Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b sowie Zusatzpunkt 13 auf:
11. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, Gila Altmann , Franziska Eichstädt-Bohlig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Bodens
- Drucksache 13/5203 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Bodens
- Drucksache 13/6701 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
ZP13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Günther Maleuda, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Eckpunkte für ein Gesetz zum Schutz des Bodens
- Drucksache 13/6715 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Bundesministerin Frau Dr. Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem wir bereits seit langem spezielle Gesetze mit einem erheblichen untergesetzlichen Regelwerk für die Umweltmedien Luft und Wasser haben, ist es an der Zeit, daß auch eine Regelung für das dritte Medium, nämlich den Boden, gefunden wird, und dies in einem eigenständigen Gesetz. Ich glaube, dies gilt insbesondere deshalb, weil der Boden zunehmend gefährdet ist und er gerade auch das Umweltmedium ist, das sehr schwer zu regenerieren ist. Die Bundesregierung hat deshalb den Entwurf eines Bundes-Bodenschutzgesetzes eingebracht, der hier im Parlament zur Debatte steht.
Dieses Bundes-Bodenschutzgesetz soll den vorbeugenden Bodenschutz und die Altlastensanierung zusammenführen. Es geht bei diesem Gesetz um die zulässige Nutzung von Grund und Boden. Es geht sowohl um die Eignung von Grundstücken für den Bau von Wohnungen wie auch um Anforderungen an Industrieanlagen zur Abwehr und Beseitigung von Bodenbelastungen.
Mit dem Gesetzentwurf des Bundes werden die Voraussetzungen für einen wirksamen Bodenschutz und die Sanierung von Altlasten geschaffen. Es werden einheitliche Anforderungen definiert, die dann bundesweit gelten sollen. Dadurch wird ein effektives Vorgehen der Behörden möglich sein. Es werden die Sanierungspflichten festgelegt. Damit werden Rechtssicherheit und in einem breiten Bereich Investitionssicherheit geschaffen, was von außerordentlicher Bedeutung ist.
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Ich möchte gleich zu Beginn darauf hinweisen, daß dieses Bundes-Bodenschutzgesetz, so wie wir es hier vorgelegt haben, natürlich einen Einstieg in den Umgang mit einem neuen Medium darstellt. Auch das Bundes-Immissionsschutzgesetz war als solches nicht gleich komplett. Es hat sich erst nach einer gewissen Zeit in seiner völligen Breite entwickelt. So wird es auch mit dem Bundes-Bodenschutzgesetz sein.
Eine der wichtigen Forderungen in den Beratungen des Bundesrates lautete immer wieder, daß dieses Bundes-Bodenschutzgesetz natürlich auch eines untergesetzlichen Regelwerkes bedarf. Ich will gleich an dieser Stelle sagen, daß wir bereits in Gesprächen mit den Ländern zugesagt haben, daß bis zur Verabschiedung, das heißt zum zweiten Durchgang im Bundesrat, die Grundzüge des untergesetzlichen Regelwerkes vorliegen werden. Allerdings kann man - das war beim Bundes-Immissionsschutzgesetz auch nicht so - nicht schon die Verordnungen verabschieden, bevor das Gesetz in seinen Endzügen überhaupt feststeht. Das heißt, die Reihenfolge der Beratungen muß eingehalten werden.
Das Gesetz wird eine entscheidende Hilfestellung insbesondere für die Sanierung von Industriebrachen geben und damit bewirken, daß Neuansiedelungen oder Erweiterungen von Industrie- oder Gewerbebetrieben auf diesen Flächen verstärkt unter Nutzung der vorhandenen Infrastruktur stattfinden können. Denn eines unserer großen Umweltprobleme ist ja, daß wir es im Grunde bis heute nicht geschafft haben, eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Flächenverbrauch zu erreichen. Genau dies kann uns besser gelingen, wenn wir es schaffen, vorhandene und schon benutzte Flächen wiederzuverwenden und nicht weiter in ungenutztes oder landwirtschaftlich genutztes Land vorzudringen, wodurch der Naturhaushalt beeinträchtigt wird.
In der Bundesrepublik Deutschland haben wir insgesamt 25 000 Hektar Flächen, die zur Revitalisierung der Innenstädte bereitstehen. Zwei Drittel davon stammen aus Gewerbebrachen, ein Drittel aus Konversionsflächen, aus ehemaliger militärischer Nutzung. Mehr als die Hälfte dieser Flächen, dieser 25 000 Hektar, wäre nach diesem Gesetzentwurf baureif. Das heißt, wir hätten in erheblicher Weise Land gewonnen.
Heute ergeben sich Anforderungen hinsichtlich der Verhinderung und Beseitigung von Bodenbelastungen aus zahlreichen bundes- und landesrechtlichen Vorschriften wie Abfallrecht, Wasserrecht und Immissionsschutzrecht. In Sachsen, Berlin und Baden-Württemberg gibt es Landesbodenschutzgesetze, und es gibt das Polizeirecht des jeweiligen Landes. Aber es gibt einen Wildwuchs an Listen und Methoden. Es sind allein über 30 Listen zu Bodenwerten bereits im Umlauf. Die Listen unterscheiden sich jeweils im Verfahren und in den Bewertungsmaßstäben. Jedes Land und jede Kommune setzt sich damit ihre eigenen Maßstäbe, was natürlich nicht gerade die Rechtssicherheit fördert.
Jemand, der in einem bundesweiten Unternehmen an drei Standorten in drei Bundesländern heute eine Sanierung versucht und sich mit Altlastenproblemen herumzuschlagen hat, hat dann verschiedene Verfahren und Vorschriften anzuwenden. Für die gleichartigen Boden- und Gewässerverunreinigungen, die dieser Betrieb hat, weil er überall das gleiche produziert, muß das Unternehmen heute nicht etwa ein Sanierungskonzept, sondern drei verschiedene Sanierungskonzepte erstellen. Zuvor ist das Unternehmen gezwungen, bei den Landräten erst einmal zu fragen, welche der 30 im Umlauf befindlichen Listen denn nun anzuwenden sind. Es ist klar, daß daraus ein erheblicher bürokratischer Aufwand resultiert.
Wenn man sich das noch deutlicher vor Augen führen will, muß man sich den Fall vorstellen, daß Altlastenverdachtsflächen, die sich über mehrere Kreise erstrecken, nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu sanieren sind. Wenn man sich einmal ein Fachunternehmen der Sanierungsbranche vorstellt, das vielleicht 15 Standorte sanieren will und sich dann mit 15 verschiedenen Gegebenheiten herumzuschlagen hat, merkt man, daß das natürlich keine Branche ist, die sich besonders gut und flüssig entwickeln kann.
Das sind die alltäglichen und aktuellen Beispiele, aus denen klar wird, daß es einen bundesgesetzlichen Regelungsbedarf gibt. Wir werden mit diesem Gesetz Flächen für die wirtschaftliche Entwicklung mobilisieren und das Sanierungs-Know-how auch in wettbewerbsfähige Arbeitsplätze umsetzen. Dies ist ein wichtiger Bereich, in dem Deutschland sein Know-how auch in anderen Ländern einsetzen kann. Wenn man sich einmal den gesamten Bereich der Umwelttechnologie und des Transfers von Knowhow anschaut, ist dies ein Bereich, in dem wir Erhebliches leisten können.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist von Beginn seiner Erarbeitung an - diese Erarbeitungsphase war in der Tat lang - intensiv erörtert worden, und zwar mit den von Bodenbelastungen und Altlasten Betroffenen, mit den Sanierungsverpflichteten und mit den Ländern sowie fachlich und rechtlich im wissenschaftlichen Bereich. Man muß sehen, daß hier Neuland betreten wird, daß die Bodensanierung nunmehr als Zwischenstück zwischen Wasser- und Luftsanierung eingepaßt werden muß und daß bei allen anzuwendenden Grenzwerten aufgepaßt werden muß, daß sie sich mit den Werten für Luftschadstoffe und Wasserschadstoffe in einer vernünftigen Relation befinden.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderung - Welt im Wandel" hat uns in seinem Jahresgutachten vom 25. April 1996 die Gefährdung der Böden vorgestellt. Das ist ein Gutachten, das wir sehr ernst nehmen. Auch der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen hat in seinem Sondergutachten Altlasten II vom Januar 1995 betont, daß die Gefährdungsabschätzung ein bundeseinheitliches Vorgehen erfordert. Im Umweltgutachten 1996 vom März letzten Jahres bezeichnet der Rat die Verabschiedung des Bundes-Bodenschutzge-
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
setzes und des untergesetzlichen Regelwerkes „als vordringliche Aufgabe der Bodenschutzpolitik".
Die in diesem Zusammenhang vom Sachverständigenrat erhobene Forderung nach einem bundesweiten Bodeninformationssystem wird im Grundsatz von mir geteilt. Wir werden aus den Mitteln unseres Forschungsplans Vorhaben fördern, die sich mit den methodischen Grundlagen für ein solches Bodeninformationssystem befassen. Der § 19 des Gesetzentwurfs, über den wir heute beraten, wird die rechtliche Grundlage für die Datenübermittlung an den Bund bereitstellen.
Es gab zahlreiche Anregungen und Vorschläge zum Gesetzgebungsverfahren. Es gab eine ganze Menge Zustimmung, auch wenn man sich einmal unsere normalen Kontroversen vor Augen hält. Es gab natürlich auch viele kritische Anmerkungen; ich werde auf einige der Diskussionspunkte noch zurückkommen.
Wir haben alle Einwendungen und Anregungen geprüft und haben vieles von dem, was uns vorgeschlagen wurde, auch aufgenommen. Ich denke, daß auf verschiedenen Gebieten erhebliche Gemeinsamkeiten bestehen. Lassen Sie mich davon einige Punkte nennen.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zahlreiche Anregungen und Vorschläge zu einzelnen Vorschriften gemacht. Er hat aber an keiner Stelle die Konzeption des Regierungsentwurfs in Frage gestellt. Ich hoffe, daß er auch im zweiten Durchgang ein Votum abgibt, das das Ergebnis einer sehr sachlichen Auseinandersetzung mit dem Gesetz ist.
Ich sehe zwischen den Forderungen der verschiedenen Fraktionen dieses Hauses und den Vorschlägen der Bundesregierung ebenfalls mehr Gemeinsames als Trennendes. Dies gilt auch im Hinblick auf die Vorschläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die in Form eines Gesetzentwurfes zum Schutz des Bodens vom 2. Juli 1996 eingebracht worden sind. Es gibt Teile des Gesetzentwurfes, die wörtlich mit dem unsrigen übereinstimmen. Es gibt aber natürlich auch erhebliche Unterschiede. Ich denke, darüber wird noch zu sprechen sein.
Einer der Unterschiede, auf den ich hier eingehen möchte, besteht darin, daß nach dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen künftig jede Bodensanierung nutzungsunabhängig erfolgen soll. Das Ziel jeder Sanierung soll die Wiederherstellung eines weitgehend natürlichen Bodenzustandes sein.
Wir sagen in unserem Regierungsentwurf: Wir wollen die Böden nutzungsbezogen sanieren. Wir halten es für überzogen zu sagen: Jeder Boden, egal ob wieder eine Gewerbefläche oder etwas anderes darauf entsteht, muß weitgehend in den natürlichen Bodenzustand zurückversetzt werden. Wir sind der Meinung: Wir müssen, natürlich unter Beachtung der Auswirkungen auf das Grundwasser und ähnliches, den Nutzungsbezug herstellen, um effektiv mit den Mitteln, die wir haben, umzugehen. Da macht es eben einen Unterschied, ob auf der Altlastenfläche ein Kinderspielplatz oder aber ein Gewerbegebiet entstehen soll.
Ich glaube, daß der Gesetzentwurf der Bundesregierung differenzierte und sachgerechte Lösungen bietet. Es werden keine neuen Genehmigungsverfahren geschaffen, und wir haben versucht zu vermeiden, daß unsinnige bürokratische Hemmnisse das Sanieren von Anfang an behindern.
Wir greifen natürlich auf die bewährten Strukturen des bisherigen Umweltrechts und des Polizei- und Ordnungsrechts zurück. Soweit das bestehende Fachrecht zum Bodenschutz modifiziert werden muß, gilt ein integrativer Ansatz. Die Konzeption des Bundes-Bodenschutzgesetzes beruht auf dem Gedanken der Integration des Bodenschutzes in bestehende Regelwerke und Normen des Umweltrechts.
Wir können dadurch natürlich auch auf schon vorhandenes Personal zurückgreifen. Dies ist heute eine zentrale Aufgabe, die auch in der Diskussion mit den Ländern eine wichtige Rolle gespielt hat. Keiner kann heute eine Reihe von Angestellten und Beamten einstellen, um eine ganz neue Verwaltung aufzubauen. Wir müssen versuchen, hier konzentriert vorzugehen.
Was sind die wesentlichen Regelungen? Leitgedanke des Entwurfs ist es, die Anforderungen an einen wirksamen Bodenschutz und die Sanierung zu vereinheitlichen. Grundpflichten stellen sicher, daß die Funktionen des Bodens langfristig erhalten bleiben und, soweit erforderlich, wiederhergestellt werden. Vor allen Dingen geht es um folgende Pflichten:
Jeder, der den Boden nutzt, hat sich so zu verhalten, daß durch ihn keine Gefahren für den Boden hervorgerufen werden.
Vorsorgepflichten stellen sicher, daß der Boden in seiner ökologischen Leistungsfähigkeit nicht überfordert wird.
Grundstückseigentümer und -besitzer müssen sicherstellen, daß von ihren Böden keine Gefahren ausgehen.
Sind bereits Schädigungen des Bodens eingetreten, besteht eine Pflicht zur Sanierung.
Bodenverunreinigungen haben in der Regel auch Verunreinigungen von Gewässern zur Folge. Deshalb soll sich die Pflicht zur Bodensanierung auch auf die Sanierung von Gewässerbelastungen erstrecken. Hierdurch wird sichergestellt, daß für beides, die Sanierung des Bodens und die Sanierung der Gewässer, einheitliche Anforderungen gelten.
Zur Beseitigung von Bodenversiegelungen soll der Grundstückseigentümer künftig durch Rechtsverordnung verpflichtet werden können.
Nach dem Gesetzentwurf sind außerdem spezielle Anforderungen an das Auf- und Einbringen von Materialien auf den Boden möglich. Zur Verhinderung künftiger Bodenbelastungen sollen Verbote und Beschränkungen für das Aufbringen von möglicherweise belasteten Materialien auf Böden angeordnet werden können.
Die landwirtschaftliche Bodennutzung - dies ist auch ein erhebliches Feld der Diskussion - hat nach dem Entwurf standortgemäß so zu erfolgen, daß
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Bodenabträge soweit wie möglich vermieden werden, Bodenverdichtungen nicht auftreten, das Bodenleben gefördert wird und eine günstige Bodenstruktur gewährleistet ist.
An all diesen Festlegungen sehen Sie, daß ein breiter Raum für zusätzliche Regelungen, die nicht im Gesetz verankert sind, gegeben ist. Ich sage an dieser Stelle ganz klar: Wir können nicht alles regeln, was denkbar ist. Wir müssen vielmehr das regeln, was angesichts der Schädigungen des Bodens wesentlich ist. Ansonsten könnten wir ein unendliches Regelwerk aufbauen, was ich nicht für richtig halte.
Ein kritischer Punkt in der Diskussion mit den Bundesländern ist auch bei diesem Gesetz wieder die Frage der Ausgleichsregelungen: Was passiert, wenn besondere Anordnungen zur Beschränkung der land- und forstwirtschaftlichen Bodennutzung getroffen werden? Bei aller Kritik, die geäußert wurde, halte ich eine solche Ausgleichsregelung für erforderlich.
Man muß bei Ausgleichsregelungen landwirtschaftliche Flächen im Bereich von gewerblich genutzten Grundstücken oder des Straßenverkehrs berücksichtigen. Es ist natürlich nicht gerecht, daß die, deren landwirtschaftlich genutzte Flächen in solchen Bereichen liegen, in denen sie von der Bodenverschmutzung besonders betroffen sind, keinerlei Anspruch auf Ausgleich haben, während dieser in anderen Bereichen der Gesellschaft bei Schädigung des Eigentums durchaus gewährt wird. Es muß also die Bereitschaft da sein, diesen Ausgleich aufzubringen, zumal das nach dem Polizeirecht, das allerdings zum Teil nicht durchgesetzt werden kann, schon heute geschehen müßte.
Einen besonderen Schwerpunkt des Gesetzes bildet natürlich die Sanierung von Altlasten. Das sind Deponien, Abfallablagerungen, ehemalige Industriestandorte. Hierbei geht es vor allen Dingen um die Erfassung, die verpflichtend wird, die Untersuchung und Bewertung, die Überwachungspflichten der Behörden und die Eigenkontroll- und Meldepflichten der Verantwortlichen.
Von Sanierungspflichtigen kann die Vorlage eines Sanierungsplans verlangt werden. Bei gravierenden und komplexen Altlasten wird der Sanierungsplan Transparenz schaffen und damit auch einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz der Sanierungsmaßnahmen leisten. Es wird nämlich immer gesagt: Laßt uns doch schnell auf eine neue Fläche gehen; damit haben wir nicht soviel Ärger wie mit der Sanierung der alten Fläche.
Mit dem Sanierungsplan kann der Sanierungspflichtige den Entwurf eines öffentlich-rechtlichen Sanierungsvertrages vorlegen. Die von Sanierungsmaßnahmen Betroffenen sind über die Einzelheiten des Vorhabens frühzeitig zu informieren.
Was ich für außerordentlich wichtig halte, ist eine Konzentrationswirkung des Sanierungsplans. Das heißt, es soll nicht ein unendlicher Gang zu allen denkbaren Behörden erfolgen. Die Genehmigungen werden nicht nur im Bereich des Bodenschutzes, sondern auch im wasser-, abfall- und immissionsschutzrechtlichen Bereich in einem konzentrierten Verfahren gegeben. Das ist, glaube ich, die Grundlage dafür, daß die Sanierung schnell durchgeführt werden kann.
Im Gesetzentwurf werden ferner die Voraussetzungen für die Festlegung bundeseinheitlicher verbindlicher Bodenwerte im Gefahrenabwehr- und Vorsorgebereich geschaffen. Diese Werte sind für die Länder verbindlich. Das ist natürlich der Punkt, in dem die Musik im untergesetzlichen Regelwerk steckt; das ist ganz klar. Deshalb sage ich, daß wir gegen Ende der Beratungen dieses untergesetzliche Regelwerk vorlegen. Ich kann an dieser Stelle auch schon festhalten: Es ist in seinen Grundzügen existent. Es gibt Absprachen. Wir werden das seitens des Bundes schaffen. Wir sind aber darauf angewiesen, die parlamentarischen Beratungen zu begleiten; denn wir brauchen keine Verordnung zu machen, für die die Ermächtigung im parlamentarischen Verfahren vielleicht wieder gestrichen wird. Das ist klar. Aber, ich denke, wir sind hier in einem konstruktiven Prozeß.
Meine Damen und Herren, wir haben am 27. August 1996 im Kabinett auch Regelungen für den Bodenschutz in den Gesetzesnovellen zum Bundesnaturschutzgesetz, zum Raumordnungsgesetz und zum Baugesetzbuch beschlossen. Das heißt, die parlamentarischen Beratungen in diesen Bereichen werden auch auf die Rechtsetzung des Bodenschutzgesetzes Einfluß haben.
Insgesamt bin ich sehr froh, daß wir die parlamentarischen Beratungen nach jahrelangen Diskussionsprozessen beginnen können und damit weltweit eines der Länder sind, die in der Bodenschutzgesetzgebung führend sind. Wer sich mit der internationalen Problematik der Bodennutzung, der Bodenzerstörung, der Erosion befaßt, weiß, von wie großer Wichtigkeit ein sachgerechter Umgang mit dem knappen Boden ist. Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Parlament und bedanke mich fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelica Schwall-Düren.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die unendliche Geschichte eines Bodenschutzprogramms befindet sich durch die Vorlage des Bodenschutzgesetzes in der Tat auf einer wichtigen Zwischenetappe.
Bereits 1984 forderte die SPD-Fraktion ein Bodenschutzprogramm. Die Bundesregierung reagierte erst im Jahre 1985 mit einer durchaus bemerkenswerten Bodenschutzkonzeption, die aber nie in ein mit den Bundesländern abgestimmtes Bodenschutzprogramm umgesetzt wurde.
In den Maßnahmen zum Bodenschutz von 1987 sollten vorhandene Rechtsvorschriften ergänzt und aufeinander abgestimmt werden. In der Koalitions-
Dr. Angelica Schwall-Düren
vereinbarung von 1991 wurde schließlich die Schaffung eines Bodenschutzgesetzes vereinbart.
Der damalige Umweltminister Töpfer kündigte an, daß mit dem Gesetz eine entscheidende Lebensgrundlage gesichert und zugleich in Europa Maßstäbe gesetzt werden sollten; Frau Merkel hat ihr Bodenschutzgesetz heute in ähnlicher Weise qualifiziert. Aber bis in das Jahr 1997 ist es dazu nicht gekommen.
Dagegen sind andere europäische Staaten, zum Beispiel die Niederlande, oder auch einzelne Bundesländer, zum Beispiel Baden-Württemberg, tätig geworden und haben Bodenschutzgesetze erlassen. Zwar gab es immer wieder ministeriumsinterne Gesetzentwürfe, die aber schon in der Ressortabstimmung stets zurückgewiesen wurden und nicht einmal Kabinettsreife erlangten.
Mit jedem neuen Entwurf wichen die Fachleute des BMU ein Stück mehr vom fachlich Notwendigen zur Umsetzung eines echten Bodenschutzes ab. Sollte es der Mut der Verzweiflung sein, daß sich die Umweltministerin traut, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der am Ende einer Entwurfsgeschichte völlig verwässert ist und den Vorsorgegedanken aufgegeben hat?
Diese Verwässerung wird von Frau Merkel noch zu einem neuen konzeptionellen Ansatz hochgejubelt. Damit wird das Bodenschutzgesetz aber zur Mogelpackung.
Ich will zunächst die Frage aufwerfen: Wofür brauchen wir ein Bodenschutzgesetz? Der Boden ist neben sauberer Luft und sauberem Wasser eine der wichtigsten natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen, Tieren und Pflanzen, zu deren Schutz uns alle der Grundgesetzartikel 20 a verpflichtet.
Die natürlichen Funktionen des Bodens als Regelungsfilter und Speichersystem werden bedroht, wenn es zu starken Belastungen durch Schadstoffeinträge, Überdüngung, Versauerung, Verdichtung und Versiegelung oder andere physikalische Belastungen kommt. Der Boden ist selbstverständlich für die Nahrungsmittelproduktion unverzichtbar, sowohl was seine Qualität anbetrifft wie auch das Vorhandensein ausreichender Flächen; denn der Boden ist als begrenzte Ressource nicht vermehrbar.
Angesichts der weltweiten Bevölkerungsentwicklung ist dieser Zusammenhang unübersehbar. Dennoch war die Verfügbarkeit guter Böden als Fundament unserer Nahrungsmittelproduktion selbstverständlich. Wir brauchen ein Bodenschutzgesetz, weil die Menschheit gerade dabei ist, sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Erosion durch Wind und Wasser, Vergiftung, Versalzung und Versiegelung wurden in der Regel nur lokal beachtet, und wir nehmen diese Probleme immer nur bei den anderen wahr. Die Bodenzerstörung ist aber längst ein globaler Notstand geworden.
Wir verlieren gegenüber den Ländern des Südens jegliche Berechtigung, einen nachhaltigen Umgang mit dem Boden einzufordern, wenn wir selbst verschwenderisch und destruktiv über den Boden verfügen. Der allzu leichtfertige Umgang mit dem Medium Boden muß international und national dringend gestoppt werden, will man nicht in Kauf nehmen, daß hier eine der wichtigsten Quellen für das Überleben der Menschheit irreparabel geschädigt wird.
Unsere Industrie- und Wohnkultur benötigt immer mehr Flächen für Wohn- und Gewerbezwecke, Freizeitanlagen sowie für die verkehrliche Infrastruktur. Durch Versiegelung wird immer mehr Freiraum in Anspruch genommen; meine Kollegin Burchardt wird darauf näher eingehen.
Die Belastung der Böden läßt sich schon seit Jahren nicht mehr leugnen: durch eine Industrie, die über Jahre sorglos mit Emissionen umgegangen ist und noch umgeht - ich erinnere daran, daß wir im Augenblick wieder eine heftige Diskussion um Dioxin im Raum Duisburg haben -, durch Rüstungs- und militärische Aktivitäten über die gesamten letzten 100 Jahre, sowohl von seiten deutscher Streitkräfte wie auch von Verbänden der Alliierten und des Warschauer Pakts, ebenso durch eine bodenbelastende Intensivlandwirtschaft.
Selbstverständlich wurden auch in der Vergangenheit immer wieder Böden saniert oder zumindest so abgesichert, daß absehbar keine akute Gefährdung von ihnen ausgeht. Dies geschah nach Länderrecht, teils über Abfallgesetze oder Landesbodenschutz-
bzw. Altlastengesetze. Die Konsequenz der föderalen Organisation - Frau Merkel hat das vorhin ausgeführt - war eine sehr unterschiedliche Praxis, insbesondere hinsichtlich der Schadstoffkriterien, die in den einzelnen Ländern angewandt wurden.
Verständlicherweise führte dies zu Wettbewerbsverzerrungen für betroffene Eigentümer von belasteten Flächen und zu Standortvor- bzw. -nachteilen. Entsprechendes gilt natürlich auch für die Vorsorgeauflagen. All das macht deutlich, daß die Bundesregierung große Defizite im Bodenschutz zugelassen hat und daß sie aufgefordert ist, ein wirksames Bodenschutzgesetz vorzulegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die Bundesregierung diesem Anspruch gerecht? Zunächst ist festzuhalten, daß das Gesetz nicht den Schutz des Bodens in den Vordergrund stellt, sondern seine Nutzungsfunktionen. Hiermit wird überdeutlich, daß sich der Mensch arrogant außerhalb der Natur stellt.
Dr. Angelica Schwall-Düren
Mit dieser Einschätzung stehen wir nicht allein da, Frau Hellwig. Viele Verbände kritisieren, daß die noch in der jüngeren Vergangenheit verkündeten Prinzipien der Vorsorge und der Querschnittsorientierung in diesem Gesetzentwurf kaum zum Tragen kämen, sondern aus dem Bodenschutzgesetz kaum mehr als eine Altlastensanierungsregelung geworden sei, in der sich Generalamnestien und Ausnahmebestimmungen aneinanderreihen.
Das wird deutlich, wenn man die Anwendungsbereiche betrachtet. In § 3 beispielsweise werden verschiedene Nutzungen durch Ausnahmen von der Anwendung ausgeklammert, und zwar gerade solche, von denen erhebliche und nachhaltige Beeinträchtigungen der Bodenfunktionen ausgehen können.
Ergebnis ist, daß der Bodenschutz auf dieser Grundlage nur noch auf verbleibenden Restflächen, das heißt auf Inseln, betrieben werden kann. Das formulierte Entsiegelungsgebot wird so eingeschränkt, daß der praktische Wirkungsgrad nur noch sehr gering sein kann.
Auch der Bundesrat hält den Vorsorgegedanken im Bundes-Bodenschutzgesetz für nicht ausreichend verankert; denn er kritisiert die Beschränkung der Anwendung auf Fälle von schädlichen Bodenveränderungen, die auf einer Bodennutzung oder wirtschaftlichen Tätigkeit beruhen, und auf Altlasten.
Der Vorsorgegedanke würde eher ausgedrückt, wenn die natürlichen Funktionen von den Bodennutzungen getrennt würden. Es erscheint nicht sinnvoll, es zum Zweck eines Bodenschutzgesetzes zu machen, den Boden zum Beispiel als Rohstofflagerstätte oder als Standort für Verkehr oder für Ver- und Entsorgung zu schützen.
Die Altlastensanierung soll sich nach diesem Entwurf nur an den Nutzungsfunktionen orientieren. So wird von vornherein die Möglichkeit eröffnet, Sanierungen zweiter Klasse durchzuführen.
Daß Sanierung nur im Rahmen technischer Möglichkeiten durchgeführt werden kann, ist selbstverständlich.
Aber auch die Notwendigkeit, zwischen fachlichen Notwendigkeiten und finanziellen Möglichkeiten abzuwägen, ist allgemeiner Rechtsgrundsatz, so daß sich eine Einschränkung des Sanierungsgebots im Gesetzestext erübrigt. Als Sanierung gelten sowohl Dekontamination wie Sicherung der Altlast. Auch dies ermöglicht, die billigere Variante der Sanierung durchzuführen.
Ist das Gesetz überhaupt umsetzbar? Eine Reihe von Regelungen enthält unbestimmte Rechtsbegriffe und ist damit schwer verständlich und vollzugshemmend. Solange das untergesetzliche Regelwerk mit den Kriterien für die Altlastensanierung nicht vorliegt, kann es keine bundesweit einheitliche Praxis geben. Frau Merkel hat ja nun angekündigt, daß eine rasche Verabschiedung erfolgen wird. Wir hoffen es; denn wenn dies nicht geschieht, werden Rechtsunsicherheit mit Rechtstreitigkeiten, gerichtliche Auseinandersetzungen und damit verbundene zeitliche Verzögerungen die Folge sein.
Als großes Handikap bleibt die ungelöste Finanzierungsfrage. In den Fällen, in denen der Verursacher eines Schadens nicht greifbar ist oder keine Finanzierungsmasse zur Verfügung hat, bleiben die Kosten an den Ländern hängen. Das gleiche gilt für die Ausgleichszahlungen an die Landwirtschaft.
Die Bundesregierung eröffnet den Ländern jedoch keinerlei Refinanzierungsmöglichkeiten. Sie muß sich fragen lassen, ob sie das Gesetz scheitern lassen will; denn der Bundesrat hat zu erkennen gegeben, daß er dem Gesetz die notwendige Zustimmung verweigern wird, falls nicht wesentliche Änderungen im Gesetzentwurf vorgenommen und Finanzierungsmöglichkeiten eröffnet werden. Die Gegenäußerung der Regierung läßt nicht hoffen.
Welche Forderungen sind aus der Sicht der SPD- Fraktion zu stellen? Hauptziel eines Bundes-Bodenschutzgesetzes muß die Verpflichtung für jedermann sein, durch einen vorsorgenden Bodenschutz den Boden als Lebensraum und Ökosystem zu erhalten, damit für nachfolgende Generationen die Produktion unbelasteter Nahrungsmittel und nachwachsender Rohstoffe gesichert ist und die Regelungs-, Filter- und Speicherfunktion für einen funktionierenden Wasserhaushalt erhalten bleibt. Ziel muß es sein, das nicht vermehrbare und nur begrenzt erneuerbare Umweltmedium Boden um seiner selbst willen zu schützen. Die bedenkliche und widersprüchliche Art der Verknüpfung der Nutzungsfunktionen des Bodens mit den natürlichen Funktionen muß rückgängig gemacht werden; denn die Nutzungsfunktionen wirken überwiegend bodenzerstörend.
Ein Vorrang von Dekontaminationsmaßnahmen vor Sicherungs- und Beschränkungsmaßnahmen im Bereich des Bodenschutzes würde die Zielsetzung, dem Schutz der natürlichen Bodenfunktionen Vorrang vor dem Schutz der Nutzungsfunktionen einzuräumen, klarer zum Ausdruck bringen.
Der Begriff des Bodens soll auch die Gewässerböden umfassen, da hierfür ein umweltrelevanter Bedarf besteht. Auch die Gewässerböden müssen in ihren ökologischen Funktionen geschützt werden. Ihr Abtrag und ihre Akkumulation anderenorts müssen verhindert werden. Sie müssen vor Stoffeinträgen geschützt werden, und der Umgang bei ihrer Entnahme und Sanierung muß geregelt sein.
Es darf keine Ausklammerung des Bodenschutzes in anderen Gesetzen geben. Die Vorschriften anderer Gesetze können nur dann sinnvoll den Anwendungsbereich des Bodenschutzgesetzes einschränken, wenn inhaltliche Festsetzungen zum Schutz des Bodens im Sinne des vorliegenden Gesetzes eingehalten werden. Der Professorenentwurf für ein Umwelt-
Dr. Angelica Schwall-Düren
gesetzbuch schlägt deshalb sinnvollerweise in § 285 folgende Formulierung vor - ich zitiere -:
Die Vorschriften dieses Gesetzes finden Anwendung, sofern nicht andere Vorschriften inhaltsgleiche oder weitergehende Schutzvorschriften enthalten.
Dem kann sich die SPD nur anschließen.
Für die Fälle, in denen kein Verantwortlicher für Maßnahmen herangezogen werden kann, oder für Ausgleichszahlungen für die Land- und Forstwirtschaft sowie die Einschränkung der Zustandshaftung sollte eine Finanzierungsregelung getroffen werden.
In die Zweckbestimmung des Gesetzes ist auch die programmatische Forderung nach einem sparsamen und schonenden Umgang mit dem Boden aufzunehmen. Im Sinne der Kreislaufwirtschaft ist zwar die Aufbringung von Klärschlämmen und Komposten sinnvoll. Es muß aber unbedingt dafür gesorgt werden, daß es nicht zu einer weiteren Anreicherung von Schadstoffen in den Böden kommt. Schadstoffeinträge müssen nach dem Stand der Technik minimiert werden, damit Beeinträchtigungen von Boden und Grundwasser und neue Altlasten verhindert werden. Unvermeidliche Zusatzbelastungen durch Stoffeinträge müssen durch ein zeitlich und mengenmäßig abgestuftes Verschlechterungsverbot beschränkt werden. Dazu ist ein flächendeckendes bundesweites Monitoring gesetzlich zu regeln, mit dem eine systematische Überwachung der Entwicklung der Bodenbelastungen ermöglicht wird. Alle bodenschutzrelevanten Rechtsbereiche müssen dynamisiert fortgeschrieben werden, damit Bodenschädigungen durch Schadstoffeinträge, Erosion und Bodenverdichtung vermieden werden.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf wird einer nachhaltigen Bodennutzung und einem vorsorgenden Bodenschutz nicht gerecht. Der Entwurf sollte besser „Altlastensanierungs-" oder „Bodennutzungsgesetz" heißen. Damit würde das Kind ehrlicherweise wenigstens beim richtigen Namen genannt und eingestanden, daß umfassender Bodenschutz zur Zeit nicht der politische Wille des Bundes ist.
Unabdingbar ist eine Integration des Bodenschutzes in die Politikbereiche Agrar, Verkehr, Raumordnung und Wirtschaft, um endlich das Notwendige in Richtung einer nachhaltigen Bodennutzung bei uns und weltweit zu erreichen. Vernetztes Denken ist erforderlich. Aber nicht nur die einzelnen Politikfelder müssen miteinander verzahnt werden; vielmehr ist eine Abkehr vom Denken in einzelnen Stoffen und auch einzelnen Medien unabdingbar.
Die SPD-Fraktion wird einen Entschließungsantrag einbringen, in dem wir ein Bodenschutzprogramm fordern. Dieses soll Bodenqualitätsziele formulieren und ein Bodeninformationssystem über ein bundesweites Monitoring einrichten; Frau Merkel stimmt hier im Grundsatz zu. Dieses soll im Zusammenhang mit einer umweltökonomischen Gesamtrechnung wichtige Daten für Politik und Gesellschaft zur Verfügung stellen. Wir müssen die Schadstoffquellen bei Produktion und Produkten beseitigen. Eine konsequente integrierte Politik der Luftreinhaltung, des Gewässer- und Bodenschutzes ist das Gebot der Stunde.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Rochlitz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach nunmehr zwölf Jahren und sieben Entwürfen hat es die Kohl-Regierung geschafft, einen Entwurf zu einem Bodenschutzgesetz vorzulegen. Doch ist das bereits ein Grund, der Kohlschen Umweltpolitik ausnahmsweise Beifall zu spenden? Wir und die Umwelt- und Naturschutzverbände meinen: nein. Guten Gewissens kann man diesem Gesetzentwurf aus ökologischer und sozialer Sicht nicht zustimmen. Nur wer wie der Kanzler die Umwelt durch eine Ludwigshafener Chemiebrille sieht, dann ein einziges Mal in seiner Dauerkanzlerschaft diese in Rio kurz ablegt, erkennt in diesem Entwurf einen umweltpolitischen Fortschritt. Den muß man dann aber als lediglich industriellen Interessen dienenden Beitrag der Gesetzgebung begreifen, der nicht weit von bloßer Sterbehilfe für Umwelt und Natur entfernt ist.
Solch lobbyverpflichtete Umweltpolitik kennen wir inzwischen zur Genüge, zum Beispiel Beschleunigungsgesetze, durch die bei wichtigen Planungen die Umweltverträglichkeitsprüfungen abgeschafft wurden, oder im letzten Jahr die Novelle zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, die das von gefährlichen Produktionsanlagen ausgehende Risiko leichtsinnigerweise in die Eigenverantwortung der Industrie legte.
In dieser umweltgefährdenden Tradition steht auch der heute vorliegende Regierungsentwurf eines Bundes-Bodenschutzgesetzes. Ein Vertreter der Bayer AG meinte kürzlich auf einer Veranstaltung zum Boden: Boden ist ein kostbares Gut, aber bedenken Sie, auch Geld ist ein kostbares Gut. - So betrachtet dürfte des Kanzlers neuer Entwurf zumindest der Zustimmung der Industrielobby sicher sein. Denn mit Ihrem Bodenschutzgesetz und seinen zwölf Ausnahmebereichen, meine Damen und Herren von der Koalition, tun Sie keinem weh und den Verursachern aus Industrie, Landwirtschaft und dem öffentlichen Verkehrsflächenversiegler oder dem Militär schon gar nicht.
Dies heißt: Mit diesem Bodenschutzgesetz bewirken Sie allenfalls öffentliche Aufmerksamkeit, aber keinen Bodenschutz, zumal dann, wenn Sie mit dem noch fehlenden untergesetzlichen Regelwerk nach Ihren eigenen Angaben, Frau Merkel, in erster Linie Kosten, Sanierungsaufwand und die Zahl der Altlastenflächen deutlich verringern wollen.
Dr. Jürgen Rochlitz
Was ist denn übriggeblieben von der ambitionierten Bodenschutzkonzeption von 1985, wenn de facto für die Verursacher von Bodenbelastungen doch alles beim alten bleibt? Wie meinte der Bundeskanzler noch in seiner diesjährigen Neujahrsansprache?
Wir Deutsche können nicht einfach weitermachen wie bisher. Wer dies versucht, verspielt unsere Zukunft.
Wie wahr, Herr Bundeskanzler! Doch wer, bitte schön, macht denn seit bald 15 Jahren einfach weiter wie bisher, wenn nicht Sie? Sie und Ihre Koalition sind doch Exponenten des ewigen Weiterwurstelns wie gehabt, nicht nur in der Umweltpolitik. Wo bitte, Herr Bundeskanzler, sind denn die nötigen Veränderungen, damit nicht einfach weitergemacht wird wie bisher? Wo gestehen Sie denn der Umweltpolitik in Ihrem Kabinett noch die dafür nötigen Gestaltungsspielräume zu? Wir brauchen Gestaltungsspielräume dafür, daß unsere Zukunft und die unserer Kinder eben nicht verspielt wird.
Ist es nicht vielmehr so, daß dieser Kohl-Regierung Mut, Phantasie und ein Auge für die Notwendigkeiten auf allen Politikfeldern und nicht allein beim Bodenschutz längst abhanden gekommen sind? Schließlich kann das Bodenschutzgesetz nur ein Baustein der Bodenschutzpolitik sein. Was wir zusätzlich brauchen, ist ein Untersuchungs- und Sanierungsprogramm, das nicht nur den Böden hilft, sondern Arbeitsplätze sichert und vermehrt.
Altlastenerkundung und -auflistung, Gefährlichkeitsbewertung und -gewichtung der drängendsten Probleme in einer bundesweiten Prioritätenliste sind dabei das mindeste, zu dem die Kohl-Regierung etwas beisteuern muß, um sukzessive das bundesweite Sanierungschaos aufzulösen.
Der Gesetzentwurf der Kohl-Regierung zeigt dagegen eines überdeutlich: Es ist eng am Kabinettstisch. Die Umweltministerin bleibt eingekeilt zwischen den mächtigen Lobbyressorts Wirtschaft, Verkehr, Verteidigung und Landwirtschaft sowie eingeschüchtert von des Kanzlers Globalisierungs- und Deregulierungsträumen. So kann keine beherzte Umweltpolitik entstehen. Statt dessen haben wir nur halbherzige und löchrige Initiativen wie diesen Ausnahmetorso eines Bodenschutzgesetzes ohne Durchgriff und ohne die wichtigsten und notwendigsten Anwendungsbereiche.
Aus diesem Geist stammt also im Regierungsentwurf die Herausnahme der Militärflächen, des Verkehrswegebaus und der atomaren Altlasten wie Wismut. Aus diesem Geist entstand wieder eine Klausel zugunsten der Landwirtschaft und daher auch die Abkehr von dem in der Bodenschutzkonzeption ehemals so hochgepriesenen Vorsorgeprinzip, das in der Umweltpolitik dieser Kohl-Regierung schon seit Jahren unauffindbar bleibt, vergraben in alten Töpferschen Schubladen.
Heute müssen wir feststellen: Einer der wichtigsten Grundsätze der Umweltpolitik, das Vorsorgeprinzip mit seiner Risikobeachtung, stand den Globalisierern einfach im Weg. Daraus abzuleitende Sanierungskosten betrachten sie nur als den Wettbewerb behindernde Standortkosten.
Kurzsichtig wie diese Standortpolitik insgesamt soll sich nun auch die Sanierungstiefe nur noch nach der unmittelbar danach folgenden Bodennutzung orientieren. Warum sollte sich auch die Politik über ihre Amtszeit hinaus Gedanken darüber machen, welche Nutzungsänderungen in 10, 15 Jahren oder später anstehen? Ihr sogenanntes Bodenschutzgesetz sieht statt grundsätzlicher und umfassender Sanierung für Wohnraum und Kinderspielplätze nur noch solche in reduzierter Form bis zur Parkplatzqualität vor. So kann der Boden mit seinen vielfältigen Funktionen nicht um seiner selbst willen geschützt werden. So ist ein Schutz des kaum vermehrungsfähigen Bodens nicht möglich, schon gar nicht ein Schutz vor weiterer unnötiger Inanspruchnahme von Bodenflächen.
Wie bitter nötig hätte dieses letzte ungeschützte Umweltmedium dies, in dem sich alle Schadstoffe aus Luft, Wasser und Abfällen anreichern können und das ein Gedächtnis für den ihm angetanen Schaden aufweist, das über zig Kanzlerschaften hinausgeht. Wie bitter nötig wäre über die auf der ganzen Breite des Gesetzes trotz mehrfacher Ankündigung fehlenden untergesetzlichen Regelungen die Eindämmung des Bodenverbrauchs durch den unersättlichen Flächenfraß, der, wenn es ungebremst so weitergeht, unseren Enkeln keine freien Flächen mehr übriglassen wird.
Gerade angesichts dieser Situation müssen wir beklagen, daß noch nie ein deutscher Kanzler im Ausland so sehr mit ökologischen Zielen und der deutschen Vorreiterrolle geprahlt und gleichzeitig die Umweltpolitik im Inland so geringgeachtet hat.
Da nach unten tritt, was von oben getreten wird, setzt sich die Geringschätzung der Umweltpolitik durch den Kanzler auch noch vom Ministerium zum Umweltbundesamt fort. Noch nie wurde dem Berliner Amt so sehr der Boden entzogen wie derzeit im Vorfeld des Umzugs nach Dessau - auch dies im übertragenen Sinne die falsche Bodenpolitik. Von der vordersten Front der Umweltpolitik heißt es für das Umweltbundesamt zurückzutreten in des Kanzlers Reih und Glied.
Aber die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kritisiert nicht nur. Unbehelligt durch Industrie- und Landwirtschaftslobby hat die Fraktion einen alternativen Gesetzentwurf erarbeitet. Er liegt dem Haus seit Monaten vor und hat die Unterstützung der Umwelt- und Naturschutzverbände von BUND bis NABU bis hin zur Deutschen Bodenkundlichen Gesellschaft und anderen Bodenexperten. Im Gegensatz zum Entwurf der Bundesregierung wird der bündnisgrüne dem gerecht, was von einem Gesetz zum Bodenschutz zu erwarten ist - so weitgehend deren Tenor.
Und richtig: Unser Entwurf fordert aktive Schutzpolitik im wahrsten Sinne des Wortes ein. Wenn Sie die konsequente Anwendung des Verursacher- und Vorsorgeprinzips wollen, wenn Sie den Schutz der Böden um ihrer selbst willen und damit für uns und
Dr. Jürgen Rochlitz
die kommenden Generationen wollen, dann sollten Sie nicht zögern und unserem Entwurf zustimmen.
Nur er sieht die Entsiegelungspflicht ohne Wenn und Aber vor. Die Entsiegelung, soweit möglich und zumutbar, gehört bei der Kohl-Regierung dagegen in einen zögerlich schaurigen Wortschatz. Nur unser Entwurf sieht die Sanierungsverantwortung für Rüstungsaltlasten beim Bund vor. Wer sonst ist Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs?
Ebenso wichtig ist: Wir wollen den Bund nicht, wie es der Regierungsentwurf vorsieht, von seiner Verantwortung gegenüber der Altlastensanierung aus bundeseigenen Liegenschaften entlasten. Vielleicht hätte die Kohl-Regierung diesmal jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt. Noch muß sich viel ändern, denn noch übt sich diese Regierung lieber in vatikanischer Politik: nur keine Veränderungen, sich nur nicht bewegen, nur keinen Rat von außen annehmen, zum Beispiel von den Sachverständigen; und dies, obwohl der Bundeskanzler in seiner Neujahrsansprache angekündigt hat: Wir werden unseren Platz nur noch behaupten, wenn wir die nötigen Veränderungen vornehmen.
Meine Damen und Herren, selbst der Papst erweist dem Boden, auf dem er ankommt, durch seinen berühmten Kuß mehr Ehre als die Bundesregierung mit nur einem einzigen Paragraphen ihres Bodenschutzgesetzes.
Nicht wir, nicht die Oppositionsparteien werden dem Kanzler einen ökologischen Aschermittwoch bescheren. Die Umwelt selbst rächt sich heute schon. Sie rächt sich für das bedenkenlose Einbringen von Pestiziden und anderen Chemikalien in den Boden mit dramatisch ansteigenden Gesundheitsgefahren. Allergien aller Art, Schädigungen des Hormonhaushalts und erhöhte Krebsmortalität sowie Morbidität sind auch Folgen der weiträumig verteilten Schadstoffe aus Verkehr, Landwirtschaft und Industrie, die über die Böden in unsere Nahrung und schließlich in unser Trinkwasser gelangen.
Wenn dem nicht konsequent gegengesteuert wird, wenn in der praktischen Umweltpolitik das Vorsorgeprinzip nicht mit Leben erfüllt wird, ist - zum Beispiel nach Hans Jonas - zu fürchten, daß uns die Natur unsere Versäumnisse auf ihre schreckliche härtere Weise spüren läßt. Es wäre mehr als schlichter Anstand und Vorsorge vor allen Dingen auch für kommende Generationen, wenn wir es nicht dazu kommen ließen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten
Jahren bereits häufig über den Bodenschutz und die Altlastensanierung debattiert. Wir waren uns hier im Haus auch einig, daß wir ein Bundes-Bodenschutzgesetz brauchen. Deshalb freue ich mich, daß es uns heute möglich ist, diesen Entwurf der Bundesregierung in erster Lesung im Plenum zu diskutieren.
Bislang haben nur wenige Bundesländer eigene Bodenschutzgesetze. Das Wichtigste für uns ist, daß es jetzt endlich bundeseinheitliche Regelungen zum Schutz des Bodens und zur Sanierung von Altlasten geben wird. Um Vorsorge leisten zu können, werden Anforderungen an das Auf- und Einbringen von Materialien auf oder in den Boden gestellt. Ebenso werden Vorsorgewerte festgelegt, die durch Immissionen nicht überschritten werden dürfen.
Zur Gefahrenabwehr wird eine Sanierungspflicht für Böden festgeschrieben, von denen eine Gefahr für Mensch und Umwelt ausgeht. Dies erstreckt sich auch auf Gewässerverunreinigungen, die vom Boden ausgehen. Jeder hat sich so zu verhalten, daß durch seine Bodennutzung keine Gefahr für den Boden ausgeht. Ebenso müssen Grundstückseigentümer und -besitzer dafür sorgen, daß von ihren Grundstükken keine Gefahr für den Boden ausgeht.
Sanierungsverfahren für Gewässer können in Zukunft effektiver und schneller durchgeführt werden. Im Bodenschutzgesetz werden auch Maßnahmen zur Sanierung von Gewässern geregelt, denn häufig sind durch Bodenkontaminationen auch Gewässer betroffen. Die Gewässersanierung erfolgte bislang nach unterschiedlichen landesrechtlichen Vorschriften; jetzt gibt es bundeseinheitlich Regelungen.
Um der fortschreitenden Bodenversiegelung entgegenzutreten, ist außerdem vorgesehen, daß der Boden dauerhaft nicht mehr genutzter Flächen entsiegelt werden muß, sofern die Versiegelung im Widerspruch zu den Festsetzungen des Planungsrechts steht.
Ganz besonderer Wert wird in diesem Bodenschutzgesetz auf die Sanierung von Altlasten - wie zum Beispiel bei stillgelegten Deponien, wilden Abfallablagerungen und ehemaligen Industriestandorten - gelegt, was ich für wesentlich und wichtig halte. Die zuständigen Landesbehörden müssen altlastenverdächtige Flächen erfassen, untersuchen und bewerten. Von den Sanierungspflichtigen kann die Vorlage eines Sanierungsplans verlangt werden. Ein solcher Sanierungsplan schafft Transparenz und leistet einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz der notwendigen Sanierungsmaßnahmen bei den Betroffenen. Das hat auch die Frau Ministerin eben schon ausgeführt, als sie erklärt hat, daß bisher jemand, der an drei Standorten saniert hat, auch drei Sanierungspläne nach unterschiedlichen Kriterien erstellen mußte.
Der Sanierungsplan, der in der Regel von Sachverständigen erstellt wird, muß unter anderem eine Zusammenfassung der Gefährdungsabschätzung sowie eine Darstellung der Sanierungsziele und -maßnahmen enthalten.
Auch die Landwirtschaft wird in das Gesetz einbezogen. Bodenverdichtungen und Bodenabträge sind
Birgit Homburger
zu vermeiden; Feldgehölze, Raine und Ackertrassen sind zu erhalten. Die Fruchtfolge soll vielfältig gestaltet werden.
Die Grundsätze der guten fachlichen Praxis der Landwirtschaft werden definiert. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, der weit über das Bundes-Bodenschutzgesetz hinaus Auswirkungen auf den Naturschutz hat, gerade im Zusammenhang mit dem im Moment in Beratung befindlichen Naturschutzgesetz. Ich denke, wir sollten in Zusammenarbeit nicht nur mit dem Umweltausschuß, sondern auch mit dem Bauausschuß die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bereichen - dem Bodenschutzgesetz, dem Naturschutzgesetz und auch dem Raumordnungsgesetz, das sich ebenfalls gerade in der Beratung befindet - beobachten und die Vorschriften im Rahmen der Beratungen abgleichen.
Frau Kollegin, nehmen Sie doch einfach einmal einen Schluck Wasser; wir merken alle, daß Sie schwer erkältet sind.
Ich glaube, Sie brauchen einmal eine Pause zum
Durchatmen. Ich rechne es auch nicht auf die Zeit an.
Danke. - Das Gesetz komplettiert durch einheitliche Sanierungsgenehmigungsverfahren die Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt dieses Gesetzgebungsvorhabens. Zusätzlich werden auf Grund erhöhter Rechtssicherheit bei der Altlastensanierung Investitionen erleichtert, wodurch auch Arbeitsplätze geschaffen werden. Im übrigen werden einheitliche Grenzwerte die endlosen Gutachterstreitigkeiten und die unterschiedliche Behördenpraxis bei den Sanierungsanforderungen beenden. Damit erhalten planende Kommunen und auch Investoren Rechtssicherheit.
Es ist, ganz im Gegensatz zu dem, was Sie sagen, Herr Kollege Rochlitz, richtig, daß die Sanierungsziele nutzungsbezogen definiert werden. So erleichtern wir nämlich zum Beispiel die Nutzbarmachung von Industriebrachen an Stelle der teuren und ökologisch schädlichen Erschließung immer neuer Gewerbe- und Industriegebiete auf der grünen Wiese.
Es macht überhaupt keinen Sinn, alle Böden auf denselben Stand „herunterzusanieren", so wie Sie das in § 4 Abs. 1 Ihres Gesetzentwurfes definieren: Danach muß das Ziel „die Wiederherstellung der natürlichen Bodenfunktionen" sein. Ich denke, daß es völlig ausreicht, zum Beispiel eine Industriebrache so zu sanieren, daß darauf ohne Gefährdung der Menschen und der Umwelt weiter gearbeitet werden kann. Das bedeutet im Vergleich zu dem, was Sie fordern, erheblich geringere finanzielle Aufwendungen. Außerdem ist es, denke ich, sachgerecht.
Mit dem Regierungsentwurf liegt ein überzeugendes Konzept zum Schutz des Bodens vor. Frau Kollegin Schwall-Düren, so weit entfernt ist der Bundesrat in seiner Auffassung nicht. Er hat die Konzeption des Gesetzentwurfes im Grundsatz bestätigt. Dabei hat er drei wesentliche Punkte genannt. Er möchte, daß das Gesetz gleichzeitig mit dem untergesetzlichen Regelwerk in Kraft tritt. Dann hat er gesagt, daß er die untergesetzlichen Rechtsnormen inklusive der Anhänge im zweiten Durchgang der Beratung des Gesetzes dabeihaben will und daß die Finanzierungsfragen noch gelöst werden müssen. Im übrigen sind die einzelnen Punkte, die der Bundesrat zum Gesetzentwurf der Bundesregierung anmerkt, sehr kleine Punkte. Über vieles davon kann gesprochen werden. Aber es ist beileibe nicht so, wie Sie es hier darzustellen versucht haben, daß wir nämlich beim Bundesrat mit diesem Gesetzentwurf überhaupt keine Chance hätten.
Was nun die Frage der Finanzierung angeht, die der Bundesrat stellt, so sind die Sorgen der Bundesländer vor finanziellen Mehrbelastungen ein bißchen überzogen; denn das Gesetz wird, so wie ich es dargestellt habe, kostensenkend wirken. Das kostentreibende Chaos, das wir derzeit bei der Altlastensanierungspraxis haben, wird durch bundeseinheitliche Regelungen beendet.
Bundeseinheitliche Sanierungsgrenzwerte werden auch den Grenzwertwettlauf der Länder, Gutachter und Behörden stoppen. Der Sanierungsplan mit Konzentrationswirkung wird den Bürokratieaufwand reduzieren; denn bisher laufen ja oft ordnungsrechtliche, also wasser- und abfallrechtliche, Verfahren nebeneinander. Schließlich werden durch den nutzungsbezogenen Ansatz der Sanierungsaufwand und die Zahl der Verdachtsflächen deutlich verringert werden. Das heißt also, daß wir alles in allem sehen werden, daß die Befürchtungen nicht so gravierend sein können.
Mißt man den Gesetzentwurf der Grünen allerdings an den Positionen des Bundesrates, Herr Rochlitz, dann hätte er überhaupt keine Chance. Er kann auch bei uns keine Zustimmung finden. Zwar lehnt er sich an den Regierungsentwurf an, aber die grünen Zutaten haben ihn sozusagen verdorben.
Erstens. Sie wollen das Bundes-Bodenschutzgesetz als Rahmengesetz gestalten. Das heißt, Sie wollen 16 zusätzliche und dann natürlich auch wieder unterschiedliche Landes-Bodenschutzgesetze initiieren. Damit ignorieren Sie den Ruf aller Beteiligten nach Verringerung der Regelungsdichte, nach Vereinfachung und nach bundeseinheitlichen Regelungen. Warum haben wir denn das ganze Verfahren überhaupt in Gang gesetzt? Maßgeblich doch deswegen, weil wir erkannt haben, daß wir bundeseinheitliche Regelungen brauchen, die verläßlich und kalkulierbar sind. Daran gehen Sie völlig vorbei, wenn Sie 16 Ländergesetze machen wollen.
Zweitens. Sie wollen auch in diesem Punkt wieder die Abgabenlast erhöhen und den Bürger mit einer
Birgit Hamburger
Versiegelungsabgabe schröpfen. Ihr Motto ist anscheinend auch hier wie bei jedem Gesetzentwurf: Beim Staat ist das Geld der Bürgerinnen und Bürger besser aufgehoben. Die Liberalen sind da anderer Meinung, wie Sie wissen.
Drittens. Sie brauchen die zusätzlichen Einnahmen, die Sie vorschlagen, natürlich, weil Sie mit Ihrem Gesetzentwurf Kosten in die Höhe treiben. Ihre Sanierungsziele sind eben nicht nutzungsbezogen; das habe ich gerade erläutert. Damit treiben Sie den Sanierungsaufwand hoch. Den Ländern übertragen Sie zusätzliche Aufgaben wie die Erstellung von gebietsbezogenen Bodenschutzplänen, die Unterschutzstellung von sogenannten Bodenbelastungsgebieten usw. Da wundert es natürlich nicht, daß Sie dafür mehr Geld brauchen.
Viertens. Sie ersetzen Eigenverantwortung wieder einmal durch staatliche Bevormundung. Wenn es nach Ihnen ginge, würde die Naturschutzbehörde dem Landwirt vorschreiben, wann er mit einfacher und wann er mit Zwillingsbereifung auf den Acker fahren darf. Sie wollen allmächtige Behörden, die in jede Bodennutzung hineinreden dürfen. Sie überfordern den Staat, weil er es überhaupt nicht leisten kann, alle Einzelanforderungen festzulegen, und Sie entmündigen damit auch die Menschen in unserem Land.
- Das können Sie alles nachlesen. Es ist alles problemlos mit Angabe von Paragraphen und Absätzen nachweisbar. Die Tatsache, Herr Kollege Rochlitz, daß Sie das in Ihrer Begründung nicht ausführen, heißt ja nicht, daß es nicht in Ihrem Gesetzentwurf stünde.
Fünftens. Sie mißbrauchen das Bodenschutzgesetz als ein Antiverkehrsgesetz. Per Gesetz erklären Sie alle Randstreifen an stark befahrenen Straßen zu Verdachtsflächen. Sie verbieten einfach jeden weiteren Flächenverbrauch durch Verkehrswegebau. Das ist Utopie.
Der Bundesrat bekräftigt dagegen ausdrücklich die Abgrenzung des Bodenschutzgesetzes zum Verkehrsfachrecht. Ihr Gesetz hätte bei den von Ihrem Wunschkoalitionspartner SPD geführten Ländern überhaupt keine Chance.
Sechstens wollen Sie wieder einmal den Bund zur Kasse bitten. Bonn soll jetzt für die Sanierung der Rüstungsaltlasten und der militärischen Altlasten aufkommen. Dazu kann man nur sagen, daß nicht nur der Bund, sondern auch die Länder Rechtsnachfolger des Dritten Reiches sind. Deshalb ist die Kostenteilung zwischen Bund und Ländern für diese Altlasten richtig.
Ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin.
Das Fazit zu Ihrem Gesetzentwurf, Herr Rochlitz: Die Grünen sind und bleiben die staatsgläubigste
Partei. Ihr Leitbild ist nicht der mündige Bürger, sondern der gehorsame Untertan, der klaglos alle bürokratischen Vorgaben hinnimmt. Jedes Ihrer Gesetze setzt in preußischer Tradition auf Behördenvollmacht. Ich kann Ihnen nur sagen: Liberale, wirklich Liberale werden diesen Rückfall in bürokratische Bevormundung auch im Umweltschutz immer bekämpfen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bierstedt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Homburger, auch wenn ich Ihren Ausführungen nicht zustimme, möchte ich mir trotzdem gestatten - so viel Zeit sollte sein -, Ihnen noch gute Besserung zu wünschen, vielleicht auch im Namen des gesamten Hauses.
Sehr geehrte Frau Hellwig, indem ich Sie persönlich anspreche, reagiere ich auf einen Zwischenruf, der mir vorhin nicht entgangen ist. Sie sagten dort: Wir kommen ohne Bodennutzung nicht aus. Das ist natürlich richtig. Darin besteht zwischen uns zumindest Konsens. Aber ich denke schon, es kommt darauf an, wie man den Boden nutzt. In diese Bemerkung sollte vielleicht auch ein wenig der Schutzgedanke Eingang finden.
- Da besteht Konsens.
Zehn Jahre nach der Verabschiedung der Bodenschutzkonzeption der Bundesregierung, nach nicht weniger als nunmehr sechs steckengebliebenen Gesetzentwürfen, liegt nun der siebente Entwurf eines Gesetzes zum Schutz des Bodens vor. Was lange währt, wird gut, könnte man meinen, doch leider wird das Ergebnis des hier vorliegenden Gesetzentwurfs dem Ziel, den Boden ebenso wie Wasser und Luft unter Schutz zu stellen, kaum gerecht. Inzwischen verwundert dies allerdings niemanden mehr, zumindest auf der linken Seite des Hauses. Es schaffen zwar in dieser Legislaturperiode mehr Umweltgesetze und Umweltverordnungen den Weg ins Parlament, aber sie scheitern, und zwar nicht mehr wie bei Herrn Töpfer schon im Vorfeld. Dies nur deshalb, weil bei deren Erarbeitung offensichtlich der Industrie- und Landwirtschaftslobby das Recht der ersten Nacht zusteht. Überall dort, wo tatsächlich zum Schutz der Böden substantielle Neuregelungen gefordert wären, endet der Regierungsentwurf oder kippt ins Unverbindliche ab.
Der Zweck des Gesetzes soll eine nachhaltige Sicherung und Wiederherstellung der Bodenfunktion gewährleisten. Zweck verfehlt, drängt sich dem Betrachter auf, denn die Bereiche mit dem höchsten Druck auf die Qualität und Nutzung der Böden werden vom Gesetz überhaupt nicht berührt. Durch § 3 des Regierungsentwurfes werden die Anwendungs-
Wolfgang Bierstedt
bereiche des Bundesbodenschutzgesetzes radikal eingeschränkt. Ausgenommen sind beispielsweise die gesetzlichen Vorschriften, die durch das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, das Gentechnikgesetz, das Bundeswaldgesetz, die Vorschriften über die Beförderung gefährlicher Güter und das Düngemittel- und Pflanzenschutzmittelrecht geregelt sind. Gleiches gilt für die Bereiche Kernenergie, ionisierende Strahlung und den Umgang mit Kampfmitteln.
Auch der Flächenklau im Straßen- und Schienenbau wird ausgeklammert. Völlig unverständlich, denn gerade hier wird doch ungezügelt Boden versiegelt und kontaminiert.
Wenn die Bundesregierung in § 24 das Verteidigungsministerium für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen in bezug auf den Bodenschutz auf militärisch genutzten Flächen verantwortlich macht, dann wird hier doch wohl der Bock zum Gärtner gemacht.
Meine Damen und Herren, im Regierungsentwurf des Bodenschutzgesetzes sollen schädliche Bodenveränderungen nicht tatsächlich saniert, sondern nur für die Wirtschaft wieder nutzbar gemacht werden. Dieser feine Unterschied wird dazu führen, daß beispielsweise bei industrieller Nachnutzung vergiftete Böden weiter vergiftet bleiben - wenn auch in einem etwas geringerem Umfang - oder gar mit weiteren Schadstoffen aufgefüllt werden können. Die langfristigen Auswirkungen für die Bodenqualität und das Grundwasser sind anscheinend uninteressant.
- Also, wenn Sie die DDR ansprechen, kann ich darauf nur erwidern: Natürlich hat es in der DDR eine ganze Reihe von Problemen gegeben. Aber eines hat es auf jeden Fall nicht gegeben: Wegen der Mißwirtschaft konnten wir gar nicht so viele Schadstoffe in den Boden einbringen, weil die Industrie gar nicht so viel produzieren konnte.
- Wenn wir es gewollt hätten, hätten wir es schon gemacht, aber das gab es einfach nicht.
Die Durchsetzung des Verursacherprinzips wird somit, nebenbei bemerkt, völlig illusionär.
Altlasten können einfach weiter vererbt werden. Schließlich ist der letzte Eigentümer oder Nutzer, der eine empfindlichere Nutzung vorsieht, der Angeschmierte. Nach dem Entwurf muß er die Zeche zahlen, wenn der ursprüngliche Sünder nicht mehr feststellbar oder nicht mehr existent ist.
Wir fordern seitens der PDS wie der Naturschutzbund Deutschland, dessen Kritik am Bodenschutzgesetz im wesentlichen die Grundlage unseres Antrages bietet, daß die Überwachungs- und Prüfwerte zur Festlegung der Sanierungsziele unabhängig von der späteren Nutzung bestimmt werden. Im übrigen benennen wir wenigstens die Lobbyorganisationen, von denen wir uns beeinflussen lassen.
Aber weiter im Text des Regierungsentwurfs. Wir können mit der Philosophie der Gefahrenabwehr dort nicht mitgehen, wo der Vorsorgegedanke geboten ist. Böden und Altlasten sollen nach dem Willen der Bundesregierung nur dann und insoweit saniert werden, als von ihnen Gefahren ausgehen. So können sich aus scheinbar harmlosen Bodenbelastungen gefährliche Zeitbomben akkumulieren, die oft nicht entschärft werden. In diesem Zusammenhang werden im übrigen der Vertuschung und Verharmlosung Tür und Tor geöffnet.
Wir meinen, daß der Begriff der schädlichen Bodenveränderung so zu erweitern ist, daß er nicht nur nachhaltige Schädigungen des Bodens, die mit der derzeitigen Nutzung nicht vereinbar sind, erfaßt werden. Einzubeziehen sind auch ökologische Schädigungen, die zunächst noch nicht nachhaltig sind, die aber Kumulierungseffekte haben.
Im Entwurf der Bundesregierung wird die gute fachliche Praxis in der Landwirtschaft im § 17 ohne die Bereiche Düngemittel und Pestizide definiert. Dann hätte man sich allerdings die Definition auch sparen können, denn die größten Belastungen der Böden gehen ja wohl von der Giftspritze und dem Düngestreuer aus. Die entsprechenden Stoffe dürften deshalb nur in dem Umfange eingesetzt werden, wie sie innerhalb einer Vegetationsperiode schadlos von den Pflanzen aufgenommen werden können, ohne daß es zu einer Anreicherung im Boden oder zu Auswaschungen in das Grundwasser kommen kann. Die zahnlose Düngemittelverordnung kann hier wohl kaum verbindliche Rechtsvorschriften direkt im Bodenschutzgesetz ersetzen.
Die Gruppe der PDS unterstützt nachdrücklich die Forderung von Umweltverbänden und übrigens auch von Bündnis 90/Die Grünen nach einer Entsiegelungspflicht für alle Flächen, bei denen die Versiegelung nicht unbedingt notwendig ist. Wer ein Grundstück überbaut hat, soll es nach der Nutzung wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Unsere Böden sollen wieder atmen, ihre natürlichen Funktionen als Filter, Puffer und Wasserreservoir ausüben können. Eine Versiegelungsabgabe der Länder wäre zusätzlich ein fiskalisches Instrument, um den ungezügelten Flächenverbrauch zu bremsen.
Der BUND stellt in bezug auf den ungezügelten Flächenfraß fest - ich zitiere:
Der Naturverbrauch wächst schneller als die Bevölkerung. Das heißt, wir leben in immer größeren Wohnungen, erhöhen unseren Raumbedarf für Fabriken und Büros und fahren auf immer breiteren Straßen.
Wir stellen an dieser Stelle erneut die Frage: Ist das die Nachhaltigkeit, von der die Bundesregierung gern redet? Weiter stellen wir die Frage, ob der vorliegende Gesetzentwurf zum Bundesbodenschutzgesetz geeignet ist, einen Schritt in Richtung nachhaltige Entwicklung zu gehen.
Eine Antwort lieferte zusammenfassend Anfang der Woche der Vorsitzende der IG Bau, Agrar und Umwelt Klaus Wiesehügel, der den Gesetzentwurf
Wolfgang Bierstedt
der Bundesregierung wie folgt bewertete: Ziel völlig verfehlt. - Ich denke, dieser Aussage ist nichts hinzuzufügen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christa Reichard.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Endlich und erstmalig in der deutschen Geschichte liegt der Entwurf für ein Gesetz zum Schutz des Bodens auf dem Tisch des Deutschen Bundestages. Im Namen meiner Fraktion möchte ich die Vorlage des Entwurfs ausdrücklich begrüßen und insbesondere die Leistungen von Frau Minister Merkel und ihrem Ministerium würdigen.
Die Reaktionen auf den Entwurf reichen von der totalen Ablehnung über differenzierte Änderungswünsche bis hin zur grundsätzlichen Zustimmung. Dies ist bei einer so überaus komplizierten Gesetzesmaterie gar nicht verwunderlich. - Warum ist denn die Materie so schwierig, meine Damen und Herren?
Der Boden ist ein kostbares Gut. Diese Aussage wurde zunächst ausschließlich ökonomisch betrachtet. Nach Wasser und Luft, den beiden von der Umweltgesetzgebung schon seit langem erfaßten Umweltmedien, hat das Umweltmedium Boden erst jetzt die Chance, in seiner ganzen Bedeutungsbreite unter Schutz gestellt zu werden. Wie uns der Wert einer Sache immer erst dann richtig bewußt wird, wenn sie uns verlorenzugehen droht, trat die vielfältige Bedrohung und Bedeutung des Bodens als Teil der natürlichen Lebensgrundlage des Menschen erst dann so richtig ins Bewußtsein, als sich die Grenzen seiner Belastbarkeit zeigten.
Ein weiterer Grund für die späte und komplizierte Gesetzgebung ist wohl auch, daß der Boden nie in dem Maße als Allgemeingut betrachtet wurde wie Luft und Wasser. Es gab immer einen Eigentümer oder Pächter, und eine Bodenschädigung wirkt sich wenigstens kurzfristig weniger gemeinschaftsschädigend aus als eine Verschmutzung von Wasser und Luft. Besonders der besiedelte und kultivierte Boden ist seit altersher umstrittenes und problembeladenes Objekt juristischer, nationalökonomischer und sozialreformerischer Bemühungen. Um Boden gab es Nachbarschaftsstreitigkeiten über Generationen hinweg, um Boden wurden Kriege geführt.
„Wieviel Erde braucht der Mensch?" Unter diesem Titel hat Tolstoi eine seiner bedeutenden Erzählungen gestellt, in denen die ambivalente Bedeutung des Bodens für den Menschen deutlich wird.
Für die, die die Erzählung nicht kennen, trage ich sie hier kurz vor: Ein Mann, dem der Boden gehören soll, den er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang umlaufen kann, wählt eine so große Fläche, daß er, als er sie umlaufen hatte, vor Erschöpfung tot zusammenbricht, so daß schließlich zwei Quadratmeter Boden für sein Grab ausreichen. - In dieser Erzählung wird eine weitere Dimension deutlich: Der Boden ist auf das engste mit Leben und Tod verbunden.
Meine Damen und Herren, haben Sie sich schon einmal bewußt gemacht, daß der Boden, über den wir laufen, zum großen Teil aus den in Jahrmillionen gestorbenen Lebewesen besteht? Die Menschen haben dies schon früh erkannt. Betrachten Sie nur den biblischen Bericht von der Erschaffung des Menschen: Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück. Wir sprechen von der Mutter Erde und vom Mutterboden. Es wird als bedrohlich empfunden, wenn man den Boden unter den Füßen verliert. Reanimierte Menschen berichten von dem schrecklichen Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Wir alle sollten uns des Bodens in einer angemessenen Ehrfurcht annehmen, denn er ist nicht nur Verfügungsmasse für menschliches Handeln.
Unter dem Boden verstehen wir die obere Schicht der Erdkruste einschließlich der flüssigen und gasförmigen Bestandteile. Er kann sich nur - wie schon mehrfach betont - begrenzt erneuern und ist nicht vermehrbar. Der Boden hat ein Langzeitgedächtnis, und eingetretene Schäden sind nicht oder nur mit erheblichem Aufwand reparabel.
Der Boden bildet die Grundlage für die menschliche Existenz, aber auch für die Existenz von Tieren und Pflanzen. Er ist Träger menschlicher Aktivitäten, für Wohnhäuser und Verkehrswege, für Ver- und Entsorgungseinrichtungen, für Büros und Betriebe, für Freizeit und Sport.
Der Boden ist aber auch eine Art Museum der Menschheits- und Naturgeschichte. Bei Ausgrabungen werden immer wieder neue Erkenntnisse über das Leben der Menschen und über die Natur aus längst vergangenen Zeiten gewonnen. Die Funde aus Gräbern und Abfallgruben unserer Vorfahren sind bekanntermaßen besonders interessant für Archäologen. Was mögen wohl unsere Nachfahren aus unseren Deponien über uns erfahren?
Der Boden ist auch eine Schatzkammer. Er birgt eine Reihe von Bodenschätzen.
All diese Funktionen des Bodens sind aber, wie wir schon heute mehrfach hörten, nicht ohne Widersprüche. Die Nutzungsfunktionen beschränken oder verhindern die natürlichen Funktionen. So ist auch der Zweck des vorliegenden Gesetzentwurfs, nachhaltig die Funktionen des Bodens zu sichern, nicht so ganz einfach zu erreichen. Wir finden besonders beim Boden das klassische Spannungsfeld zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Ansprüchen, das sich nicht durch eine einseitige Betrachtung auflösen läßt, wie dies die vorliegenden Entwürfe der Grünen und der PDS leider tun wollen.
D e n Boden gibt es gar nicht. Es gibt nur eine Vielzahl ganz verschiedenartiger Böden, die sich im Zusammenwirken von Wetter, Immissionen, Vegetation und menschlichen Einflüssen verändern.
Christa Reichard
Boden ist voller Leben; er ist naturwissenschaftlich hochkompliziert und bietet noch vielen Forschern Studienmöglichkeiten. So sind bisher überhaupt erst schätzungsweise 5 Prozent der Bodenmikroorganismen bekannt.
Die Beschaffenheit des Bodens hat wiederum einen wesentlichen Einfluß auf die Beschaffenheit des Grundwassers, aber auch auf die Natur. Er ist in vielfältiger Weise in die Kreisläufe der Natur eingebunden. Er bildet natürliche Puffer, Filter und Speicher. Er nimmt Einfluß auf Wasserhaushalt und Klima. Er bildet die Produktionsgrundlage für Nahrungs- und Futtermittel. Er ist Standort und Reproduktionsbasis für natürliche Rohstoffe.
Bodengefährdungen stehen im engen Zusammenhang mit anderen Aspekten der Umweltgefährdung. Bodenschutz ist damit auch Bestandteil des Städtebaurechts und des Naturschutzrechts. Er spielt im Immissionsschutzrecht ebenso eine Rolle wie im Wasserhaushaltsrecht, im Bergrecht und im Chemikalienrecht.
Das Umweltprogramm der Bundesregierung nannte erstmalig im Jahre 1971 den Bodenschutz neben dem Schutz von Wasser und Luft als dritte umweltpolitische Aufgabe. Das Bodenschutzkonzept der Bundesregierung von 1985 rückte dann die zwei bodenpolitischen Zielsetzungen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen: die Verringerung der Stoffeinträge und die Minderung des Landverbrauchs. Dieses Programm wurde 1988 durch einen Maßnahmenkatalog fortgeschrieben.
Ein eigenes Gesetz zum Schutz des Bodens wurde vom Rat der Sachverständigen für Umweltfragen noch vor zehn Jahren für überflüssig gehalten. Statt dessen sollte der Bodenschutz stärker in anderen Fachgesetzen beachtet werden, was dann auch geschah.
Der Meinungsumschwung kam wohl mit dem Anwachsen der Altlastenproblematik insbesondere nach der deutschen Vereinigung. Es fehlten Kriterien zur Bestimmung der Gefährlichkeit von Altlasten und handhabbare Instrumente, um diesen Gefahren zu begegnen. Seitdem wird in mehreren Etappen an einem Bodenschutzgesetz gearbeitet.
Ein erstes Problem ergab sich daraus, daß die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Bodenschutz als staatliche Aufgabe noch nicht berücksichtigt hatten und so die verfassungsrechtliche Begründung für die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern beim Bodenschutz lange umstritten war, zumal einige Länder - Baden-Württemberg, Sachsen und Berlin - inzwischen Landesgesetze zum Schutz des Bodens erlassen hatten.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom September 1996 wurde im Bundesrat im November des vergangenen Jahres beraten. Die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates liegt seit Dienstag dieser Woche vor. Es ist unsere Absicht, den vorliegenden Gesetzentwurf zügig, aber auch angemessen gründlich zu beraten, so daß das Bundesbodenschutzgesetz so bald wie möglich in Kraft treten kann.
Zum Aufbau und konkreten Inhalt des umfangreichen Gesetzes möchte ich mich hier und heute nicht im einzelnen äußern, sondern nur auf einige der meistdiskutierten Konfliktpunkte verweisen.
Ich muß gestehen, daß mir der jahrelange Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern zur Bodenschutzgesetzgebung nicht bis ins letzte Detail verständlich ist. Allerdings sehe ich schon die erheblichen Schwierigkeiten, die sich vor allem an den Schnittstellen zur Gesetzgebung der anderen Umweltmedien und zu bereits vorhandenen Gesetzen ergeben. Der vorliegende Entwurf im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung war im Zusammenhang mit dem Naturschutzrecht und Wasserhaushaltsrecht mit Bundesrahmenkompetenz, Abfall- und Immissionsschutzrecht wiederum mit konkurrierender Gesetzgebung so auszugestalten, daß er auch noch praktikabel und handhabbar ist.
Ein zweiter Diskussionsschwerpunkt ist das sogenannte untergesetzliche Regelwerk bzw. die Tatsache, daß dieses bisher noch nicht abschließend vorliegt. Da werden unter anderem Vorsorge-, Prüf- und Maßnahmewerte festgelegt, die von erheblicher Bedeutung für den Umfang der Sanierungsmaßnahmen und die entsprechenden Kosten sein werden.
Die Bundesregierung hat zugesagt, dieses Regelwerk bis zum zweiten Durchgang im Bundesrat vorzulegen. Dies ist sowohl für die Länder als auch für alle Betroffenen aus Wirtschaft, Land und Forstwirtschaft wichtig. Ich hoffe, es kann auch so umgesetzt werden.
Ein weiterer Vorwurf bezieht sich auf die Berücksichtigung der Nutzungsfunktionen des Bodens neben den Schutzfunktionen und eine starke Konzentration auf die Altlastenproblematik. Ich halte eine ausgewogene Betrachtung von Nutzung und Schutz für die einzig realistische und menschengemäße.
Der Mensch hat den Auftrag, die Erde zu nutzen und zu bearbeiten. Dabei ist eine Reihe von Schäden verursacht worden, deren Auswirkungen den Menschen lange Zeit nicht bewußt waren. Nun sind die Schäden aber leider vorhanden. Wie sich jeder Arzt erst einmal um die Heilung der akuten Erkrankung bemüht und dann Patienten den vorbeugenden Gesundheitsschutz empfiehlt, soll das Gesetz Instrumente an die Hand geben, entsprechende Prioritäten zu setzen.
Genau wie es nach schweren Erkrankungen bleibende Schäden geben kann, wird auch eine Sanierung auf Kinderspielplatzniveau überall nicht möglich und auch nicht erforderlich sein. Eine Sanierung von Altlastenstandorten auf das zur Gefahrenabwehr und die zukünftige Nutzung orientierte Maß erscheint mir als wirtschaftlich vernünftig und ökologisch vertretbar.
Auch international ist es dringend notwendig, dem Schutz und der nachhaltigen Nutzung des Bodens verstärkte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Dem globalen Bodenschutz muß ein vergleichbarer interna-
Christa Reichard
tionaler Stellenwert erkämpft werden, wie dies für den Klimaschutz weitgehend gelungen ist.
Frau Merkel will über die Europäische Union das Thema „Erhaltung der Bodenressourcen und Entwicklung nachhaltiger Bodennutzungen" auf die Tagesordnung der globalen Umweltdiskussion setzen. Sie möchte dabei erreichen, daß verstärkt die Wechselbeziehungen zwischen ökonomischen und sozialen Aufgaben sowie der Erhaltung der Bodenressourcen mit den Anforderungen zum Schutz unseres Klimas und der Wasserressourcen gesehen werden. Dabei möchte ich ihr im Namen meiner Fraktion ebenso wie für die Umsetzung der Bundes-Bodenschutzgesetzgebung unsere volle Unterstützung zusagen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Umweltmedium Boden ist bislang in der politischen Diskussion, vor allen Dingen aber in der politischen Praxis der Bundesregierung mehr als sträflich vernachlässigt worden. Die Böden waren scheinbar dazu prädestiniert, als ökologische Senke unsere Abfälle und Emissionen aufzunehmen. Lange Zeit ist das ohne spürbare Konsequenzen geblieben. Doch der Boden hat ein langes Gedächtnis. Was man ihm aufbürdet, das behält er. Irgendwann wird man mit den Sünden der Vergangenheit konfrontiert werden.
Heute stehen wir vor einer Situation, in der sich der Zustand der Böden derart verschlechtert hat, daß nur noch konsequentes Handeln und nicht Kosmetik verhindern kann, daß die aufgetretenen Schäden irreparabel werden.
Bodenschäden entstehen nicht nur durch Stoffeinträge, sondern auch durch Versiegelung. Für die Ökosysteme des Bodens bedeutet Versiegelung den Totalschaden. Der Flächenverbrauch in der Bundesrepublik ist weiterhin ungebremst. Mehr als 11 Prozent der Landesfläche sind heute Siedlungs- und Verkehrsfläche. Die Tendenz ist weiterhin steigend. Dabei ist der Flächenverbrauch direkt an das Wirtschaftswachstum gekoppelt. Berechnungen des Statistischen Bundesamtes zufolge wäre die Bundesrepublik bei 2 Prozent Wachstum in 121 Jahren, bei 3 Prozent Wachstum in 81 Jahren vollständig zugebaut. Soweit kann es aber gar nicht kommen. Denn das ökologische Gleichgewicht würde schon viel früher kippen.
Frau Reichard, wenn man auf Ihre schöne lyrische Frage, wieviel Erde der Mensch brauche, eingeht, dann muß man sich, wenn man sich über die Grenzen des eigenen Handelns bewußt sein will, auch einmal die Frage stellen: Wieviel Menschen braucht die Erde?
- Die Erde kann ohne den Menschen leben. Umgekehrt geht es nicht. Das ist eine ganz simple Tatsache. Sollten Sie darüber noch nicht nachgedacht haben, dann gebe ich Ihnen hiermit die Anregung.
Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" beschäftigt sich im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunktes „Bauen und Wohnen" intensiv mit der Flächenverbrauchs- und Versiegelungsproblematik und wird Vorschläge für Maßnahmen und Instrumente zur Abkoppelung des Flächenverbrauchs vom Wirtschaftswachstum und zur Begrenzung des Zuwachses des Flächenverbrauches vorlegen.
Auch die Stoffeinträge haben bereits zu erheblichen Bodenschäden geführt. Nicht nur die punktuellen 170 000 Altlastverdachtsflächen sind zu nennen, sondern auch die Folgen der flächigen und diffusen Stoffeinträge. Wir überlasten unsere Böden zum Beispiel mit einer Stickstofffracht, die das natürliche Gleichgewicht auf den Kopf stellt. Meine Kollegin Ulrike Mehl wird darauf gleich noch detailliert eingehen.
Die Enquete-Kommission hat mit ihren vier Managementregeln die Orientierung dafür gegeben, wie mit unserem natürlichen Kapital, zu dem auch und vor allem der Boden gehört, umgegangen werden sollte, um das Ziel einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung zu erreichen, dem sich die Bundesregierung im Jahre 1992 in Rio mit ihrer Unterschrift unter die Agenda 21 verpflichtet hat. Eine dieser Regeln besagt: Den Ökosystemen dürfen in ihrer Funktion als Senken nur so viele Immissionen zugemutet werden, wie sie in der Lage sind zu verarbeiten.
Beim Boden wurde und wird diese Regel völlig ignoriert. Die Ökosysteme werden bei weitem überfordert. In Rheinland-Pfalz sind bereits 70 Prozent der Waldböden stark bis sehr stark versauert. Durch Nitrat, Schwermetalle, durch infolge der Versauerung aus dem Gestein gelöstes Aluminium und durch Pestizide - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen - setzen wir die Ökosysteme einem Streß aus, der sie letztendlich zum Umkippen bringen wird. Dann finden wir das Nitrat und seine Begleiter im Grundwasser und auch im Trinkwasser wieder.
Man fragt sich: Was unternimmt die Bundesregierung angesichts dieser Lage? Sie legt ein Bodenschutzgesetz vor - über die lange Entwicklungsgeschichte haben wir heute bereits etwas gehört -, das in seiner Konsequenz noch nicht einmal an die 1985 verabschiedete Bodenschutzkonzeption heranreicht. Der Gesetzentwurf stellt schon in § 3 klar, daß es eigentlich eher keine Anwendung finden soll. Das ist ja hochinteressant. Dort wird festgestellt, das Bodenschutzgesetz gelte nicht, soweit folgende Vorschriften Anwendung finden: das Bauplanungs- und Bauordnungsrecht, die Vorschriften über Bau und Betrieb von Verkehrswegen, die Vorschriften des Flurbereinigungsgesetzes, die Vorschriften des Düngemittel- und Pflanzenschutzrechts, der Klärschlamm-
Ursula Burchardt
verordnung usw., usw. - eine lange Liste von Ausnahmen. Damit trägt die Bundesregierung zwar Sorge dafür, daß die Verursacher Landwirtschaft, Verkehr und der ungebremste Flächenverbrauch nicht ins Visier genommen werden, aber Sorge für den Schutz des Bodens trägt sie mit diesem Gesetz absolut nicht.
Zur drängenden Frage der Versiegelung unserer Landschaft begnügt sich der Gesetzentwurf in § 5 gerade einmal mit neun relativierenden Zeilen - ich zitiere -:
Soweit die Vorschriften des Baurechts die Befugnisse der Behörden nicht regeln, wird die Bundesregierung ermächtigt, ... Grundstückseigentümer zu verpflichten, bei dauerhaft nicht mehr genutzten Flächen, deren Versiegelung im Widerspruch zu planungsrechtlichen Festsetzungen steht, den Boden in seiner Leistungsfähigkeit .. . so weit wie möglich und zumutbar zu erhalten oder wiederherzustellen.
Allein der Zusatz „soweit zumutbar" läßt ahnen, in welche Richtung sich das untergesetzliche Regelwerk bewegen wird.
Die Musik, die in diesem untergesetzlichen Regelwerk steckt, von der Frau Merkel gesprochen hat, wird in der von der Kollegin Reichard zitierten Mutter Erde in deren Ohren wirklich außerordentlich schrill und schräg klingen.
Einen Beitrag zur Entsiegelung wird dieser Paragraph nur schwerlich leisten. Einen Beitrag zur Verringerung des Flächenverbrauchs leistet er garantiert nicht. Insofern gibt es nur eine Konsequenz: Die Ausnahmeregelungen müssen aus diesem Gesetzentwurf gestrichen werden, wenn man ernsthaft über Bodenschutz reden will.
Ein Bodenschutzgesetz muß konsequentes Flächensparen vorschreiben. Es muß dabei auch Priorität gegenüber dem Baugesetzbuch haben. In der vorliegenden Forn offenbart das Bodenschutzgesetz lediglich die fehlende Handlungsbereitschaft und -fähigkeit der Bundesregierung, wenn es darum geht, das Problem des Flächenverbrauchs konsequent anzugehen.
Auch der in § '7 des Gesetzentwurfs formulierte Vorsorgegrundsatz ist in seiner Formulierung das Papier nicht wert. Im Kommentar steht dazu:
Aus der langen Industriegeschichte Deutschlands herrührende Bodenbelastungen können nicht nachträglich durch vorsorgebezogene Bodenwerte rückgängig gemacht werden.
Sehr geehrte Frau Merkel, auf Veranstaltungen und in Presseverlautbarungen Ihres Hauses bekennen Sie sich doch immer wieder zu den Grundsätzen einer nachhaltigen Entwicklung. Nachhaltigkeit bedeutet, daß wir kommenden Generationen die gleichen Lebenschancen sichern sollten, wie sie die heute lebende Generation, also wir, für sich beansprucht. Sollte dies nicht mit einschließen, daß man den Schaden, den man anrichtet, wieder in Ordnung bringt, bevor man von der Bühne verschwindet?
Sie verweisen auf Bodenbelastungen aus unserer langen Industriegeschichte. Dabei sind die großen Umweltschäden nicht in der Frühzeit der Industrialisierung entstanden, sondern in den vergangenen 50 Jahren, und damit sind die jetzt lebenden und entscheidenden Generationen verantwortlich.
Es gibt noch eine Reihe weiterer Passagen im Gesetzentwurf, die im Hinblick auf die in Rio eingegangene Verpflichtung zu einer nachhaltigen Entwicklung sehr kritisch zu hinterfragen sind. In § 7 steht zu lesen:
Zur Erfüllung der Vorsorgepflicht sind Bodeneinwirkungen zu vermeiden oder zu vermindern, soweit dies auch im Hinblick auf den Zweck der Nutzung des Grundstücks verhältnismäßig ist.
Und auch bei der Festlegung sogenannter Prüfwerte und Maßnahmenwerte solle die jeweilige Bodennutzung berücksichtigt werden.
Aber das bedeutet doch nur, daß man um so mehr Gifte und Ablagerungen im Boden belassen kann, je mehr die Nutzung des Bodens in Richtung Parkplatz für Schadstoffe geht. Doch was werden zukünftige Generationen und Stadtplaner sagen, wenn ihnen klar wird, auf wie vielen Standorten auf Grund der Hinterlassenschaften gar keine andere Lösung mehr möglich ist, als tatsächlich Parkplätze zu errichten?
In § 4 findet man die Formulierung, daß „neben Dekontaminations- auch Sicherungsmaßnahmen in Betracht" kommen, „die eine Ausbreitung der Schadstoffe langfristig verhindern". Dabei wird wieder versäumt, die Prioritäten zugunsten der Dekontamination eindeutig festzulegen.
Man kann es eigentlich kurz machen: Wenn dieses Bodenschutzgesetz Realität wird, dann werden zukünftige Generationen erleben, daß die Nachhaltigkeitsreden der jetzigen Umweltministerin und die in diesem Gesetzentwurf angekündigten Maßnahmen zur langfristigen Sicherung gegen die Ausbreitung der Schadstoffe eine große Täuschung, vielleicht Selbsttäuschung waren. Aber diese Frage wird für die kommenden Generationen vermutlich weitgehend egal sein, weil sie wenig Chancen haben werden.
Seit der Rio-Konferenz sind nun fünf Jahre vergangen. Fünf Jahre lang wurde von dieser Bundesregie-
Ursula Burchardt
rung versäumt, eine ernsthafte und konsequente Politik in Richtung Nachhaltigkeit zu starten - fünf Jahre, in denen der Umweltpolitik nach und nach der Boden entzogen worden ist und in denen wir den Titel des Exportweltmeisters von Umwelttechnologien abgeben mußten. Die Bilanz ein halbes Jahr vor der Rio-Folgekonferenz ist mehr als kümmerlich.
Sehr geehrte Frau Merkel, ich denke, mit unverbindlichen Gesprächsrunden zu Umweltzielen wird die Bundesregierung - damit meine ich die gesamte Regierung - ihrer Verpflichtung, die sie in Rio eingegangen ist, nicht gerecht. Ich fürchte - und das Gesetz, das Sie hier auf den Tisch gelegt haben, nährt diese Befürchtung ebenso wie andere Maßnahmen, über die meine Kolleginnen und Kollegen schon geredet haben -, daß Sie als Umweltministerin eines der reichsten Länder der Erde in Rio mit leeren Händen dastehen werden. Ich denke, das haben die Menschen in diesem Land und die kommenden Generationen nicht verdient.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der ersten Lesung wird es noch nicht richtig konkret. Deshalb will ich nicht allzusehr kritisieren, daß die SPD- Debattenbeiträge im unklaren gelassen haben, was die SPD denn nun eigentlich will.
Es besteht die grundsätzliche Möglichkeit, diesen Gesetzentwurf voll und ganz abzulehnen. Diese Möglichkeit hat sich die SPD-geführte Mehrheit im Bundesrat nicht zu eigen gemacht. Sie hat sich der Konzeption von Bundesministerin Merkel angeschlossen.
Man kann sich auch wie die Kollegin Burchardt hier hinstellen und alle Abwägungstatbestände und Verhältnismäßigkeitsgrundsätze, die im Gesetz expressis verbis ausgesprochen sind, kritisieren. Oder, gleiche Fraktion: Frau Kollegin Schwall-Düren kritisiert das Gesetz, weil die Abwägungstatbestände und die Verhältnismäßigkeitsgrundsätze ausdrücklich enthalten sind; das sei doch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz.
Es ist schon einigermaßen erstaunlich, daß die SPD, die immer kritisiert, daß viele Jahre nichts passiert sei, nicht in der Lage ist, hier einen ordnungsgemäßen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem bei allen Streitfragen, die wir in den nächsten Wochen und Monaten in den Ausschußberatungen abhandeln werden, klar erkennbar ist, was die deutsche Sozialdemokratie konkret will.
Die Frau Kollegin Schwall-Düren hat als einziges, was wir demnächst bekommen werden, einen neuen Antrag angekündigt. Ein Antrag ist für das Protokoll des Deutschen Bundestages geeignet, aber nicht für das Bundesgesetzblatt. Das zeigt die Konzeptionslosigkeit der deutschen Sozialdemokratie bei dieser Debatte.
Worin die Genossen allerdings besonders gut sind, ist die Beschreibung von Katastrophen. Frau Burchardt hat heute offensichtlich für die Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" gesprochen.
- Für den Teil der SPD.
Die Kommissionsvorsitzende hat uns zwischen den Feiertagen wissen lassen, daß Deutschland im Jahre 2077 ein bodenloser Alptraum aus Beton und Teer sein werde. Dies reiht sich hervorragend in die ansonsten vom vorhin anwesenden Kollegen Müller vorgetragenen Katastrophenszenarien ein, die schon eine feuilletonistische Legende des Parlaments sind. Ich bin sicher, daß Ihr Katastrophenszenario genausowenig Realität werden wird wie die üblichen Müllersehen Katastrophenszenarien. Dem dient das Bundes-Bodenschutzgesetz, dessen Inhalt Bundesministerin Merkel hier heute vorgetragen hat; denn nach unserer Auffassung sind Sprüche und Anträge kein Politikersatz. Wir machen konkrete gesetzgeberische Arbeit.
Lassen Sie mich, nachdem meine beiden Vorrednerinnen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion viel zur ökologischen Notwendigkeit des Bundes-Bodenschutzgesetzes gesagt haben, einiges zu wirtschaftlichen und internationalen Aspekten sagen.
Vorweg: Die Kritik, die Bundesregierung und diese Koalition würden sich nicht international engagiert für den Schutz des Bodens einsetzen, zeugt von Unkenntnis, insbesondere von Ignoranz gegenüber der Veranstaltung der Internationalen Bodenschutzkonferenz, der ISCO, die im Spätsommer des vergangenen Jahres mit rund 800 Teilnehmern aus 115 Ländern das Bundeshaus mit dem Thema Bodenschutz global belebt hat.
Wenn jemand für die Initiierung dieser Konferenz in Deutschland zuständig war, dann die Bundesumweltministerin, die hier beispielhaft deutlich gemacht hat, daß wir nicht nur national ein vernünftiges Bundes-Bodenschutzgesetz vorlegen wollen, sondern auch international das globale Problem Schutz des Bodens angehen wollen. Dafür ist der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dank auszusprechen und nicht in dieser Art und Weise, ohne Kenntnis der Initiativen, die sie gestartet hat, undifferenzierte Kritik.
Ich will auch einiges zu der etwas gespaltenen Auffassung der Sozialdemokraten in der Frage „Vorsorge: ja oder nein?" sagen. Die Kollegin Reichard hat in sehr sachkundiger Weise darauf hingewiesen, daß nach unserer Auffassung die Gesetz-
Steffen Kampeter
gebungskompetenz des Bundes mit diesem BundesBodenschutzgesetz ausgeschöpft ist.
- Ich komme dazu, Frau Kollegin.
Wir haben im Rahmen der Verfassungsreform mit einer Mehrheit dieses Hauses bei einer erklecklichen Anzahl von Gegenstimmen die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes gerade für diesen Bereich stärker beschnitten und den Ländern Verantwortung übertragen. Die müssen sie jetzt auch wahrnehmen: Gesetzgebungsverantwortung und Finanzverantwortung. Wir können hier nur den engen Rahmen ausschöpfen, den uns die Verfassung gibt.
Aber dieses Gesetz ist nicht nur umweltpolitisch, es ist allemal auch wirtschaftspolitisch geboten. Die Verfügbarkeit von Bodenflächen für die verschiedenen Nutzungen bildet eine der wichtigen Voraussetzungen für wirtschaftliche Tätigkeit in den alten und den neuen Ländern.
Die Kollegin Hellwig hat vorhin mit Recht festgestellt: Der Boden hat nicht nur Funktionen im Hinblick auf die Natur. Wir bekennen uns vielmehr nachdrücklich auch zu Nutzungsfunktionen und wollen diese weiter ausschöpfen.
Herr Kollege Bierstedt, wenn ich Ihre vorhin gehaltene Rede Revue passieren lasse, muß ich sagen: Wenn Sie in den elf Jahren, in denen Sie Mitglied der SED waren, etwas engagierter für den Boden gekämpft hätten, wären die Bodenschutzprobleme in den neuen Bundesländern vielleicht nicht ganz so schlimm, wie sie sich heute darstellen.
In den neuen Ländern bilden - inmitten des Strukturwandels - die Industrieschwerpunkte die regionalen Belastungsschwerpunkte durch Altlasten. Gering belastete Flächen, die heute wegen ungeklärter Belastung von Boden und Grundwasser ungenutzt liegen, werden von Restriktionen des Altlastenrechts befreit und einer wirtschaftlichen Nutzung zugeführt. Das kennen wir inzwischen unter dem neuen Begriff „Flächenrecycling". Es ist doch wohl vernünftig, daß wir uns genau darauf anstatt auf frische unversiegelte Flächen konzentrieren.
Für belastete Flächen ohne Sanierungsbedarf können umgehend mögliche Nutzungen festgelegt werden, wodurch eine Wiederzuführung zum Grundstücksverkehr einschließlich der dinglichen Sicherung - ein aktuelles praktisches Problem in den neuen Bundesländern - möglich wird. Dies führt nämlich zu einer erheblichen Flächenmobilisierung in den wirtschaftlichen Schwerpunktregionen. Damit beseitigt dieses Gesetz ein wichtiges Investitionshemmnis für die Flächennutzung in den neuen Ländern.
Dadurch, daß diese Flächen in der Regel bereits erschlossen sind, können auch diejenigen, die für die Infrastrukturaufwendungen verantwortlich sind - diese Aufwendungen würde man sonst normalerweise finanzieren -, zusätzliche Einsparungen vornehmen. Die Flächen sind nämlich entweder schon erschlossen oder können mit einem niedrigeren Kostenaufwand auf den Stand der Technik gebracht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus wirtschaftspolitischer Sicht ist es auch geboten, die durch den Gefahrenverdacht bestehenden Hindernisse für die städtebauliche und auch die wirtschaftliche Entwicklung mit Hilfe dieses Gesetzes zu beseitigen. Denn es ist doch eines der drängendsten Probleme, daß wir nicht wissen, ob diese oder jene Verdachtsfläche tatsächlich in einem Maß belastet ist, das sie sanierungsbedürftig macht. Es liegen Flächen brach - sie sind erfaßt -, von denen ausgegangen werden kann, daß sich der Verdacht nicht bestätigt. Diese Flächen müssen dringend aus wirtschaftspolitischen, aber auch aus umweltpolitischen Gründen wieder dem Grundstücksverkehr zugeführt werden.
Für die hochbelasteten Grundstücke können unter Berücksichtigung von Kosten-Nutzen-Relationen - natürlich müssen wir Kosten-Nutzen-Relationen durchführen, Frau Burchardt - und der vorgesehenen späteren Nutzung berechenbare Sanierungspflichten begründet werden. Natürlich werden wir die spätere Nutzung berücksichtigen. Wenn ich auf eine Fläche eine mineralölwirtschaftliche Anlage stelle, ist das etwas anderes, als wenn ich darauf einen Kindergarten errichte.
Das muß doch selbst den deutschen Sozialdemokraten und den Grünen eingängig sein.
Wir werden eine überschaubare Sanierungsplanung schaffen; denn dies gibt die notwendige Sicherheit für die Verantwortlichen.
Ein weiterer wirtschaftspolitisch gebotener Punkt sind die länderübergreifenden und standardisierten Untersuchungs- und Bewertungsverfahren. Heute untersucht doch jeder nach seiner ganz individuellen Methode; das Ergebnis ist eine große Varianz bei den errechneten Kosten. Verbindliche Bodenwerte, das heißt, bundeseinheitliche Maßstäbe für die Gefahrenabwehr, geben den Investoren und der Sanierungsbranche endlich Rechtssicherheit und machen Risiken und Kosten kalkulierbar. Damit werden die Sanierungsverfahren beschleunigt. Das ist ein ganz wichtiger Beitrag für den Wirtschaftsstandort Deutschland, der auch Luxussanierungen, die nur kostentreibend sind, verhindert.
Das neue Gesetz schafft keine neuen Genehmigungsverfahren. Auch das ist eine Botschaft, die umwelt- wie wirtschaftspolitisch wirklich wichtig ist. Es integriert statt dessen den Bodenschutz in die bereits bestehenden Verfahren und vermeidet dadurch bürokratische Hemmnisse. Nur so kann man das Problem ökonomisch und ökologisch zufriedenstellend lösen.
Steffen Kampeter
Dieses Gesetz dient der Beschleunigung der Genehmigungsverfahren. Ein für verbindlich erklärter Sanierungsplan kann ebenso wie eine Anordnung zur Altlastensanierung eine sogenannte Konzentrationswirkung entfalten. Die behördliche Sanierungsentscheidung kann zum Beispiel die wasserrechtlichen sowie die abfall- und emissionsschutzrechtlichen Genehmigungen einschließen.
Wer heute saniert, dem geht in vielen Bereichen bereits die Luft aus, bevor er die letzte Genehmigung erhalten hat. Das wird sich mit dem neuen Gesetz ändern.
Allen, die heute rufen, für das Gesetz sei es schon viel zu spät, ist zu entgegnen: Bodenschutz in Deutschland fängt doch nicht erst heute an. Der wesentliche Quantensprung durch dieses Gesetz liegt daher in der Vereinheitlichung und der verläßlichen Ausgestaltung dieses Politikbereichs. Es ist richtig, was Ministerin Merkel gesagt hat: Hier wird eine zentrale Lücke geschlossen. Wir schaffen aber auch eine Vereinheitlichung und eine verläßliche Ausgestaltung.
Die Beratungen, die jetzt beginnen, will die Koalition rasch und zügig fortführen. Wir hatten angeboten, die Anhörung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bereits im letzten Jahr durchzuführen. Wir haben die Gegenäußerung des Bundesrates abgewartet. Ende Februar werden wir im Ausschuß die Anhörung durchführen, und es ist unser hoffentlich in diesem Haus gemeinschaftlich angestrebtes Ziel, bis zur Sommerpause wesentliche Entscheidungen für dieses Gesetz zu treffen.
Frau Ministerin Merkel, ich danke Ihnen ausdrücklich dafür, daß Sie das untergesetzliche Regelwerk bereits soweit vorbereitet haben, daß es nicht nur in den Konturen, sondern bereits konkret zu erkennen ist. Das ist ein wichtiger Beitrag für die Diskussion im Bundesrat.
Abschließend möchte ich eines feststellen: Umweltpolitik in Deutschland ist im Augenblick eine schwierige Aufgabe. Wenn der Ministerpräsident von Hessen, Herr Eichel, erklärt, er wolle im Umweltschutz keine Regelungen mehr akzeptieren, die für die Länder Mehrkosten verursachen, dann ist das eine Bankrotterklärung für die rot-grüne Regierungspolitik in Hessen und ein Beweis für die Qualität und die Leistungsfähigkeit der Umweltschutzpolitik dieser Bundesregierung unter der Leitung von Angela Merkel.
Zu einer Kurzintervention die Kollegin Schwall-Düren.
Herr Kampeter, Sie heben heute wieder einmal ein typisches Beispiel für Ihre Verdrehungspolitik geliefert,
indem Sie versucht haben, Frau Burchardt gegen
mich auszuspielen. Ich möchte Sie noch einmal auf
das hinweisen, was ich in meiner Rede vorgetragen habe.
Ich habe genau abgelehnt, daß wir nutzungsbezogene Sanierungen von vornherein in das Gesetz aufnehmen, weil die Abwägung an sich schon ein Rechtsgrundsatz ist. Wenn wir besondere Tatbestände der Abwägung hinzufügen und ausdrücklich benennen, dann liefern wir eine Legitimation, daß diesen Bereichen ein besonderes Gewicht zukommt.
Dann müssen wir davon ausgehen, daß von vornherein wegen der knappen Finanzmittel und der ökonomischen Zwänge, die Sie beschrieben haben, die Sanierung zweiter Klasse in Angriff genommen und keine Wiederherstellung der natürlichen Funktionen des Bodens im Zusammenhang mit der Altlastensanierung erfolgen wird.
Herr Kollege Kampeter, Sie haben behauptet, wir hätten nur Allgemeinplätze von uns gegeben. Deshalb möchte ich Sie darauf hinweisen, daß die SPD- Fraktion bereits im Frühjahr vergangenen Jahres Eckpunkte für ein Bodenschutzprogramm formuliert hat und daß ich diese Forderungen heute in weiten Teilen wiederholt habe.
Wenn ich nicht jeden Paragraphen einzeln genannt habe, so habe ich das deshalb getan, damit unsere Zuhörer vielleicht das eine oder andere verstehen und hier nicht im Paragraphendschungel erstikken. Wir werden die Forderungen, die wir in den Eckpunkten formuliert haben, in Form von Änderungsanträgen im weiteren Verlauf der Beratung des Gesetzentwurfs einbringen.
Darüber hinaus habe ich angekündigt, daß wir einen Entschließungsantrag zu einem Bodenschutzprogramm formulieren werden, der auf einer geänderten Formulierung des § 1, der Zweckbestimmung des Gesetzes, beruhen soll, in dem der vorsorgende Bodenschutz für jedermann formuliert wird. Dieser darf aber nicht nur auf dem Papier stehen, sondern der Bodenschutz muß mit einem abgestuften und umsetzbaren Programm aktiv in Angriff genommen werden.
Ich glaube, Herr Kampeter, Ihr Versuch, hier Nebel über die Tatsache auszubreiten,
daß die Bundesregierung ihren Hausaufgaben im Sinne eines vorsorgenden Bodenschutzes nicht nachgekommen ist, wird kläglich scheitern, wenn wir in die Detailberatung gehen und dann sehen, was getan werden muß, um wirklich Bodenschutz zu betreiben.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schwall-Düren, erstens: Ich denke, ich habe geradlinig, kritisch und besonders klar die Defizite der Opposition dargelegt. Daß es Sie getroffen hat, dafür habe ich Verständnis. Aber Sie werden Verständnis dafür haben,
Steffen Kampeter
daß ich auch zukünftig Ihre konzeptionellen Defizite ausreichend im deutschen Parlament erläutern werde.
Zweitens. Die SPD-Bundestagsfraktion kritisiert Ministerin Merkel für die angeblich zu späte Vorlage eines Gesetzentwurfs. Tatsache ist, daß Sie keinen eigenen Gesetzentwurf haben. Selbst der kleinen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist es durch die Übernahme großer Teile unseres Gesetzentwurfes gelungen, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Die SPD hingegen, Frau Kollegin Schwall-Düren, hat heute lediglich einen weiteren Antrag angekündigt.
Drittens. Ich bekenne mich dazu, daß wir Sanierung in Abhängigkeit von der zukünftigen Nutzung durchführen wollen. Die Koalition ist der Auffassung, daß es ein Unterschied ist, ob auf einer zu sanierenden Fläche ein Kindergarten oder eine weitere Industrieanlage gebaut werden soll. Wir halten dies im Hinblick auf eine Begrenzung der Kosten für vernünftig. Dies ist umweltpolitisch vertretbar und somit ein weiterer Beitrag zur Sicherung des Standortes Deutschland.
Jetzt hat das Wort die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kampeter, das Schöne bei Ihnen ist, daß Sie zwar die Opposition kritisieren, daß Ihre Worte aber in der Regel ziemlich platt und inhaltsleer und daher eher amüsant sind. Noch schöner ist allerdings, daß Sie auch die eigenen Reihen kritisieren. Das zeichnet Sie aus. Das machen Sie öffentlich. Deswegen wundert mich der Schlußsatz Ihrer Rede.
In der „Süddeutschen Zeitung" von heute haben Sie verkündet, daß Sie großes Verständnis für die Länder haben, weil das Folgeregelwerk zu diesem Gesetz noch nicht einmal in Ansätzen vorhanden sei. Das finde ich mutig.
Das Bodenschutzgesetz hat eine traurige Gemeinsamkeit mit dem Bundesnaturschutzgesetz. Seit Jahren ist nämlich erklärt worden, daß es dringend notwendig sei, aber es kam nicht, und das, obwohl die Bundesregierung schon 1985 - wie wir schon mehrfach gehört haben - eine Bodenschutzkonzeption vorgelegt hat, in der sehr umfassend die Situation und die notwendigen Maßnahmen zum Bodenschutz dargestellt wurden. Zwar hat sich seither in knapp zwölf Jahren einiges geändert. Aber leider ist der Bodenschutz weiterhin sehr notwendig. Wie im Naturschutz, so werden auch hier die internationalen Rufe immer lauter, mit denen gesetzgeberisches, vor allem auch praktisches Handeln angemahnt wird. Aussetzen kann man die Diskussion über dieses Thema nicht.
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich muß Ihnen sagen: Glücklich macht er einen nicht. Ich will Frau Merkel ausdrücklich zugestehen, daß es sich hierbei um eine sehr schwierige Materie handelt; denn es ist ein Querschnittsthema, das mindestens sieben andere Gesetze tangiert. Aber der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf tut dies nicht. Ein Bodenschutzgesetz müßte selbstverständlich dem Anspruch genügen, den Boden als Teil unserer Lebensgrundlagen, wie es in Art. 20 a unseres Grundgesetzes bestimmt ist, zu schützen. Diesem Anspruch wird Ihr Gesetzentwurf in keiner Weise gerecht.
Der Naturschutzbund hat deshalb vorgeschlagen, dieses Gesetz mit dem Titel - die Kollegin SchwallDüren hat es schon gesagt - „Gesetz zur nutzungsbezogenen Sanierung von Altlasten" zu versehen. Das wäre auf jeden Fall treffender und ehrlicher. Sie haben Ihren Gesetzentwurf nämlich ausschließlich unter die Überschrift der Nutzung von Böden gestellt. Der Boden ist aber in seiner Gesamtheit eine wichtige ökologische Grundlage. Deshalb müßten auch nicht genutzte Böden in einem solchen Gesetz behandelt werden. Auch diese sind bezüglich ihrer Funktionsfähigkeit zum Beispiel von den 2,9 Millionen Tonnen Stickoxidemissionen betroffen.
Mit großem Bedauern werden regelmäßig die immer länger werdenden Roten Listen der gefährdeten Pflanzen und Tiere vorgestellt, obwohl man sich angesichts der Gesamtsituation darüber nicht wundern müßte. Insbesondere die Arten, die auf nährstoffarme Standorte angewiesen sind, aber auch die Ökosysteme, in denen diese Arten leben, werden durch die ständige Belastung in ihrem Bestand gefährdet. Auch deshalb sind diese Böden zu schützen.
Ein besonderes Problem in Ihrem Gesetzentwurf stellt der Bereich der Landwirtschaft dar. In § 3 halten Sie fest, daß alle gesetzlichen Bestimmungen, die die Land- und Forstwirtschaft betreffen, von diesem Gesetz unberührt bleiben. Das heißt, daß rund 80 Prozent der Fläche Deutschlands nicht unter das Bundes-Bodenschutzgesetz fallen, noch dazu Flächen, die es dringend nötig hätten, im Bundes-Bodenschutzgesetz geregelt zu werden. Die für den Bodenschutz völlig ungenügenden Regelungen im Düngemittelgesetz, im Pflanzenschutzgesetz sowie in den dazugehörigen Verordnungen bleiben völlig unverändert bestehen. Da muß man sich fragen,
Ulrike Mehl
worin der Schutz des Bodens in Deutschland durch dieses Gesetz überhaupt besteht.
Ihr Versuch der Einflußnahme auf die Landwirtschaft durch die Formulierungen der sogenannten guten fachlichen Praxis ist völlig unzureichend.
Das, was Sie dort formuliert haben, ist laut Landwirtschaftslobby - sprechen Sie einmal mit Ihren Bauernverbandsvertretern! - sowieso eine Selbstverständlichkeit. Der Streit ginge nämlich erst dann los, wenn Sie dahin gehend Einzelheiten formuliert hätten, wann denn landwirtschaftlich genutzter Boden in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt ist. Insofern hat der Kollege Kampeter völlig recht: Das untergesetzliche Regelwerk wird den eigentlichen Streit auslösen. Um diesen Punkt drücken Sie sich elegant herum. Da finde ich den Formulierungsvorschlag des BUND zu dieser Passage sehr viel treffender, mit dem insbesondere auf die Bodenbiologie und die Regenerationsfähigkeit des Bodens abgehoben wird.
Im übrigen fehlt bei Ihnen der Bereich Wald völlig, obwohl wir alle wissen, daß das Waldsterben in erster Linie über den Boden erfolgt, der Schutz des Bodens also nicht nur den Wald erhält, vielmehr der Boden unersetzbare ökologische Funktionen hat und daher gesichert werden muß. Statt dessen mogeln Sie sich nach Ihrer bewährten Methode aus diesem Problem heraus, indem Sie Landwirtschaft und Forstwirtschaft weitermachen lassen wie bisher, dafür aber die Schäden, die den land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen von außen zugefügt werden, in erster Linie über den Luftweg, von den Ländern in Form einer Ausgleichsverpflichtung bezahlen lassen. Die Behauptung, dies koste nur 48 Millionen DM - Sie sagen sogar, eher weniger - können weder die Länder noch wir nachvollziehen. Wenn die Böden so alarmierend belastet sind, wie das die Wissenschaft immer wieder sagt, dann glaubt doch keiner im Ernst, daß dieses gravierende Problem mit 48 Millionen DM zu lösen wäre.
Der Standpunkt des Bundesrates, daß die Länder nicht bereit sind, für Schäden aufzukommen, für deren Entstehen maßgeblich Sie politisch verantwortlich sind, kann ich nur voll unterstützen. Für die zweitgrößte Emissionsquelle, nämlich den Verkehr, sind in erster Linie Sie verantwortlich. Warum sollen das die Länder dann alleine ausbaden?
Im übrigen ist auch tatsächlich nicht einzusehen, warum nur eine Gruppe Betroffener, nämlich die Landwirtschaft, in den Genuß dieser Regelung kommen soll. Diese Frage stellt sich insbesondere deshalb, weil genau diese Gruppe selbst, allerdings auf anderen Wegen, an der Belastung der Böden beteiligt ist.
Betreiben Sie endlich eine ökologische Landwirtschaftspolitik! Dann haben Sie nämlich schon die halbe Miete erwirtschaftet.
Sehen Sie noch einmal in dem zwölf Jahre alten Bodenschutzkonzept nach, das Sie selber verfaßt haben. Da werden Sie unter anderem die Aussage finden, daß Bodenschutz auch den Schutz der Naturgüter um ihrer selbst willen einschließen müsse. Das lehnen Sie bisher ab. Frau Reichard hat ausdrücklich auf das Gegenteil abgehoben.
Dort steht: Dies ist eine Bedingung für eine ökologisch ausgerichtete Bodenschutzpolitik. Dieses Ziel haben Sie erklärtermaßen auch. Wenn Sie für das Bodenschutzgesetz diese Grundlage schaffen, werden wir es vielleicht schaffen, aus dem nutzerbezogenen Sanierungskonzept in den Beratungen ein Bodenschutzgesetz zu machen.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/5203, 13/6701 und 13/6715 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksache 13/6617 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität
und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Einsetzung einer Gemeinsamen Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen
- Drucksache 13/5776 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrat
Einsetzung einer Gemeinsamen Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen
- Drucksache 13/5760 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Hansgeorg Hauser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes haben Bundesregierung und Bundesrat in allen Punkten Einigkeit erzielt. Ich möchte daher in dieser Debatte nicht den Ausschußberatungen vorgreifen.
Im Mittelpunkt steht heute die Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zur Einsetzung einer Gemeinsamen Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen sowie des gleichlautenden Beschlusses des Bundesrates vom 25. September 1996.
Betrachtet man die Finanzsituation der Gemeinden, so ist zu erkennen: Spät, aber nicht zu spät sind die Kommunen 1992 auf einen Konsolidierungskurs eingeschwenkt. Die erfolgreichen Bemühungen vieler Städte, Gemeinden und Landkreise um ausgeglichene Verwaltungshaushalte verdienen Anerkennung. Wie Bund und Länder hatten auch die Kommunen in 1995 hinter den Erwartungen zurückgebliebene Steuereinnahmen zu verkraften. Nach den bisher vorliegenden Zahlen für die ersten drei Quartale des Jahres 1996 haben die Kommunen auf diese Entwicklung entschlossen reagiert: Das Finanzierungsdefizit ging um fast zwei Drittel zurück.
Sorgen der kommunalen Ebene um ihre Finanzausstattung wurden und werden von der Bundesregierung stets beachtet. Zahlreiche Maßnahmen des Bundes entlasten die Kommunen auf der Ausgabenseite, insbesondere bei der Sozialhilfe. Wer die Pressekonferenz des Städtetages genau verfolgt hat, konnte erkennen, daß hier sehr deutlich zum Ausdruck gebracht wurde, daß die Sozialausgaben der Kommunen sinken. Es ist nun unsere Aufgabe, mit dafür zu sorgen, daß es sich hier nicht nur um eine Atempause handelt,
wie Städtetagspräsident Seiler gesagt hat, sondern um eine dauerhafte Situation.
Bei der Steuergesetzgebung werden Mindereinnahmen der Gemeinden in gleichem Umfang wie bei Bund und Ländern innerhalb des Steuerrechts kompensiert.
In den Entschließungsanträgen wird auf die im Zuge der Haushaltskonsolidierung erforderlich gewordenen Veräußerungen von kommunalem Vermögen verwiesen. Hierzu kann ich nur sagen: Alle Maßnahmen, die kommunales Handeln auf den Kern zurückführen, sind zu begrüßen. Es gehört jedoch zum vollständigen Bild, darauf hinzuweisen: Wenn die Kommunen in 1995 rund 13 Milliarden DM an
Einnahmen aus Vermögensveräußerungen zu verzeichnen hatten, standen diesen Einnahmen Ausgaben für Vermögenserwerb in gleicher Höhe gegenüber. Wenn also aus der Sicht der einzelnen Gemeinde sehr wohl Konsolidierungserfolge durch Vermögensveräußerungen erzielt werden, so läßt sich dies für die Gesamtheit aller Gemeinden nicht belegen.
Auch die Monopolkommission geht in ihrem jüngsten Gutachten davon aus, daß Städte und Gemeinden so gut wie überhaupt nicht der vergleichsweise konsequenten Haltung des Bundes in Sachen Privatisierung folgen.
Auch wenn die Vergleiche finanzstatistischer Kennzahlen zwischen Bund und der kommunalen Ebene die Besonderheiten des kommunalen Haushaltsrechts beachten müssen, muß zur Verdeutlichung der finanzpolitischen Herausforderungen, vor denen der Bund im Vergleich zur kommunalen Ebene steht, beispielhaft auf die Zinsausgabenquote verwiesen werden: Sie wird 1997 für den Bund einschließlich der Zinserstattungen bei rund 20 Prozent liegen, für die Kommunen in den alten Ländern bei 5 Prozent, für die Kommunen in den neuen Ländern bei 3 Prozent. Zwar stellt sich die kommunale Finanzsituation von Gemeinde zu Gemeinde stark unterschiedlich dar, doch können diese Kennzahlen vor dem Hintergrund der Erfordernis, die Finanzierungsdefizite aller Ebenen zu begrenzen, nicht außer acht gelassen werden.
Meine Damen und Herren von der SPD, es nützt wenig, wenn Sie auf der einen Seite in den Haushaltsberatungen immer wieder auf die dramatische Situation bei den Zinsen hinweisen, dies aber auf der anderen Seite nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wenn es um die entsprechenden Lastenausgleiche zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geht.
Zudem: Die Kommunen sind Bestandteil der Länder. Damit haben diese auch die angemessene Finanzausstattung ihrer Kommunen sicherzustellen.
Die Verantwortung für die Aufgabenwahrnehmung vor Ort und den Ausgleich des sich daraus ergebenden Finanzbedarfs der Kommunen trägt jedes Land für seinen Zuständigkeitsbereich. - Herr Kollege, es muß einigen bestimmten Ländern immer wieder gesagt werden, daß sie sich dieser Verantwortung nicht entziehen können. Sie wissen genau, wen ich meine.
Dabei möchte ich betonen: Das, was in den Entschließungsanträgen unter dem Schlagwort „Zusammenführung von Aufgabenbegründung und Finanzverantwortung " als Lösung zur Verbesserung der kommunalen Finanzlage angeboten wird, greift zu kurz. Die bestehende Finanzverfassung des Grundgesetzes nimmt eine klare Zuordnung von Aufgaben- und Finanzierungskompetenz vor.
Parl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
Die Aussage des Papiers der SGK vom letzten Jahr, in dem man liest, daß die Kommunen in die Lage zu versetzen seien, diesen Aufgaben auch in Zukunft gerecht zu werden, und daß dies politisch und wirtschaftlich nicht nur eine Aufgabe des Bundes, sondern auch der Länder sei, ist geradezu verdreht und wird der Realität des Auftrages unseres Grundgesetzes absolut nicht gerecht.
In diese Aufgabenzuweisung sind die Gemeinden als Teil der Länder einbezogen. Damit ist unter Einschluß der variablen Umsatzsteuerverteilung nach der Verfassung sichergestellt, daß jede Ebene ihren gehörigen Anteil an den verfügbaren Einnahmen zur Erfüllung ihrer notwendigen Aufgaben erhält. Da die Gemeinden als Teile der Länder gelten, wird der gesamte Finanzbedarf der Kommunen bei der Umsatzsteuerverteilung mitgewichtet und dotiert.
Nicht zuletzt unter Effektivitätsgesichtspunkten ist diese Regelung auch sinnvoll: Eine effektive Aufgabenwahrnehmung ist am ehesten gewährleistet, wenn derjenige, der eine Aufgabe durchzuführen hat, auch für deren Finanzierung verantwortlich ist.
Darüber hinaus würde es der bestehenden Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes widersprechen,
die Kosten von öffentlichen Maßnahmen der staatlichen Ebene anzulasten, die das zugrunde liegende Gesetz verabschiedet hat - wie Sie es, Frau Kollegin Scheel, immer wieder fälschlicherweise fordern. Diese Art von Gesetzesakzessorietät wäre deswegen absurd, weil die Länder zum Teil freiwillig auf Autonomie verzichtet haben. Wenn die Länder zum Beispiel bei der Sozialhilfegesetzgebung die Notwendigkeit eines bundesgesetzlichen und damit einheitlichen Rahmens sehen, kann dies nicht bedeuten, daß die daraus entstehenden Ausgaben dem Bund angelastet werden.
Zur Verbesserung der Situation der kommunalen Haushalte sieht die Bundesregierung ihre Aufgabe vielmehr darin, durch mögliche Korrekturen im Steuerrecht und zum Beispiel bei der Sozialhilfe Entlastungen auf der Ausgabenseite zu erreichen und somit den Raum für die kommunale Selbstverwaltung zu erhalten.
Was die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Gemeindefinanzreform angeht, lassen Sie mich folgendes sagen: Die Bundesregierung hat mit ihrem Entwurf einer Unternehmensteuerreform in Verbindung mit einer Gemeindefinanzreform ihren Vorschlag zu einer grundlegenden Verbesserung der Struktur der Gemeindefinanzen durch die Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer vorgelegt. Hier ist zunächst einmal die Zustimmung des Bundesrates und der Opposition gefordert, damit dieses Konzept auch umgesetzt werden kann.
Fragen Sie die Kommunen, was ihnen lieber wäre - eine Gemeindefinanzreform mit einer Beteiligung an der Umsatzsteuer, eine Reform, die praktikabel ist, die zügig umgesetzt werden kann und für die
Kommunalfinanzen eine grundlegende Strukturverbesserung bedeutet, oder die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission, in der über Jahre hinaus wieder nur debattiert, aber nicht gehandelt wird. Ich kann mir die Antwort sehr leicht vorstellen.
Realistischerweise muß man sehen, daß es gegenwärtig keinen weiteren Verteilungsspielraum für zusätzliche Gemeindefinanzreformmaßnahmen gibt, wohl auch nicht bei den Ländern, wie die Klagen der Kommunen über eine mangelnde Mittelausstattung durch die Länder belegen. Nicht umsonst haben die Kommunen gerade bei der Verteilung der Umsatzsteuer immer wieder davor gewarnt, diese nicht den Ländern zu überlassen, sondern sie direkt durchzuführen, weil die Finanzminister der Länder - zumindest einige davon - „klebrige Finger" hätten, wie immer betont wird. Deswegen könne man ihnen diese Arbeit nicht überlassen.
Die Unternehmensteuer- und Gemeindefinanzreform muß umgehend gesetzlich geregelt werden. Dann haben wir als weitere Aufgabe die große Steuerreform, von der alle Ebenen betroffen sein werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kennen wir uns deshalb schon aus diesem Grund nicht allein auf eine Gemeindefinanzreform konzentrieren, sondern brauchen die Bündelung aller Kräfte, um diese von allen als notwendig anerkannte große Steuerreform umsetzen zu können. Ob und inwieweit sich danach neue Verteilungsspielräume für weitere Gemeindefinanzreformmaßnahmen eröffnen, wird man erst nach Abschluß dieser großen Reform sehen können.
Das Wort hat der Kollege Jochen Welt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn Staatssekretär Hauser gerade versucht hat, die Situation der Gemeinden schönzumalen, und auch wenn er versucht hat, dieses berühmte Schwarzer-PeterSpiel zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wieder aufzulegen,
so ist doch eins klar, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Noch nie seit der Nachkriegszeit waren die Lage der Städte und Gemeinden und ihre finanzielle Situation so schlecht wie heute.
Neben der Rekordarbeitslosigkeit und der Rekordstaatsverschuldung ist die dramatische Verschlechterung der Situation von Städten und Gemeinden ein weiterer Minusrekord dieser Bundesregierung. Das ist keine einsame Feststellung, die von Sozialdemokraten getroffen wird. Während der Anhörung des Innenausschusses zur kommunalen Selbstverwal-
Jochen Welt
tung wurde quer durch die Riege der Gutachter diese dramatische Entwicklung attestiert. So bestand im Jahre 1995 ein Finanzierungsdefizit bei den Gemeinden der Bundesrepublik von über 13 Milliarden DM. Diese fehlende Deckung zwischen Ausgaben und Einnahmen einer Gemeinde führt dazu, daß immer mehr Dienstleistungen für den Bürger abgebaut, Bibliotheken, Schwimmbäder, Turnhallen, Theater, Orchester usw. geschlossen werden.
Professor Dr. Günter Püttner kam bei der vorhin erwähnten Anhörung zu dem Ergebnis: „Die Haushaltslage ist wirklich dramatisch." Ich füge hinzu, daß die Gefahr besteht, daß in den nächsten Jahren keine Investitionen mehr stattfinden können. Das bedeutet nicht nur, daß nichts Neues entsteht, sondern auch, daß die Substanz verrottet. Eine solche Politik läßt Vermögenswerte der Gemeinde vergammeln. Eine solche Politik nimmt billigend in Kauf, daß Gemeinden so gut wie gar nicht mehr in der Lage sind, über ihren Investitionsbeitrag in der Stadt und in der Region Arbeitsplätze zu sichern oder gar zu schaffen.
Die SPD-Fraktion schlägt deshalb die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Reform der Finanzen unter Beteiligung gerade der kommunalen Spitzenverbände und kompetenter Fachleute aus Wissenschaft und Praxis vor. Alle an der Anhörung des Innenausschusses Beteiligten haben deutlich gemacht, daß eine solche Initiative längst überfällig ist.
Für den Bürger sind derartig katastrophale Entwicklungen nicht nur durch Leistungseinschränkungen festzustellen. Er erfährt sie zum Teil auch durch eklatante Gebührenerhöhungen. Die Gemeinden sind heute eben vielfach nicht mehr in der Lage, bei der Straßenreinigung, der Abwasserentsorgung, den Friedhofsgebühren oder der Musikschule die gestiegenen Kosten über den allgemeinen Haushalt zu subventionieren. Die Kommunalaufsicht verlangt bei defizitären Haushalten von Städten und Gemeinden die sogenannten Haushaltssicherungskonzepte und die Ausschöpfung aller Einnahmemöglichkeiten, auch in den Gebührenhaushalten.
Der große finanzpolitische Lastenverschiebebahnhof dieser Bundesregierung vom Bund über die Länder hin zu den Gemeinden ist für die aussichtslose Finanzsituation in den Städten und für die ständig wachsende Belastung der Menschen vor Ort verantwortlich.
In dieser Diskussion gibt es dann auch einige Schlaumeier, gerade aus den Reihen der Koalition und der Bundesregierung, die anmerken, daß die Sparpotentiale in den Gemeinden noch nicht ausgereizt seien, daß die Gemeinden noch stärkere Beiträge leisten müßten. Viele Gemeinden sind da viel weiter als die uninformierten Ratgeber. Sie versuchen durch Umstrukturierung und Aufgabenreduzierung oder gar Privatisierung, ihre Dienstleistungen effektiver, kostensparender und bürgerfreundlicher zu gestalten. Nach Meinung und Feststellung des Deutschen Städtetages sind rund 80 Prozent aller bundesdeutschen Gemeinden an diesem Umstrukturierungsprozeß beteiligt.
Auf Bundesebene können wir lediglich zur Kenntnis nehmen, daß die Regierung zum Thema Verwaltungsmodernisierung soeben die Budgetierung im Bundessortenamt eingeführt hat. Auch bei den Ländern gibt es natürlich erheblichen Nachholbedarf; Ansätze zwar, aber bei weitem nicht ausreichend. Man sieht, die Gemeinden sind auf der Höhe der Zeit, leisten gemeinsam ihre eigenen Sparbeiträge. Was die Gemeinden dann zu dieser Zeit und heute brauchen, sind eben keine wohlfeilen Sprüche von denjenigen, die es ohnehin nicht besser machen. Was die Gemeinden brauchen, sind praktische Hilfen, finanzielle Unterstützungen und Entlastungen von den ihnen wesensfremden Ausgaben.
Zunächst ist für mich die Methode der Bundesregierung, den Gemeinden die Einnahmequelle der Gewerbekapitalsteuer ohne verbindliche Kompensation streichen zu wollen, die Vermögensteuer auszuhebeln und gleichzeitig den Normalverbraucher bei allen wichtigen Dingen des täglichen Lebens stärker zu belasten, unseriös und kaltschnäuzig.
- Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen das nicht gefällt. Aber es muß Ihnen immer wieder gesagt werden, damit Sie allmählich zu einer Verhaltensänderung kommen. Das ist wichtig und ein allgemeiner psychologischer Lehrsatz.
So werden die Gemeinden systematisch als Reservekasse des Bundes, aber auch der Länder mißbraucht. Das, was mit den Gemeinden geschieht, führt nicht nur zur stärkeren Belastung der Bürger. Nein, diese Entwicklung hat auch etwas mit dem zu tun, was unsere Demokratie in Deutschland ausmacht. Es gibt nämlich den Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes, der die kommunale Selbstverwaltung sichert, der eine adäquate Finanzausstattung fordert. Diese Selbstverwaltung ist für uns nicht nur historisch aus Gründen der eigenen Identifikation bedeutsam. Sie ist auch ein Exportschlager für den Aufbau der jungen Demokratien in Osteuropa und darüber hinaus geworden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Bundesregierung tut alles, um diese Selbstverwaltung und diese eigenverantwortliche Tätigkeit von Bürgerinnen und Bürgern zu untergraben und dieses Recht auszuhöhlen. Die Anhörung im vergangenen Jahr zeigte klar: Kommunale Selbstverwaltung gibt es zwar noch auf dem Papier im Grundgesetz, aber sie ist praktisch und faktisch in den Gemeinden nicht mehr möglich und auf der Tagesordnung.
Jochen Welt
Die Gründe sind eindeutig: eine abstruse Gesetzes- und Verordnungsschwemme, finanzielle Austrocknung und zusätzliche Belastungen der Gemeinde. Der Gemeinderat hat kaum noch Gestaltungsmöglichkeiten. Er erschöpft sich in Proklamationen und parteipolitischen Schaukämpfen. Das ist Politik zum Abgewöhnen. Dabei führt man vor Ort keinen Menschen an die Kommunalpolitik heran. Wir müssen den Gemeinden helfen, damit sie wieder Selbstverwaltung praktizieren können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, eine solche Entwicklung entspricht nicht dem Demokratieverständnis der SPD. Wir wollen die Mitwirkung der Bürger. Wir wollen die kommunale Selbstverwaltung. Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diese kommunale Selbstverwaltung sicherzustellen. Städte und Gemeinden wollen und dürfen sich natürlich nicht aus der individuellen Hilfe für sozial Schwache, der Hilfe für in Not Geratene, zurückziehen.
Aber es kann und darf doch nicht sein, daß die verfehlte Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und die Massenarbeitslosigkeit von den Kassen der Sozialämter bedient werden und fast ausschließlich Städte und Gemeinden damit belastet werden. Es fehlt noch immer eine Zusage für die Beteiligung an der Finanzierung der Kosten der Bürgerkriegsflüchtlinge. Ferner fehlt die Kostenübernahme im Bereich der Behinderten. Andererseits gibt es aber einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz - das wurde hier beschlossen -, bei dem der Bund keinen Pfennig hinzuzahlt.
Das alles macht kommunale Selbstverwaltung schier unmöglich.
Wir Sozialdemokraten wollen hier eine andere, eine sozialverträgliche und vor allem demokratische Sicherstellung der Arbeit in unseren Gemeinden. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, kann aber nur gewährleistet werden, wenn die Gemeinden wieder von der Aufgabenzuteilung von seiten des Bundes - ich füge hinzu: auch der Länder - entlastet werden oder ihnen ein entsprechender Finanzierungsrahmen zur Verfügung gestellt wird.
Genau deshalb brauchen wir die von uns beantragte Kommission. Sie soll erstens Vorschläge zur Sicherung der kommunalen Finanzausstattung gemäß Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes auf den Weg bringen und zweitens Vorschläge zur Einführung des Konnexitätsprinzips zwischen Bund, Ländern und Gemeinden entwickeln, und zwar getreu nach dem Motto, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß derjenige, der die Musik bestellt, sie auch zu bezahlen hat. Das gilt dann insbesondere für Bundesgesetze.
Drittens soll sie Hilfen für die Reduzierung der großen, uns allen klargewordenen Regelungsdichte und
Aufgabenzuweisung für die Gemeinden durch Bund und Land geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Dissens im Detail ist das, was hier vorgetragen wird, Ihnen allen eigentlich längst bekannt. Sie wissen es von zu Hause aus, und die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie die Ratskollegen in Ihren Gemeinden erzählen Ihnen das jeden Tag genauso, wie ich es Ihnen vorgetragen habe. Wir wissen auch, daß die Zeit des Lamentierens eigentlich vorbei ist und daß jetzt gehandelt werden muß.
Lassen Sie uns jetzt die ersten gemeinsamen Schritte tun und die Einsetzung einer Kommission mit diesen konkreten Aufgaben beschließen. Damit hätten wir einen Schritt in die richtige Richtung getan.
Das Wort hat die Kollegin Professor Gisela Frick, F.D.P.-Fraktion.
Mir hat niemand etwas auf geschrieben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich melde mich jetzt nicht nur als Vertreterin der F.D.P.-Fraktion zu Wort, sondern zugleich als Schlaumeierin, wie ich eben gelernt habe, und als eine, die für ihre Fraktion ganz klar feststellt: Die Zeit des Lamentierens ist tatsächlich vorbei, die Zeit des Handelns ist längst gekommen, und wir haben schon wertvolle Zeit verstreichen lassen.
- Ich komme gleich darauf, wie da die Zusammenhänge sind. Keine Sorge, es wird schon noch kommen.
Ich möchte an den Anfang stellen, daß wir die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission in der Form, wie es der SPD-Antrag und der gleichlautende Antrag des Bundesrates vorsehen, ablehnen.
Im ersten Teil Ihres Antrages beklagen Sie die dramatische Verschlechterung der Finanzsituation der Kommunen. Wir wissen seit dieser Woche - Gott sei Dank, muß man sagen -, daß sich die Situation auf dem Wege der Besserung befindet. In den alten Ländern ist der Rückgang des Defizits von 12 Milliarden DM auf 7,5 Milliarden DM immerhin sehr beachtlich. Auch haben, wie es der Staatssekretär eben ausgeführt hat, die Kommunen ihre Konsolidierungsanstrengungen verstärkt. Dort sind durchaus bereits Erfolge zu sehen, wofür wir uns bei den Kommunen besonders bedanken, da ja die Frage der Verschuldung der Kommunen letztendlich auch für die Maastricht-
Gisela Frick
Kriterien von Bedeutung ist. Das ist also auch unter diesem Gesichtspunkt ganz wichtig.
Wir haben hier zwar eine dramatische Verschlechterung, die Sie beklagen, zu konstatieren; aber es ist auch erlaubt, einmal zu fragen, woher das denn kommt.
Hier muß ich natürlich schon darauf hinweisen, daß das nicht allein eine Frage der Regierung ist, wie Sie es eben in einem Zwischenruf angedeutet haben. Vielmehr ist insbesondere die Verantwortlichkeit des Bundesrates ganz deutlich.
- Jawohl.
Wir haben seit langen Jahren die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer im Programm und seit einigen Jahren im konkreten Gesetzgebungsverfahren. Ständig verweigern Sie, spätestens durch den Bundesrat, aber meistens schon im Finanzausschuß oder als Opposition im Plenum, die notwendige Mitwirkung an einer Beteiligung der Kommunen an einer dynamisch wachsenden, stetigen Einnahmequelle, nämlich der Umsatzsteuer.
Herr Welt, wenn Sie eben gesagt haben, es sei keine Kompensation festgeschrieben, dann frage ich mich wirklich, wo Sie das letzte halbe Jahr oder die letzten Monate gelebt haben. Das läuft doch die ganze Zeit; es sind ganz konkrete Zahlen im Spiel - da haben sogar wir uns als F.D.P. bewegt, was uns gar nicht so leicht gefallen ist -, die wir im Grundgesetz festschreiben wollen.
Entschuldigen Sie, Frau Kollegin Frick, daß ich Sie unterbreche: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?
Aber selbstverständlich.
Frau Kollegin Frick, können Sie dem Hohen Hause bestätigen, daß die Koalition bei Ihrem Ziel, das auch in der Koalitionsvereinbarung niederlegt ist, nämlich der Abschaffung der gesamten Gewerbesteuer einschließlich der Gewerbeertragsteuer, bleibt und daß die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer für Sie nur ein erster Schritt, ein Einstieg in den Ausstieg ist? Daß Sie mit dieser Absicht, die gesamte Gewerbesteuer abzuschaffen, den Kommunen keine Finanzperspektive aufweisen, ist ja wohl jedem offenkundig. Bestätigen Sie diese Absicht der Koalition?
Herr Kollege Poß, wir beide können das als Versatzstück immer wieder in jeden meiner Vorträge zu diesem Thema einbauen. Sie stellen jedesmal dieselbe Frage, und ich antworte jedesmal genauso.
Wir halten langfristig an diesem Ziel aus Gründen der Investitionssicherung und Arbeitsplatzsicherung fest, die für uns absoluten Vorrang in allen unseren Betätigungen in der Politik haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Die Zusammenhänge von mangelnder Investition und damit fehlenden Arbeitsplätzen und dieser einmaligen Sonderbelastung der deutschen Wirtschaft haben Sie leider immer noch nicht erkannt. Aber auch in Zukunft werde ich auf Ihre Fragen entsprechend antworten. Wir werden es weiterhin anstreben; für diese Legislaturperiode ist das aber sicherlich nicht mehr möglich. Das heißt also, daß es mehr ein mittelfristiges oder gar längerfristiges Ziel ist.
Selbstverständlich werden wir in Kompensation zu diesen Ausfällen den Artikel 28 beachten und die Finanzautonomie der Gemeinden nicht antasten, sondern umgestalten.
Bei dieser Frage geht es um Reformen und nicht um Beibehaltung alter überkommener Besitzstände, die zu nichts mehr führt.
Noch einmal zurück zur Gewerbekapitalsteuer. Wie gesagt, da blockieren Sie. Wir hätten das alles schon seit zwei Jahren haben können. Unsere Absicht war es jedenfalls, die Gemeinden auf entsprechend sichere Finanzierungsbeine zu stellen. Insbesondere für die neuen Bundesländer, die noch gar nichts haben, ist das Ergebnis natürlich ärgerlich bzw. dramatisch. Die Kommunen in den neuen Bundesländern haben weder die alte Gewerbekapitalsteuer, weil sie da ja, wie wir wissen, bisher ausgesetzt war, noch eine Beteiligung an der Umsatzsteuer, die für sie sehr interessant wäre. Nicht umsonst hat der Städtetagspräsident Seiler in seiner Pressekonferenz darauf hingewiesen, daß dadurch den Kommunen in den neuen Ländern jährlich zwischen 500 Millionen und 1 Milliarde DM entgehen.
Sie haben zu verantworten, daß die Kommunen in den neuen Ländern über dieses Geld noch nicht verfügen können.
Weiterhin verweigern Sie sich - in erster Linie mit Ihrer Blockadepolitik über den Umweg Bundesrat - allen möglichen Sparbemühungen, die wir vorschlagen. Wir wollen die Sozialhilfe reformieren. Wenn Sie aber zu jedem Vorschlag immer nur nein sagen, dann ist es klar, daß letztendlich die Belastung bei den Gemeinden, die ja dafür zuständig sind, in der alten Höhe bleibt. Wir müssen reformieren, damit die Ausgaben in den Gemeinden geringer werden. Da verweigern Sie sich.
Gisela Frick
Beispielsweise verweigern Sie sich auch allen unseren Bemühungen, um Investitionen und Arbeitsplätze im Inland zu halten. Das ist ein ganzer Komplex. Ich nenne nur das Stichwort Unternehmensteuerreform, das brauchen wir hier nicht herunterzudeklinieren. Aber all das soll doch dazu dienen, daß mehr investiert wird und mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Auch das würde die Gemeinden ganz erheblich entlasten. Wenn Sie sich hier dieser Politik für Arbeitsplätze verweigern, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn nachher bei den Kommunen die Kosten für den Abbau der Arbeitsplätze auch noch auflaufen.
Sie verweigern sich auch noch anderen Vorschlägen, die vielleicht in diesem Zusammenhang nicht die gleiche Bedeutung haben. Wir sind seit langem bemüht, eine Gleichstellung der privaten und öffentlichen Entsorgungsunternehmen vorzunehmen. Auch dazu hört man von Ihnen immer nur nein, nein, nein. Auch dies könnte den Kostendruck auf die Kommunen ganz erheblich mildern.
Zum zweiten Komplex: Sorgen Sie dafür, daß bestimmte Gesetzesvorhaben, die letztendlich die Kostenentlastung durch Ausgabeneinsparung bringen, auch tatsächlich in die Tat umgesetzt werden! Diesbezüglich sind Sie in der Opposition und insbesondere mit der Mehrheit im Bundesrat genauso in der Verantwortung wie wir in der Bundesregierung; da gibt es überhaupt keinen Unterschied. Sie können nicht immer mit dem Finger auf uns zeigen und sagen, Sie sind in der Bundesregierung, Sie müssen das machen.
Auch das folgende haben wir heute schon einmal gehört. Die Ausstattung der Gemeinden ist im übrigen vorrangig Ländersache. Der Begriff der „klebrigen Finger" wurde vom Staatssekretär heute auch schon einmal genannt. Sorgen Sie in den Ländern dafür, daß das Geld, das für die Kommunen bestimmt ist, auch wirklich bei den Kommunen ankommt!
Auch hier wiederhole ich mich leider, aber ich glaube, es ist ganz sinnvoll, das noch einmal zu betonen.
- Ich bin vorbildlich, Frau Scheel.
Nicht umsonst - ich möchte es noch einmal wiederholen - sind gerade die kommunalen Spitzenverbände deshalb so sehr daran interessiert und alle ihre Bemühungen darauf gerichtet, eine Beteiligung an der Umsatzsteuer in einem bestimmten festgezogenen Prozentsatz zu erhalten, und darauf, daß dies alles gleich ins Grundgesetz kommt und abgesichert wird, weil die Kommunen eben ihren eigenen Landesregierungen überhaupt kein Vertrauen mehr schenken,
sondern sagen: Wir brauchen die Absicherung im Grundgesetz; wer weiß, was sonst bei uns ankommt, im Zweifel auf jeden Fall deutlich weniger als das, was uns ursprünglich einmal zugesagt worden ist.
Dies war zu den Inhalten zu sagen; ansonsten möchte ich zu der Einsetzung der gemeinsamen Kommission anmerken: Der Zeitpunkt ist im Moment ausgesprochen ungünstig. Wir befinden uns am Startpunkt einer großen Steuerreform, die all unsere Kräfte fordern, aber natürlich auch Veränderungen bringen wird. Deshalb nennen wir sie ja „große" Steuerreform. Daraus werden sich dann auch ganz zwangsläufig wieder Veränderungen für den Finanzausgleich ergeben müssen, so daß es relativ sinnlos ist, jetzt vor Beginn der großen Steuerreform mit einer solchen gemeinsamen Kommission anzutreten. Sie würde die erste Zeit im Prinzip für den Papierkorb arbeiten, und das können wir auf keinen Fall unterstützen.
Im übrigen ist auch die von Ihnen angestrebte Zusammensetzung der Kommission aus unserer Sicht nicht erstrebenswert. Es würde ein Mammutgremium mit sehr verwischten Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten werden, bei denen nach den bisherigen Erfahrungen nach langen quälenden Debatten leider allenfalls ein Kompromiß des kleinsten gemeinsamen Nenners herauskommt, und auch das wollen wir nicht haben. Deshalb lehne ich für die Fraktion der F.D.P. die Einsetzung dieser Kommission ab.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Zum Einstieg kurz zu den Äußerungen von Frau Frick und zu ihrer Frage, wer hier Blockadepolitik betreibt.
Wir haben vor zwei Jahren eine Kommission gefordert, die dieses gesamte föderale System hätte diskutieren sollen und können. Dazu gab es eine ganz klare Vorgabe von den Grünen, in der wir auch diejenigen Punkte aufgezählt haben, wie eine Gemeindefinanzreform mit dem Hauptpunkt einer Stärkung der Kommunen für die Zukunft aussehen könnte. Wir haben zur Gewerbekapitalsteuer klare Aussagen gemacht, wir haben zur Grundgesetzänderung klare Aussagen gemacht.
Auf der anderen Seite kommt die Bundesregierung - das muß man in diesem Zusammenhang wirklich einmal erwähnen - diese Woche, und zwar am Dienstag, und legt eine neue Synopse mit Datum 14. Januar 1997 vor. Am Mittwoch bekamen wir die Neuvorlage in den Finanzausschuß, und dann wird uns als Opposition vorgeworfen, wir würden irgend etwas verzögern, obwohl die Bundesregierung nicht
Christine Scheel
in der Lage ist, ihre Vorlagen rechtzeitig zu erarbeiten. Das ist die Wahrheit.
Ich will damit sagen, daß wir als Opposition natürlich unsere Verantwortung übernommen haben. Unser zentrales Ziel ist es immer, daß die dauerhafte Sicherung der Einnahmesituation der Kommunen und die Wahrung der Finanzautonomie an erster Stelle stehen. Das ist unsere Grundsatzüberlegung.
Auf dieser Basis müssen die Entscheidungen fallen.
Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, die wir jetzt beraten, hat unsere Unterstützung - das habe ich an verschiedenen Stellen hier schon erwähnt - unter anderem unter der Voraussetzung, daß die Gewerbeertragsteuer grundgesetzlich abgesichert werden muß. Darin liegt aber genau das Problem. In dem Koalitionsvertrag steht, daß die Gewerbekapitalsteuer und die Gewerbeertragsteuer abgeschafft werden sollen. Das heißt: Man nimmt dadurch den Kommunen die Hoheit, über bestimmte Einnahmen zu verfügen.
- Welcher Gesetzentwurf liegt bitte vor? Zur Abschaffung der Gewerbeertragsteuer liegt kein Gesetzentwurf vor.
- Sie brauchen mich nicht zu belehren. Es liegt ein Gesetzentwurf, eine neue Synopse zur Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer vor, die wir am Mittwoch im Finanzausschuß diskutiert haben. Das ist ein guter und richtiger Weg, die Kommunen an der Umsatzsteuer zu beteiligen.
Diesen Weg unterstützen auch wir als Bündnis 90/ Die Grünen.
Die Frage ist aber: Wie hoch ist die Beteiligung? In diesem Punkt möchte ich nochmal auf das eingehen, Herr Hauser, was Sie am Mittwoch nach dem Motto „Es ist alles unter Dach und Fach" gesagt haben: Wir haben mit dem Städtetag verhandelt; wir haben uns geeinigt. Die Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer wird auf 2,1 Prozentpunkte festgelegt. Ursprünglich wollten die kommunalen Spitzenverbände eine Beteiligung an der Umsatzsteuer von 2,3 Prozentpunkten. Das BMF war aber der Meinung, daß 1,9 Prozentpunkte ausreichen.
- Ja, jetzt hat man sich bei 2,1 Prozentpunkten getroffen.
Interessant ist, daß die Synopse zu einem Zeitpunkt, nämlich am Montag, erstellt wurde, bevor am Dienstag die letzten Verhandlungen mit den Vertretern der kommunalen Spitzenverbände überhaupt stattgefunden hatten. Sie sagen, daß die kommunalen Spitzenverbände mit Ihrem Vorschlag einverstanden sind. Am Donnerstag ist in der Zeitung zu lesen, daß der Präsident des Städtetages, Herr Seiler
- ob es ein guter Mann ist oder nicht, habe ich hier nicht zu bewerten; das ist auch nicht mein Punkt -, gesagt hat: Es ist eine vorläufige Diskussion, die wir geführt haben; es gibt noch keine Festlegungen; wir müssen einmal sehen, was unter dem Strich dabei herauskommt.
Es wird suggeriert, daß die Bundesregierung es geschafft habe, es sei jetzt alles unter Dach und Fach und alle kommunalen Spitzenverbände gingen auf die Vorstellungen der Bundesregierung ein. Gleichzeitig wird aber von deren Seite immer wieder betont, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen worden ist. Es gibt anscheinend unterschiedliche Wahrheiten. Herr Hauser, könnten Sie vielleicht einmal klarstellen, was tatsächlich abläuft?
Für uns ist es jedenfalls wichtig, daß die Gewerbeertragsteuer revitalisiert wird, daß sie als kommunale Steuer dauerhaft verankert wird, daß der Kreis der Steuerpflichtigen in bezug auf die Bemessungsgrundlage ausgeweitet wird, daß wir die Höhe der Beteiligung an der Umsatzsteuer so festlegen, daß die Kommunen keine Einnahmeverluste haben. Dieser Punkt ist schon teilweise sichergestellt.
Wir müssen aber auch - dieser Punkt ist in der neuen Vorlage nicht mehr verankert - den Artikel 104 a des Grundgesetzes ändern, damit sichergestellt wird, daß die Ausgabenlast für Aufgaben, die Bund und Länder auf die Kommunen abwälzen, ausgeglichen wird.
Frau Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Frau Frick, bitte.
Frau Kollegin Scheel, Sie haben sich eben auf den Präsidenten des Deutschen Städtetages berufen und ihn dahin gehend zitiert, daß die allerletzten Feinheiten noch nicht entschieden sind. Darf ich Sie fragen, ob Sie auch weitere Aussagen dieses Präsidenten kennen? Ich zitiere aus der gestrigen Ausgabe der FAZ, daß die Städte darüber verärgert seien, daß eine Entscheidung über die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zugunsten einer direkten Umsatzsteuerbeteiligung immer noch fehlt. „Wir wollen die Entscheidung jetzt", fordert Seiler.
Frau Frick, auch wir wollen die Entscheidung jetzt.
Wir haben hier vor anderthalb Jahren einen Antrag vorgelegt, in dem genau dies stand. Wir haben uns deswegen überhaupt nichts vorzuwerfen.
Ich habe vorhin gesagt, wie der Gang der Dinge war, daß nämlich das BMF erst diese Woche in der Lage war, den Kompromiß oder, wie es auch genannt wird, die Einigung in einer schriftlichen Form vorzulegen. Das heißt, wir haben eine - nicht vollkommen neue, aber in einigen Punkten geänderte - Vorlage bekommen, in der diese Einigungsformel steht. Das BMF hat das Ganze verpennt.
Das hat nicht die Opposition zu verantworten. Darauf habe ich schon vorhin hingewiesen. Es liegt nicht an uns, daß es in bezug auf die Gewerbekapitalsteuer in den neuen Ländern - auch das muß man in diesem Zusammenhang einmal bedenken - immer wieder hieß: Die große Keule EU hängt über uns. Wir bekommen ganz große Probleme, hieß es vor Weihnachten. Die Presse war voll von Aussagen der F.D.P., der CSU und der CDU: Die ostdeutschen Kommunen sind in der Situation, daß sie die Gewerbekapitalsteuer zwangsweise einführen müßten, weil die EU das Ganze so nicht mitmacht.
Die Wahrheit ist jedoch, daß die Bundesregierung von der EU bereits im letzten Jahr stillschweigend zugestanden bekommen hat, daß die Gewerbekapitalsteuer ausgesetzt werden kann. Wir haben das auch jetzt wieder zugestanden bekommen. Das ist doch verrückt, wenn man überlegt, daß jetzt in der Synopse steht: Wir schaffen die Gewerbekapitalsteuer ab dem 1. Januar 1998 ab. Die Bundesregierung selber hat das Datum 1. Januar 1998 hineingeschrieben. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir das, wie gesagt, schon 1997 unter Dach und Fach gehabt, wenn die Voraussetzungen, die wir mit formuliert haben, gestimmt hätten. Aber die Voraussetzungen haben nicht gestimmt. Wir als Opposition sind diejenigen gewesen, die die originären Interessen der Kommunen vertreten haben.
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Sie verfolgen eine ganz andere Intention, nämlich die Abschaffung der Gewerbeertragsteuer, was die Kommunen überhaupt nicht wollen.
Wenn Sie, Frau Frick, eine zweite Zwischenfrage stellen wollen, können Sie fragen, ob sie zugelassen wird.
Ja, ich lasse die Frage gern zu.
Ja, bitte. Dann können Sie noch einmal fragen.
Können Sie die von mir zitierten Äußerungen von Herrn Seiler nicht so verstehen, daß der Entscheidungszeitpunkt tatsächlich gekommen ist? Das nämlich war eigentlich der Hintergrund meiner Frage. Sie sollte keine Aufforderung an Sie sein, Ausführungen über Ihre bisherigen Verhaltensweisen zu den Vorschlägen der Bundesregierung zu machen.
- Das hat sie gut verstanden, aber sie hat das ausgenutzt.
Natürlich tue ich das.
Ich kann, Frau Frick, gerne auch etwas zu Herrn Seiler sagen; denn es gibt ja noch mehr Wahrheiten.
Herr Seiler hat gesagt, daß die Neuverschuldung der Kommunen im Westen 1996 von 12 auf 7,5 Milliarden DM gesunken ist. Herr Hauser hat die Kommunen mit ihren Einsparungen, Verwaltungsmodernisierungen und dem, was da alles so passiert ist, gelobt. Auch wir tun das. Die Kommunen stehen unter Druck. Ihnen geht schlicht die Knete aus; das ist das Problem. Aus diesem Grund müssen die Kommunen sehen, wie sie einigermaßen über Wasser bleiben. - Das ist der eine Aspekt.
Der andere Aspekt ist - ich sage das der Vollständigkeit halber, weil das Ganze durch die Presse gegangen ist -, daß Herr Seiler gesagt hat, daß die abnehmende Verschuldung der Kommunen nur eine vorläufig günstige Entwicklung ist, weil die Pflegeversicherung eingeführt worden ist. Er sagt gleichzeitig, daß sich dabei allerdings nicht die von der Bundesregierung versprochenen Einsparungen in Höhe von 10 Milliarden DM, die man sich damals bezüglich der Einführung der Pflegeversicherung ausgemalt hat, ergeben. Einsparungen in Höhe von 10 Milliarden DM gibt es nicht.
Aus diesem Grund sagt er: Wir haben Einschränkungen der Leistungen vorgenommen. In Köln wurden sieben Bäder geschlossen. In Baden-Württemberg wurde die Schülerbeförderung stark verringert; das wissen Sie ja. Es gibt noch andere Beispiele, bei denen Personalkosten dementsprechend reduziert worden sind.
Aber er sagt auch - das ist der Punkt, auf den ich hinaus will -, daß für die Kommunen in den nächsten Jahren Mehrausgaben zu erwarten sind auf Grund der Gesetzesregelungen, die wir in diesem Raum treffen, und auch auf Grund der Situation, daß wir es mit einer erhöhten Arbeitslosigkeit zu tun haben.
Die erhöhte Arbeitslosigkeit wirkt sich natürlich negativ auf die Finanzen der Kommunen aus. Das
Christine Scheel
hängt mit der Sozialgesetzgebung und damit zusammen, daß sehr viele Menschen, wenn sie aus der Arbeitslosenhilfe herausfallen, in die Sozialhilfe rutschen. Hier haben wir in den nächsten Jahren eine höhere Belastung der Kommunen zu erwarten.
Aus diesem Grund - das ist jetzt nur ein Beispiel - ist es dringend notwendig, daß wir eine Kommission bilden, und zwar nicht eine Kommission, die nur über die Gewerbekapitalsteuer, die Gewerbeertragsteuer und die Umsatzsteuerpunkte spricht, sondern eine Kommission, die einmal grundsätzlich über eine kommunale Strukturreform diskutiert. Denn dies fehlt.
In einem Punkt bin ich Bundespräsident Roman Herzog sehr dankbar. Er hat gesagt, daß die gegenwärtige Finanzverfassung von Grund auf nicht stimmt. Dann hat er weiter ausgeführt: Sie basiert in vielen Bereichen auf dem Prinzip, daß der eine, nämlich der Bund - hier sind Sie in der Verantwortung -, anschaffen darf und die anderen, also Länder und Gemeinden, bezahlen müssen. Das heißt unterm Strich: Den letzten beißen die Hunde.
Damit meine ich die Kommunen, die mit dieser Tatsache umgehen müssen.
Die Schwierigkeit ist - Sie haben ja gerade einen Zwischenruf in bezug auf den Bundesrat gemacht -, daß die Länder es mittlerweile ganz gut verstehen, sich am Gesamtsteueraufkommen dementsprechend höher zu beteiligen. Wenn man das Gesamtsteueraufkommen und die Entwicklung in den letzten Jahren betrachtet, dann muß man schlicht feststellen, daß die Mittel für die Kommunen in den letzten Jahren prozentual immer weiter reduziert wurden. Das heißt, wir machen hier Gesetze, die sich in ihrer Auswirkung immer stärker auf die Kommunen - sie müssen finanzieren - niederschlagen. Der Anteil am Gesamtsteueraufkommen sinkt für die Kommunen insgesamt.
Das ist ein Weg, der vollkommen in die falsche Richtung führt. Wer anschafft, der zahlt. Das heißt, wenn der Bund hier Gesetze beschließt, dann müssen die Kommunen für deren finanzielle Auswirkungen selbstverständlich Entschädigungen erhalten.
Frau Kollegin Scheel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ja, ich bin sofort am Ende.
Eine ganz wesentliche Ursache hierfür ist die Unfähigkeit der Bundesregierung, eine ordentliche Gemeindefinanzreform auf den Weg zu bringen, und ihre Unfähigkeit, Gesetze zu beschließen und gleichzeitig deren Auswirkungen abschätzen zu können. Die Kommunen sind diejenigen, die - entschuldigen Sie den Ausdruck - die Gearschten sind.
Das Wort hat der Kollege Uwe-Jens Rössel, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer überregionalen Tageszeitung von heute heißt es in der Überschrift: „SPD-Fraktion greift PDS-Antrag auf". Das stimmt.
Bereits vor drei Monaten, am 11. Oktober 1996, befaßte sich das Hohe Haus mit der zweiten und dritten Lesung eines bereits 1995 eingebrachten Antrages der PDS-Gruppe, der die Einsetzung einer EnqueteKommission von Bundestag und Bundesrat zur Reform der Kommunalfinanzierung verlangte. Diese Kommission sollte, so unser Antrag, die Aufgaben haben, erstens das derzeitige System der Finanzierung der Haushalte der Städte, Gemeinden und Landkreise in der Bundesrepublik umfassend auf den Prüfstand zu stellen und zweitens fundierte Vorschläge für eine solche Reform zu unterbreiten, die tatsächlich die kommunale Selbstverwaltung und die Finanzautonomie der Kommunen gewährleisten könnten. Dies sollte, so die Intention der PDS, in der Tat eine gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat sein, in die in geeigneter Weise auch die kommunalen Spitzenverbände sowie weitere Fachexperten einbezogen werden sollten.
Der Antrag der PDS-Gruppe wurde - einige mögen sich erinnern - damals abgelehnt. Die Ablehnung seitens der Regierungskoalition verwundert nicht. Ihr Streben auf diesem Feld ist seit Jahren - das hat sich auch heute bestätigt - ohnehin nur darauf ausgerichtet, die in ihren Augen üble Gewerbekapitalsteuer, die eine traditionell wichtige Quelle der Gemeinden für Finanzmittel ist, bundesweit abzuschaffen, und zwar - ich unterstütze alle Aussagen hierzu - auf eine sehr chaotische Weise. Die Altstoffhändler in der Bundesrepublik freuen sich über die vielen Vorlagen, die die Bundesregierung in den letzten Jahren gemacht hat und die heute das Altpapieraufkommen erhöhen.
Das wiederum jedoch hat nichts, aber auch gar nichts mit einer dringend notwendigen Gemeindefinanzreform zu tun. Hier möchte ich Herrn Hauser ausdrücklich widersprechen.
Die Strukturkrise der Gemeinden und ihrer Finanzen läßt die Bundesregierung offensichtlich kalt. Ich unterschlage dabei nicht, daß auch die Länder ein gerüttelt Maß an unzureichender Verantwortung gegenüber den Gemeinden an den Tag legen, die Ostländer in hohem Maße.
Dr. Uwe-Jens Rössel
Was die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer betrifft, so ist unsere Position folgende: Wir können einer solchen Verfahrensweise nur dann zustimmen, wenn folgende Prämissen erfolgt sind: Erstens. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer muß Bestandteil einer wirklich umfassenden Reform der Gemeindefinanzierung sein. Zweitens muß die Gewerbeertragsteuer grundgesetzlich abgesichert werden, damit die Abschaffung der Gewerbeertragsteuer die Gemeinden und ihre Finanzausstattung nicht in Bälde - jetzt wird es noch nicht behauptet - ins K. o. führt. Drittens verlangen wir auch eine solche Gegenfinanzierung, die nicht in Zukunft die Allgemeinheit zu tragen hat. Jetzt soll die Gegenfinanzierung durch eine Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen für alle investierenden Unternehmen erfolgen. Aber wie lange bleibt eine solche Regelung bestehen? Droht nicht wie ein Damoklesschwert die Erhöhung der Mehrwertsteuer? Könnte man sich auf diesem Wege nicht zumindest Teile einer Gegenfinanzierung vorstellen? All das würden wir ablehnen.
Die tatsächliche Reform der Gemeindefinanzierung muß allerdings auch bei der Einkommensteuerkomponente ansetzen. Unsere Gruppe verlangt beispielsweise - sie wird das auf ihrem Parteitag morgen noch einmal öffentlich machen -, daß der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer drastisch erhöht wird. Die Gemeinden, die in der Vergangenheit durch Steuerrechtsänderungen maßgeblich schlechter gestellt worden sind und seit 1991 über 100 Milliarden DM Einbußen hatten, brauchen eine Neuordnung des finanziellen Vermögens. Eine Erhöhung des Gemeindeanteils von 17 bis 18 Prozent ist durchaus vorstellbar und würde einen wirklichen Schritt zur Entspannung der angespannten Finanzsituation darstellen.
Was die Ablehnung unseres Antrages am 11. Oktober durch die SPD betrifft, so hat das mit sachlichen Argumenten wohl wenig zu tun. Denn der einzige formale Unterschied zwischen dem Antrag der SPD und unserem Antrag - Herr Welt, leider haben Sie das nicht erwähnt; ich bedaure das ausdrücklich - besteht eigentlich in dem Begriff. Wir hatten damals den Begriff „Enquete" verwandt,
der auf deutsch - ich übersetze - „amtliche Untersuchung" heißt.
Herr Kollege Rössel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Catenhusen?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, ist Ihnen der Unterschied zwischen den beiden vorgeschlagenen Kommissionen in der Form bekannt, daß Ihr Vorschlag einer Enquete-Kommission ein parlamentarisches Gremium unter Hinzuziehung von Sachverständigen aus der Wissenschaft und ähnlichen bedeutet, während der heute vorliegende Vorschlag bedeutet, daß Verfassungsorgane in einer gemeinsamen Kommission zusammenarbeiten können, daß also auch der Bundesrat institutionell daran beteiligt ist?
Wir haben in unserem Antrag ein völlig gleiches Anliegen und völlig gleiche Zielsetzungen wie Sie in Ihrem Antrag. Die Nuance in der Gremienzusammensetzung ist uns bekannt. Das ist aber nicht mehr als eine Nuance; denn sonst gibt es keinerlei Unterschiede. Die Ausgangssituation und das Anliegen sind vollkommen identisch. Es liegen in der Tat - ich sage das jetzt sarkastisch - Welten zwischen beiden Anträgen.
Ungeachtet solcher Lächerlichkeiten, wie wir meinen, stimmen wir dem Antrag der SPD auf Grund der dramatischen Finanznot der Gemeinden, der Landkreise und der Städte selbstverständlich zu. Wir halten ihn für richtig und werden ihm auch jedwede Unterstützung geben. Dafür ist vor allem auch die finanzielle Situation der 15 000 Städte und Gemeinden sowie der 323 Landkreise in der Bundesrepublik einfach zu ernst und ist der Fortbestand kommunaler Selbstverwaltung, dieses großen Gutes des Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland, zu sehr gefährdet, als daß man sich hier auf solche Streitigkeiten einlassen könnte. Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß in der Begründung des Antrages auch darauf hingewiesen worden wäre, daß eine andere parlamentarische Einheit ähnliche Überlegungen im parlamentarischen Gang hatte.
Herr Kollege Rössel, schauen Sie bitte auf die Uhr.
Ja. - Ansonsten bitte ich das Hohe Haus um Unterstützung gerade auch für den Antrag der SPD, weil er in die richtige Richtung geht und ich die Argumente, die dagegensprechen und die auch Frau Frick genannt hat, für sehr halbherzig halte.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hauser.
Frau Kollegin Scheel, zu Ihren Ausführungen möchte ich schon noch zwei Anmerkungen machen.
Zum einen: Ich habe Ihnen im Ausschuß von der Unterredung mit den beiden Präsidenten der kommunalen Spitzenverbände berichtet. Ich habe Ihnen mitgeteilt, daß der Finanzminister den Kompromißvorschlag gemacht hat, die Kommunen an der Umsatzsteuer mit 2,1 Prozentpunkten zu beteiligen, und daß dieses Angebot von beiden Herren positiv aufgenommen worden ist, daß sie dafür aber selbstverständlich - das habe ich ausdrücklich hinzugefügt - einen Beschluß ihrer Gremien brauchen. Das ist doch eine ganz normale Angelegenheit.
Hansgeorg Hauser
Sie können also nicht behaupten, bei der Unterredung sei eine Vereinbarung beschlossen worden. Ich glaube, diese Darstellung können Sie mir nicht unterstellen.
Zum zweiten: Sie bejammern, daß den Kommunen bestimmte Lasten auferlegt werden. Das ist zum Teil durchaus richtig. In gemeinsamen Gesetzen, die auch hier zum Teil gemacht worden sind, gibt es bestimmte Belastungen für die Kommunen. Wir haben aber auch eine Fülle von Entlastungen für die Kommunen vorgeschlagen.
Wie mühsam solche Entlastungsvorschläge durchgesetzt werden, das hat sich zum Beispiel an der Asylgesetzgebung gezeigt. Da wurde gerade von der kommunalen Seite jahrelang verlangt, daß Veränderungen vorgenommen werden. Diese wurden von der anderen Seite dieses Hauses nicht akzeptiert. Man mußte sie dazu drängen, bis sie es endlich akzeptiert haben.
Das gleiche Thema haben wir zur Zeit hinsichtlich der Bürgerkriegsflüchtlinge. Ein Land, das weniger als 2 000 Flüchtlinge aufgenommen hat, tut sich wesentlich leichter als beispielsweise das Land Bayern mit etwa 350 000 Flüchtlingen.
Deswegen ist es dringend geboten, daß wir den Kommunen bei der Entlastung entsprechend Schützenhilfe leisten. Dazu sind Sie aufgefordert. Ich bin gemeinsam mit Ihnen durchaus der Meinung, daß die Zeit des Lamentierens vorbei ist. Bitte halten Sie sich daran: Handeln Sie mit uns!
Wollen Sie darauf antworten, Frau Scheel? Sie sind angesprochen worden. - Sie müssen nicht entgegnen.
Herr Hauser, vielen Dank für die Steilvorlage, was die Verhandlungen mit den zwei Präsidenten der kommunalen Spitzenverbände betrifft. Damit haben Sie noch einmal dokumentiert, daß es in den letzten ein, zwei Jahren anscheinend nicht möglich war - aus welchen Gründen auch immer -, eine Einigung mit den kommunalen Spitzenverbänden zu erreichen.
Damit haben Sie ebenfalls dokumentiert, daß Sie erst jetzt in der Lage sind, die Vorlage „Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer" überhaupt auf den Weg zu bringen. - Vielen Dank!
Das Wort hat der Kollege Johannes Selle, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die finanzielle Situation unserer Städte und Gemeinden gibt zweifellos Anlaß zur Sorge.
Die Lage ist so: Immer mehr Kommunen unterliegen dem Zwang, freiwillige Leistungen aufzugeben oder stark zu reduzieren. Die Erfüllung der Pflichtaufgaben stößt bereits vielfach an Grenzen, so daß zum Beispiel die Unterhaltung von Vorflutern, Straßen und Brücken stark beeinträchtigt ist. Immer häufiger wird das Schatzkästchen mit den Vermögenswerten angegriffen. Mir sind Beispiele aus meinem Wahlkreis bekannt, wo bereits der größte Teil der Immobilien verkauft ist.
Die Zahl der Kommunen steigt, die sich in ihrer finanziellen Eigenverantwortung durch notwendige Haushaltssicherungsmaßnahmen einschränken lassen müssen.
Wenngleich solche Aussagen gewiß auf eine erhebliche Anzahl von Städten und Gemeinden zutreffen, so beschreiben sie doch nicht umfassend den Ist- Zustand und die Tendenz der zukünftigen Entwicklung. Daß die von den Kommunen ergriffenen Konsolidierungsmaßnahmen sowie die durch die Bundesgesetze eingeleiteten Verbesserungen bereits unverkennbare Erfolge zeigen, ist ein deutlicher Hoffnungsschimmer.
Es kommt aber darauf an, die Finanzausstattung der Kommunen nachhaltig zu verbessern. Das gilt natürlich in besonderer Weise für die Gemeinden in Ostdeutschland. Ihr finanzieller Handlungsspielraum muß zunächst gewonnen werden, bevor er erhalten und vergrößert werden kann. Nicht nur für die Kommunen selbst ist dies von großer Bedeutung, sondern auch für viele Unternehmen. Gerade im Osten sind die Städte und Gemeinden wichtige, oft alleinige Auftraggeber.
In diesem Zusammenhang ist es besonders schwerwiegend, daß Kommunen aus Förderprogrammen des Bundes und der Länder herausfallen, weil sie ihren Eigenanteil nicht mehr finanzieren können. Auf Grund dieser Situation sind Maßnahmen erforderlich, die den Kriterien Zweckmäßigkeit, Wirksamkeit, Berechenbarkeit und Durchsetzbarkeit standhalten. Dazu gehört, daß solche Maßnahmen schnell umsetzbar sein müssen und die Standortbedingungen in Deutschland nicht verschlechtern.
Auf diesem Weg sehe ich nur die Koalition. Wir bekennen uns zu unserer Mitverantwortung für die Funktionsfähigkeit der Kommunen. Mitverantwortung heißt nicht, die Zuständigkeiten anderer Ebenen zu übernehmen. Wer wie die Länder und Kommunen die Segnungen eines föderalen Systems gern in Anspruch nimmt, der muß auch bereit sein, seinen Anteil der Lasten zu schultern.
Dennoch gilt unsere Mitverantwortung. Wir nehmen sie ernst. Wir haben den Antrag der SPD und den Vorschlag der Länder sorgfältig geprüft, eine gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat einzusetzen, die eine Reform der Gemeindefinan-
Johannes Selle
zen erarbeiten soll. Ich halte unseren Weg für den besseren.
Für die Kommunen kommt es jetzt darauf an, unter Beibehaltung strenger Ausgabendisziplin eine verläßliche Verbesserung der Einnahmen zu erreichen. Diese ist aber nur dann möglich, wenn mehr Geld erwirtschaftet wird und Anteile davon direkt oder indirekt den Gemeinden zufließen. Weitere Maßnahmen zur Steigerung des wirtschaftlichen Aufschwungs sind also gefragt. Wer dies erreichen will, der muß die Leistungsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen steigern, der muß die Rahmenbedingungen für den Standort Deutschland verbessern.
Solange wir eine solche Situation und hohe Arbeitslosigkeit haben, kann man das nicht oft genug sagen.
Der Zusammenhang zwischen der Reform der Gemeindefinanzierung und der Unternehmensteuerreform ist so gesehen geradezu zwingend. Die Unternehmensteuerreform voranzubringen heißt aber vor allem: Wir müssen endlich die unselige anachronistische Gewerbekapitalsteuer abschaffen - und das möglichst schnell.
Eine solche Entscheidung liegt nicht in der Zuständigkeit einer gemeinsamen Kommission, die in diesem Punkt vermutlich zu dem gleichen Ergebnis käme. Das Parlament ist unmittelbar und endlich zu schnellem Handeln gefordert. Aber Sie wollen diesen Weg nicht mit uns gehen. „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, gründe ich einen Arbeitskreis" lautet Ihre Devise.
Herr Kollege Selle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?
Bitte.
Herr Kollege Selle, können Sie bestätigen, daß zur Gegenfinanzierung der vorgesehenen Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer geplant ist, die Abschreibungsbedingungen bei der degressiven AfA von 30 auf 25 Prozent zu verschlechtern, wovon alle investierenden Unternehmen betroffen würden, während von der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer nur rund 15 bis 16 Prozent der Betriebe positiv betroffen würden?
Das heißt, über diese Abschreibungsverschlechterung werden die Rahmenbedingungen - im übrigen auch nach Auslaufen der Sonder-AfA im Jahre 1999 in Ostdeutschland - verändert. Ostdeutschland würde mit 400 Millionen DM profitieren, wenn die Gewerbekapitalsteuer nicht eingeführt wird. Die Abschreibungsverschlechterung würde über 1 Milliarde DM bewirken. Können Sie dies bestätigen?
Ich kann den Weg, den Sie beschreiben, bestätigen. Die Zahlen bestätige ich nicht. Sie wissen genauso wie ich, daß diese unterschiedlich sind, je nachdem, wer sie nennt.
Herr Poß, Sie wissen aber auch, daß wir im Finanzausschuß besprochen haben, daß gerade diese Verschlechterung der degressiven Abschreibung bei den Unternehmen nicht den größten Widerstand herausgefordert hat.
Seit nunmehr fast zwei Jahren befassen wir uns in diesem Haus mit der Reform der Gewerbesteuer. Bisher haben wir nicht mehr erreicht als das blockierende Nein der Opposition. Dieses Ergebnis versteht kein Mensch in diesem Lande. Dieses Ergebnis ist in einer Zeit, in der die Bürger Reformen erwarten, unerträglich.
Das gleicht dem Versuch, mit einem Reformesel der auf einem Rennpferd davongaloppierenden wirtschaftlichen Entwicklung hinterherzueilen. Durch diesen ungleichen Wettlauf haben zumindest die Kommunen im Osten schon jetzt Zeit und Geld in Milliardenhöhe verloren.
Zwei Jahre, wie der Vorschlag lautet, sind daher zu lang.
Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer sind ein wichtiges Standbein der Kommunen in den alten Ländern, doch die Standfestigkeit der Säule Gewerbekapitalsteuer ist mehr und mehr verkümmert und kontraproduktiv geworden. Das dürften auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, festgestellt haben. In den neuen Bundesländern schwebt diese Arbeitsplatzvernichtungsteuer wie ein Damoklesschwert über den Unternehmen und damit auch über den Kommunen. Wir müssen und wollen den Gemeinden deshalb eine verläßliche neue Säule, ein Fundament, das auf Dauer trägt, geben. Das ist der Fall, wenn es im Grundgesetz verankert wird.
Durch ihre Beteiligung an der Umsatzsteuer müssen und werden die Kommunen einen vollen Ausgleich für die durch die Reform der Gewerbesteuer verursachten Mindereinnahmen erhalten. Die Kommunen - das wissen Sie - begrüßen überwiegend eine solche im Grundgesetz verankerte Beteiligungsregelung. Natürlich spielt für sie aber auch die Höhe ihrer Beteiligung eine entscheidende Rolle. Darüber werden wir gemeinsam zu entscheiden haben.
Mit der Umsatzsteuerbeteiligung erhalten die Gemeinden eine sichere Einnahmequelle mit verläßlicher Entwicklung und damit Planungssicherheit. Ohne Planungssicherheit wird es den Kommunen nicht möglich sein, langfristig eine solide Finanzpolitik zu betreiben und den Konsolidierungskurs erfolgreich fortzusetzen.
In Thüringen steht gegenwärtig eine Vielzahl von Kommunen unmittelbar vor der Verabschiedung ih-
Johannes Selle
rer Haushalte. Nur bei Klarheit über das in diesem Jahr zu Erwartende können die Haushalte mit der gebotenen Seriosität erstellt werden.
Aber auch die Länder brauchen klare Rahmenbedingungen. Thüringen beabsichtigt, noch in diesem Jahr sein Finanzausgleichsgesetz zu novellieren. Voraussetzung für eine fundierte Entscheidung des Landtages sind Beschlußfassungen des Bundestages und des Bundesrates zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, zur Senkung der Gewerbeertragsteuer und zur Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer.
Andererseits ergeben sich aus der Umsetzung der neuen Einkommensteuerbeteiligungsschlüssel für die ostdeutschen Kommunen Ungleichgewichte, die zu einem Finanzausgleich durch das Land zwingen. Dringender Handlungsbedarf ist überall erkennbar.
Meine Damen und Herren, auch der Bund kann nicht Mittel verteilen, die er nicht hat. Wenn wir über die finanziellen Schwierigkeiten der Kommunen sprechen, kommen wir nicht umhin, deren Situation mit der des Bundes zu vergleichen. Die Defizitquote des Bundes beträgt in diesem Jahr 12 Prozent. Dagegen weisen die Kommunen in den neuen Bundesländern eine geringere Quote von 4,5 Prozent und in den alten Bundesländern sogar nur von 2 Prozent auf. Auf den ebenfalls eindeutig zu Lasten des Bundes ausgehenden Vergleich der Zinsausgabenquote hat Herr Staatssekretär Hauser bereits hingewiesen.
Die Zahlen machen zweierlei deutlich: Die Finanzsituation der Kommunen ist ernst, wenngleich sie insgesamt nicht dramatisiert werden darf. Die Übernahme zusätzlicher Lasten durch den Bund zur Entlastung der Städte und Gemeinden ist nicht möglich. Effektive Hilfe können wir nur durch die Wirkungen und die konsequente Fortführung der in dieser Legislaturperiode begonnenen Reformen leisten.
Meine Damen und Herren von der Opposition, um diesen Reformkurs fortzusetzen und den Städten und Gemeinden zu helfen, brauchen wir jetzt keine neue Kommission, die den verlorenen zwei Jahren noch zwei weitere hinzufügt. Statt dessen brauchen wir Ihre konstruktive Mitarbeit. Ich bitte Sie darum. Danken werden es Ihnen die Kommunen.
Das Wort hat der Kollege Dieter Grasedieck, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Staatssekretär und Frau Frick haben vorhin darauf hingewiesen, daß die Länder für die Kommunen verantwortlich sind. Das klingt natürlich sehr gut, aber die Verlagerung der Probleme, die Verlagerung der Kosten und die Verlagerung der Aufgaben vom Bund auf die Kommune sind das eigentliche Problem.
Sie arbeiten nach dem Motto: Die Bundesregierung gibt die Bestellung auf, und die Rechnung bezahlt ausschließlich die Kommune. Das darf nicht sein.
Herr Selle, noch eine Bemerkung zu Ihnen: Sie haben vorhin ausgeführt, daß wir endlich eine Entscheidung zur Gewerbekapitalsteuer fällen müssen. Die Entscheidung hätte längst fallen können. Die Bundesregierung hat bezüglich der Gewerbekapitalsteuer ein Jahr lang nichts gemacht. Sie hat mit den kommunalen Spitzenverbänden keine Verhandlungen geführt.
Erst im November haben Sie die ersten Vorschläge gemacht. Wir behandeln jetzt immer wieder neue Vorschläge für die kommenden Jahre.
Die Lage der Kommunen ist katastrophal. Der Hilfeschrei wird lauter und lauter. Viele Gemeinden verkaufen die letzten Grundstücke. Viele Gemeinden verkaufen den Hausbesitz, um die Schuldenlöcher in den Verwaltungshaushalten zu stopfen. Büchereien, Theater, Schwimmbäder, Jugendhäuser, Bürgerhäuser und Turnhallen müssen geschlossen werden. Die Kommunen haben keine Alternative. Sportler, Jugendliche, viele Bürgerinnen und Bürger sind betroffen und verstehen diese Maßnahmen nicht mehr.
Bonn streicht die Vermögensteuer, sagte mir eine ältere Dame, und unsere Stadtteilbücherei soll geschlossen werden. Die Kommunalpolitiker müssen die Entscheidung aber ganz alleine ausbaden. Alle Bürgerinnen und Bürger erleben unsere Demokratie hauptsächlich in ihrer Stadt. Bonn ist weit entfernt, und Bonn ist anonym. Die kommunale Selbstverwaltung ist aber das Wurzelwerk unserer Demokratie. Dieses Wurzelwerk lockert sich langsam und verdorrt mehr und mehr.
Wo liegen die eigentlichen Gründe für die Finanzmisere? Die Hauptursache hat mein Kollege Jochen Welt schon angesprochen: Das ist eben der Sozialetat. Der Sozialetat ist dramatisch erhöht worden. In meinem Wahlkreis Bottrop-Gladbeck ist er in der Zeit von 1982 bis 1995 um das 3,5fache gestiegen. Bei den westdeutschen Gemeinden ist es ähnlich. In den neuen Bundesländern sind die Ausgaben von 1991 bis jetzt von 2 Milliarden DM auf mehr als 7 Milliarden DM gestiegen. Eine solche explosionsartige Zunahme bei den Sozialausgaben ist auch bei dem härtesten Sparkurs einer Kommune nicht zu regeln. Das läßt sich nicht mehr begradigen; das läßt sich nicht mehr kompensieren.
Dieter Grasedieck
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das deutlich macht, wohin die Sozialausgaben unter anderem fließen. Ein 52jähriger Schlosser sagte mir: „Ich verstehe es nicht, daß ich jetzt Sozialhilfe bekomme. Ich habe doch 34 Jahre als Schlosser gearbeitet, ich habe 34 Jahre Arbeitslosenversicherung bezahlt. Jetzt, mit über 50, habe ich keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt. Ich habe meine Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden, und erhalte jetzt Sozialhilfe, weil ich eben Arbeitslosenhilfe bekomme." Das bedeutet, den Rest zahlt die Kommune. Das sind die Probleme.
Allein die Leistungen für Arbeitslose stiegen in Hannover in den letzten zwei Jahren um 25 Prozent. Das geht natürlich nicht nur auf die hohen Arbeitslosenzahlen zurück, sondern auch auf Ihre Verlagerung der Kosten vom Bund auf die Kommunen.
Auch die originäre Arbeitslosenhilfe will ich ansprechen. Sie haben schon fünfmal versucht, Ihre Vorstellung zur originären Arbeitslosenhilfe umzusetzen. Wenn diese wegfiele, wäre auch das eine zusätzliche Belastung für die Kommune, aber auch eine zusätzliche Belastung für unsere Auszubildenden, für unsere Referendare.
Denn sie würden eben keine Arbeitslosenhilfe mehr bekommen, wenn sie eine Leistung vollbracht haben, die IHK-Prüfung, die zweite Staatsprüfung absolviert haben, sondern würden in die Sozialhilfe gedrängt. Das versteht der Jugendliche nicht mehr, und das belastet zusätzlich unsere Städte. Für Hannover wären das 7 Millionen DM.
Die Sozialausgaben der Kommunen steigen progressiv, sie entwickeln sich zum Sprengsatz in den städtischen Haushalten. Die Sozialleistung ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir müssen für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe auch gesamtgesellschaftlich eine Lösung finden.
Es ist die Regierungskoalition, die immer mehr gesamtstaatliche Kosten auf die Gemeinden abwälzt. Die Kommunalpolitik wird damit handlungsunfähig.
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel anführen. Es bestrifft die Planungen, die von der Bundesregierung betrieben werden. Punkt eins: Konzessionsabgabe. Eine wesentliche Finanzierungsquelle unserer Städte steht durch diese Konzessionsabgabe .zur Disposition. Durch Ihre Novelle wollen Sie das bisherige Verhältnis von Leistung und Gegenleistung innerhalb eines Konzessionsvertrages beseitigen. Sie von der Regierungskoalition reduzieren die Konzessionsabgabe auf ein bloßes Wegebenutzungsentgelt. Das bedeutet für meine Stadt Bottrop - 14 Millionen DM sind dort eingeplant - einen Verlust von 7 Millionen DM. Das kann unsere Stadt natürlich nicht mehr verkraften.
Ich könnte Ihnen ein zweites Beispiel anführen: das Arbeitsförderungsgesetz. Auch hier werden Belastungen auf uns zukommen. Nach dem neuen Arbeitsförderungsgesetz ist es so, daß Arbeitslose nach sechs Monaten eine Arbeitsstelle mit 30 Prozent weniger Lohn annehmen müssen. Das klingt zunächst nicht dramatisch, aber das ist, wenn man den Einzelfall betrachtet, für den Mann oder für die Frau dramatisch. Und das ist für unsere Städte dramatisch, denn auch da müssen wir wieder Sozialhilfe bezahlen.
Diese verdeckten, nicht sofort erkennbaren Belastungen verschweigen Sie, diskutieren Sie von der Regierungskoalition gar nicht. Durch Ihre Maßnahmen wird der finanzielle Spielraum der Städte nicht nur eingeschränkt, er wird gelähmt.
Meine Damen und Herren, wer die Musik bestellt, muß sie auch bezahlen. Die Schere zwischen den Einnahmen und den überproportional wachsenden Ausgaben der Gemeinden muß verkleinert werden. In dieser dramatischen Finanzsituation können die Städte keine zusätzlichen Schulden mehr machen. Sie können nicht mehr investieren. Das, was Herr Selle gefordert hat, ist nicht mehr möglich. Wir können im Baubereich nicht mehr zusätzlich investieren. Das ist ein enormes Problem
für unsere Städte. Denn eines muß man feststellen: Die fünf Weisen weisen - das ist die richtige Kombination - in ihrem Wirtschaftsgutachten für 1997 darauf hin, daß nur mit der Bauwirtschaft die Binnenkonjunktur in Deutschland zu beleben ist. Das ist in unseren Regionen aber dringend erforderlich.
Um all diese Probleme und die Schwierigkeiten zu beraten, Lösungen zu schaffen, fordern wir eine umfassende Gemeindefinanzreform und die Bildung dieser Kommission.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU oder F.D.P., von der Reform der Gemeindefinanzen sprechen, meinen Sie natürlich - auch das wurde in Ihren Reden deutlich - erstens die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, zweitens die Abschaffung der gesamten Gewerbesteuer. Dies steht klipp und klar so in Ihrer Koalitionsvereinbarung. Auch Frau Frick hat das in ihrer Rede gerade bestätigt. Für die laufende Diskussion um die Gewerbekapitalsteuer sage ich Ihnen folgendes: Einen Einstieg in den Ausstieg aus der gesamten Gewerbesteuer darf es nicht geben. Diesen lehnen auch die kommunalen Spitzenverbände kategorisch ab.
Wir fordern Sie auf: Distanzieren wenigstens Sie von der CDU/CSU sich öffentlich von diesen Vereinbarungen! Man kann sich im Leben einmal vertun. Für eine gute Politik ist es nie zu spät.
Unsere Kommunen brauchen eine Zukunftschance.
Dieter Grasedieck
Unterstützen Sie bitte unseren Antrag!
Das Wort hat der Kollege Heinz-Georg Seiffert, CDU/CSU.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Du kannst noch lernen.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Grasedieck und Sie von der SPD sowie der Bundesrat fordern wieder einmal die Einsetzung einer Kommission. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn durch diese Kommission gewährleistet wäre, daß wir zu einer Geldvermehrung kämen, dann wäre ich dabei. Aber wir sollten mit einer solchen Kommission nicht den Eindruck erwecken: Wenn wir sie haben und weiter diskutieren, dann sind die Probleme der Welt geregelt. Einerseits beklagen Sie, die Finanzsituation der kommunalen Gebietskörperschaften habe sich dramatisch verschlechtert, was in vielen Fällen tatsächlich stimmt. Andererseits wollen Sie jetzt monate- oder jahrelang analysieren, diskutieren, kritisieren.
Herr Kollege Welt ist nicht da,
aber ich hätte ihm so gern mit Blick auf Recklinghausen gesagt: Dort muß es besonders trostlos aussehen. Entweder hat er überzogen, oder er hat seine Stadt an die Wand gewirtschaftet.
Dann wäre es vielleicht klug gewesen, rechtzeitig einen anzuheuern, den er heute als Schlaumeier bezeichnet hat, nämlich einen, der mit ihm gespart hätte.
Meine Damen und Herren, neben diesen Anträgen der SPD und des Bundesrates geht es heute aber - das ist bisher fast zu kurz gekommen - vor allem auch um die neue Regelung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer in den neuen Bundesländern. Ich will als langjähriger Stadtkämmerer einige Worte zu diesem Gemeindeanteil an der Einkommensteuer sagen.
Er war seinerzeit, als er eingeführt wurde, ebenso umstritten wie heute die geplante Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer. Vor allem die damalige Opposition und lange auch viele kommunale Finanzspezialisten waren skeptisch. Man hatte schließlich etwas Gewohntes, nämlich einen Teil der Gewerbesteuer, abzugeben und hat sich dagegen eine unbekannte Größe eingehandelt und hat dies kritisch beurteilt.
Man hat versäumt, zu sehen, daß die neue Steuerbeteiligung auch eine enorme Strukturverbesserung für die Kommunen bedeutete. Tatsache ist, daß heute die Beteiligung der Städte und Gemeinden an der Lohn- und Einkommensteuer ein maßgeblicher, absolut nicht mehr wegzudenkender Pfeiler im kommunalen Finanzierungssystem ist. Ich erwarte, daß sich genau die gleiche Entwicklung ergeben wird, wenn die Kommunen endlich an der Umsatzsteuer beteiligt werden.
Dies sollten Sie, meine Damen und Herren von der SPD, nicht länger verzögern.
Die Grünen haben es längst begriffen. Bei der SPD- Fraktion im Bundestag hat man den Eindruck, daß sie noch abwartet, bis auch die PDS endlich einsieht, daß die Gewerbekapitalsteuer sinnlos ist und daß die Umsatzsteuerbeteiligung eine Riesenchance für die Kommunen und für das kommunale Finanzierungssystem ist. Ich frage mich: Wieviel Geld wollen Sie den ostdeutschen Kommunen eigentlich noch kaputtmachen, bis Sie hier einlenken?
Jetzt ist nicht mehr Diskutieren, sondern Handeln gefragt. Geben Sie endlich Ihre anderthalbjährige Hinhaltetaktik auf, und stimmen Sie einer Grundgesetzänderung jetzt zu und nicht erst, wenn Sie auch vom Bundesrat, von Ihren Länderministerpräsidenten vollends dazu gezwungen werden.
Wenn Sie jetzt mitmachen, haben Sie wirklich einen Beitrag zur dauerhaften Verbesserung nicht alleine der Finanzen, sondern auch der Finanzstruktur in den Kommunen geleistet.
Meine Damen und Herren, es ist mehrfach gesagt worden: Die Finanzlage der Kommunen ist in den letzten Jahren in der Tat sehr viel schwieriger geworden. Das ist doch unstrittig. Nach den goldenen Jahren zwischen 1985 und 1990, in denen man allerdings ebenfalls nie genügend Geld hatte, zeichnen nun Steuerausfälle und wachsende Soziallasten deutliche Spuren in den Haushalten von Landkreisen, Städten und Gemeinden.
Ich will nicht verschweigen, daß es vielen Kommunen, vor allem auch in sozialdemokratisch regierten Ländern, tatsächlich dreckig geht. Sie schreiben in Ihrem Antrag, daß zunehmend mehr Kommunen den an sie gestellten Ansprüchen nicht mehr voll gerecht werden. Das will ich Ihnen bestätigen. Aber, Herr Kollege Grasedieck, ich will den Gründen für die Finanznot, die Sie aufgelistet haben, einen weiteren hinzufügen.
Ist es nicht auch so, daß es nicht nur am fehlenden Geld liegt, sondern auch an den ins uferlose gewachsenen Ansprüchen der Bürgerschaft? Ist es nicht
Heinz-Georg Seifert
auch so, daß viele Kreisräte, Stadträte, Gemeinderäte, Ortschaftsräte noch nicht begriffen haben, daß man sich auf kommunaler Ebene nicht mehr alles leisten kann, was wünschenswert ist? Viele reden den Bürgern immer noch ein, die Kommunen seien für alles zuständig und verantwortlich.
Da stehen die Sozialdemokraten in aller Regel nicht hintan, immer nach dem Motto: Der Gemeinderat, der am meisten fordert, ist wohl auch der beste. In vielen Gemeinden sind es gerade Sozialdemokraten, die nur optimale Lösungen und Standards fordern und den Bürgern versprechen, vom Kindergarten über Schulen, Büchereien, Sportstätten, ÖPNV bis zu Musikschulen. Es sind auch Ihre Räte, die die Kommunalhaushalte mit überzogenen Forderungen in Schwierigkeiten gebracht haben. Ich räume gern ein: Unsere sind gleich aufgesprungen, die waren auch nicht weit entfernt. Jetzt wundert man sich darüber, daß nicht mehr alles finanzierbar ist.
Hier hilft nur eines: Wir müssen den Menschen gegenüber ganz offen bekennen, daß wir uns nicht mehr alles leisten können und daß wir von den Kommunen bis hinauf zum Bund ganz schön über unsere Verhältnisse gelebt haben.
Hier bringt es nichts, wenn wir jetzt in einer Kommission darüber diskutieren und verschleiern, daß in der Tat die Länder für die ordentliche Finanzausstattung der Kommunen zuständig sind.
Die Bundesregierung und die Koalition - Herr Staatssekretär Hauser hat dies bekräftigt - fühlen sich für die Kommunen mitverantwortlich. Es ist uns bewußt, daß eine kommunale Selbstverwaltung, die diesen Namen tatsächlich verdient, ohne ordentliche Finanzausstattung nicht zu machen ist.
Weil die Kommunen, wie Sie sagen, die Hauptinvestitionsträger sind, kann man ihre Haushalte - hier gebe ich Ihnen recht - dauerhaft nicht nur über die Ausgabenseite steuern.
Es kann auch nicht angehen, daß Aufgaben nach unten verlagert werden, ohne daß für die notwendigen Finanzmittel gesorgt wird. Aber Tatsache war doch in der Vergangenheit - Herr Staatssekretär Hauser hat dies eindringlich aufgelistet -, daß Sie oder Ihre Kollegen aus den Ländern im Bundesrat oftmals Entlastungen verhindert oder verzögert haben. Tatsache ist auch, daß viele Länder die Aufgaben nach unten durchgereicht haben, aber nicht das dazu notwendige Geld. Deshalb wollen wir die Kommunen jetzt direkt an der Umsatzsteuer beteiligen. Ich denke, das ist der richtige, zukunftsweisende Weg.
Sinnvoll wäre es, wenn wir die Widerstände im Bundesrat eines Tages zumindest dann, wenn es Ihre Kommunen betrifft, überwinden könnten. Man kann nicht einerseits lautstark die Finanznot beklagen und andererseits mit Zähnen und Klauen alle hohen Standards verteidigen. Das ist keine Logik.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns jetzt rasch und ohne weitere Verzögerung auf allen Ebenen unsere Pflicht tun.
Die Kommunen sollten dem eingeschlagenen Konsolidierungskurs konsequent folgen. Die Rationalisierungs- und Privatisierungsmöglichkeiten sind - das sage ich als einer, der aus der Praxis kommt - längst noch nicht ausgeschöpft. Man muß den Gemeindebürgern offen sagen, daß die eine oder andere Annehmlichkeit selbst dann, wenn man sie wie den ÖPNV ökologisch begründen kann, in gewissem Rahmen einfach nicht mehr machbar ist. Die Länder müssen sich ihrer Verantwortung für die Kommunen stellen und sollten nicht weiter zu Lasten der unteren Ebene sparen.
Wir im Deutschen Bundestag sollten nun umgehend die Gewerbekapitalsteuer abschaffen und den Kommunen einen Umsatzsteueranteil zubilligen.
- Ich bin gern bereit, die Gewerbeertragsteuer abzuschaffen, wenn es einen adäquaten, die Selbstverwaltung sichernden Ersatz für die Kommunen gibt.
Ich möchte Sie auffordern und mit Nachdruck darum bitten, daß Sie dieser Kapitalsteueränderung endlich zustimmen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/6617, 13/5776 und 13/ 5760 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf: Aktuelle Stunde
Visumspflicht für Kinder und Jugendliche aus Nicht-EU-Staaten
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kanther, Ihre jüngste Eilverordnung zur Ausweitung der Visumspflicht ist ein Fausthieb ins Gesicht all derer, die sich in unserer Gesellschaft für Toleranz und Verständigung einsetzen.
Acele bir agactir, meyvesi pismanliktir! Oder auf deutsch: Eile ist ein Baum, ihre Frucht ist die Reue. So sagt ein türkisches Sprichwort.
Mit Ihrer Nacht-und-Nebel-Aktion haben Sie ein Chaos verursacht, für das sich die Betroffenen, die Kinder und ihre Eltern, aber auch die Beamten in den Ausländerbehörden und schließlich die Botschaften bei Ihnen noch lange bedanken werden.
Wie so oft, wenn es bei Ihnen um Ausländer geht, ist von drastisch steigendem Mißbrauch die Rede. Mal wieder wird mit Zahlen jongliert, die absolut keiner Prüfung standhalten. Wie schon jüngst bei der Debatte um Arbeitsgenehmigungen, wie ständig bei den lancierten Meldungen über die wachsende Ausländerkriminalität muß auch diesmal die Statistik herhalten getreu dem Motto: Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast!
Die Möglichkeit der visumsfreien Einreise sei zunehmend mißbraucht worden, heißt es in Ihrer Begründung. Von 198 unbegleiteten Minderjährigen im Jahr 1994 sei die Zahl auf 2 068 im Jahr 1996 gestiegen. Herr Kanther, warum sagen Sie eigentlich nicht, daß der Bundesgrenzschutz 1994 lediglich an den Flughäfen, nicht aber wie im vergangenen Jahr an den Grenzen gezählt hat? „O wundersamer Anstieg", kann man da nur sagen.
Warum sagen Sie beispielsweise nicht, daß der überwiegende Teil dieser Kinder ganz normal zu Verwandten in der Bundesrepublik Deutschland zum Besuch einreist? Warum sagen Sie nicht, daß selbst bei den 400 Kindern, die im letzten Jahr einen Asylantrag gestellt haben, nicht von Mißbrauch, sondern meist von traurigen Schicksalen dieser Kinder aus Kriegsgebieten geredet werden muß und daß diese Anträge keineswegs pauschal als unbegründet abgetan werden können?
Ihre eigenen Zahlen belegen, wie gering der tatsächliche Mißbrauch ist, den es zweifelsohne gibt und der ebenfalls zweifelsfrei effektiv bekämpft werden muß. Doch ich bin sehr skeptisch, inwieweit sich die Schlepperbanden von Ihren Maßnahmen beeindrucken lassen werden. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, daß durch diese Regelung die Kinder eher in die Arme der Schlepper getrieben werden. 2 000 Kinder ante portas -welche Sturmflut des Mißbrauchs erschüttert die Grundfesten dieser Republik!
Ihre Mißbrauchsphobie dürfen nun all die austragen, die absolut nichts damit zu tun haben: über 600 000 Kinder und Jugendliche, die hier geboren und aufgewachsen sind und sich jetzt um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühen müssen. Sie haben geschrieben, durch die neue Verordnung seien diese Kinder nicht getroffen. Herr Innenminister, ist es etwa keine Änderung der Rechtsstellung, wenn sich diese Kinder nun um eine Aufenthaltsgenehmigung bemühen müssen? Frau Schmalz-Jacobsen formuliert es etwas freundlicher: Eine Verschlechterung sei nicht beabsichtigt. Da kann ich nur sagen: Guten Morgen! Guten Morgen auch allen Kolleginnen und Kollegen in der Koalition, all denen, die dem Propagandamärchen von Herrn Kanther aufgesessen sind und nicht gemerkt haben, wer die tatsächlich Leidtragenden dieser Regelung sind.
Um es allen, die es noch nicht verstanden haben, im klaren Deutsch zu formulieren: Das geltende Ausländerrecht läßt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für unter 16jährige nicht zu, sondern lediglich eine auf ein Jahr befristete. Der türkische Vater von fünf Kindern wird sich in Zukunft freuen, wenn er fast jeden zweiten Monat zu der Behörde muß, um für eines seiner Kinder die Verlängerung zu beantragen - gebührenpflichtig, versteht sich. Man könnte meinen, die Verordnung sei aus der Feder des Bundesfinanzministers geflossen. Gebühren zwischen 20 und 80 DM - das dürfte gut und gerne 25 Millionen DM jährlich machen. Das ist wohl der Beitrag des Bundesinnenministeriums zum europäischen Jahr gegen Rassismus!
Es betrifft aber auch die Reisen und Besuche von über 2 Millionen Menschen, die in die Bundesrepublik Deutschland oder in die Herkunftsländer reisen wollen. Bereits am Mittwoch brach das Chaos aus. Ich möchte nur einen einzigen Fall nennen. Duygu, 8 Jahre, und Emre Kayrak, 9 Jahre - beide hier geboren, Vater hier geboren, Mutter seit zehn Jahren in Deutschland -, fuhren am 20. Dezember in die Ferien zu Verwandten nach Istanbul. Am 15. Januar wollten sie zu ihren Eltern in Ulm zurückfliegen, um wieder zur Schule zu gehen. Sie waren ordnungsgemäß beurlaubt. Am Flughafen wies die Fluggesellschaft die Kinder zurück, da diese ab dem 15. Januar gemäß Ihrer Weisung den Auftrag hatten, Visa zu überprüfen. Die Kinder rufen bei den Eltern an; die Eltern rufen bei der Ausländerbehörde und dem Konsulat in Istanbul an; die Verwandten gehen mit den Kindern zum Konsulat; dieses weiß von der Übergangsregelung nichts; das Visum wird verweigert; die Eltern faxen und telefonieren. Resultat: Die Kinder konnten nicht kommen, alles mußte verschoben werden, sie mußten die Tickets neu kaufen - vom seelischen Schaden ganz zu schweigen.
Ich könnte noch viele Beispiele anfügen, die beleuchten, daß Ihre Regelungen entgegen Ihren Ankündigungen leider nicht sehr viel mit der Realität zu
Cem Özdemir
tun haben. Herr Kanther, ich denke, das Maß ist endgültig voll. Sie haben den Konsens, den diese Republik nach Mölln und Solingen hatte, daß diese Republik nämlich eine tolerante und offene Republik ist, aufgekündigt.
Die immer wieder versprochene Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes ist nicht erfolgt. Kinder nichtdeutscher Eltern sind in dieser Republik Menschen zweiter Klasse. Herr Kanther sagt das unverhohlen in seiner Erklärung.
Zum Abschluß bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der Koalition: Schauen Sie diese Regelung noch einmal aufmerksam durch, damit Sie sehen, daß es tatsächlich nicht so ist, wie Herr Kanther sagt. Es betrifft hier geborene Kinder und Jugendliche sehr wohl.
Und eine Bitte an die SPD: Setzen Sie sich dafür ein, daß Ihre Innenminister in den Ländern diese Regelung im Bundesrat zu Fall bringen.
Das Wort hat der Kollege Erwin Marschewski, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die hier erhobenen Vorwürfe gehen fehl. Sie sind in Inhalt und Form zurückzuweisen. Wer diese Verordnung mit Mölln und Solingen in Verbindung bringt, der benimmt sich unanständig, Herr Kollege Özdemir. Das hat nichts miteinander zu tun. Dies darf man nicht miteinander in Verbindung bringen.
Fakt ist im Gegensatz folgendes: Immer mehr Eltern, die sich im Ausland befinden, bezahlen Geld an Schlepper, um auf diese Weise ihre Kinder nach Deutschland zu bekommen - gegen das geltende Recht und vielleicht auch, um selbst nachzureisen. Sie haben keine Lösung dieses Problems, keine Lösung bei der Bekämpfung von Schlepperbanden, Herr Kollege Özdemir. Uns geht es ausschließlich darum, dem Rechtsmißbrauch, der Geschäftemacherei der Schlepperbanden Einhalt zu gebieten. Das ist das Ziel, das ist die Absicht dieses Entwurfes.
- Hören Sie einmal zu! - Das ist das Ziel. Dazu haben Sie keinen Lösungsansatz.
Diese Geschäftemacherei und Schlepperei geht zu Lasten der Kinder. Der Fall, eines einzigen Kindes kostet im Jahr 100 000 DM. Meinen Sie, daß durch diesen Mißbrauch des Rechtes die Freundlichkeit der Deutschen gegenüber Ausländern verbessert wird? Ich befürchte, das Gegenteil ist der Fall. Die Zahlen sind richtig: Es waren ursprünglich 200 Kinder; jetzt sind es 2 000 Kinder. Die Schlepper verdienen mit dieser gesetzeswidrigen Maßnahme richtig Geld. Deswegen müssen wir reagieren, das ist eine Notwendigkeit.
Eine Notwendigkeit ist aber auch, Herr Kollege Fischer, an Frankfurt zu erinnern, daran, daß die Kinder auf dem Flughafen in Frankfurt endlich einmal kindgerecht untergebracht werden, was zumindest nicht immer der Fall ist. Deswegen mein Appell an die rot-grüne Landesregierung: Die Unterbringungssituation der Kinder, gerade in Frankfurt, muß verbessert werden! Was hier in Hessen geschieht, ist in jeder Hinsicht inhuman.
Wegen eines Zuständigkeitsstreites - das muß man sich einmal überlegen - unterläßt es die hessische Landesregierung, die Betreuung dieser unbegleiteten Flüchtlingskinder zu verbessern. Was mich noch mehr wundert, enttäuscht oder erschüttert: Auch der kirchliche Sozialdienst schließt um 18 Uhr - sage und schreibe um 18 Uhr - seine Pforten. Ich klage dies an! Kümmern Sie sich darum, Rot und Grün in Hessen! Das ist skandalös! Hier ist wirklich Abhilfe vonnöten. Herr Kollege Fischer, kümmern Sie sich darum. Das wäre Ihre Aufgabe, dieses Problem zu lösen.
- Sie können sich ja melden und widersprechen, wenn meine Darstellung falsch ist. - Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, dieses Problem anzupacken.
Diese Verordnung soll sich nicht gegen die Kinder richten. Sie bleiben in Deutschland willkommen, sie sind in Deutschland willkommen. Ist es denn zur Bekämpfung dieses Schlepperübels nicht zumutbar, zu verlangen, daß man sich einmal eine Aufenthaltsgenehmigung holt? Ist das nicht zumutbar? Ich frage dies.
Unsere Absicht - ich fasse zusammen - ist nur, den Mißbrauch zu verhindern. Wir wollen nicht, daß die Kinder hin- und hergeschoben werden. Wir wollen den Schlepperbanden, die inhuman und gegen jedes Gesetz vorgehen, das Handwerk legen. Gerade die Einführung der Visumspflicht ist das geeignete Mittel, diesem Ziel näherzukommen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich noch gut: Mitte November klopften sich Bundes-
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
regierung und Koalitionsabgeordnete lautstark selbst auf die Schulter, als es um die Änderungen des Ausländergesetzes ging. Man wolle zwar einige Teile verschärfen, andererseits aber auch etwas Gutes für die hier lebenden Kinder und Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft tun. Zwei Monate später entpuppen sich derlei Beteuerungen als leeres Geschwätz.
Über eine Visumspflicht erstmalig hier alleineinreisender Minderjähriger ist durchaus zu reden. In der Tat sind die Umstände oft ungeklärt, und es gibt durchaus Kinder, die zu Prostitution und Drogenhandel ausgenutzt oder als Testpersonen vorausgeschickt werden. Es gibt aber auch - Herr Kollege Marschewski, das blieb von Ihnen leider unerwähnt - Beispiele echter Flüchtlingsnot, und es gibt andere schwerwiegende Probleme, die nicht über das Visum allein zu lösen sind. Der Grenzkontrolle mag das Visum helfen. Sicherlich ist auch unbestritten, daß Asylanträge dieser Personengruppe kaum Aussicht auf Erfolg haben. Aber: Daß nun zugleich mehrere hunderttausend hier lebende Kinder von ausländischen Arbeitnehmern aus den ehemaligen Anwerbestaaten eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen müssen - das ist unverständlich, familienfeindlich, überflüssig und ein Bärendienst für den Gedanken der Integration!
Jetzt kommt vielleicht das Argument, die Maßnahme sei gesetzestechnisch notwendig und konsequent. Das verschlägt aber nicht. Wir fordern von Ihnen einen anderen Weg, der positive Zeichen setzt. Schaffen Sie endlich Möglichkeiten für eine erleichterte Einbürgerung! Schaffen Sie für die nachwachsende Einwanderergeneration den automatischen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit der Geburt, wie es in vielen Ländern längst möglich ist!
- Frau Philipp, wenn Sie dazu nicht die Kraft und den Willen haben-diesen Eindruck muß man hier ja gewinnen -, dann geben Sie jetzt wenigstens den hier geborenen bzw. aufwachsenden Kindern und Jugendlichen kostenlos und ohne weiteren bürokratischen Aufwand eine Bescheinigung darüber, daß sie rechtmäßig in Deutschland leben und etwa nach einer Reise ins Herkunftsland unbehelligt und mühelos wieder hierher zurückkehren können. Das wäre ein vernünftiger Schritt, meine Damen und Herren.
Statt dessen muten Sie den Jugendlichen zu, ihren Anspruch auf eine Existenz in Deutschland per Formular und unter Zahlung von Gebühren nachweisen zu müssen. Das ist eine bürokratische Hürde, ein Akt unfreundlicher Abwehr. So jedenfalls wird es ganz eindeutig bei den Adressaten verstanden; denn es heißt irgendwie ja doch: Ihr seid uns nicht so recht willkommen, ihr seid uns eben doch eine Last.
Im übrigen bürden Sie auch der Verwaltung eine neue Aufgabe auf - und das in einer Zeit, in der wir doch alle von Erleichterung, Entbürokratisierung und Entschlackung reden.
Aber etwas anderes wiegt noch schwerer - das kam sehr deutlich beim Kollegen Marschewski heraus -: daß man mit Hinweis auf eine begrenzte Zahl von Mißbrauchsfällen eine weit größere Anzahl von Menschen trifft, die nichts anderes tun wollen, als hier friedlich zu leben, und die bisher eine freizügigere Regelung nutzen konnten.
Ich schließe mit einer ernsten Warnung an die Adresse der Bundesregierung sowie an die Kollegen der CDU und vor allen Dingen der CSU: Lassen Sie bitte von den fatalen Versuchen ab, neue und dumpfe Feindseligkeiten zu schüren! Dies geht ja weit über das Thema des heutigen Mittags hinaus. Es begann vor einigen Wochen mit undifferenzierten Äußerungen des Bundesinnenministers zur Ausländerkriminalität. Dann legte die CSU mit ihren Kreuther Stammtischparolen gegen die - mit falschen Zahlen untermauerten - Arbeitserlaubnisse für ausländische Arbeitnehmer nach. Jetzt kommen die neuen Restriktionen.
Hören Sie bitte auf, Ihre massiven Versäumnisse in der Wirtschafts- und Sozialpolitik kampagnenartig auf dem Rücken von Minderheiten auszutragen!
Hören Sie auf, verängstigten und verunsicherten Bürgern dieses Landes vorzugaukeln, Ausländer - egal, ob Erwachsene oder Jugendliche - seien für sie eine Gefahr! Nur zur Erinnerung: Schon vor acht Jahren war der hessische Kommunalwahlkampf, in den wir gerade wieder hineingehen, unter maßgeblicher Beteiligung des jetzigen Bundesinnenministers von einer solchen unwürdigen Sündenbockkampagne geprägt, von der wir nur dringend abraten können.
Meine Damen und Herren, eine allerletzte Mahnung: Soeben wurde das Europäische Jahr gegen Rassismus ausgerufen. Es verdient wahrhaftig andere Akzente und Initiativen als diejenigen, die Sie uns heute bieten.
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Aufregung über die Einführung des Visumzwanges ist groß, und ich habe dafür Verständnis. Diese Aufregung ist aber wohl vor allen Dingen darauf zurückzuführen, daß hier der Weg der Eilverordnung gewählt wurde.
Es ist immer schwieriger, eine sachliche Debatte im nachhinein zu führen, als es zur rechten Zeit zu machen. Wir brauchen aber diese sachlich geführte Debatte, denn hier geht einfach vieles durcheinander. In der Öffentlichkeit ist das auch auf einen Mangel an Kenntnis der Rechtslage zurückzuführen. - Übrigens haben auch Sie, Herr Kollege Özdemir, hier Zahlen genannt, die einfach nicht richtig sind.
Aber wieso, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ist die Einführung der Visumspflicht und der Aufenthaltserlaubnispflicht erst dann familienfeindlich, wenn sie Staatsangehörige der Türkei, Tunesiens, Marokkos und Ex-Jugoslawiens betrifft, oder, wie die Türkische Gemeinde in Deutschland gar meint, „ein Verstoß gegen Art. 6 des Grundgesetzes"? Wieso war das Bestehen dieser beiden Pflichten für Kinder aus allen anderen Staaten das offenbar nicht? Von ihnen gibt es viele, die in Deutschland geboren wurden und deren Eltern längst die unbefristete Aufenthaltserlaubnis haben. Man kann sich hier meiner Meinung nach nicht die Freiheit nehmen, mit zweierlei Maß zu messen.
Im übrigen scheint mir die Aufgabenverteilung bei der SPD zweigeteilt zu sein: sich einerseits zu entrüsten, andererseits in den Ländern, wie unter anderem vom niedersächsischen Innenminister zu hören, zu sagen, daß die geplante Neuregelung eigentlich recht vernünftig sei.
Was auf den ersten Blick wie eine zusätzliche Abschottung Deutschlands aussehen mag, beseitigt ja in Wirklichkeit eine weltweit einmalige Einreisepraxis, nämlich Kinder unter 16 Jahren aus bestimmten Ländern - ab dem 16. Lebensjahr müssen alle Kinder, auch die türkischen usw., eine Aufenthaltserlaubnis beantragen - ohne Visum ins Land zu lassen und sie - spiegelbildlich dazu - von einer Aufenthaltserlaubnis freizustellen. Das ist einmalig.
In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings auch anmerken, daß wir weniger Aufregung und weniger Probleme hätten, wenn wir im Staatsangehörigkeitsrecht das Geburtsrecht, das Ius soli, für die hier geborenen Kinder hätten.
Meine Berliner Kollegin Barbara John, die sich wahrhaftig nicht den Vorwurf mangelnden Engagements machen lassen muß, hat die Visumspflicht begrüßt und, wie ich finde, gut begründet. Im übrigen - das möchte ich deutlich machen - entspricht die Visumspflicht auch der Logik des Schengener Abkommens, das keine Ausnahmebestimmungen für bestimmte Gruppen kennt.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier nicht auf die Zahlen der Mißbrauchsfälle abheben, nur eines muß klar sein: daß es Mißbrauch gibt und der Staat die Augen vor Mißbrauch nicht verschließen kann. Mißbrauch bedeutet aber nicht nur, daß hier die Regelungen des Staates mißbraucht werden, sondern Mißbrauch bedeutet hier ganz eindeutig auch Mißbrauch der betroffenen Kinder. Ich denke an die Kinder, die als Drogenkuriere eingesetzt werden, an die traurigen Fälle der Kinderbräute, an den sexuellen Mißbrauch von Kindern.
Das ist keine Horrorpropaganda, das wissen Sie ganz genau, sondern das sind Tatsachen. Ich kann nur jedem raten, sich einmal beim Jugendamt einer größeren Gemeinde zu informieren.
Mir kommt es darauf an, zu verhindern, daß ein falsches integrationspolitisches Signal vermittelt wird, daß die Kinder, die legal bei uns leben, die hier aufwachsen und in die Schule gehen wie alle anderen Kinder auch und die bisher von einer Visumspflicht freigestellt waren, sich jetzt einer rechtlich verschlechterten Situation gegenübersehen.
Daß das die Eltern erschrecken muß, läßt sich doch denken. Da stimme ich Ihnen, Frau Sonntag-Wolgast, vollkommen zu; das Ganze hat ja viel mit Psychologie und Gefühlen zu tun und findet in einem bestimmten Klima und Umfeld statt. Darum muß Sorge dafür getragen werden, daß es nicht nur bei den gutgemeinten Worten im Begründungstext zur Verordnung bleibt. Ich zitiere:
Eine materielle Verschlechterung der Rechtslage der betroffenen Jugendlichen ist nicht beabsichtigt.
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Und weiter heißt es,
daß aus Gründen des Vertrauensschutzes keine Rechtsnachteile entstehen.
Ich erinnere übrigens auch an den Koalitionsvertrag, in dem es heißt, man lasse sich weiter von einer Politik der Integration der Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft, die ihren rechtmäßigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, leiten. - Ich weiß wohl, daß Theorie das eine und Verwaltungspraxis - leider häufig - das andere ist. Darum wird man vor Ort sehr genau darauf zu achten haben, daß dort entsprechend den Vorgaben gehandelt wird. Fälle wie der, den Sie genannt haben und von dem ich auch gehört habe, haben mit der Eilverordnung und nicht mit der Sache an sich zu tun.
Ich habe übrigens in diesen Tagen ganz unterschiedliche Anrufe bekommen: einerseits solche von Eltern, die verwirrt und entsetzt waren, und andererseits solche von iranischen und anderen Eltern, die begrüßen, daß endlich Gerechtigkeit herrscht und alle gleichbehandelt werden.
Meine Damen und Herren, wir von der F.D.P. sind für eine Klarstellung bzw. auch für Änderungen zu haben, um dem Petitum gerecht zu werden, daß es keine Schlechterstellung geben darf. Dazu gibt es inzwischen auch Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Kollegin, ich unterbreche Sie ungern, aber Sie müssen auf die Uhr achten.
Einen Satz noch. - Ich habe das Auswärtige Amt aufgefordert, darauf hinzuwirken, daß man bei den „Außenbehörden" darauf Rücksicht nimmt, daß Familienverkehr heute zwischen Staaten genauso wie zwischen einzelnen Bundesländern stattfindet. Die Betroffenen müssen entsprechend informiert werden. Das muß dezentral und sehr unbürokratisch erfolgen; denn eines muß vermieden werden: Es darf kein Kind in Schwierigkeiten geraten, weil die Eltern nichts von der neuen Lage erfahren haben.
Danke.
An dieser Stelle, verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit ich es später nicht vergesse, bitte ich um Zustimmung, daß die nicht anwesende Kollegin Jelpke ihren Beitrag zu Protokoll geben kann *) . Das ist, zumal in der Aktuellen Stunde, zwar nicht so schön, aber die PDS hat Parteitag, und in solchen Fällen sind wir großzügiger. - Einverstanden.
*) Anlage 2
Dann hat jetzt Herr Bundesminister Kanther das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird hier über einen besonders unerfreulichen Mißbrauchsfall unseres Ausländerrechts diskutiert. Vor zwei Jahren gab es 200 unbegleitete minderjährige Einreisende aus vier Ländern, die kein Visum brauchten, vor einem Jahr waren es gut 800, und im Jahr 1996 waren es über 2 000 Minderjährige, also zehnmal soviel wie vor zwei Jahren.
Diese Kinder landen in Jugendhilfeeinrichtungen; sie kosten pro Monat zwischen 5 000 und 7 500 DM Unterhalt. Das sind im Jahr zwischen 120 und 180 Millionen DM - in einer Zeit, in der wir in so vielfältiger Weise auf das Geld achten müssen. Dieser Betrag ist aufzubringen, weil Schlepper unbegleitete Minderjährige, die in Deutschland in Sozialhilfeeinrichtungen landen, in unser Land schleppen. Sie bringen nicht etwa Kinder, die hier ihre Eltern haben, über die Grenze. Deshalb hat das Thema, verehrte Frau Schmalz-Jacobsen, mit Staatsbürgerschaft nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Es geht nicht um die Kinder, die ihre Eltern in Deutschland haben, die hier in die Schule gegangen sind und in der Türkei in Urlaub waren und wiederkommen - auch wenn es von Ihnen, Herr Özdemir, stets so vorgetragen wird, geht es nicht um diese Kinder -, sondern es geht um diejenigen, die hier niemanden haben, die keine Ausbildung hier absolviert haben, die hier nie eine Schule besucht haben, die keine Sprachkenntnisse haben und keine Familie. Kurz: Es geht um diejenigen Kinder, die zuallererst in der Absicht eingeschleppt werden, anschließend die Familie nachholen zu können. Das geschieht vor dem Hintergrund betrügerischer Vorspiegelungen der Schlepper im Herkunftsland, die den Menschen, die viele tausend Mark oder Dollar dafür bezahlen, das so erklären.
Das ist unerträglich - nicht nur wegen des nicht hinnehmbaren Umgangs mit dem deutschen Recht, sondern auch um der Kinder willen, die das trifft. Es mag sein, daß es schwer begreiflich ist, warum Eltern so verfahren. Aber wenn sie in fernen Ländern so betrogen werden, mag es auch wieder erklärlich sein. Diese Kinder haben hier kaum eine Zukunft. Es muß folglich alles dafür getan werden, daß dieser Mißbrauchstatbestand nicht fortdauert.
Bundesminister Manfred Kanther
Die Methode ist abgefeimt, sie wechselt auf den Schauplätzen.
Auf einmal gibt es in Hannover fast so viele einreisende minderjährige Kinder wie in Frankfurt; in Münster, wo normalerweise die Asylproblematik keine Rolle spielt, gibt es auf einmal 200 einreisende Kinder, bandenmäßig geordnet. Das ist der Tatbestand! Ich werde jederzeit wieder jeden dieser Mißbrauchstatbestände unnachsichtig verfolgen.
Das hat gar nichts mit der Frage zu tun, was mit Kindern geschieht, die hierzulande Rechtens leben. Wie sollte denn bitte ein Kind, das in die Türkei ausgereist ist und zum Beispiel nach dem Ende der Ferien zurückkommen will, wieder anders nach Deutschland einreisen, als daß es an der Grenze eine Aufenthaltsberechtigung vorzeigt? Visumspflicht auf der einen Seite bejahen und es sich auf der anderen Seite so einfach machen wie Sie, Frau Sonntag-Wolgast, indem Sie fordern, daß keine Aufenthaltsberechtigung nachgewiesen werden muß, führt dazu, daß das ganze Verfahren absurd wird.
Mit Ihren ständigen Vorschlägen zur Einwanderung und Staatsbürgerschaft hat dies nichts zu tun.
Das Kind, das hier lebt, in der Türkei seine Ferien verbringt und mit seinen Eltern oder allein zurückkehrt, kann jederzeit - solange die Eltern in Deutschland ein Aufenthaltsrecht haben - zurückkehren und mit seiner eigenen Aufenthaltsberechtigung, die es nun erwerben muß, den Grenzübertritt ohne Mühe vornehmen.
Was soll an diesem Verfahren falsch sein? Der junge Rumäne hat schon immer ein Visum gebraucht, wenn er mit 10, 12 oder 14 Jahren nach Deutschland einreisen will. Auf der anderen Seite braucht aber der ein paar Kilometer entfernt wohnende Serbe bis jetzt kein Visum. Was kann man unter Menschenrechtsgesichtspunkten an Einwänden erheben, wenn jetzt eine Angleichung erfolgt?
Das Beantragen von Visa, das jetzt in der Türkei auf den Konsulaten erfolgen muß, ist in drei-, vier- oder fünfmal so großen Ländern wie Indien selbstverständlich. Das Kind, das aus Indien nach Deutschland kommen will, muß ein Visum beantragen. Was ist daran besonderes? In was für einer Welt leben eigentlich die Apologeten Ihrer Thesen, Herr Özdemir, die fast immer im Stil der Hetze vorgetragen werden?
In welcher Welt leben die eigentlich? In Deutschland
gilt - mit einigen Ordnungsprinzipien - die liberalste
Ausländerrechtsordnung der Welt. Diese Ordnungsprinzipien sind unvermeidlich, wenn der Mißbrauch so groß ist.
- Was ist das für eine Bemerkung? Sie haben doch eben die Menschenwürde verteidigt, und jetzt machen Sie eine solche Bemerkung. Ich habe keine Lust, mich damit zu beschäftigen.
Also, die Kinder können wieder einreisen, wenn sie eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland haben. Sie können ohnehin einreisen, wenn die Eltern ein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben. Ich lege großen Wert darauf, zu betonen, daß alles, was Sie hier vortragen - besonders Herr Özdemir; er weiß das auch -, nichts mit den Problemen der Integration von Ausländern zu tun hat, sondern mit dem Hereinschleppen von Kindern, die in Deutschland niemanden kennen und deshalb in Sozialhilfeeinrichtungen landen. Das Kind, das seine Eltern in Deutschland hat, landet nicht in der Sozialhilfeeinrichtung und kostet deshalb auch nicht 5 000 DM im Monat.
Alles das, was Sie behaupten, hat mit dem Problem, das wir jetzt lösen, nichts zu tun.
Selbstverständlich haben wir Übergangsvorschriften - auch für den Bundesgrenzschutz - erlassen; selbstverständlich bedarf die Verordnung im Laufe der nächsten drei Monate der Zustimmung des Bundesrates; selbstverständlich haben wir bei der gerade zu Ende gegangenen Ausländerreferentenkonferenz in Schwerin das einfachstmögliche Handling - zum Beispiel das Verfahren der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen durch die Ausländerbehörden der Länder - bereits besprochen; das alles, um den Kindern, die ein Aufenthaltsrecht bereits haben, bestmögliche Bedingungen für die Erlangung der Aufenthaltsgenehmigung zu schaffen.
Aber es bleibt dabei: Auch in Zukunft wird die Bundesregierung in Fällen, in denen der Mißbrauch so offenkundig ist, alle Mühe darauf verwenden, den Mißbrauch abzustellen. Mir ist völlig unbegreiflich, wie sich jemand, der das Zusammenleben von Deutschen und Ausländern friedlich und zukunftsfähig gestalten will und die Integration für eine der zentralen Aufgaben unserer Gesellschaftspolitik hält, gegen die Abstellung von offenkundigem und überwiegend kriminellem Mißbrauch wehren kann. Das ist mir völlig unerklärlich!
Aus diesem Grunde sage ich Ihnen: Es gibt Anlaß, die ständig wechselnden Szenen, in denen dieser Mißbrauch stattfindet, sehr genau zu beobachten. Der Er-
Bundesminister Manfred Kanther
findungsreichtum der Schlepper ist unermeßlich. Die Tatsache, daß das Phänomen im wesentlichen erst begonnen hat, als das Gespräch über die Schengener Vollzugsregelungen vor anderthalb Jahren angefangen hat, und daß nun die Flughäfen mit hundertfachem Kinderimport - so muß man es ja nennen - abgetastet werden, zeigt, daß man diese Szene nicht einfach gewähren lassen kann, sondern daß man ihr mit der Eilverordnung zu Leibe rücken muß. Andernfalls, bei langfristigen Ankündigungen und dem üblichen politischen Gezerre, das es um so etwas gibt, würde der Zustrom nur größer werden. Das ist der Grund, weshalb der Bundesinnenminister von der Möglichkeit der Sofortverordnung Gebrauch gemacht hat. Wenn sich ein ähnlicher Fall ergäbe, würde er wieder so handeln.
Das Wort hat der Kollege Dietmar Schlee, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einführung der Visumspflicht ist eine vernünftige, vorsorgliche Regelung - so der Innenminister des Landes Niedersachsen, unterstützt vom Vorsitzenden der Innenministerkonferenz, Ihrem Parteifreund Hartmuth Wrocklage. Die beiden verstehen etwas vom Geschäft, wie Sie vor einigen Wochen von dieser Stelle aus, Herr Körper, noch einmal unterstrichen haben.
Bei dieser Regelung davon zu reden, daß sie die Integration unserer ausländischen Mitbürger beeinträchtige, kann ich mit dem besten Willen nicht nachvollziehen.
Ich sage Ihnen, Frau Sonntag: Wenn man so etwas laufen läßt, dann ist das integrationshemmend, dann wird das Fremdenfeindlichkeit in diesem Lande auslösen. Das ist meine feste Überzeugung. Es ist auffällig, Frau Sonntag, wie Sie und wie die Praktiker in Ihrer Partei die Probleme sehen, Praktiker, die tagtäglich die Probleme zu lösen haben.
Die Zahlen sind genannt worden: Um das Zehnfache sind die Zugänge innerhalb von zwei Jahren angestiegen. Damit hat Herr Glogowski zu kämpfen, und damit hat auch Herr Wrocklage zu kämpfen. Deshalb suchen sie nach vernünftigen Lösungen. Sie sehen natürlich, daß man solche vernünftigen Lösungen möglichst rasch braucht, weil Schengen umgesetzt werden muß. Die Privilegierung, die es gibt, paßt doch überhaupt nicht mehr in die Schengener Landschaft. Auch das sehen die Praktiker natürlich.
Warum soll die Privilegierung derjenigen, die aus Ländern kommen, in denen früher angeworben wurde, für die Franzosen und andere zum Nachteil werden? Das versteht doch überhaupt niemand auf der Welt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich muß auch die Problematik bei den Aufenthaltsgenehmigungen gesehen werden. Es müssen klare Verhältnisse geschaffen werden. Herr Özdemir, wenn hier jemand sagt, daß das materielle Einreise- und Aufenthaltsrecht verändert oder gar verschlechtert worden sei, dann ist das schlicht und ergreifend falsch. Sie sollten sich einmal ansehen, wie das Ganze rechtlich aussieht. Ich habe mir das noch einmal angesehen, und ich habe mir das von einem Fachmann darstellen lassen.
Auch die jungen Leute aus den Ländern, die heute zur Debatte standen und die früher ohne Aufenthaltsgenehmigung in die Bundesrepublik kamen, sind doch nicht im luftleeren Raum unterwegs gewesen. Auch sie hatten natürlich eine Aufenthaltsgenehmigungspflicht. Da hat es hinsichtlich der maßgeblichen Punkte eine materielle Prüfung gegeben, auch was eine gerechte Familien- und Zuzugspolitik angeht. Das alles ist doch überhaupt nicht neu. Nun wird das Problem so gelöst, wie es der Minister soeben gesagt und wie er es mit den Innenministern abgesprochen hat: unbürokratisch, lebensnah und so einfach wie nur irgend möglich. Das ist doch ein Verfahren, das sich sehen lassen kann.
Herr Özdemir, ich verstehe wirklich nicht, daß Sie die Probleme und die Konsequenzen dieses Mißbrauches und dieser Menschenrechtsverletzungen nicht sehen. Sie sollten nur an die Kinderschändereien und die Kinderprostitution denken. Nehmen Sie all das, was Frau John dazu gesagt hat!
- Es nützt doch nichts, wenn er dies anspricht. Daraus müssen vielmehr die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden.
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, ein letztes Wort zu Ihrem Gerede von den Kampagnen, die losgetreten worden seien. Auch Herr Schily - er ist nicht anwesend - hat das in einer Pressemitteilung ausgedrückt. Darüber kann man ja nur lachen. Wenn der Bundesinnenminister darstellt, wie groß die Anzahl der Tatverdächtigen im Bereich der organisierten Kriminalität ist, dann kann man doch nicht sagen: Das ist der erste Teil einer Kampagne. Wenn sich die CSU zu dem Thema Beschäftigung und Arbeitslosigkeit von Ausländern äußert - das ist gerade Ihre Klientel; Sie müssen einmal den Herrn Voscherau fragen, was er hierzu sagt -, werden dadurch überhaupt keine Kampagnen ausgelöst.
Dietmar Schlee
Frau Sonntag-Wolgast, Sie werden die von der SPD regierten Länder nicht auf Ihre Linie bringen. Davon bin ich überzeugt, weil nämlich unsere Position und die Linie der Praktiker richtig sind.
Alles andere ist eine blanke Wolkenschieberei. Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schlee, Sie haben in der Tat recht: Dies alles ist doch gar nicht so neu. Wenn man die Politik der Bundesregierung in den zurückliegenden Jahren analysiert, dann wird man feststellen, daß Sie und auch Sie, Herr Innenminister Kanther, mit dieser unmenschlichen Verfügung das Startsignal für eine erneute Kampagne gegen Ausländer und Ausländerinnen in unserem Land gegeben haben.
Mit der Einführung der Visumspflicht für Kinder eröffnen Sie ein neues Kapitel ausländerfeindlicher Politik. Es ist ein Skandal, daß Sie sich diesmal die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, nämlich die Kinder, dazu herausgesucht haben. Ihre Verordnung verstößt nicht nur gegen die Kinderrechtskonvention, sondern ist aus meiner Sicht klipp und klar ein Ausdruck Ihrer ausländerfeindlichen Gesinnung.
Es erfüllt mich mit Schrecken, daß, nachdem die tödliche Welle der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland zurückgedrängt werden konnte, Sie nun erneut beginnen zu zündeln. Ihr Gerede der letzten Wochen über die angebliche Ausländerkriminalität hat bereits einen bitteren Vorgeschmack auf das gegeben, worüber wir uns heute zu unterhalten haben.
Ist es eigentlich nur Zufall, daß Sie ausgerechnet jenen Kindern die Einreise und den Aufenthalt in Deutschland erschweren wollen, aus deren Herkunftsländern - wie der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien - die zahlenmäßig größte Gruppe der nach Deutschland kommenden Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlinge stammt? Ich glaube nicht.
Sie suchen nach Instrumenten, um die Tatsache, daß Deutschland längst ein Einwanderungsland ist, zu revidieren, wie zum Beispiel Infrarotüberwachungen und ein verschärfter BGS-Einsatz an den Grenzen zum sogenannten Schutz der Deutschen vor Einwanderern und Flüchtlingen. Herr Innenminister Kanther, diesen Schutz wollen wir und will die deutsche Bevölkerung nicht.
Ihr Umgang mit Kindern von Flüchtlingen sowie Migranten und Migrantinnen stellt alles auf den Kopf, was von der UN-Kinderrechtskonvention unter dem Begriff „Wohl des Kindes" als oberstes Prinzip formuliert wurde. Ihr Umgang mit diesen Kindern konterkariert die Neujahrsansprache unseres Präsidenten Roman Herzog, der sich für Toleranz und Menschlichkeit aussprach.
Ist Ihnen eigentlich die menschliche Tragödie und die Konsequenz Ihres im Umlaufverfahren im Kabinett durchgezogenen Beschlusses klar? Sie reißen Familien auseinander, schüren bei Kindern und Eltern Angst, getrennt zu werden oder sich nur noch selten sehen zu können. Bei uns lebende türkische und kurdische Eltern haben ihre Kinder - das ist vorhin schon gesagt worden - zum Teil von heute auf morgen in Panik aus den Schulen in der Türkei herausgenommen, um sie noch rechtzeitig nach Deutschland zu holen.
Herr Minister Kanther, haben Sie sich einmal die Schlangen vor den Visa-Abteilungen zum Beispiel in Ankara angesehen? Was muß es für ein minderjähriges Kind bedeuten, sich Tag für Tag dort einzureihen, um die Genehmigung zu bekommen, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen? Herr Innenminister, Ihre Handlung ist aus meiner Sicht ein türkeifeindlicher Akt und hat in unserem Land nichts zu suchen.
Es ist darüber hinaus ein menschenfeindlicher Akt. Wer wie die Bundesregierung die Türkei jahrelang im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung ausrüstet und unterstützt, wer hier in der Bundesrepublik lebende Kurdinnen und Kurden kriminalisiert,
wer nicht zur Kenntnis nehmen will, daß, wie „Amnesty" berichtete und der türkische Justizminister mir gegenüber bestätigte, selbst Kinder in türkischer Polizeihaft gefoltert werden, wer dies alles nicht zur Kenntnis nehmen will, dem muß ich unterstellen, daß der jetzige Kabinettsbeschluß das politische Ziel hat, eine fremdenfeindliche Politik zu betreiben und das bereits bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlte Grundrecht auf Asyl nun endgültig zu Grabe zu tragen.
Die rot-grüne Koalition in Schleswig-Holstein wird dieses Vorgehen nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen, wird es nicht akzeptieren, sondern wir werden den Vermittlungsausschuß anrufen. Ich appelliere an
Angelika Beer
alle Landesregierungen, diesen Kanther-Kurs abzulehnen und unsere multikulturelle Gesellschaft dagegen zu verteidigen. Die Ausländer-raus-Philosophie hat bei uns bereits viel zu viele Menschenopfer eingefordert. Für Fremdenhaß darf in diesen Räumen, in der Regierung und auch in unserem Land kein Platz mehr sein.
Dafür sollten wir alle antreten. Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war zu erwarten, Frau Beer, daß Sie jeden sich bietenden Anlaß zu einem ausländerrechtlichen Generalangriff auf die Koalition ausnützen würden.
Aber dieser gibt es wirklich nicht her. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen läßt sich nun wirklich nicht gegen die Verordnung des Innenministers in Stellung bringen. Denn Deutschland war bisher das einzige Land in der Europäischen Union, das die visumsfreie Einreise für Kinder und Jugendliche gestattet hat.
Der Grund dafür ist spätestens seit 1989 entfallen. Der Grund dafür liegt nämlich darin, daß zu der Zeit, als noch Gastarbeiter angeworben wurden, deren minderjährige Kinder das Recht haben sollten, ohne Visum nach Deutschland einzureisen. Nach Ende des Anwerbestopps 1973 waren also spätestens 1989 die da geborenen Kinder 16 Jahre alt und damit visumspflichtig. Im Grunde hätte man schon seit 1990 zu solchen Änderungen kommen können. Warum das bei den bisherigen Änderungen des Ausländerrechts nicht geschehen ist, ist mir nicht bekannt.
Wir haben mit dieser Verordnung eine EU-konforme Regelung. Sie wissen, daß wir, was das Visarecht angeht, innerhalb der Europäischen Union auf eine Harmonisierung hinarbeiten. Die Regelung ist jetzt auch Schengen-konform.
Natürlich war die Türkei von diesen Änderungen nicht begeistert, wie ich bei einem Gespräch mit der Botschaft erfahren habe. Aber der Mißbrauch - dieser Grund ist verschiedentlich hier genannt worden - läßt keine andere Wahl. Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß auch die Rechtsstellung Deutscher in der Türkei, wenn man an die etwa 70 000 bis 90 000 mit Türken verheirateten deutschen Ehefrauen denkt, sehr kritikwürdig ist: Sie haben kein eigenständiges Aufenthaltsrecht; im Falle der Scheidung können sie ausgewiesen werden; sie müssen jährlich gegen hohe Gebühren in Ankara eine Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragen. Wir hoffen, daß das Gesetz, daß die Rechtsstellung der deutschen Ehefrauen in der Türkei verbessern soll, jetzt auch verabschiedet wird.
Nun zu der Verordnung über die Visumspflicht: Bei Medikamenten kennen wir die langen Beipackzettel zu Nebenwirkungen. Manchmal, wenn man sich das durchliest, mag das dazu führen, daß man das Medikament nicht mehr nehmen will. Das wird hier nicht gehen. Insofern drücken sich die Grünen um die Antwort, wie man den - auch von ihnen zugegebenen - Mißbrauch tatsächlich bekämpfen will.
Auf der anderen Seite hat dieses Gesetz natürlich unbeabsichtigte - ich sage das ausdrücklich; auch der Minister und Herr Marschewski haben das vorgetragen - Nebenwirkungen für die 600 000 hier lebenden Kinder, insbesondere von Türken, die sich hier dauerhaft und rechtmäßig aufhalten. Deren Rechtsstellung wollen wir nach der Koalitionsvereinbarung verbessern, wobei wir noch auf der Suche nach dem richtigen Weg sind.
Es gibt Nebenwirkungen der Visumspflicht. Die minderjährigen, hier rechtmäßig lebenden Türken brauchen jetzt, was bisher nicht nötig war, eine eigene Aufenthaltsgenehmigung. Diese kann nicht für die gesamte Zeit bis zu ihrem 16. Lebensjahr beantragt werden. Allerdings, Frau Beer, muß sie nicht jedes Jahr beantragt werden. Ich habe mich bei unserem Ausländeramt in Münster erkundigt: Man kann sie einmal bis zum 10. Lebensjahr beantragen und sie noch einmal bis zum 16. Lebensjahr verlängern. Das ist allerdings mit Kosten verbunden: Die Ersterteilung kostet 40 DM, die Verlängerung 20 DM. Außerdem brauchen die Kinder für das Reisen noch einen türkischen Paß. Die Gebühren dafür - hier ist die Türkei verantwortlich - sind sehr hoch. Sie liegen, je nach Geltungsdauer des Passes, zwischen 100 DM und 150 DM.
Nach gegenwärtiger Rechtslage - das ist deutlich herausgekommen - sind diese unbeabsichtigten Nebenwirkungen der Verordnung wohl nicht zu vermeiden. Um so dringender ist deshalb nach meiner festen Überzeugung eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts; denn die Rechtsstellung der dritten Generation, die zu uns gehört und dauerhaft in Deutschland bleiben will und die wir integrieren wol-
Ruprecht Polenz
len, soll verbessert werden, und das ist auch Ziel der Koalitionsvereinbarung.
Ich persönlich gehöre zu denen, die diese Generation staatsbürgerrechtlich bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres den Deutschen gleichstellen wollen. Danach sollen die Betreffenden selbst entscheiden.
Welcher Weg auch immer in der Koalition gefunden werden wird: Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts muß all die ungewollten und unbeabsichtigten Nebenwirkungen beseitigen, die durch diese Verordnung jetzt eingetreten sind. Diese Folgen sind nicht zu vermeiden. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts für die Kinder der dritten Generation wird jetzt aber um so dringlicher.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 29. Januar, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.