Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu Beratungen des Tarifausschusses über Mindestlöhne im Baugewerbe
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Abgeordnete Leyla Onur das Wort.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Guten Morgen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Guten Morgen, Herr Bundesarbeitsminister! Herr Minister, haben Sie eigentlich gut geschlafen heute nacht? Ich vermute: Seit dem 8. Oktober müßten selbst Sie Alpträume haben. Oder erscheinen Ihnen nicht im Schlaf 200 000 arbeitslose einheimische Bauarbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, also summa summarum 1 Million Menschen, die Sie klagend anstarren, weil Sie es bisher nicht geschafft haben, das Entsendegesetz umzusetzen?
Was haben Sie bisher getan, Herr Bundesarbeitsminister? Sie haben an die Arbeitgeber im Tarifausschuß appelliert, doch endlich ihre Blockadehaltung aufzugeben. Sie werden auch weiterhin appellieren. Nur: Tun werden Sie nichts; jedenfalls haben Sie das angekündigt. Wir wollen heute die Gelegenheit nutzen, noch einmal zu versuchen, Sie davon zu überzeugen, daß Sie jetzt endlich handeln müssen, daß Sie sich nicht länger zum Erfüllungsgehilfen von radikalen Systemveränderern auf der Arbeitgeberseite machen dürfen.
Tun Sie endlich das, was wir Ihnen im Juni vorgeschlagen haben, nämlich das Entsendegesetz dahin gehend zu ändern, daß es einen Auflösungsmechanismus enthält. Das heißt auf neuhochdeutsch, daß Sie, Herr Bundesarbeitsminister, dann, wenn der Tarifausschuß den Mindestlohn, der ja von den Tarifpartnern festgelegt worden ist, weiterhin blockiert, die Möglichkeit haben, diesen Mindestlohn durchzusetzen. Sie legen ja nicht die Höhe des Mindestlohns fest. Dieses Recht wollen wir Ihnen in der Tat nicht geben. Wir wollen keinen staatlich festgelegten Mindestlohn. Aber wir wollen Ihnen im Interesse der arbeitslosen einheimischen Bauarbeitnehmer, im Interesse der kleinen und mittleren Betriebe im Bauhandwerk die Möglichkeit geben, dafür zu sorgen, daß die Regelung bezüglich des von den Tarifpartnern festgelegten Mindestlohns endlich umgesetzt wird.
Sie haben sich unserem Änderungsvorschlag bisher verweigert, nachzulesen in der Stellungnahme der Bundesregierung zu dem ja gleichlautenden Vorschlag des Bundesrates. Wie scheinheilig die Argumentation Ihres Hauses ist, könnte ich Ihnen jetzt Wort für Wort vorlesen. Ich beschränke mich aber auf einige Anmerkungen.
Sie weisen in dieser Stellungnahme darauf hin, daß Sie die Arbeitgeber im Tarifausschuß nicht aus der Verantwortung entlassen wollen, daß der Staat die Verantwortung nicht übernehmen wolle. Sie drücken sich vor der Verantwortung, nicht mehr und nicht weniger.
Unser Vorschlag besagt nicht, daß Sie in Zukunft die Höhe des Mindestlohnes festlegen sollen; sondern unser Vorschlag besagt ausdrücklich - ich wiederhole dieses -, daß sich die Tarifpartner einigen sollen und daß Sie für den Fall, daß sich die Systemveränderer auf der Arbeitgeberbank nicht bewegen, diese Möglichkeit haben sollen.
Daß sich die Tarifpartner nicht wirklich bewegen, zeigen die neuen Bedingungen, die sie am 8. Oktober aufgebaut und die es nicht möglich gemacht haben, zu einer Einigung zu kommen. Es werden bewußt neue Bedingungen aufgebaut, zum Beispiel, daß dieser Mindestlohn nur bis zum 31. Mai ohne Nachwirkungen Gültigkeit haben soll. Was das bedeutet, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Danach stehen wir wieder mit leeren Händen da. Danach werden in Deutschland wieder Menschen aus anderen Staaten zu Billiglöhnen ausgebeutet werden, während gleichzeitig 200 000 einheimische Arbeit-
Leyla Onur
nehmer arbeitslos sind. Dieses wollen wir nicht länger zulassen.
Deswegen fordern wir Sie heute noch einmal eindringlich auf: Stimmen Sie unserem Vorschlag zu, oder finden Sie eine andere Lösung für das Problem. Sie tun bislang gar nichts. Wir sind auch einverstanden, wenn Sie einen anderen vernünftigen Lösungsvorschlag für das Problem machen. Nichtstun hilft uns nicht aus dieser Falle heraus.
Herr Minister, wir haben unsere Hand zum Schwur gereicht, wir haben diesem Entsendegesetz zugestimmt. Wir stecken alle miteinander in der Falle. Nur: Im Gegensatz zu Ihnen sind wir in der Lage, rechtzeitig Änderungsvorschläge zu machen, damit wir aus der gemeinsam aufgestellten Falle auch wieder herauskommen. Sie verweigern sich nach wie
VOL
Kommen Sie bitte zum Schluß.
Abschließend möchte ich nur noch meiner Freude Ausdruck verleihen, daß die Entsenderichtlinie am 24. September endlich verabschiedet worden ist und bis zum 24. September 1999 endgültig in nationales Recht umgesetzt werden muß.
Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner spricht Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Morgenstund hat Gold im Mund, so sagt es der Volksmund. Ob das am Ende für die heutige Aktuelle Stunde zutreffen kann, wage ich jetzt schon zu bezweifeln.
Ich wage das deswegen zu bezweifeln, weil wir mit dieser Aktuellen Stunde nichts bewirken werden - keinen einzigen Arbeitsplatz.
Wir wollen uns auch von Ihnen nicht - das sage ich in aller Deutlichkeit zu Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, da Sie so zahlreich erschienen sind -
unter Druck setzen lassen, in die Tarifautonomie einzugreifen. Sie ist und bleibt für uns ein hohes Gut. Auch wenn Sie Interesse daran haben, werden wir da nicht eingreifen.
- Sie können da gern lachen.
Es sind wirklich verrückte Zeiten: Wir als Gesetzgeber beschließen bei der Lohnfortzahlung eine Regelung, die nicht in Tarifverträge eingreift; und die Arbeitgeber gehen hin und machen was anderes daraus.
Es ist wirklich eine verrückte Zeit, wenn uns die Demonstrationen des DGB beeindrucken sollen, während wir Gesetze machen. Ich finde, es muß jeder an seiner Stelle seine Pflicht tun: als Arbeitgebervertreter, als Arbeitnehmervertreter und wir als Gesetzgeber.
- Das Thema ist nicht verfehlt; das gehört wirklich in den Zusammenhang.
Die Fakten sprechen eine klare Sprache; ich will die Zahlen noch mal nennen. Derzeit sind rund 200 000 Arbeiter ausländischer Niedriglohnfirmen auf Deutschlands Baustellen tätig. Zugleich sind zirka 180 000, 190 000 heimische Bauarbeiter ohne Beschäftigung. Das ist das Problem. Darum geht es. Zugleich sind immer häufiger deutsche Betriebe chancenlos in ihren Kalkulationen. Wir wissen das alles. Wir haben das mehrfach miteinander diskutiert.
Es steht fest: Im Miteinander der Tarifparteien und des Gesetzgebers müssen wir eine Lösung finden. Der Gesetzgeber hat seine Pflicht getan. Wir haben das Entsendegesetz verabschiedet. Bereits seit März 1996 konnten die Regelungen geschaffen werden. Jetzt sind die Tarifparteien am Werk. Sie müssen die Lösung finden. Wir wollen sie nicht aus der Verantwortung herausnehmen. Das ist gegen die Tarifautonomie.
- Natürlich, Herr Büttner, auch die Tarifparteien haben sich bewegt. Im Baugewerbe haben sie zweimal miteinander verhandelt. Im Mai haben sie Niedriglöhne von 18,60 DM für West- und 17,10 DM für Ostdeutschland vereinbart. Nachdem man sich im Tarifausschuß darauf nicht einigen konnte, haben sie sich noch einmal zusammengesetzt. Da ist doch unwahrscheinlich viel Bewegung gewesen. Haben wir das alles nicht mitbekommen? Die Einigung schreibt jetzt Mindestlöhne von 17 DM im Westen und 15,64 DM im Osten fest. Diese Bewegung müssen wir doch einfach zur Kenntnis nehmen.
Wir stehen jetzt wirklich vor der letzten Hürde. Auch ich bedauere, daß das am Mittwoch nicht geklappt hat. Man hat sich auf den 25. Oktober vertagt. Die dazwischenliegende Zeit muß genutzt werden. Es geht wohl um die Dauer der Befristung. Das ist das Problem, das die Tarifparteien miteinander zu klären haben.
Es geht, wenn ich das richtig sehe,
um folgendes: Zum einen wird der Standpunkt vertreten, man solle das Entsendegesetz voll ausnutzen,
Wolfgang Meckelburg
zum anderen steht der Vorschlag im Raum, es bei der Befristung bis zum 31. Mai nächsten Jahres zu belassen, und schließlich wird auch - das kann man ja nachlesen - der 31. Dezember 1997 als Termin genannt. Wir sollten den Mut haben, den Tarifparteien auch diesen letzten Schritt, eine Einigung über die Befristung der Laufzeit zu finden, zu überlassen. Wir wollen keine gesetzlichen Mindestlöhne; wir wollen da nicht eingreifen, sondern eine Lösung, die wirklich hilft und von den Tarifparteien ohne Zwang vereinbart ist.
Meine Damen und Herren, wir von der Politik erwarten - ich sage das in aller Deutlichkeit -, daß sich die Tarifparteien bewegen, daß sie am 25. Oktober eine Lösung finden. Dies darf keine unendliche Geschichte werden - um der Arbeitslosen willen, damit aus deutschen Arbeitslosen Arbeitnehmer werden. Sie kennen die Zahlen: Ein Unterschied von 100 000 Arbeitslosen bedeutet für die Sozialkassen Mehr- oder Minderausgaben in Höhe von 3 Milliarden DM. Auch deshalb müssen wir an dieser Frage Interesse haben.
Wir erwarten, daß das keine unendliche Geschichte wird, sondern daß die Verhandlungen am 25. Oktober zu einer Erfolgsstory werden, damit aus deutschen Arbeitslosen deutsche Bauarbeitnehmer werden und wir ein Stückchen vorankommen auf dem Weg der Besserung auf dem Arbeitsmarkt.
Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle hier im Haus wollen das gemeinsame Europa bauen. Wir alle wissen, daß dieser Weg steinig ist und daß in vielen Ländern die Zustimmung in der Bevölkerung zum gemeinsamen Europa zu schwinden droht.
Es war ein großer Schritt, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bei der Arbeitsplatzwahl in Europa einzuführen. Es war ein Schritt auf dem Weg zur Unionsbürgerschaft. Nun ist es geradezu verheerend, daß diese Freizügigkeit zu großen Spannungen unter den Menschen führt, die um ihre Arbeitsplätze, um ihr Einkommen und um ihre soziale Sicherheit kämpfen.
Wir alle kennen die dramatischen Verhältnisse auf den Baustellen. Es ist darüber hier im Haus und in den Ausschüssen viel gesprochen worden. Die Tatsache, daß ausländische Arbeitnehmer von deutschen Arbeitnehmern zunehmend als Bedrohung empfunden werden, weil sie dazu benutzt werden, das gesamte Lohn- und Sozialgefüge aufzuweichen, muß uns hier im Parlament in höchste Alarmstimmung versetzen. Der Verweis auf die Tarifautonomie hilft nicht, wenn ein britischer Bauarbeiter angegriffen und zum Querschnittsgelähmten gemacht wird.
Begreifen Sie doch, meine Damen und Herren: Das lange Zuwarten, zunächst der europäischen Instanzen und dann der nationalen Ebene, hat dazu geführt, daß unter vielen Menschen zunehmend die Stimmung herrscht, Europa sei eher eine Bedrohung als ein Gewinn. Das muß uns hier im Parlament beschäftigen.
Ich frage mich wirklich, was sich die Bundesvereinigung der Arbeitgeber bei ihrem riskanten Spiel denkt, indem sie seit Monaten eine einvernehmliche Lösung in der Baubranche blockiert. Die BDA betreibt ihre Art von Standortpolitik auf Kosten der europäischen Sache.
In solch einem Fall hätte es die Verantwortung der Regierung schon lange erfordert, diesem Treiben nicht einfach zuzusehen, sondern das Gesetz des Handelns wieder an sich zu ziehen.
Es ist bereits vor einem Jahr erklärt worden, daß der von der Bundesregierung verabschiedete Entwurf einer Entsenderichtlinie nicht greifen würde, denn die BDA hatte bereits im vorhinein erklärt, daß sie sich dem Gesetz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" widersetzen würde.
Wider besseres Wissen haben Sie trotzdem ein Placebo-Gesetz gemacht und dabei die gefährliche Folge in Kauf genommen, daß die Spaltung der Arbeitnehmer auf dem Bau in ausländische und deutsche Konkurrenten immer rabiater wird.
Die Gewerkschaften haben sich trotz der offenen Provokation durch die BDA sehr verantwortlich verhalten. Sie haben den Schlichterspruch angenommen, obwohl ihnen das wahrlich nicht leichtgefallen ist. Es hat den Arbeitgebern immer noch nicht gereicht; jetzt soll die Vereinbarung zeitlich so gestutzt werden, daß damit praktisch die nächste Runde eröffnet wird, bevor die Vereinbarung greifen kann.
Nicht einmal die Unternehmerseite im Baubereich kann mit dieser Strategie zufrieden sein; denn das Preisdumping treibt zwangsläufig die Betriebe in den Konkurs, die nach wie vor ihre Arbeiter tariflich entlohnen. Wenn Sie also schon die Arbeitnehmer nicht schützen wollen, dann sollten Sie doch wenigstens so klug sein, die mittelständischen Unternehmen zu schützen, für die das Gesetz des gleichen Lohns für gleiche Arbeit eine unverzichtbare Voraussetzung ist, um im gnadenlosen Konkurrenzkampf bestehen zu können.
Es gibt eben zwei Seiten der Tarifverträge, und sie dienen auch der Unternehmerseite.
Wie lange wollen Sie die Strategie des Zuwartens noch durchhalten? Sie wissen, was zu tun ist. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch; das ist soeben von Frau Kollegin Onur erwähnt worden. Sie haben es abgelehnt, die ortsüblichen Tarifverträge zum Maßstab für Beschäftigung aller am gleichen Ort zu ma-
Marieluise Beck
chen, egal ob deutsch oder nicht deutsch. So bleibt nur der Vorschlag, daß der Bundesarbeitsminister in Abstimmung mit dem Bundesrat zur entscheidenden Instanz in solchen Patt- und Konfliktsituationen im Tarifausschuß werden muß.
Das ist eine Notlösung - ich gebe es zu -, aber Notlösungen sind besser als keine Lösungen, vor allen Dingen in so prekären Fragen.
Ich betone noch einmal: Wir alle wollen ein gemeinsames Europa. Wir haben die Pflicht und Schuldigkeit, aus dem Parlament heraus den schwierigen Weg des Zusammenführens der Menschen, der mit vielen Brüchen versehen ist - wir wissen das; es gibt nicht die reine Lehre -, vorzubereiten.
Der nächste Redner ist der Kollege Uwe Lühr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die F.D.P.-Fraktion heute eine Aktuelle Stunde zur Haltung der Gewerkschaften zu Beratungen des Tarifausschusses über Mindestlöhne im Baugewerbe beantragt hätte, dann wäre sie höchstwahrscheinlich vom hochwerten Präsidium abgelehnt worden. Wenn nicht, wäre zumindest von den Rednern der Opposition das Menetekel „Angriff auf die Tarifautonomie" beschworen worden.
Eine Aktuelle Stunde zur Haltung der Bundesregierung zu Beratungen des Tarifausschusses über Mindestlöhne im Baugewerbe ist eindeutig der untaugliche Versuch, Schlagzeilen in Richtung Bundesregierung zu produzieren und davon abzulenken, daß es die Gewerkschaften sind, die die Vertagung der Entscheidung zu verantworten haben, und nicht die Bundesregierung.
Die Gewerkschaften wollten nicht Gefahr laufen, daß mit Ablauf des Tarifvertrags nach objektiver Bewertung der Fakten festgestellt werden muß, daß die von ihnen geforderte gesetzliche Regelung eventuell schädliche Wirkungen hatte. Allen, die in der Vergangenheit mit dem Thema Entsendegesetz oder Entsenderichtlinie befaßt waren, ist bekannt, daß die F.D.P.-Bundestagsfraktion beides, einschließlich der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, für einen ordnungspolitischen Verstoß allererster Güte vor allem gegen Europa hält.
Angewandt auf das Territorium der fünf neuen Bundesländer sind ostdeutsche Bauunternehmen faktisch vom Wettbewerb in der Bundesrepublik ausgeschlossen. Die Regel „gleiche Arbeit für gleichen Lohn am gleichen Ort" können ostdeutsche Betriebe in Westdeutschland aus allseits bekannten Gründen nicht einhalten.
Wenn ein Mindestlohn allgemeinverbindlich wird, der die durchschnittlich in den neuen Bundesländern gezahlten Baulöhne übersteigt, sind deutsche Arbeitnehmer die Opfer, weil viele Betriebe in Ostdeutschland in die roten Zahlen fahren werden. Mit dem Entsendegesetz haben wir die konkrete Ausgestaltung in die Hände der Tarifpartner zurückgelegt. Diese Tarifpartner konnten sich nicht einigen, weil seitens der Gewerkschaften noch Denkbedarf bestand. Sie sind noch in Verhandlungen. Ich bin der Meinung, der Bundestag sollte in den Prozeß des Nachdenkens nicht störend eingreifen.
Lieber Herr Kollege Lühr, auch Ihre Vertreter im Ältestenrat haben die Möglichkeit, dort noch einmal die Aktuelle Stunde anzufragen. Ich werde dann genauso wie gestern die Kriterien für Ablehnung oder Zustimmung noch einmal erläutern.
Als nächste hat Dr. Heidi Knake-Werner das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Entsendegesetz ist für die Bauwirtschaft ein Überlebensthema. Das hat der Bundesarbeitsminister vor knapp einem Jahr hier im Plenum erklärt. Herr Bundesarbeitsminister, Sie hatten recht. Aber gerade weil Sie recht hatten, müssen Sie sich natürlich heute tragen lassen, warum Sie die Bauwirtschaft bei diesem Überlebensthema im Regen stehen lassen, warum Sie zulassen, daß das gigantische Lohndumping weiter stattfinden kann, daß massenhaft ausländische Bauarbeiter auf deutschen Baustellen zu Hungerlöhnen beschäftigt werden, hunderttausende arbeitslose Bauarbeiter ohne Perspektive bleiben und die Bauwirtschaft weiter in einer tiefen Krise steckt.
Sieben Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes und nach Monaten zähen Ringens um den Mindestlohn durch die Bautarifparteien hat nun die BDA die Dreistigkeit, erneut die Allgemeinverbindlichkeitserklärung für Mindestlöhne auf dem Bau zu verhindern, und das, obwohl Sie, Herr Minister, seit über einem Jahr an die Arbeitgeber appellieren, der Allgemeinverbindlichkeit im Tarifausschuß zuzustimmen.
Ich möchte Sie noch einmal erinnern: Sie sagten damals, ein Verband, der ein in Bedrängnis geratenes Mitglied, die Bauwirtschaft, im Stich läßt, muß sich nicht wundern, wenn ihm die Mitglieder davonlaufen. Sie hofften, daß auch der Dachverband der Arbeitgeber versteht, worum es geht.
Ich denke, die Arbeitgeberfunktionäre wissen genau, worum es geht. Sie demonstrieren Ihnen scham-
Dr. Heidi Knake-Werner
los, daß ihnen Ihre Deregulierungspolitik längst nicht weit genug geht. Marktwidrige Verkrustungen aufbrechen, so heißt das bei Otto Schlecht im „Handelsblatt" .
Wie lange noch wollen Sie sich von den Arbeitgebern an der Nase herumführen lassen? Die Blockadehaltung der BDA zeigt, daß es von Anfang an völlig falsch war, anstelle der Ortsüblichkeit der Löhne den Weg der Allgemeinverbindlichkeit ins Gesetz zu schreiben. Die Arbeitgeber haben sich immer wieder neue Gründe einfallen lassen, um das Entsendegesetz zu stoppen. Erst war es die Höhe der Mindestlöhne. Es ist wohl nur der Kompromißbereitschaft der IG Bau geschuldet, daß sich die Tarifpartner nach der ursprünglichen Vereinbarung nun auf einen deutlich niedrigeren Mindestlohn verständigt haben. Mit 17 DM West und 15,64 DM Ost beträgt dieser Mindestlohn übrigens nur zirka 80 Prozent der jeweiligen untersten Lohnstufe am Bau. Er bewegt sich schon unterhalb der Schmerzgrenze.
Auch Sie, Herr Minister, werden das so sehen; denn in Ihrer Rede am 30. November 1995 sind Sie davon ausgegangen, daß die unterste Lohngruppe als tarifvertraglicher Mindestlohn festgeschrieben wird.
- Na und? Ich stelle es nur fest, Herr Graf.
Aber selbst mit dieser Einigung auf unterstem Niveau kann sich die BDA nicht abfinden. Nun will sie unbedingt ohne jeden sachlichen Grund eine Befristung auf acht Monate; denn das Gesetz ist unsinnigerweise sowieso bis 1999 befristet. Aber auch hier zeigt sich die IG Bau kompromißbereit. Sie hat angeboten, eine Befristung bis Ende 1997 einzugehen.
Die Gewerkschaften haben also eine Menge Kröten geschluckt, damit das Entsendegesetz im Interesse der ausländischen Arbeiter, aber auch der vielen arbeitslosen inländischen Bauarbeiter endlich wirksam werde.
Auch der Bauwirtschaft ist natürlich immer noch nicht geholfen. Lohn- und Sozialdumping bestehen fort. Jetzt ist Handeln angesagt. Die Zeit drängt. Es ist verantwortungslos, darauf zu warten, daß die Arbeitgeber ihre eigene Klientel weiter in die Konkurse treiben.
Im Falle des Entsendegesetzes sind jedenfalls die Tarifpartner im Baubereich brennend an einer Lösung interessiert, um das Entsendegesetz zu einem wirksamen Instrument gegen Lohndumping und Arbeitslosigkeit werden zu lassen.
Die Regierungskoalition kann das Heft des Handelns zurückerobern. Es ist hier schon angeführt worden, wo der Lösungsweg liegt: Sie können dem Gesetzentwurf des Bundesrates zustimmen. Sie hätten dann die Möglichkeit, deutlich zu machen, daß es Ihnen mit einem Entsendegesetz im Interesse der Beschäftigten auf dem Bau wirklich ernst ist. Tun Sie also endlich etwas, damit der vernünftige Grundsatz
„gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" endlich Wirklichkeit wird.
Danke schön.
Es redet jetzt der Minister Dr. Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzgeber hat im Februar mit großer Mehrheit das Entsendegesetz verabschiedet. Deutschland hat sich in Europa für die Entsenderichtlinie eingesetzt und sie auch durchgesetzt. Sie gilt seit September. Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht.
Für die Umsetzung sind aus guten Gründen die Sozialpartner zuständig. Jetzt hat der Tarifausschuß das Wort. Seine Verhandlungen sind unterbrochen, nicht abgebrochen. Die nächste Sitzung findet am 25. Oktober statt. Es entspricht einer Grundregel der Tarifautonomie, jetzt nicht in diese Verhandlungen einzugreifen.
Derjenige, dem es um die Tarifautonomie geht, kann jetzt nicht nach einer staatlichen Schlichtung rufen.
Mit staatlichen Schlichtungen haben Gewerkschaften und Arbeitgeber in der Weimarer Zeit schlechte Erfahrungen gemacht. Was Sie vorschlagen, ist nur eine Variante der staatlichen Schlichtung. Die Variante besteht darin, daß der Staat den Stichentscheid gibt. Das ist, wie die Weimarer Erfahrungen gezeigt haben
- doch -, eine Flucht aus der Verantwortung der Sozialpartner. Sie rufen nach dem Staat, wo die Sozialpartner und die Tarifpartner ihre Verantwortung haben. Damit ist dieser Ruf eine Unterminierung der Tarifautonomie, die ich zurückweise.
Wir wollen keine staatlich festgesetzten Mindestlöhne; das haben Sie festgestellt. Wir wollen allerdings auch nicht, daß im Konflikt der Staat entscheidet, welcher Lohn gelten soll, weil das nur eine andere Form von staatlicher Entscheidung ist.
Ich fordere die Sozialpartner auf, in der Kompromißsuche nicht zu versagen. Das wäre schlecht für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer einer um das Überleben kämpfenden Branche. Es wäre schlecht für die Sozialpartnerschaft; wenn ihre Regelungsfä-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
higkeit abnimmt, dann wird der Ruf nach dem Staat stärker. Und es wäre schlecht für Europa.
Wenn gesagt wird, das Problem müsse durch Wettbewerb und Lohnanpassung gelöst werden, dann stelle ich fest: Einem deutschen Bauarbeiter in Berlin ist es nicht zumutbar, für den Stundenlohn eines Portugiesen zu arbeiten, weil er in Berlin mit diesem Stundenlohn seine Familie nicht ernähren kann. Das unterscheidet ihn von seinem portugiesischen Kollegen in Lissabon.
Er könnte nur dann mit diesem Stundenlohn leben,
wenn in Berlin portugiesische Preise gelten würden.
Dann wäre diese Empfehlung richtig; so ist sie falsch.
Auch ein anderer Vergleich funktioniert nicht: Firmen, die Produkte in Billiglohnländern herstellen und nach hier importieren, nehmen nicht die deutsche Infrastruktur in Anspruch. Wer hier arbeitet und produziert, muß sich an die Spielregeln halten, die hier gelten. Auch das gehört zu Europa. Niemand würde sagen, ein englischer Autofahrer dürfte in Berlin auf der linken Straßenseite fahren, weil er auch in London auf der linken Straßenseite fährt. Wer hier produziert, muß sich an die Arbeits- und die Lohnbedingungen in Deutschland halten.
Wem es um Europa, wem es um die Tarifautonomie geht, wer es gut meint mit der Sozialpartnerschaft, der kann nur ein großes Interesse daran haben, daß die Tarifpartner zur Lösung fähig sind. Wer diese verweigert, arbeitet den staatlichen Schlichtern in die Hände. Auf dieser Seite werden Sie mich nie und nimmer finden.
Das Wort hat der Kollege Peter Dreßen.
Herr Bundesarbeitsminister, das Gesetz, das wir hier im Bundestag verabschiedet haben, ist jetzt 225 Tage alt. Im Mai haben sich die Tarifparteien, nämlich die IG Bau und der Arbeitgeberverband Bau, auf einen Lohn geeinigt. Das fanden aber gewisse Herren so nicht in Ordnung. Dann hat man sich erneut zusammengesetzt, war sich wieder einig - das war im Juni oder im Juli -, und jetzt ist das auch wieder nicht in Ordnung. Ich habe Verständnis dafür, daß die Gewerkschaften jetzt gesagt haben: Eine Befristung bis Mai ist für uns unannehmbar. Sie alle wissen, daß im Bau die Winterpause kommt und daß Sie das abziehen müssen. Was bleibt denn dann noch übrig?
Ich meine, wir haben gültige Tarifverträge gehabt, nur haben andere in die Suppe gespuckt. Das finde ich, gelinde gesagt, eine Unmöglichkeit.
Kolleginnen und Kollegen, was wir hier erleben, ist, finde ich, ein Trauerspiel auf dem Rücken von 180 540 arbeitslos registrierten Arbeitnehmern aus den Bauberufen. Hier spielen die Arbeitgeber ein doppeltes Spiel. Der eigentliche Skandal, Herr Bundesarbeitsminister, ist, daß die Arbeitgeber dies nur tun können, weil die Bundesregierung nicht in der Lage ist, den Kumpels am Bau zu helfen. - Nein, das ist sogar falsch ausgedrückt. Sie wollen offenbar gar nicht helfen, Herr Bundesarbeitsminister.
Wären Sie den Vorstellungen der SPD gefolgt, dann hätten heute 130 000, vielleicht auch nur 100 000, am Bau Arbeit und Brot, die Sozialkassen wären um 3 Milliarden DM entlastet, und ein paar hundert Millionen wären auch noch bei Herrn Waigel gelandet.
Wissen Sie eigentlich, was heute am Bau los ist? Die Arbeitslosenzahlen in den Bauberufen sind vom dritten Quartal 1995 auf das dritte Quartal 1996 in den alten Ländern um 33,1 Prozent gestiegen, und in den neuen Ländern waren es sogar 73,5 Prozent. In allen anderen Bereichen ist der Zuwachs unter 7 Prozent, in den neuen Ländern unter 10 Prozent geblieben.
Nun mag ja sicherlich einiges auf die Konjunktur zurückzuführen sein. Aber der größte Schub kommt eben durch die Subunternehmer, die ihre Arbeitskräfte leider immer noch - zum größten Teil legal - aus den Niedriglohnländern beziehen. Begreifen Sie doch endlich, daß wir hier Rahmenbedingungen brauchen, die unseren Bauarbeitern vor Ort effektiv helfen, und das um so mehr, weil Sie sich auf die Arbeitgeberverbände eben nicht verlassen können. Das war auch unser großer Irrtum. Sie haben ja recht: Wir haben den Gesetzen im Bundestag zugestimmt, und zwar weil Sie uns damals erklärt haben: Die werden sich schon einigen, die kommen zu Potte. Jetzt sehen wir, wohin wir mit Ihrer Aussage gekommen sind.
Sie können Arbeitskräfte nicht dem Spiel des freien Marktes überlassen. Hier irrt der Herr Staatssekretär a. D. Otto Schlecht, denn Arbeitskräfte sind keine Ware wie Bananen oder Maschinen.
Deutsche Arbeitnehmer müssen hier in Deutschland leben. Sie müssen hier die hohen Mieten bezahlen. Sie müssen Dank Ihrer Gesundheitspolitik die hohen Kosten für das Gesundheitswesen aufbringen. Ein portugiesischer Arbeitnehmer, ein polnischer oder ein englischer Arbeiter, der unter zum Teil unmenschlichen Wohnverhältnissen für fünf bis zehn Mark pro Stunde malochen geht, mag das ja drei Monate aushalten. Aber wollen Sie dies allen Ernstes unseren Bauarbeitern zumuten? Wo kommt denn da
Peter Dreßen
Ihre Familienpolitik zum Tragen? Im Krankheitsfalle gehen diese ausländischen Arbeitnehmer nach Hause und werden dort - man höre und staune - zum Teil kostenlos verarztet.
Wie wollen Sie die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen, wenn Sie nicht einmal bereit sind, minimale Vorkehrungen zum Schutz der deutschen Arbeitnehmer zu treffen? Wie wollen Sie denn unsere Finanzen in Ordnung bringen, wenn Sie nicht bereit sind, diesem Wildwuchs zu begegnen? Wie wollen Sie denn der Politikverdrossenheit der deutschen Bauarbeiter entgegentreten, wenn Sie hier keinen Handlungsbedarf sehen, Herr Minister? Sie lassen sich vom Bund der deutschen Arbeitgeber und anderen Arbeitgeberverbänden wie ein Ochs am Nasenring durch die Manege führen. Das ist der eigentliche Skandal!
Handeln Sie endlich! Nehmen Sie unseren Gesetzentwurf zur Hand! Er zeigt Ihnen Lösungen auf. Beenden Sie im Interesse der 180 000 deutschen arbeitslosen Arbeitnehmer aus dem Baubereich dieses unwürdige Schauspiel, Herr Minister!
Das Wort hat der Kollege Reinhard Göhner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tarifausschuß berät über die Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrages, bei dem die Tarifpartner - die Gewerkschaften, die IG Bau, und die Bauwirtschaft, Industrie und Handwerk - vereinbart haben, daß er zum 31. Mai 1997 kündbar ist.
Diese Frist, die die Tarifpartner verbindlich vereinbart haben, ist nicht willkürlich, sondern sachgerecht. Sie ermöglicht nämlich, daß die Tarifpartner im Frühjahr im Lichte der konjunkturellen und strukturellen Entwicklung sowie der Marktverhältnisse neu über diese Frage verhandeln können, so wie sie es in diesem Jahr zweimal gemacht haben.
Deshalb möchte ich die Kritik, die hier an diesem Termin 31. Mai vorgebracht worden ist, doch einmal auf die sachliche Frage zurückführen, ob uns nicht eine Erprobungszeit, die sich aufgrund dieses von beiden Tarifpartnern fest vereinbarten Termins ergeben könnte, wertvolle Erfahrungen dafür liefern könnte, wie dieses Entsendegesetz wirkt, wie es kontrollierbar ist.
Ich denke, daß diese Zeit schon die Möglichkeit geben würde, gerade in der Phase, in der nicht so viele Entsendearbeitnehmer in Deutschland sind, zum Beispiel zwischen November und Februar -
es ist ja nicht so, daß keiner hier ist, das können Sie in Deutschland auf der Großbaustelle Berlin sehr gut beobachten -, die Kontrollmechanismen, die wir erstmals anwenden müßten, doch besonders gut zu überprüfen,
um im Lichte dieser Erfahrungen dann, wenn wieder mehr Entsendearbeitnehmer hier sind, sehen zu können, wie das Gesetz greift,
und dann über eine neue Entwicklung zu beraten, die sich im Lichte von Marktverhältnissen und im Lichte der Entwicklung von Tariflöhnen in anderen Bereichen ergeben könnte.
Ich bedaure die Vertagung des Tarifausschusses, aber der Tarifausschuß ist autonom, und wenn eine Seite um Bedenkzeit bittet, muß man das akzeptieren.
Aber, meine Damen und Herren, diese Vertagung bedeutet natürlich gerade aus der Sicht derer, die sagen, eine Frist von 8 Monaten ist zu kurz, daß zweieinhalb Wochen verloren werden, und zwar in einer Zeit, wo eben sehr viele Entsendearbeitnehmer hier sind.
Ich finde, daß die Beratungen des Tarifausschusses unter Berücksichtigung der von den Tarifvertragsparteien selbst gesetzten Kündigungsfrist fortgesetzt werden sollten,
und ich hoffe, daß der vorliegende Kompromißvorschlag auch verabschiedet wird,
damit wir tatsächlich einmal erproben können, ob das Gesetz wirklich funktioniert und ob die Kontrollmöglichkeiten hinreichend sind.
Deshalb wäre es vernünftig, unter Berücksichtigung dieser vereinbarten Kündigungsfrist vom 31. Mai jetzt durch einen solchen Kompromiß die Erprobung zu ermöglichen.
Das Wort hat der Kollege Ernst Schwanhold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ja schon ein eigenartiges Spiel, daß der Herr Göhner als designierter Hauptgeschäftsführer dieses Verbandes
Ernst Schwanhold
und gleichzeitig Bundestagsabgeordneter Aussagen dazu macht, daß täglich Entsendearbeitnehmer angeworben werden müssen, damit mittelständische Bauunternehmen überleben können, und daß dies für weitere Arbeitslosigkeit sorgt.
Herr Göhner, es ist nicht die Frage, ob wir 8 Monate Erprobungszeit benötigen. Die Frage ist, was wir möglichst schnell erledigen, um mittelständischen Bauunternehmen das Überleben zu garantieren und sie nicht dazu zu zwingen, wettbewerbsfähig zu sein mit denen, die sich zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Aufträge sichern.
Das verhindern Sie. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Verantwortung als Bundestagsabgeordneter wahrnehmen würden. Sie sind nicht nur von der BDA gewählt, für die Sie demnächst Ihren Dienst als Hauptgeschäftsführer antreten, sondern auch von Bauunternehmern aus Ostwestfalen und von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Es fügt sich ja ganz gut, daß zur Zeit Wirtschaftsjunioren ein Praktikum im Deutschen Bundestag durchführen. Bei mir im Büro ist der Geschäftsführer eines mittelständischen Bauunternehmens mit 170 Beschäftigten aus Lippe. Natürlich habe ich gestern mit ihm über die Situation gesprochen. Er sagt: In der Region Lippe komme ich mit meinen Aufträgen und den Ausschreibungen einigermaßen zurecht, aber damit kann ich meine 170 Mitarbeiter nicht alleine beschäftigen, weil von den Kommunen keine öffentlichen Aufträge vergeben werden, also muß ich mich auch in anderen umkämpften Märkten bewerben; eigentlich will ich gar niemanden aus anderen Ländern beschäftigen, bin aber gezwungen, dieses Spiel mitzumachen, weil ich sonst keinen Auftrag mehr bekomme und vom Markt verschwinde.
Diese Situation befördern Sie und sorgen damit für Arbeitslosigkeit bei deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
In diesem Falle, lieber Herr Göhner, fände ich einen klärenden Satz zu sich selbst, zu Ihrer eigenen Situation, hilfreicher, als hier auf irgendeinen Zeitpunkt im nächsten Jahr zu verweisen und billigend in Kauf zu nehmen, daß andere Steuer- und Beitragszahler das soziale System mitzufinanzieren haben. Sie gefährden ,damit die Wettbewerbsfähigkeit anderer Arbeitsplätze und setzen sie einem Wettbewerbsdruck aus, weil sie höhere Beiträge für den Sozialtransfer und die Sicherungssysteme derer zu leisten haben, die nicht ihren Beitrag leisten. Ich halte das für außerordentlich fahrlässig.
Zweite Bemerkung: Wenn 100 000 Arbeitslose das Sozialversicherungssystem an Einnahmeausfällen insgesamt 4 Milliarden DM kosten, dann haben wir verdammt noch mal die Pflicht - wenn ich Ihre Sonntagsreden und die Neujahrsreden des Bundeskanzlers ernst nehme, daß die Arbeitslosigkeit das drängendste Problem ist -, alles zu tun, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Wir wissen ganz genau - Graf Lambsdorff spricht schon von eher 5 Millionen Arbeitslosen im Laufe des nächsten Jahres -, daß wir hier einen Ansatzpunkt haben, um 100 000 Menschen Arbeit zu verschaffen. Wir sollten diese Übergangsfrist so nutzen, daß die notwendigen Anpassungsprozesse - ich will sie ja gar nicht verschweigen - umgesetzt werden, damit wir die Sozialsysteme entlasten. Wir könnten da manches bewegen.
Ich will noch eine Bemerkung zu der Situation auf den Baustellen machen, die dadurch entsteht, daß dort Menschen ganz bewußt gegeneinander ausgespielt werden. Sie sorgen dafür, daß der Frieden in den Betrieben verlorengeht. Von diesem Frieden leben aber die Menschen, die in der mittelständischen Wirtschaft beschäftigt sind, die Unternehmer und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es hat ja System: Erst kündigen Sie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und sorgen für große Aufregung, auch im Baugewerbe, gleichzeitig wird angekündigt, daß es noch weitere Einsparmaßnahmen geben wird, und dann stellt sich der Bundesarbeitsminister hier her und sagt: Wir greifen nicht in die Tarifautonomie ein. Hohntriefend und unter Mißachtung der Arbeitslosen, die gerne arbeiten möchten, fügt er hinzu: Die Sozialversicherungssysteme sind nicht finanzierbar. Herr Arbeitsminister, klären Sie doch mal mit Ihrem Koalitionär Graf Lambsdorff, welche Position diese Koalition einnimmt, und nehmen Sie das Mitglied Ihrer Fraktion Göhner in die Verantwortung, als Hauptgeschäftsführer dafür zu sorgen, daß wir eine möglichst hohe Beschäftigung im Baubereich erreichen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Schemken.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns doch sicherlich um eines bemühen - das gilt für alle Seiten -: daß Kolleginnen und Kollegen, die eine Position wahrnehmen und hier auch vertreten, nicht desavouiert werden.
Ich halte dies nicht für gut. Erst wird gefordert, daß Herr Göhner Flagge zeigen soll, dann nimmt er hier Stellung und wird daraufhin - das finde ich nicht gut - desavouiert.
- Das hat er nicht getan.
Das gleiche Spiel treiben Sie mit dem Arbeitsminister. Wir haben uns auf europäischer Ebene bemüht - das wissen Sie sehr wohl -, mit einem Entsendegesetz Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, daß gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsplatz unter
Heinz Schemken
gleichen Bedingungen auch gleich bewertet wird. Diese Situation ist in der Bauwirtschaft im Moment noch die Ausnahme.
Das Produkt am Markt kann abhängig von der Produktionsstätte und dem Produktionsstandort sehr unterschiedlich bewertet werden. Aber am Arbeitsplatz selbst, an der Baustelle - der Minister brachte soeben das klassische Beispiel Berlin - darf es keine unterschiedliche Bewertung der Arbeit geben. Der Minister und die Bundesregierung haben gehandelt. Wir haben miteinander das Entsendegesetz auf nationaler Ebene eingeführt, aber wir können nicht innerhalb dieses Prozesses die Tarifpartnerschaft außer Kraft setzen. Das kann doch wohl nicht angehen!
Dann würden wir so handeln, wie wir es auf der anderen Seite beklagen: daß nämlich die Bauarbeiter aus anderen europäischen Ländern, die zu Dumpinglöhnen auf deutschen Baustellen beschäftigt werden, nicht geschützt sind.
Unsere Tarifpartnerschaft ist doch so angelegt, daß die Tarifpartner miteinander vernünftige Konditionen aushandeln, daß die Tarifpartner miteinander für vernünftige Arbeitsbedingungen Sorge tragen. Dies ist doch hier geschehen!
Wenn die Tarifpartner in Verhandlungen eintreten und die eine Seite die Allgemeinverbindlichkeit des Entsendegesetzes und damit die Höhe der Löhne nicht akzeptiert, dann bedauern wir dies. Wir bedauern zutiefst, daß wegen dieses Konfliktes zwischen den Tarifparteien das Entsendegesetz - auch der Termin für das Inkrafttreten spielt eine Rolle - noch nicht in Kraft gesetzt ist. Aber das können Sie doch nicht der Bundesregierung anlasten.
Das dürfen Sie nicht tun, wenn Sie ehrlichen Herzens - ich sage dies offen - um die mittlerweile 180 000 arbeitslosen Bauarbeiter bemüht sind. In Berlin ist die Situation sicherlich so, daß dort 30 000 Arbeitslose Arbeit auf den Baustellen haben könnten, wenn die Lage im Wettbewerb besser wäre.
Uns geht es darum, daß die im Entsendegesetz enthaltenen Bedingungen erfüllt werden. Uns geht es darum, daß dies möglichst bald geschieht. Wir können von hier aus nur appellieren, daß am 25. Oktober Einsicht einkehrt und daß die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften miteinander zu einer vernünftigen Regelung kommen. Ob diese Regelung nun bis zum 31. Mai oder bis zum 31. Dezember 1997 gilt, ist nicht so entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, daß jetzt gehandelt wird, damit der beschäftigungslose Bauarbeiter - ich sage das bewußt kurz vor dem Einbruch des Winters - Arbeit bekommt, damit zugleich Handwerker und Mittelstand - mit ihm haben wir es vor Ort auch zu tun - zu vernünftigen Bedingungen und im echten Wettbewerb untereinander um Aufträge am Bau konkurrieren können. Das ist das Entscheidende.
Wir können uns innerhalb dieses Prozesses unmöglich in die Tarifautonomie einmischen und damit Löhne und Fristen festlegen und existentielle Bereiche der Tarifhoheit regeln. Dies ist nicht möglich; es wäre ein dramatischer Vorgang, den wir alle nicht wollen. Wir würden dadurch den Tarifpartnern die Verantwortung entziehen und den Bauarbeitern dadurch letzlich etwas vortäuschen. Das sollten wir nicht tun.
Das Problem der Arbeitslosigkeit ist für uns alle gemeinsam eine große Herausforderung. Wir bitten noch einmal die Tarifparteien, daß sie am 25. Oktober zu einer Einigung kommen, damit das Entsendegesetz, das hier beschlossen worden ist, angewendet wird.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Schemken, Sie haben gerade formuliert: Wir haben uns bemüht. Ich sage: Sich zu bemühen reicht nicht; zum Schutz der Bauarbeiter muß gehandelt werden.
Sie haben gesagt: Es muß entschieden werden. Ja, es muß entschieden werden. Aber dieses Parlament muß entscheiden,
weil die BDA das verhindert, was die Tarifvertragsparteien miteinander vereinbart haben.
Es ist Ihnen doch nicht schwergefallen, hinsichtlich der Lohnfortzahlung zu einer Entscheidung zu kommen. Es ist Ihnen nicht schwergefallen, den Kündigungsschutz einzuschränken. Es ist Ihnen nicht schwergefallen, die Altersgrenze der Frauen beim Renteneintritt heraufzusetzen. Dort haben Sie entschieden. Entscheiden Sie auch jetzt!
Was haben denn die vielen Appelle des Bundesarbeitsministers an die BDA gebracht? Nichts. Was hat sich an der Haltung der BDA nach der Verabschiedung des Entsendegesetzes geändert? Nichts. Wir haben es vorhin noch einmal ganz deutlich hören können.
Erika Lotz
Das Entsendegesetz wurde ja immerhin am 8. Februar dieses Jahres verabschiedet. Der Vermittlungsausschuß hat damals erwartet, daß der Bundesarbeitsminister hier vor diesem Parlament eine Erklärung abgibt. Herr Arbeitsminister, Sie haben das getan. Dies war wiederum ein Appell. Wo stehen wir heute? Was hat sich an der Situation der Bauarbeiter geändert? Nichts.
- Herr Meckelburg, zur Tarifautonomie ist zu sagen, daß sich die beiden Tarifvertragsparteien geeinigt haben. Der Schlichterspruch hatte ursprünglich einen Stundenlohn in Westdeutschland in Höhe von 18,60 DM festgelegt. Mittlerweile hat sich die Baugewerkschaft auf einen Stundenlohn von 17,00 DM eingelassen. Die BDA blockiert aber. Darum geht es doch.
Sie von der Regierungskoalition wollten den einfachen Weg der Allgemeinverbindlichkeit gehen und haben alle guten Ratschläge in den Wind geschlagen. Die Leidtragenden sind nicht Sie, sondern die Arbeitnehmer der deutschen Bauindustrie und des Handwerkes sowie die betroffenen Betriebe.
Wären Sie nicht so uneinsichtig, ja verbohrt gewesen und hätten unserem im September 1995 vorgelegten Gesetzentwurf zugestimmt - einem Gesetzentwurf, der den Anspruch auf ortsüblichen Lohn und Arbeitsbedingungen vorsieht -, dann wäre die Situation in der Bauwirtschaft nicht so schlimm, wie sie jetzt ist. Hiermit hätten Sie etwas Konkretes zur Arbeitsplatzsicherung in Deutschland getan.
Doch dank Ihrer Uneinsichtigkeit oder - besser gesagt - weil sich Ihr kleiner Koalitionspartner F.D.P. durchgesetzt hat, nimmt die Arbeitslosigkeit der Bauarbeiter tagtäglich zu.
Die Gewerkschaft hat dem Kompromiß bzw. dem Schlichterspruch zugestimmt und hat sich in ihrer Position noch einmal bewegt. Auch dieser Stundenlohn von 17,00 DM ist den Vertretern der BDA noch zu hoch. Diese spielen sich zum Schiedsrichter der Tarifvertragsparteien auf.
Das steht ihnen nicht zu.
Der BDA ist der Mindestlohn zu hoch. Ich sage dazu: Der Stundenverdienst eines Bauarbeiters kann meines Erachtens nicht mit dem Stundenverdienst eines Metallarbeiters verglichen werden. Vielmehr müssen die Jahreseinkommen miteinander verglichen werden. Bei diesem Vergleich nimmt der Baubereich einen mittleren Platz ein.
Die SPD-Fraktion hat dem Kompromiß des Vermittlungsausschusses am 8. Februar 1996 zugestimmt. Der Regierungsentwurf war ja während der Verhandlungen verbessert worden. Wir haben ihm zugestimmt, weil wir wollten, daß der Beschäftigungsabbau in der Bauwirtschaft wegen der unsauberen Wettbewerbsverzerrungen auf Kosten und zu Lasten der Arbeitnehmer beendet wird.
Aber geht es denn der BDA und der Bundesregierung überhaupt darum? Ich meine: Die BDA nimmt hier die Gelegenheit wahr, die Gewerkschaften zu schwächen. Sie nimmt die Gelegenheit wahr, das bewährte Instrument des Flächentarifvertrages zu zerschlagen. Das sind ihre Ziele.
Herr Blüm, mit Ihrer einfachen Lösung des Problems über eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung haben Sie den Weg dazu geebnet.
Sie leisten mit Ihrer Politik des Zuschauens keinen Beitrag zur Sicherung des Standortes Deutschland. Im Gegenteil: Mit der Abschaffung des Schlechtwettergeldes haben Sie für die Bauarbeiter schon genug Schaden angerichtet.
Handeln Sie jetzt endlich und greifen Sie unser Gesetz auf, damit wieder Chancengleichheit und solider Wettbewerb am Bau bestehen! Die Zeit der Appelle ist längst vorbei.
Danke schön.
Es spricht jetzt der Bundesminister Dr. Klaus Töpfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Situation ist sowohl schwierig als auch bisher einmalig. Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht die Notwendigkeit, über Mindestlöhne nachzudenken. Daß die zuständigen Tarifpartner diese Aufgabe in Angriff genommen haben, verdient zunächst einmal unseren hohen Respekt. Ich halte es für eine bemerkenswerte Tatsache, daß die Tarifpartner am Bau auch in einer Nachverhandlung bemüht gewesen sind, eine Regelung zu finden, die auch den gesamtwirtschaftlichen Überlegungen gerecht wird.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, genauso muß man verstehen, daß das, was in einer Branche gefunden worden ist, im Hinblick darauf zu überprüfen ist, welche Rückwirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft damit verbunden sind. Wenn diese Überlegung bereits als ein Anzeichen für die
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
Nichtdurchsetzung verstanden wird, dann machen wir uns die Sache zu leicht. Nein, ich bin schon der Überzeugung, daß wir sehr genau überprüfen müssen, welche weiteren Konsequenzen daraus resultieren, daß wir an einer solchen Stelle, wenn Tarifpartner ihre Arbeit nicht zu Ende führen können, gleich sagen: Der Staat muß entscheiden. Dies ist der entscheidende Punkt.
Ich sage das auch mit Blick auf die Arbeitgeber: Wenn eine Regelung dort nicht aus Eigenverantwortung heraus mit erarbeitet werden kann, dann werden wir Entwicklungen bekommen, die auch dort nicht als gut angesehen werden können. Man sollte nämlich einmal verfolgen, wie gegenwärtig eine Flucht aus dem Verband stattfindet.
Ich glaube, die Stabilität unserer Volkswirtschaft insgesamt würde sehr darunter leiden, wenn wir das nicht erhalten könnten, was in den letzten Jahrzehnten wirklich auch zum Erfolg der deutschen Wirtschaft beigetragen hat, nämlich die Lösung von Problemen am Arbeitsmarkt durch die Tarifpartner.
Dazu, daß diese Problematik so bedeutsam ist, kommt noch hinzu, daß wir sie in einer Zeit zu lösen haben, in der die Situation am Bauarbeitsmarkt besonders schwierig ist. Der Boom der Wiedervereinigung ist nicht mehr vorhanden. Wir haben im letzten Jahr über 500 Milliarden DM im Baubereich umgesetzt. 500 Milliarden DM - das ist eine einsame Rekordebene. Dies werden wir auf Dauer nicht mehr halten können, mit dem Ergebnis, daß zwei Faktoren gleichzeitig auf den Arbeitsmarkt einwirken: zum einen die Normalisierung der Konjunktur und zum anderen die gleichzeitige Liberalisierung auf dem europäischen Arbeitsmarkt.
Deswegen möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen aus der SPD zurufen: Seien wir vorsichtig mit der Aussage, in dem Moment, in dem man eine Regelung im Tarifausschuß habe, sei die Problematik der Arbeitslosigkeit auf diesem Sektor bewältigt. Sie wecken damit falsche Erwartungen. Erwartungen zu erwecken, die hinterher nicht befriedigt werden können, ist in einer solchen Situation außerordentlich gefährlich.
Ich bin der Überzeugung, daß wir zu einer Lösung kommen müssen.
Ich bin gleichzeitig der festen Überzeugung, daß es nachvollziehbar ist, daß man einen Tarifvertrag, der am 31. Mai ausläuft, nicht in Frage stellen will, daß aber eine Nachwirkung der Regelung über diesen Termin hinaus auf jeden Fall sorgfältig geprüft werden sollte.
Deswegen bin ich der Überzeugung, daß wir dies am Ende des Monats in den Verhandlungen erreichen können. Wenn ich „wir" sage, meine ich die, die da verhandeln. Das ist ein wesentlicher zusätzlicher Erwartungsgrund.
Sehr verehrte Frau Kollegin Lotz, Sie haben gesagt, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen hätten an anderen Stellen immer entschieden. Überall, wo wir entschieden haben, haben wir einen Eingriff in die Tarifautonomie überhaupt nicht vorgenommen.
Das soll auch einmal ganz konkret und deutlich gesagt werden, damit ein solcher Vorwurf nicht im Raum stehenbleibt.
Also: Wir brauchen diese weiterführende Lösung. Wir brauchen wieder eine Stärkung der Nachfrage am Baumarkt, damit sich die konjunkturelle Normalisierung nicht zu weit nach unten auswirkt. Wir brauchen - auch das muß gesagt werden - eine mittel- und langfristige Lösung. Es ist nämlich sicherlich nach wie vor richtig, daß wir in ganz erheblichem Maße eine arbeitsintensive Produktion am Bau haben.
Ich bin mir in diesem Punkt mit der IG Bau einig: Wir müssen Rationalisierungsmaßnahmen ergreifen. Wir dürfen nicht in die Situation kommen, daß ein Automatisierungs- und Rationalisierungsprozeß am Bau nicht fortgeführt wird, weil es noch immer einfacher und billiger ist, billige Arbeitskräfte statt entsprechender Technologien einzusetzen.
Um die Situation mittel- und langfristig zu bewältigen, brauchen wir also auch am Bau eine Rationalisierungs-, eine Qualifizierungsoffensive; dies sollte nicht vernachlässigt werden. Die beste Regelung, zum Beispiel das Entsendegesetz, wird uns nämlich nur dann in eine vernünftige Zukunft führen, wenn wir gleichzeitig die Arbeitsproduktivität am Bau entsprechend erhöhen; das muß doch einmal gesagt werden. Wenn wir das nicht tun, werden wir auch am Ende des nächsten oder des übernächsten Jahres in derselben Situation stehen wie gegenwärtig.
Nein, meine Damen und Herren, die Angelegenheit ist sicherlich wesentlich komplexer. Wir brauchen jetzt eine Lösung, die die Tarifpartner wirklich verantworten. Wir brauchen sie, damit wir eine Atempause haben, um durch eine entsprechende Offensive zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität mittel- und langfristig in Europa wettbewerbsfähige Arbeitsplätze auch in der deutschen Bauwirtschaft zu haben. Wir brauchen sie in einer Situation, in der die Baunachfrage ohnedies rückläufig ist und wir die Auswirkungen bewältigen müssen.
Das, Frau Beck, gebe ich Ihnen sehr gerne zu: Wenn man gegenwärtig in Berlin über eine Baustelle geht, braucht man wirklich alle mitteleuropäischen Sprachen, am wenigsten Deutsch. Wenn ich hinterher, was ich gerne einmal tue, in eine Berliner Kneipe gehe und mit den Leuten spreche, dann weiß ich, daß mit dieser Situation - ich will es einmal vor-
Bundesminister Dr. Klaus Töpfer
sichtig ausdrücken - ein großes Mißtrauen gegenüber europäischen Einigungsbestrebungen verbunden ist. Das ist etwas, was wir bei allen unseren Diskussionen mit bedenken sollten. Ich unterstreiche das sehr nachhaltig.
- Meine Damen und Herren, ich hatte mich bemüht, deutlich zu machen, daß die Dinge vielleicht etwas komplexer sind und etwas umfassender in Angriff genommen werden müssen, als nur die Frage zu diskutieren, was am Ende dieses Monats in der Tarifkommission entschieden wird.
Wenn Sie das wiederum in so kleiner Münze zurücknehmen, dann werden wir - das muß ich Ihnen ganz ehrlich sagen - noch viele Aktuelle Stunden haben. Das Hauptproblem geht dabei nämlich unter.
Damit Sie zufrieden sind, appelliere ich noch einmal nachhaltig an alle Beteiligten, diese gesamtwirtschaftliche - wenn Sie so wollen: gesellschaftliche - Verantwortung, die damit verbunden ist, zu erkennen und über den 31. Mai hinaus zu einer vernünftigen Regelung auf diesem Gebiet zu kommen.
Recht herzlichen Dank.
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde erhält der Kollege Hans Büttner das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon apart, wie hier der Bundesarbeitsminister und die Abgeordneten der Koalition das Hohelied der Tarifautonomie singen, nachdem sie in ebendiese Tarifautonomie vor wenigen Wochen durch das Lohnfortzahlungsgesetz massiv eingegriffen haben.
Ich will Ihnen sagen, warum, Frau Babel: Sie haben nämlich keine Ahnung von dem, was das Verfassungsgericht und das Recht über Tarifautonomie sagen.
Hören Sie einmal zu! Sie können ab und zu etwas von dem, was ich sage, lernen.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, daß Tarifpartner nur solche sind, die streikfähig sind. Die ausgehandelten Tarifverträge sind also solche, die von streikfähigen Partnern ausgehandelt worden sind.
Das Verfassungsgericht hat auch festgelegt, daß Vereinbarungen durch Tarifverträge auch von einzelnen Arbeitnehmern nicht unterlaufen oder zurückgenommen werden dürfen. Auch das ist ein verfassungsrechtlicher Grundsatz.
Sie haben zum Beispiel durch das Lohnfortzahlungsgesetz die Möglichkeit geschaffen, einen Tarifvertrag zu unterlaufen,
nämlich durch die Hergabe von Urlaub für Geld. Das ist ein Eingriff in die Tarifverträge über den Urlaub;
das ist offenkundig. Ich könnte eine ganze Reihe weiterer Beispiele aufführen. Es ist nun einmal so, Kollege Laumann, auch wenn Sie sich noch so sehr aufregen.
Der Tarifausschuß ist nach dem Kriege in Deutschland eingerichtet worden, weil wir Mindestlöhne über Tarifverträge vereinbaren wollten. Tarifverträge in Deutschland schreiben Mindestlöhne vor. Wir haben den Tarifausschuß gebildet, damit die tariflichen Vereinbarungen über Mindestlöhne nicht unterlaufen werden können. Damals hatten die Verbände der Arbeitgeber im Gegensatz zu heute noch Verantwortung für diesen Staat und hatten nicht nur das Ziel, die Arbeitnehmer und diesen Staat am Nasenring durch die Arena zu führen. Damals war man sich selbstverständlich darin einig, daß Tarifvereinbarungen, die von den Tarifparteien beantragt worden sind, automatisch akzeptiert werden müssen.
Was heute passiert, ist, daß ein Gesetz einer Nichttarifvertragspartei, nämlich der BDA, erlaubt, einen Eingriff in die Tarifhoheit vorzunehmen. Genau das ist der Fehler dieses Gesetzes, Herr Minister. Dieser Fehler muß korrigiert werden.
Er muß auch deswegen korrigiert werden, weil nämlich auch die Entsenderichtlinie, die inzwischen gilt, keinerlei Befristungen vorsieht. Ich kann in der Entsenderichtlinie nirgendwo finden, daß die nationalen Regelungen befristet sein müßten. Diese Richtlinie gilt unbefristet.
Die Aussage, die Herr Göhner getroffen hat, man müsse diese Vereinbarung befristen, ist ebenfalls tarifpolitisch überhaupt nicht nachvollziehbar und begründbar. Denn jeder Tarifvertrag kann gekündigt werden; jeder Tarifvertrag ist erst einmal wirksam. Wenn man einen neuen Mindestlohn festlegen will, dann kann man das dann tun, wenn ein neuer Tarifvertrag abgeschlossen wird. So einfach ist das. Wenn Sie das nicht wollen und sich hier dagegen wehren, daß die normale Tarifhoheit in Gesetzen festgeschrieben wird, dann müssen Sie endlich mit uns für unsere Gesetzesänderung stimmen, die den Arbeitsminister ermächtigen soll, eine Vereinbarung zwischen den Tarifparteien umzusetzen.
Hans Büttner
- In bezug auf die Frage, die Sie angeschnitten haben, muß ich sagen: Herr Töpfer, ich halte es schon für ein großes Versagen der obersten Bundesbaubehörde, daß sie bei den gesamten Maßnahmen in Berlin, obwohl sie wußte, welche Probleme auf sie zukommen, nicht von Anfang an die Tariftreue aller beteiligten Unternehmen verlangt hat.
Was die Länder können, hätte der Bund längst machen müssen; er ist hier nach wie vor ein großer Sünder.
Ein letztes möchte ich noch an die Adresse meiner lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDA sagen: Sie sind in den letzten Wochen mehrfach - auch von Ihren Landes- und Bezirksverbänden in Rheinland-Pfalz -
- Niedersachsen - aufgefordert worden, endlich auch einmal wieder an Arbeitnehmer zu denken und weiteren Kürzungsvorschlägen oder Verschlechterungen nicht zuzustimmen. Ich will hier nur Herrn Siewert, den Vorsitzenden in Rheinland-Pfalz, nennen. Ich möchte Sie dringend bitten: Lassen Sie sich nicht länger dazu mißbrauchen, den Weihrauchministranten für eine Koalition zu spielen, die längst zu einem Nasenbär degeneriert ist, der von den Scharfmachern im Arbeitgeberlager durch die politische Arena geführt wird.
- Ich rede mit Arbeitnehmern. Ich will Ihnen nur sagen: Sorgen Sie dafür, daß in Deutschland wieder Recht herrscht, und nehmen Sie keine weiteren Eingriffe in die Tarifautonomie vor, die unser Land in Unruhe versetzen, die Menschen arbeitslos machen und die die Verfassung unseres Landes aushebeln. Kehren Sie zurück auf den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung!
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich teile noch einmal mit, daß im Hinblick auf den gesetzlichen Feiertag am 1. November, der in diesem Jahr auf einen Freitag fällt, im Ältestenrat vereinbart worden ist, die Frist für die Einreichung der Fragen für die Fragestunde auf Donnerstag, 31. Oktober 1996, 10.00 Uhr, vorzuverlegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 13/5583 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 13/5582 -
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gerald Häfner, Kerstin Müller , Christa Nickels, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Kompensation von Überhangmandaten
- Drucksache 13/5575 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
- Drucksache 13/5750 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erwin Marschewski Fritz Rudolf Körper
Gerald Häfner
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Innenausschusses
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Wahlkreiskommission für die 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 Bundeswahlgesetz
- zu dem Zwischenbericht der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages
Empfehlungen für die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag und zu den wesentlichen Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages
- zu dem Ergänzenden Bericht der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages zu dem Zwischenbericht
Empfehlungen für die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag und zu den wesentlichen Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages
hier: Empfehlungen zu den wesentlichen Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ab der 15. Wahlperiode
- Drucksachen 13/3804, 13/4560, 13/4860, 13/5750 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erwin Marschewski Fritz Rudolf Körper
Gerald Häfner
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Wir verfahren entsprechend.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster in der Debatte ergreift der Kollege Erwin Marschewski das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bedauern sehr, daß sich die Opposition nicht dazu Bereitfinden wollte, die anstehende Reform des Wahlrechts mit uns gemeinsam zu verabschieden.
Ich meine, Herr Kollege Schmidt, auf beiden Seiten bestehen doch weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Streitpunkte. Der Gesetzentwurf, für den ich mich jetzt einsetze, setzt doch nur die Beschlüsse um, die von der interfraktionellen Reformkommission unter der sehr sachkundigen und fairen Leitung unseres Kollegen Klose gefaßt wurden. Wir führen damit eine lange Tradition dieses Hauses fort, eben die Tradition, das Wahlrecht aus dem politischen Streit herauszuhalten. Dabei sollte es bleiben.
Sie aber werden erklären müssen, insbesondere meine Damen und Herren der SPD,
weshalb Sie mit dieser Tradition brechen und weshalb Sie den bereits getroffenen Konsens aufkündigen. - Herr Schily, Sie werden dies erklären müssen. Denn auch Sie wissen doch: Das Wahlrecht ist ein wichtiger Gradmesser für die politische Kultur unseres demokratischen Gemeinwesens. Es handelt sich dabei doch nicht nur um technische Regeln. Dabei muß mehreres miteinander verbunden werden.
Demokratisches Wahlrecht erfordert zum einen eine unverfälschte Abbildung des Wählerwillens, zum anderen eine Konstituierung funktionsfähiger Mehrheiten. Gerade das ist doch die Lehre von Weimar: Wir brauchen funktionsfähige Mehrheiten in jedem Parlament, also auch in diesem Parlament.
- Daran haben Sie nicht immer mitgewirkt. Sie haben genau das Gegenteil gemacht, Frau Kollegin, und Sie wollen auch genau das Gegenteil.
Wir wollen ein funktionsfähiges Parlament, ein Parlament, das demokratisch entscheidet. Daran hat natürlich auch das personalisierte Verhältniswahlsystem maßgeblichen Anteil gehabt.
Trotz aller Bewährung im Grundsatz ist aber auch für unser Wahlrecht die Zeit nicht stehengeblieben. Es gibt erhebliche Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, und auch die Wiedervereinigung erfordert eine Reform des Wahlrechts. Ich wiederhole, Herr Kollege Schily: Der Inhalt ist wirklich identisch mit dem, was die Reformkommission mit Ihren Stimmen beschlossen hat. Ich möchte diesen Inhalt einmal vorstellen.
Erstens. Die Zahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages wird ab dem Jahr 2002 von 656 auf 598 reduziert. Ich weiß, es gibt Kritiker, die eine noch stärkere Verkleinerung des Parlaments fordern. Aber ich meine, das wäre nicht richtig, denn bei einer weiteren Verringerung der Wahlkreise würden diese unüberschaubar. Der lebendige Kontakt zwischen Bürgern und Abgeordneten würde erschwert. Die Konsequenz wäre doch eine passive Zuschauerdemokratie, die niemand von uns will.
Zweitens. Gegenwärtig müssen Wahlkreise verändert werden, wenn sie um mehr als 33'13 Prozent nach unten oder oben abweichen. Wir werden diese absolute Toleranzgrenze ab 2002 auf 25 Prozent senken. Das Ziel dieser Maßnahme besteht gerade darin, die Zahl der Überhangmandate zu verringern.
Drittens. Für 1998 werden wir aber nur die Wahlkreise verändern, bei denen die Bevölkerungszahl um mehr als 331/3 Prozent vom Durchschnittswert abweicht. Wir meinen, daß es angesichts der Reform, die im Jahre 2002 vor uns steht, weder sinnvoll noch verfassungsrechtlich geboten ist, Veränderungen vorzunehmen, die über das unabdingbare Maß hinausgehen.
Zum Punkt Überhangmandate: Die Reformkommission, meine Damen und Herren der SPD, war sich darin einig, keine Ausgleichsmandate für Überhangmandate zu schaffen. Im Gegensatz zu den Anträgen der Opposition enthält unser Gesetzentwurf deswegen keine Regelung zur Kompensation von Überhangmandaten.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, fordern heute eine Lösung und eine Regelung, die Sie gestern für unentbehrlich hielten. Dafür setzen Sie den parteiübergreifenden Konsens aufs Spiel.
- Herr Kollege Schmidt, Sie werden Gelegenheit haben, das zu erklären. Die Kommission hat Beschlüsse gefaßt, an denen Sie selbst mitgewirkt haben. Sie haben dem selbst zugestimmt. Jetzt können Sie doch nicht sagen, das stimme nicht. Ich trage das vor, was die Reformkommission mit Ihrer Stimme, Herr Kollege, beschlossen hat.
Für uns gilt nach wie vor:
Erstens. Wir haben zutreffend festgestellt, daß die bestehenden Regelungen des Bundeswahlgesetzes, die zur Entstehung von Überhangmandaten führen, verfassungsgemäß sind. Überhangmandate sind eine notwendige Konsequenz und eine notwendige Folge unseres kombinierten personalisierten Verhältnis- und Mehrheitswahlsystems. Ich meine, dies hat sich 40, 45 Jahre lang bewährt.
Zweitens. Der Grund dafür, warum wir eine beträchtliche Anzahl an Überhangmandaten haben, liegt letztlich nur darin, daß die Größe der Wahl-
Erwin Marschewski
kreise zu unterschiedlich ist, daß nicht mehr alle Wahlkreise annähernd gleich groß sind.
Das wollen wir 2002 mit der Wahlkreisreform ändern. 1998 wollen wir die Änderung nicht vornehmen, weil wir der Auffassung sind, daß dann Parteien, Wähler und Mandatsträger überfordert sind. Deswegen haben wir dies wiederum einmütig zu Recht abgelehnt.
Noch etwas, Herr Kollege Schmidt: Wenn Sie die Ausgleichsmandate einführen, schaffen Sie ein dem geltenden Wahlrecht fremdes Instrumentarium. Eines ist besonders wichtig: Die Einführung von Ausgleichsmandaten würde die Zahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages gleichsam durch die Hintertür wieder erhöhen. Es geht nicht an, auf der einen Seite der Öffentlichkeit zu sagen, wir verkleinern den Bundestag, und auf der anderen Seite Ausgleichsmandate zu schaffen, die den Bundestag wiederum vergrößern würden. Dies akzeptiert niemand. Dafür hat der Bürger kein Verständnis, dafür hat niemand Verständnis. Wir haben erst recht kein Verständnis für eine solche Absicht.
- Frau Kollegin, viel wichtiger wäre es dann, die Grundmandatsklausel zu verändern. Es wäre richtig, das so zu verändern, daß zum Beispiel nur diejenigen Abgeordneten der PDS in den Bundestag einzögen, die ein Direktmandat errungen haben.
- Na ja. Es kann doch nicht richtig sein, daß eine Partei bei fast 50 Prozent erreichter Wählerstimmen nicht in den Bundestag einzieht, daß aber eine andere Partei, die erheblich kleiner ist, in Gruppenstärke im Bundestag vertreten ist.
Meine Damen und Herren, trotz der Richtigkeit dieser Aussage haben wir zum jetzigen Zeitpunkt darauf verzichtet, diese Wahlrechtsänderung vorzunehmen.
Herr Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich komme zum Schluß. Das hat jetzt keinen Zweck mehr.
Wir haben dies nur getan, um mit Ihnen gemeinsam dieses Wahlrecht zu verabschieden, gemeinsam mit Ihnen zu verändern. Noch ist Zeit, Herr Kollege Schmidt. Ich fordere Sie auf: Haben Sie den Mut, zum parteiübergreifenden Konsens zurückzufinden.
Haben Sie den Mut, unserem Gesetzentwurf, haben
Sie den Mut, Ihrem Gesetzentwurf der Reformkommission unter der Leitung von Hans-Ulrich Klose zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Heuer.
Herr Marschewski, Sie haben soeben gesagt, Sie seien der Meinung, es sei sehr gut, wenn man eine Regelung schaffen würde, durch die bei der PDS nur diejenigen in den Bundestag kommen würden, die direkt gewählt worden seien.
Ich bewundere Ihre rechtsstaatliche Sicht. Sie sind also der Meinung, man sollte ein Gesetz machen, das einer speziellen Partei nur ein bestimmtes Hineinkommen in den Bundestag ermöglicht. Ich finde das phänomenal. Das zeugt in einer ungeheuren Weise von Ihrer Sichtweise zur Rechtsstaatlichkeit dieser Bundesrepublik.
Herr Marschewski, möchten Sie antworten?
Das Wort hat der Abgeordnete Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer zu Wahlrechtsfragen in so aufgeregter Form wie der Kollege Marschewski redet, bei dem könnte man den Eindruck gewinnen, ihn plagt das schlechte Gewissen.
Ich sage auch: Wer beispielsweise Wahlrechtsfragen zu Machtfragen umorganisiert, ist letztendlich derjenige, der einen traditionellen Konsens verläßt; das sind nicht andere.
Es gab zu dieser Reform und zu diesem Gesetzentwurf einen sehr großen Vorlauf. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns entschieden, einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen.
Der Deutsche Bundestag hatte auf Grund einer Empfehlung des Ältestenrates im Juni 1995 einen Grundsatzbeschluß gefaßt. Dieser hat unter Ziffer 1 gelautet, daß der Deutsche Bundestag mit Wirkung von der 15. Wahlperiode an auf unter 600 Abgeordnete verkleinert wird. Wenn das Thema Verkleinerung angesprochen wird, dann muß man wissen, daß sich unsere Ausgleichssystematik ausschließlich auf das Jahr 1998 bezieht, in dem dieser Verkleine-
Fritz Rudolf Körper
rungsbeschluß umgesetzt werden soll, nicht auf das Jahr 2002.
Zweitens. Zur künftigen Größe des Parlaments wird die Präsidentin beauftragt, im Einvernehmen mit den Fraktionen unverzüglich eine Kommission einzusetzen, die sich mehrheitlich aus Abgeordneten und weiteren Sachverständigen zusammensetzt.
Frau Präsidentin, an dieser Stelle erlaube ich mir, eine Bemerkung zu machen. Bei diesen Fragen sollte man auch überlegen, wie der Innenausschuß des Deutschen Bundestages, der dann federführend ist, mit eingebunden werden kann.
Ein weiterer Grundsatz war, daß der 13. Deutsche Bundestag die Entscheidungen zur Umsetzung des Verkleinerungsbeschlusses mit Wirkung für die 15. Wahlperiode faßt.
Die daraufhin eingesetzte Reformkommission, die aus mehreren Mitgliedern der verschiedensten Bereiche bestand, hat dann die entsprechenden Entscheidungen getroffen.
In ihrem ergänzenden Bericht vom 12. Juni 1996 gibt diese Reformkommission folgende Empfehlung: Der Deutsche Bundestag besteht ab der 15. Wahlperiode - vorbehaltlich der sich aus dem Bundeswahlgesetz ergebenden Abweichungen - aus 598 Abgeordneten. - Machen wir uns nichts vor: Auch dies war umstritten. Auch hierzu war die Herbeiführung eines Konsenses erforderlich.
Die Bestimmung des § 3 des Bundeswahlgesetzes wird ab der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag dahin gehend geändert, daß die Bevölkerungszahl eines Wahlkreises von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise um nicht mehr als 15 Prozent nach oben oder unten abweichen soll und eine Neuabgrenzung des Wahlkreises vorzunehmen ist, wenn die Abweichungen mehr als 25 Prozent betragen. Ich sage noch einmal: Das gilt für das Jahr 2002 und nicht für das Jahr 1998.
Die Bestimmung des § 3 des Bundeswahlgesetzes wird mit Wirkung ab der 15. Wahlperiode dahin gehend geändert, daß die Zahl der Wahlkreise - auch das ist ein wichtiger Punkt, in dem ein Unterschied zu 1998 besteht - in den einzelnen Ländern deren Bevölkerungsanteil so weit wie möglich entsprechen muß. Das heißt, dies muß angepaßt werden.
Gemeinsam mit den für die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag erforderlichen Änderungen des Bundeswahlgesetzes werden die Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages und die Kriterien für die Wahlkreiseinteilung in § 3 Abs. 2 des Bundeswahlgesetzes, die von der 15. Wahlperiode an gelten, gesetzlich verankert.
Zur Umsetzung dieser Empfehlungen der Reformkommission haben sowohl die Koalitionsfraktionen als auch die SPD-Bundestagsfraktion Gesetzentwürfe vorgelegt, die unbestritten in vielen Punkten übereinstimmen. In anderen Fragen, wie der Frage der sogenannten Überhangmandate und der Ausgleichssystematik, gibt es Unterschiede. Zur Wahlkreiseinteilung und zu der umstrittenen Frage der Ausgleichssystematik wird der Kollege Schmidt noch ausführlich Stellung nehmen.
Übereinstimmung besteht darin, daß der Deutsche Bundestag von der 15. Wahlperiode an auf 598 Mitglieder verkleinert werden soll. Die Zahl der Wahlkreise wird auf 299 reduziert.
Man hat Übereinstimmung auch darin gefunden, daß die Änderung der Wahlkreise für die 14. Wahlperiode auf das verfassungsrechtlich unabdingbare Maß beschränkt werden soll - auch auf die Gefahr hin, daß es weiterhin zu einer größeren Anzahl von Überhangmandaten kommt. Auch dies wurde in der Diskussion so erwähnt.
Es wurde Übereinstimmung auch darin gefunden, daß ab der 15. Wahlperiode die Toleranzgrenze von bisher 33 1/3 auf plus/minus 25 vom Hundert abgesenkt wird. Auch das ist unumstritten gewesen. Außerdem soll ein Neuzuschnitt gemacht werden können, wenn es eine Abweichung von 15 Prozent gibt.
Die vorgeschlagenen Lösungen sind meines Erachtens sach- und verfassungsrechtlich tragfähig. Die zu beschließende Verkleinerung macht eine Neuzuschneidung der Wahlkreise erforderlich. Das ist eine schwierige Aufgabe, ein sachlich äußerst schwieriges und auch langwieriges Verfahren. Deswegen konnten wir es nicht für die 14. Wahlperiode verwirklichen. Das mußte man realistischerweise zur Kenntnis nehmen.
Ich denke, es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die Grundzüge der Verkleinerung für die 15. Wahlperiode bereits mit den Regelungen für die 14. Wahlperiode gesetzlich festgelegt werden. Das ist so gewollt.
Auch wenn unsere Gesetzentwürfe im wesentlichen übereinstimmen, gibt es zwei Unterscheidungen, was die Wahlkreiseinteilungen anbelangt. Das betrifft einmal den Wahlkreis 8 Segeberg-StormarnNord und den Wahlkreis 153 Montabaur in Rheinland-Pfalz.
Ich will hier noch eine grundsätzliche Bemerkung dazu machen. Die Neugestaltung des Wahlkreises Montabaur hat in der Presse zu Spekulationen geführt. Dazu sei angemerkt: Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich in ihren diesbezüglichen Vorschlägen an die bisherige jahrzehntelang geübte Parlamentspraxis gehalten, die von den jeweils zuständigen Landesinnenministerien ausgearbeiteten konkreten Vorschläge im Innenausschuß unverändert umzusetzen. Diese Praxis hat sich bewährt. Sie war und ist geeignet, Spekulationen in der Öffentlichkeit vorzubeugen. Derartige Entscheidungen würden mit Rücksicht auf persönliche Gegebenheiten vom Gesetzgeber entschieden. An dieser Praxis soll auch zukünftig festgehalten werden.
Die Innenminister der Länder Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz haben die von der SPD in ihrem Gesetzesantrag vorgesehene konkrete Neuzuschneidung vorgeschlagen. Es ist bezeichnend, was Stil
Fritz Rudolf Körper
und Umgang angeht, daß diese Vorschläge von den Koalitionsfraktionen nicht angenommen worden sind.
Dies bedarf von seiten der Koalition nach meinem Dafürhalten einer eingehenden Begründung. Ich denke, wenn man um Konsens bemüht ist, gilt es, zu beachten, daß Konsens keine Einbahnstraße ist.
Schönen Dank.
Das Wort ergreift jetzt der Kollege Gerald Häfner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang der Debatte ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen; denn ich glaube, in dieser Debatte geht es um etwas anderes als bei den vielen einzelnen Gesetzen, die wir Tag für Tag beraten und beschließen. Es geht nämlich um die Regeln, auf denen unsere gesamte Arbeit fußt. Es geht um die Regeln, nach denen wir gewählt sind und aus denen dieses Parlament und damit jeder einzelne von uns seine Legitimation in diesem Parlament bezieht.
Das heißt, es geht um die Grundregeln der Demokratie selbst. Solange der Verfassungsauftrag, wonach alle Staatsgewalt vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, nur zur ersten Hälfte realisiert ist, solange es also Volksabstimmungen auf Bundesebene nicht gibt, so lange sind die Wahlen die einzige Möglichkeit für den Souverän, die Bürgerinnen und Bürger, ihren politischen Willen verbindlich zu äußern und damit Einfluß auf das politische Geschehen und die politischen Entscheidungen zu nehmen.
Das macht deutlich, wie wichtig es ist, daß bei Entscheidungen über dieses Wahlrecht im Konsens aller Parteien Lösungen gefunden werden, die den Wählerwillen nicht verfälschen, sondern klar und deutlich - unverfälscht - zum Ausdruck bringen und den in unserer Verfassung angelegten Grundlagen entsprechen.
Es war guter Brauch dieses Hauses, daß Wahlrechtsfragen im Konsens zwischen den Parteien und Fraktionen entschieden worden sind. Ich bedauere außerordentlich, daß das nun nicht mehr so ist. Das hängt damit zusammen, daß Wahlrechtsfragen leider immer auch Machtfragen sind. Ich glaube, das muß man ganz offen aussprechen. Das war zwar schon immer so, aber neu scheint mir zu sein, daß inzwischen der Machtegoismus einzelner im Parlament siegt über die Einsicht in die Notwendigkeit, jeden Schein, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehen könnte, zu vermeiden, also bei den demokratischen Grundfragen gemeinsam die bestmögliche Lösung zu suchen.
Ich glaube, es ist nicht nur Machtegoismus, sondern auch Angst um die Macht. Denn es ist ja bekannt - jeder weiß es -, daß dieser Bundeskanzler nur noch ein „Überhangkanzler" ist. Sie wissen, daß die Mehrheit, mit der Sie die Abstimmungen hier gewinnen, nicht dem entspricht, wie die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl 1994 gewählt haben.
- Herr Marschewski, Sie wissen doch genau - deswegen werden Sie jetzt auch so laut -, daß, wenn es nach dem Zweitstimmenergebnis geht, Sie im Parlament nur zwei Stimmen Mehrheit hätten und daß Sie damit schon bei der Kanzlerwahl die Mehrheit verfehlt hätten. Das heißt, der Kanzler wäre damit gar nicht in korrekter Weise gewählt.
Sie haben diese größere Zahl an Stimmen durch die Vielzahl an Überhangmandaten, die bei dieser Bundestagswahl erstmalig entstanden ist: Es gab 16 Überhangmandate, und zwar deshalb, weil die Wahlkreise - wie die Wahlkreiskommission uns mehrfach eindringlich gesagt hat - falsch geschnitten sind, in den Ländern und zwischen den Ländern.
Herr Häfner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Conradi?
Ich gestatte grundsätzlich Zwischenfragen. Bitte.
Herr Abgeordneter Häfner, ist Ihnen klar, daß die Überhangmandate der Union im wesentlichen in Wahlkreisen entstanden sind, in denen diejenigen Wähler, die ihre Zweitstimme Bündnis 90/Die Grünen gegeben haben, ihre Erststimme ebenfalls der Partei Bündnis 90/Die Grünen gegeben haben
und die so den Kandidaten der Union zum Wahlkreisgewinn und damit zum Überhangmandat verholfen haben, obwohl die Kandidaten der anderen Parteien eine Mehrheit hatten?
- Herr Fischer, ich weiß , daß Sie das aufregt; aber vielleicht lassen Sie mich meine Frage stellen.
Allein in Baden-Württemberg - -
Herr Fischer, jetzt hat Herr Conradi das Wort.
Herr Fischer, ich verstehe gut, daß Sie das ärgert, aber wir werden das weiter in der Öffentlichkeit darlegen.
In Baden-Württemberg sind durch das Erststimmenwahlverhalten der Grünen-Wähler allein zehn Wahlkreise an die CDU gefallen.
Wenn das die Frage war, Herr Conradi, ist es, glaube ich, erforderlich, daß ich Sie nach der Debatte aufkläre über das Entstehen von Überhangmandaten bei der letzten Bundestagswahl. Vielleicht hilft Ihnen mein Hinweis, daß es in vier Bundestagswahlen hintereinander - im Zeitraum von 1965 bis 1980 - null Überhangmandate gab. Dann gab es ein solches Überhangmandat, dann zwei, dann wieder eines - auf dieser Grundlage gab es eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung, auf die ich gleich noch eingehen werde -, heute haben wir 16.
Diese 16 Überhangmandate beruhen - wie Sie gerne studieren können, wenn Sie die Unterlagen lesen - darauf, daß die Wahlkreise in den Ländern und zwischen den Ländern falsch geschnitten sind. Das heißt, daß wir, der Gesetzgeber, unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben. Was Sie erzählen, zeigt nur, wie tief man sich verstrickt im Dschungel, wenn man Wahlrechtsfragen zum Gegenstand pseudopolitischer Auseinandersetzungen macht und nicht auf den Kern der Sache kommt.
Lassen Sie mich deshalb zum Kern der Sache noch ein paar Worte sagen: Die Wahlkreise sind definitiv falsch geschnitten. Wir wissen das. Die Mehrheit des Parlaments hat sich entschlossen, es bei diesem falschen Wahlkreiszuschnitt zu belassen. Das bedeutet - das ist absehbar -, daß bei der nächsten Bundestagswahl eine ähnlich große, vielleicht sogar eine größere Zahl an Überhangmandaten als dieses Mal entstehen wird.
Ich will deutlich sagen, was das für dieses Parlament und unsere Demokratie bedeuten könnte. Wir haben zur Zeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und es gibt aktuelle Umfragen, die die Möglichkeit einer Mehrheit von Rot-Grün zeigen. Es wäre also möglich, daß nach der nächsten Bundestagswahl eine knappe rotgrüne Mehrheit von den Bürgerinnen und Bürgern gewünscht ist, daß sie auch, wenn die Stimmen- und Sitzverteilung am Abend der Bundestagswahl bekanntgegeben wird, für jeden sichtbar zustande gekommen ist, es aber anschließend heißt: April, April, durch eine bestimmte Zahl von Überhangmandaten gibt es eine Mehrheit für die andere Seite des Hauses.
- Herr Marschewski, werden Sie nicht so laut!
Man kann das Beispiel auch umgekehrt konstruieren: Sie haben eine Mehrheit, aber durch die Überhangmandate kippt sie zur anderen Seite. Überlegen Sie sich einmal, was es für unsere Demokratie, was es für vier Jahre Akzeptanz politischer Entscheidungen dieses Parlamentes bedeutet, wenn die Zusammensetzung und damit die Mehrheitsverhältnisse und die Regierung dieses Landes nicht dem entsprechen, was die Wählerinnen und Wähler gewollt haben.
Ich komme jetzt zu dem, Herr Marschewski, was Sie in der Kommission und im Ausschuß gesagt haben. Sie haben eine ganz neue Legende konstruiert. Sie haben uns erzählt, wir hätten kein Verhältniswahlrecht. Sie haben gesagt: Wenn wir ein Verhältniswahlrecht hätten, hätte Häfner recht, aber wir haben ein Mischsystem von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Das, lieber Herr Marschewski, entspricht weder der Verfassung noch dem Wortlaut des Wahlgesetzes. Im Wahlgesetz heißt es: Wir haben ein mit einer Persönlichkeitswahl verbundenes Verhältniswahlrecht. Das Bundesverfassungsgericht nennt das ein personalisiertes Verhältniswahlrecht.
Oberster Grundsatz bei allen Wahlrechtsentscheidungen des Verfassungsgerichts ist der Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Das heißt, daß jede Wählerin und jeder Wähler den gleichen Zähl- und Erfolgswert mit seiner Stimme hat. Sie wissen genau, bei der letzten Bundestagswahl ist das durch die Überhangmandate in einem solchen Maß verfälscht worden, daß die Union für jeden Sitz im Parlament über 4 000 Wählerstimmen weniger benötigte als Bündnis 90/ Die Grünen.
Übrigens: In jedem deutschen Satz ist es so, daß das Adjektiv das Substantiv näher bestimmt, aber nicht in ein Mischverhältnis mit dem Substantiv eintritt. Herr Marschewski, ich habe Ihnen bereits gestern gesagt: Ein blauer Kanzler, ein schwarzer Kanzler oder ein roter Kanzler bleibt immer ein Kanzler.
Es gibt kein Mischsystem aus blau und Kanzler, sondern es ist ein Kanzler in verschiedenen Zuständen und Färbungen. So ist das auch mit der personalisierten Verhältniswahl. Es ist und bleibt eine Verhältniswahl.
Das personalisierende Element bestimmt nicht die Frage: Wie sind die Mehrheitsverhältnisse im Hause?, sondern bestimmt die Frage: Wer bekommt den Sitz? Das heißt, wir wollen gar nichts bei den Überhangmandaten ändern; sie sind, wenn sie erworben wurden, korrekt, aber sie müssen ausgeglichen werden. So geschieht das praktisch in allen
Gerald Häfner
Bundesländern. Sie müssen dadurch ausgeglichen werden, daß die Parteien bei der Verteilung der Sitze nach den Zweitstimmen entsprechende Sitze bei den Listenstimmen abgezogen bekommen.
Das ist unser Entwurf. Sie wissen, daß das ein Entwurf ist, der letztlich aus dem Bundesinnenministerium kommt. Es gibt verschiedene andere Lösungsmöglichkeiten. Ich meine, daß diese Lösungsmöglichkeit mit Abstand die beste ist.
Zum Entwurf der SPD möchte ich mit Bedauern folgendes sagen - man hätte sich durchaus einigen können, wenn man früher zusammengesessen hätte -: Es ist richtig, Herr Schmidt - ich muß das bestätigen -, wenn hier gesagt wird, daß Sie in der Kommission noch eine völlig andere Position, vertreten haben. Der Entwurf, den die SPD jetzt präsentiert, ist ein Entwurf, der im Ergebnis das, was wir in der Kommission alle gemeinsam wollten, nämlich die Verkleinerung des Bundestages, wieder aufhebt. Er führt zu einer Ausweitung der Sitzanzahl im Bundestag. Deswegen werden wir diesem Entwurf nicht zustimmen.
Er ist außerdem auch deshalb ein schlechter Entwurf, weil er gar nicht alle Überhangmandate zwingend beseitigt. Vielmehr werden nach diesem Entwurf wahrscheinlich immer noch Überhangmandate überbleiben.
Ihre Redezeit ist beendet, Herr Häfner.
Ich kann nur dafür werben, unserem Entwurf zu folgen, der eine saubere, eine verfassungsrechtlich zulässige Lösung eines Problems bietet, das, wenn wir es nicht lösen, dazu führen wird - das will ich am Ende noch sagen, Frau Präsidentin -, daß die nächste Bundestagswahl unter hohem verfassungsrechtlichen Risiko steht und möglicherweise nicht von den Wählerinnen und Wählern, sondern in Karlsruhe entschieden wird. Ich denke, wir sollten unsere Hausaufgaben machen und für ein verfassungsgemäßes Wahlrecht sorgen.
Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erneut führen wir heute eine kontroverse Debatte über das Wahlrecht, die nach unserer Auffassung in dieser Form unnötig gewesen wäre und außerdem geeignet ist, den so wichtigen Konsens über elementare Grundsätze einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie zu gefährden.
Ich möchte hier mit Nachdruck ein klares Bekenntnis zu unserem geltenden Wahlrecht ablegen; denn es hat sich bewährt und ist seit fast fünfzig Jahren Garant dafür, daß die Bundesrepublik eine der stabilsten Demokratien der Welt ist.
Wir sehen heute in Ländern mit einem reinen Mehrheitswahlrecht, daß dort kleinere politische Kräfte unterrepräsentiert sind und keine Gelegenheit bekommen, wirksam in das politische Geschehen einzugreifen. Es schuf im übrigen die Voraussetzungen dafür, daß sich auch neue politische Strömungen, wie vor einigen Jahren die Grünen, dauerhaft in der Politik etablieren konnten.
Unser System der personalisierten Verhältniswahl hat sich bewährt. Das Element der Verhältniswahl ermöglicht eine angemessene Beteiligung kleinerer Parteien in der Politik. Es gewährleistet daneben eine weitgehende Adäquanz des Erfolgswertes der Stimmen und erfüllt damit ein verfassungsrechtliches Gebot der Gleichheit der Wahl. Daneben führt das Element der Mehrheitswahl dazu, daß alle Regionen der Republik etwa gleichmäßig im Parlament repräsentiert sind. Es stärkt damit die Identifikation der Wählerinnen und Wähler mit ihrem Abgeordneten und verbessert damit das Vertrauen der Menschen in den Parlamentarismus.
Unser System der personalisierten Verhältniswahl hat manche Bewährungsprobe bestanden und hat sich dadurch Anerkennung und breite Zustimmung nicht nur in der Bevölkerung erworben, sondern ist häufig Vorbild für Regelungen in anderen Ländern gewesen und ist es noch. Für uns ist es wichtig, daß wir an diesem bewährten System festhalten.
Wenn wir nun die Verkleinerung des Bundestages beschließen wollen, dann mag das in einer Zeit, in der wir allseits Einsparungen und Verschlankung der öffentlichen Verwaltung einfordern, insoweit von Nutzen sein, als darunter nicht die Funktionsfähigkeit unseres Parlaments und die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in den Wahlkreisen leidet. Die Verkleinerung auf 598 Abgeordnete, die nun allen vorliegenden Entwürfen zugrunde liegt, halten wir für maßvoll und vertretbar. Wir werden ihr daher zustimmen.
Was uns dabei aber sehr am Herzen liegt: Wir werden nicht zulassen, daß im gleichen Atemzug wesentliche Teile unseres bewährten Wahlrechts auf dem Altar des kleinkarierten Parteikalküls geopfert werden. Zu dem erprobten System der personalisierten Verhältniswahl gehören auch Überhangmandate. Sie gewährleisten, daß wirklich jeder in seinem Wahlkreis direkt gewählte Kandidat in den Bundestag einziehen kann.
Gleichwohl ist es ein verfassungsrechtliches Gebot, daß Überhangmandate die Ausnahme sein sollen. Das setzt voraus, daß wir Wahlkreise haben, die annähernd gleich groß sind und gleichmäßig auf die Bundesländer verteilt werden. Die Einhaltung dieser Richtschnur ist seit der Wiedervereinigung - das ist kein Geheimnis - zwangsläufig etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Aber gleichzeitig mit der
Jörg van Essen
Verkleinerung des Bundestages werden wir hier durch die vorgesehenen Regelungen zum Neuzuschnitt der Wahlkreise Ordnung schaffen und auch durch andere Regelungen dafür sorgen, daß Überhangmandate künftig nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen vorkommen können.
Wir sind der Meinung, daß wir für die nächste Wahlperiode 1998 sehr gut daran täten, uns im Interesse der Kontinuität des bewährten Wahlrechts noch dies eine Mal mit der Unzulänglichkeit der jetzigen Wahlkreiseinteilung abzufinden, und daß wir die erneute Möglichkeit des Auftretens von Überhangmandaten ein letztes Mal hinnehmen sollten.
Die Vorschläge der SPD und der Grünen, einzig und allein für die 14. Wahlperiode ein Kompensationsmodell oder eine Regelung für Ausgleichsmandate einzuführen, haben einen schalen Beigeschmack. In einer stabilen Demokratie ist das Wahlrecht ein Gut, dessen Bedeutung man nicht hoch genug einschätzen kann. Jegliche Manipulation in diesem Bereich bringt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Verläßlichkeit unseres Parlamentarismus ins Wanken und gefährdet den Bestand unseres bislang von einem breiten Konsens getragenen demokratischen Systems. Wir sollten es aus parteitaktischen Gründen nicht wagen, diesen verhängnisvollen Stein ins Rollen zu bringen.
Es ist nicht zu bestreiten, daß für uns Liberale die Einführung von Ausgleichsmandaten durchaus hilfreich wäre und wir sie deshalb befürworten müßten, wenn es uns in dieser Frage nur um ein eigennütziges Machtkalkül ginge. Wir machen in dieser Legislaturperiode nämlich nicht zum ersten Mal die Erfahrung, wie schwer es gerade für kleinere Parteien ist, alle Gremien in einem Parlament zu besetzen. Ausgleichsmandate wären dabei für uns durchaus von Nutzen.
Wir wollen das Wahlrecht aber nicht als Werkzeug zur Vermehrung unserer Sitze mißbrauchen. Die Menschen in unserem Land haben ein feines Gespür für einen verantwortungsvollen und demokratischen Umgang der Parteien mit der Macht entwickelt. Sie werden es uns zu Recht übelnehmen, wenn wir aus Kalkül am bewährten Wahlrecht herumdoktern.
Im übrigen hätten die Bürgerinnen und Bürger - dieses Argument ist schon mehrfach Gegenstand der Debatte gewesen - nicht das geringste Verständnis dafür, wenn wir durch die Einführung von Ausgleichsmandaten das Parlament jetzt erst noch stark vergrößern würden, während wir doch ständig betonen, der Bundestag müsse so schnell wie möglich verkleinert werden. Was sollen die Menschen eigentlich denken, wenn sie in den nächsten Tagen in der Zeitung lesen: Verkleinerung des Parlaments beschlossen, und es am Wahlabend 1998 dann womöglich heißt, der Bundestag sei diesmal noch größer als in der jetzigen Wahlperiode?
All das verstärkt doch nur die Parteiverdrossenheit vieler Wählerinnen und Wähler, anstatt ihr endlich überzeugend zu begegnen.
Wir sind nicht bereit, eine solche Fehlentwicklung mitzutragen. Mit uns ist die Einführung von Ausgleichsmandaten für nur eine Wahlperiode deshalb nicht zu machen.
Auch das Kompensationsmodell der Bündnisgrünen manipuliert unser Wahlrecht, das in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik ganz bewußt föderale Strukturen hat. Wir sollten nicht Wahlergebnisse der einen Landesliste mit denen einer anderen verrechnen. So würden wir dem Wählerwillen in den Ländern nicht gerecht. Wir können es zum Beispiel nicht zulassen, daß einer Partei - ich nenne als Beispiel die SPD in Bayern, die dort den allergrößten Teil ihrer Mandate über die Landesliste gewinnt - der eine oder andere ihrer Sitze wieder abgezogen wird, so daß die Wähler der bayerischen SPD im Parlament noch stärker unterrepräsentiert wären als bisher. Wir wollen keine Bundesliste, die der föderalen Struktur unseres Wahlrechts zuwiderläuft. Wir betrachten das Kompensationsmodell als einen nicht vertretbaren Eingriff in unser Wahlrecht.
Herr van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gysi?
Ja.
Herr Gysi.
Herr Kollege van Essen, wir hatten in Berlin eine Landtagswahl; das ist natürlich eine etwas andere Situation, aber letztlich ist das Wahlrecht, auch mit dieser Mischung, dort ganz ähnlich. Bei dieser Wahl hatte die PDS durch die Erststimmen zehn Mandate mehr, als ihr nach den Zweitstimmen zustanden. Dadurch hat die CDU 32 Ausgleichsmandate bekommen, die SPD zehn, die Grünen zwei.
Wenn diese Regelung nicht bestanden hätte, hätte es im Abgeordnetenhaus von Berlin eine völlige Verschiebung hinsichtlich der Mehrheiten gegeben. Die PDS wäre - zweifellos zu unserem Vorteil - durch zehn Überhangmandate völlig überproportional vertreten gewesen.
Glauben Sie nicht, daß das, wenn so etwas auf der Bundesebene passieren würde - dann sicherlich nicht zugunsten der PDS, aber zugunsten einer anderen Partei; das ist ja auch egal -,
eine Verschiebung des Wahlergebnisses wäre? Könnte es nicht, wenn wir das hier anders machen, eine Animierung zum Beispiel für Berlin sein, künftig ebenfalls keine Überhangmandate zuzulassen und dadurch eine völlige Verschiebung des Zweitstimmenwahlergebnisses hinzunehmen?
Herr Kollege Gysi, wir möchten, daß es zu solchen Verschiebungen gerade nicht kommt. Von daher ist das wesentliche Ziel unserer Überlegungen, das Entstehen von Überhangmandaten insgesamt zu verhindern.
All das regeln wir ja. Wir sagen, daß wir schneller Korrekturen durchführen müssen, als das bisher der Fall ist. Ich denke, daß das genau der richtige Weg ist.
Ich betone deshalb noch einmal: Für uns sind jegliche Sonderregelungen, die das geltende Wahlsystem für nur eine einzige Wahlperiode ändern sollen, unzulässige Manipulation und daher nicht tragbar.
Ich möchte an dieser Stelle bekräftigen, daß es für uns Liberale ein großes Anliegen ist, daß auch die Grundmandatsklausel unangetastet bleibt.
Ich brauche nicht zu betonen, daß mir als Liberalem die PDS nicht besonders ans Herz gewachsen ist.
Aber ich muß zugestehen: Ein beachtlicher Teil der Menschen in Ostdeutschland schenkt der Nachfolgepartei der SED nach wie vor ihr Vertrauen. So bedauerlich das aus unserer Sicht ist, so deutlich macht dies, daß die PDS eine regional bedeutende politische Kraft ist. Die Repräsentation gerade solcher Kräfte im Parlament ist Aufgabe der Grundmandatsklausel. Wir wollen uns mit der PDS politisch auseinandersetzen und wollen auch hier keine Manipulation des Wahlrechts. Die Grundmandatsklausel ist zu Recht Teil unseres bewährten Wahlsystems, auf dessen Kontinuität es uns ankommt.
Lassen Sie mich zum Schluß nur noch dies anmerken: Monatelang haben wir in einer gemeinsamen Reformkommission über die Änderung des Wahlgesetzes beraten und sind einvernehmlich zu dem Schluß gekommen, daß wir nicht mehr als die wirklich notwendigen Eingriffe in das Wahlrecht vornehmen sollten. Auch Sie von der Opposition haben mit uns übereingestimmt. Ich finde es wirklich bedauerlich, daß Sie nun - offensichtlich aus rein wahltaktischen Beweggründen - von diesem Konsens abgewichen sind.
Ich kann nur an das Gewissen eines jeden Mitglieds dieses Hauses appellieren, sich der großen Verantwortung, die Sie bei jeder Änderung des Wahlrechts tragen, bewußt zu werden und sich den in unserem Entwurf vollständig enthaltenen Vorschlägen der gemeinsamen Reformkommission anzuschließen.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute wollen wir die Diskussion über die Änderung des Bundeswahlgesetzes vorerst abhaken. Das sieht nach einer überaus pragmatischen Lösung aus: möglichst wenige Änderungen. Soweit es um einen grundlegenden Neuzuschnitt der Wahlkreise für 1998 ging, haben wir den Konsens mitgetragen. Denn von einer Änderung wären ja insbesondere die neuen Bundesländer betroffen, und zwar durch einen Verlust an Wahlkreisen und damit auch an Abgeordneten. Es macht allerdings wenig Sinn, Wahlkreise grundsätzlich innerhalb von vier Jahren neu zuzuschneiden. Das macht weder Sinn für den Abgeordneten noch für die Bürgerinnen und Bürger.
Herr Marschewski, Konsens besteht mit uns auch darüber, die Grundmandatsregelung für 1998 nicht anzugreifen. Sehen Sie sich die Protokolle der Anhörung der Reformkommission an. Namhafte Verfassungsrechtler haben damals sehr deutlich gesagt, daß die Grundmandatsregelung nicht verfassungswidrig ist, und zum Teil davon gesprochen, sie sei sogar verfassungsmäßig geboten.
Aber an dieser Stelle hört unsere Konsensfähigkeit schon auf. Ich denke, es wird ein böses Erwachen geben, wenn auch das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis kommt, daß die hohe Anzahl von Überhangmandaten verfassungswidrig ist, da sie mit dem Prinzip der Verhältniswahl unvereinbar ist, und zwar vor allem deshalb, weil ein durch Stimmen dokumentierter Wählerwille verfälscht wird, und das zugunsten der regierenden Koalition, auch wenn die SPD davon zum Teil ebenfalls profitiert hat.
Eine Kompensation erscheint daher bereits im Hinblick auf die Wahlen von 1998 verfassungsrechtlich geboten. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, bereiten durch ein Festhalten an den Überhangmandaten Ihren nächsten Wahlsieg vor. Ich denke, diese Suppe sollten wir Ihnen gründlich versalzen.
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zur Frage der Verkleinerung des Parlamentes machen. Die PDS ist nicht grundsätzlich gegen eine Verkleinerung. Nur, dieses Ergebnis der Parlamentsreform wird der Öffentlichkeit quasi als Knochen vor die Füße geworfen: Seht her, auch wir sparen; nun lobt uns endlich einmal dafür!
Abgesehen davon, daß durch größere Wahlkreise der Abstand zwischen den Wählerinnen und Wählern und ihren Abgeordneten größer wird - ein Problem insbesondere für Flächenwahlkreise -, wird da-
Dr. Dagmar Enkelmann
bei natürlich völlig vergessen, daß mangelnde Effektivität in diesem Bundestag vor allen Dingen mit der übergroßen Zahl der Gremien zu tun hat. Immerhin sind hier über 250 Gremien zu besetzen. Bei den großen Fraktionen heißt es dann: Wir müssen ja unsere Abgeordneten beschäftigen. Für die kleinen Fraktionen bzw. für die Gruppe der PDS ist das durchaus ein Problem.
Die Parlamentsreform war für uns immer mehr als ein Verzicht auf ein paar Abgeordnete. An oberster Stelle standen bei uns die Transparenz von Entscheidungen, die Kontrolle der Exekutive durch die Legislative, die Stärkung von Beteiligungsrechten der Bürgerinnen und Bürger, die bürgernahe Ausgestaltung des Petitionsrechtes, Veränderungen des Wahlrechtes wie beispielsweise die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, das Ausländerwahlrecht, die Abschaffung der Fünfprozentklausel, die Möglichkeit der Abwahl von Abgeordneten innerhalb einer Legislaturperiode und vieles andere mehr.
Eine tatsächliche Reform der parlamentarischen Tätigkeit einschließlich ihrer Rahmenbedingungen, also auch der Wahlgesetze, war offenkundig nicht gewollt. Meinen Sie wirklich, daß sich die Bürgerinnen und Bürger auf Dauer mit einer geringeren Anzahl von Abgeordneten zufriedengeben? Ich denke, dieses Bonbon mag kurzfristig zu einer Beruhigung führen, zu einer neuen Akzeptanz der Arbeit des Deutschen Bundestages wird die Verkleinerung alleine - darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel - nicht führen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht in der Debatte der Kollege Dr. Rupert Scholz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen heute allein vor der Aufgabe, die notwendigen Änderungen in den Wahlkreisen - denn das ist der Kern der Sache - für 1998 vorzunehmen und die Reform für 2002 vorzubereiten. Um nichts anderes geht es. Deshalb ist aus meiner Sicht vor allem festzuhalten, daß es nicht an der Zeit ist, für die vom System her gesehen als Übergangswahl zu bezeichnende Bundestagswahl 1998 unverantwortliche Experimente mit unserem bestehenden und verfassungsmäßigen Wahlsystem anzustellen.
Der von den Oppositionsparteien inkriminierte Streitpunkt heißt: Überhangmandate. Hier wird von der Opposition eine Scheinargumentation vorgestellt, die mit den verfassungsmäßigen Grundlagen unseres Wahlsystems nichts gemein hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat in aller Deutlichkeit ausgesprochen, daß Überhangmandate ganz grundsätzlich verfassungsmäßig sind, daß sie - ich zitiere wörtlich - „die notwendige Folge des spezifischen Zieles der personalisierten Verhältniswahl sind".
Unser Wahlsystem ist eben gerade nicht das der uneingeschränkten Verhältniswahl, sondern das der zunächst an der Persönlichkeitswahl orientierten Mehrheitswahl und nur ergänzend ein System der - über die Listenwahl vermittelten - Verhältniswahl.
In diesem Sinne hat, wie das Bundesverfassungsgericht mit Recht ausführt - hören Sie schön zu, das kommt jetzt -,
das Bundeswahlgesetz vor den Verhältnisausgleich eine Personenwahl nach relativer Mehrheit in den Wahlkreisen gesetzt. Durch die Vorschaltung der Mehrheitswahl soll eine engere persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu dem Wahlkreis, in dem sie gewählt worden sind, geknüpft werden. In diesem besonderen Anliegen der personalisierten Verhältniswahl findet die aus der Zulassung von Überhangmandaten sich ergebende Modifizierung der Erfolgswertgleichheit ihre Rechtfertigung.
Das ist die entscheidende Aussage aus Karlsruhe.
Daß prinzipiell jede Wählerstimme nicht nur die absolute Gleichheit im Zählwert, sondern auch ein Maximum an Gleichheit im Erfolgswert fordert, liegt in den Grundprinzipien des demokratischen Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit begründet. Andererseits ist damit aber auch klargestellt, daß eine absolute Gleichheit im Erfolgswert nicht gefordert ist und daß diese gerade wegen des Grundprinzips der Persönlichkeitswahl auch gar nicht realisierbar ist. Wie sagt das Bundesverfassungsgericht wiederum ich zitiere -: Die „absolute Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen kann mit keinem Sitzverteilungsverfahren erreicht werden". Differenzierungen des Stimmgewichts sind bei den Sitzverteilungsverfahren - wiederum wörtlich zitiert - „vorgegeben und unvermeidlich" .
Herr Professor Scholz, sind Sie einverstanden mit einer Zwischenfrage des Kollegen Häfner?
Nein, danke, im Moment nicht. Ich will meinen Duktus zu Ende bringen.
Demgemäß fordert das Prinzip der höchstmöglichen Erfolgswertgleichheit nichts anderes, und nichts mehr als den angemessenen Zuschnitt der Wahlkreise. Nach unserem geltenden und wiederum
Dr. Rupert Scholz
nicht verfassungsrechtlich angreifbaren Wahlsystem liegt die entsprechende Differenzierungsgrenze bekanntlich bei 331/3 Prozent. Für das Jahr 2002 werden wir dies ändern. Aber ein solcher Änderungsbedarf im Sinne einer aktuellen oder irgendwie verfassungsmäßig begründbaren Forderung ist heute nicht gegeben.
Last not least ist das Ganze technisch gar nicht realisierbar. Die technische Möglichkeit für solche Änderungen - auch das hat Karlsruhe ausdrücklich betont - ist aber Voraussetzung für reale Änderungen.
Aber wenden wir uns, meine Damen und Herren, noch einmal den Überhangmandaten zu. Wie kommt es zu Überhangmandaten? Natürlich dann, wenn unterdurchschnittliche Wahlkreise gegeben sind. Aber eben nicht nur dann. Überhangmandate entstehen auch dann, wenn eine geringe Zahl gültiger Zweitstimmen oder wenn ein starkes Splitting - Ihr Fall, Herr Conradi -, das heißt eine relative Mehrheit an Erststimmen einer Partei von den Wählern vorgegeben ist. Beides liegt aber in der freien Entscheidung des Wählers, kann und darf gerade unter demokratischen Aspekten nicht etwa durch einen Gesetzgeber korrigiert werden, der vielleicht meint, daß er Vorgänge dieser Art nicht respektieren wolle. Dem Gesetzgeber steht kein solches Recht zu. Gerade deshalb sind entsprechende Versuche der gesetzgeberischen Korrektur bestimmter Wählerentscheidungen mit Nachdruck zurückzuweisen.
Die Forderung der SPD, Überhangmandate durch Ausgleichsmandate zu kompensieren, verstößt in diesem Sinne aus meiner Sicht ganz eindeutig gegen die demokratische Wählerentscheidung. Sie würde überdies das System der personalisierten Verhältniswahl auf kaltem Wege zu einem System der faktischabsoluten, vorrangig parteienorientierten Verhältniswahl umformen. Sie würde schließlich zu fast unerträglichen Folgen - wenn man es konsequent zu Ende denkt - im Tatsächlichen führen. Legt man einmal die letzte Bundestagswahl zugrunde, so würde die Gesamtzahl der Bundestagsabgeordneten auf 687 Sitze anwachsen, wenn man dieses Verfahren vollziehen würde.
Damit allein wäre es aber noch nicht getan. Jetzt stellte sich nämlich die weitere Frage, wie diese Ausgleichsmandate bei den begünstigten Parteien, das heißt, auf welche ihrer Landeslisten zu verteilen wären. Würde man bei dem System des geltenden Gesetzes bleiben, so wäre zunächst eine verhältnismäßige Verteilung der gesamten, jetzt also auf 687 erhöhten Sitzzahl entsprechend dem Zweitstimmenergebnis der Parteien auf Bundesebene vorzunehmen. Alsdann wären die Sitzzahlen innerparteilich entsprechend den Ergebnissen der jeweiligen Landeslisten umzuverteilen.
Bei dem letzteren Rechenschritt stellt sich jedoch heraus, wie das Statistische Bundesamt in einer Modellrechnung ermittelt hat, daß in einigen Ländern nach wie vor Überhangmandate von CDU/CSU und SPD anfielen. Die Sitzzahl im Bundestag müßte also um eine weitere Zahl von Ausgleichsmandaten erneut so lange erhöht werden, bis in keinem Land mehr Überhangmandate anfielen. Führt man diese
Modellrechnung unter den Bedingungen der letzten Bundestagswahl konsequent zu Ende, so käme man zu einer Gesamtsitzzahl für den Deutschen Bundestag von sage und schreibe 891 Abgeordneten.
Ich glaube, hierüber braucht man nicht länger zu diskutieren. Das sind schlechterdings unerträgliche Ergebnisse.
Jetzt machen Sie geltend, daß man den Ausgleich nur in dem jeweils betroffenen Bundesland vornehmen solle. Auch diese Rechnung geht nicht auf; denn dies führt wiederum zu einer verfassungswidrigen Ungleichheit zwischen den einzelnen Bundesländern. Sie ist in unserem föderativen System nicht hinzunehmen und würde überdies erneut gegen das Prinzip der höchstmöglichen Gleichheit im Erfolgswert von Wahlstimmen verstoßen.
Jetzt zu den Grünen: Das von Ihnen angeführte Argument, innerhalb der Landeslisten entsprechende Ausgleichsmaßnahmen vorzusehen, würde in der Konsequenz ebenfalls bedeuten, daß die Verhältniswahl gegenüber der Mehrheits- bzw. Persönlichkeitswahl eindeutig übergewichtet würde. Kommt es zur parteiinternen Verrechnung von Überhangmandaten, so kann dies nicht innerhalb derjenigen Landesliste geschehen, auf der die Überhangmandate angefallen sind, sondern die Verrechnung muß zu Lasten einer anderen Landesliste eben derselben Partei erfolgen. Dieses Verfahren wäre gegenüber den Wählern der betroffenen Landesliste, die mit ihrer Zweitstimme auch einen in der Landesliste festgelegten Personenkreis gewählt haben, absolut unvertretbar und würde diese Wahl völlig verfälschen. Ihre Stimme käme letztlich dem Kandidaten eines Landes zugute, den sie keineswegs wählen wollten, ja den sie nicht einmal wählen konnten.
- Den sie gar nicht kennen.
Damit wäre zudem ein versteckter, partieller Übergang zu dem System einer Bundesliste eröffnet, den das geltende Wahlrecht gerade nicht vorgesehen hat. Es führte im übrigen erneut zu einem Ungleichgewicht des Erfolgswertes, der für die einzelnen Landeslisten einer Partei abgegebenen Stimmen und wäre damit verfassungsrechtlich außerordentlich problematisch.
Noch schlimmer ist aber die Gefahr, daß der Verfassungsgrundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, wie ihn Art. 38 des Grundgesetzes zwingend voraussetzt, verletzt werden könnte. Denn das System der Listenwahl ist mit Recht an den Grundsatz der sogenannten starren Liste gebunden worden; nachträgliche Manipulationen oder Veränderungen nach dem Votum des Wählers sind nicht statthaft. Eben dies würde aber geschehen, wenn bestimmte Listenmandate nachträglich entfielen oder unter einen entsprechenden Vorbehalt des Ausgleichs von Überhang-
Dr. Rupert Scholz
mandaten gestellt würden. Solche Ausgleichsmaßnahmen erfolgten nämlich nach Ihrem System nicht nach der Gesetzlichkeit der die Listenwahl bestimmenden Verhältniswahl, also systemimmanent, sondern nach Maßgabe von außerhalb der Verhältniswahl liegenden Faktoren, sprich: den Ergebnissen der Mehrheits- bzw. Persönlichkeitswahl. Mit anderen Worten: Sie wären vom Listenwähler nicht beeinflußbar und würden so das Prinzip der starren, also vor nachträglicher Beeinflussung oder gar Manipulation gefeiten und zu schützenden Liste verletzen.
Alle von den Oppositionsparteien vorgeschlagenen Änderungen sind also nicht nur systemwidrig, sondern sie bergen auch sämtlich außerordentlich problematische, teilweise verfassungswidrige Konsequenzen und Veränderungen in unserem geltenden, verfassungsmäßigen Wahlsystem in sich.
Deshalb weisen wir diese Vorschläge zurück und bedauern, daß die Opposition nicht den Weg zurück zu ihrer Zustimmung in der Reformkommission gefunden hat.
Zum Schluß gestatten Sie mir noch eine ergänzende, wenn man so will, vorsorgende Bemerkung zur ebenfalls in der Öffentlichkeit schon aufgeworfenen Frage, ob das, was wir heute beschließen, nicht dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates untersteht. Der Bundesrat ist nicht vertreten, dennoch möchte ich ihn hier ansprechen. Ich will in aller Deutlichkeit klarstellen, daß es ein verfassungsmäßiges Zustimmungsrecht des Bundesrates zum System der Bundestagswahlen von Verfassungs wegen nicht gibt.
Das Wahlrecht ist ein originäres Gestaltungsrecht des Verfassungsorgans Deutscher Bundestag, auf das ein anderes Verfassungsorgan, also der Bundesrat, keinen konstitutiven Einfluß zu nehmen berechtigt ist. Ich betone dies bewußt so ausdrücklich, weil mir nach wie vor erinnerlich ist, wie der Bundesrat seinerzeit in der Frage der Diätenregelungen für die Bundestagsabgeordneten schon einmal versucht hat, sich in das verfassungsmäßig originäre Selbstgestaltungs- und Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages einzumischen. Auch der Bundesrat ist im System unserer bundesstaatlichen Ordnung zur verfassungsmäßigen Organtreue gegenüber dem Bundestag verpflichtet. Möge er dies nicht ein zweites Mal vergessen!
Ich konstatiere in diesem Zusammenhang: Es besteht in diesem Hause Einigkeit insofern, als in beiden Gesetzentwürfen der Oppositionsparteien - genauso wie in unserem Gesetzentwurf - formuliert wird: „Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen. " Das ist bekanntlich die Titulatur von Gesetzen, die nicht unter dem Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates stehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wilhelm Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will noch einmal - ergänzend zu dem, was mein Kollege Fritz Rudolf Körper zum Ausdruck gebracht hat - auf die Situation und vor allen Dingen auf die Funktion des Wahlrechts, speziell in bezug auf die Frage der Überhangmandate und ihrer Ausgleichssystematik, eingehen. Dies wird Sie deswegen nicht überraschen, weil wir uns an der Stelle ganz wesentlich von dem Gesetzentwurf der Koalitionsseite unterscheiden.
Ich will aber noch darauf hinweisen, was von uns im Konsens durchaus mitgetragen wird: Die Übergangsregelung, die sogenannte transitorische Lösung für die nächste Wahl 1998, haben wir in der Reformkommission erarbeitet, und wir werden sie gemeinsam tragen. An der Stelle gibt es keine Probleme, und an der Stelle werden wir mitziehen. Das ist schon erklärt worden.
Das Entscheidende scheint mir aber zu sein - wir machen darauf aufmerksam und unterstreichen dies durch einen eigenen Gesetzentwurf -, daß diese Lösung nicht ausreicht. Ich will an dieser Stelle nachdrücklich erläutern, warum diese Lösung einer Ergänzung von uns unterzogen worden ist.
Vorweg möchte ich aber mit der Legendenbildung aufräumen, die hier insbesondere von der CDU ins Gespräch gebracht worden ist, nach dem Motto: Wir haben in der Reformkommission gemeinsam verhandelt und haben ein Ergebnis erzielt; das muß auch das stehende Ergebnis sein. Wann zuvor ist es in diesem Hause so gewesen, daß ein Ausschußergebnis gleichzeitig absolutes Diktum für das Ergebnis hier im Plenum war? Wir haben immer weitere Verhandlungen zugelassen und haben auch durch die Arbeit in der Reformkommission - dadurch, daß wir seinerzeit ein Ausgleichsmodell, nämlich das Kompensationsmodell, zur Abstimmung gebracht haben, schon erkennen lassen, daß uns die Frage der Überhangmandate nicht einerlei war und auch nicht einerlei sein kann.
Ich will hinzufügen, daß wir schon im Mai gleich nach Ende der Arbeit der Reformkommission begonnen haben - auf der Ebene der Fraktionsvorsitzenden und einmal sogar auf der Ebene der Fraktions-
und Parteivorsitzenden; gewissermaßen auf höchster politischer Ebene -, zusätzliche Verhandlungen zu führen. Diese hatten das Ziel, doch noch einmal intensiv darüber nachzudenken, ob die im Gesetzentwurf zunächst enthaltene transitorische Lösung, die sogenannte Minilösung, nicht noch erweitert werden muß oder erweitert werden sollte.
Unser Handeln hat also niemals allein auf dem Ergebnis der Arbeit der Reformkommission gefußt. Wir haben immer erkennen lassen, daß uns zur Sicherung des Rechtsbestandes und des Verfassungsrechtsbestandes der Übergangslösung für 1998 sehr daran gelegen war und wir sehr davon überzeugt waren, daß es weitere Lösungen - insbesondere mit dem Ziel, die Überhangmandate zu reduzieren - geben müßte. Ich will Ihnen dies im folgenden begründen.
Wilhelm Schmidt
Es kann doch nicht hingenommen werden - um das auch einmal mit Zahlen zu belegen -, daß die Überhangmandate eine Verfälschung des Wahlergebnisses in einem Maße herbeiführen, das es bis dahin in der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat.
Herr van Essen, es ist ja von mehreren Rednern, auch von Herrn Häfner, mit Recht darauf hingewiesen worden, daß alle Verfassungsgerichtsurteile, die sich mit der sehr wichtigen Frage der Überhangmandate auseinandergesetzt haben, immer nur von dem Vorhandensein eines einzigen oder zweier Überhangmandate ausgehen konnten, weil es zu dem entsprechenden Zeitpunkt gar nicht mehr Überhangmandate gegeben hat.
Bei der letzten Wahl ist die Zahl der Überhangmandate explodiert - aus mehreren Gründen, wie wir wissen, und zwar zum Teil auch aus Gründen, die wir als Mitglieder des Bundestages wegen eines nicht bewältigten Reformstaus selber verschuldet haben. Wir haben nämlich über fast 20 Jahre hinweg keine Änderung des Wahlrechts vorgenommen und damit zum Beispiel nicht die notwendige Verschiebung von Wahlkreisen zwischen den Ländern herbeigeführt.
Wir haben eine sehr hohe Toleranzgrenze, so daß keine Wahlkreisgrenzen geändert werden mußten. So ist also zum Teil eine Zahl von Überhangmandaten entstanden, die wir auch nach der Anhörung der Experten als sogenannte schlechte Überhangmandate bezeichnen müssen. Diese hätten wir vermeiden können. Wir wollen diese dann im Jahre 2002 - es wurde mit Recht darauf hingewiesen - auch beseitigen.
Wir haben aber die Bundestagswahl 1998 vor uns. Die Wahl im Jahre 1998 wird keinen Bestand haben - davon sind wir zutiefst überzeugt -, wenn wir diese schlechten Überhangmandate nicht relativieren. Darum geht es. Wir müssen die Gleichwertigkeit der Stimmen, also die Wahlgerechtigkeit wiederherstellen. Ich möchte es nicht erlebt haben, wie die Mitglieder der rechten Seite dieses Hauses reagiert hätten, wenn das Wahlergebnis gelautet hätte: zwölf Überhangmandate für die SPD und nur vier für die CDU/CSU. Der Zufall hätte es ja auch so geschehen lassen können. Dann wäre bei Ihnen die Kanzlermehrheit nicht zustande gekommen, obwohl ursprünglich eine knappe Mehrheit von zwei Sitzen vorhanden gewesen wäre.
So gesehen verfälschen Überhangmandate in einer so hohen Zahl auf jeden Fall das Wahlergebnis erheblich. Wenn es denn einen solchen Umfang einnimmt, dann muß man darüber zu recht, wie ich finde, nachdrücklichst sprechen. Das tun wir, indem wir unseren Antrag einbringen.
Ich will das, was Herr Scholz gesagt hat, relativieren.
- Ich sage es ja sehr vorsichtig, Herr Scholz. - Sie geben sich für eine sehr apodiktische Verfahrensweise und Auslegung her, die nicht in einem einzigen Fall von einem der Verfassungsrichter, die an der entsprechenden Anhörung teilgenommen haben, so nachdrücklich unterstützt wurde. Sie bauen hier einen Popanz auf.
Wenn die Verfassungsgerichtsurteile, die Sie zitiert haben, zunächst einmal nur von einem Überhangmandat ausgehen, dann können Sie nicht so tun, als ob das gleiche Verfassungsgericht nun bei 16 Überhangmandaten noch immer die gleiche Auffassung verfolgen würde, noch dazu, wenn wir den Reformstau für die Wahl 1998 nicht beseitigen.
Das heißt, wir haben geradezu den Auftrag, diesen Verfassungsgerichtsbeschluß von 1985 zum Beispiel dahin gehend auszulegen, daß wir die hohe Zahl von Überhangmandaten in einem neuen Licht sehen. Dies ist der Punkt, auf dessen Klärung wir mit Spannung bei den jetzt laufenden Verfassungsgerichtsverfahren warten. Lassen Sie uns doch einmal abwarten, was am 19. November bei der mündlichen Anhörung noch geschieht. Ich prophezeie Ihnen, daß wir als Ergebnis der Anhörung eine solche Tendenz, wie wir sie hier mit unserem Gesetzentwurf vorschlagen, erkennen werden.
Meine Damen und Herren, es kommt hinzu, daß hier ein erheblicher Machtfaktor berührt ist. Ich will hierauf sehr nachdrücklich hinweisen, weil Sie alle so tun, als ob es hier nur um verfassungs- oder wahlrechtliche Fragen ginge. Hier geht es auch um Macht. Ich weise nur darauf hin, daß die Bundestagswahl im Jahre 1994 - wenn wir die als Maßstab nehmen - für die Koalition eigentlich nur einen Vorsprung von zwei Mandaten ergeben hat und daß im Zuge der Überhangmandate dieser Vorsprung auf zehn Mandate ausgebaut wurde.
Wir beklagen das ja nicht rückblickend, sondern nehmen das zum Anlaß zu sagen: Diese Verfälschung des Wahlergebnisses darf sich nicht wiederholen.
Bauen Sie bitte nicht weiterhin auf das, was von Ihnen ohnehin schon bei der letzten Wahl offensichtlich relativ erfolgreich hinter den Kulissen manipuliert - ich verwende ausdrücklich diesen Begriff - wurde. Ich denke dabei nicht an die Einzelhinweise, die der Kollege Conradi in seiner Zwischenfrage in bezug auf Baden-Württemberg vorgetragen hat, sondern ich nenne nur einmal die Globalzahlen.
Diese besagen nämlich, daß die CDU/CSU Erststimmen in Höhe von 45 Prozent hatte, während die F.D.P. hier 3,3 Prozent hatte. An Zweitstimmen hatte die CDU/CSU 41,5 Prozent und die F.D.P. 6,9 Prozent. Der Unterschied von 3,5 Prozent im Regierungslager ist offensichtlich einer Erststimmenkampagne zuzurechnen,
die sehr erfolgreich gewesen ist.
Ich sage Ihnen: Sie wollen dieses System deswegen nicht ändern - wir können es übrigens objektiv,
Wilhelm Schmidt
wie Herr Scholz mit Recht gesagt hat, wahlrechtlich nicht ändern -, weil Sie auf die Wirkung einer solchen Erststimmenkampagne auch für 1998 und für 2002 setzen. Das ist der Punkt. Sie nicken sogar. Sie wollen offensichtlich den Machtfaktor nach wie vor als Manipulationsfaktor sehr stark einsetzen.
Weil Sie darauf aufmerksam machen, will ich auf den Unterschied gegenüber SPD und Grünen eingehen. Er beträgt nur 1,9 Prozent. Hier hat nicht im entferntesten eine Erststimmenkampagne stattgefunden. Hier wollen wir auch nicht manipulieren. Wir müssen dem Wahlrecht Rechnung tragen, das zwei Stimmen vorsieht. Das sollte respektiert werden.
Nach meiner Einschätzung sind Sie aus zweierlei Gründen nicht bereit, eine Ausgleichsmandateregelung mitzutragen: Sie schätzen nicht richtig ein, wie Wahl- und Verfassungsrecht in der Übergangsphase in Einklang zu bringen sind, und Sie sind entschlossen, dieses wahlmanipulative Element zur Erhaltung Ihrer Macht gnadenlos durchzuziehen. Das machen wir nicht mit. Wir werden versuchen, das über den Bundesrat zu korrigieren.
Die zweite wichtige Frage, die hier wenigstens anzusprechen ist - es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu befinden -, ist nämlich, ob Wahlrechtsänderungen zustimmungsbedürftig sind.
Ich will das relativieren, was Sie, Herr Scholz, hier zum Ausdruck gebracht haben. Wir von seiten der SPD halten das Wahlrecht für ein zustimmungsbedürftiges Element der Gesetzgebung,
und zwar deswegen, weil es ein konstitutives Element ist. Wir können nicht einfach so tun, als wenn damit ein einfaches Gesetz über die Bühne gebracht würde. Hier werden die Grundfesten unserer demokratischen Verfassungsordnung berührt und geregelt. Da muß die zweite Kammer, der Bundesrat, ein großes Interesse daran haben, darüber mit zu befinden.
Herr Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scholz?
Sehr gern, Herr Scholz.
Herr Schmidt, Sie haben, aus meiner Sicht völlig zutreffend, Ihr Gesetz mit folgenden Worten überschrieben: „Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen". Das ist, wie ich vorhin schon gesagt habe, die Titulatur für Gesetze, die nicht zustimmungspflichtig sind. Können Sie mir erklären, wie sich Ihre jetzige Position mit dieser Titulatur Ihres Gesetzentwurfes verträgt?
Das ist der Text, den wir jetzt auf den Weg gebracht haben, ohne daß wir darauf abheben, wie der Bundesrat selber darüber entscheidet.
Warten Sie doch ab, wie der Bundesrat an dieser Stelle selber reagiert! Wir sind, auch nach Rücksprache mit vielen Beteiligten, der Auffassung, daß das allemal zustimmungspflichtig ist.
Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich sagen: Auf dem Wege, den die SPD-Fraktion jetzt im Gesetzentwurf formuliert hat, führen wir eine sicherere Regelung des Wahlrechts herbei. Auf diesem Wege gestalten wir auch die Übergangsregelung für 1998 auf jeden Fall bestandsfester und verfassungsgerechter. Wir fordern Sie sehr nachdrücklich auf, dabei mitzumachen.
Vor der Abstimmung liegen zwei Wünsche nach Kurzinterventionen vor. Die erste kommt vom Kollegen Gerald Häfner.
Herr Professor Scholz, Sie haben meine Zwischenfrage nicht zugelassen. Sie stellen selber gerne Zwischenfragen; deswegen ging ich davon aus, daß Sie umgekehrt auch Zwischenfragen gestatten. Vielleicht aber wußten Sie ja schon, was ich fragen wollte.
Sie haben das Bundesverfassungsgericht zitiert, das Zitat aber an der entscheidenden Stelle abgebrochen. Das, so finde ich, ist kein angemessener Umgang mit dem Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht. Deswegen möchte ich in dieser Kurzintervention jetzt doch noch vorlesen, wie es im Text weitergeht. Da erst kommt nämlich der entscheidende Punkt.
Das Bundesverfassungsgericht sagt:
Überhangmandate sind daher nur insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich, als ihre Zuteilung die notwendige Folge des spezifischen Zieles der personalisierten Verhältniswahl ist. Eine über diese Besonderheit der personalisierten Verhältniswahl hinausgehende Differenzierung des Stimmgewichts ist in Anbetracht der Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit daher nicht zu rechtfertigen.
Aus diesem Grunde müssen im Rahmen des technisch Möglichen Wahlkreise mit annähernd gleich großen Bevölkerungszahlen gebildet werden, so daß grundsätzlich kein Bundesland infolge der unterdurchschnittlichen Größe seiner Wahlkreise mehr Wahlkreise umfaßt, als seinem Anteil an der Bevölkerung des Bundesgebietes entspricht. Sind alle Wahlkreise etwa gleich groß, so ist deren angemessene Verteilung auf die Bundesländer gewährleistet und damit der Anfall von Überhangmandaten auf das verfassungsrechtlich zulässige Mindestmaß beschränkt.
Gerald Häfner
Das Bundesverfassungsgericht hat dann in einer späteren Entscheidung im Jahre 1988 - da ging es um ein Überhangmandat für die CDU - noch festgestellt:
Die engen Grenzen, in denen die Differenzierung des Stimmgewichts notwendigerweise zulässig ist, werden also durch den Anfall eines Überhangmandats für die CDU in Baden-Württemberg nicht überschritten. Unter diesen Umständen ist ein Ausgleich der durch das Überhangmandat eingetretenen Verstärkung des Stimmgewichts nicht erforderlich.
Nun aber haben wir erstens statt einem 16 Überhangmandate. Das heißt: Wir haben eine wesentlich größere Differenzierung des Stimmgewichts. Und zweitens ist ein Großteil dieser 16 Überhangmandate unbestreibar Folge eines eklatant falschen Zuschnitts der Wahlkreise sowohl in den Ländern als auch zwischen den Ländern. Das geht aus dem Bericht der Wahlkreiskommission ebenso wie aus den Stellungnahmen sämtlicher von der Reformkommission angehörter Sachverständiger hervor.
Sie aber sperren sich. Sie wollen weder den Wahlkreiszuschnitt für die nächste Legislaturperiode ändern noch die Überhangmandate durch eine Ausgleichsregelung kompensieren.
Das heißt: Wir gehen ein gewaltiges verfassungsrechtliches Risiko ein. Wenn das Bundesverfassungsgericht bei dem bleibt, was es in den Jahren 1963 und 1988 entschieden hat, dann kann das, was Sie heute mit Mehrheit beschließen wollen, auf keinen Fall Bestand haben.
Herr Professor Scholz.
Herr Häfner, Sie haben das, was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, völlig richtig zitiert. Ich habe genau dasselbe gesagt. Von daher sehe ich mich darin bestätigt, keine Frage von Ihnen zugelassen zu haben. Sie haben mir doch nur das vorlesen wollen, was ich selber gesagt habe.
Aber jetzt noch einmal zur Sache: Das Bundesverfassungsgericht sagt im Grunde dreierlei.
Das erste ist: Überhangmandate sind eine im System immanent angelegte Konsequenz des personalisierten Verhältniswahlrechts.
Zweitens sagt das Bundesverfassungsgericht: Überhangmandate sind zu verhindern, soweit sie auf Problemen beruhen, die in der Untergewichtigkeit, der Ungleichheit von Wahlkreisen liegen. - Das ist der zweite Satz.
Das dritte, was das Bundesverfassungsgericht sagt, haben Sie eben völlig zutreffend zitiert: Die Erfolgswertgleichheit von Wahlstimmen bei Mehrheits- und Persönlichkeitswahlen unterliegt bei Wahlkreisen natürlich gewissen Schwankungsbreiten. Zudem kommt das Kriterium der technischen Möglichkeit, wie es das Bundesverfassungsgericht nennt, hinzu. Das haben Sie selbst so zitiert.
Fassen wir das einmal in diesem Zusammenhang zusammen: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht ein einziges Mal beanstandet oder Zweifel zugelassen, daß unser System mit einer Abweichungsquote von 331/3 Prozent nach unten oder nach oben verfassungswidrig sei. Damit ist gleichzeitig klar, daß in der Immanenz eines solchen Systems, wenn es konkret um die Wahl geht, Überhangmandate statthaft sind - es sei denn, sie basierten auf Wahlkreiseinteilungen, die nicht korrekt sind. Da die Wahlkreiseinteilung aber korrekt ist, ist die Konsequenz, daß die Überhangmandate ebenfalls verfassungsmäßig sind. Das müssen Sie begreifen.
Das hängt nicht damit zusammen, ob ich ein Überhangmandat habe oder 16; das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist die Systemimmanenz.
Sie - das gilt für beide Oppositionsparteien - wollen im Grunde auf ein totales Verhältniswahlrecht hinaus. Sie versuchen in dem Sinne, dieses System, das wir haben und das verfassungsmäßig ist, zu ändern. Das machen wir nicht mit. Deshalb wird es bei diesem System bleiben.
Natürlich wird sich in der Tat - das räume ich ein -, wenn wir die Abweichungsmarge ab dem Jahre 2002 auf 25 Prozent festlegen, ein geringerer Spielraum für das Entstehen von Überhangmandaten ergeben. Das ist unbestreitbar. Aber dies ist heute, wie gesagt, nicht mehr realisierbar.
Die zweite Kurzintervention kommt vom Kollegen Gysi.
Ich möchte ebenfalls noch etwas auf den Kollegen Scholz erwidern, weil er gesagt hat, daß diese Mischform im Wahlsystem nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern eigentlich sogar verfassungsrechtlich geboten ist. Er hat weiter gesagt, daß damit zwingend zusammenhängt, daß es in dem einen oder anderen Fall zu Überhangmandaten kommen kann, und daß dieses System dann, wenn man versuchen wollte, das auszugleichen, verfälscht werden würde.
Wenn das so ist und wenn das vom Grundgesetz her eigentlich auch so verlangt wird, dann würde mich schon interessieren, warum die CDU in Berlin keine Anstrengungen unternimmt, um die dortigen Ausgleichsmandate zu beseitigen. Das hätte nämlich in diesem konkreten Fall zur Folge, daß es eine völlige Verschiebung der Zusammensetzung des Berliner Abgeordnetenhauses gäbe, zugunsten auch der SPD und der Grünen, in erster Linie allerdings zugunsten der PDS.
Es kann ja nicht in einem Falle die eine Regelung verfassungskonform sein - auch dort gilt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland -, und im
Dr. Gregor Gysi
anderen Fall soll genau die entgegengesetzte Regelung verfassungskonform sein. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß auch in das Verfahren für die Wahlen in den Ländern eine Logik und eine Systematik hinein müssen.
Ich will ein Beispiel bringen - man kann die Wahlkreise zuschneiden, wie man will; sie sind relativ gerecht zugeschnitten -: Das Problem ist, daß die PDS in Ost-Berlin sehr stark gewählt wird, dort mit einer Ausnahme alle Direktmandate geholt hat, aber in bezug auf die Zweitstimmen im Westteil der Stadt nicht ebenso abgeschnitten hat. Daraus resultiert, daß wir auf Grund der Erststimmen zehn Mandate mehr haben, als durch das Zweitstimmenergebnis gerechtfertigt ist. Wenn man das in Berlin überhaupt nicht ausgleichen würde, gäbe es eine ganz beachtliche Verschiebung, in diesem Falle einmal zu unserem Vorteil. In einem anderen Fall kann es sich auch zu unserem Nachteil auswirken.
Deshalb meine ich, daß das Verhältniswahlrecht hier schon Korrekturen braucht. Wenn Sie aber sagen, daß das auf Bundesebene nicht erforderlich sei, daß es im Gegenteil eher grundgesetzwidrig sei, einen solchen Ausgleich zu schaffen, dann sage ich, daß das auch für Berlin und für die anderen Länder gelten muß. Dann käme es dort zu erheblichen Machtverschiebungen, zum Teil allerdings zu ganz beachtlichen - wie in diesem Fall - zuungunsten der CDU.
Herr Kollege Scholz.
Herr Gysi, ich finde es bewundernswert, wie Sie sich langsam in das deutsche Wahlrecht einarbeiten. Bloß, Sie haben eines - das ist meine einzige Antwort darauf - übersehen: Das Berliner Wahlsystem ist völlig anders als das Bundeswahlsystem. Es handelt sich um ein 6040-System; das hat natürlich eine völlig andere Konsequenz. Sie müssen systemimmanent argumentieren, dann werden Sie auf die richtige Spur kommen.
Ich schließe die Aussprache und teile vor der Abstimmung mit, daß der Kollege Gerald Häfner eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben hat. )
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Drucksachen 13/5583 und 13/5750 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der Fraktion der
* ) Anlage2
SPD und der Gruppe der PDS bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von Ihren Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache 13/5582. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/5750 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/5582 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, F.D.P. und des Bündnisses 90/Die Grünen bei einer Enthaltung aus der SPD abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Kompensation von Überhangmandaten auf Drucksache 13/5575. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/5750 unter Nr. 3, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5575 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Bericht der Wahlkreiskommission gemäß § 3 des Bundeswahlgesetzes, Drucksache 13/5750 Nr. 4 Abs. 1. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme des Berichts auf Drucksache 13/ 3804. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Zwischenbericht der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages mit den Empfehlungen für die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag und zu den wesentlichen Regelungen für eine Verkleinerung, Drucksache 13/ 5750 Nr. 4 Abs. 2. Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme des Zwischenberichts auf Drucksache 13/ 4560. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Ergänzenden Bericht der Reformkommission mit den Empfehlungen zu den wesentlichen Regelungen für die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ab der 15. Wahlperiode,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Drucksache 13/5750 Nr. 4 Abs. 3. Der Ausschuß empfiehlt auch hier Kenntnisnahme des Ergänzenden Berichts auf Drucksache 13/4860. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 ist damit beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
... Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung
- Drucksache 13/2576 -
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
- Drucksache 13/5743 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ronald Pofalla Alfred Hartenbach
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Wir verfahren entsprechend.
Wenn im Saal die Voraussetzungen wiederhergestellt sind, eröffne ich die Aussprache. - Herr Kollege Ronald Pofalla, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den wir zu beraten haben, befaßt sich mit der längst überfälligen Beschleunigung von Verfahren nach der Strafprozeßordnung.
Einen Augenblick, Herr Pofalla. - Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, sich dann, wenn sie gehen wollen, aus dem Saal zu entfernen, damit wir weitermachen können.
Bitte, Herr Pofalla.
Schon in der letzten Wahlperiode stand das Thema Beschleunigung auf der Tagesordnung. Damals wurde auf Grund des Verbrechensbekämpfungsgesetzes ein wichtiges Instrumentarium der Strafprozeßordnung fortentwikkelt, nämlich das sogenannte beschleunigte Verfahren. Damit sollte dem Hauptanliegen, das mit dem beschleunigten Verfahren verfolgt wird, nämlich der Koordinierung, Vereinfachung und Beschleunigung von Strafverfahren, entsprochen werden.
Gemessen an diesem hehren Anspruch muß man sich aber fragen dürfen, was dieses Gesetz in der Praxis gebracht hat. Ein Blick in den Justizalltag bringt dabei zutage, daß in der Praxis vom Institut des beschleunigten Verfahrens leider zuwenig Gebrauch gemacht wird. Das bedeutet aber nicht, daß dieses Instrument der Strafprozeßordnung überflüssig ist. Vielmehr ist es ein Indiz dafür, daß dieses Verfahren ohne die Einführung der Hauptverhandlungshaft nur schwer durchführbar ist. Eine rasche Aburteilung von tatsächlich oder rechtlich einfach gelagerten Fällen mittels des beschleunigten Verfahrens ist nur dann sinnvoll, wenn bei Beginn seiner Durchführung die Anwesenheit des Beschuldigten sichergestellt ist. Hierzu bedarf es nach unserer Auffassung der Hauptverhandlungshaft.
Das Erfordernis, dieses beschleunigte Verfahren durch dringend erforderliche Änderungen im Haftrecht zu ergänzen, wurde von den Fraktionen der CDU/CSU sowie der F.D.P. bereits in ihrem Entwurf zum Verbrechensbekämpfungsgesetz gesehen ,und behandelt, scheiterte aber gerade in diesem Punkt im Vermittlungsausschuß.
Die geringe Anwendungsakzeptanz im Justizalltag einfach hinzunehmen, ohne auf den beschriebenen Mißstand mit dem hier vorliegenden Entwurf zu reagieren, wäre nach unserer Auffassung eine Art gesetzgeberischer Planwirtschaft, mit der sich zumindest die Koalition nicht zufriedengeben will und kann.
Der Anwendungsbereich des durch den vorliegenden Gesetzentwurf geplanten Haftinstrumentariums erstreckt sich in erster Linie auf Delikte, bei denen außer einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr die Voraussetzungen tatsächlicher oder rechtlicher Überschaubarkeit derart evident vorliegen, daß es anderenfalls schon gar nicht zur Aufnahme des beschleunigten Verfahrens kommen würde.
Dies trifft überwiegend auf sogenannte reisende Straftäter, also Schlachtenbummler oder links- bzw. rechtsextremistische Chaostouristen zu. Sollte gegen Täter aus diesen Kreisen ein Verfahren binnen einer Wochenfrist nicht abgeschlossen werden können, ist - entgegen anderslautenden Mutmaßungen der Opposition - nichts zu befürchten, was nicht von rechtsstaatlichen Prinzipien gedeckt wäre. Die Vermutung, ein anderer Haftgrund könnte dann einfach nachgeschoben werden, wird sich angesichts der insofern sensiblen Ausgestaltung des Haftrechts in der Strafprozeßordnung nicht bewahrheiten. Wenn wir das heute beschließen, werden Sie, Herr Hartenbach, das sicher in den nächsten Jahren zur Kenntnis nehmen können.
Der bereits gesetzlich geregelte Haftgrund der Fluchtgefahr, der von den Gegnern der Hauptverhandlungshaft in diesem Zusammenhang immer wieder als ausreichend favorisiert wird, führt hier wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eben nicht zu der gewünschten Lösung des Problems, weil er andere Fälle betrifft. Vorliegend geht es bloß um eine Gefährdung des schnellen Ablaufs der Strafverhandlung durch Nichterscheinen des Beschuldigten zum beschleunigten Verfahren und nicht um eine generelle Vereitelung.
Ronald Pofalla
Daß der Haftgrund der Fluchtgefahr in dem einen oder anderen Fall gleichzeitig vorliegen mag, macht die Hauptverhandlungshaft deshalb nicht etwa überflüssig. Immerhin gibt es doch auch solche Straftäter, die durchaus einen festen Wohnsitz sowie Arbeitsplatz haben, denen keine hohe Strafe droht und die sich, wenn auch vielleicht nicht unbedingt der konventionellen Hauptverhandlung, so aber doch zumindest dem beschleunigten Verfahren durch überstürzte Abreise vom Tatort entziehen.
Auch das Ergebnis der Anhörung, die wir im Juni zur Hauptverhandlungshaft durchgeführt haben, spricht insofern eine deutliche Sprache. Hierbei wurde sogar betont, daß die Hauptverhandlungshaft mit der Höchstdauer von einer Woche deutlich milder ist als die für den Haftgrund der Fluchtgefahr vorgesehene sechsmonatige Untersuchungshaft. Die Hauptverhandlungshaft wurde von Experten sogar lediglich als Perpetuierung bereits vorhandener Haftgründe bezeichnet.
Allem voran steht nach wie vor der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Herr Kollege Meyer, der auch bei der Verhängung der Hauptverhandlungshaft zwingend zu beachten ist. Das beschleunigte Verfahren sollte daher auch nicht etwa zu Lasten des Strafbefehlsverfahrens oder der Möglichkeit der Einstellung gegen Auflage oder Sicherheitsleistung genutzt werden. Diese Verfahrensarten wären gegebenenfalls als ein milderer Eingriff vorzugswürdig. Auch die allgemeinen Anforderungen an Inhalt und Form des Haftbefehls nach § 114 StPO sowie schließlich die Möglichkeit der Aussetzung des Vollzugs durch den Richter nach § 116 StPO sind weiterhin unabdingbar.
Die Entscheidung über den Erlaß des Haftbefehls obliegt demjenigen Richter, der auch für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zuständig ist. Die kompetente Beachtung der zwingenden Verfahrensvorschriften und die qualifizierte Beurteilung eines Falls als rechtlich und tatsächlich einfach sind auf Grund größtmöglicher Sachnähe damit nach unserer Auffassung hinreichend gewährleistet.
Der Gesetzgeber hat den Richter auf Grund des Verbrechensbekämpfungsgesetzes generell mit der Entscheidungsbefugnis darüber ausgestattet, ob dieser überhaupt gegen einen Beschuldigten das beschleunigte Verfahren eröffnen soll. - Dies ist geltendes Recht, meine Damen und Herren! - Dann aber sollte man demselben Richter nach unserer Überzeugung konsequenterweise auch die damit verbundene Beurteilung zutrauen, im selben Fall und unter den gleichen Voraussetzungen erforderlichenfalls auch einen Haftbefehl zu erlassen.
- Herr Hartenbach, Ihre Position verwundert mich gerade deshalb, weil Sie
auf Grund Ihrer Kenntnis der Praxis als Richter doch eigentlich davon ausgehen müßten, daß es der Hauptverhandlungshaft bedarf. Offensichtlich gibt es aber andere Erwägungen - diese tragen Sie nicht vor -, die bei Ihnen dazu führen, daß Sie die Hauptverhandlungshaft hier zum wiederholten Male ablehnen werden.
Die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift will hierbei nach unserer Überzeugung nur auf begründete Ausnahmefälle mit sachgerechten Lösungen hinsichtlich örtlicher Besonderheiten bei Aufstellung des Geschäftsverteilungsplanes durch die Amtsgerichte reagieren.
Auch der vielfach heraufbeschworene Anschlag auf den Grundsatz der Unschuldsvermutung durch etwaige vorschnelle Prognosen und damit verbundene ungerechtfertigte Inhaftierungen ist reine Spekulation. Die richterliche Vorherrschaft bei Vorbereitung und Durchführung des beschleunigten Verfahrens wird dem entgegenstehen.
Außerdem wird die Hauptverhandlungshaft - entgegen einem vielfach geäußerten Mißverständnis - auch nicht in allen Fällen verhängt werden, bei denen das beschleunigte Verfahren in Betracht kommt. In der Praxis wird nämlich regelmäßig dann keine Haft verhängt, wenn ein Wohnsitz des Beschuldigten vorhanden ist. Das beschleunigte Verfahren kann auch ohne Vorabfestnahme betrieben werden.
Hier liegt der entscheidende Denkfehler, Herr Hartenbach, den Sie in den letzten Wochen immer wieder begangen haben.
. Die einen Diebstahl begehende Hausfrau - die führen Sie ja immer an - wird nach diesem Haftinstrumentarium deshalb nicht inhaftiert, weil sie einen Wohnsitz nachweisen kann. Hier geht es ja nicht darum, daß ein Täter flüchten will, sondern hier geht es darum, jemanden dingfest zu machen, der sich dem beschleunigten Verfahren innerhalb der Ein-Wochen-Frist entziehen will. Da können Sie argumentieren, wie Sie wollen.
Außerdem wird die Hauptverhandlungshaft natürlich auch dann nicht verhängt werden, wenn der Täter den Wohnsitz eindeutig nachweisen kann. Herr Hartenbach, das wissen Sie auf Grund Ihrer richterlichen Erfahrung.
Nebenbei bemerkt, meine Damen und Herren, verschlingen die herkömmliche Dauer der Untersuchungshaft sowie die Maßnahmen der Aufenthaltsermittlung - das muß in einer solchen Debatte auch einmal gesagt werden - Unsummen an Steuergeldern.
In der Praxis wird darüber hinaus durch die Strafprozeßordnung vorgeschrieben, daß der Richter stets vorrangig - Herr Hartenbach, vorrangig! - Haftsachen bearbeiten muß. Ein im beschleunigten Verfahren behandelter Fall kann demnach nur dann vorgezogen werden und damit den eigentlichen Zweck des beschleunigten Verfahrens erfüllen, wenn er
Ronald Pofalla
durch die Einführung der Hauptverhandlungshaft selbst zu einer Haftsache geworden ist.
Schon das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung - nachzulesen im 32. Band - darauf hingewiesen, daß ein Eingriff in die persönliche Freiheit dann hinzunehmen ist, wenn ein legitimer Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch Inhaftierung.
Herr Pofalla, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hartenbach?
Ja.
Herr Kollege, ich zitiere aus der Begründung des von Ihnen vorgeglegten Gesetzentwurfs. Ich beziehe mich dabei auf Ihre eben gemachte Behauptung, es müsse ein Haftgrund vorliegen, um die Hauptverhandlungshaft anzuordnen. Es heißt da:
Aufgrund der bisherigen Rechtslage waren die Gerichte auch gehindert, das beschleunigte Verfahren innerhalb weniger Tage durchzuführen, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls fehlten, der zunächst vorläufig festgenommene mutmaßliche Täter wieder freigelassen werden mußte .. .
Wie stimmt das mit Ihrer Behauptung überein, man könne die Hausfrau, den Ladendieb nicht festnehmen, wenn man befürchten müsse, sie bzw. er werde sich der Hauptverhandlung entziehen?
- Gleich, Herr Kleinert.
Stimmen Sie mit mir darin überein, Herr Pofalla, daß die Befürchtung, es werde sich jemand der Hauptverhandlung entziehen, bei jedem mutmaßlichen Täter in Betracht kommt?
Da stimme ich Ihnen ausdrücklich nicht zu. Sie wissen, daß das in der Praxis anders ist. Wir reden über „reisende Straftäter", über links- oder rechtsextreme Chaoten, die tageweise in Städte einfallen und sich logischerweise der Hauptverhandlungshaft und damit dem beschleunigten Verfahren entziehen wollen. Um diese Täter geht es. Ich hatte gehofft, daß das auf Grund der breiten Debatte, die wir im Rechtsausschuß geführt haben, auf Ihrer Seite verstanden worden ist.
Letztlich ist auch keineswegs vorgesehen - um noch ein Argument vorzutragen -, daß die Justiz dadurch schneller arbeitet, daß sie sich selbst unter Druck setzt. Vielmehr soll ihre Arbeit schneller dadurch erledigt werden, Herr Hartenbach, daß sie auf den Bereich der angesprochenen Kleinkriminalität weniger Zeit als bisher verwendet und deshalb ihre verbleibenden Aufgaben schneller erledigen kann.
Die Hauptverhandlungshaft wird sich in der Praxis bewähren - davon sind wir überzeugt -, da sich viele der Fälle gleich beim Richter erledigen und dadurch Kapazitäten frei werden. Genau dieses ist das Ansinnen des bereits vorhandenen beschleunigten Verfahrens im Ursprung gewesen.
Aus all diesen Gründen sind wir der Auffassung, daß das beschleunigte Verfahren in der Praxis sinnvollerweise nicht ohne die Hauptverhandlungshaft auskommt. Deshalb werden wir nachher für die Einführung der Hauptverhandlungshaft stimmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Hartenbach.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Rechtsfreundinnen! Liebe Rechtsfreunde! Ich oute mich ganz eindeutig als Gegner der Hauptverhandlungshaft.
Meine Damen und Herren, wenn wir die Rechtspolitik der Bundesregierung und der von ihr abhängigen Parteien betrachten, können wir in leichter Abwandlung eines Bibelwortes sagen: Viele fühlen sich berufen, aber wer ist auserwählt, etwas Vernünftiges zu sagen? Wer bestimmt denn nun die Justizpolitik in dieser Koalition? Ist es der Justizminister,
der dem Bundesverfassungsgericht Fesseln anlegen will und dessen stärkste Leistung der „Ehrenschutz für Soldaten" ist?
Ist es jener Außenhandelskaufmann, der die Altersgrenze für die Strafmündigkeit der Kinder von 14 Jahren auf 12 Jahre herabsetzen will?
- Ein Außenhandelskaufmann bei Ihnen. - Oder sind es die vielen Möchtegernjuristen, die über eine Verschärfung des Jugendstrafrechts schwadronieren?
Oder ist es Theo Waigel, der dem Justizminister widerspricht und so trefflich und sachunkundig über Strafrahmen filibustert - er, der noch nicht mal sein eigenes Handwerk versteht? Oder sind es gar die, die den Schutz des Eigentums wie eine Ikone vor sich her tragen und jeglichem Entkriminalisierungsgedanken die Monstranz „Wehret den Anfängen!"
Alfred Hartenbach
vorhalten, aber dann ganz klammheimlich dem wildernden Jäger Absolution erteilen?
Man hat den Eindruck, Rechtspolitik ist bei dieser Bundesregierung ein bunter Bauchladen. Da wird feilgeboten, was an deutschen Stammtischen gerade im Trend ist.
Aber richtig durchdacht ist nichts.
Aus diesem Bauchladen stammt auch das neue Gesetz, das sich harmlos „Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung" nennt, in Wirklichkeit aber ein heimtückisches und hinterhältiges Instrument der Strafverfolgungsbehörden ist und das Ende eines rechtsstaatlichen und gerechten Strafprozesses einläutet. Man weiß wieder nicht, Herr Geis: Stammt das von den Rechtspolitkern, der Koalition, oder hat hier der Innenminister die Feder geführt?
Ich habe kürzlich in einem Lehrbuch aus meiner Studentenzeit geblättert
und dabei zwei Sätze gefunden, die ich mir damals schon angestrichen hatte und die, Herr Götzer, Sie sich einmal anhören sollten. Der erste ist von Kant, aus der „Metaphysik der Sitten" . Er paßt haargenau zu dem, was Herr Pofalla hier eben vorgetragen hat. Kant sagt:
Die Gerechtigkeit hört auf, eine zu sein, wenn sie sich für irgendeinen Preis weggibt.
Ihr Preis, meine Herren Kollegen, ist die Beschleunigung der Verfahren durch hemmungslose Verhaftungen. Dafür bleibt die Gerechtigkeit auf der Strecke.
Aber befassen wir uns nun einmal ganz konkret und Punkt für Punkt mit dem Wechselbalg von Gesetz, den Sie uns hier auftischen. Ich habe, damit Sie Punkt für Punkt mithören können, acht Aspekte aufgeführt:
Sie sagen, das beschleunigte Verfahren mache nur Sinn, wenn der Täter aus der Haft vorgeführt werde. - Das ist der erste grundlegend falsche Gedanke
- doch, Herr Pofalla hat es gesagt -, wie Ihnen Richter in Bochum und anderen Städten sowie im Land Brandenburg belegt haben, die das beschleunigte Verfahren verstärkt anwenden, durchaus mit Erfolg und ohne Verhaftung bis zu sieben Tagen.
Sie sagen, man muß die Gerichte durch den Druck der Haft zu Verhandlungen im beschleunigten Verfahren zwingen. - Das ist toll: Da muß jemand leiden, damit auf die Richter Druck ausgeübt wird. Das ist der zweite grundlegend falsche Gedanke und obendrein rechtsstaatlich höchst bedenklich. Sie erreichen mit Ihrem Gesetz, daß künftig die Polizei schon bei der Festnahme bestimmt, wie ein Verfahren gestaltet wird. Sie wollen, daß der Beamte im Streifenwagen die Entscheidung trifft: Den kann ich vorläufig festnehmen, der wird ohnehin verhaftet, weil sich sein Fall für eine Verhandlung im beschleunigten Verfahren eignet.
Sie bürden damit den Polizeibeamten vor Ort eine Entscheidung auf, die diese überhaupt nicht überblicken können,
und Sie degradieren damit Staatsanwaltschaft und Gericht zu Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfen der Polizei. Sie zerschlagen die Unabhängigkeit der Gerichte. Allein die Strafrichter dürfen und sollen den Gang eines Verfahrens bestimmen - und manchmal die Anwälte. Ist das, Herr Pofalla, Herr Geis, der Weg in einen Polizeistaat, den Sie gehen wollen?
Sie sagen, Sie könnten mit diesem Gesetz - jetzt hören Sie einmal gut zu, junger Mann! -
reisende Demonstranten, reisende Fußballrowdies, reisende Trickdiebe usw. packen. - Das ist der dritte grundlegend falsche Gedanken. Das beschleunigte Verfahren darf nur angewendet werden, wenn der Sachverhalt einfach und die Beweislage klar ist, und das ist bei diesen Tätergruppen nun gerade nicht der Fall. Wer etwas anderes behauptet und der Öffentlichkeit vormacht, offenbart mangelhafte Kenntnisse der Praxis.
Gerade dieser Täterkreis wird alles daransetzen, den Sachverhalt kompliziert zu gestalten und Nebelkerzen zu werfen.
Auch wir wollen eine beschleunigte Erledigung der Strafverfahren, aber auf rechtsstaatlich unbedenkliche Weise. Dafür gibt es ja Rezepte: Wenn der Sachverhalt wirklich überschaubar ist, wenn der Täter eine feste Wohnanschrift hat - also in genau den Fällen, die Sie angesprochen haben -, dann gibt es ein noch viel einfacheres Verfahren: den Strafbefehl, die schriftliche Erledigung. Hiermit können exakt die gleichen Strafen verhängt werden wie im beschleunigten Verfahren, nämlich Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Hat der Täter hingegen keine feste Wohnadresse, kann er stets - nach jetzt geltendem, unbedenklichem Recht - wegen Fluchtgefahr in Haft genommen werden. Das ist genau das, was Sie wollen. Wozu brauchen wir Ihr Gesetz?
Sie behaupten, das Gesetz diene der Verbrechensbekämpfung. - Das ist der vierte grundlegend falsche Gedanke; auch das haben Sie eben nicht kapiert. Verbrechen werden nach unseren Gesetzen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr belegt.
Alfred Hartenbach
In dem von Ihnen gewollten Verfahren nach Hauptverhandlungshaft darf höchstens ein Jahr Freiheitsstrafe verhängt werden.
Das ist wieder so ein Etikettenschwindel, damit die Stammtische ruhig bleiben.
Aber Verbrecher packen Sie damit nicht.
Sie sagen, die schnelle Strafe habe erzieherische Wirkung und halte andere von Straftaten ab. - Das ist Ihr fünfter grundlegend falscher Gedanke. Die Untersuchungshaft dient allein der Sicherung des Verfahrens; sie soll keine erzieherische Wirkung entfalten. Allein das Urteil soll erzieherisch wirken. Es wird auch nur auf den wirken, den es trifft. Wer glaubt, er erziele mit diesem Verfahren eine generalpräventive Wirkung und halte potentielle Täter von Straftaten ab, offenbart wieder seine absolute Unkenntnis von der täglichen Praxis.
Sie sagen: Schnelles Recht ist gutes Recht. - Das ist der sechste grundlegend falsche Gedanke. Der kurze Prozeß, den Sie anstreben, verleitet zu oberflächlichen Ermittlungen. Schlimmer: Beschuldigte werden oft nicht in der Lage sein, sich ausreichend auf eine Verteidigung vorzubereiten; sie werden in der Kürze der Zeit auch keinen geeigneten Verteidiger finden, der sich ihrer Sache annimmt. Die Richter müssen unter Zeitdruck entscheiden; da kann kein gutes Recht wachsen.
Sie sagen: Sie entlasten die Gerichte. - Das ist der siebte grundlegend falsche Gedanke. Der kurze Prozeß, den Sie wollen, funktioniert - wenn überhaupt - nur bis zur ersten Instanz. Der Ladendieb und der Schwarzfahrer werden vielleicht noch ein maßvolles Urteil des Amtsgerichts akzeptieren, weil sie so schnell wie möglich aus der Haft wollen, nicht aber die Täter, die Sie angeblich mit diesem Gesetz pakken wollen.
Auch für den Alltagstäter gilt: Beschuldigte, denen man den kurzen Prozeß macht, die man über die Klinge springen läßt, legen viel eher und viel häufiger Rechtsmittel gegen Urteile ein als die, die ihre Sache in Ruhe vortragen können und vernünftig angehört werden. Praktiker wissen das. Die Zeit, die Sie in einem höchst fragwürdigen Prozeß zunächst scheinbar sparen, werden Sie in der nächsten Instanz mit einem erhöhten Personalaufwand verschwenden müssen. Damit haben Sie nichts gewonnen. Oder hoffen Sie auf die verschärfte Annahmeberufung?
Sie behaupten, Kosten seien nicht zu erwarten. - Das steht in Ihrem Entwurf. Das ist Ihr achter grundlegend falscher Gedanke und eine Verdummung der Bevölkerung dazu.
Sie wissen sehr wohl, daß der Richter beim beschleunigten Verfahren prüfen muß, welche Strafe er möglicherweise verhängt. Lautet seine Prognose: mehr als sechs Monate Freiheitsstrafe, dann muß das Gericht einen Verteidiger beiordnen. Diese Kosten trägt zunächst einmal die Staatskasse. Ob sie von dem verurteilten Beschuldigten später einzutreiben sind, ist für mich nicht vorstellbar.
Wir werden eine Fülle von weiteren Verhaftungen - zumeist kurzfristige - erleben. Ein Haftplatz kostet derzeit 150 bis 200 DM pro Tag. Wer trägt denn diese Kosten? - Die Haushalte der Bundesländer. Das hätten Sie sagen müssen. Dabei gibt es doch eine kostengünstigere Alternative - ich habe sie bereits genannt -: den Strafbefehl.
An diesen acht Punkten habe ich Ihnen soeben nachgewiesen, daß nicht ein einziger von Ihnen genannter Grund die Einführung der Hauptverhandlungshaft rechtfertigt. Im Gegenteil: Es kommt mehr Arbeit auf die Amtsgerichte zu, Prozesse werden durch mehrere Instanzen gehen, sie werden teurer, und die von Ihnen behauptete „abschreckende Wirkung" wird nicht eintreten.
Das sind aber nicht alle Negativpunkte, die Ihr Gesetz unannehmbar machen: Die Hauptverhandlungshaft greift in unerträglicher Weise in das Grundrecht der Freiheit der Person ein und beschädigt verfassungsrechtliche Garantien. Sie schaffen einen neuen Haftgrund, der von der Begründung her schwammig und nicht interpretierbar ist. Er ist leicht handhabbar, da nicht angreifbar. Die Polizei muß nur befürchten, der Beschuldigte werde einer nahen Hauptverhandlung fernbleiben; das reicht, um einen Menschen eine Woche aus dem Verkehr zu ziehen. Das ist eine reine Kaffeesatzentscheidung. Wenn er erst einmal sitzt, sitzt er sieben Tage.
Die Hauptverhandlungshaft verletzt das Prinzip der Unschuldsvermutung. Angesichts der in aller Regel im beschleunigten Verfahren zu erwartenden Strafen wird der immer zu beachtende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit Füßen getreten. Was erhält denn ein wohnsitzloser Ladendieb? 15 Tagessätze zu 5 DM unter Anrechnung von sieben Tagen Haft. Es bleiben 40 DM Strafe übrig, die der Fiskus in den Wind schreiben kann. Aber für eine Woche Haft hat der Staat 1 050 DM bis 1 400 DM aufgewendet. Mit diesem Betrag könnte man einem Arbeitslosen einen Arbeitsplatz finanzieren. Das wäre sinnvoll, aber das wollen Sie ja nicht.
Durch die Hauptverhandlung werden Strafen vorweg vollstreckt, die eigentlich so nicht vollstreckt werden dürften. In aller Regel werden Geldstrafen verhängt, deren Vollstreckung durch die Haft die absolute Ausnahme, das letzte Mittel der Durchsetzung des staatlichen Vollstreckungsanspruches sein soll.
Mit Ihrem kurzen Prozeß stellen Sie dieses Rechtsinstitut auf den Kopf. Fehlurteile und damit unschuldig erlittene Untersuchungshaft werden oft nicht korrigierbar sein. Wie ist es denn, wenn einmal ganz außergewöhnlich ein Freispruch droht? Dann wird dem
Alfred Hartenbach
Beschuldigten die Einstellung des Verfahrens nach § 153 a der Strafprozeßordnung unter Verzicht auf Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft angeboten. So ist die Praxis.
Die Hauptverhandlungshaft verstößt - jetzt hören Sie ein letztes Mal bitte gut zu - gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. Wegen eines geringen Schuldvorwurfs kann ein Beschuldigter eher in Haft genommen werden als ein wirklich schwerer Junge, der so viel auf dem Kerbholz hat, daß gegen ihn nicht im beschleunigten Verfahren verhandelt werden kann. Aber weil auch sonst kein Haftgrund vorliegt, darf er spazierengehen oder nach Marbella in die Sonne fliegen, während der kleine Eierdieb brummt. Ist das Ihre Vorstellung von Gerechtigkeit?
Dieses Gesetz, meine Damen und Herren der Union und der Koalition, löst die Probleme nicht. Es ist verfassungswidrig und schafft nur neue Probleme.
Das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat wird nicht steigen. Es wird erschüttert, wenn plötzlich jemand aus Ihrer Nachbarschaft einmal eben sieben Tage aus dem Verkehr gezogen wird.
Deshalb schließe ich mit dem zweiten Satz, den ich beim Blättern in meinen sicher veralteten Lehrbüchern aus der Studentenzeit gefunden habe. Dieser Satz lautet: Das Recht ist der Schild der Schwachen. - Unter dieser Regierung ist der Schild zum Küchensieb verkommen.
Danke schön. Ich möchte mich bei Ihnen für den „jungen Mann" entschuldigen. Es war nicht böse gemeint.
Kollege Volker Beck, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Ihnen, meine Herren Rechtspolitiker von der Koalition, hat man den Eindruck, Sie hielten den Rechtsstaat für einen Schweizer Käse, den man beliebig aushöhlen könne:
großer Lauschangriff, Kronzeugenregelung und heute eben die Hauptverhandlungshaft.
Die Idee der Hauptverhandlungshaft kollidiert mit wesentlichen rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Prinzipien. Sie verstößt gegen den
Gleichheitsgrundsatz und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Bündnis 90/Die Grünen lehnen daher den Gesetzentwurf entschieden ab.
Was wollen Sie? Mit der Verlängerung von Hauptverhandlungshaft bis zu einer Woche sollen zukünftig mehr beschleunigte Verfahren erreicht werden. Voraussetzung: Unverzügliche Entscheidung bei einfachem Sachverhalt ist möglich, die Beweislage ist klar und die zu erwartende Strafe ist maximal ein Jahr, das heißt, es handelt sich um Vergehen und nicht Verbrechen.
Beschuldigte, denen Straftaten mit sehr viel höherer Straferwartung vorgeworfen werden, sind in vielen Fällen und völlig zu Recht nicht in Haft, da weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr besteht. Der kleine geständige Eierdieb kommt dagegen künftig bis zu einer Woche in Hauptverhandlungshaft. Der Volksmund sagt hierzu: Die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen. Das Rechtsbewußtsein in der Bevölkerung nimmt Schaden, wenn der Gesetzgeber dieses auch noch zum Prinzip erklärt. Genau dies tun Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Hauptverhandlungshaft ist Einsatz von Haft zu haftfremden Zwecken. Das gesetzgeberische Motiv ist die „erzieherische Wirkung". In der Begründung des Gesetzentwurfes und noch deutlicher in den Ausschußberatungen haben Sie hier die Hosen heruntergelassen.
Endet das Verfahren mit einer Bewährungs- oder Geldstrafe, soll der auf frischer Tat Ertappte wenigstens mit der Freiheitsentziehung bis zur Hauptverhandlung die harte Hand des Staates gespürt haben. Das ist vorweggenommene Strafe ohne Schuldfeststellung. Sie stellen damit den Rechtsstaat auf den Kopf.
Sie bedenken nicht, was eine Woche Haft an desintegrierender Kraft für den Beschuldigten am Arbeitsplatz und in der Familie bedeutet, ob er nicht erst durch dieses unsinnige Mittel zur Aufnahme einer kriminellen Karriere gebracht wird.
In dem Bereich, in dem der Entwurf mit geltendem U-Haft-Recht übereinstimmt, kann man natürlich kaum sagen, er sei verfassungswidrig. Der Entwurf geht jedoch erklärtermaßen genau darüber hinaus. Wenn der Befund richtig ist, daß die Justiz der gesetzlichen Vorgabe - Strafbefehlsverfahren und beschleunigtes Verfahren - nicht genügend entspricht, dann darf man nicht Hauptverhandlungshaft dafür einsetzen, um die Justiz zu erziehen. Es darf nicht der einzelne, der nur eine Woche in Haft kommt, dafür büßen, daß die Justiz insgesamt nicht so will, wie sich der Gesetzgeber das vorgestellt hat.
Volker Beck
Dann müssen Sie schon - wie Frau von Renesse scherzhaft vorgeschlagen hat - die Richter in Haft nehmen, wenn Sie die zu einem anderen Verhalten nötigen wollen, aber nicht die Beschuldigten.
Die Hauptverhandlungshaft soll eingeführt werden, damit das beschleunigte Verfahren vermehrt durchgeführt wird; so Ihre These. Der Nachweis der geringen Anwendungshäufigkeit des beschleunigten Verfahrens auf Grund des Nichtvorhandenseins des Haftgrundes oder des Nichterscheinens des Angeklagten zur Verhandlung wurde nicht erbracht. Was Sie hier machen, ist Gesetzgebung auf Verdacht. Weder die Bundesregierung noch ihre Sachverständigen von der Koalition in der Anhörung konnten den Beweis für diese These antreten.
Herr Kollege Beck, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. Ich möchte nur gern den Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Oswald bitten, seine tätige christliche Nächstenliebe etwas unauffälliger auszuüben. - Bitte fahren Sie fort.
Ihre Behauptung, man könne reisende Straftäter mit diesem Mittel zur Raison bringen, ist populistisch und hält der Überprüfung in der Realität nicht stand. Gerade hier - das hat die Anhörung gezeigt - sind die Fälle meist zu kompliziert und dauert die Beschaffung der Akten und Informationen zu lange, als daß das beschleunigte Verfahren überhaupt anwendbar wäre.
Wo Untersuchungshaft wirklich notwendig ist, reichen die klassischen Haftgründe aus. Wenn man die Voraussetzungen ernst nimmt, gibt es nur relativ wenige Verfahren, die sich für das beschleunigte Verfahren eignen, in der Regel bei der Massen- und bei der Kleinkriminalität. Bei Wiederholungstätern, bei Tätern mit höherer Straferwartung oder bei der Erforderlichkeit, mehr Aktenmaterial herbeizuziehen, stellt sich die Frage, wie man in kürzester Zeit an Informationen kommt. Hier stoßen Sie auf Praktikabilitätsprobleme. Deshalb wird dieses Instrument seltener zur Anwendung kommen, als Sie sich das wünschen.
Besonders bedenklich finde ich die Gefahr der polizeilichen Steuerung der Justiz auf Grund dieses neuen Instrumentes. Den festnehmenden Beamten wird die Prognose auferlegt, die sie nicht stellen können und die nicht in ihrer Kompetenz liegt. Sie müssen nach dem Entwurf beurteilen, ob eine Verurteilung im beschleunigten Verfahren wahrscheinlich ist und ob die Hauptverhandlung innerhalb einer Woche durchgeführt werden kann. Das kann aber allein der zuständige Richter entscheiden,
das darf nicht der Polizeibeamte tun.
In den Ausschußberatungen haben Sie zur Neubegründung Ihres Vorschlages das Bochumer Modell" bemüht. Dort wird das beschleunigte Verfahren bei Ladendieben angewandt. Die Beschuldigten werden bis zu einem Tag in Polizeigewahrsam genommen. Dann wird die Hauptverhandlung angesetzt und sofort durchgeführt.
Man muß kein besonderer Fan dieses Modells sein; aber eines zeigt das „Bochumer Modell" auf jeden Fall: In den Fällen, in denen das beschleunigte Verfahren möglich ist, braucht man keine Hauptverhandlungshaft. Bochum führt das gerade ohne dieses Instrument durch, weil es noch nicht Gesetz ist, und es funktioniert.
Gleichzeitig zeigt Bochum mit 40 Verfahren im Jahre 1995, daß sich nur wenige Verfahren für das beschleunigte Verfahren eignen.
Hauptverhandlungshaft und beschleunigtes Verfahren, kurzer Prozeß und harte Hand gegenüber Eierdieben und angeblich auch gegenüber sogenannten reisenden Straftätern - das verkauft sich gut am Stammtisch, das ist Rechtspolitik à la CSU. Bei den Gerichten werden Sie es da schon schwerer haben, Sympathien für Ihre Vorschläge und Ihre Neuerungen zu finden.
Ich vertraue auf unsere unabhängige Justiz, die auf hohe rechtsstaatliche Standards Wert legt, auch wenn der Gesetzgeber mit diesem Gesetzentwurf signalisiert, in bestimmten Bereichen bräuchte man es mit den rechtsstaatlichen Prinzipien nicht so genau zu nehmen.
Deshalb hoffe ich, daß die Gerichte von diesem Instrument, bei dem Sie bisher entschlossen sind, es einzuführen, wenig Gebrauch machen werden. Dies ist keine gute Stunde für den bundesdeutschen Rechtsstaat.
Das Wort hat der Kollege Detlef Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Wir sind schon bedeutend mehr im System und verfolgen schon bedeutend langfristigere rechtspolitische Überlegungen, als Sie, Herr Hartenbach, vorhin vermutet haben. Im Vorfeld der Entscheidung für eine größere Anlage in Wackersdorf wurde zum Beispiel diskutiert, den alten Tatbestand des Landfriedensbruchs wiedereinzuführen. Gegen diesen Tatbestand gibt es ganz massive rechtspolitische, rechtsstaatliche Bedenken. Deshalb haben wir damals schon - so weit reicht die Vorgeschichte dieser Hauptverhandlungshaft zurück - gesagt: Bevor wir wieder Schuldige und Unschuldige in diesen früheren unglückseligen Zwang des alten Landfriedensbruchs einbezie-
Detlef Kleinert
hen und alle gleichermaßen mit erheblichen Strafandrohungen in die Pflicht nehmen, wollen wir uns an die wirklich Schuldigen halten, an diejenigen, die sich bei einem so wichtigen Recht wie dem der Demonstrationsfreiheit nicht an die mindesten Regeln halten.
Nun gefällt Ihnen die Sache nicht, und dann ist dieser schreckliche Mechanismus zu beobachten, daß Sie, völlig quer durch die Gegend, alles, was notfalls dagegen sprechen könnte, zusammensuchen und ein Schreckensbild entwerfen, anstatt sich einmal abgewogen mit unseren Gründen auseinanderzusetzen.
Ihre scheinbaren Gründe widersprechen sich doch gegenseitig, ganz abgesehen davon, daß Ihre Rechtswirklichkeit - so wie bei Herrn Beck auch - von Phantomgestalten wie zum Beispiel diesen Eierdieben, die in großer Zahl auftreten, wimmelt.
Wer hat schon von so vielen Eierdieben in unserer Gesellschaft gelesen, wie Sie sie in dieser Diskussion auftreten lassen. Das kann es doch nicht sein.
- Jetzt auch noch Gebrauchsanweisungen dazu!
In den Fällen, in denen für einen normalen und vernünftigen Mann, besonders aber für einen erfahrenen deutschen Richter, klar ist, daß es nützlich ist, so schnell wie möglich und natürlich keineswegs am Ende von jeweils sieben Tagen, sondern möglichst am nächsten Tag, zu einer Verhandlung im beschleunigten Verfahren zu kommen, und daß diese Verhandlung gefährdet ist, wenn sich der Betreffende wieder, wie es seinem Naturell entspricht, auf die Reise macht, soll man dieses beschleunigte Verfahren ermöglichen.
Sie argumentieren, das beschleunigte Verfahren könne man ohnehin schon durchführen. Siehe Bochum usw.
Aber dem widersprechen Sie gleichzeitig, wenn Sie sagen, es müsse gründlich ermittelt werden, es müsse vorbereitet werden, es müsse alles erst ausgearbeitet werden. Wir haben ja in der Praxis gerade bei kleineren Fällen schon fast ein schriftliches Verfahren. Aus lauter Verlegenheit wird dann noch einmal an die Staatsanwaltschaft oder die Polizei verfügt, dieses und jenes möge noch aufgeklärt werden, damit die Akte noch ein paar Wochen Ruhe hat, und am Ende stehen da ein Täter, der sich seiner Tat nicht mehr richtig erinnern kann, und Zeugen, die von
nichts wissen. Und das soll dann dem Ruf und Ansehen der Rechtsprechung dienen.
Nur die einfachen Fälle, die überschaubaren Fälle sind gemeint. Die Praxis wird erweisen, daß wir damit der Justiz ein zusätzliches, natürlich vorsichtig zu handhabendes Instrument an die Hand geben. Was soll das, zu sagen, der Polizeibeamte würde entscheiden? Er entscheidet - so wie heute und wie seit vielen Jahren auch schon - immer als der erste, und danach wird dem Richter vorgeführt. Das ist hier genauso wie bei allen anderen Haftgründen. Es wird lediglich eine zusätzliche Möglichkeit eröffnet.
Ich möchte zum Schluß noch einmal ganz deutlich darauf hinweisen, daß wir jede Möglichkeit suchen, um möglichst oft wieder zu einem Inbegriff der Hauptverhandlung mit einer souveränen Richterpersönlichkeit, mit souveränen Verfahrensbeteiligten natürlich auch auf seiten der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft zu kommen, um damit - wir können hier keine Patentrezepte abliefern - ein wenig dazu beizutragen, daß die Hauptverhandlung rechtzeitig stattfindet und dann eben auch keine Rechtsmittel eingelegt werden, weil der Angeklagte selbst noch überzeugt ist, daß ihm Recht geschieht, während das nach acht Monaten nicht mehr der Fall ist.
Einen kleinen Beitrag wollen wir damit leisten, daß wir in Zukunft wieder öfter zu einer Hauptverhandlung kommen, die diesen Namen verdient, die aus einem Guß ist und die auch zur Weiterentwicklung solcher Richterpersönlichkeiten einen wichtigen Beitrag leisten kann.
Herzlichen Dank.
Kollege Professor UweJens Heuer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Entwurf der Koalitionsfraktionen ist ein weiteres Beispiel dafür, daß mit dem Abbau des Sozialstaates die Demontage des Rechtsstaates einhergeht. Er folgt dem allgemeinen Trend der Konservativen in diesem Lande: Strafrahmen erhöhen, Abstrafen, die Leute einsperren und möglichst lange im Knast behalten. Wir lehnen die Einführung der sogenannten Hauptverhandlungshaft aus prinzipiellen Gründen ab.
Es ist ja interessant und aufschlußreich, daß in der Anhörung des Rechtsausschusses im Juni dieses Jahres die anwesenden zwei Staatsanwälte sich vehement für die Hauptverhandlungshaft stark machten, während der Richter und der Rechtsanwalt sich ebenso vehement dagegen wandten. Die Staatsanwaltschaft will die Leute einsperren. Wäre die Polizei befragt worden, wäre sie dem wahrscheinlich auch gefolgt. Es geht ja um ihr Festnahmerecht. Richter und Rechtsanwälte sehen darin keine Lösung und äußern verfassungsrechtliche Bedenken. Der Vertreter des Anwaltsvereins hielt die Hauptverhandlungshaft „für verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar".
Dr. Uwe-Jens Heuer
Ich schließe mich den Bedenken an und möchte drei davon noch einmal nennen.
Erstens. Mit der Hauptverhandlungshaft wird das Einsperren von Menschen ohne „klassischen" Haftgrund eingeführt. Das läuft auf die Vorwegnahme des Vollzugs einer Haftstrafe hinaus, die ja noch gar nicht per Urteil festgelegt ist und in vielen Fällen gar nicht ausgesprochen wird. Dr. Bernd Asbrock, Vorsitzender Richter am Landgericht Bremen, sagt in der Anhörung:
Der Entwurf liefert lediglich Zweckmäßigkeitsüberlegungen zur Begründung dieser neuen Mittel. Er stellt darauf ab,
- das ist zumindest mißverständlich, es steht aber in der Begründung -
daß die Hauptverhandlungshaft selbst eine erzieherische und abschreckende Funktion haben soll. Das wäre eine vorweggenommene Strafe ohne Schuldfeststellung.
Ich halte solche mit der Hauptverhandlungshaft verbundenen Absichten für unvereinbar mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes. Sie sind ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung.
Zweitens. Dem im Rechtsausschuß verkündeten Grundsatz „Nur ein schnelles Recht ist ein gutes Recht" kann ich so bedenkenlos nicht folgen. Das ist hier schon gesagt worden. Mit der Hauptverhandlungshaft ist das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren in Frage gestellt. Seine Verteidigungsmöglichkeiten, seine rechtsanwaltschaftliche Vertretung sind eingeschränkt.
Dazu dann auch noch eine Bemerkung aus der Anhörung. Richter Asbrock sah - ich zitiere aus dem Protokoll -
die Gefahr, daß die Polizei bei einem extensiv gestalteten Festnahmerecht mit der Begründung Hauptverhandlungshaft schon erkenntnisleitend das Verfahren bestimmt. Man kann sagen,
- weiter Dr. Asbrock -
das werden die Richter kontrollieren. Wenn man Polizeipraktiker hört, dann sagen die unverblümt, was in die Hauptverhandlung und überhaupt zum Gericht gelangt, das bestimmen wir.
Ich habe auch ernste Zweifel, ob die vorgesehene Neuerung mit den Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu vereinbaren ist, zum Beispiel mit der Festlegung in Artikel 14, daß er „hinreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung und zum Verkehr mit einem Verteidiger seiner Wahl haben" muß.
Und schließlich halte ich drittens die Hauptverhandlungshaft für einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, der Gleichheit vor dem Gesetz. Beschuldigte, die eine viel höhere Strafe zu erwarten haben, für die aber das beschleunigte Verfahren nicht in Frage kommt, bleiben zu Recht auf freiem Fuß, weil keine Haftgründe vorliegen. Beschuldigte mit weit geringerer Straferwartung werden mit der Begründung eingesperrt, sie würden zur Hauptverhandlung nicht kommen.
Man muß die stigmatisierende Wirkung einer solchen Haft in Rechnung stellen. Eingesperrt gewesen zu sein ist in den Augen vieler lieber Mitbürger nun mal kein besonders gutes Zeichen für einen Menschen, kann in die Arbeitslosigkeit und zum Verlust von Zukunftschancen führen.
Im Rechtsausschuß hörte ich ein geradezu verblüffendes Argument eines der eingeladenen Staatsanwälte. Wenn der Beschuldigte Geld hat, so sagte der Staatsanwalt, dann „nehmen wir eine Sicherheitsleistung" und lassen ihn laufen. „Das ist aus unserer Sicht effektiver, als wenn wir das beschleunigte Verfahren hier heranziehen würden." Das beschleunigte Verfahren samt Hauptverhandlungshaft kommt also nach der Ansicht des ehrenwerten Leitenden Oberstaatsanwalts vorwiegend für die armen Schlucker in Anwendung. Das ist denn doch ein starkes Stück!
Auf die vielen guten Argumente von Richtern und Anwälten, daß die Sache in der Praxis nicht funktionieren kann, weil die sachlichen und personellen Voraussetzungen in den Amtsgerichten nicht gegeben sind, will ich mich nicht einlassen. Aber ich will abschließend eines sagen: Wenn wir das heute beschließen sollten, dann tun wir das gegen den erklärten Ratschlag und Willen der übergroßen Mehrheit der Richter und Staatsanwälte.
Abschließend noch ein Satz: Mein Problem mit der rechten Seite dieses Hauses ist - das hat auch heute der Beitrag von Herrn Marschewski gezeigt -, daß Sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung in abstracto hochhalten, Ihr Innenminister in abstracto und ohne den Schatten eines Beweises der PDS Verfassungsfeindlichkeit vorwirft und nach dem Verfassungsschutzbericht PDS-Abgeordnete bevorzugt beobachtet werden, Sie aber zugleich bei der konkreten Gesetzgebung immer wieder leichtfertig und waghalsig mit dem Grundgesetz, vor allem mit den Freiheitsrechten umgehen.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Götzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hartenbach, heute haben Sie schon ganz tief in die Kiste hineingelangt und die ganz große Keule von unten herausgeholt. Wenn heute einer gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat, dann habe ich den Eindruck, daß Sie das mit Ihrem Beispiel vom Anschlag auf den Rechtsstaat waren.
Worum geht es denn? Wir haben im Rahmen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes das beschleunigte Verfahren mit dem Ziel der Vereinfachung und
Dr. Wolfgang Götzer
Beschleunigung von Strafverfahren fortentwickelt. Wer A sagt, muß auch B sagen.
Das heißt: Wer das beschleunigte Verfahren will - wobei es sicherlich einige von Ihnen nicht wollen -, der muß auch die Hauptverhandlungshaft einführen.
- Nein, wir müssen da schon konsequent bleiben. Ich weiß natürlich, daß Sie auch den Ausgangssatz nicht akzeptieren. Wir haben da eine andere Auffassung.
Das beschleunigte Verfahren kommt, wie wir feststellen mußten, nicht so zum Tragen, wie wir es uns als Gesetzgeber gewünscht haben. Deswegen müssen wir es jetzt praktikabel machen; das heißt: Wir müssen die Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung sicherstellen. Dafür ist die Hauptverhandlungshaft notwendig. Und wir müssen das beschleunigte Verfahren effizient machen; das heißt: Wenn wir dieses Verfahren vorziehen wollen, dann müssen wir die Hauptverhandlungshaft einführen, da in der Regel die Haftsache vorgezogen werden muß.
Wann soll das Institut der Hauptverhandlungshaft in Frage kommen?
Erstens. Der Täter muß auf frischer Tat ertappt werden oder verfolgt worden sein.
Zweitens. Eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren muß wahrscheinlich sein; das heißt: Es muß ein rechtlich und tatsächlich einfacher Sachverhalt und eine klare Beweislage gegeben sein.
Drittens. Auf Grund bestimmter Tatsachen muß Anlaß zur Befürchtung bestehen, daß der Festgenommene der Hauptverhandlung fernbleiben wird.
Angesichts all dieser Voraussetzungen glaube ich nicht, daß die Eingriffsschwelle für dieses neu zu schaffende Institut zu niedrig ist. Im übrigen regeln wir im neu zu schaffenden § 127b Abs. 2, daß der Haftbefehl gemäß Abs. 1 nur dann erlassen werden kann, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung binnen einer Woche nach Festnahme zu erwarten ist.
- Außerdem, Herr Kollege Hartenbach, darf der Haftbefehl höchstens für eine Woche ausgesprochen werden, nicht, wie in Ihrem Beitrag gemeint, in jedem Fall für eine Woche. Das ist eine Höchstfrist und nicht eine Frist in jedem Fall.
Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit selbstverständlich auch hier zu beachten ist, das heißt beispielsweise, daß das beschleunigte Verfahren nicht zu Lasten des Strafbefehlsverfahrens genutzt werden darf.
In welchen Fällen soll die Hauptverhandlungshaft vor allem angewendet werden? Das ist schon vom Kollegen Pofalla angesprochen worden: Wir versprechen uns eine Wirkung vor allem bei der Zielgruppe der reisenden Straftäter, also speziell der Rechts- und Linksextremisten, der Krawallmacher und Chaoten, wie sie insbesondere bei Sportveranstaltungen leider seit Jahren ihr Unwesen treiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn diese Täter künftig mit der sofortigen Festnahme rechnen müssen, hat das auch eine erzieherische und abschrekkende Wirkung.
- Es soll ja keine abschreckende Wirkung auf Sie, Herr Hartenbach, haben, sondern auf die Täter.
Im übrigen geht es uns nicht nur um die abschrekkende Wirkung, wir sind auch der Auffassung, daß die Bevölkerung ein Anrecht auf schnelles Tätigwerden von Polizei und Justiz hat. Uns geht es auch darum, das Vertrauen der rechtstreuen Bevölkerung in das Funktionieren des Rechtsstaates zu stärken. Die Bürger fordern zu Recht, daß die Strafe der Tat auf dem Fuß folgen sollte. Das heißt nicht, Herr Kollege Hartenbach, daß damit das Recht automatisch darunter leidet.
Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetz diesem Grundsatz verstärkt Geltung verschaffen.
Wir sind uns nicht ganz einig über die Qualität eines Zwischenrufs des Kollegen Teiser, der im Zusammenhang mit den sieben Tagen Haft gemacht wurde. Würden Sie ihn freundlicherweise noch einmal wiederholen?
Das Wort hat der Kollege Professor Meyer.
Herr Präsident! Verehrte Kollegen der Regierungskoalition! Sie haben sich mit den Bedenken der Opposition, die unter anderem von meinem Kollegen Alfred Hartenbach vorgetragen worden sind, nur teilweise auseinandergesetzt und sie nicht widerlegt. Dadurch entsteht der Eindruck, daß Sie bei der Hauptverhandlungshaft Rechtspolitik nach dem Motto „Augen und Ohren zu und durch" zu betreiben versuchen.
Dr. Jürgen Meyer
Ich will einen letzten Versuch unternehmen, Sie zu überzeugen. Dazu will ich vier Bedenken vortragen, die bis jetzt allenfalls am Rande erwähnt worden sind:
Erstes Bedenken. Wir haben vor zwei Jahren das beschleunigte Verfahren in der heute geltenden Fassung beschlossen. Dieses Verfahren ist seitdem erheblicher Kritik aus Wissenschaft und Praxis ausgesetzt, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Ich weise Sie nur auf den Kurzkommentar hin, der auf dem Tisch eines jeden Strafrichters steht und in dem mit Nachdruck Bedenken geäußert werden, weil das Beweisantragsrecht eingeschränkt ist und weil ein Verteidiger im beschleunigten Verfahren nur bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten beigeordnet werden muß.
Um Sie ein bißchen nachdenklich zu stimmen, will ich aus diesem Kommentar von Kleinknecht-WeyerGroßner, der ja kein linksrevolutionäres Machwerk ist, zwei Sätze zitieren:
Zwar mag es pädagogisch richtig sein, daß die Strafe der Tat auf dem Fuße folgen soll. Aber ebenso richtig und wichtig ist, daß Strafverfahren in einer Atmosphäre ruhiger Gelassenheit ablaufen sollten.
Was meinen Sie dazu?
Ein zweites Zitat aus der Menschenrechtskonvention möchte ich Ihnen besonders ans Herz legen: Das beschleunigte Verfahren ist jedenfalls nur zulässig, wenn dem Beschuldigten „ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung" gegeben wird. So in Art. 6 Abs. 3 Buchstabe b. Das beschleunigte Verfahren kommt also nicht in Betracht, wenn es den Beschuldigten in seiner Verteidigung beeinträchtigen würde. Das ist der neuralgische Punkt des beschleunigten Verfahrens. Genau hier setzen Sie aber mit Ihrem Reformvorschlag an.
Sie verstärken die Bedenken; denn es ist uns doch allen bekannt, daß ein Beschuldigter, der in der Gefängniszelle sitzt, besondere Schwierigkeiten hat, seine Verteidigung vorzubereiten, und daß es besonders schwierig ist, binnen weniger Tage einen guten Verteidiger zu finden, der sofort zur Verfügung steht und in wenigen Tagen eine ausreichende Verteidigung vorbereiten kann. Sie nehmen die Bedenken aus Wissenschaft und Praxis nicht ernst. Deshalb sage ich Ihnen: Ein seriöser Strafgesetzgeber hört auf das Urteil der Wissenschaft und der Praxis, nicht aber auf das Vorurteil von Stammtischstrategen.
Zweites Bedenken. Im Zusammenhang mit anderen Gesetzen, zum Beispiel dem Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege, machen viele von Ihnen geltend, daß wir nicht in kurzer Folge immer neue Gesetze verabschieden sollten und daß es notwendig sei, erst die Erfahrungen mit den bereits verabschiedeten Gesetzen auszuwerten. Herr Kollege Kleinert, das ist etwas, was Sie mit Recht immer wieder geltend machen.
Nun weise ich Sie auf folgendes hin: Das geltende Beschleunigungsverfahren ist am 1. Dezember 1994 mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz in Kraft getreten. Es gibt über dieses Verfahren einzelne positive Berichte, zum Beispiel aus Bochum oder aus Brandenburg. Es gibt aber keine Erfahrungswerte, in welchem Umfang etwa Beschuldigte der Ladung zur Hauptverhandlung in diesem Verfahren keine Folge leisten, wie oft deshalb Termine verlegt werden müssen und wie oft deshalb an ein neues Instrumentarium gedacht werden sollte. Solche Erfahrungswerte gibt es nicht.
Deshalb sage ich Ihnen: Ein Gesetzgeber, der in schneller Folge seine eigenen Gesetze ohne eine überzeugende Auswertung der damit gemachten Erfahrungen ändert, stiftet Verwirrung.
Herr Professor Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinert?
Ja, sofort. Ich führe nur meinen Gedankengang zu Ende.
Ein solcher Gesetzgeber fängt keine Chaoten, sondern verhält sich wie ein Chaot und verliert mit Recht das Vertrauen der Praxis, auf das er für die Anwendung seiner Gesetze dringend angewiesen ist.
Bitte schön.
Herr Kollege Meyer, ist Ihnen bekannt, daß die Hauptverhandlungshaft, die hier heute diskutiert wird, Bestandteil der von Ihnen zitierten, vor kurzem in Kraft getretenen Reform war und dem im Vermittlungsverfahren zum Opfer gefallen ist, weil von insgesamt sechs vorgesehenen Punkten wenigstens einer gestrichen werden mußte und man sich in Kreisen der SPD auf diesen am ehesten einigen konnte,
so daß wir wegen des betrüblichen Verlaufs des Vermittlungsverfahrens jetzt lediglich ein Stück der Reform nachtragen müssen?
Herr Kollege Kleinert, dies ist mir bekannt. Ich würde das Vermittlungsverfahren aber nicht, wie Sie das als Angehöriger der Regierungskoalition tun, als Opfergang bezeichnen
und würde zur Kenntnis nehmen, daß ein in diesem Verfahren verabschiedetes Gesetz geltendes Bundesrecht ist, das angewandt werden muß und dem Grundsatz unterliegen sollte: Man soll ein Gesetz erst ändern - wie Sie mit Recht immer sagen -, wenn man die damit gemachten Erfahrungen ausgewertet
Dr. Jürgen Meyer
hat. Man sollte die Praxis nicht durch immer weitere Initiativen in Verwirrung stürzen.
- Ob Sie irgend jemanden mitgewinnen, bezweifle ich.
Ich weise auf ein drittes Bedenken hin. Noch in der letzten Sitzungswoche haben einige Redner der Regierungskoalition, zum Beispiel der Kollege Eylmann, mit beredten Worten beklagt, daß unsere Gefängnisse überfüllt seien. Das ist richtig. Nach einem Rückgang der Gefangenenzahlen in den 80er Jahren haben wir in der Bundesrepublik nun einen dramatischen Anstieg auf weit mehr als 50 000. Ein großer Teil von diesen Gefangenen sind Untersuchungsgefangene - etwa ein Drittel in Westdeutschland, in Ostdeutschland annähernd die Hälfte. Sie haben in der betreffenden Debatte - es ging um Sexualtäter - gefragt, was man denn tun könne, um den Streß der Strafvollzugsbediensteten zu beenden, um notwendige Therapien möglich zu machen.
Und was tun Sie jetzt? Sie fügen diesem Ballast des Strafvollzuges eine neue Last hinzu. Sie wollen noch mehr Menschen in Haft nehmen. Das nenne ich eine Beliebigkeit der Argumentation. Sie müssen bitte sagen, woher die zusätzlichen Haftplätze kommen sollen und wer deren Einrichtung und zusätzliche Strafvollzugsbedienstete bezahlen soll. Ein Gesetzgeber, der nicht sagt, wie die Kosten der von ihm verabschiedeten Gesetze aufgebracht werden sollen, muß sich fragen lassen, ob es ihm wirklich um die Gestaltung von Rechtswirklichkeit geht oder nur um einen Showeffekt. Im Entwurf steht dazu: „Kosten sind nicht zu erwarten. "
Offenbar haben die Verfasser des Entwurfes wenig Einblick in die Praxis des Strafvollzuges und der Untersuchungshaft. Sie sollten sich einfach einmal sachkundig machen, auch wenn es „nur" um Länderangelegenheiten geht.
Mein vierter Einwand - er ist der gewichtigste -: Im beschleunigten Verfahren kann, wie bereits dargelegt wurde, nur eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr verhängt werden. Es handelt sich also um ein Verfahren gegen Kleinkriminelle, also um Vergehen. Für Verbrechen kommt dieses Verfahren nicht in Betracht.
Nun ist der schlimmste Vorwurf gegenüber dem Gesetzgeber, Herr Kollege Götzer, der, daß er die Kleinen fängt und die Großen laufen läßt.
Genau dies ist die Situation, in der wir uns in der Kriminalpolitik befinden. Sie kündigen seit Jahren Gesetzesinitiativen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität an. Sie kündigen Initiativen zur gesetzlichen Regelung des sogenannten Lauschangriffs an. Sie sagen, man müsse Gewinne abschöpfen, damit
schwerste Verbrechen sich nicht lohnen. Es kommt aber nichts von Ihnen.
Meine Bewertung ist: Dieser Gesetzentwurf ist ein lärmendes Ablenkungsmanöver. Sie wollen von Ihrem Versagen bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität ablenken.
Sie fangen die Kleinen und lassen die Großen laufen. Mit Gerechtigkeit hat das nichts zu tun. Denken Sie einmal darüber nach! Denn wir alle sind dem Rechtsstaat verpflichtet.
Ich erteile dem Bundesminister der Justiz Professor Edzard Schmidt-Jortzig das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf führt eine Hauptverhandlungshaft im beschleunigten Verfahren ein. Wir haben in der Debatte eigentlich alle Argumente pro und contra hin und her gewälzt. Ich will sie nicht wiederholen.
In der Tat, wir sind überzeugt von der Richtigkeit dieses Entwurfs.
Ich will nur auf einen Punkt näher eingehen, der hier verschiedentlich mit einem, wie ich finde, ganz falschen Zungenschlag und auch mit falschen Fakten von Ihrer Seite angesprochen worden ist, meine Herren Rechtsfreunde aus der SPD.
- Nein, ich spreche bloß von den Rednern.
Es geht um das beschleunigte Verfahren. Wir haben hinlänglich gehört, daß die Hauptverhandlungshaft zu dem Projekt des beschleunigten Verfahrens gehört, das wir vor zwei Jahren auf den Weg gebracht haben, um eine effektivere, wirksamere und raschere strafprozessuale Reaktion auf bestimmte Taten zu ermöglichen, das aber damals leider nicht zustande gekommen ist. Jetzt wird sie nachgeliefert.
Mittlerweile sind - gottlob - die Äußerungen verstummt, dieses beschleunigte Verfahren sei nicht praktikabel, werde nicht angewendet, weil es die Praxis kritisiere, komme nicht zum Zuge, weil es
Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
noch immer ganz grundlegende Fehler in der verfahrensmäßigen Ausgestaltung habe.
Es gibt erste Zahlen. Dabei ist eindrucksvoll, daß nicht zuletzt Länder, bei denen die Sozialdemokraten den Justizminister stellen, das beschleunigte Verfahren anwenden. Ich nehme etwa die Zahl aus dem Land Brandenburg: Nicht einige wenige, sondern 2 300 beschleunigte Verfahren gab es dort im letzten Jahr. Der Justizminister Brandenburgs sagt mir: Das ist endlich einmal ein Instrument, mit dem wir unsere Strafverfahren wirklich beschleunigen können, sofern wir es anwenden können.
Bochum will das berühmte Pilotprojekt jetzt ausdehnen, weil die Erfahrungen das angeraten erscheinen lassen. Thüringen gibt entsprechende Anleitungen, Anregungen, Empfehlungen an die Staatsanwaltschaften - die Staatsanwälte müssen das beantragen; kein Mensch will der Staatsanwaltschaft gegenüber Weisungen aussprechen -, um das beschleunigte Verfahren zu fördern. Berlin wendet in immer stärkerem Maße und mit immer größerer Begeisterung das beschleunigte Verfahren im Bereich der Massenkriminalität an, im übrigen zuletzt auch bei der Bekämpfung des aus den Schlagzeilen sattsam bekannten Phänomens
- der Eierdiebe -
des Zigarettenschmuggels.
Daher ist es in der Tat nicht einsehbar, weshalb einige - ich sage es vorsichtig - Justizministerien von diesem zwar spät, aber jetzt endlich in Gang kommenden Zug zur Anwendung des beschleunigten Verfahrens abspringen wollen.
Ich möchte gerne, daß durch den Ergänzungsakt „Einführung der Hauptverhandlungshaft" auch die letzten Zweifel an der Praktikabilität ausgeräumt, die letzten Hemmnisse für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens überwunden werden. Die Voraussetzungen dafür sind gut, weil gottlob die Praxis hierauf mittlerweile anspringt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das beschleunigte Verfahren abrunden. Wir können dies tun, weil die Rechte der Beschuldigten nicht unangemessen, nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt werden. Daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip das tragende Prinzip des Strafprozesses ist, wird schließlich von niemandem bestritten. Im Gegenteil: Es wird hier handfest miteinbezogen.
Herr Professor SchmidtJortzig, Herr Professor Meyer würde Ihnen gerne eine Frage stellen.
Herzlich gern.
Herr Justizminister, da Sie gerade von der Verfassung und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sprachen,
möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Halten Sie die Umsetzung des Verfassungsgebotes des gesetzlichen Richters durch eine Soll-Vorschrift nicht für in hohem Maße verfassungsrechtlich bedenklich?
Nein, in der Zuständigkeitsbestimmung legen wir fest, daß die Zuständigkeit bezüglich des Haftbefehls generell bei dem Richter liegt, der für das beschleunigte Verfahren zuständig ist. Welcher dies im Einzelfall ist - das haben die Erfahrungen mit dem beschleunigten Verfahren gezeigt -, hängt in hohem Maße davon ab, wer nach der Gerichtsbelastung und nach den Organisationsvorkehrungen von den Gerichtspräsidien dazu bestimmt wird. Wenn wir schon vorweg festschrieben, daß bestimmte Richter zuständig sind, wäre dies ein Schritt zur Inpraktikabilität des beschleunigten Verfahrens. Das bestätigen alle Beteiligten, die das Verfahren anwenden, im übrigen auch Bochum.
Eine Zahl würde ich gern noch nennen - das gehört allerdings nicht mehr zur Antwort auf Ihre Frage -: Bochum hat gemeldet, daß im Rahmen des beschleunigten Verfahrens seit Juni 1995 mittlerweile in 444 von 585 Fällen die Täter den Spruch des Richters akzeptiert haben. Das ist eine Quote von 76 Prozent.
Haben Sie eine solche Quote einmal bei den vollen, gestreckten Verfahren! Daß das nicht befriedend wirkt, stimmt also nicht.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen gibt mit dem Element der Hauptverhandlungshaft den Staatsanwaltschaften und den Gerichten in den Ländern ein Verfahren an die Hand, das geeignet ist, die Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens zu verbessern.
Bitte setzen Sie mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf ein Zeichen dafür, daß es dem Bundestag mit der Wirksamkeitssteigerung bei der Strafjustiz ernst ist! Lippenbekenntnisse allein genügen jedenfalls nicht.
Danke sehr.
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Hans Klein
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Änderung der Strafprozeßordnung auf den Drucksachen 13/2576 und 13/5743. Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer den Gesetzentwurf ablehnt, den bitte ich, sich zu erheben. - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Graf , Hans-Peter Kemper, Gisela Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Private Sicherheitsdienste - Drucksache 13/3432 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Günter Graf das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich vor dem Hintergrund einer boomartigen Entwicklung im Sicherheitsgewerbe, bei der immer mehr deutlich wird, daß sich in den letzten Jahren und Monaten Grauzonen ergeben haben, entschlossen, den vorliegenden Antrag einzubringen. Wir glauben, daß es notwendig ist, daß der Gesetzgeber hier regelnd eingreift.
Die privaten Sicherheitsdienste sind ja nun keine Erfindung aus jüngerer Zeit; vielmehr sind sie seit mittlerweile über 90 Jahren ein fester Bestandteil in Deutschland. Öffentlich wird über sie allerdings erst in letzter Zeit diskutiert. In der Vergangenheit schien es so, als seien Private rechtlich und auch politisch gesehen unproblematisch. Nunmehr hingegen wird die Tätigkeit der privaten Sicherheitsdienste in der Öffentlichkeit, von den Medien, aber auch von der Politik kritisch hinterfragt. Die Ursachen dafür sind sehr vielfältig. Es liegt zum einen sicherlich daran, daß Sicherheit zu einem Warenartikel geworden ist. Dies hat dazu beigetragen, daß die von mir anfangs skizzierte boomartige Entwicklung eingetreten ist.
Nur einige wenige Zahlen zur Verdeutlichung. Im Jahre 1980 gab es etwa 550 Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von gut 1 Milliarde DM; im Jahre 1994 gab es bereits 1 300 Unternehmen mit insgesamt 176 000 Beschäftigten im Bereich des privaten Sicherheits- und Wachgewerbes.
Herr Kollege Graf, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen? Ich wäre dankbar, wenn Sie die kleinen Nebenkonferenzen entweder draußen oder weiter hinten oder auf eine Art abhalten könnten, daß dem Redner nicht der Rücken zugekehrt wird.
Bitte fahren Sie fort, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich denke, daß das Ausmaß dieser Entwicklung auch daran deutlich wird, daß man den 176 000 Beschäftigten im privaten Sicherheits- und Wachgewerbe 250 000 Polizeibeamten in der Bundesrepublik Deutschland gegenüberstehen, die für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sorgen sollen.
Eine weitere Ursache für die kritische Betrachtung in weiten Kreisen der Öffentlichkeit ist sicherlich auch das gewandelte Verständnis, das viele Dienste selbst von ihrer Tätigkeit haben. Während sich diese Dienste früher auf die Sicherung sogenannter Hausrechtsbereiche, etwa im Werkschutz, beschränkten, drängen sie nunmehr zunehmend in den öffentlichen Raum ein. Ich nenne Wohnbereichsstreifen, die Übernahme der Bewachung ganzer Wohnviertel, das Streife-Fahren und das Registrieren von Fahrzeugen und Personen. Private Sicherheitsdienste übernehmen zunehmend neben der Überwachung von Gebäuden sowie von Geld- und Werttransporten auch den Schutz gefährdeter Personen. Sie überwachen U- und S-Bahnen, kontrollieren in Fußgängerzonen und Ladenpassagen und übernehmen Ordnungsfunktionen, etwa bei sportlichen Großveranstaltungen.
Die Tendenz, daß die privaten Sicherheitsdienste verstärkt auch Tätigkeiten übernehmen, die traditionell von staatlichen Stellen ausgeführt werden, ist somit unverkennbar. Dabei bleibt es nicht aus, daß sie auch in Konflikt mit den Rechten Dritter kommen, etwa wenn sie Obdachlose, Bettler, Drogenabhängige, alkoholisierte Personen oder Personen, die sonst nicht erwünscht sind, aus den U-Bahnhöfen oder den Ladenpassagen verweisen, gelegentlich sogar unter Anwendung von Gewalt. Mehrere staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren in dieser Richtung zeigen, daß derartige Konflikte auch auf öffentlichen Straßen bestehen.
Kaufhausdetektive - ebenfalls ein klassisches Betätigungsfeld für das private Bewachungsgewerbe - beschränken sich zwischenzeitlich nicht mehr nur auf die Beobachtung innerhalb eines Kaufhauses, sondern organisieren sich auch als sogenannte CityDetektive, die Ladendieben auch außerhalb des Kaufhauses nachstellen und diese mit dem Ziel ob-
Günter Graf
servieren, Anhaltspunkte für bandenmäßiges Tätigwerden zu ermitteln.
Die Ursachen für diese Entwicklung sind unter anderem sicherlich die allgemeine Kriminalitätsentwicklung, das mit der objektiven Sicherheitslage nicht in Einklang stehende, zumeist negative subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und schließlich der Umstand, daß die Polizei nach Ansicht weiter Teile der Bevölkerung die ihr übertragenen Aufgaben der Gefahrenabwehr und der präventiven Verbrechensbekämpfung nicht mehr in befriedigender Weise erfüllen kann.
Vor diesem Hintergrund ist es erklärlich, daß die Polizei nicht mehr sämtliche Serviceleistungen, die sie in der Vergangenheit angeboten hat, auch weiterhin erbringen kann und daß das private Sicherheitsgewerbe hauptsächlich dort wächst, wo es Bürgern und Unternehmen um den vorbeugenden Schutz ihrer persönlichen Rechtsgüter geht.
Kolleginnen und Kollegen, die Rechtsgrundlage für das Tätigwerden der Privaten beruht auf § 34 a der Gewerbeordnung. Diese Rechtsvorschrift allerdings stellt den gewerberechtlichen Aspekt in den Vordergrund und vernachlässigt im Grunde genommen völlig den Aspekt der inneren Sicherheit. Auch die Korrekturen des § 34 a der Gewerbeordnung im sogenannten Verbrechensbekämpfungsgesetz sind absolut unzureichend. Sie stellen allein den gewerberechtlichen Aspekt in den Vordergrund. Das ist es dann allerdings auch. Sie geben keine Antworten darauf, welche Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Rechte die privaten Sicherheitsdienste haben, insbesondere ob und in welchem Umfang sie im öffentlichen Verkehrsraum tätig werden und dabei in Rechte Dritter eingreifen dürfen.
Von der in § 34 a der Gewerbeordnung vorgesehenen Möglichkeit, in einer Rechtsverordnung Vorschriften über Umfang der Befugnisse und Verpflichtungen bei der Ausübung des Bewachungsgewerbes zu erlassen, hat der zuständige Bundesminister für Wirtschaft bisher keinen Gebrauch gemacht. Er hat dies auch in der zwischenzeitlich in Kraft getretenen veränderten Bewachungsverordnung nicht getan. Insoweit bleibt festzustellen, daß sich Aufgaben und Befugnisse der privaten Sicherheitsdienste allenfalls aus den allgemeinen Not- und Jedermannsrechten ableiten lassen, wie sie im Strafgesetzbuch, im Bürgerlichen Gesetzbuch und in der Strafprozeßordnung beschrieben sind. Denkbar ist allerdings auch, daß sich die Befugnisse privater Sicherheitsdienste aus einem übertragenen Hausrecht ableiten lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit kein Mißverständnis aufkommt, möchte ich eines in aller Klarheit betonen: Es geht der SPD-Bundestagsfraktion mit ihrem Antrag in keiner Weise darum, den privaten Sicherheitsdiensten die Existenzberechtigung abzusprechen. Ganz im Gegenteil: Private Sicherheitsdienste sind faktisch zu einem Bestandteil der inneren Sicherheit geworden, und sie sollen es auch absolut bleiben. Um so notwendiger ist es aber, auf die qualitativen und quantitativen Änderungen der letzten Jahre und die sich abzeichnenden Entwicklungen im privaten Sicherheitsgewerbe und im Bereich der inneren Sicherheit in angemessener Weise zu reagieren.
Dies liegt insbesondere im Interesse der Länder, die auf ihrer Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren am 3. Mai 1996 in Bonn einen entsprechenden Beschluß gefaßt haben. Dieser Beschluß beinhaltet einerseits eine Änderung des § 34 a der Gewerbeordnung und andererseits die Feststellung, daß die privaten Sicherheitsdienste über die Fälle einer gesetzlichen Beleihung hinaus nur solche Aufgaben wahrnehmen sollten, die von ihren Auftraggebern auch selbst erfüllt werden könnten.
Insofern - so die Ständige Konferenz - bedarf es einer gesetzlichen Klarstellung und Beschränkung der Befugnisse gegenüber Dritten.
Was die Zuverlässigkeitsprüfung, was den sogenannten Sachkundenachweis angeht, so wird mein Kollege Hans-Peter Kemper in seinem Beitrag auf diese Aspekte in besonderer Weise eingehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einige Gesichtspunkte nennen, die gerade auch in diesem Bereich von besonderer Bedeutung sind. Da sind zum einen die datenschutzrechtlichen Regelungen zu nennen. Wir alle wissen und von vielen wird beklagt - ich persönlich nehme mich da gar nicht aus -, daß sie für den Bereich der Polizei vielfach zu restriktiv sind. Wenn man aber danebenstellt, welche Möglichkeiten die privaten Sicherheitsdienste auf Grund unzureichender gesetzlicher Regelungen haben, so entsteht ein Mißverhältnis, das ein Agieren der Privaten gegenüber den dafür zuständigen Sicherheitsorganen in unserem Land absolut bevorteilt. Dies kann nicht sein.
Auch gibt es keine Regelungen darüber, in welcher Art und Weise die Privaten mit den Polizeien der Länder und des Bundes korrespondieren, wo es Verpflichtungen gibt, in gewisser Weise bestimmte Dinge auszutauschen, und dies alles vor dem Hintergrund, die innere Sicherheit in diesem Land ein Stück weiter voranzubringen.
Neben den datenschutzrechtlichen Regelungen, die ich nur streifen kann, will ich auf den waffenrechtlichen Aspekt eingehen. Sie wissen, die Polizei ist berechtigt, Waffen zu tragen. Das ist in Ordnung; das muß so sein. Aber die gängige Praxis im privaten Sicherheitsgewerbe sieht heute so aus, daß ein Auftraggeber einen Waffenschein erlangt und die von ihm beschäftigten privaten Sicherheitskräfte auf dem befriedeten Besitztum mit Waffen ausstatten kann, und zwar, weil eine entsprechende Sicherheitsüberprüfung der Beschäftigten nicht erfolgt, unabhängig davon, ob es sich möglicherweise um Kriminelle handelt, die schon einmal mit einer Waffe eine Straftat begangen haben.
Günter Graf
Diese Leute sind privilegiert, im Rahmen des Einsatzes der Privaten innerhalb des befriedeten Besitztums eine Waffe zu tragen. Dies kann und darf so nicht sein. Es kann allenfalls erlaubt sein, die Privaten, die vorn Grundsatz her unbewaffnet sein sollten, in den Fällen mit einer Waffe auszustatten, in denen der Auftraggeber, der sich der Privaten bedient, nach geltendem Waffenrecht auf Grund des höheren Gefährdungsgrades selbst eine Waffe tragen dürfte. In diesen Fällen sollen nach entsprechender Überprüfung der Zuverlässigkeit auch Arbeitnehmer der Privaten mit einer Waffe ausgestattet werden dürfen. - Soviel zum waffenrechtlichen Aspekt. Es wäre noch viel mehr dazu zu sagen; aber die Redezeit ist so kurz, daß ich dies hier nicht machen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die von mir angesprochenen Rechtsbereiche, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem privaten Sicherheitsgewerbe stehen, betreffen weitgehend Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung. Den Ländern steht für diese Bereiche, die ich hier genannt habe, die Gesetzgebungskompetenz zwar grundsätzlich zu, aber nur so lange, wie der Bundesgesetzgeber von seinen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht hat. Der Bundesgesetzgeber hat dies aber getan. Ich habe die Gewerbeordnung und andere Rechtsvorschriften erwähnt. Allerdings hat er in seinen gesetzlichen Regelungen den zuständigen Bundesministerien eine Verordnungsermächtigung erteilt. Dadurch sind die Länder außen vor, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Dies ist im Grunde in Ordnung. Ich denke, daß in den einzelnen Bundesländern die Probleme bezogen auf die Polizei bzw. die privaten Sicherheitsdienste gleich sind. Insofern ist eine bundeseinheitliche Gesetzgebung fast zwingend.
Es muß deutlich werden, wo der Staat auch weiterhin die einzige Instanz ist, die berechtigt ist, das staatliche Gewaltmonopol wahrzunehmen. Es muß klar sein, in welchen Fällen der Staat Private für Hilfsfunktionen bei der Ausübung seiner hoheitlichen Aufgaben einsetzen darf. Daraus ergeben sich auch die Freiräume, in denen private Sicherheitsdienste agieren können.
Lassen Sie mich zum Abschluß einen letzten Satz sagen. Ich bin kürzlich auf der Konferenz der Sozialpartner des privaten Sicherheitsgewerbes auf europäischer Ebene, d. h. CoESS als Vertreter der Arbeitgeberverbände und EURO-FIET als Vertreter der Gewerkschaften, gewesen. Dort haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer einvernehmlich Stellungnahmen verabschiedet, in denen sie von der Politik fordern, daß es klare gesetzliche Regelungen geben muß, damit sie wissen, was sie tun dürfen.
Die Branche, die durchweg seriös ist, leidet darunter, daß die vielen kleinen Unternehmen, die es in dieser Branche gibt, die sich auch den Verbänden nicht anschließen, den Ruf in vielfältiger Weise schädigen. Dies schadet einer Branche, die im Grunde etwas Positives in diesem Staat leistet.
Das Innenministerium war durch Herrn Rupprecht vertreten. Ich denke, daß er die Bundesregierung entsprechend informieren wird. Ich habe die Hoffnung, daß wir in den folgenden Ausschußberatungen zu einem vernünftigen Ergebnis kommen werden. Dort können wir uns sachlich über diese Problematik unterhalten. Ich glaube, daß es ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit geben wird.
Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Michael Teiser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Graf, die erste Frage ist: Warum stellt eine Fraktion einen solchen Antrag?
- Das sagen Sie! - Dazu nehme ich Ihre Pressemitteilung, die wohl in kausalem Zusammenhang mit Ihrem Antrag steht und darf mit Erlaubnis des Präsidenten den Eingangssatz zitieren:
Wenn wieder einmal ein Geldtransporter mit dem Geldsack verschwindet oder der Betreiber eines privaten Sicherheitsdienstes sich selbst als Gauner entpuppt, dann wird man aufmerksam auf das private Sicherheitsgewerbe.
Kollege Graf, war das der Anlaß für den Antrag, daß Sie auf Grund eines solchen Vorgangs irgendwo aufmerksam geworden sind?
Herr Kollege Teiser, ich glaube, der Kollege Graf will Ihnen gleich antworten. Gestatten Sie eine solche Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege, haben Sie aufmerksam zugehört, als ich einleitend festgestellt habe, daß die Entwicklung im privaten Sicherheitsgewerbe in den letzten Jahren in der Art und Weise vonstatten gegangen ist, daß es ständig Übergriffe und somit staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren in diesem Lande gegeben hat, daß uns also nicht ein Einzelfall dahin gebracht hat, sondern die boomartige Entwicklung in den letzten zwei bis drei Jahren, die insbesondere durch die Wiedervereinigung ausgelöst worden ist? Wenn Sie sich angeguckt hätten, welch rasanten Aufschwung das Sicherheitsgewerbe in den jungen Bundesländern genommen hat, dann, glaube ich, wäre die Frage, die Sie mir stellen, überflüssig.
Lieber Kollege Graf, Sie haben in Ihren Ausführungen und in Ihrem Antrag eben nicht deutlich gemacht und schon gar nicht nachgewiesen, daß es ständig solche Ermittlungsverfahren und Übergriffe gibt. Sie haben sehr ausführlich zu der boomartigen wirtschaftlichen Entwick-
Michael Teiser
lung eines Dienstleistungsbereichs Stellung genommen. Allein die Tatsache aber, daß sich ein Dienstleistungsbereich, ein Wirtschaftszweig boomartig entwickelt, kann doch nicht dazu führen, daß man hierfür gesetzliche Regelungen schafft, zumal ständig - von Ihrer Fraktion und von den anderen auch - die Regelungs- und Gesetzesflut beklagt wird.
Das, was Sie seitens der SPD vorgetragen haben, ging nicht sehr viel über das hinaus, was Sie in Ihrem Antrag formuliert haben. Bevor ich zu dem komme, was man eventuell als Sachargument bezeichnen kann, möchte ich zwei Dinge aus Ihrem Antrag herausgreifen, die deutlich machen, welche Intention, was politisch-geistig hinter Ihrem Antrag steht. Ich darf - mit Erlaubnis des Präsidenten - wiederum zitieren:
Die Ursachen für das schnelle Wachstum des privaten Sicherheitsgewerbes liegen in der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung,
- da gebe ich Ihnen völlig recht -
der darüber hinausgehenden Kriminalitätsfurcht,
- man kann vielleicht noch unterstreichen, daß die Furcht manchmal größer ist, als es angesichts der Realität angemessen wäre -
gepaart mit einem übersteigerten Schutzbedürfnis vor allem für die materiellen Werte.
Sehen Sie, Herr Graf, da unterscheiden wir uns erheblich. Diese Intention können wir nicht teilen. Ich glaube nicht einmal, daß Sie selbst es gewesen sind, der das da so hineinformuliert hat; denn wer kein Verständnis dafür hat, daß es ein Schutzbedürfnis auch für materielle Werte gibt, der muß sich fragen, welche Werteordnung er eigentlich vertritt.
Ich kann für uns nur feststellen: Sicherheit und Sicherheitsempfinden sind ein Teil der Lebensqualität, die wir akzeptieren. Wir müssen gewährleisten, und zwar sowohl hoheitlich als auch da, wo es zulässig ist, im privaten Bereich, daß diesem Sicherheitsbedürfnis Rechnung getragen wird und daß das, was man für schätzenswert hält - dazu gehören eben auch materielle Güter -, geschützt wird.
Ich möchte vorab auf einen zweiten Punkt eingehen; dies haben Sie vorhin in Ihrer Rede bereits deutlich zu machen versucht. Ich zitiere wiederum:
Schließlich beauftragen öffentliche Verkehrsbetriebe zunehmend Sicherheitsunternehmen mit Überwachungs- und Kontrollaufgaben in ihrem Bereich. Diese berufen sich bei ihrer Tätigkeit auf das Hausrecht und versuchen,
- jetzt kommt wieder eine Formulierung, die Ihre Intention deutlich macht -
insbesondere Randgruppen zu verdrängen.
Ich räume durchaus ein, daß es im Zuge der Aufgabenwahrnehmung auch zu den Dingen kommt, die Sie angesprochen haben, beispielsweise daß Penner aus bestimmten Bereichen verdrängt werden. Aber
Sie unterstellen in Ihrem Antrag, daß es insbesondere die Aufgabe dieser Firmen ist, sich diesem Problem zu widmen.
- Aber das steht hier drin. Sie können doch das, was Sie als Antrag vorlegen, nicht dadurch, daß Sie es in Ihrer Rede nicht erwähnen, so relativieren, daß Sie sagen, das sei von der SPD eigentlich nicht gesagt worden. Sie haben das hier hineingeschrieben; das steht hier. Ich sage Ihnen: Das ist eine Intention, die wir nicht teilen.
Jetzt komme ich zu dem, was Sie an Sachargumenten in Ihrer Begründung vorgetragen haben. Sie fordern eine klare Begrenzung der Tätigkeitsfelder in öffentlichen und halböffentlichen Räumen, auch um das Gewaltmonopol des Staates zu schützen, und begründen das damit, daß die privaten Sicherheitsdienste zunehmend im öffentlichen und halböffentlichen Bereich tätig würden; es gebe gefährliche Annäherungen an die Aufgaben der Polizei. Sie führen aus, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung müsse grundsätzlich eine Aufgabe staatlicher Sicherheitsorgane sein. Dann steht in Ihrem Antrag wörtlich - das muß ich wiederum zitieren -:
Die Gewährung von Sicherheit kann auch durch private Anbieter erfolgen. In diesem Rahmen kann der Bürger die Rechte des Schutzes seiner Person, der ihm anvertrauten Personen sowie seiner materiellen Werte und der ihm anvertrauten Werte Dritter an private Sicherheitsunternehmer übertragen. Keiner hoheitlichen Befugnisse bedarf der Schutz von Hausrechten, sei es gegen unerlaubtes Eindringen oder Eingriffe ...
Diese Aussage wird von uns unterschrieben. Sie steht aber in der gesamten Intention und Begründung Ihres Antrags in klarem Gegensatz zu dem, was Sie sonst in Ihren Antrag hineingeschrieben haben. Das heißt, Sie greifen mal hierhin, mal dahin und relativieren das Ganze dann unter dem Aspekt, den Sie zuletzt genannt haben: Selbstverständlich geht es uns darum, diese Aufgaben zu erhalten, sie sind sehr wichtig, und wir wollen niemanden einschränken. Sie widersprechen sich aber in vielen Punkten.
Das Prinzip des staatlichen Gewaltmonopols ist gerade, daß nur der Staat physischen Zwang ausüben darf und insofern jede nichtstaatliche Gewaltanwendung nur auf Grund ausdrücklicher Gestattung durch den Gesetzgeber erfolgen darf. Dafür gibt es die Not- und Jedermannparagraphen. Ob man darüber hinausgehen muß, wage ich zunächst zu bezweifeln.
Sie sagen, es gibt zur Zeit keine besondere gesetzliche Grundlage für das Tätigwerden von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste und § 32 ff. StGB und § 127 StPO reichen nicht aus.
Vergessen haben Sie in Ihrem Antrag - aber Sie haben es in Ihrer Rede vorhin erwähnt -, aus welchen Gründen auch immer, die §§ 229 und 230 BGB,
Michael Teiser
Selbsthilfe und Grenzen der Selbsthilfe, die in diesem Zusammenhang eine unmittelbare Rolle spielen.
Vergessen haben Sie in dem Zusammenhang, daß die Rechtslage völlig unübersichtlich wird, wenn Sie Spezialregelungen schaffen, indem Sie § 32 ff. StGB für Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste modifizieren, allerdings für Bürger und Polizei lassen, wie sie sind, und indem Sie die Vorschriften des BGB verändern, für den Normalbürger aber lassen, wie sie sind. Dann schaffen Sie Sonderrechte, die nicht für die Polizei, nicht für den Bürger, sondern nur für bestimmte Organe gelten, und zwar private Organe. Sie schaffen damit Rechtslagen, die so unübersichtlich sind, daß es zum Schluß viel schwieriger sein wird, das abzugrenzen, als es zur Zeit der Fall ist.
Sie haben § 34 a Gewerbeordnung angesprochen und gesagt, das alles sei viel zu großzügig gehandhabt und die Sicherheitsbelange würden nicht berücksichtigt. Sie haben zu Recht angesprochen - das hätte ich Ihnen sonst gesagt -, obwohl es in Ihrem Antrag so nicht steht, daß im Einzelfall, und zwar wenn es erforderlich ist - bisher gab es das Erf ordernis wohl nicht -, natürlich zusätzliche Regelungen in diese Bewachungsordnung eingefügt werden können, die das, was Sie möglicherweise zu Recht oder zu Unrecht kritisieren, aufgreifen könnten, was allerdings zur Folge hätte, daß nach einem entsprechenden Einbau keine zusätzliche gesetzliche Regelung notwendig wäre. Das wäre das Ergebnis.
Sie sind dann auf das Datenschutzrecht eingegangen. Ich gebe zu, daß das der einzige Bereich ist, der uns dazu bewogen hat zu sagen: Wir lehnen den Antrag nicht ab, wir überweisen ihn an den Innenausschuß, den Rechtsausschuß und den Wirtschaftsausschuß, die sollen sich damit beschäftigen.
Beim Datenschutz sehe ich persönlich zwar auch nicht den großen Regelungsbedarf. Da können wir aber nicht völlig ausschließen, daß Marginalien möglicherweise so geregelt werden müssen, daß sie künftig vielleicht deutlicher und präziser sind, so daß wir ein Recht schaffen, das vielleicht besser Anwendung finden kann.
Sie haben vom Waffenrecht gesprochen und gesagt - das verstehe ich immer -, Sie hätten nicht sehr viel Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen.
- Sie hätten gern weitere Ausführungen gemacht, was aber aus Zeitgründen nicht möglich sei.
- Das ist völlig klar. Aber dazu wäre Zeit gewesen, als dieser Antrag vorbereitet wurde. Da hatten Sie ausgiebig Zeit zu formulieren, zu überlegen.
Ich muß feststellen, daß in Ihrem Antrag, in Ihrer Begründung und in Ihrem Resümee nicht der Ansatz eines Arguments dafür zu finden ist, warum auf diesem Gebiet etwas geregelt werden soll. Eine Ausnahme ist, wenn Sie erklären, daß allein die Feststellung, daß in Brandenburg bei 50 Firmen 1 100 Schußwaffen zugelassen sind, ein Grund ist, um im Waffenrecht zu Neuregelungen zu kommen.
Sie haben nicht geschrieben, wie groß die Firmen sind. Ich kann nicht beurteilen, ob rechnerisch auf jede Firma 20 Waffen entfallen und wie viele Mitarbeiter jeweils vorhanden sind. Mehr steht dazu in Ihrem Antrag nicht.
Im Prinzip bleibt es den zuständigen Behörden unbenommen - das ist in vielen Gesetzesbereichen so -, diese gesetzlichen Bestimmungen sehr eng, restriktiv auszulegen. Sie werden das erleben, wenn Sie als Abgeordneter bei Ihrer zuständigen Behörde einen Waffenschein beantragen. Da gibt es Behörden, die sagen: Sie sind potentiell gefährdet; den bekommen Sie. Da gibt es andere Behörden, die sagen: Es ist völlig absurd, daß ein Bundestagsabgeordneter einen Waffenschein hat. Das liegt an den Behörden. Da gibt es keinen gesetzlichen Regelungsbedarf. Es liegt an den Behörden, wie sie das im einzelnen ausführen.
Sie haben dann noch auf die IMK abgehoben. Das hat mich natürlich sehr interessiert, weil mich diese Konferenz mit ihren Beschlüssen, die ich natürlich nachgelesen habe, sehr beeindruckt. Sie wissen, da gilt das Einstimmigkeitsprinzip. Ich habe Verständnis dafür - obwohl dieser Regelungsbedarf im Prinzip gar nicht überall gesehen wird -, daß auch CDU-regierte Länder dem zugestimmt haben. Man hat sich gesagt: Na gut, wenn NRW und die anderen SPD-regierten Länder das unbedingt wollen, dann machen wir das; soll sich doch der Bundestag damit beschäftigen. Die einzigen, die eine klare Position bezogen haben, waren die Vertreter der CSU. Die haben es auf den Punkt gebracht und diesen angeblichen Regelungsbedarf verneint.
Ich will Ihnen noch einen Punkt mit auf den Weg geben: Wir schwören ja ständig gegenseitig, nicht zu viele Gesetze, nicht zu viele Verordnungen zu erlassen, immer erst genau zu prüfen, ob das erforderlich ist. Jeder beklagt in den Medien, viel zuviel sei geregelt. Wir sollten uns deshalb auch bei diesem Thema ganz genau überlegen, welchen Regelungen wir zustimmen.
Ich bin mir sicher, daß es - allein weil Sie das wollen - im Innenausschuß, im Rechtsausschuß und im Wirtschaftsausschuß ausgiebige Beratungen zu diesem Antrag geben wird. Ich möchte Ihnen allerdings, um Ihnen das Wochenende nicht völlig zu verderben,
schon heute sagen: Glauben Sie nicht, daß das Ergebnis dieser Beratungen Ihren Vorstellungen entsprechen wird. Es wird Bereiche marginalen Regelungsbedarfs geben, aber bei diesem Wust von Regelungen - zum Datenschutz, zum Waffenrecht, zur Gewerbeordnung; all das, was Sie aufgeführt haben - wird aller Voraussicht nach nicht nur unsere Fraktion, sondern werden, in anderen Bereichen, vielleicht auch andere Fraktionen nicht immer mitmachen.
Michael Teiser
Ich danke Ihnen trotz alledem für die Mühe, die Sie sich mit diesem Antrag gemacht haben, und hoffe, daß wir ihn im Innenausschuß gemeinsam beraten können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manfred Such.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Teiser, ich weiß nicht, ob Sie das nicht richtig gelesen haben: Die Tatsache, daß ein Wirtschaftszweig boomt, ist sicher kein Grund, eine gesetzliche Regelung zu schaffen. Aber hier geht es ja um einen ganz besonderen Wirtschaftszweig, der empfindlich in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger eingreift.
Auf der einen Seite gibt es bei den Bürgerinnen und Bürgern diesbezügliche Klagen, auf der anderen Seite klagen auch die Betriebe, weil große Unsicherheit darüber besteht, was sie dürfen, was sie tun sollen und welche Rechte sie haben. Ich glaube, der Gesetzgeber ist hier sehr wohl aufgefordert, eine Regelung zu treffen.
Wir, Bündnis 90/Die Grünen, betrachten die Entwicklung, daß große Teile des öffentlichen Raumes immer häufiger unter private Kontrolle geraten, mit größtem Erstaunen. In ganzen Bereichen, in Straßenzügen und überdachten Passagen, werden private Dienste eingesetzt, die dort für eine sogenannte Ordnung sorgen sollen. Das heißt, daß Leute, die dort unliebsam sind, vertrieben werden; ich denke an Skinheads, ich denke an Punks, ich denke aber auch an arme Menschen. Sie stören offenbar, weil dort eine sogenannte saubere Atmosphäre geschaffen werden soll.
Diese Probleme, die sicherlich auch nach Meinung der Öffentlichkeit bestehen, haben ihre Ursachen in Politikdefiziten
- Kollege Stadler, ich lasse Sie gleich zu Wort kommen -, die auf anderer Ebene ausgetragen werden müssen, die weder durch Polizei noch durch private Sicherheitsdienste geregelt werden können. Wie man so etwas in den Griff bekommt, ist ein ganz anderes Problem. Das schafft man nicht mit der Polizei und auch nicht mit privaten Sicherheitsdiensten.
Da die Worterteilung durch den Präsidenten erfolgt: Bitte sehr, Kollege Stadler.
Herr Kollege Such, stimmen Sie mit mir darin überein, daß das Problem, das Sie gerade beschrieben haben, sich in gleicher Weise für die Tätigkeit der öffentlichen Sicherheitsorgane stellt, wie man derzeit am Beispiel der Hansestadt Hamburg studieren kann?
Kollege Stadler, ich gebe Ihnen vollkommen recht. Ich habe ja gerade ausgeführt, daß man solche Probleme weder mit staatlichen Sicherheitskräften noch mit privaten Sicherheitsdiensten lösen kann.
Dabei stellt sich die Frage: Was dürfen private Dienste, wie weit dürfen sie in die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern eingreifen? Das Problem mit dieser sogenannten Ordnung können weder die Polizei noch private Sicherheitsunternehmen lösen. Da gibt es riesige Defizite, die geregelt werden müssen.
Dazu werde ich entsprechende Vorschläge machen. Wir werden dann, wenn gesetzliche Regelungen anstehen, unsere Forderungen formulieren; einige der Anforderungen, die wir an eine solche Regelung stellen, werde ich gleich vortragen.
Ich denke, es gibt private Bereiche, in denen private Sicherheitsdienste grundsätzlich Aufgaben übernehmen können. Der Einwand des staatlichen Gewaltmonopols hat für mich nur ideologischen Charakter und ist sicherlich nur vorgeschoben.
Der Schutz privater Rechte ist keine spezifisch hoheitliche Aufgabe. Er wird - der Kollege Graf hat das bereits gesagt - durch das Notwehr- und Nothilferecht anerkannt, aber auch eng begrenzt.
Das Argument gegen private Sicherheitsdienste, es entstünden Zonen unterschiedlicher Sicherheit, bleibt auf der oberflächlichen Symptomebene. Die tatsächlichen Sicherheitsdefizite müssen benannt und auch auf anderen Ebenen, nicht nur auf dieser, thematisiert werden.
Zur Polizei ist zu sagen: Die ausgebildete Polizei ist für reine Bewachungsaufgaben, für die wir Sicherheitsdienste brauchen, überqualifiziert und letztlich zu teuer. Die problematischen Aspekte einer professionellen Wahrnehmung durch Sicherheitsdienste müssen durch entsprechende Kontrollen minimiert werden.
Ich werde jetzt einige Anforderungen aufführen - ich kann das wegen meiner begrenzten Redezeit nur kurz machen -, die wir an eine entsprechende gesetzliche Regelung stellen: Wichtig ist eine klare Abgrenzung zwischen Polizei und privaten Sicherheitsdiensten. Die Polizei kann eine lückenlose Sicherheit nicht garantieren. Sicherheit kann immer nur relativ gewährleistet werden.
Wichtig ist - das trifft insbesondere für die Polizei zu - eine schnelle Erreichbarkeit in Gefahrensituationen. Aber auch private Sicherheitsdienste können Gefahrensituationen rechtzeitig erkennen und dann im Rahmen ihrer Möglichkeiten - Jedermannsrecht, Notwehrrecht - sofort eingreifen.
Dabei ist die verbesserte Kontrolle der privaten Sicherheitsdienste notwendig. Neben den auszubauenden gewerberechtlichen Instrumentarien sind natürlich auch die waffenrechtlichen Aspekte zu überprüfen. Das wurde bereits angesprochen; es reicht nicht aus, daß allgemein ein Waffenschein erteilt wird und die Sicherheitskräfte die Waffen auf dem Ticket des Unternehmers tragen dürfen.
Manfred Such
Es sind auch entsprechende Anforderungen an die Ausbildung zu stellen. Es reicht nicht aus, daß man über die Jedermannsrechte informiert ist, man muß auch psychologisch geschult werden.
Es darf nicht sein, daß gerade in diesen Bereichen Hungerlöhne gezahlt werden; denn durch die niedrige Bezahlung besteht die Gefahr, daß Kräfte in Sicherheitsunternehmen gelangen, die dort nicht hineingehören.
An die Zuverlässigkeit müssen hohe Anforderungen gestellt werden. Ich denke, es müssen nicht nur die Unternehmer entsprechende Führungszeugnisse vorlegen, sondern auch die Bediensteten.
Zur Bewaffnung ist grundsätzlich zu sagen, daß diese Dienste unbewaffnet auftreten sollten.
Schließlich ist die Erlaubnis für solche Gewerbebetriebe auch räumlich zu beschränken. Es darf nicht sein, daß sich Sicherheitsdienste über das gesamte Bundesgebiet ausbreiten und dadurch erstens auf Grund ihrer Größe nicht mehr zu kontrollieren sind und zweitens eine staatliche Kontrolle länderübergreifend nicht mehr möglich ist.
Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist strengstens zu überprüfen und zu regeln. Es kann nicht sein, daß die privaten Sicherheitsdienste „dirty Harry" für die Polizei werden und die Aufgaben für das Grobe übernehmen, während die Polizei in den Bereichen, für die sie eigentlich nicht zuständig ist oder wo sie nicht eingreifen darf, auch datenmäßig abschöpft, was durch private Sicherheitsdienste an Erkenntnissen gewonnen wird.
Wir werden die Beratungen in den Ausschüssen entsprechend begleiten und unsere Zustimmung zu den Regelungen für private Sicherheitsdienste von solchen strengen Voraussetzungen und gesetzlichen Regelungen abhängig machen.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Max Stadler.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt der heutigen Debatte ist und bleibt: Der Staat muß die innere Sicherheit gewährleisten. Diese Aufgabe eignet sich grundsätzlich nicht für eine Privatisierung. Ich sage dies ganz bewußt als Liberaler.
Dies schließt weder aus, daß staatliche Stellen Privatfirmen bei der Erfüllung dieser Aufgaben ergänzend hinzuziehen, noch daß Privatleute sowohl im kommerziellen als auch im rein privaten Bereich zusätzlich private Sicherheitsdienste in Anspruch nehmen. Die Lebenswirklichkeit zeigt, daß dies in immer größerem Umfang geschieht.
Die mit dem SPD-Antrag aufgeworfene Fragestellung, ob ein Gesetzentwurf über Rechte, Pflichten und Aufgabengebiete privater Sicherheitsunternehmen zu erstellen sei, ist daher durchaus berechtigt. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist aber äußerst skeptisch, ob der vorgeschlagene Weg einer Kodifizierung dieses Bereichs richtig ist, also einer Zusammenfassung aller einschlägigen Vorschriften in einem einzigen Sondergesetz.
Zwei Überlegungen sprechen entscheidend gegen die geforderte gesetzliche Neuregelung: Erstens. Nach Montesquieu gilt folgende Mahnung an den Gesetzgeber: Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es unbedingt notwendig, kein Gesetz zu erlassen.
Zu allen im SPD-Antrag genannten Problembereichen existieren bereits ausreichende normative Regelungen. Diese haben sich im wesentlichen in der Praxis bewährt.
Der Beweis dafür, daß eine umfassende gesetzliche Neuregelung notwendig sei, wird daher kaum zu erbringen sein. In den Ausschußberatungen mag aber über Detailverbesserungen ebenso wie über die Frage diskutiert werden, ob denn die bestehenden Vorschriften in der Praxis hinreichend angewandt werden. Oft ist die Feststellung und Bekämpfung von Vollzugsdefiziten weitaus effektiver als der Erlaß neuer Normen.
Zweitens. Ein gewichtiges zweites Argument spricht gegen den von der SPD geforderten Gesetzentwurf. Bisher gibt es die vom Kollegen Such geforderte klare Trennung zwischen den Sicherheitsbehörden einerseits mit den für sie geltenden Organisationsaufgaben und Befugnisnormen sowie den privaten Erbringern von Sicherheitsdienstleistungen andererseits, für die bisher ganz bewußt keine Polizeigesetze oder analoge Kodifizierungen geschaffen worden sind. Dahinter steht die Ausgangsüberlegung, daß die Gewährleistung der inneren Sicherheit eben primär Aufgabe der öffentlichen Sicherheitsbehörden ist und bleiben muß.
Wenn man eine spezielle einheitliche gesetzliche Regelung für die Tätigkeit privater Sicherheitsdienste schafft, gerät man sehr schnell in die Gefahr, für diese ein Sonderrecht zu schaffen, das die privaten Sicherheitsdienste nahezu auf dieselbe Stufe wie die öffentlichen Sicherheitsorgane stellt. Es entsteht das Bild einer Politik der inneren Sicherheit, die von zwei gleichberechtigten Säulen getragen wird, einer öffentlich-rechtlich organisierten sowie einer privatrechtlichen.
Dies kann aber nach Meinung der F.D.P. nicht der richtige Weg sein. Es muß bei der klaren Aufgabenverteilung bleiben, wonach die innere Sicherheit vom Staat zu gewährleisten ist und der private Sektor nur eine ergänzende Funktion wahrnimmt. Diese eindeutige Abstufung läßt es ratsam erscheinen, den
Dr. Max Stadler
polizeirechtlichen Kodifizierungen eben keine Sondergesetze für private Sicherheitsdienste hinzuzufügen. Dann bleibt nämlich weiterhin deutlich, daß es um ganz unterschiedliche Ebenen geht.
Für die privaten Sicherheitsdienste gelten bei ihrer Tätigkeit ohnehin die sogenannten Jedermannsrechte, die jedem Staatsbürger zustehen. Dies ist auch ausreichend.
Ich will versuchen, dies im einzelnen kurz zu begründen:
Erstens. Die SPD fordert eine Regelung der Voraussetzungen, unter denen Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste ihre Tätigkeit ausüben dürfen. Nach unserer Meinung decken die Jedermannsrechte die notwendige private Gewaltanwendung, wenn es denn einmal dazu kommt, hinreichend ab. Herr Graf hat es selber schon zitiert.
Diese Jedermannsrechte, wie Notwehrrechte, Notstandsrechte, Selbsthilferechte nach dem BGB, sind immer nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrzunehmen. Eine gesetzliche Neuregelung würde wohl nur dazu führen, neue Generalklauseln festzulegen, so daß keineswegs mehr Rechtsklarheit erzielt würde, als das jetzt unter Geltung der Jedermannsrechte der Fall ist.
Zweitens. Die SPD will eine Begrenzung der Tätigkeitsfelder privater Sicherheitsunternehmen, vor allem in den öffentlichen und halböffentlichen Räumen wie Einkaufszentren und Wohnanlagen. Eine allgemeine Bewachungsbefugnis für private Sicherheitsdienste gibt es in diesen Räumen ohnehin nicht. Vielmehr müssen die privaten Sicherheitsdienste bei ihrer Tätigkeit an den Schutz individueller Rechte ihrer Auftraggeber anknüpfen. Das geltende Recht bietet daher ausreichende Grundlagen, um gegen unzulässige sogenannte präventive Bewachungen im öffentlichen Raum vorzugehen. Zu nennen wären das Verbot unzulässiger Sondernutzung nach Straßen- und Wegerecht, die Bestrafung wegen Amtsanmaßung nach § 132 StGB oder die Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit.
Drittens. Die SPD stellt auf gewerberechtliche Aspekte, insbesondere Sachkundeprüfung und wiederholte Zuverlässigkeitsprüfung, ab. Hier sieht § 34a Abs. 2 der Gewerbeordnung ohnehin ausdrücklich vor, daß in der Bewachungsverordnung Vorschriften erlassen werden können, die dem Schutz der Allgemeinheit und der Auftraggeber dienen. Sollten also zusätzliche Regelungen notwendig werden, können diese ohne weiteres in die Bewachungsverordnung übernommen werden, ohne daß es - wie von Ihnen gefordert - einer gesamten gesetzlichen Neuregelung bedarf.
Im übrigen sieht das Gewerberecht für die privaten Sicherheitsgewerbe einen Erlaubnisvorbehalt vor; einer der wenigen Bereiche mit Erlaubnisvorbehalt. Weitergehende Eingriffe in die Gewerbefreiheit wären erst gerechtfertigt, wenn dafür zwingende
Tatsachen vorgetragen werden könnten. Dies ist für uns bisher nicht ersichtlich.
Viertens. Ich komme ganz kurz zum Waffenrecht. Hier legt die Bewachungsverordnung bereits fest, daß auch in befriedetem Besitztum die erforderliche waffenrechtliche Sachkunde, körperliche Eignung sowie ein waffenrechtliches Bedürfnis vorliegen müssen. Die Behörden haben es daher auch jetzt in der Hand, durch eine sorgsame Bedürfnisprüfung einem Mißbrauch entgegenzuwirken. Die detaillierten Bestimmungen des Waffengesetzes sowie der Bewachungsverordnung über den Besitz und das Führen von Waffen durch private Sicherheitsdienstmitarbeiter dürften daher ausreichen.
Fünfter und letzter Punkt: Datenschutz. Auch hier gibt es ausführliche Regelungen in §§ 28 und 29 Bundesdatenschutzgesetz über die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten im nichtöffentlichen Bereich. Diese Regelungen gelten auch für die privaten Bewachungsunternehmen. Wieder einmal kommt es daher darauf an, von den bestehenden Vorschriften des Bundesdatenschutzgesetzes und auch der Gewerbeordnung Gebrauch zu machen. Dann ist der Erlaß neuer Vorschriften auch in diesem Bereich nicht zwingend.
Ich fasse zusammen: Die F.D.P. tritt insgesamt dafür ein, die normative Distanz zwischen Polizei und Privatunternehmen zu erhalten. Eine eigene gesetzliche Grundlage speziell für die privaten Sicherheitsdienste würde diese aus dem normalen privaten Bereich herausheben und ihnen eine Zwischenstellung zwischen Privatpersonen und Hoheitsträgern einräumen. Dies kann nicht gewollt sein. Im übrigen erscheinen die meisten der geforderten Regelungen überflüssig.
Der SPD-Antrag wird daher in dieser Form unsere Zustimmung nicht finden. Zu einer Diskussion über Detailverbesserungen in den bereits bestehenden Gesetzen sowie über die Beseitigung von Vollzugsdefiziten ist die F.D.P. in den Ausschußberatungen aber gerne bereit.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident Klein! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." An diesen Satz, zitiert aus der Weimarer Verfassung, schloß Bertolt Brecht die listige Frage an: „... aber wo geht sie hin?", um am Ende seines Gedichts dazu zu kommen, daß die Staatsgewalt abstrakt vom Volke ausgeht, manchmal gegen das Volk marschiert und oft auf dieses schießt. Heute mündet die Lean production in Lean state. Das Gewaltmonopol des Staates, von den Linken oft in Frage gestellt, wird längst von den Bürgerlichen selbst ad absurdum geführt.
Wir zählen bereits 220 000 Angestellte privater Sicherheitsdienste, beschäftigt bei Sicherheitsdiensten, beim Werkschutz und als Detektive. Ihnen stehen 236 000 Menschen gegenüber, die bei den Länderpo-
Dr. Winfried Wolf
lizeien, beim BKA und beim BGS im Staatsdienst für die sogenannte Sicherheit verantwortlich sind. Es ist absehbar, daß in zwei oder drei Jahren im Bereich Sicherheit die Privatarmeen größer als diejenigen in Staatsdiensten sind.
Das ist charakteristisch für den Niedergang dieser Gesellschaft. Während die Zahl der Lehrer und Lehrerinnen je Klasse und die Zahl der Dozenten je 1 000 Studierende sinken, während die Arbeitslosigkeit und die Zahl der Armen steigen, steigt auch die Zahl der - staatlichen und privaten - „Sicherheitskräfte", absolut und je 1 000 Einwohner, rapide an. Im HighTech-Sektor der Elektro- und Elektronikindustrie gibt es Beschäftigungsabbau. Es boomt jedoch der „Sicherheitssektor". 1970 wurden in diesem Bereich 314 Millionen Mark umgesetzt, in diesem Jahr dürften es 4,5 Milliarden DM sein.
In dieser Industrie geht es zu wie bei Hempels unterm Sofa oder wie bei McDonald's: Die Adrettheit der Phantasieuniformen verhält sich umgekehrt proportional zur Qualität der Jobs. Nach einer neuen Verordnung des Wirtschaftsministeriums sollte die Unterrichtung neuer Mitarbeiter privater Sicherheitsbetriebe in 24 Stunden abgeschlossen sein. Die Löhne liegen, wie Herr Such schon sagte, bei 8 Mark die Stunde und darunter.
Wohlgemerkt: Es handelt sich um eine mit scharfen Hunden, mit Waffen und mit lebensgefährlichen Schlagwerkzeugen hochgerüstete Armee. Diese „schlagende Verbindung" operiert faktisch in einem rechtsfreiem Raum: Wildwest als Grundlage neoliberaler Sicherheitsphilosophie, wobei vor allem in Deutschlands wildem Osten der Bereich boomt.
Thomas Brunst schrieb dazu in der Zeitschrift „unbequem" :
Grundsätzlich nehmen die Angehörigen der Sicherheitsunternehmen bei der Ausübung ihrer Arbeit keinerlei Befugnisse wahr, die nicht jeder andere Bürger auch wahrnehmen könnte.
Außer auf die Gewerbefreiheit stützt sich die Sicherheitsindustrie unter anderem auf das Notwehrrecht. Dabei zielen die Vorschriften der §§ 32 ff StGB auf eine „unvorhergesehene Ausnahmesituation" einer einzelnen Person. Auch faßt das Notwehrrecht die Frage der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffes im Interesse der Notwehr übenden Person bewußt weit. Schließlich sind private Sicherheitsdienste ausschließlich dem Schutz materieller Güter verpflichtet. Den Schutz von Gemeinwohlinteressen sollen sie nicht vertreten.
Die Aufgaben dieser Trupps vom Typ „Horch, Guck und Greif" sind um so vielfältiger, wie der Kollege Graf ausgeführt hat. Soziale Randgruppen - Obdachlose, Bettler, Drogenabhängige, Prostituierte oder Punks - werden aus öffentlichen Räumen, ja aus ganzen Stadtvierteln vertrieben. Ungestörter Schickimicki-Konsum soll „abgesichert" werden. Flüchtlingsheime werden mit derselben Philosophie bewacht wie Militärdepots. Prominente und Halbseidene leisten sich Bodyguards. Dabei kann man oft, den historischen Ausspruch eines bekannten Berliner Oberbürgermeisters zitierend, ausrufen: „Seht euch diese Typen an!"
Einer der umsatzstärksten Sicherheitsmänner - er nennt sich der „Beckenbauer des Personenschutzes" oder auch „Schild und Schwert der Schickeria" - ist ein mehrfach vorbestrafter ehemaliger Disco-Rausschmeißer. Besonders grotesk: Die gleichen Herrschaften, die Ex-MfS-Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit jagen, lassen sich privat von Ex-Stasi-Leuten schützen.
Wir stimmen der Zielsetzung des SPD-Antrags zu. Dieser Sektor bedarf dringend der gesetzlichen Regelung und vor allem der Einschränkung. Nicht zustimmungsfähig sind allerdings Feststellungen in der Begründung. Dort heißt es zum Beispiel:
Die Ursache für das schnelle Wachstum des privaten Sicherheitsgewerbes liegt in der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung .. .
Kollege Teiser fand diese Aussage prima. Mir mißfällt sie. Das sind Symptome, nicht die Ursachen. Letztere liegen tiefer, etwa, wie im SPD-Antrag auch zitiert, in der bornierten Politik der Bundesregierung, mit der Arbeitslosigkeit und Armut vergrößert, neue Kriege mitprovoziert und Flüchtlinge produziert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich mit einem Zitat des großen bürgerlichen Ökonomen John Kenneth Galbraith schließen. Von diesem wurde jüngst ein Interview in der „Wirtschaftswoche" veröffentlicht, in dem er sagt, was er über die von privaten Wacharmeen behüteten Wohnsiedlungen der Reichen in den USA denkt. Ich zitiere:
Diese Reichen-Ghettos ... sind Ausdruck einer ökonomischen Apartheid und eine logische, wenngleich verwerfliche Folge der Einkommenskluft. Sie entstehen immer dann, wenn sich eine furchtsame Minderheit der Reichen von einer furchterregenden Mehrheit der Armen abzukapseln sucht. Dabei ist diese Sicherheit natürlich eine Illusion. Wenn es wirklich zu Gewalttätigkeiten
- wie in Los Angeles -
kommt, werden die Zäune, die Elektro-Tore und Privatarmeen nicht lange standhalten ... Nichts ist für den sozialen Frieden so gefährlich wie die Armut.
Danke schön.
Herr Kollege Hans-Peter Kemper, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Teiser, lassen Sie mich kurz Bezug auf Ihre Rede nehmen. Sie haben zum Schluß dem Kollegen Graf für die Mühe gedankt, die er sich gemacht hat. Ich kann Ihnen dieses Kompliment leider nicht zurückgeben. Ich hätte gerne von Ihnen gewußt, was Sie und Ihre Fraktion wollen. Sie haben sich aber in Ihrer Rede ausdrück-
Hans-Peter Kemper
lich auf das beschränkt, was Sie nicht wollen, und Sie haben die Vorschläge von uns kritisiert, ohne Gegenvorschläge zu machen.
Mein Kollege Graf und auch der Kollege Such haben nachdrücklich darauf hingewiesen, daß das Sicherheitsgewerbe in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr stark boomt. Die Zahl der Unternehmen hat sich verdreifacht, die Zahl der Mitarbeiter ist nahe bei 200 000 angelangt. Sie hat damit fast eine Größenordnung erreicht, wie wir sie bei der Polizei haben, die von Gesetzes wegen für die Bekämpfung der Straftaten und für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig ist.
Ich will diese vielfältige Aufgabenpalette nicht wiederholen. Herr Graf hat das sehr deutlich dargelegt. Ich will nur noch einmal auf die Frage eingehen, insbesondere auch deshalb, weil Sie, Herr Teiser, das angesprochen haben: Wie kommt es zu diesem unheimlichen Boom?
Da ist in der Tat zunächst einmal die dramatische Zunahme der Kriminalität, und zwar in ganz bestimmten Bereichen: im Bereich Eigentumskriminalität, Körperverletzungskriminalität und Gewaltkriminalität. Und diese Zunahme speziell in diesen Bereichen mit einer oftmals reißerischen Presseberichterstattung hat natürlich dazu geführt, daß sich in der Bevölkerung ein starkes Unsicherheits- und Angstgefühl breitgemacht hat, und die Bundesregierung kann den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land nicht mehr das Gefühl vermitteln, daß die Gewährleistung der Sicherheit bei ihr in guten Händen sei. Ganz im Gegenteil, sie hat durch ihr ständiges ideologisch geprägtes Privatisierungsgerede in weiten Bevölkerungsteilen noch den Eindruck erweckt, private Sicherheitsdienste könnten genausogut oder sogar noch besser als die Polizei die Sicherheit gewährleisten.
Und die Folgen? Wer es sich leisten kann, umgibt sich mit Bodyguards. Einzelhändler stellen private Sicherheitsdienste an und gaukeln so ihren Kunden Sicherheit vor. Insgesamt wird der Eindruck erweckt, als ob die Sicherheit heute zur Ware und damit käuflich geworden wäre.
Nun noch einmal zur Rechtslage. Herr Stadler, wir unterscheiden uns in dieser Frage ganz deutlich. Wir sind nicht der Meinung, daß die Not- und Jedermannrechte auch für die Sicherheitsdienste ausreichend sein dürfen. Wenn heute ein Mensch in Not und Gefahr gerät, dann steht ihm das Recht der Notwehr, überhaupt das Recht der Wehrhaftigkeit zu, dann muß er dafür nicht geschult sein, sondern er reagiert aus der Not heraus spontan nach dem gesunden Menschenverstand.
Da unterscheiden wir uns ganz deutlich. Unsere Fraktion ist hier anderer Meinung. Ich denke, das können wir dem privaten Wachdienst nicht zubilligen.
Der private Wachdienst, die Menschen, die sich dort
von Berufs wegen in solche Situationen begeben
müssen, müssen für diese Einsätze geschult sein. Sie müssen darauf vorbereitet werden. Sie können nicht die Not- und Jedermannrechte in Anspruch nehmen.
Herr Stadler, Sie haben die Verhältnismäßigkeit angesprochen. Wir sind der Meinung, daß bei denen, die berufsmäßig damit zu tun haben, also bei den privaten Wachdiensten, andere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit gestellt werden müssen als bei einem Menschen, der unvermutet überfallen wird oder unvermutet in eine Notlage gerät.
Da sind wir der Meinung, hierzu bedarf es der Ausbildung, der Schulung. Bis heute reicht es so nach landläufiger Meinung aus: Wenn jemand stark ist, mutig und fit, kann er Wachmann werden. Das ist ein Zustand, den selbst der Bund deutscher Sicherheitsunternehmen beklagt. Für den Nachweis der Zuverlässigkeit reicht ein ganz normales polizeiliches Führungszeugnis aus, und wir alle wissen, wie wenig aussagekräftig solche Führungszeugnisse lang- oder mittelfristig sind.
Die Rechts- und Ausbildungssituation muß endlich aus dieser Grauzone heraus, in der sie sich jetzt befindet. Der Wachmann muß gründlich unterrichtet werden: über seine Rechte, über seine Pflichten, insbesondere über die gesetzlichen Vorschriften, die bei seinem Bewachungsdienst zur Anwendung kommen können. Er muß nach unserer Meinung auch nachweisen, daß er diese Unterrichtung nicht nur akustisch wahrgenommen, sondern daß er sie auch verstanden hat, daß er die gesetzlichen Vorgaben zu handhaben weiß, auch im Interesse der Bürger.
Unsere Forderungen werden nicht nur von einem großen Teil der Sicherheitsunternehmen in der Bundesrepublik getragen, sondern auch von den meisten Länderinnenministern, mit einer Ausnahme - und wen wundert das? -, das sind die Bayern, die sich Ihrer Meinung, Herr Teiser, angeschlossen haben, denn die halten den § 34 der Gewerbeordnung für völlig ausreichend, wobei übersehen wird, daß diese Regelung in erster Linie die wirtschaftlichen Belange berücksichtigt.
Die Tätigkeiten privater Sicherheitsunternehmen schließen heute auch den Schutz von Leben, Gesundheit und Eigentum des Auftraggebers ein. Da kann es nämlich passieren - ich gehe darauf noch einmal ein -, daß ein privater Wachmann aus einer zunächst völlig harmlosen Einsatzsituation plötzlich in eine Situation gerät, in der er jemanden festhalten muß oder sich wehren muß, in eine Situation, deren Klärung aber eigentlich den Polizeibeamten zugedacht ist. Die Polizeibeamten haben für die Klärung dieser Angelegenheit mindestens 24 Monate Ausbildung genossen. Der Wachmann soll das mit einer Ausbildung von 24 Stunden schaffen, die Sie für ausreichend halten. Bei den Selbständigen soll eine Ausbildung von 40 Stunden als Qualifikationsnachweis ausreichen. Wer jetzt glaubt, es stünden Verbesserungen an, den muß ich enttäuschen: Das ist schon die Verbesserung. Vorher gab es überhaupt keine
Hans-Peter Kemper
Anforderungen in diesem Bereich. Wir halten diese seit einem halben Jahr geltende Verbesserung für völlig unzureichend. Sie ist lediglich mehr als gar nichts.
Ich sehe ein, daß das kurzfristig nur sehr schwer geändert werden kann. Wir sind aber der Meinung, daß wir zumindest mittelfristig zunächst einmal zu einer punktuellen einsatzbezogenen Ausbildung kommen müssen. Es kann durchaus akzeptiert werden, daß der Wächter eines Parkplatzes eine andere Ausbildung hat als der Bodyguard oder der Begleiter eines Geldtransportes. Eines ist aber klar: Eine vernünftige Grundausbildung braucht jeder. Die Weiterbildung muß dann nach der Prämisse erfolgen: je sensibler der Einsatz, desto versierter das Personal.
Langfristig muß man daran denken, auch die Möglichkeit zur Erstellung eines Berufsbildes zu schaffen, so daß in diesem Bereich auch Meister, Techniker und Ingenieure langfristig ihren Platz finden werden. Es muß ein Berufsbild erstellt werden, das die Frage der Akzeptanz der Sicherheitsdienste in der Bevölkerung verbessert, aber auch unter dem Gesichtspunkt der Fürsorgepflicht für den Bediensteten gesehen wird und als Schutzfunktion gegenüber der Bevölkerung dient.
Eines ist klar - das ist hier auch mehrfach angesprochen worden -: Solange es in diesem Bereich einen knallharten, ruinösen Wettbewerb gibt, solange Dumpinglöhne gezahlt werden, die unterhalb des Sozialhilfeniveaus liegen, und solange auch noch ehemals sehr aktive Stasi-Mitarbeiter von öffentlichen Arbeitgebern mit Aufgaben betraut werden, wird bei den Unternehmen wenig Neigung bestehen, Geld in ein vernünftiges Berufsbild und in eine vernünftige Ausbildung zu investieren. Von daher denke ich, daß wir ein vernünftiges Berufsbild brauchen. Ebenso brauchen wir aber eine spezialgesetzliche Regelung, die das Aufgaben- und Ausbildungsfeld dieser privaten Sicherheitsdienste abgrenzt. Berufsbild und Größe der Sicherheitsdienste müssen in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesministerium des Innern, Eduard Lintner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was Sie, Herr Kollege Kemper, eingangs als rhetorische Frage formuliert haben, ist hier, wie ich glaube, deutlich geworden: Wir wollen keine überflüssigen Regelungen in diesem Bereich.
Ich finde, das ist auch von unseren Rednern ausreichend begründet und belegt worden. Denn die Begründungen Ihrer Forderung nach einer umfassenden Regelung sind, genau besehen, Scheinargumente. Sie können diese Argumente auch nicht durch allgemeine wirtschaftspolitische Betrachtungen über die Bedeutung der Branche und die Beschäftigtenzahl ersetzen.
Gefordert wird von Ihnen ja unter anderem, daß jetzt abschließend geregelt werden müsse, was private Sicherheitsunternehmen in welcher Form dürfen, wie die Zusammenarbeit mit der Polizei zu erfolgen habe, wie Ermittlungsergebnisse der Unternehmen zu verwerten seien und wie die Datenerhebung zu erfolgen habe. Bei so umfangreichen Forderungen wäre es eigentlich schon wünschenswert gewesen, daß aus Ihren Ausführungen auch die Begründung für die Notwendigkeit der geforderten Regelungen hervorgegangen wäre. Aber trotz der von Ihnen immer wieder genannten 200 000 Beschäftigten in 1 200 Unternehmen gibt es kein rechtstatsächliches Material - und Sie haben auch keines anführen können -, das Regelungsdefizite in dem von Ihnen behaupteten Umfang hätte belegen können.
Unabhängig davon läßt sich gegen den Ruf nach dem Gesetzgeber noch folgendes geltend machen, und ich möchte aus der Sicht der Bundesregierung nur noch einige ergänzende Bemerkungen machen:
Die Tätigkeit privater Bewachungsunternehmen ist auftragsabhängig. Das heißt, daß sich der Auftrag auch aus dem dahintersteckenden Aufgabenzuschnitt ergibt. Soweit Hoheitsaufgaben übertragen werden, bedarf es einer spezialgesetzlichen Regelung, wie sie beispielsweise im Luftverkehrsgesetz oder im Atomgesetz getroffen worden ist. Deshalb ist im übrigen auch eine Novellierung des § 26 StVG geplant.
Für die Befugnisse gilt Entsprechendes. Sie sind - soweit nicht hoheitliche Aufgaben wahrgenommen werden - aus dem Recht des Auftraggebers abzuleiten: Dem Notwehrrecht - zum Beispiel des Eigentümers, des Besitzers und des Auftraggebers selbst - entsprechen Nothilferechte des beauftragten Unternehmers und seiner Beschäftigten. Die Meinung, der Gesetzgeber habe nicht gewollt, daß die Rechte der Notwehr und des Notstandes, der Besitzwehr und des Verfolgungsrechts des Besitzers auf Dritte, die für die Tätigkeit vom Auftraggeber bezahlt sind, übertragen werden könnten, läßt sich nicht aufrechthalten. Das wissen Sie so gut wie wir.
Die Notwehrrechte sind eben nicht höchstpersönlicher Natur. Ihre Ausdehnung auf Nothilfe ist deshalb unbestritten. Die Unrechtsposition desjenigen, gegen den Notwehr ausgeübt wird, wird durch die Wahrnehmung der Rechte durch einen kommerziellen Dritten nicht verändert.
Der Ausschluß der Übertragung dieser Rechte wird auch durch die tatsächliche Entwicklung nicht gefordert. Es sind nur verhältnismäßig wenige Fälle bekannt, in denen private Bewachungsunternehmen die privaten Nothilferechte überschritten haben. Jedenfalls liegt die Gefahr solcher Überschreitungen
Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
bei den Bewachungsunternehmen - gerade wegen ihrer größeren Erfahrung - nicht näher als beim Eigentümer selbst. Für ihn ist der Angriff eigentlich der größere Ausnahmefall als für den Beschäftigten des privaten Bewachungsunternehmens. Er ist auch wegen der unmittelbaren Betroffenheit und Schadensträgerschaft in größerer Gefahr, emotional und damit unverhältnismäßig auf den Angriff zu reagieren.
Hier bedarf es also keiner weiteren Befugnisregelungen. Es ist vielmehr auf das Jedermannsrecht zu verweisen; dies ist auch schon von den Kollegen getan worden. Im übrigen gilt dies auch hinsichtlich der generalklauselartigen Regelungen, die Sie fordern. Angesichts der vorhandenen, jahrzehntelang entwikkelten und damit gefestigten Rechtsprechung ist nicht einzusehen, wie durch eine solche neue gesetzliche Formulierung mehr Rechtsklarheit gewonnen werden könnte.
Den von der SPD beklagten Observationen privater Detekteien im öffentlichen Raum kann ebenfalls auf der Grundlage bestehender rechtlicher Regelungen in ausreichendem Maße begegnet werden, insbesondere im Rahmen des Ordnungs- und Gewerberechts.
Der Forderung nach Ausbildung und Sachkundeprüfung der Betreiber und Mitarbeiter privater Sicherheitsunternehmen kommt die Einführung des Unterrichtungsverfahrens für das Bewachungsgewerbe mit dem Inkrafttreten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes nach.
Auch im Waffenrecht und im Datenschutzbereich ist gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht erkennbar und wird auch von den Antragstellern nicht schlüssig dargetan. Die bestehenden Handlungsinstrumente des Gewerbe-, Waffen- und Datenschutzrechts sowie die Möglichkeiten nach Straßen- und Wegerecht, aber auch die strafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten bieten bei konsequenter Anwendung eine ausreichende Grundlage dafür, einem unerwünschten Ausufern der privaten Sicherheitsdienste entgegenzuwirken.
Es bleibt auch nach dieser von Ihrer Seite wortreich geführten Debatte festzuhalten, daß Sie ein umfassendes Gesetzeswerk gefordert haben, ohne daß Sie die für diese Regelung notwendigen Rechtstatsachen hätten nachweisen können. Es bleibt deshalb bei unserer ablehnenden Haltung.
Vielen Dank.
Herr Kollege Graf, ich schließe die Aussprache.
- Aufregung ist immer zulässig, vor allem wenn sie sich auf die Sache bezieht.
Nach interfraktionellem Vorschlag soll die Vorlage auf Drucksache 13/3432 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Die Überweisung ist somit beschlossen. Damit, Herr Kollege Graf, ist die Behandlung in den Ausschüssen gesichert.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 1995
- Drucksache 13/4498 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Christa Nickels das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir einen „Leitfaden für besseres Regieren" . Diesen neuen Beinamen hat die Zeitung „Die Woche" dem Jahresbericht des Petitionsausschusses gegeben. Ich finde, das ist ein ganz treffender Beiname für unsere Arbeit.
Ich möchte heute - fast zur Halbzeit der Legislaturperiode - in der Debatte über den Jahresbericht 1995 die Gelegenheit wahrnehmen, eine Zwischenbilanz unserer Arbeit zu ziehen. In den vergangenen Jahren hat sich ganz deutlich gezeigt, daß sich unser Ausschuß zu einem immer wichtigeren Beschwerdegremium für die Bürgerinnen und Bürger entwickelt hat. 1995 haben sich über 21 000 Menschen an unseren Ausschuß gewandt. Das war im Vergleich zum Vorjahr wiederum ein Anstieg um 9 Prozent. In Zeiten knapper Kassen und des Abbaus sozialer Standards ist damit zu rechnen, daß besonders im Renten- und Gesundheitsbereich in der nächsten Zeit die Eingabezahlen noch steigen werden. Aktuell merken wir das auch jetzt schon wieder.
Diese Zahlen zeigen zwei Seiten einer Medaille. Die dunkle Seite ist, daß immer mehr Bürgerinnen und Bürger Probleme haben. Für Parlament und Regierung zeigt der Petitionsausschuß wie ein Spiegel, daß in vielen Bereichen eine Politik gemacht wird, die von vielen Menschen überhaupt nicht mehr nachvollzogen werden kann. Kritik und Protest wurden besonders im Zusammenhang mit dem Renten-Überleitungsgesetz, der Pflegeversicherung, den Auswirkungen der Gesundheitsreform, der Überleitung der Mieten in das Vergleichsmietensystem, dem Altschuldenhilfe-Gesetz, der Verkehrswegeplanung, der Lärmbelästigung und im Zusammenhang mit dem Umgang mit Asylbewerbern geäußert.
Christa Nickels
Die helle Seite der Medaille zeigt allerdings, daß der Petitionsausschuß ein großes Vertrauen gefunden hat und daß dem Bundestag zugetraut wird, Probleme zu lösen und Fehler zu korrigieren. Das betrachte ich als Kompliment für unsere Demokratie.
Daß besonders viele Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern, die sonst der Politik des Bundestages eher skeptisch gegenüberstehen, die Hilfe des Petitionsausschusses suchen, ist auch ein gutes Zeichen. Ich weise entschieden die Kommentare derjenigen zurück, die diese Entwicklung gerne so hindrehen wollten, als ob die Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern ein größeres Lamento anstimmten. Das ist absolut nicht der Fall. Durch die drastischen Veränderungen bestehen dort sehr viele Probleme. Ich bin froh, daß sich diese Menschen an uns wenden, Vertrauen haben und glauben, daß sie an der richtigen Adresse sind.
Uns Abgeordnete ehrt der enorme Vertrauensvorschuß aus der Bevölkerung. Ich kann den Bürgerinnen und Bürgern versichern, daß sich der Ausschußdienst und alle Abgeordneten mit viel Fleiß und Sachverstand darum bemühen, möglichst vielen Problemen abzuhelfen. Dafür möchte ich allen Beteiligten danken.
Häufig höre ich allerdings von skeptischen Kolleginnen und Kollegen, die dem Ausschuß nicht angehören, und von Journalisten: Schön und gut, daß es den Kummerkasten gibt; aber erreichen kann er eigentlich nicht viel. Ich muß ganz klar und deutlich sagen, daß dies ein absolut falsches Vorurteil ist. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, daß das Petitionsrecht entgegen dem ersten Eindruck doch ein sehr komplexes Recht ist, das man kennen muß, um zu wissen, welche Möglichkeiten bestehen.
Wir spüren im Ausschuß ganz genau, daß das Leben der Menschen immer komplizierter wird und sich viele im Gestrüpp von Gesetzen und Verordnungen nicht mehr zurechtfinden. Es herrscht ein riesengroßer Beratungsbedarf. Oft kann der Ausschußdienst oder der angesprochene Abgeordnete schon durch einen Rat oder die Übersendung von Informationsmaterialien den Menschen, die sich an uns wenden, weitergreifend helfen.
In diesem Zusammenhang finde ich folgende Zahlen besonders bemerkenswert. Der Petitionsausschuß konnte in rund 38 Prozent aller Fälle direkt helfen oder zumindest Hilfe vermitteln. In 14 Prozent der Eingaben hat sich der Ausschuß über alle Parteigrenzen hinweg die Kritik bzw. die Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger zu eigen gemacht. Das heißt, daß immerhin in 14 Prozent der Fälle ein einfacher Brief an den Petitionsausschuß mit einem Bürgeranliegen zu einem mehrheitlichen Beschluß des Deutschen Bundestages geführt hat.
Wir Abgeordneten wissen alle - für mich als Oppositionsabgeordnete ist das noch viel deutlicher als für die Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen -, wie schwer es ist - oft unendlich schwer -, einem eigenen Vorschlag zu einem einvernehmlichen Beschluß hier im Deutschen Bundestag zu verhelfen. Man muß sich vor Augen halten, daß in 14 Prozent der Fälle die Bürgeranliegen mehrheitlich befürwortet werden.
Durch kein anderes Gremium haben die Bürgerinnen und Bürger einen so direkten Zugang zur Volksvertretung, und das auch noch mit Aussicht auf Erfolg. Lediglich 36 Prozent der Eingaben sind aus verschiedensten Gründen erfolglos geblieben. Aber selbst dann ist eine Eingabe nicht nutzlos. Denn eine Funktion des Petitionsausschusses ist es auch, Themen wachzuhalten oder als Frühwarnsystem Probleme aufzuspüren und dahin zu vermitteln, wo sie noch gar nicht registriert sind. Die Eingaben machen auf Probleme aufmerksam und haben damit langfristig Einfluß auf die Politik. Selbst wenn der Bundestag Petitionen ablehnt, machen sehr oft Fraktionen, Arbeitskreise oder einzelne Abgeordnete Anliegen zu ihren eigenen und bearbeiten sie nachhaltig und intensiv.
Die enorme Akzeptanz, die der Ausschuß bei der Bevölkerung findet, steht aber nach meinem Eindruck im krassen Widerspruch zu dem Stellenwert, den die Bundesregierung und - das sage ich selbstkritisch - auch der Bundestag dem Petitionsausschuß einräumen.
Ich muß heute wieder an die Bundesregierung appellieren - das ist eine alljährliche Pflichtübung; ich hoffe, daß es irgendwann endlich besser wird -, die Beschlüsse des Petitionsausschusses ernster zu nehmen. Wir haben täglich die konkreten Auswirkungen der Politik der Bundesregierung auf dem Tisch. Wenn mehrheitlich gefaßte Parlamentsbeschlüsse dann Änderungen einfordern, ist das ein Angebot zur Problemlösung, wie es demokratischer und bürgernäher nicht sein kann. Trotzdem hat die Bundesregierung im Berichtszeitraum 1995 neunmal Berücksichtigungsbeschlüsse, unser höchstes Votum, nicht befolgt und sich in sage und schreibe 237 Fällen geweigert, der Bitte nachzukommen, Erwägungen des Ausschusses zu beachten. Das ist meines Erachtens nicht hinnehmbar.
Aber auch wir Abgeordneten und Fraktionen des Deutschen Bundestages müssen uns selbst in die Pflicht nehmen. Die Bundestagspräsidentin, Frau Rita Süssmuth, hat den Petitionsausschuß als Beitrag gegen die Krise der demokratischen Institutionen gewürdigt. Der Jahresbericht 1995 beweist wieder, daß der Petitionsausschuß einen herausragenden Platz im demokratischen Gefüge einnimmt. Unsere Arbeit kann sich sehen lassen und wird von den Bürgerinnen und Bürgern honoriert.
In krassem Mißverhältnis dazu stehen die Plazierung der jährlichen Debatte - das sehen wir heute wieder einmal - und nach wie vor der Beratungszeitraum, den wir für unsere Ausschußberatungen zur Verfügung haben. Seit mehr als 20 Jahren, in einem Zeitraum, in dem sich die Zahl der Petitionen verdoppelt hat, sind wir gezwungen, mittwochs ab halb acht Uhr morgens, vor allen anderen Ausschüssen, 30 bis
Christa Nickels
40 Einzelanliegen im Hauruckverfahren durchzuziehen. Diese Beratungszeit wird der intensiven Vorbearbeitung, die teilweise ein Jahr dauert, in keinster Weise gerecht und mindert so die Bedeutung des Petitionsausschusses herab. Hier müssen andere Beratungszeiten her. Ich bin der Meinung, daß es möglich sein muß, daß andere Ausschüsse ihre Beratungszeiten verändern, damit wir endlich vernünftige Ausschußzeiten bekommen.
Zum anderen wünsche ich mir, was die Sitzungsmodalitäten des Ausschusses angeht, hier im Bundestag bayerische Verhältnisse. Denn in Bayern tagt der Petitionsausschuß - vorbildlich - immer öffentlich, und das mit großem Erfolg. Dort werden die Petenten zuvor gefragt, ob sie damit einverstanden sind, und wenn sie das wollen, werden sie sogar in den Ausschuß eingeladen, um an der Sitzung teilzunehmen - ein absolut lobenswertes Beispiel.
Natürlich eignen sich nicht alle Petitionen zur öffentlichen Beratung. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen gerade der Mehrheitsfraktionen, wir beschließen in unserem Ausschuß über 98 Prozent der Petitionen einstimmig. Da wird sich doch die eine oder andere Petition finden lassen, mit der wir die intensive und gute Arbeit des Ausschusses transparent und bürgerfreundlich darstellen können. Es ist doch absurd, daß ausgerechnet der Bürgerausschuß schlechthin sich bisher wie kaum ein anderer Ausschuß von der Öffentlichkeit abschottet; nach der Parlamentsreform haben wir es nämlich bis heute kein einziges Mal geschafft, öffentlich zu tagen. Das ist ein Aufruf, der an uns selber geht; das muß mit Mehrheit im Ausschuß beschlossen werden. Ich wünsche mir, daß wir das endlich einmal auf die Reihe kriegen.
Ich glaube, daß auch die Kolleginnen und Kollegen von den Mehrheitsfraktionen hier Gelegenheit hätten, ihre gute Arbeit im Petitionsausschuß bürgerfreundlich zu präsentieren.
Ich glaube, daß wir uns als Ausschuß mehr Gewicht im parlamentarischen Alltag verschaffen müssen. Das hängt aber auch davon ab, wie ernst wir uns selber nehmen. Wir brauchen manchmal mehr Biß und Rückgrat gegenüber den Meinungsführern in unseren eigenen Fraktionen.
Ich selber bin der Meinung, daß es den sogenannten jungen Wilden, von denen man liest, daß sie sich angeblich in den Koalitionsfraktionen befinden - wir haben einige Exemplare davon im Petitionsausschuß -, gut anstehen würde, wenn sie sich dann nicht gerade im Petitionsausschuß wie die braven Zahmen verstecken würden. Mich wundert das. Ich hätte nichts dagegen, wenn sie sich etwas mehr im Interesse der Bürgerrechte äußerten.
Als Ausschußvorsitzende ist es meine Aufgabe, die Rechte der Petenten und Petentinnen zu wahren und für eine sachgerechte Bearbeitung zu sorgen. Daher muß ich sagen, daß mir jedes Verständnis dafür abgeht, daß von seiten der Geschäftsführung der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion aus parteipolitischem Kalkül versucht wird, das Petitionsrecht teilweise zu blockieren.
Nach wie vor beharrt die CDU/CSU-Geschäftsführung darauf, daß Sammelübersichten, zu denen Änderungsanträge der Fraktionen angekündigt werden, nur zu Lasten des Fraktionszeitkontingents auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gesetzt werden. Das führt in der Praxis dazu, daß Petitionen oft geschäftsordnungswidrig ein ganzes Jahr lang nicht abschließend beraten werden können und die Leute keinen Bescheid bekommen.
Ich bin nicht bereit, das länger hinzunehmen, und werde eine Prüfung durch den Geschäftsordnungsausschuß des Hauses verlangen. Das Petitionsrecht ist viel zu wertvoll, als daß es durch solche parteipolitische Taktierereien entwertet werden dürfte.
Abschließend möchte ich auch darauf hinweisen, daß im Rahmen der zusammenwachsenden Europäischen Gemeinschaft das Gemeinschaftsrecht immer mehr Einfluß auf unsere Arbeit nimmt. Ich bin sehr froh, daß wir das Europäische Ombudsman-Institut haben, dessen Vorstand ich für den Petitionsausschuß des Deutschen Bundetages angehöre. Dort können wir diese neuen, komplizierten Probleme im Interesse der Bürgerinnen und Bürger kollegial auf europäischer und internationaler Ebene besprechen und bürgerrechtliche Lösungs- und Einwirkungsmöglichkeiten suchen. Ich möchte gern die Gelegenheit nutzen, diesen Kollegen dafür zu danken.
Als Fazit meiner Kommentierung zum Jahresbericht 1995 möchte ich zusammenfassen: Wir sind stolz, daß wir als Petitionsausschuß so viel Vertrauen genießen, werden uns aber selbstverständlich auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Dehnel, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Frau Nickels, Sie haben sehr moderat angefangen; ich hatte mich schon gefreut. Dann aber haben Sie mit der dunklen Seite doch etwas übertrieben.
Auf der linken Seite sitzen gar keine Medienvertreter mehr; sie wollen uns eigentlich immer in Hinterbänkler und Vorderbänkler einteilen. Leider ging das jetzt in die falsche Richtung. Wahrscheinlich haben die Medienvertreter gar nicht mehr zugehört.
Das ist für die Arbeit des Petitionsausschusses an sich schade; denn wir stehen mit unserer Arbeit an vorderster Front. Die Eingaben der Bürger sind für uns ein Sensor der Befindlichkeiten vor Ort: Wie
Wolfgang Dehnel
werden Gesetze, Bestimmungen und Verordnungen wahrgenommen? Welche Auswirkungen ergeben sich konkret für den einzelnen Bürger, aber auch für die gesamte Gesellschaft? Dieser Zusammenhang wird leider allzuoft vernachlässigt, zuwenig beachtet.
Auch haushaltspolitische Zwänge und Erwägungen sind letztlich in die Entscheidung des Petitionsausschusses mit einzubeziehen. Das mag natürlich im Einzelfall schmerzlich sein. Aber eine Konsolidierung des Haushaltes, eine gesunde Haushaltspolitik kommt schließlich auch dem einzelnen Bürger zugute. Oder haben sich manche schon zu sehr an die Stabilität der D-Mark gewöhnt? Ist dies nicht trotz der Leistung des Einheitsprozesses als erfolgreiche Finanzpolitik zu sehen?
Meine Damen und Herren, bei der Sichtung meiner politischen Unterlagen aus der Wendezeit bin ich auf den Kommentar des Jahresberichtes 1989 gestoßen. Ich hatte ihn vorsorglich aufgehoben, nur aus Interesse; denn damals war ich noch nicht Mitglied des Bundestages und dieses Ausschusses, sondern Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer. 1991 bin ich fast zufällig für einen ausgeschiedenen Kollegen eingesprungen; denn wir wissen: Die zusätzliche Arbeit ist unter den Kollegen nicht gerade beliebt.
Schon 1989 wertete man die Petition in der Bundesrepublik als ein Kaleidoskop des Lebens. In der DDR waren Petitionen eigentlich immer ein Ärgernis; sie zogen manchmal sogar Bespitzelungen durch die Stasi nach sich.
Ich möchte aus diesem historischen Dokument zitieren, um Parallelen und Wandlungen aufzuzeigen.
Da wurde über Gedichte für den Staat berichtet; die Rede war von einem 82jährigen Rentner aus Hamburg, der dem überaus teuren Vater Staat seine Gedichte widmete und sie dem Petitionsausschuß übersandte, dessen Mitarbeiter, wie es im Bericht heißt, inzwischen gespannt auf seine Fortsetzung des Gedichtzyklus warteten. Gedichte haben wir keine bekommen, aber statt dessen Petitionen, die in die gleiche Richtung gehen.
Ein Thema, das heute keines mehr ist, wenn man von gelegentlichen Bemerkungen Lafontaines im letzten Landtagswahlkampf absieht: Gehässigkeit gegen Aussiedler. Bedauernd stellte damals der Petitionsausschuß fest, daß sich die Zuschriften, in denen zum Teil in sehr gehässiger Form gegen die Aussiedler polemisiert wird, gehäuft haben. Ich glaube, wir haben überhaupt keine Petition in diesem Sinne mehr bekommen, und das freut mich sehr.
Worauf ich auch noch hinweisen möchte: Der Jahresbericht 1989 wurde am 19. Juni der Bundestagspräsidentin übergeben und - man höre und staune - am 20. Juni, einen Tag später, im Parlament beraten. Auf ein solch schnelles Verfahren sollten wir wieder kommen; ich glaube, Frau Vorsitzende, darin sind wir einer Meinung.
Zur Feier des sechsten Jahrestages der deutschen Einheit wurden in der vergangenen Woche auch wieder sehr viele Festreden gehalten. Viel Lobendes wurde berichtet, aber es wurden auch sehr viele Problemfelder angesprochen. Das Zusammenwachsen gestaltet sich schwieriger als erwartet, hieß es. Ich frage: Waren die Erwartungen in der Euphorie des Einheitsstrebens, die notwendig war, um überhaupt dorthin zu gelangen, nicht zu hoch? Wie sieht das mit dem Zusammenwachsen im Petitionsausschuß oder im Plenum aus? Haben sich die Kollegen beispielsweise an unseren sächsischen Akzent gewöhnt, oder sollen wir uns des bayerischen Dialekts bedienen, um größere Aufmerksamkeit zu bekommen?
Es ist so: Noch 1989 sind insgesamt 13 607 Eingaben eingegangen. Davon haben Sie schon berichtet. Wiederholungen lassen sich manchmal nicht vermeiden, wenn man einen solchen Bericht kommentiert.
Dazu muß ich sagen: Die Bürger aus den neuen Bundesländern haben jedenfalls Vertrauen in die Arbeit des Parlaments und seines Petitionsausschusses. Das beweist ganz einfach die statistische Auswertung. Im Jahr 1995 hat sich die Zahl der Petitionen - wie in den Jahren zuvor - um die 20 000 eingependelt, genau: Es wurden 21 291 Eingaben bearbeitet. Damit wurde gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 9 Prozent registriert. Dieser Anstieg wiederum ist ein Verdienst - in Anführungsstrichen - der Bürger aus den neuen Bundesländern. Von 5 020 im Jahr zuvor auf 5 829 im Berichtsjahr stieg die Zahl der Petitionen dieser Bürger. Das bedeutet, daß sich die Ostdeutschen etwa doppelt so häufig pro Einwohner an den Ausschuß wandten als die westdeutschen.
Auch in bezug auf die angesprochenen Bitten und Beschwerden gab es deutliche Unterschiede. Ein wesentlicher Schwerpunkt waren die Eingaben zum Renten-Überleitungsgesetz, sozusagen ein Dauerbrenner. Vor 14 Tagen wurde die Novelle zu diesem Gesetz mit den ab 1997 gültigen Änderungen verabschiedet. Ich freue mich deshalb für die vielen betroffenen Rentner, die in meinen Bürgersprechstunden vorgesprochen haben.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Es gab einen Vermessungsingenieur, der in der damaligen DDR dem Rat des Bezirks unterstellt war und deswegen eine Rentenkürzung hinnehmen mußte. Er ist seit 1946 CDU-Mitglied. Für mich ist er entgegen den Aussagen von Lafontaine oder Gysi keine „Blockflöte". Vielmehr ist dieser Bürger ein Demokrat der ersten Stunde.
- Also, das ist eine Frechheit. Ich weise es auf das entschiedenste zurück, daß dieser Mann den Mauerbau mit begrüßt hat. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Er zählt für mich zu den Demokraten der ersten Stunde. Solche Leute wie er sind durch die stalinistische und die SED-Diktatur unterdrückt worden.
Meine Damen und Herren, immer mehr Bürger - so meine Erfahrungen aus den Bürgersprechstunden - verstehen das Eingaberecht als Notrufsäule,
Wolfgang Dehnel
wenn sie Lücken in gesetzlichen oder behördlichen Vorgängen feststellen und vor Ort nicht mehr weiterkommen. Die Folge sind dann - durch unsere Einflußnahme - häufig Entscheidungskorrekturen oder Gesetzesänderungen, wie ich sie gerade am Beispiel der Rentengesetzgebung erläutert habe. Sie kommen einer Vielzahl von Bürgern zugute.
Des weiteren müssen zahlreiche Telefonate berücksichtigt werden, die Ausschußmitglieder oder Mitarbeiter des Ausschußsekretariats täglich führen, um im Interesse der Petenten eine effektive Bearbeitung der individuellen Eingaben zu ermöglichen. Gerade die zunehmende Zahl von Anrufen von Bürgerinnen und Bürgern belegt, daß der Petitionsausschuß in besonderer Weise Anlaufstelle für die Bevölkerung geworden ist. Häufig erläutern dabei die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschußdienstes die weitere Bearbeitung oder das Ergebnis der Petitionen, oder sie geben Hinweise, wohin sich der Bürger mit seiner Frage sinnvollerweise wenden kann. Dafür herzlichen Dank!
Danken möchte ich auch den Ministern und Staatssekretären der Bundesregierung, die heute in großer Zahl anwesend sind, und auch ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mit deren Hilfe in konkreten Einzelfällen häufig ein günstiger Ausgang von Petitionsverfahren erreicht werden konnte. Vielen Dank!
Als Sachse möchte ich natürlich auf die Eingaben aus meinem Heimatland eingehen. Aus dem Freistaat Sachsen gingen 2 045 Petitionen ein, 406 mehr als 1994. Damit steht Sachsen an zweiter Stelle im Bundesdurchschnitt. Sehen Sie, wir Sachsen sind keinesfalls Hinterbänkler, sondern wir sind Vorhut aller neuen Bundesländer. Man sollte auch die enormen Fortschritte im Umweltbereich, zum Beispiel bei der Wismut-Sanierung, im Infrastrukturbereich, im Straßen- und Autobahnbau und in der Städtesanierung immer wieder ansprechen. Aber die Entwicklung der Regionen ist für mich noch zu unterschiedlich. Die Entwicklung des Zentrums darf nicht zu Lasten der Randregionen gehen. Zentren müssen ausstrahlen und dürfen nicht absaugen. Hier müssen Bund und Land noch gemeinsam regulierend wirken.
Meine Damen und Herren, nur Negativmeldungen seien gute Schlagzeilen, meinen manche Journalisten. Solche Überschriften haben wir nicht nötig. Wir müssen durch unsere Arbeit überzeugen. Auf diese Arbeit können die Mitarbeiter des Ausschußdienstes und die Abgeordneten durchaus ein bißchen stolz sein. Dieser Stolz wird uns gewiß nicht in den parlamentarischen Himmel tragen, denn die Arbeit mit dem Bürger und die vielen Petitionen des nächsten Jahres holen uns ganz sicher wieder auf den Boden der Tatsachen und Befindlichkeiten zurück.
Ich möchte noch zwei Bemerkungen zu diesen Befindlichkeiten machen. Sogenannte Ossis haben ihr Kapital nicht in Banken anhäufen können, sondern nur in den Herzen. Das hat ihnen den Mut zur Wende gegeben. In diesem Sinne werde ich auch als
Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Petitionsausschuß gemeinsam mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion und der anderen Seite, wie Sie hier alle sitzen, im Interesse der Bürger und des Gemeinwohls den nächsten Jahresbericht angehen, getreu dem Leitspruch von Beethoven, den ich so oft in Poesiealben geschrieben habe und den ich auch heute gern wiederholen möchte:
Wohltun, wo man kann, Freiheit über alles lieben, Wahrheit auch vor dem Throne nicht verleugnen.
Abschließend hätte ich einen Wunsch. Ich weiß nicht, ob ein Abgeordneter auch Wünsche und Träume haben darf. Ich habe einen. Ich würde gern eine Generalpetition an alle Parlamente und Regierungen schicken, damit die Gewalt gegen Menschen aufhört, ganz gleich, ob es Gewalt gegen Kinder, Frauen oder Männer jeden Alters, aus Trieb, Macht oder religiösen oder politischen Gründen ist; denn mit Gewalt lassen sich keine Probleme lösen. Im Gegenteil, die Gewalt forciert Auseinandersetzungen, und sie eskaliert mit schlimmen Folgen. Dieser Gewalt muß auf allen Kontinenten entgegengewirkt werden.
Das Wort hat die Kollegin Lisa Seuster, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte noch eine Angabe zur Statistik machen, die heute schon mehrfach genannt wurde und beeindruckend ist. Das ist die Zahl der Petitionen: 21 300, also 9 Prozent mehr als im letzten Jahr. Das zeigt auch, daß die Arbeitsbelastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer größer wird. Ich möchte mich im Namen der SPD-Fraktion bei unserem Mitarbeiterbüro für die geleistete Arbeit recht herzlich bedanken.
Bei über 20 000 eingegangenen Beschwerden und Änderungsvorschlägen von Bürgerinnen und Bürgern ist klar, daß der Ausschuß, um dieses Pensum überhaupt bewältigen zu können, auf eine effiziente Vorbereitung angewiesen ist. Das Gros der Eingaben kann ebenso wie zahlreiche Anrufe bereits im Vorfeld durch die Büromitarbeiter erledigt werden. Oft genügen Hinweise auf zuständige Stellen oder die Weitergabe von Informationsangaben. Beschwerden über Behördenwillkür erledigen sich sehr oft durch Nachfragen bei den betreffenden Behörden von selbst.
Auf allen Ebenen sind hier kritische Fragen des Deutschen Bundestages, in diesem Fall auf seiten des Petitionsausschusses, unerwünscht und unbeliebt. Um nicht im Jahresbericht des Ausschusses als sture und bürgerfeindliche Behörde genannt zu werden, können so viele Angelegenheiten rasch im Sinne der Petenten geregelt werden.
Mit der Zahl der Eingaben ist auch die Belastung von uns Ausschußmitgliedern gestiegen. Die Sitzungen werden immer früher anberaumt und finden
Lisa Seuster
selbst in solchen Plenarwochen statt, die normalerweise ausschußfrei sind. Anders als mit diesem erhöhten Zeitpensum sind Tagesordnungen mit bis zu 40 Einzelpetitionen nicht mehr zu schaffen.
Eine gründliche Vorbereitung in den einzelnen Fraktionsgruppen und von seiten der Obleute ist auch hier unbedingte Voraussetzung.
Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen für die gute und kollegiale Zusammenarbeit im Ausschuß bedanken, ohne die wir die Arbeit nicht geschafft hätten.
Die erfolgreiche Ausschußarbeit kann an Hand weiterer Zahlen aus der Ausschußstatistik belegt werden: Von den 448 Petitionen, die 1995 im Ausschuß beraten wurden, sind 75 einstimmig beschlossen worden. Lediglich in vier Fällen wurden Änderungsanträge gestellt. Selbst hier war es schwierig, diese mit Debatte auf die Tagesordnung zu bekommen. In diesem Jahr stehen noch zehn Petitionen zur abschließenden Beratung an. Wir brauchen natürlich auch wieder eine Diskussionszeit. Jetzt wird es wieder schwierig, weil man meinte, diese Diskussion könne nebenbei miterledigt werden. Dagegen haben wir uns verwahrt.
Um derart unnötige Verschleppungen von Petitionen zu vermeiden, setzt sich die SPD-Bundestagsfraktion nachhaltig für die neugeschaffene Möglichkeit der öffentlichen Ausschußsitzung ein. Wir werden in diesem Vorhaben auch von der Präsidentin, Frau Süssmuth, immer wieder unterstützt. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, lehnen Sie dies ab? Man kann fast den Eindruck haben, daß Sie Ihre Entscheidungen nicht im Lichte der Öffentlichkeit treffen wollen.
Meine Damen und Herren, bezüglich der Verteilung der eingegangenen Petitionen nach den Geschäftsbereichen der Bundesministerien ist mit einem Zuwachs von gut 30 Prozent ein deutlicher Anstieg im Bereich Arbeit und Soziales zu verzeichnen. Hier spiegelt sich wider, daß das soziale Klima in unserem Land erheblich kälter geworden ist.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen heute bei Gesetzesänderungen einschneidende Kürzungen und Nachteile in Kauf nehmen. Der Anteil derjenigen, die einseitige und ungerechte Belastungen nicht sang-und klanglos hinnehmen, wächst immer mehr. Der Weg, ihren Mißmut über den Petitionsausschuß auszudrücken, ist nur ein Weg.
Die Kritik an der Umsetzung der Pflegeversicherung steht im Mittelpunkt der Beschwerden an das Haus Blüm. In den meisten Fällen wenden sich die Petenten gegen die ihrer Meinung nach zu niedrige Einstufung pflegebedürftiger Angehöriger. Vom Petitionsausschuß erwarten sie Hilfe in Form einer höheren, sprich angemesseneren Einstufung und damit eines höheren Pflegegeldes. Leider ist der Ausschuß nicht in der Lage, die vom medizinischen Dienst getroffene Einstufung zu überprüfen und sie eventuell zu korrigieren. Wir müssen uns darauf beschränken, den Petenten Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die
Einstufungen überprüft und Widersprüche eingelegt werden können.
Aber wir müssen uns für eine gleiche Behandlung im ganzen Bundesgebiet einsetzen. Es darf nicht sein, daß diese Begutachtung in Hamburg anders aussieht als in Bayern, denn es ist ein Bundesgesetz.
In einem anderen Problemfeld der Pflegeversicherung war der Einsatz des Petenten und des Ausschusses sehr viel schneller von Erfolg gekrönt. Vor Inkrafttreten des Gesetzes war es durchaus selbstverständlich, daß Behinderte ihre Pflege und Betreuung durch Pflegekräfte selbst organisiert haben. Dieses sogenannte Arbeitgebermodell der Pflegeorganisation sollte nach dem Pflegeversicherungsgesetz nicht mehr möglich sein, da es nur noch unzureichende Finanzmittel gegeben hätte. De facto drohte zahlreichen Behinderten der Heimaufenthalt, das heißt, das Ende ihres gewohnten Lebensalltags in den eigenen vier Wänden und der Abschied vom vertrauten Pflegepersonal.
Den Petitionsausschuß erreichten zahlreiche Beschwerden, die keinen Zweifel an dem dringenden Handlungsbedarf ließen. Der Ausschuß wies die Bundesministerien für Arbeit und Soziales sowie für Gesundheit auf die Dringlichkeit und die drohenden Nachteile für die Behinderten hin. Tatsächlich konnte in diesen Fällen durch eine Gesetzesänderung Abhilfe für die Betroffenen geschaffen werden. Im Zuge der Besitzstandswahrung wurde ihnen die Beibehaltung des Arbeitgebermodells ermöglicht.
Auf breite Unterstützung in der Bevölkerung treffen Petitionen zu Sekten und pseudoreligiösen Organisationen, von denen es mittlerweile 600 verschiedene gibt. Zur Zeit steht die Diskussion über die Praktiken der sogenannten Scientology Church im Zentrum kontroverser öffentlicher und politischer Diskussionen. Für die Kritiker ist Scientology eine Organisation mit wirtschaftsmafiaähnlichem Charakter. In einer Sammelpetition mit 40 000 Unterschriften werfen die Petenten der Organisation vor, ihre Mitglieder finanziell auszubeuten und sie psychisch unter Druck zu setzen. Die Vorwürfe basieren sowohl auf persönlicher Erfahrung der Petenten als auch auf Erfahrungen von Familienangehörigen.
Vor dem Hintergrund der vielen Vorwürfe und dem vagen Informationsstand bezüglich derartiger Organisationen hat der Petitionsausschuß intensiv über die Einsetzung einer speziellen Enquetekommission diskutiert. Mit einer einstimmigen Empfehlung hat sich der Petitionsausschuß gegen jene Stimmen durchgesetzt, die keinen Anlaß für eine Untersuchung dieser Gruppierungen, geschweige denn Handlungsbedarf für Gesetzesänderungen gesehen haben.
Daß die Kommission ihre Arbeit im Sommer dieses Jahres aufnehmen konnte, ist nicht zuletzt dem Einsatz der Petenten und des Petitionsausschusses und der Beharrlichkeit beider zu verdanken.
Wir bearbeiten Petitionen aus allen Wahlkreisen. Es wäre schön, wenn die Abgeordneten dann auch hier wären. Wir bearbeiten insbesondere auch Petitionen der Geschäftsführer. Es wäre schön, wenn wir
Lisa Seuster
die Debatte zu einem Zeitpunkt führen könnten, zu dem auch die anderen Abgeordneten selbstverständlich im Plenum sind.
Bedanken möchte ich mich dafür, daß die Regierungsbank diesmal so zahlreich besetzt ist. Das ist positiv zu werten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Günther Nolting, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Beratung des Jahresberichts des Petitionsausschusses für das Jahr 1995 nehme ich heute gern die Gelegenheit wahr, die meist unspektakuläre, aber doch sehr umfangreiche Arbeit des Ausschusses und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer breiteren Öffentlichkeit zu würdigen.
Der Petitionsausschuß wird als Anwalt des Bürgers, als - wie es die Frau Vorsitzende gesagt hat - Kummerkasten der Nation angesehen. Aus dein Bericht geht auch hervor, daß der Petitionsausschuß im Jahre 1995 nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Immerhin - hierauf ist schon hingewiesen worden - hat es einen fast zehnprozentigen Anstieg auf jetzt über 21 000 Petitionen gegeben. Der Kollege Dehnel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es einen überproportionalen Anstieg der Eingaben aus den neuen Bundesländern gibt, die zirka 27 Prozent an der Gesamtzahl der Petitionen ausmachten. Das muß einmal festgehalten werden.
Die Themenschwerpunkte lagen naturgemäß im sozialen Bereich, beim Renten-Überleitungsrecht. Aber es hat auch Beschwerden über die Arbeit der Rentenversicherungsträger und auch Kritik an Rentenberechnungen im Einzelfall gegeben. Ich denke, in den genannten Bereichen besteht insgesamt noch ein großer Aufklärungsbedarf.
Ich habe die große Anzahl von Eingaben angesprochen; das haben auch meine Vorredner getan. Daß wir überhaupt in die Lage versetzt werden, jede einzelne Eingabe sorgfältig zu prüfen und zu bearbeiten, liegt in erster Linie an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes. Ich möchte mich im Namen der F.D.P.-Fraktion bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes bedanken.
Man muß hier auch aufzeigen, daß dieses Arbeitspensum um so eindrucksvoller zu bewerten ist, wenn man sich vor Augen führt, daß es bei der Anzahl der über 21 000 Petitionen um die Gesamtzahl der neuen Eingaben im Berichtszeitraum geht. Darin nicht enthalten sind die Tätigkeiten bezüglich älterer Petitionen. Nicht berücksichtigt sind dabei auch die unzähligen Telefonate und die umfangreiche Korrespondenz mit den Bürgern, mit Ministerien, mit Abgeordneten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abgeordneten, denen ich an dieser Stelle für ihre Unterstützung danke.
Mein Dank gilt aber auch den Bürgern, die mit Geduld oft mehrere Monate, manchmal Jahre - Sie haben recht - warten müssen, bis ein Endbescheid kommt. Ich bitte aber auch in diesem Punkt um Verständnis. Jeder, der im Ausschuß mitarbeitet, weiß, wie lang die Wege manchmal sein können, wenn sorgfältig geprüft, wenn eine sorgfältige Entscheidung herbeigeführt werden soll.
Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei der Frau Vorsitzenden und den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen für die gute und konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Ich denke, wir haben häufig über die Fraktionsgrenzen hinweg Lösungsvorschläge im Sinne der Petentinnen und Petenten erarbeitet und schließlich auch umgesetzt.
Ich habe darauf hingewiesen: Der Petitionsausschuß wird allgemein als Anwalt des Bürgers bezeichnet und auch dementsprechend anerkannt. Ich will an dieser Stelle aber auch ausdrücklich festhalten, daß die entsprechenden Beschlüsse des Bundestages aus verfassungsrechtlichen Gründen keine bindende Wirkung gegenüber der Bundesregierung in dem Sinne haben, als daß diese verpflichtet wäre, der jeweiligen Aufforderung des Petitionsausschusses Folge zu leisten.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß gerade im Bereich der sogenannten berüchtigten,
- nein: der Berücksichtigungsbeschlüsse und der Erwägungsbeschlüsse die Bundesregierung aufgefordert wird, konsequent und vor allen Dingen kooperativ alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um dem jeweiligen Ersuchen des Petitionsausschusses und damit des Deutschen Bundestages im Sinne des Petenten Rechnung zu tragen.
Ich sage das an dieser Stelle ganz deutlich: In diesem Punkt haben wir für das vergangene Jahr einige Defizite - um es vorsichtig auszudrücken - festzuhalten. Ich denke, es spricht für sich, daß die Bundesregierung im Berichtsjahr 1995 in über 230 Erwägungsbeschlüssen unserem Petitum nicht nachgekommen ist und, wie ich hoffe, zum Teil noch nicht nachgekommen ist. Ich meine, dies muß geändert werden. Ich setze dabei auf die Kooperationsbereitschaft und - ich sage es noch einmal - auf die Kreativität der Bundesregierung.
Ich will an dieser Stelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung allerdings auch ausdrücklich loben; das Interesse drückt sich auch dadurch aus, daß hier heute eine so große Anzahl von Regierungsvertretern anwesend ist.
Günther Friedrich Nolting
Dies könnte auch ein Beispiel für die eigenen Kollegen des Deutschen Bundestages sein. Wir werden das dementsprechend lobend weitergeben.
- Liebe Frau Kollegin Peters, ich beschimpfe natürlich nicht diejenigen, die hier sind. Ich beschimpfe überhaupt keine Kolleginnen und Kollegen; das würde ich mir nie erlauben. Ich darf die Anwesenheit dieser großen Anzahl von Regierungsvertretern aber doch ausdrücklich lobend erwähnen und als Beispiel empfehlen.
Wenn die Regierung gelobt werden muß, dann muß sie gelobt werden. Da wird wohl auch die Opposition zustimmen.
Meine Damen und Herren, ich möchte nur einige wenige exemplarische Beispiele aufzeigen, einige Eingaben des Berichtszeitraumes nennen. Ich möchte zu Anfang die Eingaben zum sogenannten Flensburger Urteil ansprechen, welches, wie wir alle wissen, ein weitreichendes Echo gefunden hat.
Es ging darum, daß ein Urteil des Flensburger Amtsgerichtes aus dem Jahre 1992 kritisiert wurde, demzufolge der Anblick einer Gruppe Schwerstbehinderter bei den gemeinsamen Mahlzeiten in einem Urlaubshotel zur Minderung des Reisepreises berechtigte. Obgleich der Deutsche Bundestag auf Empfehlung des Petitionsausschusses beschloß, die Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen mit dem Ziel, das Reisevertragsrecht dahin gehend zu ändern, daß Diskriminierungen behinderter Menschen in jeder Hinsicht ausgeschlossen werden, wurde dies zunächst als nicht notwendig und nicht zweckmäßig abgelehnt.
Es hat dann ein beharrliches Drängen von seiten des Ausschusses gegeben. Unter Hinweis auf ein zwischenzeitlich vom Gesetzgeber in Art. 3 des Grundgesetzes festgeschriebenes Diskriminierungsverbot löste die Bundesregierung ihre bis dahin starre Verweigerungshaltung.
In einem Schreiben an die Verbände der Tourismusbranche forderte das Justizministerium in der Folge, daß auch auf Grund der verfassungsrechtlichen Vorgaben jedwede Diskriminierung Behinderter unterbleiben müsse.
Ich denke, dies war letztendlich ein Erfolg des Petitionsausschusses, der auch durch seine Beharrlichkeit in diesem konkreten Fall der gerechtfertigten Entrüstung weiter Teile der Bevölkerung vollauf Rechnung tragen konnte.
Wir haben eine Vielzahl von Eingaben aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation bekommen; deren Zahl ist im Berichtszeitraum angestiegen. Der Schwerpunkt in diesem Bereich lag auch 1995 bei Beschwerden im Zusammenhang mit ungewöhnlich hohen Telefonrechnungen. Aber es gab auch viele Eingaben aus den neuen Bundesländern, in denen es um den berechtigten Wunsch nach Bereitstellung eines Telefonanschlusses ging.
Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Bundesminister für Post und Telekommunikation sowie dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Telekom AG die Möglichkeit gefunden, die bisher üblichen Verfahrensweisen beizubehalten. Ich denke, dies kann nur im Sinne der Petitionen sein. Wir haben auch erreicht, daß in der Folge Eingaben, zum Beispiel im Zusammenhang mit überhöhten Telefonrechnungen, zügig und oftmals unbürokratisch im Sinne der Petentinnen und Petenten erfolgreich abgeschlossen werden konnten.
Lassen Sie mich einen Bereich ansprechen, der mir als Obmann im Verteidigungsausschuß natürlich nahe liegt: Ich will darauf hinweisen, daß die Gesamtzahl der Eingaben aus dem Bereich des Bundesministers der Verteidigung im Berichtsjahr 1995 im Vergleich zum Vorjahr um etwa 20 Prozent gesunken ist. Trotzdem haben wir im letzten Jahr einen sehr starken Anstieg von Petitionen zu verzeichnen gehabt, die sich mit militärischen Tief- und Nachttiefflügen beschäftigten.
Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Dieser starke Anstieg der Zahl an Petitionen zu diesem Thema ist für mich kaum nachvollziehbar, wenn man weiß, daß die Gesamtzahl der Tiefflugstunden von 88 000 1988 auf 16 000 Stunden im Jahr 1995 gesunken ist und daß auch die Zahl der Nachttiefflugstunden im letzten Jahr deutlich vermindert wurde. Aber unter dem Eindruck des Wegfalls des Ost-West-Konfliktes sehen viele Petenten wohl einen generellen Wegfall jeglichen Gefährdungspotentials und leiten daraus offensichtlich die Überflüssigkeit aller militärischen Übungstiefflüge ab.
Ich will hier ausdrücklich festhalten, auch für die F.D.P.-Bundestagsfraktion klar Stellung beziehen: Tiefflüge sind auch angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage weiterhin notwendig, um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, hier der Luftwaffe, auch in bezug auf internationale Verpflichtungen aufrechtzuerhalten.
Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang den Hinweis, daß der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr mit Verfassungsrang ausgestattet ist. Diesen zu gefährden kann nicht im Interesse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages liegen, weswegen dann auch entsprechende Änderungsanträge von seiten der Opposition mehrheitlich abgewiesen wurden.
Lassen Sie mich eine Petition ansprechen, die uns im Jahr 1994, zumindest thematisch aber auch noch einmal im Jahr 1995 beschäftigt hat. Hier ging es darum, daß wir eine frühere Entscheidung bei geänderter Sachlage revidiert haben. Ich meine die Ein-
Günther Friedrich Nolting
gabe im Zusammenhang mit der Motorsportveranstaltung auf dem Bundeswehrflugplatz in Wunstorf.
- Das war überhaupt kein Trauerspiel, liebe Frau Kollegin Müller; ich werde Ihnen jetzt auch sagen, warum das überhaupt kein Trauerspiel war.
Die ursprüngliche Petition richtete sich gegen einen Beschluß aus dem Jahre 1994, mit dem der Deutsche Bundestag auf Vorschlag des Petitionsausschusses die Bundesregierung aufgefordert hatte, künftige Motorsportveranstaltungen in Wunstorf zu untersagen. In den neuerlichen Beratungen - auch nach Rücksprache mit der Stadt Wunstorf - vertrat der Ausschuß mehrheitlich die Auffassung, daß die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Rennsports ohne die Nutzung der Bundeswehrliegenschaften in Zukunft nicht mehr gewährleistet sein könnte.
Ich denke, von weitaus entscheidender Bedeutung wertete der Ausschuß die Tatsache, daß sich der Motorsport in Deutschland in der Vergangenheit in hohem Maße mit der Umweltverträglichkeit seiner Veranstaltungen auseinandergesetzt hat. Da der Motorsport diesbezüglich verstärkt auf umweltschonende Techniken, zum Beispiel auf die Benutzung von Katalysatoren, setzt und sich zur Verbesserung des Lärmschutzes strenge Geräuschbegrenzungen auferlegte, sah der Ausschuß keine Veranlassung, auf seinem Votum aus dem Jahre 1994 zu beharren, und empfahl daher gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen.
Lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungen noch einige grundsätzliche Bemerkungen machen, die mir am Herzen liegen. Bei der Fülle von Gesetzen, Formalismen und Verwaltungsvorschriften in Deutschland haben selbst sachkundige Bürger häufig große Probleme. Ich sehe hier einen entscheidenden Grund für die hohe Anzahl von Eingaben, die der Petitionsausschuß zu bearbeiten hat.
Deshalb appelliere ich heute an den Deutschen Bundestag: Wir benötigen dringend eine Entbürokratisierung. Die ständig zunehmende Bürokratie schränkt die Chancen des einzelnen auf Selbstverwirklichung und selbstverantwortliches Handeln ein. Dem Bürger bleibt da häufig oftmals nichts anderes übrig, als sich an staatliche Stellen und schließlich auch an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages zu wenden.
In diesem Zusammenhang läßt sich aus vielen Eingaben die Forderung nach klaren, einfachen und unmißverständlichen Gesetzen ableiten. Hier müssen wir uns als Gesetzgeber unserer Verantwortung noch stärker bewußt werden und uns dieser Aufgabe, die gerade im Bereich des Petitionsausschusses in zahlreichen Eingaben offen zutage tritt, in Zukunft noch stärker stellen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Lüth, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst wie die anderen Rednerinnen und Redner ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes bedanken; denn nur durch ihre qualifizierten Beiträge ist eine kontinuierliche Arbeit des Petitionsausschusses überhaupt vorbereitungs- und durchführungsfähig.
Es ist ganz wichtig für uns zu sagen, daß jede positiv abgeschlossene Petition auch einen Erfolg unserer Arbeit darstellt. Aber Herr Dehnel, allein diese Erfolge dürfen uns nicht davon zurückhalten, auch die kritischen Dinge, die Hemmnisse in der Auswertung zu benennen. Ich komme auf diese zu sprechen.
Einmal im Jahr wird die Dunkelkammer Petitionsausschuß geöffnet; denn die Arbeit des Petitionsausschusses vollzieht sich in der Tat im Interesse der Petentinnen und Petenten vor der Öffentlichkeit verborgen. Trotzdem wird mit einer eigenen Kontinuität im Bundestag auch in diesem Jahr wieder der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses als vorletzter Punkt auf die Tagesordnung einer Sitzungswoche gesetzt: sicherlich, um diese Arbeit auch weiter im Bereich des Verborgenen zu halten.
Besonders pikant ist diese Entscheidung unter Berücksichtigung der herausgehobenen Bedeutung der Arbeit des Petitionsausschusses als Bindeglied zwischen Parlament und Bürgerinnen und Bürgern, die den Petitionsausschuß zunehmend als ihren Anwalt begreifen. Daß das Ziel insbesondere durch die sorgfältige und kontinuierliche Arbeit des Petitionsausschusses erreicht wurde, wird auch darin deutlich, daß sich die Bürgerinnen und Bürger mit über 21 000 Petitionen, also mit 9 Prozent mehr als im Vorjahr, an uns gewandt haben.
Betrachtet man im Gegensatz dazu die Art der Erledigung der eingegangenen Petitionen, ergeben sich erhebliche Zweifel, ob dieses Ergebnis auch tatsächlich gewollt ist. Allein in über 36 Prozent der inhaltlich geprüften Petitionen wurde dem Anliegen der Petentinnen und Petenten nicht entsprochen. Das heißt, bei über einem Drittel wurde das in den Petitionsausschuß des Bundestages gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt. Ich füge hinzu: Nicht bei jeder Petition ist auch ein positiver Entscheid möglich. Das sehe ich genauso wie die anderen Kolleginnen und Kollegen.
Dieser Eindruck wird aber auch dadurch verstärkt, daß mehrheitlich fraktionsübergreifend die an den Bundestag überwiesenen Beschlüsse, bei denen sowohl der Petitionsausschuß als auch das Plenum des Bundestages das Anliegen für berechtigt und Abhilfe für erforderlich gehalten haben, durch die Bundesregierung überwiegend abgelehnt oder sehr zögerlich bearbeitet wurden und bearbeitet werden.
So geht aus \\dem Jahresbericht 1995 hervor, daß bereits am 1. Januar 1995, also noch vor dem Berichtszeitraum, insgesamt 567 Petitionsverfahren noch nicht endgültig abgeschlossen wurden. Davon
Heidemarie Lüth
wurden innerhalb des Berichtsjahres ganze 189 Verfahren positiv erledigt. 173 Fälle wurden mit der Mitteilung, daß dem Anliegen auch nach nochmaliger Prüfung entgegen der Empfehlung der Fraktionen und der Gruppe im Bundestag nicht entsprochen werden konnte, abgeschlossen.
Die Möglichkeiten des Petitionsausschusses haben sich dann natürlich erschöpft, da er kein Selbstbefassungsrecht hat. Jedoch ist es für mich im Gegensatz zu den Äußerungen von Herrn Nolting schon eine bemerkenswerte Tatsache, daß sich die Bundesregierung weigert, die vom Petitionsausschuß ausgesprochene Empfehlung auch umzusetzen. 209 Verfahren wurden innerhalb dieses Berichtzeitraums immer noch nicht beendet.
Eine Widerspiegelung „erfolgreicher" Politik der Bundesregierung dokumentiert sich auch im Vergleich des Anteils der Beschwerden aus den neuen Bundesländern. 40 Prozent der 1992 eingegangenen Petitionen galten als Merkmal eines gewachsenen Demokratiebewußtseins der Bürgerinnen und Bürger. Der Rückgang der Petitionen 1994 wurde dann damit dokumentiert, daß zwischenzeitlich die Verabschiedung zahlreicher gesetzlicher Regelungen zur Bereinigung einigungsbedingter Probleme zu einem weiteren Abbau der Kritik am Verlauf des sozialen Einigungsprozesses und damit zur weiteren Normalisierung der Verhältnisse in Deutschland beigetragen haben. 1995 wurde der erneute Anstieg - gerade vorhin wieder von Herrn Dehnel - als Notrufsäule - mit Sachsen als Vorhut der neuen Bundesländer in diesem Bereich - kommentiert. Man muß sich nur etwas einfallen lassen.
Aufschlußreich ist dabei zusätzlich, daß auf eine Million der Bevölkerung in den neuen Bundesländern 410 und in den alten Bundesländern nur 221 Petitionen entfallen sind.
Frau Kollegin Lüth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Sehr gern.
Frau Lüth, wenn Sie mich hier schon zitieren, dann möchte ich Ihnen sagen, daß zu der Rede im vergangenen Jahr, die Sie zitiert haben, zwei weitere Sätze gehören. Damit die Kollegen das richtig interpretieren können, darf ich die nächsten Sätze zitieren.
Eine Frage bitte.
Richtig, das war keine Kurzintervention. Es folgt also die Frage.
Darf ich Ihnen die zwei nächsten Sätze vorlesen?
Ich muß Ihnen nämlich sagen, was dort stand.
Nein, so geht das nicht. Sie können sich nicht mit der Rednerin einigen, sondern Sie müssen eine Frage stellen.
Würden Sie bitte auch die nächsten beiden Sätze zitieren, wenn Sie schon beim Zitieren sind? Oder haben Sie sie vergessen?
Das ist in Ordnung. Jetzt können Sie antworten.
Herr Dehnel, um im Moment die Sache auf eine etwas scherzhafte Weise zu lösen: Was und wie lange zitiert wird, ist sicherlich demjenigen überlassen, der ein Zitat bringt. Sie verhalten sich doch genauso.
Jedes Jahr gleichermaßen steigend ist der schwerpunktartige Anteil der das Bundesministerium für Arbeit und Soziales betreffenden Bitten und Beschwerden. Von 1993 bis jetzt stiegen sie von 24,8 Prozent auf 33,9 Prozent. Liegen die Ursachen hier nun in einem ständig wachsenden Demokratiebewußtsein der Bürgerinnen und Bürger oder in der bürgerfreundlichen Politik der Bundesregierung? Träfe letzteres zu, bestünde sicherlich das Erfordernis, im nächsten Jahresbericht an Stelle von Bitten und Beschwerden, also dem „Kummerkasten der Nation", wie er hier schon benannt wurde, die Rubrik „Dankschreiben" einzuführen.
Daß zum Beispiel die in diesem Jahr verabschiedeten Regelungen zum Rentenrecht nicht zu einem Rückgang der Petitionen in diesem Bereich führen werden, liegt dann vermutlich zum anderen daran, daß die bisher in diesen Regelungen enthaltenen Überführungslücken keineswegs geschlossen sind und darüber hinaus mit einem Anstieg der Petitionen
- das zeichnet sich schon ab - zur Pflegeversicherung zu rechnen sein wird.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß in den Stellungnahmen der zuständigen Ministerien zu den Petitionen als Begründung einer ablehnenden Haltung vielfach auf die Eindeutigkeit der Gesetze verwiesen wird. Das ist zum Teil sicherlich richtig und wird von mir auch nicht bestritten, scheint mir aber der Weg des geringsten Widerstandes zu sein. Denn
- mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich jetzt Bertolt Brecht, und auch nur eine Zeile -:
„So, wie es ist, bleibt es nicht."
Durch wen werden diese Regelungen und Gesetze denn geschaffen und in Kraft gesetzt? Sollte sich daraus nicht besser für alle Mitglieder dieses Hauses die Aufgabe stellen, gründlicher zu prüfen, inwieweit wir in der Lage und auch bereit sind, Gesetze noch mehr den Interessen der Bürgerinnen und Bürger entsprechend zu gestalten, zu verändern und dann auch umzusetzen?
Ein zweites Totschlagargument der Ministerien und gleichzeitig ein weiteres Ergebnis eigentlich auch der Politik sind die ewig knappen Haushalts-
Heidemarie Lüth
mittel. Damit erübrigt sich oft eine inhaltliche Debatte zu einer Petition, weil mit diesem Argument nicht weitergearbeitet werden kann. Ich denke, in mehreren Fällen, auch im vergangenen Jahr, haben die entsprechenden Ministerien diesen Hinweis auf die knappen Haushaltsmittel benutzt und zum Teil mißbraucht.
Eine gehörige Ignoranz gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern gehört auch dazu, daß es für die Mehrheit dieses Hauses hinsichtlich der Wertung einer Petition offensichtlich völlig unerheblich zu sein scheint, ob es sich um einen fehlerhaften Sprachgebrauch bei der Einladung zum Brigadeball handelt oder um eine Sammelpetition, die mit über 55 000 Unterschriften versehen ist. Herr Nolting ist ja auf einige dieser inhaltlichen Dinge schon eingegangen.
Aber die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ermöglicht zumindest die Bestrebungen - die ebenfalls im Ausschuß mit Mehrheit abgestimmt wurden -, auf Antrag der Opposition und mittels einer Einzelausweisung in einer Sammelübersicht diese im Plenum auf die Tagesordnung zu setzen und dann gegebenenfalls in einer Debatte erneut zu beraten und abzustimmen. Das war bisher ein wirklich demokratischer Brauch und eine wirklich demokratische Regelung.
Um das hier einmal zu verdeutlichen: Bei den über 21 000 Petitionen im vergangenen Berichtszeitraum wurde dieses demokratische Recht einmal von der Fraktion der SPD und dreimal von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in Anspruch genommen. Wahrlich keine Überbelastung des strapazierten Parlamentes!
Um eine offensichtliche Beschneidung demokratischer Rechte durch eine Änderung der Geschäftsordnung zu vermeiden, verstärkt die Koalition nun die Anstrengungen, die für die Opposition ohnehin eingeschränkten Aufsetzungszeiten dadurch zu schmälern, daß derartige Anträge dem Kontingent einzelner Fraktionen und der Gruppe angerechnet werden sollen. Das ist, wie hier auch schon geäußert wurde, eine Beschneidung der parlamentarischen Möglichkeiten der Opposition.
Frau Kollegin Lüth, wenn Sie bitte einmal auf die Uhr schauen.
Ja.
- Einen letzten Satz, Entschuldigung.
Allerdings beweist diese Verfahrensweise einmal mehr den Unwillen der Koalition, den Tatsachen direkt ins Auge zu sehen. Statt Ursachen für bestimmte Erscheinungen aufzudecken, bekämpft man die Ergebnisse der Politik.
Das Wort hat die Kollegin Wilma Glücklich, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich Bürger an den Petitionsausschuß wenden, haben sie meist schon eine Odyssee durch etliche Verwaltungsstufen hinter sich; das wissen wir. Deutschland hat eine übermäßige Regelungsdichte, anders als beispielsweise die US-amerikanische Gesellschaft.
Der Großteil unserer Arbeit hier im Parlament besteht ja auch darin, Regelungen durch weitere Regelungen zu verfeinern. Nur, eine noch so verantwortungsvolle Bearbeitung wird es nicht verhindern können, daß Rechte einzelner nicht in dem Maße berücksichtigt werden können, wie diese sich das jeweils vorstellen. Wir werden immer in der Situation sein, weitere Ungleichheit zu provozieren.
Diese Regelungsdichte macht es den Verwaltungen und anderen Großinstitutionen besonders leicht, sich generell auf Formalien zurückzuziehen. Ich interpretiere Sie so, Frau Nickels, daß Sie das gemeint haben. Der Petitionsausschuß ist deshalb ein Spiegel genau dieser Institutionen und nicht von Regierung und Parlament. Ich denke, wir müssen aber auch für uns selbst eine Konsequenz hieraus ziehen. Darauf werde ich nachher noch eingehen.
Unsere Gesellschaft ist postsolidarisch und postautoritär. Das heißt, in der Öffentlichkeit genießen Rechte einzelner einen weitaus höheren Aufmerksamkeitswert als das Interesse der Gesellschaft insgesamt. Deshalb sind Menschen natürlich ständig in der Versuchung, zu glauben, ihnen stehe eine absolute persönliche Befriedigung, gleich auf welchem Gebiet, zu. Genau deshalb erleben wir, daß Menschen glauben, den Staat über Gebühr in Anspruch nehmen zu können. Jede noch so kleinteilige Regelung wird diese Möglichkeit nicht gänzlich verhindern können, im Gegenteil.
Ich vertrete die neuen Bundesländer. Hier prallt die Lebenserfahrung der Menschen auf absolut gegensätzliche Gegebenheiten und Strukturen. Ihre Wirklichkeit im vereinten Deutschland hat sich radikal geändert. Dabei wird deren physische und psychische Kraft oft bis an die Grenzen strapaziert. Was die meisten Bürger dabei hinzunehmen haben, ist schwer zu verarbeiten, geschweige denn voll zu akzeptieren. Deshalb ist es nur allzu verständlich, daß in der Rückschau das verschwundene Gewohnte in einem besonderen Licht erscheint.
Viele Petitionen machen deutlich, daß „die" durchgängig gleiche Ostidentität eine Fiktion ist und nur einen Hauch von Glaubwürdigkeit dadurch erhält, daß man eine gemeinsame, im einzelnen jedoch höchst unterschiedliche Geschichte hat. Durchgängig zeigt sich jedoch auch: Verwaltungen in Deutschland - hierbei ist der neue Osten nicht ausgenommen - sind durchdrungen von einem starken gewerkschaftlich orientierten Geflecht, das weniger an Bürgernähe und Hilfsbereitschaft als an Arbeitszeitregelung und an Arbeitsplatzerhalt für sich selbst
Wilma Glücklich
interessiert ist. Aus diesem Grunde fühlen sich Bürger so oft den Behörden gegenüber hilflos.
Der Petitionsausschuß hat bei vielen seiner Entscheidungen Beispiele für Deregulierung und für mehr Bürgernähe aufgezeigt und deutlich gemacht. Eine Zwischenbilanz ist deshalb ein guter Vorschlag, Frau Nickels. Aber den richtungweisenden Schritt zu tun, das ist ein Wunsch, der mir besonders am Herzen liegt. Ich denke, dem Petitionsausschuß als einem wesentlichen Instrument des Bundestages stünde es sehr gut an, hier der Schrittmacher zu sein, anstatt sich ausschließlich auf seine nach dem Grundgesetz festgelegte Pflicht zurückzuziehen, Einzelfälle zu entscheiden.
Ich bin überzeugt, unsere Regelungswut unterhöhlt unsere Gesetze weiter, verhindert Kompromisse und Konsens im normalen täglichen Leben und überflutet uns mit scheinbaren Konflikten. Mit einem Minimum an Wertekonsens würde sich unsere Sozialordnung wesentlich leichter aufrechterhalten lassen als durch eine Überbürokratisierung.
In der Summe sind also die 80 Petitionen, die wir pro Tag erhalten, gut geeignet, unser tatsächliches Regelungsdefizit, nämlich die Vereinfachung der Verwaltung, deutlich zu machen. Nicht längere Beratungszeiten helfen uns weiter, Frau Nickels, sondern klare Zielformulierungen und Konsequenzen aus den Einzelberatungen. An die Wurzel des Übels müssen wir herangehen.
Ich möchte noch einen Punkt betonen, der mir schon häufiger aufgefallen ist. Im Petitionsausschuß ist bei ganz wenigen Themen eine Polarisierung nicht zu übersehen. Mehrheitsentscheidungen des Ausschusses zu bestimmten Petitionen werden unter dem Vorwand, hier gehe es um ganz spezielle und überaus wichtige Bürgerinteressen, ganz besonders herausgestellt. Ich bitte Sie, mich jetzt nicht wieder mißzuverstehen. Beispiele finden sich allerdings im Bericht und auch in einem Interview in der „Woche" von gestern. Ich bin überzeugt, daß die Spielregeln hier verkehrt werden, und ich denke, daß sich die Unterlegenen nicht immer auf der richtigen, sprich: bürgernahen Seite wähnen dürfen, während die Regierungsfraktionen jeweils abgeurteilt werden. Es hilft überhaupt nicht weiter, uns zu unterstellen, wir blockierten mit Mehrheit Petitionsrechte.
Lassen Sie uns gemeinsam überdenken, wie wir im Interesse der Bürger initiativ werden können. Viele Ansinnen müssen zurückgewiesen werden, da Rechte einzelner nicht immer vorrangig sein können. Das hat nichts mit Verweigerung zu tun.
Frau Kollegin Glücklich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Nein, Herr Präsident. Ich denke, wir haben so oft über das Thema geredet, daß es keine neuen Aspekte geben wird.
Seine Entscheidungen macht sich der Ausschuß nicht leicht. Dank der akribischen Vorbereitung des Ausschußdienstes, dem auch ich ausdrücklich danken möchte, und nach eingehender Erörterung finden wir häufig zu sehr komplizierten Entscheidungen. Ich wehre mich daher ganz besonders gegen die Vorhaltungen. Ich wehre mich dagegen, daß auf diese Art und Weise versucht wird, Demokratie außer Kraft zu setzen. Der Petitionsausschuß hat nicht die Rolle einer zusätzlichen Instanz, sondern er ist eingebunden in das demokratische System insgesamt.
Angesichts der über 20 000 Fälle pro Jahr steht selbstverständlich im Vordergrund, jedem Einzelfall möglichst gerecht zu werden. Das steht außer Frage. Für diesen enormen Arbeitsaufwand danke ich den Mitarbeitern des Ausschußdienstes an dieser Stelle noch einmal.
Unsere Aufgabe darf sich aber nicht in ordentlicher Abarbeitung der Petitionen erschöpfen. Unser Ziel muß es sein, aus den vielen Einzelfällen eine konsequente Anforderung zur Verwaltungsvereinfachung und Bürgernähe zu formulieren und den Bundestag im Anpacken dieser Aufgabe zu bestärken. Klagemauer allein reicht mir nicht.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Christa Nikkels.
Frau Kollegin Glücklich, ich möchte noch einmal die Intentionen meiner Vorschläge klarstellen.
Erstens ist es so, daß der Petitionsausschuß kein Überausschuß ist und kein Selbstaufgriffsrecht hat. Wir sind also gesetzlich daran gehalten, uns strikt an dem zu orientieren, was die Bürgerinnen und Bürger vorbringen. Andere, eigene Überlegungen haben wir in den Fachausschüssen vorzubringen. Ich glaube, das ist auch gut so, weil man damit der Versuchung entgeht, eigene Sachen über diesen Ausschuß zur Sprache zu bringen. Es handelt sich um einen strikt bürgergerichteten Ausschuß. Von daher müssen wir die Quintessenz aus der Masse der einzelnen Petitionen ziehen.
Der zweite Punkt. Ich bin der Meinung, daß man die Beratungen insgesamt nicht verlängern sollte. Wir haben im letzten Jahr hier intensiv über Parlamentsreformen diskutiert. Das ganze Präsidium hat gesagt: Unsere Arbeit muß transparent werden, wir fordern Sie auf, mehr öffentliche Ausschußsitzungen zu machen. Deshalb ist es ein Unding, daß die Beratungszeit gerade in unserem bürgergerichteten Ausschuß, wo sich die Zahl der Petitionen in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat, nach wie vor in der Regel eine Stunde beträgt, die wir manchmal auf anderthalb Stunden verlängern. Es geht nicht an, daß der Petitionsausschuß im Vorfeld unheimlich viel Arbeit übernimmt, die eigentlich Ausschußarbeit ist. Bei uns dauern die Obleutebesprechungen drei Stunden und mehr. Es handelt sich um eine vorverlagerte Ausschußberatung unter Ausschluß der Kollegen, die im Ausschuß sitzen. Das ist absolut ungewöhnlich. Es
Christa Nickels
widerspricht jeglichem normalen Prozedere und ist erst recht nicht mit der Parlamentsreform vereinbar.
Es geht darum, diese Relationen geradezurücken. Ich hätte gerne ein Obleutegespräch von einer halben Stunde und dafür eine vernünftige Ausschußberatung, wie andere Ausschüsse das auch haben. Wenn der Petitionsausschuß Verfassungsrang hat und alle immer sagen: Wunderbar, ihr macht das für uns - jeder einzelne macht das ja in der Wahlkreisarbeit noch weiter -, dann bestehe ich darauf, daß wir eine vernünftige Ausschußberatung haben, so daß nicht die eigentliche Ausschußarbeit im Hinterzimmer von den Obleuten gemacht wird. Sonst braucht man das Wort Parlamentsreform gar nicht mehr in den Mund nehmen.
Der letzte Punkt, den ich leider noch einmal ansprechen muß, ist die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. § 112 Abs. 2 besagt klipp und klar, daß auf Antrag einer Fraktion ein Änderungsantrag mit Aussprache möglich ist zu einer vorliegenden Petition. Das ist nicht etwas, was wir uns aus der Nase gezogen haben. Diese muß auf die Tagesordnung aufgesetzt und hier beraten werden. Das ist ein Antragsrecht, das in der Geschäftsordnung festgelegt wird. Es ist ganz klar fixiert.
Im gleichen Paragraphen heißt es: Jede Petition, die im Petitionsausschuß beschlossen ist, muß binnen drei Wochen aufgesetzt und beraten werden. Es ist ein Unding, daß, obwohl ein Änderungsantrag dazu vorliegt, die Geschäftsordnung gebrochen wird. Das ist GO-widrig, und wirklich nicht hinzunehmen. Damit beschneiden Sie auch die zweite Möglichkeit des Petitionsrechts, Petitionen zum Gegenstand kontroverser Debatten zu machen. Das sage ich nicht aus Eigeninteresse der Fraktion, sondern weil Bürgerinnen und Bürger die Sache einbringen. Es muß mindestens eine Fraktion des Hauses sein, die sagt, die Petition ist so wichtig, daß sie im Plenum Gehör finden muß.
Frau Kollegin, die drei Minuten sind abgelaufen.
Es gibt klare Geschäftsordnungsbestimmungen, die nicht gebrochen werden dürfen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Müller, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte zunächst einmal auf zwei Dinge aus dem Petitionsbericht 1995 eingehen, die sich sozusagen als Dauerbrenner erwiesen haben.
Das sind einmal die überhöhten Telefonrechnungen. Davon hatten wir eine ganze Menge und konnten auch in sehr vielen Fällen helfen - schade, daß der Minister Bötsch jetzt weg ist, ich wollte ihn gerade einmal loben; er hat sich nämlich dabei sehr kooperativ gezeigt.
Er war der einzige Minister, den wir nicht vorladen mußten, sondern der sich selbst vorgeladen hat, indem er freiwillig zu uns kam und uns seine Hilfe angeboten hat. Dazu muß man hier einmal sagen: Das war eigentlich ganz gut.
Wir hatten immerhin 500 Beschwerden über solche Rechnungen. Da war die Rentnerin aus Stralsund, die 2 400 DM für einen Telefonanschluß bezahlen sollte, da war die fast 70jährige Witwe, die angeblich 17 Stunden am Stück mit den USA telefoniert hat und 2 000 DM berechnet bekam. In diesen Fällen konnten wir helfen.
Nun kommt das Aber. In letzter Zeit sieht das nicht mehr so gut aus; denn auf Grund der Privatisierung der Telekom ist es sehr viel schwieriger geworden. Man möchte uns eigentlich nicht mehr problemlos antworten.
Wir haben in der vergangenen Woche vom Ausschußdienst gehört, daß, wenn wir um etwas bitten, die Auskunft offensichtlich nach Lust und Laune der Sachbearbeiter erteilt wird. Hat der Sachbearbeiter Lust, bekommen wir eine, hat er keine Lust, bekommen wir keine Auskunft. Für unsere Arbeit muß das geklärt werden. Wenn wir im Bereich der Telekom keine Rechte mehr haben, dann soll man uns das klar sagen. Wir müssen dann den Menschen sagen, sie sollen sich mit ihren Beschwerden an einen Rechtsanwalt wenden; das Parlament kann für sie nichts mehr tun. Aber die derzeitige Situation ist für uns im Rahmen der Geschäftsordnung nicht mehr hinnehmbar. Wir haben in der vergangenen Woche den Beschluß gefaßt, den Geschäftsordnungsausschuß um die Prüfung zu bitten, inwieweit das Postministerium noch Einfluß auf die Telekom hat und somit parlamentarischer Einfluß geltend gemacht werden kann.
Die Masse der Telekom-Petitionen spricht ja nicht unbedingt für die Fehlerlosigkeit in diesem Unternehmen. Ich könnte mir vorstellen, daß wir uns, wenn jetzt neue Geschäftsfelder der Telekommunikation wie Fax, ISDN und E-Mail hinzukommen, damit noch ganz schön auseinandersetzen müssen.
Ein zweiter wirklicher Dauerbrenner, den wir in jedem Jahresbericht haben, ist das Thema Lärm, Verkehrslärm und Tiefflüge. Kollege Nolting hat dazu schon etwas gesagt. Die Masse der Petitionen zu den Tiefflügen kam auch daher, daß die Strecken verändert wurden; denn das BMVg hat in seiner großen Weisheit auch Kur- und Naherholungsgebiete, die vom Tourismus leben, nicht von Nachtflügen verschont. Dazu wird aber meine Kollegin Christel Deichmann noch etwas sagen.
Wir wissen mittlerweile, daß Lärm krank macht. Wir hatten beispielsweise in diesem Jahr auf Druck des Petitionsausschusses eine Expertenanhörung des Verkehrsausschusses zum Thema Lärm. Das war
Jutta Müller
eine sehr gelungene Veranstaltung. Dort haben wir viel über die krankmachenden Folgen von Lärm gelernt. Wir haben auch von zwei Verfassungsrechtlern erfahren, daß sie der Auffassung sind, daß die derzeitige Gesetzgebung im Bereich Lärmschutz und Lärmsanierung verfassungswidrig ist. Eigentlich haben sie durch die Blume den Bürgerinitiativen geraten zu klagen.
In diesem Zusammenhang muß ich, Herr Nolting, etwas zu Wunstorf sagen. Sie hätten dieses Beispiel besser verschwiegen. Man muß, Herr Dehnel, sich einmal die Geschichte des Falles Wunstorf anschauen. Wir hatten eine Bürgerpetition zum Flughafen Wunstorf, die sich dafür eingesetzt hat, das dortige Autorennen zu verbieten, weil sich die Leute hochgradig belästigt gefühlt haben. Das war 1991.
Herr Dehnel, wir haben diese Petition ewig lang behandelt, weil wir versucht haben, mit dem ADAC einen Kompromiß zu finden, der die Bürger schont, aber gleichzeitig die Durchführung des Rennens ermöglicht. Nachdem sich dieser Verein überhaupt nicht bewegt hat, waren auch alle Kollegen aus Ihren Reihen so stinkig, daß wir dort nichts mehr stattfinden lassen wollten. Wir haben dann beschlossen, den Verteidigungsminister aufzufordern, diesen Platz nicht mehr zur Verfügung zu stellen - wunderbar.
Nur, die Leute dort müssen uns ja für völlig verrückt halten, wenn ein Jahr später eine genau gegensätzliche Petition angenommen wird: Deshalb habe ich Sie aufgefordert, den Petenten zu nennen. Der Petent war nämlich der ADAC. Die CDU/CSU-Fraktion geht offensichtlich sofort in die Knie, wenn der
Petent ADAC heißt. Es wurde dann argumentiert, daß der gesamte Rennsport in Deutschland in Gefahr ist, wenn das Rennen nicht stattfindet. Der ADAC tut ja „so viel" für den Umweltschutz; verleihen Sie ihm doch den blauen Umweltengel!
Der Flugplatz liegt in einem Landschaftsschutzgebiet. Nach meiner Auffassung haben dort Autorennen nichts zu suchen. Man sollte sich die Wirkung solcher Beschlüsse - im Jahre 1994 entscheidet man so und im Jahre 1995 entscheidet man völlig konträr, obwohl sich die Situation nicht geändert hat - einmal vor Augen führen.
Frau Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Bitte.
Frau Müller, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es sich um Petitionen von 15 000 Bürgern gehandelt hat, die das Rennen wollten, und daß es ein Bürgermeister der SPD mit seiner gesamten Stadtratsfraktion war, der das Rennen ebenfalls wollte?
Natürlich bin ich bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Herr Dehnel, aber darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, daß einfach keine Kompromißlinie zu erreichen war,
obwohl wir den Beschluß einstimmig gefaßt haben. Daß der ADAC mehr als 15 000 Mitglieder hat, ist mir klar. Deshalb reagieren Sie auch so sensibel. Ein solches Verfahren kann man sich doch in dieser Form nicht bieten lasten. Die Bürgerinnen und Bürger vor Ort müssen wirklich denken, wir seien verrückt. Wenn man schon etwas beschließt, muß man dabei auch bleiben.
Dasselbe Problem, das wir mit der Post und Telekommunikation haben, haben wir natürlich auch mit der Bahn, die ebenfalls privatisiert wurde. In diesem Bereich konnten wir aber einiges erreichen, weil sich die Bahn - bis auf einen Fall; bei dem hat es ein bißchen länger gedauert - relativ kooperativ verhält. Wir konnten Verbesserungen im Bereich der Toilettenanlagen durchsetzen.
Etwas länger hat es im Bereich der Behindertenfreundlichkeit der Bahn gedauert. Wir mußten eine Petition, in der es darum ging, wenigstens in den Zügen der neuen Generation eine fahrzeuggebundene Einstiegshilfe einzubauen, hin und her wälzen. Es bedurfte extra eines Ortstermines, bis die Bahn bereit war, uns zuzugestehen: Wir haben jetzt gesehen, daß es so nicht funktioniert, und wir sind jetzt bereit, in den neuen Zügen auch Einstiegshilfen für Behinderte einzubauen. Ich denke, auch dies ist ein Erfolg des Petitionsausschusses.
Weil wir in einer so intimen Runde sind und auch die Geschäftsführer anwesend sind, möchte ich den Geschäftsführer von der CDU, Herrn Schmidt, ganz konkret ansprechen: Wir schieben den Stau von noch nicht bearbeiteten Petitionen vor uns her. Dies ist unerträglich für die Petenten. Ich möchte Sie bitten, zu prüfen, ob Sie Ihre Blockadehaltung gegenüber einer öffentlichen Ausschußsitzung nicht aufgeben können.
Wenn Sie uns im Plenum nicht haben wollen, akzeptiere ich dies; es gibt vielleicht wichtigere Themen. Aber dann lassen Sie uns doch wenigstens in einer öffentlichen Ausschußsitzung die Petitionen beraten.
Ich möchte ganz zum Schluß, Herr Präsident, noch ein Beispiel anführen, wie peinlich es werden kann, wenn eine Petition zu lange liegen bleibt. Die Sammelübersicht beinhaltet eine Petition, die wir an das Auswärtige Amt überwiesen haben. Wissen Sie, was der Petent fordert? -.Er fordert die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, daß der Schriftsteller Ken Saro-Wiwa in Nigeria freigelassen wird. Wissen Sie, wie lange der Mann schon tot ist?
Das ist doch peinlich. Man könnte ja die Petition überweisen und sagen: Generell geht es um Nigeria; die Verhältnisse dort sind nicht so gut; daher bitten wir die Bundesregierung, sich darum zu kümmern. Aber das Petitum war ein anderes. Die Art und
Jutta Müller
Weise, wie die Sache jetzt gelaufen ist, finde ich außergewöhnlich peinlich.
Die Ursache für diesen Mißstand liegt darin, daß die Dinge hin und her geschoben werden und man sie nicht für so wichtig hält. Das ärgert mich ungemein. Mit unseren eigenen Geschäftsführern haben wir ebenfalls ständig Krach. Ihnen mußte ich dies auch einmal sagen, Herr Schmidt. Überlegen Sie sich wirklich, ob wir nicht zu einem anderen Verfahren kommen können, damit solche Peinlichkeiten nicht mehr passieren.
Auch ich möchte mich zum Schluß ganz herzlich bedanken: bei den Mitarbeitern des Sekretariats und bei den Kolleginnen und Kollegen, mit denen trotz mancher Auseinandersetzung ein Zusammenraufen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Interesse der Petenten möglich war. Ich hoffe, daß wir weiterhin in einer guten Atmosphäre zusammenarbeiten können.
Das Wort hat der Kollege Klaus Dieter Reichardt, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte soll unseren Blick für Grundsätzliches schärfen. Wir bearbeiten im Ausschußdienst des Petitionsausschusses wie im Ausschuß selbst eine Vielzahl menschlich anrührender Bitten. Außerdem kennen wir alle die vielen Versuche der Rechtsfortbildung zum subjektiven Vorteil. Manchmal und sehr oft artikulieren Petitionen sogar schlicht und einfach Unverständliches oder Sinnloses. Insgesamt ist unsere Arbeit ein unverzichtbarer Teil des Zusammenwirkens der Menschen in Deutschland mit ihrem Parlament.
Gestatten Sie einem jüngeren Kollegen einige kritische Beobachtungen. Im Jahre 1995 verzeichnete der Deutsche Bundestag fast 21 300 Petitionseingaben. Gegenüber 1994 war dies eine Steigerung um etwa 9 Prozent. Damit wurde die Rekordmarke des Jahres 1992 fast wieder erreicht. Etwa ein Drittel aller Petitionen kommt aus den neuen Bundesländern. Für das laufende Jahr wurden im Zeitraum zwischen dem 1. Januar und dem 30. September 1996 13 901 Neueingänge erfaßt. Bis Jahresende rechne ich demnach mit etwa 18 000 bis 19 000 Neueingängen. Dies wäre ein erneuter Rückgang auf den Stand von 1994.
Für jeden einzelnen Kollegen oder jede einzelne Kollegin bearbeitet der Ausschuß pro Jahr im Schnitt mehr als 30 Fälle. Wir bewegen uns aber auch 1996 auf einem hohen Niveau neuer Eingaben. Nur ein geringer Teil dieser Petitionen kann, bei Licht betrachtet, tatsächlich zum Ziel kommen und das Erbetene erreichen.
Dies hängt nach meiner Erfahrung nach einjähriger Mitarbeit in diesem Ausschuß damit zusammen, daß viele Menschen schlechterdings Unmögliches von unserem Rechts- und Sozialstaat fordern. Das Zerrbild vom Abgeordneten, der alles richten und regeln kann, ist in vielen Köpfen verfestigt. Verehrte Frau Ausschußvorsitzende Nickels, wir sollten alles tun, um zu erreichen, daß sich dieses Bild nicht weiter verfestigt.
Ein weiterer Grund für Vorgänge, die in die Leere gehen, ist deren Charakter als versuchte Ersatzpolitik nach subjektiv als schlecht oder unbequem empfundenen politischen Entscheidungen. Im Zusammenhang mit dem Asylrecht beispielsweise beriet der Ausschuß während des letzten Jahres mehr als ein Dutzend Einzelfälle, durch die qua Petition versucht werden sollte, die derzeitigen rechtlichen Regelungen umzubiegen oder auszuhebeln.
Angesichts der skurrilen Argumentation von Bündnisgrünen, PDS und auch Vertretern der SPD hätte ich mir für solche Beratungen wirklich sehr viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit gewünscht. Der Versuch, das international vorbildliche deutsche Asylrecht über den Petitionsweg fortlaufend zu konterkarieren, wäre dann jedermann deutlich geworden. Die pauschale Rede von den Politikern, die das Problem nicht in den Griff bekommen, wäre dann der notwendigen parteipolitischen Differenzierung gewichen.
Frau Kollegin Dietert-Scheuer beispielsweise hat sich im Ausschuß in der Vergangenheit immer wieder als Anwältin gegen die deutsche asylrechtliche Praxis profiliert und den ausgezeichneten Vorarbeiten unseres Ausschußdienstes bei solchen Fragen wenig Vertrauen geschenkt.
Bei Frau Nickels - ich habe Ihre Pressemitteilung zur heutigen Debatte gerade gelesen - drängt sich mir ohnehin die Frage nach der parteipolitisch zu wahrenden Unabhängigkeit des Amtes der Vorsitzenden auf.
- Sie können sie nachher von mir bekommen. Ich habe sie gut gelesen.
- Hier steht:
Nachdrücklich forderte die Grünen-Parlamentarierin die Bundesregierung auf, die Beschlüsse des Ausschusses „ernster zu nehmen".
Stand: dpa 13.21 Uhr.
Klaus-Dieter Reichardt
- Das ist außerordentlich schnell von Ihnen. Das muß aber noch schneller dort gewesen sein; denn so schnell hätte man das gar nicht zu Papier bringen können.
Zu bemängeln sind zum Beispiel auch die von Ihnen dargestellten, aber nicht mit dem Ausschuß abgesprochenen Überlegungen zu einer großen Reform in der Ausschußarbeit. Das waren ganz große Entwürfe. In der Wirklichkeit ist die Politik aber oft in den kleineren Würfen wertvoll. Man sollte meines Erachtens im Ausschuß noch einmal auf dieses Thema zu sprechen kommen.
Ich würde mir wünschen und erwarten, daß man im Ausschußvorsitz das Thema der weitestgehenden möglichen Objektivität etwas ernster nimmt, sauber analysiert und das eigene Verhalten kritisch überprüft.
Herr Kollege Reichardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Seuster?
Ja, bitte, Frau Kollegin Seuster.
Herr Kollege, könnten Sie sich vielleicht vorstellen, daß es ein ganz normaler Vorgang ist, daß, wenn wir um 12.45 Uhr mit der Debatte begonnen haben, um 13.10 Uhr eine solche Erklärung von dpa über die Medien geht? Daß selbst der Petitionsausschuß von den Medien beachtet wird, ist doch eigentlich gar nicht so schlimm.
Frau Kollegin, ich finde diese Beachtung ausgezeichnet. Ich gehe aber davon aus, daß ich die Produktionszeiten von Pressemitteilungen in etwa einschätzen kann. - Sie sollten das untereinander klären. Ich will das Thema nicht vertiefen. Es stehen hier zwei Aussagen gegeneinander. Wir lassen das auf sich beruhen.
Lieber Herr Kollege Nolting, ich habe den Zwischenruf vorhin aufgenommen. Ich wollte keine unnötige Schärfe in die Debatte bringen,
aber doch einen Eindruck, den ich von vornherein - -
Trotzdem muß ich Sie fragen, Herr Kollege Reichardt, ob Sie eine weitere Zwischenfrage beantworten, und zwar von der Kollegin Müller.
Bei acht Minuten Redezeit ist das leider nicht möglich. Das können wir nachher besprechen.
- Wird das nicht angerechnet?
Nein, nein.
Dann, bitte sehr.
Herr Kollege, ich wollte Ihnen nur eine ganz kurze Frage stellen: Sind Sie der Meinung, daß Sie demokratische Prozesse richtig verstanden haben, wenn Sie hier anmahnen, daß Debattenredner ihre Beiträge vorher mit Ihnen absprechen müssen?
Ich habe das nicht angemahnt.
Ich will noch einmal sagen: Was ich als möglicherweise scharfe Analyse zum Ausdruck gebracht habe, habe ich von vornherein als persönliche Meinung gekennzeichnet. Ich glaube, das sollte man sich gegenseitig zugestehen.
Ich möchte auf eine Petition aus dem Verteidigungsbereich konkret zu sprechen kommen, eine Petition, die meine Region betrifft.
Herr Kollege Reichardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?
Bitte sehr, liebe Kollegin.
Herr Kollege Reichardt, ich möchte Sie fragen, ob es unter Umständen möglich ist, daß von Ihrer Arbeitsgruppe Beschlußprotokolle des Obleutegesprächs nicht gelesen werden. Denn ich kann Ihnen versichern, daß ich mich außerordentlich bemühe, gerecht und unparteiisch den Ausschuß zu leiten und jedwede Information und jedwede Planung, auch das, was in anderen Ausschüssen normalerweise nicht den Obleuten vorgelegt wird, vorzulegen.
Ich habe selber öfter erlebt - sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? -, daß im Obleutegespräch Sachen abgefragt und mir Vorwürfe gemacht wur-
Christa Nickels
den, wodurch man feststellen konnte, daß Sie das Protokoll von zwei Wochen vorher nicht zur Kenntnis genommen oder vergessen haben.
Frau Kollegin - -
Vielleicht haben Sie in Ihrer eigenen Gruppe Mißverständnisse zu klären. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
Ich muß das anmahnen. Es gibt nun einmal Zwischenfragen und Kurzinterventionen. Diese Mischform mag ich nicht so gerne, weil sie die Sache schwierig macht.
Im ersten Teil war das eine Frage. Die Beantwortung, bitte.
Herr Präsident, vielen Dank für die Klarstellung.
Ich wollte keine unnötige Schärfe in die späte Debatte bringen. Ich will Ihnen sehr deutlich sagen, daß ich meine Unterlagen aufmerksam lese und daß Sie wegen meiner Anmerkungen nicht in einen Zwang zur öffentlichen Rechtfertigung kommen sollten. Vielmehr sollte man noch einmal überlegen, ob man das Vorgehen zum wechselseitigen Nutzen und Frommen im Einverständnis optimieren kann. Ich darf aber doch Eindrücke aus den Sitzungen wiedergeben, wie ich sie von meinen Kollegen aus den Reihen der CDU/CSU immer wieder erfahre. Das ist mein Anliegen.
Ich will einen konkreten Fall herausgreifen, da mir noch drei Minuten Redezeit verblieben sind. Zu einem fast bundesweit traktierten Petitionsfall titelte die „Rhein-Neckar-Zeitung" am 14. Januar 1995: „Superhirn scheitert an Einberufung" . Hier sollte der Eindruck erweckt werden, daß durch grundgesetzlich vorgegebenen Dienst in der Bundeswehr insbesondere für Hochbegabte das Scheitern bereits vorprogrammiert sei.
Meine Damen und Herren, ich bin diesem Fall nachgegangen und darf Sie trösten und beruhigen. Der Petent hat seinen Wehrdienst mittlerweile mit außergewöhnlichem Erfolg und hoch anerkannten dienstlichen Leistungen beendet. Heimatnahe Verwendung gab ihm die Möglichkeit, seine wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen. Das Forschungsprojekt, für das er unersetzlich schien, ging mit Erfolg weiter. In Bundeswehr und Wissenschaft hat der Petent einen hohen persönlichen Einsatz erbracht. Solchen Einsatz erwarten wir zu Recht von jedem, der eine gesellschaftliche Führungsposition einnimmt oder anstrebt.
Der Petent hat zwar während des erfolgreich und engagiert geleisteten Wehrdienstes versucht, diesen sogleich zu verweigern. Aber dies wurde abgelehnt, zumal er die Gründe für seine Verweigerung wohl selber nicht zu glauben vermochte und nicht glaubwürdig darstellen konnte.
Insgesamt sehe ich in diesem Fall ein Musterbeispiel dafür, wie einzelne Personen versuchen, durch Ziehen aller verfügbaren Register persönliche Vorteile zu ziehen, was man möglicherweise verstehen kann. Ich glaube aber, daß es uns für unsere Arbeit im Petitionsausschuß wichtig sein sollte, daß wir uns künftig noch etwas stärker von dem Verständnis für einfache Menschen lenken lassen, die weniger beredt und weniger kasuistisch ihre Überlegungen, Anliegen und Beschwernisse vorbringen, anstatt sogenannten Superhirnen eine Art Schutzprivileg zuzugestehen.
Ich sehe in der aufgezeigten Richtung - Rückgang der Zahl der Petitionen - im übrigen einen Beweis dafür, wie gut wir im Alltag mit der deutschen Einheit vorankommen. Diese Einheit können weder ein Herr Gysi noch ein Herr Stolpe, noch ein Herr Lafontaine ernsthaft zum Stoppen bringen.
Wie wir an den Petitonen sehen, gibt es eine zunehmende Akzeptanz für ein neues gemeinsames Rechtssystem in den neuen Bundesländern. Die Menschen verstehen das Recht wesentlich besser; man geht verstärkt aufeinander zu. Präzise diese Leistungen der Menschen in Deutschland und der Bundesregierung, des Bundeskanzlers, spiegeln sich in jeder Sitzung des Petitionsausschusses eindrucksvoll wider.
Insofern gilt zum Abschluß mein Dank allen Kolleginnen und Kollegen für die engagierte, wenn auch nicht immer spannungs- und reibungsfreie Arbeit; die Atmosphäre war aber stets freundschaftlich. Einen speziellen Dank möchte ich den Menschen in den neuen Bundesländern aussprechen, die sich in den Petitionen als Deutsche in Deutschland, im gemeinsamen Vaterland, einbringen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Amke Dietert-Scheuer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuß ist ein Seismograph für die Stimmung der Bevölkerung. Dieser zeigt im Jahresbericht 1995 heftige Erschütterungen. Die Stimmung bei den Bürgerinnen und Bürgern ist schlecht, weil die Politik der Bundesregierung schlecht ist.
Amke Dietert-Scheuer
Natürlich bin auch ich froh darüber, daß die Menschen in so großer Zahl unserem Ausschuß ihr Vertrauen schenken. Aber dies findet seine Ursache doch vor allem darin, daß sie große Probleme haben, nicht darin, daß sie so gerne mit dem Bundestag kommunizieren.
Ein Großteil der Eingaben befaßt sich nach wie vor mit Petenten, die sich im Netz von Verordnungen, Paragraphen und Gesetzen verfangen und dadurch individuelle Ungerechtigkeiten erfahren haben. Auffallend ist aber, daß es zunehmend nicht tragische Einzelfälle sind, sondern ganze Bevölkerungsgruppen, die Opfer einer systematisch falschen Politik sind.
Seit 1994 ist die Zahl der Petitionen aus dem Bereich des Arbeits- und Sozialministeriums um zwei Drittel gestiegen. Hier müßten bei der Bundesregierung alle Alarmglocken klingeln, wenn sie den Petitionsausschuß wirklich ernst nimmt.
Noch haben wir es mit einem sozialen Massenprotest zu tun, der sich friedlich und mit Vertrauen in die Problemlösungskompetenz des Bundestages äußert. Aber der Ton und die Sprache der Eingaben wird schärfer. Ich fürchte, daß angesichts dieser Zahlen nicht nur die Leistungsfähigkeit des Petitionsausschusses an seine Grenzen stößt, sondern auch die Geduld der Bürgerinnen und Bürger langsam, aber sicher überstrapaziert wird.
Ein Schwerpunkt waren die Pflegeversicherung und die Auswirkungen der Gesundheitsreform. Insbesondere Behinderte und Behindertenverbände wehren sich mit zahlreichen Eingaben gegen die ungerechten Auswirkungen der Pflegeversicherung und des Gesundheitsreformgesetzes.
Erfreulicherweise machte sich der Petitionsausschuß die berechtigte Forderung von Schwerstbehinderten zueigen, daß pflegebedürftige Personen auch nach dem Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes ihre Pflege nach dem sogenannten Arbeitgebermodell selbstbestimmt organisieren können.
Dieses Votum hat aber den Betroffenen bisher noch nicht geholfen. Ich zitiere aus dem Jahresbericht:
Trotz Hinweis auf die Eilbedürftigkeit und die Gefahr drohender Nachteile für die betroffenen Behinderten ist dem Ausschuß die Antwort der Bundesregierung über die Umsetzung der Forderung nach Fortführung des Arbeitgebermodells noch nicht zugegangen.
Auf Diskriminierungen in der Krankenversicherung haben uns 1995 Hunderte von Petitionen aufmerksam gemacht. Insbesondere Frauen sind von einer nicht hinnehmbaren Ungleichbehandlung freiwilliger Mitglieder gegenüber pflichtversicherten Rentnern betroffen. Die jetzige Regelung des Sozialgesetzbuches kettet die Möglichkeit von Ehefrauen zur Krankenversicherung unlösbar an den Status des Ehemannes. Die betroffenen Frauen erhalten zum großen Teil nur sogenannte Kleinrenten, da sie wegen der Kindererziehung oft auf eine durchgehende sozialversicherungspflichtige Tätigkeit verzichten mußten. Sie bleiben aber von der kostengünstigen Krankenversicherung der Rentner ausgeschlossen, wenn der Mann nicht pflichtversichertes, sondern freiwilliges Mitglied einer Krankenkasse ist. Der Petitionsausschuß hat dazu richtig bemerkt, daß die aktuelle Gesetzesregelung für die Versicherten nicht mehr nachvollziehbar ist. Aus dem Gesundheitsministerium aber bekommt der Petitionsausschuß die lapidare Antwort:
Die Gesundheitspolitiker der Koalition haben sich bei der Beratung für die dritte Stufe der Gesundheitsreform eingehend mit dieser Problematik befaßt. Sie haben eine Rechtsänderung jedoch nicht für erforderlich gehalten.
Auch 1995 kamen aus den ostdeutschen Bundesländern, wie schon mehrfach gesagt wurde, pro Kopf der Bevölkerung doppelt so viele Petitionen wie aus den alten Bundesländern. Wenn dies auch zu Anfang noch mit den Schwierigkeiten der Umstellungsprozesse zu erklären war, so stellt die fortdauernd hohe Anzahl der Politik der Bundesregierung in den neuen Bundesländern jedoch heute ein eindeutiges Armutszeugnis aus. Denn die in diesen Petitionen angesprochenen Probleme sind nicht neu, aber die Bundesregierung ist nicht in der Lage, sie zu lösen, im Gegenteil verschärft sie noch die Situation, wie beispielsweise durch die Streichung der AB-Maßnahmen, zu der wir auch zahlreiche Eingaben vorliegen haben.
Erfreulich ist, daß das Petitionsrecht 1995 zunehmend als aktive Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen begriffen wurde. Das schlug sich in Form von Massenpetitionen zu diversen Themenbereichen, wie zum Beispiel zum Bau des Eurofighters, nieder. Die diesbezüglichen Petitionen wurden von der Mehrheit des Auschusses abgewiesen.
Bemerkenswert ist auch die große Zahl von Unterschriftenaktionen, in denen sich Bürger und Bürgerinnen für Flüchtlinge einsetzen. Im Gegensatz zu dem großen Engagement in anderen Einzelfällen besteht in Asylfällen bei der Mehrheit des Ausschusses keinerlei Bereitschaft, sich auf die Probleme einzulassen. Es ist schon frappierend, mit welcher Gleichgültigkeit Fälle akuter Lebensbedrohung mit dem Argument weggewischt werden, es sei alles rechtmäßig gelaufen. Von Herrn Reichardt haben wir ja gerade wieder eine Kostprobe erhalten. Es liegt das Mißverständnis vor, daß es uns bei der Behandlung dieser Fälle um eine Rechtsänderung gehe. Die wollen wir zwar politisch, aber im Petitionsverfahren geht es darum, Einzelverfahren daraufhin zu prüfen, ob sie fair abgelaufen sind. Genau da liegt es sehr oft im argen.
Achten Sie bitte auf die Uhr.
Der Petitionsausschuß kann nicht die Flickschusterei für die mißratene Politik der Bundesregierung sein. Als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger müssen wir hartnäckig Veränderungen einfordern.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Hildegard Wester, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zahlreichen Menschen, die sich im Bereich des Familien- und Sozialrechts an den Petitionsausschuß wenden, haben in der Regel eines gemeinsam: Sie verstehen nicht, wieso es für ihr spezielles Problem keine Lösung gibt, weil ihr Fall nicht geregelt ist, es eine Stichtags- oder Übergangsregelung gibt oder bestimmte Fallkonstellationen vom Gesetzgeber entweder aus Kostengründen oder aus sachlichen oder politischen Gründen nicht geregelt worden sind. Oder es werden ebenfalls aus diesen Gründen zum Beispiel Einkommensgrenzen nicht erhöht, und die Leistung wird damit abgewertet. Die betroffenen Menschen verstehen oft die Welt nicht mehr, weil sie sich zutiefst ungerecht behandelt fühlen. In vielen Fällen muß man den Petenten tatsächlich auch recht geben.
Ich möchte einige dieser Beispiele aus dem Bereich der Familien- und Sozialpolitik herausgreifen, wo meiner Meinung nach dringender Handlungsbedarf besteht.
Da ist zum Beispiel das Ehepaar, das sich nach der Geburt des Kindes und nach dem Mutterschutz die Erziehungsaufgabe teilen möchte. Beide reduzieren ihre Arbeitszeit auf 24 Wochenstunden. Das Bundeserziehungsgeldgesetz sieht aber vor, daß der oder die Berechtigte nicht mehr als 19 Stunden pro Woche arbeiten darf.
Das Ministerium stellt sich auf den Standpunkt, das Erziehungsgeld sei eine finanzielle Anerkennung desjenigen oder derjenigen, der die Erziehungsarbeit übernimmt. Dabei läßt es aber völlig außer acht, daß es ja in der Regel noch einen zweiten Erziehungsberechtigten gibt, dessen Zuwendung zum Kind ebenfalls von größter Bedeutung ist. Diese Person kann aber - jedenfalls vom zeitlichen Rahmen her - uneingeschränkt erwerbstätig sein.
Das heißt: Wenn eine Erwerbstätigkeit von 38,5 Stunden pro Woche vorliegt und in der Regel die Ehefrau die erlaubten 19,5 Stunden berufstätig ist, sind beide zusammen 57,5 Stunden aus dem Haus. In diesem Fall wird - so die Einkommensgrenzen nicht überschritten werden - Erziehungsgeld gezahlt. Arbeiten aber beide zusammen nur 48 Stunden, erhalten sie keine Leistung. Die Frage, welche Konstellation für das Kind und für die Familie insgesamt günstiger ist, beantwortet sich im Grunde genommen von selbst.
Die Frage allerdings, warum die Bundesregierung sich sperrt, hier eine Änderung herbeizuführen, beantwortet sich nicht von selbst. Hier kann man nur vermuten, daß es darum gehen soll, ein bestimmtes Familien- und Rollenbild zu verfestigen.
Immerhin hat Frau Staatssekretärin Dempwolf am 20. September 1995 vor dem Petitionsausschuß bei ihrer Anhörung versprochen, binnen Jahresfrist einen Bericht vorzulegen. In diesem Bericht sollten Lösungsansätze aus Sicht des Ministeriums dargestellt werden. Das Jahr ist vorbei. Frau Dempwolf, ich nutze diese Gelegenheit, Sie an diesen Bericht zu erinnern.
Es wäre sehr schön, wenn wir darüber demnächst diskutieren könnten.
- Wunderbar.
Zum Erziehungsgeld liegen insgesamt 54 Petitionen im Berichtszeitraum vor. Eine Reihe Petitionen, die die Frage der Berechnungsgrundlage für die Leistung betrafen, konnte positiv beschieden werden.
Eine nach wie vor offene Frage und auch Gegenstand von mehreren Petitionen ist die Forderung nach Heraufsetzung der Einkommensgrenzen für die Gewährung von Erziehungsgeld. Es ist an dieser Stelle schon so oft eingefordert worden, daß ich es fast nicht mehr wiederholen mag. Aber steter Tropfen soll den Stein höhlen. Seit 1986 sind die Grenzen nicht erhöht worden. Das hat dazu geführt, daß im Jahr 1996 nur noch zirka 50 Prozent aller Eltern ungekürztes Erziehungsgeld erhalten haben, und diese Zahl sinkt. Das hatte im letzten Haushaltsjahr eine Einsparung von rund 1 Milliarde DM zur Folge, im nächsten Jahr werden es weitere 400 Millionen DM sein. Dieses Geld wird den Familien schlicht und ergreifend weggenommen. Nachdem Ministerin Nolte seit März 1995 verschiedentlich angekündigt hat, die Gesetzesänderung voranzubringen, hat sie nun vor dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 24. September die Beibehaltung begründet und verteidigt. Dieses Verhalten spricht für sich.
Zum Bereich Kindergeld erhielt der Petitionsausschuß 124 Eingaben. Ein großer Teil, der die Höhe und Einheitlichkeit betraf, konnte durch den Kompromiß im Jahressteuergesetz 1996 positiv erledigt werden.
Eine Härte, die bei den Betroffenen auf Unverständnis stößt, wurde vom Ausschuß als regelungswürdig erkannt und der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen. Es geht hier um die Flüchtlinge, die bei uns aus dringenden humanitären Gründen
Hildegard Wester
oder als Altfälle Aufenthalt gefunden haben. Da sie lediglich über eine Aufenthaltsbefugnis verfügen, steht ihnen weder Kinder- noch Erziehungsgeld zu. Diese Leute sind aber oft gedrängt worden, ihre Asylanträge zurückzuziehen, da sie über die Altfall- oder die Regelungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention eine Aufenthaltsbefugnis bei uns erhalten konnten. Als anerkannte Asylbewerber hätten sie jedoch Anspruch auf beide Leistungen gehabt, da sie dann im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gewesen wären. Dies ist ein Vertrauensbruch, den die Bundesregierung heilen muß.
Völlig chaotisch stellt sich für viele Betroffene die Situation bei der Krankenversicherung der Rentner dar. 1989 wurden mit dem Gesundheits-Reformgesetz die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der günstigen Krankenversicherung der Rentner geändert. Es sollte nur noch Pflichtmitglied werden können, wer, grob gesagt, die zweite Hälfte seines Erwerbslebens Mitglied in einer gesetzlichen Krankenversicherung war, also unabhängig davon, ob freiwillig oder wegen Überschreitens der Bemessungsgrenze oder als Pflichtmitglied.
Es gab aber auch eine Übergangsregelung bis zum 31. Dezember 1993, nach der auch Pflichtmitglied werden konnte, wer wenigstens die Hälfte seines Berufslebens pflichtversichert war. Zum 1. Januar 1993 trat jedoch das Gesundheitsstrukturgesetz in Kraft, in dem auch die Übergangsregelung wieder geändert wurde. Künftig sollten die erforderlichen Vorversicherungszeiten nur noch durch Pflichtversicherungszeiten erworben werden können. Eine Petentin, die nach 37 Jahren freiwilliger Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung im Vertrauen auf die Übergangsregelung von 1989 in eine private Krankenversicherung gewechselt hatte, sah nun, als sie im Oktober 1993 als Rentnerin in die GKV zurückkehren wollte, daß ihr die Mitgliedschaft verweigert wurde, und zwar sowohl als Pflicht- wie auch als freiwilliges Mitglied. Das Vertrauen der Petentin in die gesetzlichen Regelungen wurde enttäuscht.
Besonders tragisch wirkt sich die Nichtaufnahme als Pflichtversicherte in die GKV für Hinterbliebene aus. Auch diese haben, selbst bei einer niedrigen Rente als ehemals Familienmitversicherte, keinen Anspruch auf eine Pflichtmitgliedschaft. Das bedeutet, daß selbst bei einer Rente um 1 000 DM ein Mindestbeitrag von 155 DM pro Monat gezahlt werden muß. Der Ausschuß war sich hinsichtlich des Regelungsbedarfs einig. Die Antwort der Bundesregierung steht aus. Allerdings sind Sozialgerichtsverfahren anhängig, und diese Fälle liegen auch dem Bundesverfassungsgericht vor. Das muß man hinzufügen.
- Weil es von uns als Gesetzgeber nicht geregelt worden ist.
Ebenfalls steht noch eine Regelung für eine weitere Ungereimtheit aus. Ehefrauen von freiwillig oder privat versicherten Personen, also auch Beamten, die wegen der Erziehung der Kinder auf eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit verzichtet haben, haben nach Scheidung keinen Zugang zur GKV. Der Ausschuß war sich einig, daß Kindererziehung eine gesellschaftlich gewünschte Tätigkeit sei und dadurch nicht der Zugang zur GKV versperrt werden dürfe. Die Bundesregierung lehnt eine Regelung mit dem Hinweis auf die Funktionsfähigkeit der Solidargemeinschaft ab; letzten Endes sind es also Kostengründe.
Frau Kollegin, bitte achten Sie auf die Uhrzeit.
Ich werde mich bemühen.
Sie müssen sich bemühen.
Und dies, obwohl es etwa im Rentenrecht durchaus eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten gibt. Es ist also dringend erforderlich, die verschiedenen Sozialsysteme aufeinander abzustimmen.
Ich möchte abschließend noch einem Wunsch Ausdruck verleihen: In vielen Punkten sind wir uns über die Parteigrenzen hinweg einig, gerade was den zuletzt genannten Punkt, die Kindererziehungszeiten, betrifft. Ich würde mir sehr wünschen, daß sich dieses einmütige Votum des Petitionsausschusses auch bei den einzelnen Kollegen der Fraktionen im Rahmen der Beratungen der Fachausschüsse wiederfindet.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die Vorsitzende des Petitionsausschusses des Bundestages, Frau Nickels, gesagt hat, daß der Petitionsausschuß in Bayern öffentlich tage und daß das gut sei, muß ich sagen, daß der Fortschritt bayerisch spricht.
Ich kenne die Problematik von öffentlichen und
nichtöffentlichen Sitzungen, werte Kollegin, auch
aus 20jähriger Tätigkeit in der Kommunalpolitik. Ich
Matthäus Strebl
weiß sehr wohl, daß in öffentlichen Sitzungen auf Grund der Anwesenheit der Presse manches zerredet wird. Ich glaube, ich spreche auch im Namen meiner Fraktion, wenn ich sage, daß Petitionen weiterhin in nichtöffentlicher Sitzung behandelt werden sollten.
Der größte Teil der Petitionen mit rund 5 700 Eingaben fällt in den Bereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Gegenüber dem Jahr 1994 ist dies eine Steigerung von rund 41 Prozent. Während die Eingaben zum Bereich der Arbeitsverwaltung im Vergleich zum Vorjahr zurückgingen, stiegen sie im Bereich Sozialordnung sprunghaft, nämlich um rund 65 Prozent, an.
Ein Großteil der Petitionen betraf - wie bereits in den Vorjahren - den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung.
Ein dringendes Anliegen, vor allen Dingen vieler Petenten aus meiner bayerischen Heimat, war die Beitragspflicht der Ehegatten von Nebenerwerbslandwirten zur Alterssicherung der Landwirte. So wandten sich allein aus Bayern über 60 Ehegatten von Nebenerwerbslandwirten an den Ausschuß. Für sie war der Beitrag von damals 291 DM pro Monat zur Alterssicherung angesichts der schwierigen Lage in der Landwirtschaft zu hoch.
Alle Parteien hatten das Agrarsozialreformgesetz 1995 unterstützt, weil dadurch die Bäuerinnen eine eigenständige Sicherung erhalten sollten; denn dies war trotz erheblicher Mitarbeit im Familienbetrieb bis dahin nicht der Fall. Bei einigen Nebenerwerbslandwirten und ihren Ehegatten führte dies aber zu nicht vertretbaren Härten. Deshalb empfahl der Ausschuß, die Petition an das BMA mit der Frage zu überweisen, ob es nicht Abhilfe schaffen könne.
Gleichzeitig aber war Eile geboten. Das Gesetz erlaubte den Ehegatten nur bis zum 31. Dezember 1995, eine Lebensversicherung als andere Möglichkeit der Alterssicherung abzuschließen. Die Petition wurde auch den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis gegeben. Daraufhin beschloß dieser am 23. November 1995 das Gesetz zur Reform der agrarsozialen Sicherung. So haben diese Bäuerinnen jetzt unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen.
Im Bereich der Arbeitsverwaltung betraf die überwiegende Zahl der Eingaben die Berechnung von Lohnersatzleistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz und des Kindergeldes, aber auch Beschwerden über die Art und Weise der Bearbeitung durch die Arbeitsämter.
Ein Beispiel: Einen Fall hat der Petitionsausschuß zum Anlaß genommen, § 135 Abs. 1 Nr. 2 des AFG zu ergänzen. Es hatte sich nämlich ein Petent beschwert, daß der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe erlischt, wenn ein Jahr nach dem Bezug des Arbeitslosengeldes vergangen ist. Der Petent war zeit seines Lebens sehr sparsam gewesen und hatte sich für den Notfall Rücklagen geschaffen. Als er arbeitslos wurde, bezog er zunächst Arbeitslosengeld. Die im Anschluß daran beantragte Arbeitslosenhilfe wurde ihm auf Grund seines Vermögens aber nicht gewährt. Weil er von diesem Vermögen länger als ein Jahr seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, verfiel sein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.
Im Ausschuß waren wir uns aber einig darüber: Niemand soll benachteiligt werden, weil er sparsam ist und seinen Lebensunterhalt auch in Notfällen erst einmal selbst bestreiten kann. Auf Empfehlung des Petitionsausschusses legte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor. Der Deutsche Bundestag beschloß am 9. Februar 1996 eine Ergänzung des entsprechenden Paragraphen des AFG. Damit wird der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe von einem Jahr auf höchstens zwei Jahre verlängert.
Im Geschäftsbereich des BMG stiegen die Eingaben gegenüber 1994 beträchtlich. Sie betrafen im überwiegenden Teil Fragen der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung oder Forderungen nach Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. In einem Fall wurde die Rechtsunsicherheit in Art. 56 der Überleitungsvorschriften des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1993 sichtbar, der nicht unbedingt dem Gedanken des Gesundheits-Reformgesetzes von 1989 entsprach.
So gab es eine Petentin, die 37 Jahre überwiegend freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert war. Im Jahre 1989 wechselte sie in die private Krankenversicherung über, im guten Glauben, als Rentnerin wieder Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung werden zu können. - Dies sah das Gesundheits-Reformgesetz von 1989 vor. - Der Petentin wurde dies verweigert, weil nach dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1993 eine erneute Mitgliedschaft in der GKV nicht möglich sei.
Nach ausführlicher Diskussion im Petitionsausschuß gelangten wir diesbezüglich zu der Auffassung, daß dies eigentlich nicht die Absicht des Gesetzgebers war. Derjenige, der seit dem 1. Januar 1993 nicht mehr Pflichtmitglied in der Krankenversicherung der Rentner werden kann, sollte von einer freiwilligen Mitgliedschaft in der GKV nicht ausgeschlossen werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Falle kam es nur deshalb noch nicht zu einer Gesetzesänderung, weil dem Bundessozialgericht mehrere solcher Fälle zur Entscheidung vorliegen. Sicher ist aber: Wenn eine Entscheidung des BSG keine Abhilfe für die Betroffenen bringt, will das BMG eine klarstellende Gesetzesänderung vorschlagen.
Ich denke, ich darf zum Abschluß sagen, daß der Petitionsausschuß im Jahr 1995 eine gute Arbeit geleistet hat, und möchte auch von dieser Stelle den vielen unermüdlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschusses den Dank des Hauses sagen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christel Deichmann, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit einem Jahr bin ich nun Mitglied im Petitionsausschuß. Ich muß schon sagen: Es ist oft sehr erschütternd, was da an Einzelschicksalen vorgetragen wird.
Erfreulich ist es, wenn den Anliegen der Bürger und Bürgerinnen durch die beharrlichen Bemühungen im Ausschuß zum Erfolg verholfen werden kann. Leider gibt es aber auch die vielen anderen Fälle, in denen den Petenten nicht geholfen wurde. Oftmals ist es schon erschreckend, wenn man feststellen muß, welche erfolglosen Mühen und Anstrengungen die Petenten bereits hinter sich gebracht haben, bevor sie sich an den Ausschuß wenden.
Beispielsweise wartete ein Petent fünf Jahre auf den endgültigen Bescheid bezüglich seiner Sozialversicherungsangelegenheiten durch das Bundesversicherungsamt Berlin. Das ist kein Einzelfall. Vor der Wende hätte ich gesagt: Na ja, das ist der sozialistische Gang. Jetzt bleibt nur festzustellen: Der marktwirtschaftliche Bürokratismus ist oft ebenfalls ein Irrgarten für den einfachen, in bürokratischen Mechanismen ungeübten Bürger. Die in den Behörden und Institutionen teilweise anzutreffende Überbürokratisierung und Unbeweglichkeit baut Hürden auf, die Otto Normalverbraucher kaum zu überwinden vermag. Hier sind Engagement und Flexibilität gefragt. Das kostet auch kein Geld. Dieses Problem zieht sich wie ein roter Faden durch viele Petitionen.
1995, im Jahr fünf der deutschen Einheit, stiegen die Eingaben aus den neuen Bundesländern im Vergleich zum Vorjahreszeitraum überproportional an; die Vorredner haben das bereits ausgeführt. Diese Entwicklung kann zweierlei bedeuten: Zum einen nutzen sicherlich immer mehr Bürger und Bürgerinnen aus dem Osten die Möglichkeit, ihren Anliegen innerhalb des parlamentarischen Systems Gehör zu verschaffen.
Zum anderen möchte ich einen Zusammenhang in Erinnerung rufen, den der Kollege Dehnel in der Debatte zu diesem Punkt letztes Jahr geäußert hat: Er sagte, der damals zu verzeichnende Rückgang der Zahl der Petitionen aus Ostdeutschland deute darauf hin, daß es eine weitere Normalisierung der Verhältnisse in den neuen Bundesländern gegeben habe und daß die Kritik am Einigungsprozeß, besonders im sozialen Bereich, zurückgegangen sei.
Wenn man diese Argumentation nun auf den Bericht 1995 überträgt, muß man folgern, daß die Kritik offensichtlich wieder stärker und die Probleme größer geworden sind. Verwunderlich ist das nicht in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation in den neuen Bundesländern, das heißt: des negativen Wirtschaftswachstums. Die miserable Situation wurde ja gestern schon während der Debatte zu diesem Thema von meinem Kollegen Rolf Schwanitz dargestellt. Daß dann der Petitionsausschuß oftmals die letzte Möglichkeit für die bedrängten Menschen ist, um sich Gehör zu verschaffen, ist nur allzu verständlich.
Zum Thema Tiefflug - das wurde bereits angesprochen - kamen 1995 zahlreiche Sammelpetitionen bei uns an, mit rund 47 000 Unterschriften. Wenn dies im Bericht unter Punkt 2.12 mit folgender Bemerkung kommentiert wird: „Die Ursachen für die deutliche Zunahme der Beschwerden über militärische Tiefflüge sind schwer feststellbar", so ist diese Kommentierung nicht zu verstehen.
Die Petenten haben ihre Anliegen ausführlich erläutert, und wir haben hierzu im März 1996 im Plenum eine umfangreiche Debatte geführt. Im März 1996 waren es übrigens dann schon 80 000 Unterschriften, an denen Bürgermeister, Landräte, Regierungspräsidenten usw. beteiligt waren. Zu sagen, die Ursachen seien schwer feststellbar, ist einfach am Thema vorbei.
Ich weise nur darauf hin - das habe ich auch damals gesagt -, daß allein die laufenden Kosten für eine Tiefflugstunde mit rund 22 000 DM beziffert werden. Das ergibt bei rund 14 000 Tiefflugstunden pro Jahr eine Summe von 268 Millionen DM. Die Kosten für einen Simulator werden mit 700 Millionen DM angegeben. Ein solches Gerät hätte sich also innerhalb von weniger als drei Jahren amortisiert.
Wir haben über die veränderte politische Lage gesprochen; das Thema ist längst nicht vom Tisch. Ich hoffe, daß es in diesem Bereich weiter Bewegung gibt.
Wie erwähnt, war auch das Thema Renten häufig Gegenstand der Beschwerden. Im Mittelpunkt stand das Renten-Überleitungsgesetz, zu dem es außergewöhnlich viele Petitionen gab. Viele Beschwerden gab es auch über die Arbeitsweise der Rentenversicherungsträger, zur Rentenberechnung usw. Die Sozialversicherungsträger würden sich und sicherlich auch dem Petitionsausschuß eine Menge Arbeit ersparen, wenn sie in ihren Stellungnahmen und Bescheiden eine größere Bürgernähe zeigen würden, damit der Rentenempfänger den Bescheid versteht.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch die unzureichende Wiedergutmachungsregelung ansprechen. Diejenigen, die aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder stammen und in die Sowjetunion verschleppt wurden, dort unter unvorstellbaren Bedingungen Arbeitsdienst leisten mußten, also ein schweres Schicksal erlitten haben, erhalten bis heute keine Entschädigung. Sie fallen nämlich nicht unter das 1. Unrechtsbereinigungsgesetz. Dieses Problem darf sich nicht biologisch lösen; möglichst bald muß hier eine gesetzliche Regelung geschaffen werden.
Es ist beschämend, wenn unsere Gesellschaft - in
einem solidarischen Akt - diesen Menschen nicht zumindest ein Zeichen geben kann; von Wiedergutma-
Christel Deichmann
chung kann keine Rede sein. In dieses Problemfeld gehört auch, daß der Zwangsarbeitsdienst nicht auf die Rente angerechnet wird.
Viele Petitionen kamen auch zur verfehlten Politik der Treuhand bzw. deren Nachfolgeinstitutionen. Zur Erinnerung: Zwei Drittel der ostdeutschen Industrie sind während der Tätigkeit der Treuhandanstalt in Berlin von der Bildfläche verschwunden. Das im Petitionsbericht vermittelte Bild durch Darstellung ausschließlich positiv beschiedener Eingaben entspricht nicht im entferntesten der tatsächlichen Situation.
Betrachten wir einzelne Unternehmen, wird das Problem besonders deutlich. Ich möchte ein Beispiel nennen: In Schwerin wurde 1991 das Plast-Maschinenwerk an die Firma Hemscheid aus Wuppertal zu einem Freundschaftspreis verhökert. Immer wieder hieß es, die Firma sollte geschlossen werden. Als dann die Fristen, die im Zusammenhang mit Krediten und Landesbürgschaften gewährt wurden, verstrichen waren, wurde im Juli 1996 das Konkursverfahren eröffnet. Das Haus Hemscheid wird deswegen wohl nicht untergehen, aber viele kleine Firmen, die 1991 ebenfalls aus dem ursprünglichen Plast-Maschinenwerk heraus gegründet wurden, trudeln jetzt im Sog dieses Konkursverfahrens. Was das für die betroffenen Menschen bedeutet, weiß ich; denn sie sind meine Nachbarn.
Ersatzarbeitsplätze sind nicht in Sicht, in Sicht ist aber eine Reduzierung der Arbeitsförderungsmaßnahmen, der die Koalitionsabgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern sicherlich zustimmen werden. Genauso werden die ostdeutschen Koalitionsabgeordneten die Sorgen ignorieren, die 1995 in weiteren Sammelpetitionen als Protest gegen die Lohn- und Gehaltsabsenkungen für ABM-Mitarbeiter zum Ausdruck kommen.
Ihre Zeit, Frau Kollegin!
Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Privatisierungspolitik für die neuen Bundesländer sind erschreckend.
Anzusprechen wären noch die Altschuldenproblematik, die Situation in der Landwirtschaft usw. Es ist zu befürchten, daß sich der Petitionausschuß auch weiterhin mit vielen Ungereimtheiten als Folge des deutschen Einigungsprozesses zu befassen haben wird.
Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 17 und rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. UweJens Rössel, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Reform der Kommunalfinanzierung"
- Drucksachen 13/984, 13/5749 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ludwig Eich Reiner Krziskewitz
Interfraktionell ist für die Aussprache eine halbe Stunde vereinbart worden, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor gut eineinhalb Jahren, am 29. März 1995, hatte die PDS-Gruppe angesichts der anhaltenden Strukturkrise der Kommunalfinanzen in Deutschland einen Antrag auf Einrichtung einer Enquete-Kommission „Reform der Kommunalfinanzierung" in den Bundestag eingebracht, über den heute abgestimmt werden muß.
Die Kommission soll die Aufgabe haben, erstens das derzeitige System der Finanzierung der Haushalte der Städte, Gemeinden und Landkreise in der Bundesrepublik umfassend auf den Prüfstand zu stellen und zweitens wissenschaftlich fundierte Vorschläge für eine solche Reform der Kommunalfinanzierung vorzulegen, durch die tatsächlich kommunale Selbstverwaltung und die Finanzautonomie der Gemeinden gewährleistet werden können.
Die Kommission sollte sich aus Abgeordneten der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen und Gruppe sowie aus Sachverständigen zusammensetzen. Darüber hinaus sollte der Bundesrat ersucht werden, Vertreterinnen bzw. Vertreter in die Kommission zu entsenden. Die Mitwirkung der kommunalen Spitzenverbände an der Tätigkeit der Kommission soll ebenfalls in geeigneter Weise sichergestellt werden.
CDU/CSU und F.D.P. lehnen die Einsetzung der benannten Kommission ab; das wird auch in der Beschlußempfehlung deutlich. Das verwundert kaum: Die Koalition ist unseres Erachtens nicht willens, die offensichtlich en Konstruktionsmängel im bundesdeutschen Gemeindefinanzierungssystem zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn grundsätzlich etwas daran zu ändern.
Wie die gestrige Anhörung im Finanzausschuß mit den kommunalen Spitzenverbänden erneut bestätigte, gehen die Absichten der Koalition ausschließlich dahin, die vollständige Liquidation der Gewerbekapitalsteuer zu betreiben, ohne allerdings die seit Monaten dazu von den kommunalen Spitzenverbänden formulierten Voraussetzungen gebührend zu berücksichtigen.
Dr. Uwe-Jens Rössel
Nach wie vor sind CDU/CSU sowie F.D.P. - ich meine Herrn Thiele - nicht bereit, sich endgültig und öffentlich von ihrem in der Koalitionsvereinbarung von 1994 festgelegten Ziel der vollständigen Abschaffung der Gewerbesteuer - das wäre im übrigen das K. o. für die Kommunalfinanzen - zu verabschieden. Deshalb greift die Koalition nur halbherzig und unvollständig die grundlegende Forderung der kommunalen Spitzenverbände auf, den Bestand der Gewerbeertragsteuer im Grundgesetz umfassend zu garantieren.
Die SPD-Fraktion wiederum lehnt die Einrichtung einer Enquete-Kommission zur Kommunalfinanzierung ebenfalls ab. Das ist sehr paradox, Herr Schmidt. Brachte doch das SPD-regierte Saarland
erst vor wenigen Tagen, am 27. September 1996, an einem Freitag, einen Antrag mit absolut gleicher Zielsetzung in den Bundesrat ein, anderthalb Jahre nach unserem Antrag. Auf Grund der dortigen Mehrheiten sind die Chancen für seine Annahme groß.
Weshalb also der Korb für unseren Antrag? Aus fachlichen Gründen, Herr Schmidt? - Wohl kaum. Aus parteipolitischen Gründen? - Das wird nicht zugegeben. Also müssen schnell Vorwände her. Einer ist, daß der Antrag des Saarlandes angeblich die Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände nicht - ich betone: nicht - vorsehe, während wir ausdrücklich auf deren Mitarbeit nicht verzichten wollen. Viel zu oft schon bleiben die Kommunen bei sie betreffenden Fragen außen vor oder können nur am Katzentisch von Bund und Ländern teilnehmen. Das ist ein unhaltbarer Zustand!
Der zweite Vorwand der SPD-Fraktion gegen unseren Antrag ist der Begriff „Enquete", der Sie störe, Herr Schmidt. Gebraucht werde, so heißt es in Ihrem Antrag, eine „Untersuchungskommission". Aber was sagt der alte und auch der neue Duden zu „Enquete"? Ich zitiere: „amtliche Untersuchung", so heißt es dort, auf österreichisch auch: „Arbeitstagung". Mangelt es der SPD also nur am Verständnis für fremde Wörter, die parlamentarisch durchaus üblich sind?
Oder sind die eigenen Anträge etwa heiliger als die Finanznot der Kommunen?
Ich meine, heute besteht, liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der SPD, aber auch von Bündnis 90/Die Grünen, die einmalige Chance, eine solche Kommission zu installieren, von der vor wenigen Tagen Ihr Parteivorsitzender, Herr Lafontaine, gesagt hat, daß sie der Schlüssel für die umfassende Verbesserung der Kommunalfinanzen in der Bundesrepublik sei.
Recht hat der Mann. Stimmen Sie für unseren Antrag! Lehnen Sie die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses ab!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. setzt sich für eine angestrebte Gemeindefinanzreform noch in diesem Jahr ein. Wenn es nach uns geht, dann soll die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft und die Gewerbeertragsteuer mittelstandsfreundlich gesenkt werden; denn die F.D.P. will mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Um mehr Arbeitsplätze zu bekommen, brauchen wir mehr Investitionen. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland verbessert werden. Die Gewerbekapitalsteuer stellt ein Investitionshindernis erster Güte dar, da sie in anderen Mitbewerberländern um Investitionen nicht erhoben wird. Sie belastet jeden einzelnen Arbeitsplatz in Deutschland mit einer Sondersteuer, die unabhängig vom Ertrag, ja sogar auf die Schulden des Unternehmens berechnet und erhoben wird.
Erst gestern hatten wir im Finanzausschuß eine Erörterung mit den kommunalen Spitzenverbänden. Das heißt, das, was die PDS fordert, nämlich das Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden, fand längst statt, und das war nur der Teil, der im Finanzausschuß stattfindet. - Auch früher fanden schon zahlreiche Gespräche statt, und sie werden auch in Zukunft stattfinden. - Dort wurde seitens der kommunalen Spitzenverbände übereinstimmend erklärt, daß sie endlich eine originäre Beteiligung an der Umsatzsteuer fordern. Dahinter steht natürlich auch, daß das Aufkommen aus der Gewerbesteuer in den letzten 20 Jahren um 120 Prozent, das Aufkommen aus der Umsatzsteuer aber um 320 Prozent gestiegen ist. Eine alte Lebensweisheit heißt: Geld macht sinnlich.
- Ja, das ist so. - Auch die kommunalen Spitzenverbände haben dies inzwischen erkannt. Es wurde gestern ganz unumwunden im Finanzausschuß erklärt, daß das einer der zentralen Punkte sei, warum sie auf diesem Anliegen beharren.
Unsere Kommunen haben nämlich ein Recht darauf, an einer stetig fließenden, dynamisch wachsenden Steuer beteiligt zu werden.
Carl-Ludwig Thiele
Deshalb kann ich nur an alle appellieren, unserem Antrag zuzustimmen und die Linie zu verfolgen, die wir haben.
Daß der PDS-Antrag ein reiner Schaufensterantrag ist - das sehen Sie mir persönlich bitte nach, Herr Rössel -, wird auch dadurch deutlich, daß in diesem Antrag auf Seite 2 auch jetzt bei der Verabschiedung im Deutschen Bundestag noch gefordert wird, daß ein erster Zwischenbericht von der Kommission im Herbst 1996 vorgelegt werden soll, was - wie uns allen klar ist - überhaupt nicht gehen kann.
- Nein. Aber, Frau Dr. Höll, wer einen Antrag, der zugegebenermaßen am 22. März 1995 seitens der PDS eingebracht wurde, nicht einmal vor einer Abstimmung im Deutschen Bundestag so überarbeitet, daß dieser dem Zeitablauf gerecht wird, zeigt doch deutlich, daß er seinen eigenen Antrag überhaupt nicht ernst nimmt.
Die PDS will hier nur den Eindruck einer Tätigkeit erwecken, der nicht durch tatsächliche Tätigkeit gedeckt ist. Sie hätten das ändern können.
Die F.D.P. will nicht, daß sich die Investitionsbedingungen in den neuen Bundesländern im nächsten Jahr dadurch verschlechtern, daß dort eine neue Steuer auf Arbeitsplätze erhoben werden muß. Deshalb appelliere ich auch an dieser Stelle an die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer, diesen Vorstoß der Koalition zu unterstützen.
Herr Ministerpräsident Stolpe und Herr Ministerpräsident Höppner sollen doch einmal öffentlich erklären, ob sie tatsächlich die Gewerbekapitalsteuer als Zusatzsteuer auf jeden Arbeitsplatz in den neuen Bundesländern einführen wollen. Dies wäre nämlich total absurd und gegen Arbeitsplätze, gegen Investitionen und auch gegen die neuen Bundesländer gerichtet. Deshalb hoffe ich darauf, daß die Ministerpräsidenten - die nicht von der SPD-Baracke in Bonn gewählt wurden und ihr auch nicht verantwortlich sind, sondern in ihrem Selbstverständnis, das an anderer Stelle häufig betont wird, den Wählern in ihren eigenen Bundesländern verantwortlich sein sollten -
die Blockadepolitik der SPD aufbrechen und in ernsthafte Verhandlungen mit der Koalition eintreten.
Eine neue Sonthofen-Strategie - diesmal nicht der CSU, sondern der SPD - der verbrannten Erde nutzt der SPD überhaupt nichts und ist vor allem nicht geeignet, die Standortprobleme unseres Landes zu lösen.
Wir alle müssen uns dafür einsetzen, die Rahmenbedingungen in unserem Lande angesichts der veränderten weltwirtschaftlichen Situation zu verändern. Helfen Sie konstruktiv mit, und verweigern Sie nicht Ihre Gesprächsbereitschaft, was sich am Montag nächster Woche zeigen wird.
Die F.D.P. lehnt den PDS-Antrag ab. Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch wir werden den Antrag der PDS ablehnen
- was heißt hier „Aha"? -, weil auch wir die Auffassung vertreten, daß wir noch in diesem Jahr die Möglichkeit bekommen sollten, zu einer besseren Finanzausstattung der Kommunen gemeinsam eine Lösung zu finden.
Ich möchte gerne, daß wir das Vorhaben Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und Verbreiterung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbeertragsteuer durchziehen. Ich möchte auch, daß die Kommunen, verbindlich im Grundgesetz abgesichert, die Beteiligung an der Umsatzsteuer bekommen; denn die Umsatzsteuer ist eine Steuer, die ein steigendes Volumen haben wird, und dies wird den Kommunen in unserem Land sehr viel nutzen.
Ich möchte nicht, daß wir die gesamte Diskussion in eine Enquete-Kommission verlagern, wo wir genau wissen, daß die Diskussionen, die in EnqueteKommissionen geführt werden, zwar innerhalb der Kommission sehr fruchtbar sein können, aber nicht notwendigerweise zu politischen Entscheidungen führen.
Dies ist genau der Punkt: Wir brauchen eine politische Entscheidung. Ich hoffe, daß die Koalition und vor allem das Bundesfinanzministerium in der Lage sind, möglichst bald - noch in diesem Oktober, hoffe ich - eine Vorlage zu bringen, über die wir dann gemeinsam entscheiden können.
Vielen Dank.
Die Kollegen Reiner Krziskewitz und Ludwig Eich, ersterer von
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
der CDU/CSU, letzterer von der SPD, geben ihre Reden zu Protokoll *). Ich gehe davon aus, daß das Plenum damit einverstanden ist. - Das ist der Fall.
Dann schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Reform der Kommunalfinanzierung". Das ist die Drucksache 13/5749. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/984 abzulehnen. Wer
s) Anlage 3
stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen dieses Hauses gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Oktober 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.