentwurf die notwendige Mehrheitim Deutschen Bundestag findet. Auf dem Tisch liegt einwichtiger Baustein zur Bekämpfung der Arbeitslosig-keit. Er ist das Ergebnis eines breiten Konsenses, einBündnis für Arbeit in einer Branche.Ich danke ganz besonders den Sozialpartnern für ihrEngagement und für ihre Kompromißbereitschaft. Vordiesem Hintergrund gehe ich aber noch einen Schrittweiter und appelliere an die Kolleginnen und Kollegender Opposition: Schließen Sie sich diesem Kompromißan! Kommen Sie mit in das Boot!Im Interesse von Bauarbeitern und Baubetrieben for-dere ich alle Abgeordneten auf, unseren Gesetzentwurfzu unterstützen und ihn vor allen Dingen reibungslos zuverabschieden. Ich denke, daß das eine wichtige undsinnvolle Maßnahme ist, mit der einerseits den Beschäf-tigen im Baubereich geholfen wird und wir andererseitsdie Grundlagen dafür legen, entschiedener gegen dieWinterarbeitslosigkeit am Bau vorzugehen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/1516 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, daß, wie üblich, in der kommenden
Haushaltswoche keine Regierungsbefragung, keine Fra-
gestunden und keine Aktuellen Stunden stattfinden sol-
len. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 auf:
nung zu dem von den Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Hilde-
brecht Braun , weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Ent-
wurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes
– Drucksachen 14/48, 14/1541 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Erwin Marschewski
Cem Özdemir
Dr. Guido Westerwelle
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Fraktion der F.D.P. der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung kann eine Frak-tion eine Beratung hier im Plenum beantragen, wenn seitder Einbringung zum Beispiel eines Gesetzentwurfeszehn Sitzungswochen vergangen sind. Ich glaube, daßwir alle guten Grund haben, heute über den von uns ein-gebrachten Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsge-setzes zu debattieren.Es ist in diesem Jahr zwar gelungen, mit dem neuenStaatsangehörigkeitsrecht einen vernünftigen Weg zueiner besseren Integration der bei uns lebenden – insbe-sondere jungen – Ausländer zu beschreiten. Das ist ineiner Anstrengung gelungen, an der die beiden Koaliti-onsfraktionen, aber auch meine Fraktion beteiligt waren.Daß man sich als Oppositionsfraktion natürlich beson-ders freut, wenn praktisch der eigene Vorschlag im Ge-setzentwurf steht, das werden Sie mir nachsehen kön-nen. Es ist ja auch ein vernünftiger Vorschlag gewesen.
Deshalb freut es mich sehr, daß wir die beiden Koaliti-onsfraktionen in diesem Zusammenhang überzeugenkonnten.Die Überzeugungsarbeit wollen wir aber fortsetzen,weil wir der Auffassung sind, daß es nicht reicht, ledig-lich eine Novellierung des StaatsangehörigkeitsrechtsParl. Staatssekretär Gerd Andres
Metadaten/Kopzeile:
4608 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
vorzunehmen. Vielmehr müssen wir uns auch über dasThema Zuwanderung unterhalten.
Daß es hier ganz offensichtlich Diskussionsbedarfgibt und daß es hier ganz offensichtlich Fragen gibt,über die sich zu debattieren lohnt, das hat die letzte Le-gislaturperiode gezeigt. Diejenigen, die heute in der Re-gierung sind, haben damals genau das von uns verlangtund haben uns immer wieder Vorwürfe gemacht, daßwir im Bereich der Zuwanderung nicht zu Lösungen ge-kommen sind.Wir haben das als F.D.P. bedauert. Wie Sie wissen,hat gerade Cornelia Schmalz-Jacobsen, die Vorgängerinvon Ihnen, Frau Beck, in dieser Richtung immer wiederInitiativen ergriffen. Sie hat auch einen entsprechendenGesetzentwurf erarbeitet, den wir nach der letzten Bun-destagswahl eingebracht haben.Warum ist das ein Thema? Wer sich einmal die Zu-wanderungszahlen für die Bundesrepublik Deutschlandanschaut, der wird feststellen: Wir sind faktisch einEinwanderungsland. Wir sind das nicht erklärtermaßen,wie zum Beispiel Australien. Aber wer sich die Zahlenanschaut, sieht, daß wir einen erheblichen Zuwande-rungsdruck haben.Wir haben durch geeignete Maßnahmen, zum Bei-spiel durch den Asylkompromiß – einige, die hier sit-zen, waren daran beteiligt; ich war damals der Ver-handlungsführer der F.D.P. –, erreichen können, daß daseine oder andere geschehen ist, um diesen Druck zu re-duzieren. Das hat unserem Land in doppelter Hinsichtgutgetan: Ein Ergebnis war, daß die politische Rechte,die damals an Boden gewann und erhebliche Wahlerfol-ge erzielte, diese nicht fortsetzen konnte. Ich glaube, alledemokratischen Kräfte in diesem Land freuen sich dar-über.
Aber viel wichtiger war: Die wirklich politisch Ver-folgten haben von diesem Asylkompromiß profitiert.Die Zahl der Anerkennungen von Asylberechtigten istvon 5 000 im Jahr vor der Reform auf 50 000 angestie-gen. Das ist zehnmal so viel! Es ist klar, daß dann, wennim einzelnen Verfahren besser geprüft werden kann, dereinzelne größere Chancen auf Anerkennung hat.Im Bereich der Zuwanderung – auch das muß klarund deutlich gesagt werden – gibt es bisher in Deutsch-land keine Steuerungsinstrumente. Aber Deutschlandbraucht Kontrolle über die Zahl der Einwanderer. Werbehauptet, Deutschland sei faktisch ein Einwande-rungsland, muß zu der Einsicht gelangen, daß dannselbstverständlich auch die Instrumente angewendetwerden wie in allen anderen Einwanderungsländern;
so bestimmen die anderen Einwanderungsländer nachihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, wiehoch die Einwanderungsquoten sind und wer einwan-dern darf. Genau das schlagen auch wir in unserem Ge-setzentwurf vor. Wir halten eine Debatte darüber fürnotwendig, weil nach unserer Auffassung in einer sol-chen Debatte am besten den dumpfen Vorurteilen, diewir in der Politik immer wieder hören, begegnet werdenkann. Es muß darüber diskutiert werden, wie hoch dieZuwanderungsquote sein soll, wer zu uns kommen darf,wen wir wollen und brauchen. Auch das muß in diesemZusammenhang gesagt werden: daß wir Menschen brau-chen.
– Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Wiefelspütz, bin ichnicht Vorsitzender eines Fußballvereins. Deshalb fehltmir in diesem Bereich der Sachverstand. Ihnen siehtman ja an, daß Sie der typische Fußballfan sind. Ich bines nicht. Deswegen kann ich die Lage im Fußball nichtso gut beurteilen wie Sie. Aber ich hoffe, daß dieSchwerpunkte der Zuwanderung in einem anderen Be-reich liegen als in dem, den Sie gerade angesprochenhaben.Jedenfalls brauchen wir auch Zuwanderer. Die F.D.P.möchte nur, daß diese Zuwanderung gesteuert wird.Deshalb haben wir einen Entwurf eingebracht. Wir er-warten, daß es endlich eine rationale Debatte darübergeben wird. Ich bin gespannt, wie die Koalitionsfraktio-nen, die eine solche Debatte immer wieder gefordert ha-ben, unser Begehren beurteilen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion spricht jetzt der Kollege Michael Bürsch.
Frau Präsidentin! Sehrgeehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um ei-nen Bericht über den Stand der Beratungen zum F.D.P.-Entwurf, um nicht mehr. Das hat eine formale und eine– heute nicht so stark interessierende – inhaltliche Seite.Zur formalen Seite: Vor rund neun Monaten, AnfangDezember 1998, haben wir über dieses Gesetz in ersterLesung beraten. Einvernehmlich – auch mit Zustim-mung der F.D.P. – haben wir dann im Innenausschuß am20. Januar dieses Jahres die Beratung des Entwurfs vonder Tagesordnung genommen. Der Grund dafür war derBeginn der monatelangen, intensiven Beratungen undöffentlichen Auseinandersetzungen um das neue Staats-angehörigkeitsrecht. Bis in den Sommer hinein warenwir Innenpolitiker mit dieser wichtigen Reform ausgie-big und erschöpfend beschäftigt. Anschließend, im Junidieses Jahres, hat die Mehrheit im Innenausschuß be-schlossen, den Gesetzentwurf nicht mehr vor der Som-merpause in Bonn abschließend zu beraten. Diese Vor-geschichte erklärt, warum wir heute über einenSachstandsbericht reden. Nachdem sich nun auch derInnenausschuß in Berlin etabliert hat, sind die Regie-rungsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen sehrgerne bereit, über den F.D.P.-Vorschlag in der nächstenSitzung des Innenausschusses abschließend zu entschei-den. Bei dieser Sach- und Rechtslage, Herr Kollege vanEssen, kann nicht die Rede davon sein, daß die Regie-rungsfraktionen die Beschlußfassung über den F.D.P.-Jörg van Essen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4609
(C)
(D)
Entwurf auf die lange Bank geschoben oder auf denSankt-Nimmerleins-Tag verschoben hätten.Nun ein paar inhaltliche Bemerkungen zur F.D.P.-Initiative: Nach wie vor begrüßt die SPD-Fraktion dasZiel einer transparenteren gesetzlichen Steuerung derEinwanderung. Doch wird dies nach unserer Einschät-zung nur mittelfristig zu erreichen sein. Gerade nach denjüngsten emotionalen Debatten um das Staatsangehörig-keitsrecht ist es eher schwieriger geworden, vorurteils-frei und besonnen über unser nationales Selbstverständ-nis und die Vor- und Nachteile von Zuwanderung zudiskutieren. Mit den Ängsten, die mit dem Thema „Inte-gration und Zuwanderung“ verbunden sind, muß – er-kennbar – behutsam umgegangen werden. Auch dasbraucht seine Zeit.Vor allem aber dürfen keine unerfüllbaren Erwar-tungen geweckt werden. Schon der Titel des vorliegen-den F.D.P.-Entwurfs „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“weckt die falsche Erwartung, mit dem Gesetz könntendie bestehenden zwingenden Zuzugsmöglichkeiten zumBeispiel für anerkannte Asylbewerber, für Spätaussied-ler und für Familienangehörige im Rahmen der Famili-enzusammenführung ersetzt und auf diese Weise dieZuwanderung deutlich reduziert werden. Das wird nichtmöglich sein, weil es gesetzliche Vorgaben sind.Der Entwurf suggeriert zudem, daß es gegenwärtigeine hohe Zuwanderung gebe. Auch Sie, Herr van Essen,haben das eben angedeutet. Es ist tatsächlich aber so, daßsich seit einigen Jahren die Zahl der Menschen, die nachDeutschland zuwandern, verringert, während gleichzeitigdie Zahl derjenigen wächst, die unser Land verlassen.1997 hatten wir mehr Abwanderung als Zuwanderung.Überdies: Der wirkliche Schlüssel zu einer rationalen,berechenbaren Zuwanderungspolitik liegt in Europa.Das ist auch Ihnen klar, Herr van Essen. Die Freizügig-keit der EU-Bürger und die fortschreitende europäischeIntegration rücken auch das Erfordernis einer gemein-samen Einwanderungspolitik in den Vordergrund. Zu-wanderung ist deshalb immer weniger eine nationaleAufgabe. Sie muß europaweit harmonisiert werden. Dasist aus unserer Sicht viel erfolgversprechender als Lö-sungen im nationalen Rahmen.
Fazit: Wir – auch die F.D.P. – sollten im gemeinsamenInteresse die jüngste Empfehlung der baden-württem-bergischen Zukunftskommission beherzigen und – Zitat –viel mehr Energie, Nachdenken und Ausdauer auf einesystematische Integrationspolitik verwenden als bisher.
Wir Sozialdemokraten verschließen uns sicher nichtsinnvollen Vorschlägen, die uns auf den Feldern Zu-wanderung und Integration voranbringen. Aber dieseVorschläge müssen in einem Gesamtkonzept sorgfältigabgewogen und erörtert werden, ehe es zu entsprechen-den politischen Beschlüssen kommt.
Das heißt, auch für dieses Vorhaben gilt der neue sozi-aldemokratische Gesetzgebungsgrundsatz: Sorgfalt stattSchnelligkeit.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte lassen Sie michzu Beginn zu einer Frage Stellung nehmen, die bei mi-grationspolitischen Debatten immer wieder auftaucht,ohne daß jedoch bis heute erkennbar gewesen wäre,welche Bedeutung die Beantwortung der Frage für dieEntscheidungsfindung haben kann. Der Kollege van Es-sen hat das Thema angesprochen. Die Frage lautet: Istunser Land ein Einwanderungsland? Oder: Sollten wiruns nicht klar dazu bekennen, daß die Bundesrepublikein Einwanderungsland ist?
Das ist eine reine Frage der Definition. Wenn mansagt, ein Land ist schon dann ein Einwanderungsland,wenn regelmäßig Zuwanderung stattfindet, dann istDeutschland in der Tat ein Einwanderungsland. Das kannkeiner bestreiten. In diesem Sinne ist Deutschland, wievermutlich auch alle anderen Länder dieser Erde, einEinwanderungsland. Worin aber soll bei der Bejahung derFrage der Erkenntnisfortschritt liegen? Richtigerweisemuß man wohl sagen: Einwanderungsländer sind nur sol-che, die sich, aus welchen Gründen auch immer, gezieltum Zuwanderung bemühen. Davon kann bei uns späte-stens seit November 1973 keine Rede mehr sein.Trotzdem nimmt die Bundesrepublik nach wie vorwie kaum ein anderes Land, insbesondere aus humanitä-ren Gründen, Menschen auf. Dies geschieht auf Daueroder auf Zeit, bis die Verhältnisse in den Herkunftslän-dern eine Rückkehr erlauben. Unser Land ist ausländer-freundlich, und das soll auch so bleiben.
Ich füge ausdrücklich hinzu: Dennoch muß auch undgerade im Interesse der rechtmäßig und dauerhaft hierlebenden Ausländerinnen und Ausländer die Frage er-laubt sein, ob die nach wie vor beachtliche Zuwande-rung unsere Integrationskraft nicht übersteigt. Dies giltinsbesondere für den Zuzug aus Nicht-EU-Ländern.Auch der Bundesinnenminister muß, zumindest ver-bal, dieser Auffassung sein. Er ist nicht persönlich hier,er hat seine First Lady geschickt; aber Sie werden esihm berichten. Er hat vor wenigen Monaten in einemInterview gesagt, daß die Grenze der Belastbarkeitdurch Zuwanderung nicht nur erreicht, sondern, sowörtlich, überschritten sei. Im Klartext: Einen so großenZuzug wie in den vergangenen Jahren könnten wir unsin Zukunft nicht mehr erlauben.Dr. Michael Bürsch
Metadaten/Kopzeile:
4610 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Wenn ein sozialdemokratischer Innenminister dassagt, dann ist das politisch korrekt. Hätte sein VorgängerManfred Kanther exakt den gleichen Satz gesagt, dannwäre ein Sturm der Entrüstung durch unser Land gegan-gen.
Er wäre als ausländerfeindlich gegeißelt worden. Wirvermissen bei diesem Innenminister, daß der richtigenDiagnose nunmehr die richtigen politischen Entschei-dungen folgen.Im Zusammenhang mit der Debatte über die Einfüh-rung einer generellen doppelten Staatsangehörigkeit ha-ben wir zwei Anträge zur Abstimmung gestellt. In ihnenhaben wir einerseits unserer Ansicht nach dringendeVorschläge für die Begrenzung weiterer Zuwanderungvorgelegt und andererseits zahlreiche Maßnahmen vor-geschlagen, mit denen die Integration der dauerhaft undrechtmäßig hier lebenden Ausländer spürbar verbessertwerden könnte.
– Wissen Sie, was ein großes Glück ist, Herr KollegeTauss? Daß Sie nicht Mitglied des Innenausschussessind. Wenn Ihre Mutter erleben könnte, wie Sie sich hierim Parlament benehmen und wie flegelhaft Sie dazwi-schenrufen, würde sie heute noch über die völlig fehlge-schlagene Erziehung enttäuscht sein.
Ohne daß eine ernsthafte inhaltliche Auseinanderset-zung mit den Vorschlägen der Union stattgefunden hat,sind sie in Bausch und Bogen verworfen worden. Natür-lich ist es von Interesse, was der Bundesinnenministerzu wichtigen politischen Fragen sagt. Viel wichtiger istjedoch, für welche praktische Politik er steht und ob das,was er öffentlich sagt, mit dem übereinstimmt, was erpolitisch durchzusetzen versucht. Leider ist hier eine er-hebliche Diskrepanz festzustellen. Die F.D.P. hat bereitsim November 1998 den Entwurf für ein Zuwanderungs-begrenzungsgesetz mit der nicht unoriginellen Begrün-dung vorgelegt, daß die absehbare demographischeEntwicklung in Deutschland zu einer fortschreitendenÜberalterung der Bevölkerung führe; es müßten ver-stärkt ausländische Erwerbstätige einwandern; nicht zu-letzt würde das deutsche Sozialsystem auch in Zukunftohne die Mitarbeit ausländischer Arbeitnehmer nicht be-stehen können.
Ich lasse einmal dahingestellt, ob diese Diagnose an-gesichts von über vier Millionen Arbeitslosen und dererfolgreichen Bemühungen der rotgrünen Bundesregie-rung bei der Vernichtung vorhandener und der Verhin-derung neuer Arbeitsplätze richtig ist. Jedenfalls er-scheint es seltsam, einerseits Gründe für eine stärkereZuwanderung anzuführen und andererseits durch denBegriff „Zuwanderungsbegrenzung“ den Eindruck zuerwecken, daß dieser Gesetzentwurf geeignet sei, denZuwanderungsdruck zu verringern.
Ich will der F.D.P. nicht absprechen, daß sie sich ernst-haft darum bemüht, für ein wichtiges Feld der Innen-politik ein neues Lösungsmodell anzubieten. Es gibtallerdings erhebliche Zweifel daran, daß der vorliegendeGesetzentwurf geeignet ist, irgendein Problem zu lösen.
Kernpunkt ist die Lenkung der Einwanderung durchdie Bildung von Gesamthöchstzahlen und Teilquotensowie deren Nachsteuerung.
Es ist die feste Überzeugung unserer Fraktion, daß sichso die migrationspolitischen Probleme bei ansonsten un-veränderter Rechtslage nicht lösen lassen.Wir wären außerordentlich dankbar gewesen, wennuns die F.D.P. in den vergangenen Monaten einmal ganzpräzise mitgeteilt hätte, welche praktischen Auswirkun-gen dieser Gesetzentwurf bei Realisierung eigentlichgehabt hätte.
Sollte es nach dem Willen der F.D.P. in diesem Jahrmehr oder weniger Zuwanderung geben? Wenn mehr,was soll dann die Teilüberschrift „Begrenzung“? Wennweniger, wer oder welche Personengruppen hätten nachAnsicht der F.D.P. nicht mehr einreisen dürfen, die nachgeltendem Recht einreisen können? Wie groß wärennach Ansicht der F.D.P. die Gesamthöchstzahl in diesemJahr und wie hoch die einzelnen Teilquoten gewesen?Uns würde auch interessieren, wie die Liberalen den Zu-zug auf Grund von Art. 16 a des Grundgesetzes ein-schränken wollen und ob sie der Ansicht sind, daßArt. 116 eine beliebige Begrenzung des Zuzuges erlau-be. Gerne würden wir auch erfahren, ob die F.D.P. eineBegrenzung des Familiennachzuges anstrebt oder ob sieernsthaft plant, die durch EU-Recht garantierte Freizü-gigkeit einzuschränken.
Wenn nein, würde es nach Verabschiedung des Gesetzesmehr oder weniger Zuwanderung geben? Wie soll zah-len- oder quotenmäßig mit jenen Asylbewerbern ver-fahren werden, denen zwar rechtskräftig mitgeteilt wur-de, daß sie keinen Anspruch auf Asyl und damit keinenAnspruch auf einen Daueraufenthalt in der Bundesrepu-blik haben, die sich aber zum Teil jahrelang und mit al-len Tricks darum bemühen, der drohenden Abschiebungzu entgehen?In diesem Zusammenhang eine Zwischenbemerkung:Die Begrenzung weiteren Zuzugs einerseits und die vonden Koalitionsfraktionen verabredete neue Altfallrege-lung andererseits schließen sich gegenseitig aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen Ein-zelfälle, bei denen wir vermutlich alle der Überzeugungsind, daß es das Lebensschicksal des Betroffenen jen-Wolfgang Bosbach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4611
(C)
(D)
seits einer rechtlichen Würdigung gebietet, einen weite-ren Aufenthalt in der Bundesrepublik zu gewähren.Humanität und Großzügigkeit dürfen auch im Auslän-derrecht keine Fremdwörter sein. Aber eine erneutegroßzügige Altfallregelung wäre zum einen eine Prämiefür jene, die sich zum Teil seit vielen Jahren mit allenFinessen darum bemühen, ihrer Ausreisepflicht nichtnachzukommen, und zum anderen wäre sie ein weitererAnreiz zur Einreise in die Bundesrepublik.Statt dessen benötigt unser Land dringend eine ge-rechte Lastenverteilung innerhalb der EuropäischenUnion, insbesondere bei der Aufnahme von Asylbewer-bern und Flüchtlingen. Wir haben während des Kriegesin Bosnien-Herzegowina über 350 000 Bürgerkriegs-flüchtlinge aufgenommen, mehr als alle anderen Staatender Europäischen Union zusammen. Das kritisiere ichnicht. Aber alleine und auf Dauer können wir keine La-sten tragen, die größer sind als die Lasten aller anderenStaaten in Europa zusammen.
Die Kombination von weltweit einzigartigen Rechts-schutzgarantien und außerordentlich großzügigen so-zialen Leistungen machen die Bundesrepublik für Mi-granten aus aller Welt zu einem begehrten Ziel.
Vor diesem Hintergrund muß die Frage erlaubt sein, obnicht unter bestimmten Voraussetzungen die Aufent-haltsbedingungen in der EU zumindest ähnlich ausge-staltet sein müssen. Dies alles sage ich ausdrücklich oh-ne Vorwurf an irgend jemanden, auch nicht an dieAdresse des Bundesinnenministers. Wir alle wissen ausder Vergangenheit, wie schwierig es ist, derartige Ver-einbarungen zu erreichen. Hier müssen nicht nur einzel-ne, sondern ganze Berge dicker Bretter gebohrt werden.Trotzdem dürfen wir das Ziel nicht aus den Augen ver-lieren.Die Union ist gern bereit, die Bundesregierung beidiesen Bemühungen zu unterstützen. Daneben brauchenwir auf allen staatlichen Ebenen verstärkte Bemühungenum eine bessere Integration der dauerhaft und rechtmä-ßig hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer. Dasist das Gebot der Stunde, sowohl im Interesse unseresLandes als auch und gerade im Interesse der betroffenenMenschen, deren Lebenschancen in unserem Land miteiner gelungenen Integration untrennbar verbunden sind.Wenn der Anteil von Ausländern bei der Erwerbslo-sigkeit doppelt so hoch ist wie ihr Anteil an der Bevöl-kerung und wenn ihr Anteil an den Empfängern vonSozialhilfe dreimal so hoch ist, dann sind das alarmie-rende Daten. Gleichzeitig bedeuten sie eine Herausfor-derung an alle, die hier Verantwortung tragen. Einschlichtes Nein zu den Vorschlägen der Union kann da-her nicht genügen.Ich würde das folgende normalerweise nicht sagen;unnötige Schärfe muß nicht sein. Aber nachdem gesterndie Kollegin Wieczorek-Zeul die Katze aus dem Sackgelassen hat und im „Kölner Stadt-Anzeiger“ entspre-chend zitiert worden ist, muß ich es sagen: Ihnen, liebeKolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen,geht es im Zusammenhang mit Einbürgerung und Wahl-recht um die Macht. Uns geht es um Hilfe für die betrof-fenen Menschen. Das ist der politische Unterschied.Danke für Ihr Zuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ma-rieluise Beck.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Diskussion um Zu- und Einwanderungwird in unserem Land oft sehr aufgeregt geführt. Wiralle tun uns sehr schwer, bei diesem Thema zur Sach-lichkeit zu finden. Auch die Diktion ist oft sehr verräte-risch. Es wird im Zusammenhang mit Migration sehrschnell von Überschwemmung, von Migrations- undFluchtwellen oder von vollen Booten geredet. Das ist ei-ne Diktion, die Urgewalten bemüht. Sie ist nicht dazuangetan, die Behandlung dieses prekären Themas auf ei-ne sachliche Basis zu stellen. Insofern ist es gut, wennwir uns hier als erstes darauf verständigen, die Debatteum Migration in sehr nüchternem Ton zu führen. Wirhaben auch eine Verpflichtung angesichts der Debatte inder Gesellschaft, die oft sehr problematisch ist.Ein erster Schritt zur Versachlichung ist in der Tat,die Fakten zu beleuchten, die mit Migration zu tun ha-ben. Richtig ist, daß in den letzten acht Jahren, also von1991 bis 1998, etwa 8,8 Millionen Menschen vorüber-gehend oder dauerhaft – die Statistiken geben eine Dif-ferenzierung zum Teil gar nicht genau genug her – nachDeutschland zugezogen sind. Der Anteil der Ausländerdaran betrug etwa 80 Prozent. Richtig ist aber auch, daßim gleichen Zeitraum etwa 5,8 Millionen Menschen –ebenfalls überwiegend ausländische Staatsangehörige –Deutschland verlassen haben. Diese zweite Zahl wird inder aufgeregten Debatte sehr oft unterschlagen, wodurchsich ein schiefes Bild ergibt. Immerhin beträgt derWanderungsüberschuß etwa 3 Millionen Menschen –Deutsche wie Ausländer. Allerdings hat sich in denletzten beiden Jahren – das ist spannend – der Wande-rungssaldo bei den Ausländern umgekehrt: 1997 und1998 zogen mehr Ausländer aus Deutschland weg alsnach Deutschland zu. Im letzten Jahr haben wir 606 000Zuzüge gehabt, aber 639 000 Wegzüge, also ein Minus-saldo von 33 000 Menschen. Es ist sehr wichtig, dies inder Gesellschaft zu vermitteln, damit wir endlich vonder Aufregung und von solchen Sätzen wie „Das Bootist voll“ wegkommen.
Der Ausländeranteil in diesem Land ist 1998 um0,6 Prozent gesunken. Diese Zahlen belegen nun zweierlei: Wir haben es miteiner relevanten Einwanderung zu tun. Wir haben esWolfgang Bosbach
Metadaten/Kopzeile:
4612 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
aber auch mit einer sehr hohen Mobilität von Auslän-dern und Deutschen zu tun, die auch nationale Grenzenüberschreitet. Hierauf muß sich Politik einstellen. Mitder Weigerung, die Tatsache dieser Einwanderung anzu-erkennen, hat die alte Regierung Gestaltungsmöglich-keiten unnötig aus der Hand gegeben.
Es gilt nun, diese Versäumnisse wettzumachen.
Denn in der Regelung der zukünftigen Zuwanderungund der Integration der Einwanderer liegt – darin sindwir uns einig – in der Tat eine zentrale Gestaltungsauf-gabe für die kommenden Jahre.Zu dem Integrationsansatz der Union möchte ichnoch ganz kurz sagen: Es war ja kein Modell. Es war einSammelsurium von unterschiedlichen Vorschlägen, de-ren Auswirkungen in keiner Weise finanziell beziffertwurden. Zudem war nicht klar, auf welcher Ebene über-haupt Handlungsmöglichkeiten bestanden. Was Sie demParlament angeboten haben, war doch sehr zusammen-gesucht und eigentlich untauglich.
Eine Industrienation in der Mitte Europas wird auchweiterhin mit Zuwanderung und Abwanderung von Ar-beitskräften, Familienangehörigen, Unionsbürgern undFlüchtlingen leben müssen. Wenn wir auf der einenSeite darauf hinweisen, daß Informations- und Kommu-nikationstechnologien unseren Globus in ein Wohnzim-mer verwandeln, dann können wir nicht auf der anderenSeite eine Politik nationaler Abschottung wie im ver-gangenen Jahrhundert machen.
Wir sind in einer sich globalisierenden Welt auf Migra-tion angewiesen, sowohl aus wirtschaftlichen und de-mographischen als auch aus sozialen und kulturellenGründen.Wir stehen allerdings erst am Beginn der Diskussionum eine moderne Einwanderungs- und Integrationspoli-tik, sowohl in der Bevölkerung als auch in der Politik.Daß wir diese gelassen führen sollten, darüber sind wiruns in diesem Hause sicherlich einig, ebenso darüber,daß wir sie auf der Grundlage gesicherter Zahlen führensollten. Diese fehlen zur Zeit. Ich habe das schon ebengesagt: Die erste Aufgabe wird sein, sich das Zahlen-und Datenmaterial etwas genauer anzuschauen. Daswird die Bundesregierung in der kommenden Zeit auchtun.Ich möchte nur daran erinnern, daß zum Beispiel derAnwerbestopp 1973 nicht, wie beabsichtigt, zu einerSenkung, sondern zu einem Anstieg der Zuwanderunggeführt hat, weil dieser Anwerbestopp den Familien-nachzug in Gang gesetzt hat. Hier ist man nach demMotto „trial and error“ vorgegangen und hat eine Mi-grationspolitik gestaltet, wie sie eigentlich nicht beab-sichtigt war.Eines scheint mir allerdings sicher: Die hier von derF.D.P. vorgeschlagenen Maßnahmen – wir werden sienoch diskutieren – im Entwurf eines Zuwanderungsbe-grenzungsgesetzes signalisieren schon im Titel: DasBoot ist voll.
Das finde ich nicht in Ordnung. Der Ansatz von Quo-tierung und flexibler Steuerung, so wie Sie das vor-schlagen, führt zu einem undurchschaubaren und hochbürokratischen System von Teil- und Gesamtquoten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt?
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Ja, bitte, Herr Lippelt.
Frau Kollegin, würden Sie die sehr interessanten Zahlen,
die Sie uns vorgetragen haben, vielleicht noch durch den
Hinweis ergänzen, daß alle diese Zahlen vor dem Hin-
tergrund des natürlichen – das heißt des deutschen – Be-
völkerungswachstums von minus 70 000 im letzten Jahr
zu sehen sind, so daß wir sagen müssen, daß unsere Be-
völkerung, wenn ich das recht sehe, im letzten Jahr ge-
schrumpft ist?
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Deswegen ist es ja so wichtig, darüber zu
diskutieren, ohne parteipolitisches Kapital aus der Mi-
grationsdebatte schlagen zu wollen, auch wenn, wie wir
in den vergangenen Monaten lernen mußten, die Versu-
chung sehr nahe liegt.
Wir müssen uns darüber unterhalten, in welche demo-
graphischen Schwierigkeiten diese Gesellschaft gerät.
Der „Spiegel“-Titel der vergangenen Woche hat das
aufbereitet. Insofern haben wir ganz andere Debatten in
der Bevölkerung zu führen: nicht hinsichtlich Abschot-
tung, sondern hinsichtlich Zuwanderung und gewollter
Migration.
– Auch nach eigenen Interessen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, kom-men Sie bitte zum Schluß.Marieluise Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4613
(C)
(D)
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Ja, gut. – Wir werden sicherlich nochweiter diskutieren; wir haben im Ausschuß noch Zeitdazu. Klar ist, daß ein hoch bürokratisiertes Modell,wie Sie es vorschlagen, nicht tauglich sein kann unddaß auch ein Ansatz, der ausschließlich die nationalenInteressen formuliert, nicht aber den sozialen und hu-manitären Aspekt beinhaltet, von uns nicht mitgetragenwird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich fand es schon einigermaßen irritierend,
Herr van Essen, daß Ihr Gesetzentwurf ausgerechnet
wenige Tage, nachdem die DVU in Brandenburg mit
einem Wahlerfolg ins Landesparlament einziehen konnte,
noch einmal eingebracht wird.
– Ja gut, er wird auf die Tagesordnung gesetzt, damit
er diskutiert wird. Das ist mir schon klar, Herr van Es-
sen. Fakt ist aber doch, daß die DVU nur mit auslän-
derfeindlichen Parolen ins Parlament gekommen ist
und daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht über die
Frage der Einwanderung oder darüber, wie eine mögli-
che Zuwanderung geregelt werden kann, debattieren
wollen, sondern daß es Ihnen – wer den Gesetzentwurf
genau liest, weiß das auch – einzig und allein um die
weiterhin unkontrollierte Zuwanderung geht, wie Sie
es selbst sagen. Auch der Name des Gesetzes – „Zu-
wanderungsbegrenzungsgesetz“ – belegt, daß Sie Zu-
wanderung verhindern wollen. Das ist der Inhalt Ihres
Gesetzes.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ja, gern.
Frau Kollegin Jelpke, unab-
hängig davon, daß ich den Zusammenhang, den Sie zur
DVU herstellen wollten, ganz entschieden zurückweisen
muß, würde mich interessieren, ob Sie bereit sind, zur
Kenntnis zu nehmen, daß in diesem Land – ob rational
oder irrational, das sei dahingestellt – in weiten Teilen
der Bevölkerung Ängste wegen der Zuwanderung beste-
hen, die wir so nicht teilen. Sind Sie weiterhin bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, daß diese Ängste vor allem darauf
beruhen, daß Zuwanderung tatsächlich stattfindet, daß
sie aber von den Menschen, die Angst davor haben, als
etwas nicht Steuerbares, als etwas, was mit ihnen pas-
siert, wahrgenommen wird und daß unser Gesetz dafür
sorgen soll, daß Zuwanderung auf nachvollziehbare
Weise stattfindet, damit die diffusen Ängste verschwin-
den können und die Zuwanderung auch größer werden
kann? Begrenzung heißt schließlich nicht ausschließlich
weniger Zuwanderung, sondern Begrenzung bedeutet
auch Zuwanderung in einem notwendigen und von uns
gewünschten Maß, das wir zu definieren haben. Sind Sie
bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Sie haben im Grunde genommenden Punkt, den ich ansprechen wollte, vorweggenom-men. Ich wollte ausführen, daß Ihr Gesetz, in dem Siehauptsächlich über Zuwanderungsbegrenzung diskutie-ren, auf Zustimmung in der Bevölkerung stößt, und daßSie die Stimmung und das rechtsextremistische Gedan-kengut befördern.
Sie sagen das auch selbst in Ihrem Gesetzentwurf.
– Darauf gehe ich gleich noch ein. – Ich möchte daraufhinweisen, daß Ihre Analyse, die Sie immer vortragen,falsch ist. Mehrere Kollegen haben vor mir berichtet,daß es gegenwärtig keine Zuwanderung gibt, sonderndaß die Abwanderung eher höher ist, und das nicht erstseit 1998, sondern seit 1997.Ich kann Ihnen die Zahlen nennen. Die Zuzüge betru-gen 1997 615298 und die Fortzüge 637066. Im Jahr1998 sehen die Zahlen nicht wesentlich anders aus. Die-se Fakten müssen Sie erst einmal zur Kenntnis nehmen.Wer in dieser Situation eine solche Debatte führt undnicht darüber diskutiert, wie beispielsweise Integrati-onsmaßnahmen verstärkt werden können,
wie die Probleme von Menschen ausländischer Her-kunft, die hierher emigriert sind, gelöst werden können,der wird meiner Meinung nach solche Stimmungen be-fördern, wie sie beispielsweise von der DVU in Bran-denburg und anderen Ländern zum Ausdruck gebrachtwerden.
Ich meine, daß Sie, wenn Sie in Ihrem Antrag einefalsche Analyse bringen, bereit sein müssen, Ihren Ge-setzentwurf zurückzuziehen. Diese Analyse trifft ja ge-genwärtig nicht mehr zu. Ich denke, diese Diskussionbrauchen wir gegenwärtig zweifellos nicht.Unabhängig davon – das ist bereits vom KollegenBosbach und anderen angesprochen worden – kann esnicht sein, daß wir über ein Quotensystem diskutieren,das zu Lasten von Humanität und Menschenrechtengeht. Familiennachzug darf beispielsweise nicht auf
Metadaten/Kopzeile:
4614 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Kosten anerkannter Asylbewerber und Asylbewerbe-rinnen gehen. Das ist ein grundlegender Verstoß; dashabe ich auch damals schon in der Debatte, in der Siedas Gesetz eingebracht haben, gesagt. Politik für Mi-grantinnen und Migranten, für Menschen, die hier ein-gewandert sind – daß Deutschland ein Einwande-rungsland ist, ist meiner Meinung nach völlig unum-stritten; das müssen auch Sie langsam anerkennen –,muß Sprachförderung und wirkliche Integrationsmaß-nahmen beinhalten.
In diesem Zusammenhang ist auch Jugendsozialarbeit zufinanzieren, damit der Rechtsextremismus zurückge-wiesen werden kann und sich vor allen Dingen dieStimmung in der Bevölkerung verändert, was Migran-tinnen und Migranten in diesem Land angeht.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat jetzt
die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministe-
rium des Innern, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Liebe Kollegen undKolleginnen! Zunächst sollten wir uns den Anlaß derheutigen Debatte vor Augen führen: Eine Fraktionglaubte, ihr parlamentarisches Anliegen werde zu sehrverzögert, und meldete das Thema nach den Regularienan, weil es im Innenausschuß so lange nicht behandeltworden war. Daraufhin vermutete ich, daß Sie heute hiermassenhaft und markig antreten, um Ihr Anliegenmachtvoll zu vertreten. Aber was sehen wir? Zwei bisdrei Teilnehmer der F.D.P.-Fraktion.
– Im Innenausschuß habe ich Sie, die Sie da sitzen, auchnicht so oft gesehen. Das wollen wir erst einmal fest-halten; denn das illustriert doch die Ernsthaftigkeit desAnliegens der F.D.P.-Fraktion.
Eines ist sicherlich richtig: Es ist nur sehr bedingtmöglich, die Migration nach Deutschland politisch zusteuern und zu gestalten. Zugang zu unserem Land ha-ben politisch Verfolgte, nachziehende Familienangehö-rige und Menschen, die vor Bürgerkriegen Zuflucht su-chen. Im Vergleich zu diesen Gruppen ist der Zuzug derSpätaussiedler vielleicht am ehesten zu steuern, und dastun wir ja auch.Daß darüber hinaus darüber nachgedacht wird, ob esnoch einen anderen Weg für solche Menschen gebenkann, die bei uns eine andere Lebensperspektive suchen,das empfinde ich als durchaus verständlich. Schließlichgeht es trotz anhaltender Arbeitslosigkeit nicht ohneausländische Arbeitskräfte; denn unsere Gesellschaftaltert und die Sozialsysteme geraten in Probleme. Dassind die Wurzeln, aus denen seit Jahren die Auseinan-dersetzung um Chancen und Risiken eines Einwande-rungsgesetzes mit Quoten erwächst.Es ist also durchaus denkbar, meine Damen und Her-ren, daß auch wir künftig eine Regelung brauchen, wiesie etwa in klassischen Einwanderungsländern besteht;aber nicht zum jetzigen Zeitpunkt, nicht ohne Einbet-tung in gemeinsame Überlegungen mit unseren europäi-schen Partnern und schon gar nicht nach dem Muster,das uns die F.D.P.-Bundestagsfraktion hier feilbietet.Liebe Kollegen und Kolleginnen auf den Sesseln derF.D.P.-Fraktion, wenn Sie mit dem Schlachtruf „DerUmständlichkeit eine Gasse“ in den Kampf ziehenwollten, dann wäre Ihnen sicherlich ein bravouröserSieg sicher; denn Sie präsentieren – die Kollegin Beckhat es schon gesagt – ein ungeheuer kompliziertes büro-kratisches Gebilde mit Teilquoten, Gesamthöchstzahlen,sonstigen Höchstzahlen, Vor- und Nachsteuerung, undzur Durchführung des gesamten Verfahrens muß einBundesamt für die Regulierung der Zuwanderung her-halten.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei der Migrations-politik handelt es sich um Menschen und nicht um eineMathematikaufgabe.
Schwerer wiegt noch etwas anderes. Sie sagen jaselbst, daß das Gesetz keine zusätzliche Wanderungnach Deutschland ermöglichen oder auslösen soll. Alsowerden Bewegungen umgeschichtet, und zwar, wie ichmeine, auf eine höchst bedenkliche Weise. Zwar stellenSie den Familiennachzug nach geltendem Recht nichtgrundsätzlich in Frage. Aber um die jährlichen Zuzugs-zahlen einhalten zu können, wollen Sie diesen Zuzugmit den sonstigen Quoten verrechnen. Wissen Sie, wasdas in der Praxis bedeutet? Dadurch kann sich die Ein-reise eines Angehörigen zu Familienmitgliedern, die hierschon leben, um Jahre verzögern. Das bedeutet eineganz erhebliche Härte und verstößt wahrscheinlich ge-gen den grundgesetzlich verbrieften Schutz von Ehe undFamilie. Sie glauben ja wohl nicht im Ernst, daß wirIhnen dazu die Hand reichen.
Ich möchte dann auf die europäische Dimension zusprechen kommen. Wir stehen vor der Osterweiterungder Europäischen Union. So wichtige Staaten wiePolen, die Tschechische Republik und Ungarn werdensich in absehbarer Zeit noch enger an Europa binden.Andere Länder werden folgen.Mitgliedschaft in der EU bedeutet zugleich Arbeit-nehmerfreizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft. ManUlla Jelpke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4615
(C)
(D)
mag sich ja darüber streiten, wie sich Migration unterveränderten Bedingungen entwickeln wird. Aber dieOsterweiterung ist ja wohl den meisten von uns eineHerzensangelegenheit. Wir sollten uns daher nicht selberKnüppel zwischen die Beine werfen, indem wir für neueMitglieder Freizügigkeit schaffen, die zugleich durchandere Zugangsmöglichkeiten aus anderen Staaten wie-der ausgehöhlt werden könnte.Eine fortschrittliche Zuwanderungspolitik setzt vor-aus, daß man die Lebenswirklichkeit und das Empfin-den vieler Menschen nicht völlig außer acht läßt. Wiewollen Sie denn eigentlich Ihr Modell in Regionen mithoher Erwerbslosigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunktden Menschen verständlich machen? Wollen Sie sagen„Es gibt ein neues Gesetz und viele Jobs. Nun bewerbteuch mal!“? Auch wenn die Tatsache zutrifft, daß Ar-beitslosigkeit schon jetzt mit Fachkräftemangel einher-geht, können Sie dieses Gesetz vielen Menschen einfachnicht plausibel machen.Deshalb sage ich für die Bundesregierung sehr deut-lich: Wir stoßen die Tür zu einem zukünftigen Gesetzmit quotierter Zuwanderung nicht zu; aber wir lassen siebis auf weiteres angelehnt. Wir sind davon überzeugt,daß wir die Chancen, aber auch die Probleme der Mi-gration nur gemeinsam mit unseren europäischen Part-nern angehen können. Deswegen haben andere Ziele füruns zeitliche und inhaltliche Priorität, nämlich die Inte-gration derer, die hier dauerhaft leben, und eine Asyl-und Flüchtlingspolitik, die die humanitären Spielräu-me stärker auslotet.Herr Bosbach, die Diskussion um eine Altfallrege-lung hat mit der jetzigen Diskussion nichts zu tun. DieseRegelung betrifft Menschen, die hier leben und die nichtetwa über eine Quotenregelung hier ins Land geholtwerden sollen. Diese beiden Sachverhalte sollte mansauber auseinanderhalten.Es geht jetzt vor allen Dingen um die Integration. Dasneue Staatsangehörigkeitsrecht ist das deutliche Signalfür den Wandel in der Integrationspolitik, den wir in denletzten 10 Monaten eingeleitet haben. Wir brauchenauch eine Kampagne gegen die alltägliche Diskriminie-rung und für gegenseitige Achtung und Partnerschaft imZusammenleben von Menschen deutscher und ausländi-scher Herkunft.Wie dringlich dies ist – auch das muß ich sagen – ha-ben die Wahlergebnisse des vergangenen Sonntags ein-mal mehr bewiesen. Die von dem Kollegen van Esseneben ausgedrückte Zuversicht über den Rückgang vonFremdenfeindlichkeit kann ich leider in dieser Formnicht teilen. Dazu ist eine Offensive, ein Bündnis fürDemokratie und Toleranz nötig, die wir vorbereiten.Daran mitzuwirken sind Sie alle herzlich eingeladen.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache und rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 12
sowie den Zusatzpunkt 8 auf:
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gunnar
Uldall, Bernd Protzner, Karl-Heinz Scherhag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
„Jahr-2000-Problem“ in der Informations-
technik ernst nehmen
– Drucksachen 14/1334 –
Überweisungsvorschlag:
Metadaten/Kopzeile:
4616 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die SPD-
Fraktion hat jetzt der Kollege Rainer Brinkmann das
Wort.
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Siemich eines heute abend vorab feststellen:Erstens. Das Jahr-2000-Problem wird von vielenvollkommen überschätzt, von vielen aber auch unver-antwortlich verharmlost.Zweitens. Das Problem als solches besteht schon lan-ge, und die alte Bundesregierung hat sich nicht gerademit Ruhm bekleckert. Darum sind die vorliegenden An-träge von Union und F.D.P. auch als das zu bewerten,was sie nämlich in Wirklichkeit sind: Showanträge, dievon den eigenen Fehlern der Vergangenheit ablenkensollen.
Was ursprünglich einmal als geniale Idee von Com-puterprogrammierern gefeiert worden war, nämlich dieJahreszahl zweistellig einzugeben und damit Geld undSpeicherkapazität zu sparen, entpuppt sich nun alsernsthaftes Problem für Technik, Wissenschaft, Wirt-schaft, Dienstleister und öffentliche Hand.Die pikante Anekdote am Rande: Der Chef der ame-rikanischen Notenbank, Alan Greenspan, der selbst er-heblich mit den möglichen Auswirkungen dieses auchY2K genannten Problems zu kämpfen hat, war selber alsProgrammierer in den 60er und 70er Jahren nicht uner-heblich an der Ursache dieses Problems beteiligt.Die Herausforderung für alle Beteiligten ist groß undmuß weltweit angepackt werden. Es gibt in der Infor-mationstechnologie keine staatlichen Grenzen. Mit je-dem Chip hat sich das Risiko vergrößert. Weltweit sindes zwischenzeitlich drei Milliarden Prozessoren, in de-nen ein Fehlerrisiko stecken kann. Die sogenannten em-bedded systems, die eingebetteten Prozessoren sind es,die noch heute das eigentliche Risiko in sich bergen.Das Problem besteht darin, daß niemand weiß, wie dieseProzessoren am 1. Januar 2000 um 0.00 Uhr reagieren.Die neue Bundesregierung hat sich dieser Problema-tik schnell angenommen und eine ganze Reihe vonMaßnahmen ergriffen, die der Komplexität dieser Her-ausforderung angemessen sind. Sowohl im Fortschritts-bericht aus dem April dieses Jahres als auch in der Be-antwortung der Kleinen Anfrage der Koalitionsfraktio-nen in der Drucksache 14/1469 werden diese Anstren-gungen ausführlich dargelegt. Schwerpunkte der Akti-vitäten sind die Aufklärung der KMU, der Kommunenund Verbraucher sowie der Bereiche, in denen der Bundeine eigene Zuständigkeit besitzt.Im föderalen System der Bundesrepublik Deutsch-land ist eine zentrale Lösung, so wie sie im Antrag derCDU/CSU gefordert wird, nun einmal nicht möglich,und eine dezentrale Lösung unter Beteiligung der Län-der und anderer Einrichtungen und Institutionen ange-sagt. Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit ist dienotwendige Sensibilität bei allen Unternehmern und denVerantwortlichen in den Kommunen und Ländern sowieden öffentlichen Einrichtungen erreicht worden.Es kann nicht die Aufgabe der Bundesregierung sein,die notwendigen Arbeiten derjenigen zu erledigen, diedafür selbst die erforderlichen Ressourcen zur Verfü-gung haben. Dennoch gibt es ein breites Informations-angebot, das für alle bereitsteht und auch hunderttau-sendfach genutzt und als wirksame Hilfestellung ver-standen wird.Wenn wir, die Koalitionsfraktionen, im April diesesJahres eine eigene Kleine Anfrage gestellt hatten, dannmit der Zielsetzung, die öffentliche Diskussion überdiese Problematik zu beleben. Wer heute einen Blick indie entsprechenden Seiten des Internets wirft, stellt fest,daß dieses Ziel auch erreicht worden ist. Interessanthierbei ist aber auch die Tatsache, daß unter der Seite„zeitbombe-jahr2000.de“ die Urheber das Unionsantra-ges ausgemacht werden können.
Die Gestalter dieser sogenannten Webseite geben selberan, am Antrag der Union gearbeitet zu haben. Dies isteigentlich überhaupt nicht verwerflich. Verwerflich istaber die Stoßrichtung dieser Webseite und wie dort mitunseriösen Methoden Propaganda betrieben wird.Die Diktion der Webseite „zeitbombe-jahr2000.de“ist auch im Antrag der Union enthalten. Dabei wird ver-schwiegen, welche großen internationalen Hilfen dieBundesregierung leistet und nicht etwa bekommt undwelche Anstrengungen sie auch im Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft unternommen hat. Die BundesregierungJörg van Essen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4617
(C)
(D)
ist auch im internationalen Rahmen führend und hinktnicht, wie von vielen behauptet, hinterher.Den Kolleginnen und Kollegen von der Oppositionmöchte ich heute abend einen schönen guten Morgenwünschen.
Denn ihre Anfrage zum Jahr 2000 zeigt vor allem eines:Sie haben das Thema verschlafen wie vieles andere auch.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, es besteht kein Anlaß zur Hysterie. Aber eskönnte in der Tat zu einer ganzen Reihe von kleinerenVorfällen, von Schäden für Menschen und die Volks-wirtschaft in unserem Lande kommen.Die Bundesregierung hat mehr als 5 Millionen DMaufgewandt, um das Jahr-2000-Problem darzustellen, dieÖffentlichkeit zu sensibilisieren und ihr Informationenzu vermitteln. Zusammenfassend ist zu sagen: Die Bun-desregierung hat auf nationaler und internationaler Ebe-ne vielfältige Aktivitäten entwickelt, um die Funktions-fähigkeit von zentralen öffentlichen und privaten Ein-richtungen der Infrastruktur zu erhalten.Die neue Bundesregierung hat ihre Hausaufgabengemacht, ganz im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, diedas Problem zwar erkannt, ihm aber keine besondereAufmerksamkeit geschenkt hat. Die alte Bundesregie-rung hat sich, wie jeder weiß, nicht nur deshalb als nichtJahr-2000-fest erwiesen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Brink-
mann, dies war ihre erste Rede hier im Plenum des
Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen möchte ich Sie dazu beglückwünschen.
Ähnlich wie meine Kollegin Anke Fuchs gestern kann
ich Sie auch dazu beglückwünschen, daß Sie in Ihrer
Jungfernrede die Redezeit wunderbar eingehalten haben.
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kol-
lege Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Brinkmann,dies war Ihre Jungfernrede. Es hat mich gefreut, daß ichdabei sein durfte. Sie sollten aus dem, was Sie vorgetra-gen haben, eines lernen: Man muß sich auf ein Themaimmer so vorbereiten, daß man seine Informationen ausmöglichst vielen Quellen sammelt. Wenn Sie sich auchaus unabhängigen Quellen Input für eine parlamentari-sche Initiative holen, dann machen Sie es genau richtig.So haben auch wir es gemacht. Deswegen können Sievielleicht viele Webseiten zitieren, deren Autoren ange-ben, der CDU geholfen zu haben, und stolz darauf sind –zu Recht. Wenn die Leute sagen, sie helfen der CDUund sind stolz darauf, dann freuen wir uns. Hier werdendie Maßstäbe richtig gesetzt.
Wir haben vorhin überlegt, ob man die Reden zuProtokoll gibt. Aber wenn nur Herr Brinkmann und HerrKollege Berg ihre Reden hier gehalten hätten und wirnicht hätten antworten dürfen, dann wäre das nicht sogut gewesen. Ich war ein bißchen hin und her gerissen,ob man nicht besser Unter den Linden spazierengegan-gen wäre. Auch das hätte seinen Reiz gehabt. Aber daswäre wieder ein bißchen typisch für den Umgang mitdiesem Thema gewesen.Das Thema Jahr-2000-Problem ist im Laufe der letz-ten Jahre mehr und mehr zu einem Spezialistenthemageworden. Davon müssen wir weg; da sind wir uns si-cherlich einig. Wir müssen dieses Thema breiteren Krei-sen nahebringen. Wir Politiker sind dazu verpflichtet,dieses komplizierte und abstrakte Thema so vorzutragen,daß man die Expertenkreise übersteigt.Ich gebe Ihnen recht: Wir wollen das Thema in Ruhediskutieren, ohne Hysterie zu erzeugen, müssen aber aufder anderen Seite auch dafür sorgen, daß diesem Themadie notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.Wir müssen mit Ernst und Nachdruck darauf hinweisen,welche Folgen mit einer mangelhaft vorbereiteten Um-stellung verbunden sein können.Jeder Bürger, jedes Unternehmen, jede staatliche In-stitution muß ein Interesse daran haben, daß im eigenenBereich alles dafür gerüstet ist, das Problem der Jahr-2000-Umstellung möglichst klein zu halten. Deshalb be-reitet es schon einige Sorge, wenn, wie die HermesKreditversicherung bei einer Umfrage im Sommer die-ses Jahres festgestellt hat, 48 Prozent der deutschen Un-ternehmen diesem Problem keine besondere Bedeutungbeimessen und erst 30 Prozent die Notfallpläne für ihrUnternehmen ausgearbeitet haben. Die Hermes Kredit-versicherung, die als Hauptgeschäft die Warenkreditver-sicherung betreibt, wird das sehr genau analysiert haben.Deswegen ist es gut, daß wir hier gemeinsam eine De-batte führen, um auf dieses Problem hinzuweisen.Lieber Kollege Brinkmann, in einem Punkt stimmeich Ihnen nicht zu: Die notwendige Sensibilität ist nochnicht vorhanden – zwar bei Ihnen, bei dem KollegenMosdorf und bei den Verantwortungsträgern in den Un-ternehmen, jedoch nicht bei der Mehrheit der mittelstän-dischen Betriebe.Wir, die CDU/CSU-Fraktion haben Zweifel daran, obdie Bundesregierung diesem Problem die notwendigeAufmerksamkeit schenkt.
Ebenso geht es den Freien Demokraten – wir stehen alsonicht alleine da –; denn sonst hätten sie diesen Antragnicht gestellt. Ebenso geht es aber auch den Grünen undIhnen, sonst hätten Sie nicht die entsprechenden Anfra-gen gestellt. Hätten Sie gesagt, alles sei wunderbar, dannRainer Brinkmann
Metadaten/Kopzeile:
4618 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
hätten Sie die Anfrage damals nicht so fleißig ausgear-beitet. Insofern ist es richtig, wenn Sie sagen: Wir, dasParlament, wollen dafür sorgen, daß die Bundesregie-rung diesem Problem die entsprechende Aufmerksam-keit zukommen läßt.Mir reichen die bisherigen Aktivitäten der Regierungnicht aus; das muß ich ganz klar sagen.
– Auch der jetzigen; ich werde gleich etwas dazu sagen.
Die Öffentlichkeitsarbeit ist zu unauffällig. Wenn ichmir die Anzeigenserie anschaue, für die Sie, wie Sie sa-gen, 5 Millionen DM ausgegeben haben, so kommt danichts rüber. Sie haben gesagt: Im Internet haben wirtolle Webseiten installiert. Aber wer sich das im Internetansieht, der ist doch sowieso gut vorbereitet; denn dastun gerade diejenigen, die sich mit diesem Problem be-schäftigen. Das, was im Fortschrittsbericht vom April1999 steht, ist ebenfalls nicht nur lobenswert. Vor allenDingen ist auch das nur Insidern bekannt.Deswegen sage ich: Die Bundesregierung muß sichhier sehr viel energischer einschalten. Sie muß sich die-ses Themas sehr viel intensiver annehmen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Gern.
Herr Kollege Uldall, ist Ihnen
bekannt, daß über das, was Sie angesprochen haben,
hinaus beispielsweise das Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik kurzfristig hervorragende
Materialien nicht nur im Web abrufbar gemacht hat,
sondern auch Programme, Software und ähnliches zur
Verfügung gestellt hat, damit gerade kleine und mittlere
Betriebe in der Lage sind, sich sehr schnell auf dieses
Problem vorzubereiten? Würden Sie zur Kenntnis neh-
men, daß davon in großem Umfang Gebrauch gemacht
worden ist, so daß die Bemühungen der Bundesregie-
rung doch weit über das hinausgegangen sind, was Sie
heute abend darzustellen versuchen?
Daß das Problem auf der Hand liegt, das wissen wir.
Aber so gering sollten Sie unsere Bemühungen doch
nicht einschätzen. Dürfte ich Sie bitten, das Positive ein
bißchen stärker zur Kenntnis zu nehmen und auch zu
betonen, weil dies ein Unterschied zu der alten Bundes-
regierung darstellt.
Lieber Herr KollegeTauss, wenn es etwas objektiv zu loben gibt, bin ichimmer dabei.
Wenn ich aber die Informationspolitik der Bundesregie-rung in Sachen Jahr-2000-Umstellung loben soll, dannhabe ich doch einige Schwierigkeiten. Aber die Infor-mation, die Sie uns gegeben haben, war gut. Wir freuenuns, daß etwas getan wurde. Lassen Sie uns aber ge-meinsam dafür sorgen, daß noch mehr getan wird.
Nun möchte ich einmal vorlesen, was die Bundesre-gierung auf ihrer Internetseite zum Jahr-2000-Problemsagt:Ein Jahr-2000-Projekt kann … nur erfolgreich ver-laufen, wenn sich die Führungsebene darüber imklaren ist, wie wichtig diese Arbeiten für das ge-samte Unternehmen sind. Darum: Ein Jahr-2000-Projekt muß in einem Unternehmen immer Chef-sache sein.
Ich will gar nicht so weit gehen, von der Bundesregie-rung zu fordern, das, was sie auf ihrer Internetseite for-dert, selber zu tun. Gott bewahre uns davor, daß Schrö-der auch dies noch zu seiner Chefsache erklärt. Denn inden Bereichen, in denen er erklärt hat, sie seien Chefsa-che, ist meistens nichts passiert. Insofern kann ich nurdarum bitten, daß Schröder nicht auch dies noch zurChefsache macht. Dann wird das überhaupt nichts wer-den.Was wir aber mit allem Nachdruck fordern, ist, einenzentral Verantwortlichen zu schaffen und als Parla-ment ganz deutlich verstehen zu geben, daß es nicht an-geht, daß heute das Innenministerium, morgen das Wirt-schaftsministerium und übermorgen eine sonstige Stellefederführend mit diesem Thema beauftragt wird.
Die Aktivitäten laufen auf zu vielen verschiedenen Ka-nälen. Es wäre klug, diese zu bündeln. Wenn man michfragen würde, wen in der Bundesregierung ich dafürvorsehen würde, würde mir ein entsprechender Vor-schlag nicht allzu schwer fallen.
Wir sollten dieses Thema nicht zu leicht nehmen. DasErstellen einer Antwort auf die vorliegenden KleinenAnfragen ist ja sehr schwierig gewesen. Die Abstim-mung und Koordination zwischen den Häusern war sehrvielschichtig. Das ist ein Zeichen dafür, daß es in diesemPunkte keinen zentral Verantwortlichen gibt. Dazu kannich nur sagen: Dies ist ein Kernfehler, der jetzt noch be-hoben werden kann, um die Arbeiten effektiver zu ma-chen.Aber es kommt nicht nur zu mangelhaften Bemühun-gen in der Informationspolitik, und es fehlt nicht nur einzentral Verantwortlicher, sondern in dem Fortschrittsbe-richt selber sind Dinge aufgeführt worden, die einfachnicht ausreichend sind, da nicht auf das besonders Not-wendige eingegangen wird.Ich nenne als erstes Beispiel das Gesundheitswesen.Die Funktionsfähigkeit von Krankenhäusern und medi-Gunnar Uldall
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4619
(C)
(D)
zinischen Geräten muß uns nach Auffassung von vielenExperten große Sorgen machen. Unser Kollege Brink-mann hatte soeben die Bedeutung der embedded systemserklärt. Es ist richtig, wie Sie das dargestellt haben. Die-se embedded systems befinden sich natürlich auch inmedizinischen Geräten, und keiner weiß mehr, ob derHersteller dieser Systeme noch existiert und ob es Un-terlagen über das gibt, was hier installiert worden ist. In-sofern ist es sehr schwer zu klären, ob diese Geräte zumJahrtausendwechsel eventuell ihren Dienst einstellenwerden. Man denke nur an die Auswirkungen für die mitdiesen Geräten zu versorgenden Patienten.Deswegen könnte ich mir schon vorstellen, daß dieerste Aufgabe eines solchen zentral Verantwortlichenwäre, dafür zu sorgen, daß auf der Ebene der Bundes-länder eine sogenannte Deadline gesetzt wird, zu der diezuständigen Krankenhäuser eine entsprechende Mel-dung an die jeweilige Landesregierung zu geben haben,daß all diese Dinge überprüft worden sind.
Es wäre hier eine wunderbare Gelegenheit, in der Mei-nungsbildung der Länder eine entsprechende Führung zuübernehmen.Ein zweites Beispiel, zu dem die Darstellungen imFortschrittsbericht wirklich nicht ausreichend sind undangesichts dessen man sich Sorgen machen muß, ist dieMineralöl- und die Gasversorgung. Es ist vorstellbar,daß irgendwo in den Schaltstationen östlich des Uralseine solche Funktionsuntüchtigkeit plötzlich auftretenkann. Das hat Bedeutung für die Versorgung hier beiuns in Deutschland. Deswegen kann ich nur sagen: Hiersollte die Regierung sehr viel energischer vorgehen.Ein drittes Beispiel, angesichts dessen ich meine, daßin dem vorliegenden Fortschrittsbericht etwas aufge-deckt wird, was so nicht hingenommen werden kann, ist,daß die Eventual- und die Notfallplanungen noch ab-solut unterentwickelt sind. Ich könnte mir vorstellen,daß die Bundesregierung diese Planungen mit Hilfe ei-ner zentralen Stelle sehr viel energischer angehen könn-te.Weitere neuralgische Punkte möchte ich nicht nen-nen. Wir haben sie in unserem Antrag im einzelnen auf-gelistet. Negativ fällt an dem Fortschrittsbericht weiter-hin auf, daß er häufig im Unverbindlichen steckenbleibt.Da heißt es dann zum Beispiel, es gebe zu vielen Betrof-fenen Kontakte, die jeweils zuständigen Stellen seienzuversichtlich, daß sie ihre Probleme doch noch lösenkönnten, bzw. Probleme würden von den Verantwortli-chen nicht erwartet. Mir ist das alles zu nebulös und zuschön, als daß man bei einem so ernsten Thema damitzufrieden sein könnte.
Ich erwarte deswegen von der Bundesregierung, daßsie nicht zu vertrauensselig nur die Berichte anderer re-feriert. Statt dessen muß sie viel stärker auf die Über-mittlung klarer Fakten und Überprüfungsergebnissedrängen und diese kontrollieren. Sonst ist es nicht mög-lich, konkrete Defizitanalysen sowie Zeitpläne zur Pro-blemlösung oder Notfallbekämpfung aufzustellen.Sorge macht mir dann auch die Tatsache, daß jetzt,also zu einem recht späten Zeitpunkt, noch Problemezugegeben werden, die eigentlich schon längst gelöstsein müßten. So muß die Bundesregierung in der Be-antwortung der Kleinen Anfrage der SPD und der Grü-nen einräumen: Erstens. Der Vorbereitungsstand in klei-nen Kommunen ist vielerorts unklar. Zweitens. Bei derSchadens- und Unfallversicherung sind noch Anstren-gungen nötig. Drittens. Es ist nicht hundertprozentiggewährleistet, daß alle medizinischen Geräte sicher ar-beiten können. Viertens. Funktionsbeeinträchtigungenbei der Bundeswehr sind nicht auszuschließen. Fünf-tens. Die Atomaufsichtsbehörden wollen die erforderli-chen Überprüfungen der deutschen Kraftwerke erstim Oktober/November abschließen. Sechstens. Die Si-cherheitslage in osteuropäischen Kernkraftwerken be-reitet den Berichterstattern Sorge. Diese Liste ist mirschlichtweg zu lang.Nun kommt natürlich immer der Zwischenruf: Diealte Regierung hätte längst damit anfangen müssen.
Doch dafür sind Sie alle viel zu sehr in der Geschichtedrin. Sie sind Fachleute und wissen, daß viele Problemein ihrer Auswirkung
erst im letzten Halbjahr des Jahres 1998 allgemein er-kannt worden sind.
– Genauso ist es. Die Bundesregierung hat natürlichschon vor drei Jahren ihre Berichterstattung begonnen.Aber tun wir doch nicht so, als wenn dieses Problem inseiner Tragweite, in alle Dimensionen, von allen Betei-ligten schon so früh erkannt worden ist! Das ist doch ge-rade das Verheerende, daß diese Probleme erst vor etwaeinem Jahr richtig erkannt worden sind.
Andere, Wirtschaftsbereiche, haben Konsequenzendaraus gezogen. Ich denke an die Kreditwirtschaft, diesich über die Bedeutung des Ausfalls eines Zahlungssy-stems für die Weltwirtschaft und für die nationale Wirt-schaft voll im klaren ist. Sie haben zur Mitte dieses Jah-res eine Simulation gefahren. Dieser Test war, wie dieMediziner sagen, negativ; es ging also positiv aus. Ichfrage mich, warum die Bundesregierung nicht etwasÄhnliches gemacht hat.Wir wissen, daß auf die Regierung auch große finan-zielle Verbindlichkeiten zukommen können, wenn einAusfall allzu lange dauert. Der Rechnungshof schätztmaximal 40 Millionen DM Schaden pro Tag. Nun müs-sen nicht alle Schäden auf einmal eintreten. Wenn sichder Schaden über mehrere Tage hinzieht, können ganzschnell dreistellige Millionenbeträge erreicht werden –Gunnar Uldall
Metadaten/Kopzeile:
4620 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
ganz abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen, diesich zunächst gar nicht in der Staatskasse niederschla-gen. Wenn am 1. Januar zum Beispiel die Zollverwal-tung nicht richtig funktioniert, dann gibt es wenigerZölle. Die gehen sowieso nach Brüssel, deswegen ist dasnicht so wichtig. Falls aber ein wichtiges Ersatzteil nichtausgeliefert werden kann, dann hat das Implikationen,die weit über diesen finanziellen Verlust hinausgehen.Wir wollen, daß die Bundesregierung eine Informati-onskampagne macht, die wirklich aufklärt. Wir wollendie Einsetzung eines zentral Verantwortlichen. Wirwollen eine verstärkte Bemühung in den genannten Pro-blembereichen. Schließlich wollen wir bei aller diplo-matischen Rücksichtnahme auf die anderen Länder einenergisches Auftreten unserer Regierung gegenüber denLändern, deren Versäumnisse eine Gefahr für uns dar-stellen könnten.Lassen Sie mich abschließend kurz vorlesen, was dieBundesregierung unter „Allgemeine und praktischeHinweise“ im Internet – Sie sehen, ich lese auch dort –sagt:Werden Sie aktiv! Ändern Sie Ihre Grundeinstel-lung! Sagen Sie sich und anderen: In meiner Um-gebung, in meinem Verantwortungsbereich gibt esJahr-2000-Probleme, zumindest so lange, bis ichmich vom Gegenteil überzeugt habe. Ich darf jetztkeine Zeit mehr verlieren, in meinem Verantwor-tungsbereich muß das Jahr-2000-Problem schnell-stens gelöst werden.Ich wünsche mir, daß unsere Bundesregierung sich das,was sie anderen empfielt, selber zu Herzen nimmt undrealisiert. Dann werden wir kein Problem haben.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Hans-
Josef Fell.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Die CDU/CSU, Herr Uldall, sagt, daßdas Computerproblem 2000 ernst genommen werdenmuß. Damit haben Sie recht. Daß diese Einsicht um Jah-re zu spät kommt, wissen Sie selbst am besten. Das Pro-blem ist seit vielen Jahren bekannt.Parlamentarisch haben die Bündnisgrünen das Jahr-2000-Problem als erste aufgegriffen, und zwar schon1997. Damals hat die alte Bundesregierung Anfragenmit einem lockeren „Keine Panik“ beantwortet.
Alles sei unter Kontrolle, alle notwendigen Maßnahmenseien eingeleitet worden. Inzwischen wissen wir, daßdiese Aussagen damals nicht der Wahrheit entsprachen.Ihr heutiger Antrag beweist es.
Mittlerweile haben sich die Verantwortlichkeiten ge-ändert. Auch die neueren Oppositionsparteien lesen inden Regierungstexten: „Keine Panik, alles unter Kon-trolle! Alle notwendigen Maßnahmen sind eingeleitet.“Tatsächlich hat die neue Bundesregierung wesentlichweitreichender gehandelt als die alte. Es muß allerdingshinterfragt werden, ob diese weitgehenden, zusätzlichenAktivitäten ausreichen. Ich bin ehrlich und sage Ihnen:Ich weiß es nicht.Fragen Sie die Fachleute, und Sie werden nichtschlauer. Die einen bauen sich einen Bunker mit Not-stromaggregat, die anderen behaupten, daß von einigenfehlprogrammierten Videorecordern abgesehen, kaumetwas passieren wird. Manche erwarten eine wirtschaft-liche Depression, andere erhoffen sich Tausende neueArbeitsplätze in der Videorecorderindustrie. Das einzi-ge, was Ihnen die Experten einhellig sagen, ist: Die bisEnde 1998 gemachten Versäumnisse sind nicht mehrwettzumachen.
Niemand könne nach Jahren der Versäumnisse das Jahr-2000-Problem lösen. Allenfalls könnten die Folgen ab-gemildert werden. Daran arbeitet die neue Bundesregie-rung mit Hochdruck.Das Computerproblem 2000 ist sehr komplex. Eshandelt sich nicht nur um unzuverlässige Computerpro-gramme – Sie haben es ausgeführt, Herr Uldall –,schlimmer noch: Etwa 2 Prozent aller Computerchipssind datumsrelevant. Diese Schwachstellen sind schweraufzufinden. Falls man fündig geworden ist, ist es gutmöglich, daß Fehlerquellen von außen zu Fehlfunktio-nen führen werden.Andere Staaten – vor allem im angelsächsischenRaum – haben dieses Thema daher zur Chefsache ge-macht. Die deutschen Bundesregierungen haben daraufverzichtet. Unterschiedliche Kulturen haben verschiede-ne Risikowahrnehmungen und setzen daher auch abwei-chende Prioritäten. Warum das so ist, brauchen wir nichtzu vertiefen. Welche realitätstauglicher ist, wird sicheben erst zu Beginn des kommenden Jahres herausstel-len.Maßnahmen, um dem Problem Herr zu werden, wur-den von beiden Bundesregierungen durchgeführt; vonder letzten weniger, von der neuen mehr. Da das Com-puterproblem 2000 zu komplex ist – wie das eine oderandere Problem der Informationstechnologie insgesamtauch –, kann nicht jede Gefahr völlig ausgeschlossenwerden. Ein Risikoausschluß ist nur möglich, wenn vonvornherein ungefährliche Technologien eingesetzt wer-den.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Com-puter-2000-Problem zeigt auch, wie abhängig unsereGunnar Uldall
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4621
(C)
(D)
Gesellschaft inzwischen von der Informationstechno-logie ist. Selbst vollkommene Banalitäten wie die An-zahl von Ziffern für Jahreszahlen können über die Zu-kunft von Gesellschaften entscheiden. Wer der Auffas-sung ist, diese Probleme ließen sich mit genügend In-formatikern und Geldeinsatz automatisch lösen, hatentweder die Dimension nicht verstanden oder nochnie mit einer Software von Microsoft gearbeitet, einemzweifellos finanziell gut ausgestatteten Unternehmenmit sehr vielen Informatikern, aber auch Programm-fehlern und Systemabstürzen.Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition –ich möchte den einen oder anderen auf der Regierungs-bank nicht ganz ausnehmen –: Ein „Weiter so“ in derTechnologiepolitik würde lediglich aufzeigen, daß ausder Geschichte nur zu lernen ist, daß die Menschennichts aus der Geschichte lernen.Aus meiner Sicht müssen folgende Schlüsse gezogenwerden: Erstens. Die restlichen Wochen bis zum Jah-reswechsel müssen dazu genutzt werden, die Anstren-gungen nochmals zu verstärken. Ich gehe davon aus, daßdies auch geschieht. Dies gilt sowohl hinsichtlich derPrävention als auch für die Notfallplanung. Die Bundes-regierung sollte das Parlament in Anhörungen auf demlaufenden halten. Dies gilt vor allem für die Schwer-punktfelder, wie zum Beispiel Energieversorgung, Ver-kehr und Gesundheitswesen.Bei der Notfallplanung sind die Ministerien nicht umihre Aufgabe zu beneiden. Es handelt sich hier um einenschwierigen Balanceakt. Einerseits muß die Bevölke-rung auf die Gefahren aufmerksam gemacht werden,und zwar in weit umfangreicherem Maße, als dies bishergeschehen ist. Andererseits muß darauf geachtet werden,daß keine Panik entsteht. Deren Folgen könnten wo-möglich schlimmer sein als das eigentliche Computer-problem.Ich schlage vor, daß an alle Haushalte möglichst baldein detailliertes Informationspaket geschickt wird, indem auch Tips gegeben werden sollten, wie man sichvorbereiten kann. Es ist wohl selbstverständlich, daßdieses Schreiben in mehreren Sprachen verfaßt werdensollte.Darüber hinaus müssen vor Ort in den Kommunenmöglichst umfangreiche Notfallplanungen entwickeltwerden. Die USA, in denen eng mit der Bevölkerungkommuniziert wird, sind ein gutes Vorbild.Zweitens. Risikotechnologien mit ihren umfangrei-chen Gefährdungen müssen vermieden bzw. durchTechnologien ersetzt werden, bei denen sich Fehlfunk-tionen auf die Anlage begrenzen lassen. Dort, wo wiebei den Atomkraftwerken Altlasten vorhanden sind, mußmöglichst schnell ausgestiegen werden und bis zumAusstieg eine Risikominimierung stattfinden. Schon al-leine das Computer-2000-Problem zeigt die Notwendig-keit des Atomausstiegs.Sie von der CDU/CSU, die das Computerproblem2000 seit einigen Wochen ernst nehmen, können wert-volle Arbeit leisten, indem Sie einen Antrag stellen, dieAtomkraftwerke sicherheitshalber vom Netz zu nehmen.Für den Fall, das Sie dies nicht tun, bescheinigen Sie derBundesregierung, gute Prävention geleistet zu haben.
Andernfalls setzen Sie sich dem Verdacht aus, daß SieIhren heutigen Antrag selbst nicht ernst nehmen.Die Bundesregierung – so unsere Forderung – mußlückenlos und objektiv prüfen, ob alle sicherheitsrele-vanten Einrichtungen, wie Atomkraftwerke, Genlaborsund Chemiefabriken, ihre Jahr-2000-Fähigkeit nachge-wiesen haben. Im Falle von Defiziten ist eine Abschal-tung ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Zukünftig müssendie Systeme so gebaut werden, daß Datenfehler durchSicherungssysteme aufgefangen werden, die unabhängigvon der Informationstechnologie funktionieren.Wir sollten aus diesem Problem lernen, es ernst neh-men und unsere Risikovorsorge insgesamt in Form vonTechnikfolgenabschätzung vorantreiben.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die
Kollegin Angela Marquardt, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Die Uhrzeit paßt ein bißchen zu denvorliegenden Anträgen: Sie alle gucken schon ein biß-chen verschlafen drein.
Ich glaube, hier ist wirklich sehr viel verschlafen wor-den.Dennoch habe ich mich natürlich gefragt, warum Siediese Anträge gerade zu diesem Zeitpunkt stellen. Ichbin auf einen Satz in Ihren Anträgen gestoßen, der dasalles offenlegt. Ich zitiere kurz. Sie schreiben:Das „Jahr-2000-Problem“ beschäftigt die Öffent-lichkeit in zunehmendem Maße.Ich glaube, Sie haben hinter dem Vorhang Publikumvermutet, und haben sich gesagt: Wir führen jetzt einStück auf und bringen einen ziemlich verspäteten Antragein. Sie müssen einfach zugeben: Das ist in der vorherge-henden Legislaturperiode Ihr Ding gewesen. Sie hattendie Zeit, sich auf das Jahr-2000-Problem vorzubereiten.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als hättedie rotgrüne Regierungskoalition das Jahr 2000 erfun-den, als hätte es das vorher nicht gegeben. Diesen Vor-wurf müssen Sie sich einfach gefallen lassen; darankommt man nicht vorbei.
Hans-Josef Fell
Metadaten/Kopzeile:
4622 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Dennoch ist Ihr Anliegen natürlich insofern zu unter-stützen, als sich die Regierung umfassender als bishermit dem Jahr-2000-Problem beschäftigen sollte. Aber obdas durch neue und ausführliche Berichte oder durch dieEinberufung eines hochrangigen Verantwortlichen ge-währleistet wird, das halte ich doch für sehr fraglich. Esgibt eine interministerielle Task Force und einen Sach-verständigenkreis beim Bundeswirtschaftsministerium.Was es nutzen soll, wenn nun noch ein einzelner Ver-antwortlicher einen zentralen Koordinierungsstab bildet,leuchtet mir – ehrlich gesagt – nicht so richtig ein.Natürlich kann über das Ausmaß der technischenSchäden des „millennium bug“ nur spekuliert werden.Dennoch halte ich es für töricht und verantwortungslos,Panik zu verbreiten und so zu tun, als wären keine Vor-bereitungen getroffen worden.Eines ist mir allerdings bei beiden Anträgen aufge-fallen: Obwohl so wahnsinnig leidenschaftlich mit derBundesregierung ins Gericht gegangen wird, findet sichin Ihren Anträgen – Sie haben zwar darüber gesprochen– nicht ein Satz zur Haftung im Schadensfall. Diesscheint mir doch eines der zentralen Themen im Zu-sammenhang mit dem Jahr-2000-Problem zu sein. Na-türlich wird es rund um den Globus zu Ausfällen, zuStörungen und zu Schäden kommen, die dann aber im-merhin berechtigte finanzielle Forderungen zur Folgehaben. Nicht der zeitweise Ausfall von Technologie,sondern Regreßforderungen und Haftungsansprüche inMillionen- oder Milliardenhöhe sind die eigentliche Ge-fahr für die Wirtschaft.Dieses Problem taucht in Ihren Anträgen leider nichtauf. Mir ist auch klar warum: Das von Ihnen ausgesparteThema spricht auch die Computerbranche nicht so gernean. Es ist ein sehr heißes Eisen. Deshalb lenken Sie lie-ber den Blick auf die Bundesregierung. Aber eines mußman auch zugeben: Weder Kohl noch Schröder habendie Computer dieser Welt falsch programmiert.Nein, meine Damen und Herren, allein die vielen un-terschiedlichen Computersysteme machen es nötig, daßsich Hersteller und Vertreiber von Hard- und Softwaredezentral um Schadensbegrenzung bzw. um Schadener-satz kümmern. Normalerweise sind doch gerade sie dar-auf bedacht, die freie Wirtschaft vor dem Zugriff derPolitik zu schützen. Nun erklären Sie plötzlich hier denStaat bzw. die Bundesregierung zum Alleinverantwortli-chen des Jahr-2000-Problems.
Diesem billigen Populismus – oder sollte ich lieber vonLobbyismus sprechen – kann sich die PDS wirklichnicht anschließen.Trotzdem müssen auch Sie sich die Frage gefallenlassen, ob Ihre Vorsorge ausreicht. Der Fortschrittsbe-richt vom April dieses Jahres genügt nicht. Hier habenCDU/CSU und F.D.P. natürlich recht. Der im Oktobererscheinende Bericht muß mehr Einblicke gewähren.Nötig sind genaue Auskünfte über die Art und Weise derUnterstützung von Behörden durch Bund und Länder.Ein detaillierter Überblick über die Notfallplanungenmuß her.Eines ist auch klar: Für jeden einzelnen Jahr-2000-Schaden wird im neuen Jahr nach einem Verantwortli-chen gesucht werden. Wo immer der Bund haftbar ge-macht werden kann, wird dies sicherlich auch gesche-hen. Ich glaube, daß wir den größten „millennium bug“womöglich im nächsten Haushalt erleben werden.Danke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Axel Berg, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein halbes Jahrvor dem Jahrtausendwechsel haben Sie von der UnionIhren Antrag mit dem Titel „Jahr-2000-Problem in derInformationstechnik ernst nehmen“ in den Bundestageingebracht. Sie haben sich also entschieden, das Jahr-2000-Problem ernst zu nehmen. Es ist schön, daß dieUnion aus ihrem Dornröschenschlaf aufgewacht ist.
Das gilt natürlich auch für Sie, meine Damen und Her-ren von der F.D.P.-Fraktion. Sie haben letzten DienstagIhren Antrag „Jahr-2000-Problem – Unterstützung zurProblemlösung“ eingebracht. Ich bin froh, daß auch Siesich entschieden haben, unsere neue Regierung bei derBewältigung des Jahr-2000-Problems zu unterstützen.Immerhin bleiben Ihnen dafür noch gut 100 Tage Zeit.Ach, hätten Sie doch gemeinsam Ihre eigene alteRegierung schon vor drei, vor zwei oder wenigstens voreinem Jahr zum Jagen der Jahr-2000-Probleme getragen.Wenn Sie das geschafft hätten, dann wären wir mit derÜberprüfung der Systeme in Deutschland wohl inzwi-schen fertig.
Sie haben das Problem Y2K, wie man es nennt, überJahre hinweg in kaum nachvollziehbarer Weise ver-nachlässigt. Warnungen von SPD und Grünen – derKollege Fell hat dies vorhin schon gesagt; auch die„Frankfurter Rundschau“ hat in ihrem heutigen Leitarti-kel darauf hingewiesen – wurden von Ihnen nach demPrinzip Hoffnung ignoriert. So weit, so schlecht.Unser früherer Bundeskanzler dachte noch, die Da-tenautobahn habe vier Spuren und in der Mitte einenGrünstreifen. Dementsprechend wurde das Problem aufReferentenebene abgehandelt. Es sollte wohl wie soviele andere Probleme auch ausgesessen werden. Hierzupassen die Recherchen internationaler Consulting-Unternehmen, die Deutschland stets auf einem der hinte-ren Plätze im Ranking gesehen haben.Wenn die neue Bundesregierung nicht weit über deneigenen Bereich hinaus, also die Bundesverwaltung,gewaltig Gas gegeben hätte, dann müßten wir uns heutetatsächlich auf die Millenniumskrise einrichten.Angela Marquardt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4623
(C)
(D)
Staatssekretär Mosdorf hat sich ruck, zuck eingear-beitet und kann Ihnen nachher sicherlich ein ganzesBündel erfolgreich durchgeführter Maßnahmen zur Be-seitigung der „millennium bugs“ aufzeigen. Mosdorf istübrigens, Herr Uldall, der zentral Verantwortliche, denSie sich so sehr gewünscht haben.Auch international ist seit dem Regierungswechseleiniges geschehen. Natürlich sind nicht alle Länder glei-chermaßen gut auf den Jahrtausendwechsel vorbereitet.Ich schlage daher zur Notfallversorgung die Bildungeiner internationalen Y2K-Task-Force vor. Wir müsseneinfach alles versuchen, um die Versäumnisse der Kohl-Regierung aufzuholen.
Wie sieht es mit der Wirtschaft aus, und wie sieht esmit den Privatleuten aus? Ich denke, daß es grundsätz-lich nicht die Kernaufgabe einer Regierung ist, Ver-säumnisse von Herstellern eines Produkts auszubügeln.Wenn ein Bauteil in einem neuen Auto mißlungen ist,dann macht der Hersteller eine Rückrufaktion, nicht dieRegierung. Wenn Computer- und Chiphersteller ihreProdukte mangelhaft konstruieren, um Geld und Spei-cherkapazität zu sparen, sollte das gleiche gelten. Hierscheint die Pflicht zum Risikomanagement nicht sogroßgeschrieben zu sein. Es ist Bundeskanzler GerhardSchröder hoch anzurechnen, daß er gerade auf diesemGebiet eben nicht wie in den USA ein Gesetz zur Haf-tungsbegrenzung wegen Y2K initiierte.Verursacher des Problems ist weder die alte noch dieneue Regierung. Die Ursache liegt bei den Computer-und Chipherstellern, die bis vor wenigen Jahren Pro-dukte auf den Markt geworfen haben, die nicht millen-niumstauglich waren. Gleichwohl sieht die neue Bun-desregierung das Problem als übergreifende Herausfor-derung an und fungiert als eine Art Beschleuniger, auchwenn sie mit ihrem Informationsfeldzug nicht alle Arg-losen erreichen kann.Die Bundesregierung hat die Wirtschaft mit Y2Knicht alleine gelassen. Sie kann aber nicht für die Be-triebe, die das Problem – wie die alte Regierung auch –verschlafen haben, in Haftung genommen werden. DieBundesregierung muß in den verbleibenden Monatenverstärkt auf die neuralgischen Punkte der Wirtschaftachten. Leider haben einige mittlere und kleine Betriebeebenso wie einige Kommunen in der Bundesrepublikihre Programme und ihre betrieblichen Anlagen nichtausreichend auf das neue Jahrtausend vorbereitet unddas Thema ebenfalls zu spät angepackt.Auch die notwendige Information der Bevölkerungzur Sensibilisierung und zur Eigenvorsorge wurde ernst-haft erst unter der neuen Bundesregierung begonnen.Wir können davon ausgehen, daß es auf Grund der ge-troffenen Maßnahmen und der Aufklärungsarbeit zukeiner Y2K-Hysterie in Deutschland kommen wird. Esist nicht notwendig, wie die Amerikaner extra Lagerhäu-ser mit frisch gedrucktem Geld zu füllen, um die Wäh-rung vor einem Zusammenbruch zu schützen, wenn kurzvor Jahresende alle Sparer ihr Geld vom Sparkonto ab-heben wollen. Banken sind wie Versicherer und die mei-sten Großunternehmen bei uns gut vorbereitet, so daßwir hier keine Ausfälle befürchten müssen.Die Gefahr von panischem Verhalten oder vonAngstkäufen läßt sich nicht und niemals ausschließen.Hier tut die Bundesrepublik gut daran, die vertrauens-bildenden Maßnahmen fortzusetzen. Gegen Panik in derBevölkerung hilft nur eine umfassende, frühzeitige Auf-klärung. Das betonen Sie, geschätzte Kollegen von derCDU/CSU, in Ihrem Antrag. Die frühzeitige Aufklä-rung, von der Sie sprechen, haben Sie aber selbst ver-siebt. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Die neueBundesregierung ist dabei, die Informationsdefizite, dieSie zu verantworten haben, zu beseitigen und die Bevöl-kerung umfassend aufzuklären.
Der zweite Fortschrittsbericht der Bundesregierungkommt im Oktober sowieso. Dazu braucht die Bundes-regierung Ihren Antrag also nicht. Mit diesem Berichtwerden weitere noch bestehende Unklarheiten beseitigt.Wie wird es weitergehen? Die Spekulationen zumJahr-2000-Problem variieren zwischen „null problemo“und wild ausgemalten Katastrophen. Ich persönlich nei-ge nicht zur apokalyptischen Weltsicht. Die internatio-nalen Consultings sehen uns inzwischen als recht gutvorbereitet an.Vielleicht sind wir schon morgen ein bißchen schlau-er; denn der heutige 9. September, der 9.9.1999, könnteeinen kleinen Vorgeschmack auf den Jahrtausendwech-sel geben. Liest der Rechner das heutige Datum als9999, so kann er das als Befehl zur Beendigung des Pro-gramms deuten und abschalten.Ihr Antrag ist nicht schlecht, kommt aber viel zu spät.Ihr Antrag ist damit obsolet.Ich danke Ihnen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Berg,
auch für Sie war das die erste Rede im Plenum des
Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen beglückwünsche ich Sie dazu.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentari-
sche Staatssekretär im Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
S
Frau Präsi-dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst mußman einmal sagen, daß viele die Sorge hatten, daß schonam 9. September 1999 Zusammenbrüche stattfinden.
Dr. Axel Berg
Metadaten/Kopzeile:
4624 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
– Auch ich wollte das gerade sagen. Wir sollten an die-sem Abend zunächst einmal allen gratulieren, die andem heutigen Tag geheiratet haben.
Das wird sicher Glück bringen. Ich hoffe, daß Zusam-menbrüche vermieden werden. Aber das weiß man heuteja nie.Ein Zweites vorweg: 113 Tage sind es noch, lieberKollege Uldall – der Countdown läuft –, bis zu diesem31. Dezember 1999. Ich möchte gleich zu Beginn mei-ner Ausführungen sagen, daß es in unser aller Interesseist, wenn wir noch einmal an alle appellieren, das Pro-blem ernst zu nehmen und sich der Sache anzunehmen.Das gilt insbesondere für viele kleine mittelständischeUnternehmen, die – das merke ich auch in der Praxis beivielen Gesprächen – nicht täglich mit „embedded sy-stems“ zu tun haben und nicht immer wissen, was dasJahr-2000-Problem ist. Handwerksmeister haben andereSorgen und auch die Aufgabe, andere Probleme zu lö-sen. Das muß man verstehen. Wir schätzen, daß sichnoch 45 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmendamit schwertun. Wir appellieren auch an die Städte undGemeinden, dem Problem ernsthaft nachzugehen.Es ist aber schon richtig – ohne dies hier parteipoli-tisch zu wenden –, was die Kollegen Brinkmann, Bergund Fell hier festgestellt haben. Als wir Ende Oktober1998 vereidigt wurden und die Amtsgeschäfte über-nommen haben, haben wir innerhalb von fünf Wochen,also noch im alten Jahr, eine Bestandsaufnahme vorge-nommen. Vom Wirtschaftsministerium aus haben wirAnfang Dezember ein Spitzengespräch mit allen Bran-chen organisiert und dabei festgestellt, daß es noch eineReihe von Lücken gibt. Internationale Consultings hat-ten festgestellt, daß die Bundesrepublik DeutschlandMitte und Ende letzten Jahres in bezug auf dieses Pro-blem noch im letzten Drittel der sogenannten OECD-Volkswirtschaften lag. Inzwischen liegen wir im vorde-ren Drittel. Das reicht natürlich noch nicht, wir müssentrotzdem Tempo machen. Wir haben aber eine ganzeMenge gemacht. Wenn Sie sich in der Wirtschaft umhö-ren, stellen Sie auch fest, daß das so ist.Es ist aber auch klar, daß nach wie vor der alte Satzgilt: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Die Bun-desregierung ist nicht für jeden PC verantwortlich, son-dern dafür ist die Wirtschaft verantwortlich. Wir kön-nen der Wirtschaft nur raten, die Systeme umzustellen,und ein systematisches Monitoring organisieren. Dashaben wir getan, indem wir alle Branchen eingeladenund gefragt haben, wie es in der Energiewirtschaft, inder Telekommunikation, beim Flugverkehr, bei denBanken und Versicherungen und in anderen großenBranchen aussieht. Das haben wir nicht nur einmal imDezember letzten Jahres getan, sondern wir haben dasjedes Vierteljahr wiederholt. So konnten wir feststellen,daß bis jetzt erhebliche Fortschritte erzielt wurden.Die Energiewirtschaft hat übrigens – ich weiß nicht,wer es vorhin angesprochen hat – schon Simulationendurchgeführt und uns zugesagt, daß die Sicherheit derKernkraftwerke jetzt schon gewährleistet ist, die anderenKraftwerke untersucht werden und uns bis zum 1. Okto-ber ein Schlußbericht vorgelegt wird. Auch die Bankenund Versicherungen sind bei der Umstellung schon sehrweit vorangekommen. Das hat zum einen mit der Haf-tungsproblematik zu tun, aber auch damit, daß sie diesesProblem bei der Umstellung auf den Euro gleich mit er-ledigt haben. Deshalb ist diese Branche besonders weit.Man kann davon ausgehen, daß in der Telekommunika-tionsbranche viele mit neuen Systemen arbeiten; es istheute gang und gäbe, daß man dies zum Anlaß nimmt,neue Systeme anzuschaffen, damit man sich nicht mitalten Systemen das Millennium-Problem einfängt. Alldas ist festzuhalten; klar ist aber auch, daß es insbeson-dere bei kleineren und mittleren Unternehmen noch De-fizite gibt.Das ist übrigens der Grund für eine andere Initiative,die die Bundesregierung gestartet hat und bundesweitmit sogenannten 24 Kompetenzcentern intensiv fort-setzen wird, nämlich die Vorbereitung des Mittelstan-des auf „electronic commerce“. Um den Mittelstandund das Handwerk auf das Millenniumproblem vor-zubereiten, führen wir spezielle Trainingsprogrammedurch. Bei diesen Veranstaltungen zeigt sich, daß eineganze Menge an Informationen vermittelt werden undauch Aufmerksamkeit erzielt werden kann, so daß sichauch der Mittelstand jetzt auf diese Fragen vorbereitenkann.In der Bundesregierung gibt es eine klare Zusammen-arbeit mit dem Bundesinnenministerium. Herr Tauss hatvorher schon auf das BSI und auf viele andere Institu-tionen hingewiesen, die hilfreich sind und das Projektinsgesamt unterstützen. Das Bundesinnenministeriumkümmert sich intensiv darum. Wir machen das auch zu-sammen mit den anderen Bundesressorts und den nach-geordneten Behörden. Wir haben vor wenigen Tagen einSpitzengespräch mit dem Landkreistag, dem Städtetagund dem Gemeindetag geführt und haben auch nocheinmal darauf hingewiesen, welche Probleme es beikleineren Gemeinden gibt.Aber eines ist völlig klar: Die Bundesregierung kannin dem Bereich, in dem sie nicht unmittelbare Verant-wortung trägt, nur Tempo machen und versuchen, einMonitoring-Verfahren so einzuleiten, daß wir genauwissen, wie der Stand in der jeweiligen Branche ist. Die-ses Monitoring werden wir fortsetzen. Wir werden be-reits Anfang Oktober wieder mit den Branchen zusam-mensitzen und entsprechend nachfragen, wie der Standder Dinge ist, so daß ich davon ausgehe, daß das Tempodeutlich erhöht werden kann und wir mit dem Problemeinigermaßen fertig werden.Es ist schon so – wie es auch angeklungen ist –, daßdie alte Bundesregierung mit dem Problem etwas lockerumgegangen ist. Das wissen auch Sie, Herr Uldall. Das,was Sie heute kritisch angemerkt haben, nehme ich ger-ne auf. Aber Sie hätten natürlich ein bißchen früher andiesen Themen arbeiten können. Denn es ist sehr wohlwahr, was eben auch Herr Berg gesagt hat: Das Pro-blem, daß das Jahr 2000 kommt, war für jeden absehbar.Dafür muß er nicht besonders fortschrittlich sein. Der31. Dezember 1999 war für jeden sichtbar. Andere Re-gierungen haben da sehr viel Tempo gemacht.Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4625
(C)
(D)
Nun muß ich allerdings auch sagen – irgendeiner hatgesagt, wir sollten die USA als Vorbild nehmen –: Mansollte es auch nicht übertreiben. Vor wenigen Tagen ha-ben wir gehört, daß auch das Weiße Haus noch nichtJahr-2000-fähig ist, obwohl Bill Clinton der Beauftragteist. Man muß also genau hinschauen. Es gibt sehr vieleDinge, die man sich genau ansehen muß. Da gibt esschon noch Probleme, die man bewältigen muß. Mankann nicht nur Beauftragte benennen, sondern muß sichauch intensiv mit der Sache beschäftigen.Aber eines ist mir aufgefallen, als ich neulich wiedereinmal in der Downing Street war: Da, wo Tony Blair aufdem Schreibtisch seinen PC stehen hat, hatte Helmut Kohlfrüher das Aquarium stehen. Es ist schon so: Das Bewußt-sein, daß es bei der Umstellung der Computer Problemegibt, war nicht so ausgeprägt. Das wissen auch Sie.Wir kümmern uns jetzt sehr intensiv um die Lösungder Probleme. Wir kümmern uns sehr intensiv darum,daß das Land auf das Jahr 2000 vorbereitet ist. Im übri-gen möchte ich alle Kolleginnen und Kollegen herzlicheinladen, den 31. Dezember mit mir zusammen im Kri-senstab zu verbringen, ganz nach der Devise: In Tokiobeginnt das neue Jahr schon neun Stunden früher; wirwollen einmal sehen, was da los ist.
Entsprechend werden wir dann auch die Lösung derProbleme angehen.Spaß beiseite: Wir machen Tempo. Wir müssen nochviel Aufklärungsarbeit leisten. Wir bitten Sie, daran mit-zuwirken. In diesem Sinne verstehe ich auch die Anträgeder Fraktionen.Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Die Vorlagen auf den Drucksachen 14/1334 und
14/1544 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-
rung der außergerichtlichen Streitbeilegung
– Drucksache 14/980 –
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 14/1306 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Dr. Wolfgang Frhr. von Stetten
Rainer Funke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol-
leginnen und Kollegen Alfred Hartenbach, Dr. Wolf-
gang Freiherr von Stetten, Volker Beck, Rainer Funke,
Dr. Evelyn Kenzler sowie die Bundesministerin Däub-
ler-Gmelin geben ihre Reden zu Protokoll.*)
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall, mit einem geringen Bedauern aus den Reihen
der SPD-Fraktion.
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung der außer-
gerichtlichen Streitbeilegung, Drucksachen 14/980 und
14/1306. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstim-
mig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung
– Drucksache 14/1515 –
Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
SPD-Fraktion der Kollege Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Jahre und Jahrzehnte dominierte einPrinzip den gesellschaftlichen Umgang mit Drogen: „Eskann nicht sein, was nicht sein darf“, so hieß es immerwieder. Jahre und Jahrzehnte vergingen damit, daß –ohne daß das Problem kleiner wurde – weiter nach die-sem Prinzip verfahren wurde.Die Probleme sind nicht nur nicht kleiner, sie sindschwieriger geworden. Ich behaupte: Die ideologischeFixierung auf Strafverfolgung nicht nur von Drogen-händlern – diese finden wir richtig –, sondern auch vonabhängigen Konsumenten hatte fatale Folgen. Ich willsogar sagen: Dieses Prinzip ist mitverantwortlich für denTod vieler Menschen, weil es in ignoranter Verblendungmißachtete, daß Abhängigkeit eine Krankheit ist und––––––*) Anlage 2Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
Metadaten/Kopzeile:
4626 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
somit in erster Linie in den Bereich der Gesundheits-politik und erst in zweiter Linie in den Bereich der In-nen- und Rechtspolitik gehört. Die einseitige Fixierungauf Repression hat abhängige Menschen kriminalisiertund so noch mehr an den Rand der Gesellschaft getrie-ben, mit, wie gesagt, zum Teil tödlichen Folgen.Der von uns heute vorgelegte Gesetzentwurf ist Teileiner neuen Drogenpolitik und trägt einem schon vorvielen Jahren begonnenen Prozeß des Umlernens Rech-nung. Dieses Gesetz schafft vor allen Dingen eines:Rechtssicherheit für den Betrieb von Drogenkonsum-räumen, die im allgemeinen Sprachgebrauch als soge-nannte Fixerstuben bekannt sind. Diese Einrichtungen,die von mutigen Kommunen wie Frankfurt am Main undder Freien und Hansestadt Hamburg in der ersten Hälfteder 90er Jahre eingerichtet wurden, haben zunächst einZiel: Sie leisten Überlebenshilfe für Abhängige. Sie er-möglichen durch ein niedrigschwelliges Angebot denZugang von Drogenabhängigen zu medizinischer Ver-sorgung und eröffnen hygienisch einwandfreie Bedin-gungen. Die Alternativen zu solchen Einrichtungen sinddurch die schockierenden Folgen auch einer breiterenÖffentlichkeit bekannt. Bilder von toten Junkies aufBahnhofstoiletten, Infektionen mit Hepatitis B oder HIVund vieles andere mehr sind uns allen vor Augen.Daß Drogenkonsumräume hier ein wirksames Mittelder Überlebenshilfe sind, beweisen ganz einfach auchdie Zahlen: 1991 starben in Frankfurt am Main 183Menschen im Zusammenhang mit dem Konsum illegalerSubstanzen. Nach der Einrichtung von Drogenkonsum-räumen und dem verstärkten Einsatz von Substitutions-möglichkeiten sank diese Zahl auf 44 Fälle im Jahr1995.Wir schaffen mit unserem Gesetz vor allen DingenRechtssicherheit für die bestehenden Einrichtungen unddie dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die bisheroftmals zumindest in einer rechtlichen Grauzone gear-beitet haben. Wir eröffnen zudem durch eine bundesein-heitliche Rahmenvorschrift den Landesregierungen dieMöglichkeit, über nähere Regelungen im Rahmen ihrerKompetenz zusätzliche solcher Einrichtungen zu ge-nehmigen.
– Das ist einfach eine Tatsache. So mitreißend war dasnoch nicht. Aber das kommt noch.Ich persönlich hätte mir – das sage ich sehr deutlich –durchaus eine einfachere Regelung vorstellen können,nach der für Mitarbeiter der Drogenhilfe über einerechtliche Klarstellung eine Entkriminalisierung ihrerpraktischen Überlebenshilfe abgesichert worden wäre.Wenn wir allerdings einen anderen Weg wählen, derauch eine Reihe von Standards für den Betrieb von Dro-genkonsumräumen regelt, dann auch deshalb, weil wirjenseits von Parteigrenzen – möglichst zusammen mitvielen Bundesländern – einen Konsens zum Betrieb vondiesen Einrichtungen schaffen wollen.Weitere Regelungen des Gesetzes betreffen vor allemdie Einrichtung eines Substitutionsregisters – eigent-lich eine Selbstverständlichkeit. Mit Beschluß vom 19.Dezember 1997 hat das der Bundesrat in einer Ent-schließung schon einstimmig gefordert.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich habeeingangs ausgeführt, daß wir mit diesem Gesetz einegrundsätzliche Wende in der Drogenpolitik einleitenwerden. Das heißt nicht, daß wir von den schon bishererfolgreich praktizierten Therapiemöglichkeiten Abstandnehmen werden. Es gibt unzählige Wege in die Drogen-abhängigkeit, es muß daher auch möglichst viele Wegeaus der Abhängigkeit geben.Dazu zählen wir nicht nur die Substitution und dieneuen Wege wie den von uns initiierten Modellversuchzur Originalstoffabgabe an Schwerstabhängige, sondernselbstverständlich die gesamte Palette von niedrig-schwelligen Hilfen bis hin zur abstinenzorientiertenLangzeittherapie. Wir werden auch im Bereich der Poli-zei und Justiz weiterhin dafür kämpfen, daß diejenigen,die sich auf Kosten von Drogenabhängigen durch eindreckiges Geschäft bereichern, mit aller Härte des Ge-setzes verfolgt werden.Aber, meine Damen und Herren, das ist der Unter-schied: Wir wollen nicht die Menschen, die krank sind,kriminalisieren, sondern diejenigen, die sich auf Kostendieser Menschen bereichern.
Dabei wollen wir auch auf historische Erfahrungenbauen. Es wird immer wieder – ich finde, zu Recht – aufdie Erfahrungen mit der Alkoholprohibition in den 20erJahre in den USA verwiesen. Ich finde, das ist ein gutesBeispiel, wenn man sich vor Augen hält, daß 1932 derdamalige US-Präsident Hoover erklärte:Der Kampf gegen den Alkohol ist mit der Prohibi-tion zu gewinnen. Wir brauchen nur härtere Geset-ze, mehr Polizei und mehr Gefängnisse.Ein Jahr später wurde das Alkoholverbot vom Nach-folgepräsidenten Franklin D. Roosevelt aufgehoben.Diese Entscheidung war mithin ein wichtiger Schlag ge-gen das organisierte Verbrechen und hat die fatalen Fol-gen des unkontrollierbaren, von den Bedingungen desSchwarzmarkts bestimmten Konsums von Alkohol starkreduziert.Jeder weiß, was damals passiert ist: Trotz des Ver-botes, vielleicht sogar wegen des Verbots wurde gesof-fen wie noch nie. Es gab Alkoholschmuggel und vor al-len Dingen Schwarzbrennereien, was dazu geführt hat,daß Menschen erblindeten, weil sie Methylalkohol ge-trunken hatten, und vieles andere mehr. Das alles warenFolgen eines Schwarzmarktes, der bewußt geschaffenwurde.Ich will Alkohol nicht mit Opiaten gleichsetzen. Wirwissen, daß beides psychoaktive Substanzen sind. Wirwissen aber auch, daß es in der Wirkung Unterschiedegibt. Das Prinzip, meine Damen und Herren, ist aberdasselbe.
Hubertus Heil
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4627
(C)
(D)
– Der Schwarzmarkt bleibt bestehen. Vielleicht helfenSie uns, ihn zu reduzieren. Ich sage ja, wir unternehmeneinen ersten Schritt.Die Erfahrungen sollten uns jedenfalls nachdenklichmachen. Ich muß ganz deutlich sagen: Vor allen DingenÄußerungen bayerischer CSU-Kollegen bringen mich zuder Überzeugung, daß sie bisher aus diesen Erfahrungennichts gelernt haben.
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren von der CSU –ich weiß nicht, ob noch jemand von der CSU da ist –,nicht unterstellen, daß Sie ein Alkoholverbot durchset-zen wollen, das kann man Ihnen wirklich nicht nachsa-gen. Sie glauben aber offensichtlich immer noch, daßman mit repressiven Mitteln und bunten Werbekampag-nen allein das Problem des illegalen Drogenkonsums inden Griff bekommen kann.Ich setze darauf, daß in allen Parteien die Vernunft inder Drogenpolitik die Oberhand gewinnt. Die Politikder Frankfurter CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth,Äußerungen des zukünftigen saarländischen CDU-Ministerpräsidenten Müller und Forderungen unseresAbgeordnetenkollegen Hermann Kues deuten in dieseRichtung. Wie gesagt: Die Hoffnung ist da, allein derGlaube fehlt mir im Moment noch.Mir ist egal, aus welcher Motivation heraus sich Ver-nunft in der Drogenpolitik durchsetzt: ob aus christlicherNächstenliebe, humanitärer Gesinnung oder ausschlichter pragmatischer Einsicht in das Notwendige.Ich versuche, es einmal mit dem Altbundeskanzler Hel-mut Kohl zu beschreiben, der so treffend formulierte:„Wichtig ist, was hinten rauskommt.“ Ich sage, es istnicht immer alles richtig, was hinten rauskommt. Aberim Ernst, meine Damen und Herren: Ich bin mir sicher,daß neue Wege in der Drogenpolitik konkrete Hilfe fürdie Betroffenen bieten werden.Ich appelliere deshalb an die Kolleginnen und Kolle-gen aller Fraktionen: Lassen Sie uns das Thema in Ruhemiteinander besprechen! Widerstehen Sie der Versu-chung, mit der Drogenpolitik auf dem Rücken der Be-troffenen einen billigen Wahlkampf zu führen, wie Siedas beispielsweise mit dem Staatsangehörigkeitsrechtvollbracht haben! Ich lade alle Vernunftbegabten in Sa-chen Drogenpolitik ganz herzlich zu Gesprächen übereinen drogenpolitischen Grundkonsens ein. Ich haltediesen für wichtig, weil wir nur gemeinsam im Interesseder Abhängigen und Konsumenten vorankommen kön-nen. Ich denke schon, daß das Thema Drogenpolitik vonder tagespolitischen Konjunktur getrennt werden muß. Ich bitte Sie deshalb, dem vorliegenden Gesetzent-wurf zunächst die Möglichkeit der parlamentarischenBeratung zu eröffnen, ihn dann weiterhin mit uns in denparlamentarischen Beratungen zu qualifizieren und ihmanschließend zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir haben heute den
Tag der Premieren. Herr Kollege Heil, auch für Sie war
das die erste Rede im Plenum des Deutschen Bundes-
tages. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
spreche ich Ihnen den herzlichsten Glückwunsch aus!
Beinahe sprachlos hat mich gemacht, daß Sie sage und
schreibe vier Minuten Redezeit nicht gebraucht haben.
Leider kann ich sie Ihnen nicht für die kommenden De-
batten gutschreiben. Aber ein Extrakompliment an Sie,
daß Sie uns den Feierabend ein Stückchen nähergerückt
haben!
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist
der Kollege Hubert Hüppe.
Frau Präsidentin! Mei-ne Damen und Herren! Bald ein Jahr ist nun die rotgrüneBundesregierung im Amt. Seitdem werden uns in derDrogenpolitik immer wieder neue Wege versprochen;auch der Kollege Heil hat eben solche Versprechen ge-macht. Dabei wurde und wird stets argumentiert, daß dieunionsgeführte Regierung mit ihrer Drogenpolitik ge-scheitert sei. Das ist eine Behauptung, die ich nicht tei-len kann und die eigentlich auch Frau Nickels nicht tei-len kann; denn sie schrieb im März dieses Jahres in ih-rem Drogenbericht, daß Deutschland nach Finnland diegünstigsten Zahlen aufweist, was Heroinkonsum angeht.Wir sind also in Europa die zweitbesten derer, bei denenman die Zahlen vergleichen kann. Dann kann die Dro-genpolitik der Vorgängerregierung nicht so schlecht ge-wesen sein. Wenn man sich angesichts dessen aber Län-der, die wesentlich schlechtere Zahlen aufweisen, zumVorbild für neue Projekte nimmt, verwundert mich dies.
– Nein, diese Zahlen stammen ja aus Ihrem Ministerium,und ich glaube nicht, Herr Kollege Heil, daß Sie IhrerStaatssekretärin in dieser Frage nicht trauen.Zieht man heute nach fast einem Jahr eine drogenpo-litische Bilanz, muß sie leider sehr mager ausfallen. Bis-her rühmt sich die Regierung damit, daß die Position derDrogenbeauftragten nun zum Gesundheitsministeriumund nicht mehr wie bisher zum Innenministerium ge-hört. Das ist übrigens eine Maßnahme, die ich immer be-fürwortet habe.
Aber ich muß auf der anderen Seite sagen, daß dies eherein symbolischer Akt ist, der weder der Prävention nochdem Junkie auf der Straße hilft.Die erste konkrete Maßnahme, die wir erleben durf-ten, war, daß man sich aus der Aktion „Keine Macht denDrogen“ zurückgezogen hat, um Geld zu sparen.
Darüber hinaus ist Ende Juli eine neue Broschüre mitüber 70 Seiten erschienen, die neben einem InterviewHubertus Heil
Metadaten/Kopzeile:
4628 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
mit Frau Nickels, dem bereits vorher bekannten Drogen-und Suchtbericht 1998, einigen leeren Seiten für Notizenund einigen Allgemeinplätzen nichts Neues enthält.Heute liegt uns nun der erste Gesetzentwurf der rot-grünen Bundesregierung zur Drogenpolitik vor, mit demdas Betäubungsmittelgesetz geändert werden soll. Die-ses Änderungsgesetz soll einerseits die rechtliche Absi-cherung von sogenannten Drogenkonsumräumen undandererseits die Verbesserung der Substitutionspraxisbewirken.Meine Damen und Herren, ich begrüße an dieserStelle ausdrücklich, daß die Bundesregierung offen-sichtlich den Willen hat, die Substitutionspraxis mehrin den Griff zu bekommen. Die dramatische Zunahmeder Todesfälle im Zusammenhang mit Methadon – manmuß sagen, daß die Zunahme der Gesamtzahl der Dro-gentoten im letzten Jahr fast ausschließlich auf dieseTodesfälle zurückzuführen ist –,
der offensichtlich immer größer werdende Schwarz-markt in diesem Bereich und vor allem die fehlendepsychosoziale Begleitung der Patienten machen dieNotwendigkeit neuer Regelungen deutlich.Daher sind wir bereit, die Einführung der Pflicht zurMeldung von Methadonpatienten zu unterstützen undsomit Mehrfachverschreibungen zu verhindern. Dies giltnatürlich auch für Maßnahmen, die dazu führen, daßSubstitutionsmittel nur noch von dafür besonders quali-fizierten Ärzten verschrieben werden.Ich gebe zu, daß die Vorgängerregierung in diesemBereich Fehler gemacht hat; auch das gehört zur Ehr-lichkeit. Wenn man wirklich die Menschen im Blick hat,muß man solche Fehlentwicklungen analysieren undÄnderungen auch dann zustimmen, wenn sie von eineranderen Regierung vorgenommen werden.
Schwieriger wird es beim Thema Legalisierung vonsogenannten Drogenkonsumräumen. Ziel dieser Räu-me soll laut der oben erwähnten Drogenbroschüre sein,Kontakte zu Abhängigen zu bekommen, um damit Wegezu einer Therapie und einem drogenfreien Leben zu er-öffnen. Ich bezweifle überhaupt nicht, daß die An-tragsteller dieses Ziel haben, nur hat es mit der Realitätwenig zu tun. Wer sich die bereits existierenden Räume– ich habe dies getan – zum Beispiel in Frankfurt undanderswo anschaut, der weiß, wie hektisch es dort zu-geht. Diese Hektik wird noch dadurch erhöht, daß derAufenthalt in Fixerstuben häufig zeitlich begrenzt ist.Eine Beratung der Abhängigen ist schon deswegenfast unmöglich, weil vor dem Druck – das ist ganz na-türlich – die Gier nach der Droge im Vordergrund stehtund weil nach dem Druck unter dem Einfluß der Drogekaum mehr Ansprechbarkeit besteht. Nicht zuletzt des-wegen wird in Frankfurt ja auch kaum mehr der Aus-stieg aus der Sucht als Ziel der Fixerstuben genannt.Vielmehr wird das ordnungspolitische Interesse, näm-lich die Junkies von den Geschäften wegzuhalten, in denVordergrund gestellt. Dagegen ist erst einmal nichts ein-zuwenden. Aber zur Ehrlichkeit gehört, daß man damitauch zugibt, daß dies wenig mit Gesundheitspolitik zutun hat.Da ich gerade bei dem Punkt Ehrlichkeit bin, kannich Frau Nickels nicht die Kritik ersparen, daß sie Dro-gentotenzahlen willkürlich für ihre Argumentation be-nutzt. Diese Zahlen sind gerade auch vom Kollegen Heilerwähnt worden. Sie sagt in einer Pressemitteilung vom28. Juli 1999, daß aus der Erfahrung etwa der StadtFrankfurt bekannt ist, daß erst die Substitution und dieEinrichtung der Drogenkonsumräume die hohe Zahl derDrogentoten zu Beginn der 90er Jahre drastisch gesenkthätten.Für Frankfurt wird die Zahl der Drogentoten für 1991mit 183 – diese Zahl wurde ja schon genannt – und für1995 mit 44 angegeben. Tatsache ist aber, daß bereitsbis 1994 die Zahl auf 43 Todesfälle gesunken ist. Die er-ste Fixerstube ist aber erst im November 1994 einge-richtet worden. Wahr ist auch, daß der drastische Rück-gang der Zahl der Todesfälle vom Jahr 1992 auf das Jahr1993 zu verzeichnen war. Dieser Rückgang von 124 auf63 Fälle kam zeitgleich mit den sogenannten Rückbil-dungsmaßnahmen der offenen Drogenszene im Novem-ber 1992. Das heißt: Nicht die Fixerräume haben denRückgang der Todeszahlen verursacht, sondern vor al-lem die repressive Vertreibungspolitik in Frankfurt.Wahr ist darüber hinaus auch, daß die Zahlen inFrankfurt im letzten Jahr wieder gestiegen sind. Auch inHannover hat sich die Zahl der Todesfälle nach Ein-richtung der Fixerstuben um ein Drittel erhöht. Ich be-haupte nicht, daß diese Entwicklung etwas mit diesenEinrichtungen zu tun hat. Aber das Gegenteil zu be-haupten, wie es in dieser Broschüre und gerade auch vonIhnen, Herr Heil, getan worden ist, halte ich für unseri-ös.Sieht man sich nun konkret den Gesetzentwurf an,der angeblich Rechtsklarheit schaffen soll, so stellt mansehr schnell fest, daß eher das Gegenteil erreicht wird.Die Bundesregierung will sich nicht nur aus der Finan-zierung der Fixerstuben heraushalten – es sollen alleinedie Länder und Kommunen zahlen –, sondern sie schafftmit ihren vagen Formulierungen eher Rechtschaos. Eswird noch nicht einmal definiert, welche Drogen zu-künftig in diesen Räumen genommen werden dürfen.Alles ist möglich: von Cannabis bis Crack.Die Landesregierungen sollen zukünftig entscheiden,wer was und unter welchen Umständen konsumierendarf. Zwar werden sogenannte Mindeststandards auf-gelistet, diese sind aber so dehnbar, daß selbst studenti-sche Hilfskräfte nach einer Einweisung und zweiwöchi-ger Grundausbildung mit einem Telefonanschluß dieVoraussetzungen erfüllen könnten, wenn die Länderkeine höheren Anforderungen stellen.Nach diesen Standards bleibt es jedem Land vonHamburg bis Nordrhein-Westfalen selbst überlassen, obzum Beispiel ein Methadonpatient oder ein Minderjähri-ger Zutritt hat. Es kann also sein, daß ein 17jähriger inHamburg Zugang hat, in Niedersachsen jedoch nicht,oder daß ein 20jähriger in Niedersachsen Heroin undKokain als Cocktail spritzen kann, in Hamburg aber le-Hubert Hüppe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4629
(C)
(D)
diglich Heroin. Das würde einen drogenpolitischen Flik-kenteppich schaffen. Dies verwundert um so mehr, weildie Bundesregierung ja bundeseinheitliche Regelungenzum Beispiel bezüglich des Besitzes einer geringenMenge Cannabis schaffen möchte. Aber hier schafftman genau das Gegenteil. Bei der allgemeinen Kassen-lage läßt sich leicht voraussagen, daß die Gemeinsam-keit der bundesdeutschen Fixerstuben das minimale Be-gleit- und Beratungsprogramm sein wird.Auch die Forderung des Gesetzentwurfes nach Do-kumentation und Evaluation ist in keiner Weise ausge-führt. Eine reine Besucherstatistik würde diesem Krite-rium bereits genügen.Alles in allem entsteht bei mir der Eindruck, daß esnur darum geht, die Szene zu überdachen, ganz nachdem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“. Das istmeiner Meinung nach eher die Verabschiedung voneinem drogenpolitischen Gesamtkonsens, den Sie ja ge-rade noch eingefordert haben.Es bleibt die Frage, wie und zu welchen Lasten dem-nächst diese Räume finanziert werden. Ich erinnere indiesem Zusammenhang an das spektakuläre Urteil vonHalle, durch das im Juli eine drogensüchtige Frau voneiner Haftstrafe verschont blieb mit der Begründung derRichterin, daß im Süden Sachsen-Anhalts in Gefängnis-sen wegen Geldmangels keine Betreuung von Drogen-kranken mehr erfolgen kann.Wieso sollen unter hohem finanziellem Aufwand Fixer-stuben eingerichtet werden, um angeblich anders nichterreichbare Süchtige zu erreichen, wenn gleichzeitigrund um die Uhr erreichbaren Häftlingen die Betreuunggestrichen wird?
– Nein, nein, es gibt Hunderte und Aberhunderte Men-schen, die in Gefängnissen sind, nicht weil sie wegenDrogenbesitzes dort hineingekommen sind, sondern weilsie Beschaffungskriminalität verübt haben. Ich denke, eswäre sehr gut, sie dann, wenn sie erreichbar sind, zu-mindest zu beraten, wenn man auf der anderen SeiteHunderttausende von Mark für solche Räume ausgebenwill.Meine Damen und Herren, statt auf Drogenakzeptanzsetzen wir weiter auf differenzierte Hilfe. Wir wollenWege aus der Sucht ausbauen, die vom niedrigschwelli-gen Bereich bis zur qualifizierten Therapie und An-schlußrehabilitation reichen. Statt suchterhaltenderMaßnahmen setzen wir auf Heilung, auch wenn diesschwieriger, teurer und nicht so medienwirksam ist. Wirstreben ein klares Ziel an. Wir wollen niemanden aufge-ben. Das ist wirklich humane Drogenpolitik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin Chri-
sta Nickels, Sie haben das Wort für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Her-ren! Herr Hüppe, ich traue meinen Ohren nicht. Ich binschon in der vierten Legislaturperiode hier in diesemParlament, und ich habe noch nie eine Rede von Ihnenzum Bereich Drogen- und Suchtpolitik gehört, die der-maßen moderat war.
Ich finde, das ist ein großer Erfolg, ich glaube auch vonzehn, elf Monaten neuer Bundesregierung. Das freutmich sehr, und ich denke, daran kann man bei allem,was Sie einem da sonst noch unterjubeln wollen, an-knüpfen. Wir haben an anderer Stelle, zum Beispiel imAusschuß, Gelegenheit, das einmal geradezurücken. Ichhabe jetzt nur sechs Minuten Redezeit.Hier geht es nicht darum, die gesamte Palette derDrogen- und Suchtpolitik zu betrachten, und es gehtauch nicht um einen Rechenschaftsbericht über zehnMonate Drogen- und Suchtpolitik der Bundesregierung,den ich gern hier im Parlament an dieser Stelle gebenwürde, sondern es geht um einen einzigen Bereich.Seit Jahren besteht ein dringender Handlungsbedarffür die Gruppe von schwer beeinträchtigten Opiatab-hängigen, die von den verschiedenen Therapie- und Hil-feangeboten und von niedrigschwelligen Hilfeangebotennicht erreicht werden. Diese Menschen leben in einemTeufelskreis von Abhängigkeit, Beschaffungskriminali-tät und sozialer und gesundheitlicher Verelendung. Soist gerade diese Gruppe von den Begleiterkrankungen,wie zum Beispiel Hepatitis und HIV, schwer betroffen.Das Anliegen der Schadensminimierung wird da-durch noch dringlicher, daß die offizielle Zahl der Dro-gentoten in diesem Jahr vom 1. Januar 1999 bis zum 31.Juli 1999 auf 963 Fälle angestiegen ist. Im Vergleichs-zeitraum des Vorjahres wurden 879 Fälle bekannt, unddas war auch schon ein Anstieg. Die Zahl steht für un-sägliches Leid und fordert uns auf, für diesen betroffe-nen Kreis die Prävention, die Hilfe, aber auch die Scha-densminimierung stärker als bisher in den Vordergrundzu rücken.Herr Hüppe, hier redet keiner davon, daß dieser Ge-setzentwurf und diese Maßnahme der Überlebenshilfeder Königsweg seien, sondern es handelt sich hier ganzeinfach um einen bisher in der Drogenhilfe fehlenden,aber wichtigen Baustein, für den wir mit dem nunmehrvorliegenden Dritten Gesetz zur Änderung des Betäu-bungsmittelgesetzes die rechtlichen Voraussetzungenschaffen.Aus Erfahrungen etwa der Stadt Frankfurt – das wur-de hier auch schon gesagt – ist bekannt, daß erst mit Hil-fe der Stubstitution und der Einrichtung von Drogen-konsumräumen – hier ist der Gesamtkontext zu sehen,Herr Hüppe – in den 90er Jahren eine deutliche Reduzie-rung der Zahl der Drogentoten zu erreichen ist.
Die Auswirkungen sind so überzeugend, daß die bislangvertretene These, die auch Sie bis Anfang dieses Jahresimmer noch öffentlich verkündet haben, dieser schwerbetroffenen Gruppe könne erst dann geholfen werden,Hubert Hüppe
Metadaten/Kopzeile:
4630 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
wenn sie ganz am Boden liege, unterlassener Hilfe-leistung gleichkommt. Diesen Menschen müssen wirhelfen, auch mit diesem noch fehlenden Baustein, unddürfen ihr Schicksal nicht erst dann beklagen, wenn siein der Drogentotenstatistik auftauchen.
Ich halte deshalb die rechtliche Absicherung der Dro-genkonsumräume für eine unerläßliche Aufgabe, um dieGesundheitsgefahren bis hin zu Todesrisiken für dieseGruppe intravenös Drogenabhängiger zu verringern. Die-se Gefahr erhöht sich aktuell durch den gestiegenenMischkonsum. Das ist eine neu auftretende Problematik,die uns vor neue und sehr große Herausforderungen stellt.Außerdem muß endlich Schluß damit sein, Herr Hüp-pe, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Dro-genhilfeeinrichtungen mit einem Bein im Gefängnis ste-hen, wenn sie Überlebenshilfe leisten.
In diesem hochsensiblen Bereich wurde bei der Erar-beitung des Gesetzentwurfes ein intensiver Dialog mitden Fachverbänden, allen Bundesländern und Städtengeführt. Deren Bedenken und Vorschläge wurden auf-genommen. Darum enthält der Gesetzentwurf zehnMindestvoraussetzungen. Darum sind die notwendigengesundheitlichen Voraussetzungen in den Gesetzentwurfgeschrieben worden. Er ist aber etwas unkonkreter ge-worden, weil die Bundesländer, teilweise auch CDU-geführte Bundesländer, einen ausreichenden Spielraumhaben wollten. Wir haben die Bedenken und Vorschlägeaufgegriffen, weil uns daran gelegen ist, diesen Gesetz-entwurf in einem möglichst breiten Konsens durchzu-bringen. Wir haben diesen grundsoliden Gesetzentwurfalso gründlich vorbereitet.Zu den zehn Mindestanforderungen gehören unteranderem die zweckdienliche sachliche Ausstattung, dieGewährleistung medizinischer Notfallversorgung, Be-ratung zur Risikominderung, Vermittlung von weiter-führenden Beratungs- und Therapieangeboten – alle Ex-perten in Konsumräumen sagen, daß die Gelegenheitvon Betroffenen genutzt wird und Weitervermittlungimmer schon möglich war –, die Vorhaltung qualifi-zierten Personals
und verbindliche Formen der Zusammenarbeit mit derPolizei und den Behörden.Die Befürchtung, daß Einsteiger durch Drogenkon-sumräume zu regelmäßigem Konsum verführt werdenkönnten, ist durch die Erfahrung klar widerlegt. Einstei-ger oder Nichtkonsumenten lassen sich in Drogenkon-sumräumen schon heute nicht blicken. Denn dort zeigtsich in aller Deutlichkeit das Elend der zur offenen Sze-ne gehörenden opiatabhängigen Menschen. Das gehteinem an die Nieren; das hält ein gesunder Mensch sehrschwer aus. Der Gesetzentwurf legt darüber hinaus fest,daß Erst- und Gelegenheitskonsumenten nachprüfbarkeinen Zugang zu Drogenkonsumräumen haben dürfen.Die Zusammenarbeit von Polizei, kommunalen Be-hörden und den Vereinen der Drogen- und Aidshilfe hatbereits bei den bestehenden Drogenkonsumräumen zumehr öffentlicher Sicherheit in den betroffenen Städtenfür Anwohner und Betroffene geführt. Der vorliegendeGesetzentwurf fördert diese Partnerschaft, weil verbind-liche Mindestvoraussetzungen festgeschrieben werden.In den Regelungen der Landesregierungen kann dieskonkretisiert werden.Der Gesetzentwurf stellt klar, daß der von einer Lan-desregierung genehmigte Betrieb eines Drogenkonsum-raums und die damit zusammenhängenden Tätigkeitendes Personals keine Straftaten sind. Das steht voll imEinklang mit dem internationalen Suchtstoffrecht, washier unter anderem von Frau Ministerin Stamm in Fragegestellt wurde. Dieses Suchtstoffrecht räumt den Staatenausdrücklich ein, daß ihre nationalen Drogengesetzebeim unbefugten Besitz für den persönlichen Verbrauchan Stelle der Bestrafung unter anderem Maßnahmen zurBehandlung, Aufklärung und Erziehung vorsehen kön-nen.Besonders möchte ich noch darauf hinweisen, daß derGesetzentwurf keine Grundlage für einen Anspruch aufEröffnung eines Drogenkonsumraums darstellt. Über dieörtlich sinnvolle Eröffnung müssen vielmehr die Lan-desregierungen entscheiden. Der Gesetzentwurf enthältdie hierfür notwendigen Rahmenvorschriften, die eineeinheitliche und mit dem internationalen Suchtstoffrechtkompatible Gestaltung von Drogenkonsumräumen inDeutschland gewährleisten sollen.Die Befürchtung der Stadt München, daß die dort imAufbau befindlichen Drogenkonsumräume nicht zustan-de kommen könnten, werden von mir geteilt. Es ist aberSache der bayerischen Staatsregierung, entsprechendeSchritte einzuleiten. Der Bund kann und will hier nichtin die Länderkompetenzen eingreifen. Es ist jedoch zuhoffen, daß sich auch dort die ausgewogenen gesund-heitspolitischen und humanitären Gründe für eine solcheHilfeeinrichtung durchsetzen.Herr Hüppe, was die von Ihnen angesprochenenMaßnahmen zur Qualifizierung und zur Sicherung derMethadonsubstitution angeht, so handelt es sich umdie Umsetzung eines einstimmig gefaßten Bundesratsbe-schlusses von 1997. Wenn Sie immer noch mit spitzerZunge, wenn auch gegenüber Ihren früheren Äußerun-gen deutlich abgeschwächt, sagen, das sei nötig, frageich mich, warum die alte Bundesregierung das nichtumgesetzt hat. Wir tun das jetzt, weil es eine sinnvolleHilfemöglichkeit, die jetzt schon seit zehn Jahren inDeutschland sehr viel Gutes geleistet hat, die Methadon-substitution, weiter zu qualifizieren gilt. Wir setzen dasin diesem Gesetzentwurf um. Das ist aber beileibe nichtdie einzige Maßnahme in diesem Bereich. Ich glaube,Sie haben wirklich Bedarf, einmal bei mir einen Kaffeezu trinken, damit ich Ihnen genau erläutern kann, waswir alles außer Gesetzesnovellen machen, die erst nachgründlicher Erarbeitung eingebracht werden.Danke schön.
Christa Nickels
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4631
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zu einer Kurzinter-
vention erteile ich dem Kollegen Hubert Hüppe das Wort.
Frau Kollegin, ich weiß
zwar, daß die Zeit schon sehr weit fortgeschritten ist,
möchte aber noch darauf hinweisen, daß ich es nicht als
gut empfinde – ich denke, ich bin Ihnen heute sehr weit
entgegengekommen; ich habe Ihnen auch gesagt, daß
ich die Methadon-Vereinbarung für richtig halte –, wenn
mir unterstellt wird – ich bin mit Namen angesprochen
worden –, daß ich ohne weiteres den Tod von Menschen
durch Drogen hinnähme. Dies ist nicht der Fall.
Ich habe mit sehr vielen Menschen über dieses The-
ma gesprochen. Ich weiß, was es nicht nur für die Be-
troffenen, sondern auch für die Familien bedeutet, auch
für die Familien derer, die nicht durch Drogen sterben.
Ich möchte, daß zur Kenntnis genommen wird, daß es
mir mit dieser Sache sehr ernst ist, weil ich weiß, wel-
ches Elend die Droge verursacht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Nickels, bitte.
Herr Kollege Hüppe, lesen Sie das doch bitte im Proto-
koll nach! Ich habe Ihnen dies nicht unterstellt; das wür-
de mir auch gar nicht einfallen. Ich habe nur generell
darauf hingewiesen, daß die Daten, Fakten und Erfah-
rungen mit den bestehenden Drogenkonsumräumen so
eindeutig sind, daß es unterlassener Hilfeleistung
gleichkäme, würde man nicht endlich diese rechtliche
Grauzone aufheben. Ich glaube, wenn Sie das Protokoll
lesen, werden Sie sehen, daß ich Ihnen persönlich das
nicht unterstellt habe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die F.D.P.-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Jahr
nach der Bundestagswahl 1998 legt die Bundesregierung
– endlich – einen Gesetzentwurf zur Änderung des Be-
täubungsmittelgesetzes vor. Es ist kein ganz neues The-
ma – das ist von Ihnen, Frau Nickels und Herr Heil, be-
reits gesagt worden –, mit dem sich dieser Gesetzent-
wurf beschäftigt. Es geht um die rechtliche Absicherung
der sogenannten Gesundheitsräume oder, wie Sie es
nennen, der Drogenkonsumräume.
Der ganz große Wurf ist dieser Gesetzentwurf meiner
Meinung nach nicht. Ich hätte erwartet, daß auch das auf-
genommen würde, was in den letzten Jahren bereits durch
Bundesratsinitiativen in den Bundestag eingebracht wor-
den ist: die rechtliche Ausgestaltung dessen, was in der
Schweiz und in anderen Ländern erprobt worden ist,
nämlich die ärztlich kontrollierte Abgabe von Heroin
mit wissenschaftlicher Begleitung und psychosozialer
Betreuung. Ich denke, es wäre gut, wenn sich auch die
Modellversuche, für deren Einführung die F.D.P. da, wo
es geeignete Rahmenbedingungen und richtige Vorga-
ben gibt, eintritt, auf einer rechtlichen Grundlage im
Betäubungsmittelgesetz wiederfänden.
Ich bin der Meinung, daß es ein wirklich entschei-
dender Schritt ist, ärztlich kontrolliert Heroin ab-
zugeben. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode
im Bundestag sehr intensiv mit den Schweizer Folgen
und den Bewertungen der Ergebnisse auseinanderge-
setzt. Wenn man in diese Richtung gehen möchte – das
gehört für die F.D.P. zur vierten Säule der Drogenpoli-
tik, zur Überlebenshilfe –, dann ist es angesichts der
schwierigen Akzeptanz in unserer Gesellschaft notwen-
dig, dieses Thema im Parlament zu behandeln und ge-
setzlich ausformuliert im Betäubungsmittelgesetz zu
verankern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, ge-
statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Ja, freilich.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ist Ihnen
bekannt, daß wir nach vielen Verhandlungen in Koordi-
nationsgruppen jetzt in der Situation sind, daß sich aus
sechs Städten verschiedener Bundesländer – das ge-
schieht mit Unterstützung der jeweiligen Landesregie-
rung; das betrifft auch die neue Regierung in Hessen –
etwa 700 Probanden angemeldet haben und wir gerade
dabei sind, den Ausschreibungstext für den Modellver-
such „heroingestützte Behandlung“ zu formulieren, und
daß eine Gesetzesänderung früher nicht notwendig war,
weil schon der politische Wille fehlte? Das Projekt be-
findet sich bereits in der Umsetzungsphase.
Es gab gerade von den SPD- und Grünen-Landesregierungen entsprechende gesetzliche Formulie-rungen, die über den Bundesrat in den Bundestag ge-langten. Ich denke, das war keine reine Beschäftigungs-therapie der Kollegen und Kolleginnen in Bonn. Manhat damit auch eine gewisse Notwendigkeit verbunden.Ich teile nicht die Auffassung, daß es so eindeutig ist,daß man hier keine gesetzliche Grundlage braucht. Indem vorliegenden Gesetzentwurf machen Sie anhandvon 10 Punkten eine sehr umfangreiche Vorgabe für denErlaß von Rechtsverordnungen. Zudem führen Sie diekontrollierte Abgabe von Heroin ohne eine gesetzlicheRegelung und ohne den Umstand, daß wenigstens eini-germaßen vergleichbare Vorgaben festgelegt werden,ein. Ich halte das auch politisch für nicht richtig. DennSie hätten den vorliegenden Gesetzentwurf ohne jegli-che Schwierigkeiten um die Absicherung dieses Versu-ches anreichern können.
Metadaten/Kopzeile:
4632 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Kollegin, es
gibt eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Nickels.
Bitte.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß es sich hier um
zweierlei Sachverhalte handelt, zum einen um die recht-
liche Klarstellung von Drogenkonsumräumen im BtMG,
zum anderen um den Modellversuch einer heroinge-
stützten Behandlung, und ist Ihnen bekannt, daß schon
damals Ihrerseits unserem Haus mitgeteilt worden ist,
daß man in diesem Bereich keine Gesetzesänderung
braucht, und daß die Bundesländer damals eine solche
für nötig erachteten, weil die damalige Bundesregierung
nicht bereit war, hier koordinierend tätig zu werden?
Frau Nickels, ich glaube, es ist bekannt – deshalb sage
ich das hier –: Die F.D.P. hat in der damaligen Koalition
eben nicht durchsetzen können, daß hier Veränderungen
vorgenommen werden. Wir als damalige Regierungs-
fraktion haben im Bundestag unsere Auffassung dazu –
sie war anders als die des Koalitionspartners – sehr klar
dargelegt. Sie selber haben ja in den letzten zehn Mo-
naten erlebt, wie häufig das der Fall sein kann. Deshalb
war es klar, daß wir in der Koalition keine irgendwie ge-
artete Änderung im Betäubungsmittelgesetz würden
durchsetzen können, und zwar weder eine Änderung zur
rechtlichen Absicherung der Gesundheitsräume noch
eine Änderung zu einer ärztlich kontrollierten Abgabe
von Heroin.
Ich weiß von vielen Stellungnahmen, die die Bundes-
regierung zu den Entwürfen des Bundesrates abgegeben
hat – ich meine nicht die von 1996, sondern die von
1995 und 1994 –, in denen wir mit Hilfe vorsichtiger
Formulierungen versucht haben, die Tür nicht so zuzu-
schlagen, daß es dann nicht wenigstens zu Beratungen
kommen konnte. Dann hat ja Gott sei dank in der letzten
Legislaturperiode, und zwar noch 1998, eine entspre-
chende Anhörung im Gesundheitsausschuß stattgefun-
den. Das, was dort zu den Drogenkonsumräumen ge-
sagt worden ist, ist dann zu einem gewissen Teil in die-
sen Gesetzentwurf eingeflossen.
Ich halte es für richtig, daß die Unsicherheit, die ge-
rade für die Betreiber und für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter dieser Einrichtungen besteht, beseitigt wird.
Denn zu Recht, Frau Nickels, haben Sie gesagt, daß die
strafrechtliche Verfolgung bisher immer mit einem Bein
vor der Tür stand, wenn hier eine andere Rechtsauffas-
sung vertreten wurde als die, die noch in den meisten
Bundesländern herrschend ist.
Gerade weil die F.D.P. sagt: „Abhängigkeit ist eine
Sucht, ist eine Erkrankung“, halte ich es für notwendig,
diesen Weg als einen weiteren Schritt in der Drogen-
politik zu gehen. Ich halte es für wichtig, daß wir nicht
nur mit den Mitteln des Strafrechts, das in diesem Be-
reich keine spezial- und generalpräventive Wirkung ent-
falten kann, in der Drogenpolitik agieren, sondern daß
wir neben Repression, Therapie und Prävention auch
eine sogenannte vierte Säule, nämlich die Überlebens-
hilfe, stellen.
Schon vor vielen Jahren haben Polizeipräsidenten aus
mehreren Großstädten gefordert, der sich entwickelnden
offenen Drogenszene durch die Einrichtung solcher Ge-
sundheits- oder Konsumräume – vergleichbar mit der
Schweiz – zu begegnen. Denn damit wird nicht nur die
Gesundheit der Bürger vor weggeworfenen Spritzen
oder anderen für den Drogenkonsum gebrauchten Uten-
silien besser geschützt. Es wird auch die Möglichkeit
eines risikoreduzierten und hygienisch optimierten Kon-
sumes geschaffen. Außerdem wird der Zugang der Ab-
hängigen zu anderen, niedrigschwelligen Angeboten er-
leichtert. Das war in meinen Augen eine sehr wichtige
Information, die anläßlich der Anhörung im Jahre 1998
von vielen Fachleuten gegeben wurde.
Das geltende Betäubungsmittelstrafrecht und die
hierzu ergangene Rechtsprechung kriminalisiert das
Verschaffen und Gewähren einer Gelegenheit zum Dro-
genkonsum. Gerade die intravenös Drogenabhängigen
werden auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich He-
roin zu injizieren, zu einem entwürdigenden Spießru-
tenlauf durch öffentliche Anlagen und Plätze gezwun-
gen. Deshalb ist diese gesetzliche Regelung notwendig.
Ob es wirklich ein so umfangreiches Paragraphenwerk
sein muß, sollte, denke ich, noch in den fachlichen Be-
ratungen in den Ausschüssen unter die Lupe genommen
werden.
Die F.D.P. wird – das können Sie meinen Worten und
eigentlich auch den ganzen Debatten der letzten Legis-
laturperiode entnehmen – dieses Vorhaben grundsätzlich
positiv begleiten. Da der Teufel im Detail steckt, werden
wir im Interesse einer sachgerechten Änderung des Be-
täubungsmittelrechtes eigene Vorschläge in die Bera-
tung einbringen.
Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die PDS-
Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Auch wir werden den Gesetzentwurf derBundesregierung unterstützen. Er ist zweifellos einSchritt nach vorne, wobei ich die Kritik von Frau Leut-heusser-Schnarrenberger unterstreichen möchte: Es istwirklich nur ein Schritt, und er fällt – da kann man sa-gen, was man will – hinter die Versprechungen, die SPDund Bündnis 90/Die Grünen zur Wahl gemacht haben,und auch hinter den Stand der Debatte, die wir bisher indiesem Haus gehabt haben, weit zurück. Dennoch, sodenken ich und meine Fraktion, ist es wichtig, daß wirendlich von der Drogenpolitik, die von Strafrecht undRepression gezeichnet ist, wegkommen und daß wir das
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4633
(C)
(D)
Thema als ein soziales und medizinisches Problem be-handeln.Wir haben in der Vergangenheit bereits viele Debat-ten um die Legalisierung, um die Entkriminalisierungund vor allen Dingen um das Schlagwort „Therapiestatt Strafe“ geführt. Nicht nur meine Fraktion, sondernauch Abgeordnete anderer Fraktionen haben immerwieder dafür gestritten, daß der repressiven Abschrek-kungspolitik im Drogenbereich endlich ein Ende ge-macht und für menschliche Verhältnisse gesorgt wird.Dafür müssen die gesetzlichen Bestimmungen angepaßtwerden.Der Gesetzentwurf ist, wie gesagt, ein Schritt in dierichtige Richtung. Auch ich war einigermaßen, HerrHüppe, über Ihre moderaten Töne erstaunt. Von Ihnenhabe ich bisher etwas anderes gehört. Ich wünschte, daßin der gesamten Republik ein Nachdenken einsetzt – ge-rade in den Ländern, in denen die CDU/CSU an der Re-gierung ist. In Großstädten wie Hamburg und Frankfurtgibt es heute bereits viele Fixerstuben. In Berlin ist ge-rade in den letzten Tagen von der RegierungsparteiCDU erklärt worden, sie werde weiterhin den repressi-ven Kurs fahren. Ich kann das wirklich nicht verstehen.Es wird geschätzt, daß in Berlin über 8 000 Menschenschwer drogenabhängig sind. Ich meine, es wäre ein er-ster Schritt, es den Drogenabhängigen zu ermöglichen,mit ihrer Sucht in entsprechenden Räumen umzugehen.Wie ich eben schon gesagt habe, reicht das allein natür-lich bei weitem nicht aus.Ich möchte darauf hinweisen – das ist heute schongesagt worden –, daß wir keineswegs einen starkenRückgang der Zahl der Drogentoten haben. Ganz imGegenteil: Erst im vergangenen Jahr ist die Zahl wiederum zehn Prozent angestiegen. Wir sind verpflichtet, eineDrogenpolitik zu entwickeln, mit der den Menschen, dieschwerstabhängig sind, geholfen wird. Das bedeutet –und das ist mein wesentlicher Kritikpunkt an dem Ge-setzentwurf –, daß man nicht dabei stehenbleiben darf,nur die formalen Bedingungen zu verändern. Wir müs-sen dahin kommen, daß die Leute kein gepanschtesZeug auf der Straße kaufen müssen und daß sie ver-nünftig aufgeklärt werden.Wir werden in den nächsten Wochen einen eigenenAntrag zur Drogenpolitik einbringen, der sich ganz be-sonders mit den Fragen der Entkriminalisierung in derDrogenpolitik und der Legalisierung von Cannabispro-dukten beschäftigen und der weitere konkrete Vorschlä-ge zu harten Drogen machen wird.Weil es so spät ist, soviel für heute. Vielen Dank fürIhre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Ge-
setzentwurfes auf der Drucksache 14/1515 an den in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschuß vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offen-
sichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Maritta Böttcher, Roland Claus,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur De-
mokratisierung des Wahlrechts
– Drucksache 14/1126 –
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Volksinitiative, Volksbegehren und Volksent-
scheid
– Drucksache 14/1129 –
Metadaten/Kopzeile:
4634 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4635
(C)
(D)
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Erwin Marschewski.
Frau Präsidentin!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Häufig wird als Argument für dieAufnahme zusätzlicher plebiszitärer Elemente in dasGrundgesetz – so war es auch in der heutigen Debatte –angeführt, man könne damit der Politikverdrossenheitentgegenwirken. Dabei wird eigentlich übersehen: DieMöglichkeiten, über Wahlen und andere Beteiligungs-rechte politisch Einfluß zu nehmen, sind heute so starkausgeprägt wie nie zuvor.Politikverdrossenheit entsteht nach meiner Meinungdadurch, daß Regierungshandeln und -versprechungenHoffnungen enttäuschen, zum Beispiel dadurch, daß je-mand wie der Herr Bundeskanzler – ohne mit der Wim-per zu zucken – von seinem Versprechen abrückt, auchin Zukunft die Rentnerinnen und Rentner nettolohnbe-zogen an der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwick-lung teilhaben zu lassen.Politikverdrossenheit entsteht auch, wenn ausgerech-net die PDS, die sich einen Wahlfälscher zum Ehrenvor-sitzenden erkoren hat, nun in aller Breite von der Ent-wicklung einer Teilhabedemokratie fabuliert.
– Nein, das ist doch so. Das ist die Wahrheit. Die Wahr-heit ist nie billig, sondern wahr und richtig.Harald Friese
Metadaten/Kopzeile:
4636 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Um die richtige Entscheidung zu treffen, ist ein Blicknach Weimar vonnöten. In der Zeit der Weimarer Re-publik wurde zwar nur relativ selten von der Möglich-keit plebiszitärer Entscheidungen Gebrauch gemacht.Aber der permanente Druck plebiszitärer Entschei-dungsmöglichkeiten, der von Nazis und Kommunistengenutzt wurde und zu Gewalttaten auf den StraßenDeutschlands führte, hat die Entwicklung einer stabilenDemokratie verhindert. Aus eben diesen fürchterlichenEntwicklungen in Deutschland hat der Parlamentari-sche Rat mit seinem strikten Bekenntnis zur parlamen-tarischen Demokratie die entscheidenden Konsequenzengezogen. Er hat im Grundgesetz bewußt auf Formenunmittelbarer Demokratie verzichtet, von den Ausnah-men, Herr Kollege Friese, in Art. 28 und 29 des Grund-gesetzes einmal abgesehen.Über 40 Jahre später – nach der Wiedervereinigungunseres Vaterlandes – hat die Gemeinsame Verfas-sungskommission von Bund und Ländern die Frage derAufnahme von plebiszitären Elementen in das Grund-gesetz wieder diskutiert und überprüft. Wir haben vorein paar Jahren gesagt, aus verfassungsrechtlichen undaus verfassungspolitischen Gründen wollen wir auf sol-che Regelungen verzichten. Die Gründe für diese Ent-scheidung sind stichhaltig.Erstens. Plebiszite verengen die Entscheidungselbst über schwierige Probleme meist auf ein schlichtesJa oder Nein. Damit aber kann man den Herausforde-rungen einer modernen Gesellschaft mit ihren sehr kom-plexen Problemen nicht gerecht werden.Zweitens. Plebiszite trennen, was nicht getrennt wer-den darf. Die Befugnis zur Entscheidung und die Ver-antwortung für die Umsetzung werden auseinandergeris-sen. Diese Trennung der Zuständigkeiten ermöglichtden parlamentarischen Entscheidungsträgern die Fluchtaus der Verantwortung. Ich denke, die Politikverdros-senheit wird daher eher zunehmen.Drittens. Plebiszite blenden auch allzuleicht die All-gemeinwohlorientierung aus: Oftmals geht es nämlichlediglich um die Durchsetzung egoistischer InteressenEinzelner. Mittels Volksbegehren sollen manchmalNachteile bestimmter Entscheidungen auf weniger gutorganisierte andere abgewälzt werden.Viertens. Plebiszite führen überdies auch zum Ver-zicht auf die sachorientierte und rationale Problemlö-sungsfindung. Die in parlamentarischen Ausschüssenmögliche differenzierte und komplexe –
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Mar-
schewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
– ich führe den
Satz noch zu Ende, dann sehr gern – Problemlösung
wird abgelöst durch oftmals emotionsüberlagerte und
damit meist eindimensionale Entscheidungen.
Bitte schön.
Herr
Marschewski, zu dieser späten Stunde möchte ich hier
eigentlich keine langen Reden halten; aber mir liegt
doch ein Problem auf der Zunge. Gehe ich recht in der
Annahme, daß Sie uns mit Ihren Unterschriftenaktionen,
sei es in der Rentenpolitik, sei es in der Ausländerpoli-
tik, nahebringen wollten, daß Volkes Wille etwas ande-
res ist als das, was wir hier wollten?
Sehe ich es richtig, daß Sie uns damit eigentlich zeigen
wollten, daß die Teilnehmer der Unterschriftenaktion
die wahre Meinung des Volkes ausdrückten? Gleich-
zeitig versuchen Sie, uns zu erklären, daß das Volk auf
Grund der Komplexität der Materie gar nicht in der
Lage ist, so eine Entscheidung zu fällen, weil die Men-
schen darin überhaupt nicht bewandert sind? Ist das
nicht ein Widerspruch? Wie erklären Sie mir diesen
Widerspruch?
Frau Kollegin,
ich bin für diese Frage sehr dankbar. Wir wollten durch
diese Befragung der Bundesregierung aufzeigen, daß sie
am Volk völlig vorbeiregiert und eine Auffassung ver-
tritt, die von niemandem oder höchstens von einem ganz
kleinen Prozentsatz in der Bevölkerung geteilt wird. Wir
wollten auf keinen Fall die parlamentarische Verant-
wortung ausschalten. Wir wollten ein zusätzliches Ele-
ment einführen. Dies leistet die Volksbefragung nicht,
wohl aber die Unterschriftenaktion. Wir haben ganz be-
wußt keine Volksbefragung angestoßen. Das Parlament
soll sich weiterhin nicht vor der Verantwortung drücken
können; es soll Verantwortung tragen. Der Hauptsinn
unserer Unterschriftenaktion bestand darin, eine völlig
irrige Vorlage der Bundesregierung, die man am Ende
vier- oder fünfmal verändert hat, dem deutschen Volk
nahezubringen und das deutsche Volk zu fragen: Seid
ihr damit einverstanden? Das haben wir bewirkt. Was
wir getan haben, ist letzten Endes richtig gewesen. Ich
schlage vor, diesen Weg in Zukunft zu gehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, es gibt
den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
In den fünf Mi-nuten – mehr Zeit habe ich nicht – bitte ich, das, was ichsagen wollte, zu Ende sagen zu dürfen. Wir können unsüber die restlichen Fragen im Innenausschuß, nachherdraußen, beim ZDF-Fest oder wo auch immer unterhal-ten.Fünftens. Plebiszite sind oft nicht flexibel genug.Denn aktuelle Entwicklungen lassen sich im Laufe par-lamentarischer Gesetzgebungsverfahren berücksichti-gen. Plebiszite dagegen können diese unmittelbare Dy-namik niemals entfalten.Erwin Marschewski
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4637
(C)
(D)
Wir sind gern bereit, erneut über Volksbegehren,auch auf Bundesebene, zu beraten und alle Vorschlägezu prüfen, bei denen sich die genannten Probleme ver-meiden lassen. Übrigens, was die Gemeinsame Kom-mission des Parlaments anbetrifft: Da haben Sozialde-mokraten in vielen Fragen, natürlich auch in Fragen derWahlkreise, zugestimmt. Wir sind gern bereit, darüberzu reden. Die Diskussion darf allerdings nicht das Ni-veau der beiden PDS-Anträge haben. Wer die Mehrkosten durch Streichungen beim Bun-desnachrichtendienst – selbst Herr Ströbele wird dasheute nicht mehr fordern – oder, viel schlimmer, bei derAufarbeitung von SED-Verbrechen finanzieren will, dermacht eines klar: Es geht ihm in Wahrheit nicht um eineStärkung, sondern um eine Schwächung der Demokra-tie. Das wird es mit uns auf keinen Fall geben!Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nächste Rednerin ist
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin
Ekin Deligöz.
FrauPräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie zu dieser spä-ten Stunde noch das Vergnügen haben, an dieser Debatteteilzunehmen! Schreibfaulheit können wir unseren Kol-leginnen und Kollegen von der PDS wahrhaftig nichtvorwerfen.
Sie sind immer dabei, wenn es darum geht, neue Anträ-ge zu stellen. Aber ein Urheberrecht auf das ThemaDemokratie haben sie nicht,
schon allein deshalb nicht, weil sich meine Partei seit1983 um dieses Thema gekümmert hat und immer wie-der daran arbeitet. Sie sind aber sicherlich ein Meisterdarin, den besseren Teil mancher unserer Entwürfe ab-zuschreiben. Immerhin geben uns ihre Vorschläge einen sehr gutenAnlaß, einmal über mehr Demokratie zu sprechen. Dieerste Parlamentswoche hier in Berlin und die 50-Jahr-Feier des Bundestages sind eine gute Gelegenheit, unsdarüber auszutauschen. Wenn es um Volksbegehren,Volksentscheide und direkte Demokratie geht, denke ichsehr oft an die vielen Aktionen, die meine Partei gestar-tet hat, vor allem auch für Volksentscheide gegen Atom-anlagen. Wir haben schon zu Zeiten dafür gestritten undsind dafür eingestanden, als es bei Ihnen noch hieß: DiePartei hat immer recht.
Sie waren damals, das ist schon eine Weile her, eine rei-ne Atompartei – neben vielen anderen unappetitlichenSachen, die Sie vertreten haben.Die Grünen waren es, soweit ich mich erinnern kann,die nach der Einheit gemeinsam mit den Bürgerbewe-gungen der ehemaligen DDR und den Initiativen ausdem Westen das Thema direkte Demokratie wieder indie Debatte gebracht haben. Ich erinnere an den Entwurfder ersten gesamtdeutschen Bürgerinitiative, das Verfas-sungskuratorium.
Über Ihren konkreten Gesetzesvorschlag bin ich einwenig enttäuscht, weil ich den fachlichen Zustand fürdürftig halte. So ganz scheint direkte Demokratie dochnicht Ihr Thema zu sein. Seit über zehn Jahren diskutie-ren wir darüber und wissen mittlerweile, daß ein einfa-ches Bundesgesetz für diese Materie in Anlehnung anArt. 20 des Grundgesetzes verfassungsmäßig nicht inFrage kommt. Die grundlegenden Verfahrensschritte,die Rechte der Initiativen und das Zustandekommen derGesetze müssen im Grundgesetz selbst geregelt werden.Das geht nicht ohne eine Grundgesetzänderung,sprich: ohne eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments.Von daher können wir leider mit Ihrem Entwurf nichtweiterarbeiten und ihn nicht einmal als Diskussions-grundlage nehmen. Er ist für uns unbrauchbar, da erDinge durcheinanderwirft und lückenhaft ist.Es fehlen unter anderem auch praktikable Regelungenüber die rechtliche Stellung der Initiativen, über die Be-kanntgabe der Entwürfe und auch ein Ansatz zur Lösungder schwierigen Aufgabe, wie man mit Mißbrauchs-möglichkeiten von direkter Demokratie umgeht, die javorkommen können. Ich erinnere nur an Figuren wieeinen gewissen Herrn Frey. Wir müssen diesen Risikenwirksam begegnen, ohne die direkte Demokratie gleichmit auszuhebeln. Dieser Aufgabe dürfen auch Sie sichnicht entziehen.Nein, meine Damen und Herren, wir können diePDS-Vorlage leider nicht zur Grundlage unserer Re-formdiskussion machen. Nichtsdestotrotz gebe ich Ihnenin einer Sache recht: Die Zeit drängt. Wir haben die Ein-führung von Elementen direkter Demokratie wie Volks-begehren und Volksentscheide in unseren Koalitions-vertrag aufgenommen und möchten auch bei dieserThematik endlich einmal vorankommen. Dazu brauchenwir aber, wie gesagt, eine Zweidrittelmehrheit im Bun-destag und auch im Bundesrat. Hier ergeht die Aufforde-rung an Sie von der Union, sich endlich einmal zu be-wegen, Ihre Blockadehaltung aufzugeben, einen Schrittauf uns zu zu tun und mit uns über Konzepte nachzu-denken. Ich war sehr überrascht, daß Sie, Herr Mar-schewski, das hier schon so wunderbar angedeutet hat-ten. Ich fände es aber sehr gut, wenn Sie tatsächlich die-se Blockadehaltung aufgeben würden. Ich fände es na-türlich auch sehr schön, Sie nachher zum ZDF-Fest zubegleiten, aber noch besser fände ich es, mich mit Ihnenwirklich fachlich über direkte Demokratie zu unterhal-ten.Es genügt tatsächlich nicht – das war ein Wider-spruch, den Sie uns hier präsentiert haben –, Unter-schriftenlisten auszulegen und diese dann als VolkesStimme hier einzubringen. Das Volk weiß genau, was esErwin Marschewski
Metadaten/Kopzeile:
4638 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
will, und kann es selber sagen. Aber dazu brauchen wirgeregelte Verfahren. Dazu brauchen wir Volksbegehrenund Volksinitiative. Aber wir brauchen keine Politiker,die glauben, sie könnten mit 100 Unterschriften hier dieVolksmeinung präsentieren.
Lassen Sie mich zu dem zweiten Gesetzentwurf,dem Entwurf zur Reform des Wahlrechts nur sovielsagen, daß auch wir sehr viel davon in unserem Pro-gramm aufgenommen haben, zum Beispiel die Sen-kung des Wahlalters auf 16 Jahre und das kommunaleWahlrecht für ausländische Bürgerinnen und Bürger.Leider brauchen wir auch hier in sehr vielen Fällen ei-ne Grundgesetzänderung. Wir müssen auch die Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts mit einbe-ziehen; das dürfen wir nicht einfach links liegenlassen.Ich denke, sehr vieles von dem, was Sie aufgenommenhaben, sind gute Ideen, die aber leider nicht realisierbarund schon gar nicht von den Koalitionsfraktionen al-leine umzusetzen sind.In diesem Sinne kann ich zum Schluß – meine Zeit istleider abgelaufen – nur an die Fraktionen im Bundestagappellieren, sich mit uns gemeinsam an einen Tisch zubegeben und tatsächlich über die Reformmaßnahmen zudebattieren.Danke schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Rainer
Funke, Sie haben das Wort für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Gesetzentwürfe der PDS, die
hier so kritisiert werden, beinhalten grundlegende Fra-
gen unseres Wahlrechts und Fragen hinsichtlich der
Möglichkeiten für mehr direkte Demokratie. Ob es al-
lerdings weise ist, solche grundlegenden Fragen zu spä-
ter Stunde und in einer halbstündigen Debatte abzuhan-
deln, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube, es geht Ihnen
genauso.
– Nein, das ist eine nicht sehr weise Entscheidung unse-
rer Geschäftsführer. Ich glaube, daß solche wichtigen
Fragen in einem größeren Kreis diskutiert werden müs-
sen.
Mir bleibt jetzt die Hoffnung, daß zumindest in den
Ausschußberatungen mehr Zeit für eine angemessene
Debatte verbleibt. In der Tat ist unser Wahlrecht verbes-
serungsfähig und -bedürftig. Die F.D.P. hat sich stets für
ein Präferenzstimmrecht in der Form des Kumulierens
und Panaschierens eingesetzt, um auf diese Weise dem
Wähler zu ermöglichen, die Reihenfolge der Kandida-
tinnen und Kandidaten beeinflussen zu können. Das
wird auch in einzelnen Ländern praktiziert. In Hessen
steht im Koalitionsvertrag, daß dieses Verfahren wieder-
aufgenommen werden soll.
Es kann auch keinem Zweifel unterliegen, daß Über-
hangmandate nur die beiden großen Volksparteien be-
vorzugen und demgemäß die kleineren Parteien
benachteiligen.
Über die Fünfprozentklausel kann, zumindest bei
der Europawahl, diskutiert werden. Schließlich ist das
Argument, daß die Fünfprozentklausel dazu beitragen
soll, die Regierungsfähigkeit sicherzustellen, zumindest
für das Europäi sche Parlament nicht durchgreifend,
denn hier sind die Kontrollinstanzen andere.
Ob Jugendliche heute tatsächlich reifer sind, wie Sie
das formuliert haben, und schon mit 16 Jahren wählen
sollten, muß sicherlich auch an Hand der bislang ge-
machten Erfahrungen in den Ländern und Kommunen
diskutiert werden.
Bereits in der letzten Legislaturperiode, am 29. Mai
1998, hat sich der Bundestag ausführlich über mit weite-
ren Möglichkeiten der direkten Demokratie auseinan-
dergesetzt. Die vorgeschlagenen Institute Volksinitiati-
ve, Volksbegehren und Volksentscheid sind keineswegs
neu, und sie sind auch dem deutschen Staatsrecht – siehe
Weimarer Republik – nicht fremd. Ob sie im einzelnen
zweckmäßig sind, muß miteinander diskutiert werden.
In der Kommission zur Verfassungsreform – Sie haben
es erwähnt, Herr Marschewski; wir haben dort gemein-
sam gesessen – haben diese Institute keine hinreichende
Mehrheit gefunden. Zum Teil waren es knappe Verhält-
nisse, es wurde aber keine Mehrheit gefunden. Man muß
dennoch erneut darüber diskutieren können; schließlich
wandeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse.
Meine Fraktion würde zumindest eine Volksinitiative
und deren nähere rechtliche Ausgestaltung unterstützen.
Damit könnte der Bürger mehr Einfluß auf die Behand-
lung von wichtigen Themen im Bundestag gewinnen.
Mein Kollege Dr. Stadler hat mit Unterstützung der
F.D.P.-Fraktion in der letzten Legislaturperiode auch die
Möglichkeit der Einführung eines Referendums, bei
dem man mit Ja oder mit Nein stimmen kann – also ein
relativ einfaches Verfahren –, angeregt. Bei dieser Form
der Volksabstimmung würde das Parlament das Recht
erhalten, der Bevölkerung grundlegende Fragen von ent-
scheidender politischer Bedeutung zur Entscheidung
vorzulegen. Auch hierzu muß im Ausschuß eine inten-
sive Diskussion erfolgen. Wir sind dazu bereit. Wir
sollten diese Fragen auch mit den Ländern und auf der
Grundlage der von ihnen gemachten Erfahrungen disku-
tieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der
Kollege Peter Enders, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine liebenKolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so, daß dieSPD schon seit Jahren – da sind wir nicht weit von denGrünen entfernt – die Einführung von VolksentscheidenEkin Deligöz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4639
(C)
(D)
für wichtige Themen fordert; ich erinnere auch an dieGemeinsame Kommission. 1993 haben wir das nocheinmal zur Abstimmung gestellt und haben dabei verlo-ren. Im Wahlprogramm der SPD für diese Bundestags-wahl war es wieder aufgeführt. Es steht auch in der Ko-alitionsvereinbarung.Wir sind im Prinzip dafür, weil das Bedürfnis nachTeilhabe an der Gesetzgebung in der Bevölkerungstark gestiegen ist. Ich beantworte die Frage danach, wiediese Teilhabe ausgestaltet werden soll, anders als HerrMarschewski, weil für mich auch eine Rolle spielt, wasin den 20er Jahren gewesen ist. Ich meine schon, daß diein diesem Zusammenhang zu stellende Frage nach demnötigen Sachverstand der Bevölkerung heute anders zubeantworten ist: Der Sachverstand ist gegeben. Von da-her gehe ich sehr offen und sehr positiv an das Themaheran. Ich persönlich habe noch einen anderen Grund,dafür zu sein: Es gibt ja das Phänomen, daß eigentlichkein Wähler immer hundertprozentig mit dem Pro-gramm der von ihm gewählten Partei einverstanden ist –dies ist im übrigen auch bei keinem Mitglied dieserPartei der Fall – und es insoweit zu Differenzierungenkommt.Jetzt kommen die Einwände. Erster Einwand: Nachunserer Meinung sollte die Einführung plebiszitärerElemente als Ergänzung der repräsentativen Demokratieverstanden werden. Volksentscheide sollen nicht dieMöglichkeit zur Aushöhlung des parlamentarischen Sy-stems eröffnen. Den Eindruck macht jedoch dieser Ent-wurf. Wenn man den PDS-Antrag liest, merkt man so-fort, daß die Verfasser nicht davon ausgehen, in dernächsten Zeit – zumindest in der Bundespolitik – ir-gendwie Mehrheiten zu finden. Da wir alle wissen, daßVolksbegehren und Volksentscheide im Normalfallnicht ohne Parteien laufen, ist offenkundig, daß die PDSmit diesen Gesetzentwürfen in der Tat zusätzlichen Ein-fluß erreichen will. Nun kann man darüber streiten, obder Gesetzentwurf und die Begründung voller hand-werklicher Mängel ist oder ob dies Bösartigkeiten sind.Ich will das an einigen Beispielen erläutern.Erstens. In der Begründung ist von mangelnder Re-präsentanz der Bürgerinnen und Bürger durch ihreAbgeordneten die Rede. Ich finde, diese Aussage ist ei-ne bodenlose Frechheit. Da kann ich mich in Nordrhein-Westfalen genauso wie in den neuen Bundesländern um-schauen: Dies stimmt so einfach nicht. Ich meine, da ha-ben Sie eine sehr schlechte Beobachtung gemacht.Ein zweiter Punkt. Nach dem Entwurf der PDS kön-nen Volksinitiativen zu jedem möglichen Thema ge-startet werden – sei es nun über Steuertarife, Beamten-besoldung oder sogar die Ratifizierung von völkerrecht-lichen Verträgen, wenn es also um Doppelbesteuerungs-abkommen oder dergleichen geht. Sie hätten wenigstensfordern sollen, zu haushaltswirksamen Gesetzen einenFinanzierungsvorschlag zu erlangen; denn erfahrungs-gemäß ist es so, daß ausgabewirksame Gesetze eher eineZustimmung als eine Ablehnung finden. Wozu führtdas? Letztendlich könnte eine Regierung ihren Haushaltniemals konkret durchziehen. Die Verantwortlichkeitwürde verlorengehen. Zumindest in diesem Punkt sindwir uns in der Ablehnung einig. Aus diesem Grund mußman sehr genau hinschauen, was man regeln kann, wel-che Inhalte überhaupt zur Abstimmung gestellt werdenkönnen.
– Sie können eine Frage stellen.Drittens. Was mir an diesem Gesetzentwurf der PDSam meisten mißfällt, sind die fehlenden Regelungen zuQuoren. Höhere Quoren verhindern, daß sich Sonder-interessen von Minderheiten oder nur regional begrenzteInteressen durchsetzen können. Deshalb ist es völlig in-akzeptabel, wenn bei einem Volksbegehren eine MillionWahlberechtigte ausreichend sind – ich rede jetzt nichtvon verfassungsändernden Initiativen –, wenn also bei-spielsweise die Zustimmung aus dem Bereich der PDS-Wähler vollkommen ausreichen würde. Für den Falleines anschließenden Volksentscheides zu einem nichtverfassungsändernden Gesetz ist ein Quorum nicht ein-mal erwähnt. Das heißt, daß die Mehrheit bei einer nochso geringen Beteiligung ausreichen würde. Wo bleibt dadie demokratische Entscheidung im Sinne einer Mehr-heit der Bevölkerung?Ich erinnere mich im übrigen an Nordrhein-Westfalen. Dort gab es Mitte der 70er Jahre kommunaleNeuordnungen. Wenn es in Wattenscheid und anderenStädten ausgereicht hätte, die Mehrheit aus diesem Be-reich zu erlangen, während sich die anderen zurück-lehnten, hätten wir alle Entscheidungen des Landtagsüber den Haufen werfen können.
– Gerade im Ruhrgebiet gab es ähnliche Dinge. Aber,Herr Kollege Marschewski, Sie wären weder Fürst nochKönig geworden.
Ich möche jetzt das Thema Geld ansprechen. Selbst-verständlich sollen die Verbesserungen und Ergänzun-gen unserer Demokratie nicht an finanziellen Mittelnscheitern. Trotzdem muß ich hier auf einige Punkte hin-weisen. Die Zahlung einer pauschalen Kostenvergü-tung an den Trägerverein der Volksinitiative soll zwarinsbesondere für die Abgeltung der finanziellen Auf-wendungen zur Information der Bürgerinnen und Bürgergeleistet werden, jedoch enthält der Gesetzentwurf keinePflicht zum Nachweis der Informierung der Bevölke-rung über das Thema, über das informiert werden soll.Das heißt, es soll ohne Nachweis gezahlt werden. Dasist eigentlich unglaublich, und ich frage mich: WollenSie die anderen Parteien über den Tisch ziehen? Zu demThema, wie das Geld aufzubringen ist, hat bereits HerrMarschweski etwas gesagt. Es ist unglaublich: Einspa-rungen bei der Gauck-Behörde und dem Verfassungs-schutz vorzunehmen, um dies zu finanzieren, könnte Ih-nen so passen.Ich habe in diesem Haus bereits zum Thema Parteien-finanzierung gesprochen. Bei der damaligen Diskussionum die Erhöhung der finanziellen Zuwendungen für diePeter Enders
Metadaten/Kopzeile:
4640 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999
(C)
Parteien – sie war in der Öffentlichkeit nicht unumstrit-ten – haben Sie sich von der PDS vornehm zurück-gehalten, während die demokratischen Parteien des Hau-ses diese Entscheidung mitgetragen haben.Ich komme zum Schluß und möchte zusammenfas-sen. Alles in allem handelt es sich bei den beiden Ge-setzentwürfen um typische PDS-Entwürfe: Sie werdendem Parlament aus rein populistischen Gründen zur Ent-scheidung vorgelegt. Sie wollen sich wieder einmal me-dien- und publikumswirksam als Hüter des Volkes auf-spielen.Da Sie sich selbst als Nachfolgepartei der SED auf-spielen, erinnere ich Sie an die Zustände, die es dort frü-her gegeben hat. Im Auskundschaften des Volkswillenswaren einige von Ihnen wirklich Weltmeister; aber dieZeiten haben sich geändert.
– Sie können Fragen stellen; Sie können sich bei derPräsidentin melden.Ich kann nur eines sagen: Eine so komplizierte Fragekann man nur konsensual lösen.
– Bei Herrn Gysi oder wem?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Enders,
ich muß Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich habe noch 10 Sekunden.
Ich darf zum Schluß noch einmal sagen: Es gibt nur eine
Chance in dieser Angelegenheit, weil es in der Tat eine
Verfassungsänderung erfordert: Dies muß im Konsens
der Parteien hier im Haus durchgeführt werden. Es muß
gemeinsame Entwürfe geben, nicht aber solche Allein-
ritte, wie sie uns vorgelegt wurden. Aber wir werden in
den Ausschußberatungen noch darüber zu sprechen ha-
ben.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!Meine Damen und Herren! Wer Plebiszite fordert undsich für sie stark macht, erweckt den Schein, er träte fürmehr Demokratie – Sie haben das auch gesagt –, für diefortschrittlichere Demokratie ein. Es ist sicherlich auchnicht falsch, das Ziel, sich in diesem Schein zu sonnen,als ein parteitaktisches Motiv zu bezeichnen, wenn manfür Plebiszite öffentlich eintritt.Ich bin allerdings davon überzeugt – wir führen heuteabend darüber eine vernünftige Diskussion, wenn sieauch ein bißchen kurz und ein bißchen spät ist –, daßdieser Schein trügt. Er ist übrigens auch schon demo-kratiegeschichtlich widerlegt. Die plebiszitäre Demo-kratie ist nicht die spätere, die fortentwickelte. Es gabimmer beide Elemente. Es gab zunächst auch plebiszitä-re Elemente, die dann durch die repräsentative Demo-kratie überholt wurden.Aber wenn wir wirklich – Herr Enders, Sie haben esja angesprochen – einen Konsens erzielen wollen, wennwir jedenfalls über diese Frage vernünftig diskutierenwollen, dann müssen diejenigen, die plebiszitäre Ele-mente befürworten, die Frage wirklich beantworten, wiesie es schaffen wollen, daß unter den heutigen Bedin-gungen, also unter den Bedingungen einer hochkomple-xen, international verflochtenen Gesellschaft von80 Millionen Menschen ein vernünftiger, rationaler öf-fentlicher Diskurs, eine vernünftige politische Entschei-dungsfindung möglich sein soll. Diese Frage müssen Sieernsthaft beantworten. Sie dürfen auch nicht gedanklichetwas konstruieren, sondern müssen es mit der Realitätkonfrontieren. Daran hat es auch in der heutigen Debat-te, wie ich meine, gemangelt.Unter den Bedingungen, die ich eben genannt habe,also denen der komplexen, international verflochtenenGesellschaft, wären plebiszitäre Elemente ein demokra-tischer Rückschritt unter den Gesichtspunkten der Ra-tionalität der langfristigen Orientierung der politischenEntscheidungsfindung.Damit sage ich natürlich nicht, daß wir die perfekteDemokratie hätten. Gerade diejenigen, die darauf ver-weisen, daß Plebiszite auf große Sympathie in der Be-völkerung stoßen, müssen ehrlich zugeben, daß dieseSympathie bei vielen eine Kritik an unserer gegenwärti-gen Parlamentspraxis ausdrückt. Das ist doch völlig klar.Aber die Konsequenz kann eigentlich nicht systemati-scher Rückschritt sein, sondern die, daß wir unsere re-präsentative Demokratie verbessern müssen. Diese Kon-sequenz müssen wir daraus ziehen.
Darum möchte ich auf die Kritikpunkte, die auchder Kollege Marschewski hier vorgetragen hat, nocheinmal eingehen und an Sie appellieren, sie ernst zunehmen, wenn wir einen vernünftigen Dialog führen undnicht populäre Forderungen in die Öffentlichkeit werfenwollen. Sie müssen die Frage nach der Gefahr der Ent-rationalisierung der Politik beantworten. Wie wollen Siedas rationalitätsstiftende Verfahren der parlamentari-schen Beratung – mit Expertenanhörung, mit dem Ver-such der Folgenabschätzung, mit Auseinandersetzung,mit Kompromißsuche – durch eine Kommunikationzwischen 80 Millionen Menschen ersetzen? Ich glaube,daß das eine Illusion ist. Man kann das zwar gedanklichkonstruieren, aber nicht in der Wirklichkeit praktizieren.Jedenfalls müssen Sie sagen, wie Sie es machen wollen,wenn Sie es ernst meinen, damit das Plebiszit nicht zumInstrument der großen Vereinfacher wird, die nur ja odernein kennen. Sie müssen sich mit der grundlegendenFrage beschäftigen – Herr Marschewski hat es auch er-Peter Enders
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. September 1999 4641
(C)
(D)
wähnt –, ob Sie die Anonymisierung von Verantwortungwollen, die mit Plebisziten einhergeht? Denn wenn alleentscheiden, entscheidet niemand mehr. Wer kritisierteigentlich den Volksentscheider? Noch wichtiger: Werkorrigiert den Volksentscheider?
– Das Volk natürlich, in einem neuen Volksentscheid;wer soll das auch sonst tun. Aber in welchen Zeitläuftensoll das geschehen? In fünf, zehn, 15 Jahren? Sie beto-nieren im Grunde durch Volksentscheide die politischeEntwicklung in einer Zeit, in der sich die Wirklichkeitrasend schnell verändert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Rött-
gen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Ströbele?
Ja, selbstverständ-
lich.
Kritik – es ist ja auch eine Kritik der Entwürfe, die wir
vorgestellt haben –, daß auch in der parlamentarischen
Demokratie selbst wichtige Entscheidungen von weni-
gen getroffen und nur von wenigen durchschaut wer-
den? Es sind allenfalls jene, die in einem Ausschuß sit-
zen und tatsächlich an Anhörungen teilnehmen; das
sind meistens weniger als 10 Prozent. Hingegen verlas-
sen sich die anderen 90 Prozent in der Regel auf die
Entscheidungen oder den Rat der Kollegen und heben
dann die Hand oder werfen die Karte ein. Es treffen al-
so nicht die 660 Volksvertreter eine inhaltliche Ent-
scheidung nach guter Vorberatung, Anhörung usw.,
sondern eine Minderheit trifft die Entscheidung und die
anderen folgen ihr nur. Ähnlich wäre es bei einem Ple-
biszit doch auch.
Das bestätigt nur
meine Grundthese, daß wir es in vielen Fällen mit Sach-
verständigenthemen zu tun haben, bei denen selbst unter
denjenigen, die Politik als Beruf betreiben, also von
morgens bis abends dafür bezahlt werden – das können
wir von einem normalen Bürger nicht erwarten; es wäre
illusionär, dies zu erwarten –, wiederum die Experten
gefragt sind. Dies bestätigt im Grunde meine These, daß
es illusionär ist, solche Fragen etwa einem 80-Millio-
nen-Volk vorzulegen.
Nun könnte man einwenden, es gehe ja nicht um das
Urheberrecht, das plebiszitär entschieden werden soll,
sondern es gehe um die großen Fragen, die in einer
Volksabstimmung entschieden werden sollen. Dies muß
aber nicht sein; es können auch, wie Herr Marschewski
gesagt hat, die lautstark vertretenen partiellen Interessen
sein. Aber in der Regel sind es sicher die großen Fragen
die in Volksabstimmungen entschieden werden. Bei die-
sen Fragen handelt es sich nicht um Expertenthemen,
sondern um Fragen, die in einer breiten Diskussion im
Parlament behandelt werden. Ich sehe mich durch Ihre
Kritik also eher bestätigt, als in meiner Auffassung er-
schüttert.
Ich will noch einen Punkt, den ich eben angesprochen
habe, vertiefen, indem ich auf die Entwicklungslinien,
die mit dieser Fragestellung verbunden sind, hinweise.
Dabei geht es auch um die Veränderung der ideellen
Grundlage der Demokratie bei Plebisziten. Jeder Ab-
geordnete ist dem Allgemeinwohl verpflichtet. Es wäre
neben der kommunalen auch eine bundespolitische Rea-
lität, daß mit Plebisziten partielle Interessen vertreten
werden. Sie werden häufig von lautstarken Minderheiten
artikuliert. Man braucht Geld, um so etwas erfolgreich
zu machen. Darin liegt eine große Gefahr. Ich glaube,
daß der Interessenlobbyismus in unserem Land stark ist
und daß die Allgemeinwohlorientierung eher unterstützt
werden muß. Plebiszite fördern eher die Vertretung par-
tieller Interessen und drängen das Allgemeinwohl zu-
rück.
Um es in dieser kleinen Runde am späten Abend
noch einmal zu sagen: Ich bin sehr dafür, daß wir ver-
nünftig und nicht populistisch über diese Frage reden.
Wir müssen aber in diesem Zusammenhang auch über
die ernsthaften Schwierigkeiten diskutieren, die mit Ple-
bisziten verbunden sind. Ansonsten ist diese Diskussion
nichts anderes als eine PR-Kampagne, was diejenigen,
die heute hier anwesend sind – so habe ich die Debat-
tenbeiträge verstanden –, nicht wollen. Also muß schon
ein bißchen mehr Substanz geliefert werden.
Unsere Fraktion ist von der repräsentativen Demo-
kratie, die verbesserungsbedürftig ist, sehr überzeugt.
Wir verschließen uns der Diskussion nicht, weisen je-
doch auf fundamentale Gefahren hin, die durch die Ein-
führung von plebiszitären Elementen entstehen können.
Die Diskussion darüber wollen wir aber gerne führen.
Herzlichen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf Drucksachen 14/1126 und 14/1129 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich möchte mich ausdrücklich bei all denjeni-
gen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die bis zur
letzten Minute ausgeharrt haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 15. September 1999, 9 Uhr
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.