Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde:Aktueller Stand der GATT-Verhandlungen im Rahmen der sogenannten URUGUAY-Runde
2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Fischwirtschaftsgesetzes — Drucksache 12/3378 —Vereinbarte Debatte zur Asylpolitik3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Andrea Lederer, Dr. Hans Modrow und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Zur Jugoslawienpolitik der Bundesregierung — Drucksache 12/3431 —4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CD U/CSU, SPD und F.D.P.: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation" — Drucksache 12/3461 —5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste: Bericht der Bundesregierung zu der Entwicklung in der Türkei — Drucksachen 12/987, 12/2887 —6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Rudolf Bindig, Dr. Ulrich Böhme (Unna), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einstellung der Militärhilfe, Erstellung eines Konzepts für Wirtschaftshilfe und Bericht über Lieferungen an die Türkei — Drucksache 12/3434 —7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, I lermann Bachmeier, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verlängerung des befristeten Abschiebestopps für Kurden und Kurdinnen — Drucksache 12/3435 —Anhang zur Zusatzpunktlistehier: Änderung einer ÜberweisungNach einer interfraktionellen Vereinbarung wird die Überweisung nachstehender Vorlage wie folgt geändert:Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu der Mitteilung der Kommission „von der Einheitlichen Europäischen Akte zu der Zeit nach Maastricht: Ausreichende Mittel für unsere ehrgeizigen Ziele"— Drucksache 12/3003 —Überweisung: bisher:Haushaltsausschuß Finanzausschuß (federf.)FinanzausschußAuswärtiger AusschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Post und TelekommunikationAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und Wissenschaft EG-AusschußVon der Frist für den Beginn der Beratung soll abgewichen werden, soweit dies zu einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist.Darüber hinaus soll Tagesordnungspunkt 9 erst am Freitag um 9 Uhr aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 10a und 13a und b sollen abgesetzt werden.Des weiteren mache ich auf eine zu ändernde Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.Sind Sie mit den Ergänzungen der Tagesordnung und der Änderung der Ausschußüberweisung einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir es so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 2a bis 2i und Zusatzpunkt 2 auf:2. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 13. Mai 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche— Drucksache 12/3379 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beamtenrechtsrahmengesetzes— Drucksache 12/3302 —
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9568 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthÜberweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Familiennamensrechts
— Drucksache 12/3163 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendd) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches— Drucksache 12/3339 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaue) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung von in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zwischen den öffentlichen Haushalten und volkseigenen Unternehmen, Genossenschaften sowie Gewerbetreibenden begründeten Finanzbeziehungen
— Drucksache 12/3345Überweisungsvorschlag:Haushaltsauschuß Rechtsausschußf) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet
— Drucksache 12/3273 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaftg) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen und anderer Vorschriften über Kreditinstitute— Drucksache 12/3377 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß RechtsausschußHaushaltsauschuß gemäß § 96 GO h) Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleichbehandlung von politischen Vereinigungen— Drucksache 12/3267 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsauschußi) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Kübler, Siegfried Vergin, Dr. Egon Jüttner und weiterer AbgeordneterBeendigung der Nutzung des Standortübungsplatzes Viernheimer/Lampertheimer Wald in Hessen/Baden-Württemberg— Drucksache 12/3227 —Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuß VerteidigungsausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Fischwirtschaftsgesetzes— Drucksache 12/3378 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika über Vermögensansprüche auf Drucksache 12/3379 — das ist der Tagesordnungspunkt 2 a — soll zusätzlich an den Ausschuß für P ost und Telekommunikation überwiesen werden.Der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Gleichbehandlung von politischen Vereinigungen auf Drucksache 12/3267 — das ist der Tagesordnungspunkt 2h — soll abweichend von dem Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung zur federführenden Beratung dem Innenausschuß und zur Mitberatung dem Rechtsausschuß überwiesen werden.Der Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Kübler, Siegfried Vergin, Dr. Egon Jüttner und weiterer Abgeordneter zur Beendigung der Nutzung eines Standortübungsplatzes auf Drucksache 12/3227 — das ist der Tagesordnungspunkt 2i — soll abweichend von dem Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung zur federführenden Beratung dem Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung dem Verteidigungsausschuß, dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9569
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthSind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) — Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 148 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1977 über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverunreinigung, Lärm und Vibrationen an den Arbeitsplätzen— Drucksache 12/2447 —
— Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 162 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1986 über Sicherheit bei der Verwendung von Asbest— Drucksache 12/2448 —
— Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 167 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1988 über den Arbeitsschutz im Bauwesen— Drucksachen 12/2472, 12/2509 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/3384 —Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Joachim Fuchtelb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" und Förderung außerparlamentarischer Initiativen zum gleichen Thema— Drucksachen 12/2220 , 12/2897 —Berichterstattung:Abgeordnete Meinrad Belle Rolf SchwanitzDr. Jürgen Schmiederc) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung— Drucksachen 12/2836, 12/3301 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner Zywietzd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Zweiundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/2807, 12/3393 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Elke Leonhard-Schmide) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Zweiundachtzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste— Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —— Drucksachen 12/2808, 12/3394 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmannf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Dreiundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/2834, 12/3395 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Elke Leonhard-Schmidg) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 74 zu Petitionen— Drucksache 12/3371 —h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 75 zu Petitionen — Drucksache 12/3372 —Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Bei Tagesordnungspunkt 3 a handelt es sich um die zweite Beratung und Schlußabstimmung über drei Gesetzentwürfe der Bundesregierung zu Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation.Wir stimmen zunächst über den Gesetzentwurf zum Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverunreinigungen, Lärm und Vibrationen an den Arbeitsplätzen, Drucksache 12/2447, ab. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/3384, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
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Präsidentin Dr. Rita Süssmuthben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit einer Enthaltung angenommen.Wir stimmen jetzt über den Gesetzentwurf zur Sicherheit bei der Verwendung von Asbest, Drucksache 12/2448, ab. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/3384, auch diesen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf über den Arbeitsschutz im Bauwesen, Drucksachen 12/2472 und 12/2509. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/3384, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei zwei Enthaltungen angenommen.Ich komme zum Tagesordnungspunkt 3 b. Hierzu möchte der Abgeordnete Poppe eine Erklärung abgeben.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Innenausschuß hat empfohlen, unseren Antrag zur Förderung außerparlamentarischer Initiativen bei der Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur abzulehnen. Ich möchte deshalb in diesem Zusammenhang einige Worte an Sie richten. Es ist völlig klar, daß sich der andere Teil des Antrags durch die Einsetzung der Enquete-Kommission erledigt hat.
Ohne mich auf die in unserem Antrag genannte Summe festlegen zu wollen, appelliere ich dringend an Sie — und dies vor allem auch im Hinblick auf die anstehenden Haushaltsberatungen —, nach Wegen zu suchen, wie die Unterstützung solcher Initiativen auch mit Bundesmitteln geschehen kann.
Sie werden mir sicher nicht widersprechen, wenn ich feststelle, daß eine ernstzunehmende öffentliche Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit nicht allein durch die Medien erfolgen kann, auch nicht durch die öffentlichen Bekundungen des brandenburgischen Ministerpräsidenten oder ehemaliger MfS-Offiziere.
Auch die vom Bundestag eingesetzte EnqueteKommission, die ihre Arbeit, wie ich meine, durchaus erfolgversprechend begonnen hat, kann auf die Arbeit vor Ort, die auf der Kompetenz der Betroffenen beruht, nicht verzichten. Die Enquete-Kommission hat dies in ihren Beratungen mehrfach festgestellt und wird ihrerseits nach Möglichkeiten suchen, die außerparlamentarischen Initiativen zu unterstützen.
Ein Beispiel dafür ist die Anhörung, die kürzlich in Leipzig stattfand, an der ca. 20 Organisationen, Vereine und Gruppen teilnahmen.
Herr Poppe, sprechen Sie bitte zur Beschlußempfehlung, nicht zur Sache!
Ich bin sofort fertig und komme auch gleich zu dem Punkt,
um den es mir geht. — Nur, damit Sie Verständnis für diese Situation haben: Viele der Initiativen haben, wenn man von ihnen fordert, Miete für die von ihnen genutzten Räume zu zahlen, das Problem, daß sie ihre Arbeit dann wahrscheinlich einstellen müssen. Das haben sie auch der Enquete-Kommission berichtet.
Meine Damen und Herren, durch die Förderung der außerparlamentarischen Initiativen aus dem Bundeshaushalt würden die Erfahrung, das Wissen und das Engagement derjenigen Menschen, die zumeist auch einen sehr wesentlichen Anteil am Widerstand gegen die Diktatur, an der Auflösung der Staatssicherheit und an der Sicherung der Akten haben, gewürdigt und weiterhin nutzbar gemacht.
Zugleich würde ein Zeichen gesetzt, daß Bundestag und Bundesregierung das Anliegen der Betroffenen hinsichtlich der eigenständigen Aufarbeitung ihrer Geschichte ernst nehmen und damit auch einen Beitrag zum Abbau noch vorhandener Barrieren zwischen Ost und West leisten.
Wir werden unserem Antrag natürlich zustimmen, obwohl die Summe, die in ihm genannt wird, vielleicht nicht sehr realistisch ist. Aber ich möchte Sie ganz dringend bitten, in den nachfolgenden Haushaltsberatungen nach Wegen zu suchen, mit denen dem Anliegen solcher Initiativen in einer angemessenen Form entsprochen werden kann.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Einsetzung einer EnqueteKommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" und Förderung außerparlamentarischer Initiativen zum gleichen Thema, Drucksachen 12/2220 und 12/2897. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung gegen die Stimmen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und bei einigen Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkt 3 c: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Veräußerung eines Grundstücks in Berlin, Drucksachen 12/2836, 12/3301. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung angenommen.Tagesordnungspunkt 3 d bis 3 f: Beratung von drei Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung und der Ausfuhrliste, Drucksachen 12/3393 bis 12/3395. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so.Wer stimmt für diese drei Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann sind diese Beschlußempfehlungen bei zwei Gegenstimmen angenommen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9571
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthTagesordnungspunkt 3 g und 3h: Wir stimmen jetzt noch über Beschlußempfehlungen des Petitionsaus - schusses auf Drucksachen 12/3371 und 12/3372 ab. Das sind die Sammelübersichten 74 und 75. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann sind diese Beschlußempfehlungen bei Enthaltungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:Vereinbarte Debatte zur AsylpolitikDazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. vor. Ein weiterer Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ist angekündigt.Ich weise darauf hin, daß nach der Aussprache über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der F.D.P. namentlich abgestimmt werden soll.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Ausspache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich heute nicht zum erstenmal mit dem Thema Asyl, und es wird leider auch nicht das letzte Mal sein. Aber es muß sein; das Thema brennt allen auf den Nägeln.
Die Lage hat sich dramatisch zugespitzt. Die Zahl der Asylbewerber, die zu uns nach Deutschland kommen, steigt unaufhörlich weiter. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres waren es 320 000 Asylbewerber. Insgesamt müssen wir für 1992 mit 450 000 Asylbewerbern rechnen. Bund, Länder und Gemeinden können der Belastungen durch die Bearbeitung der Anträge und durch Aufnahme und Unterbringung nicht mehr Herr werden. Es muß jetzt gehandelt werden, besser heute als morgen.
Es hat alles schon viel zu lange gedauert.
Unsere Bürger haben längst den Eindruck, daß wir Politiker in dieser entscheidenden Frage nur diskutieren und streiten, ohne zu Lösungen zu kommen.
Aus diesem Eindruck droht ein Vertrauensverlust für die demokratischen Parteien und für die Politik ingesamt.
Die Menschen beginnen, an uns zu zweifeln.
— Es mag sein, daß sie an uns zweifeln, aber an Ihnen werden sie wahrscheinlich verzweifeln. —
Wenn wir ihnen nicht bald eine überzeugende Antwort auf das Problem anbieten können, dann werden immer mehr von ihnen den Parolen und Schlagworten der Radikalen von rechts und links Gehör schenken.
Die Menschen bekommen mehr und mehr das Gefühl, die Zuwanderung zu uns nach Deutschland — —
Wir führen hier keine Gespräche zwischen den Fraktionen, sondern Herr Dr. Schäuble hat das Wort.
Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns keine Illusionen über die Bedeutung dieses Themas und die Gefahren machen, die in diesem Thema stecken. Wir sollten uns darauf konzentrieren, so rasch wie möglich zu besseren Lösungen zu kommen. Denn die Menschen bekommen mehr und mehr das Gefühl, daß die Zuwanderung zu uns nach Deutschland und nach Europa außer Kontrolle gerate. Dies verunsichert die Menschen. Aus solcher Verunsicherung wachsen Ängste, wächst aber nicht die Bereitschaft zu Toleranz und friedlichem Miteinander. Für unsere Bevölkerung ist die Schmerzgrenze längst überschritten. In Städten und Gemeinden, die Asylbewerber bei sich unterbringen sollen, häufen sich Proteste, und es häufen sich Gewalttaten und Übergriffe gegen Asylbewerberunterkünfte und Ausländerheime.Wir haben in der vergangenen Woche einmütig ausländerfeindliche Parolen, Gewalttätigkeiten gegen Ausländer und Asylbewerber und rassistische und antisemitische Übergriffe verurteilt. Wir haben gesagt: Wir sind uns einig in der ablehnenden Verurteilung extremistischer Bestrebungen. Wir sind uns einig in der ablehnenden Verurteilung der Anwendung von Gewalt. Es ist gut, daß die Fraktionen gemeinsam Front gegen Gewalttäter und Extremisten machen: ohne Wenn und Aber und unbeschadet unterschiedlicher Auffassungen über die zu treffenden Maßnahmen.
Es war auch richtig, daß wir die Auseinandersetzung mit dem gewalttätigen Extremismus und die Debatte darüber getrennt gehalten haben von der Auseinandersetzung über die Lösung der Asylproblematik, weil die gemeinsame Haltung in dem einen Fall
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9572 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Wolfgang Schäublenicht durch Meinungsunterschiede im anderen Fall gefährdet werden darf und weil Meinungsunterschiede in der Asylpolitik für niemanden eine Entschuldigung für die Billigung von ausländerfeindlichen Parolen oder Gewalttaten sein dürfen.
Aber natürlich hängen die Probleme auch zusammen.
— Darüber gibt es doch nichts zu lachen! Das ist zum Weinen, aber nicht zum Lachen!
Es muß Ihnen das Lachen doch längst vergangen sein!
— Über Sie kann man nur noch weinen!
Die bislang unbegrenzbare Zuwanderung ist ein Mißstand. Ich glaube, wir können Gewalttätern und Extremisten den Boden besser entziehen, wenn wir diesen Mißstand beseitigen.
Wir wollen keine ausländerfeindlichen Ausschreitungen, und wir dürfen sie nicht dulden. Aber Gemeinsamkeit gegenüber Extremisten erfordert auch Gemeinsamkeit in der Asylpolitik. Unsere Bürger sind die verwirrenden Diskussionen über das Asylrecht leid. Sie wollen Klarheit in der Sache. Sie wollen wissen, was die Parteien vorhaben. Sie wollen klare Antworten. Auf all dies haben unsere Bürger Anspruch.Die Position der Koalition der Mitte ist klar und eindeutig:
Wir wollen eine grundlegende Neugestaltung des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. legen dazu heute einen Entschließungsantrag im Deutschen Bundestag vor. Dieser Antrag beschreibt die entscheidenden Ziele unserer zukünftigen Asylpolitik.Danach werden politisch Verfolgte im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland auch weiterhin als Asylberechtigte anerkannt. Indem wir gegen den Mißbrauch des Asylrechts vorgehen, werden wir den Schutz der politisch Verfolgten nicht verschlechtern, sondern, im Gegenteil, verbessern;
denn der massenhafte Mißbrauch des Asylrechts geht zu Lasten der tatsächlich Verfolgten.
Entscheidend aber ist, daß es das vorläufige Bleiberecht, das vorläufige Aufenthaltsrecht, das Art. 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes in seiner derzeitigen Fassung jedem Ausländer auf die bloße Behauptung hin, er werde politisch verfolgt, gewährt, in Zukunft so nicht mehr geben soll und nicht mehr geben kann.
Es kann nicht sein, daß auf die bloße Behauptung hin, politisch verfolgt zu sein — und sei sie noch so offensichtlich unbegründet —, ein vorläufiges, nicht entziehbares Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland eingeräumt wird, das dann bei einer Zuwanderung von 40 000 bis 50 000 im Monat zu einer „Verstopfung" aller Verfahren führt und die Probleme des Asylrechts nicht mehr handhabbar macht.
Deswegen muß über offensichtlich aussichtslose Asylanträge schnell entschieden werden.
Der Aufenthalt solcher Antragsteller muß sofort beendet werden können. Die von uns vorgeschlagene Regelung versetzt uns in die Lage, Menschen gleich wieder zurückzuschicken, die politisch offensichtlich nicht verfolgt sind.
Der Rechtsschutz bleibt bestehen, aber wir halten es für zumutbar, daß der Klageweg in offensichtlich unbegründeten Fällen — und das ist die ganz überwiegende Mehrheit der Bewerber —
auch vom Ausland aus beschritten wird.
Die Neuordnung der Asylpolitik, die wir vorschlagen, hätte schon vor Jahr und Tag verwirklicht werden können und müssen. Wir wären in der Sache längst weiter, wenn die Sozialdemokraten auf unsere Mahnungen gehört hätten.
Es ist viel Zeit verlorengegangen, zuviel Zeit, und großer Schaden ist eingetreten.
Erst jetzt, unter dem Druck der Ereignisse, reifen — schwerfällig genug — bei einem Teil der SPD die notwendigen Einsichten. Aber der andere Teil der Partei ist offensichtlich immer noch nicht imstande, die Wirklichkeit richtig wahrzunehmen.
In der Lage versuchen Sie nun verzweifelt — wir hören das hier wieder —, die Schuld an den Versäumnissen, an den schweren Belastungen des inneren
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9573
Dr. Wolfgang SchäubleFriedens in unserem Lande anderen in die Schuhe zu schieben.
Ziel ist die Bundesregierung, und Ziel soll der zuständige Bundesinnenminister sein.
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Das geht nicht, das werden wir nicht zulassen. Das erinnert an die Ganovenmethode „Haltet den Dieb!"
Es gibt unstreitig einen Rückstau bei den unerledigten Asylanträgen und -verfahren. Aber dieser Rückstau ist ausschließlich auf die dramatisch angestiegene Zahl der Asylbewerber zurückzuführen.
Mit zögerlichem Verhalten oder mangelndem guten Willen hat das nicht das geringste zu tun. Im Gegenteil: Die Zahl der Verfahrensentscheidungen durch das zuständige Bundesamt bewegt sich auf einem Rekordniveau. Die dort neu bewilligten Stellen werden so rasch wie irgend möglich besetzt. Wenn es zu Verzögerungen bei der Umsetzung der Beschlüsse vom 10. Oktober 1991 gekommen ist, so ist dies ausschließlich auf mangelnde Kooperationsbereitschaft von seiten der SPD-geführten Bundesländer zurückzuführen.
— Es ist schon bemerkenswert, wie es hier zugeht. Ich hoffe, daß die Klarheit Ihrer Stellungnahme in der Sache der Lautstärke Ihrer Zwischenrufe entspricht.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben jedenfalls seit Jahren eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes für notwendig erklärt und gefordert. Ich habe unmittelbar nach dem Gespräch beim Bundeskanzler am 10. Oktober vergangenen Jahres einen Vorschlag für eine entsprechende Grundgesetzänderung vorgelegt. Wir haben das in unserer Fraktion im März einstimmig beschlossen und diesen Antrag am 30. April hier in erster Lesung behandelt. Sie, Herr Kollege Klose, haben am 9. September hier erklärt, die Koalition solle ein gemeinsames Konzept vorlegen. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Ich lade Sie herzlich ein, mit uns unverzüglich in die erforderlichen Gespräche einzutreten.
Wir legen heute bewußt keinen Gesetzesantrag, sondern einen Entschließungsantrag vor, weil wir für die anstehenden notwendigen Gespräche und Verhandlungen
— ach, reden Sie doch kein so dummes Zeug! Es ist wirklich unerträglich — mit Ihnen gesprächsfähig bleiben wollen. Ausschließlich deswegen legen wir keinen Gesetzesantrag vor.Aber es muß auch klar sein: Wir werden keinen Regelungen zustimmen, die im Ergebnis nichts bewirken, die in der Sache nicht greifen.
Wir wollen nicht irgendein Ergebnis, sondern wir müssen ein befriedigendes und ein befriedendes Ergebnis erzielen.
Ich erinnere an das, was Ihr Parteivorsitzender vorgestern gesagt hat: Wenn wir keine tragfähige Regelung zustande kriegen, werden sich immer mehr Menschen von uns abwenden und ihr Heil bei den unheilvollen Hetzern und rechtsaußen suchen. Das müssen wir verhindern. — Soweit Herr Engholm.
Und ich setze hinzu: Wenn es den großen demokratischen Parteien nicht gelingt, sich in dieser entscheidenden Frage auf eine tragfähige Lösung zu einigen, dann steuern wir unser Land in eine schwere Staats- und Verfassungskrise. Wir brauchen jetzt eine klare Entscheidung. Wir brauchen sie in jedem Fall noch in diesem Jahr.
Die SPD-Fraktion hat uns bis heute Gespräche verweigert
mit dem Hinweis darauf, sie müsse erst den Verlauf ihres Sonderparteitages Mitte November abwarten. Ich möchte die Auseinandersetzungen in der SPD nicht kommentieren. Aber: Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind Abgeordnete des ganzen deutschen Volkes, nicht einer Partei.
Wir sind nach Art. 38 des Grundgesetzes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, sondern unserem Gewissen unterworfen.
Es gibt bei uns kein imperatives Mandat: nicht von Parteitagen und auch sonst von niemandem. Kein Abgeordneter dieses Hohen Hauses kann sich der Verantwortung für seine persönliche Entscheidung entziehen.
Und letztlich kann Ihnen auch kein Parteitag diese Verantwortung abnehmen.
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9574 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Wolfgang SchäubleIch appelliere eindringlich an Sie, sich bei den vor uns liegenden Entscheidungen dieser Verantwortung bewußt zu sein. Das Recht der Gewissensfreiheit der Abgeordneten ist eben auch eine Pflicht.Im übrigen: In jedem Orts-, Kreis-, Bezirks- und Landesverband der SPD diskutieren Sie in diesen Wochen über Asylpolitik und stimmen darüber ab. Sie können doch die Debatte und die Entscheidung im Deutschen Bundestag, dem Forum der Nation, nicht verweigern,
wenn Sie sie in jedem Kreis- und Landesverband führen.Kriegerische Auseinandersetzungen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, aber auch wirtschaftliche Schwierigkeiten, Not und Elend bringen immer mehr Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und bei uns Zuflucht zu suchen. Wir müssen auch ehrlich sagen, daß eine Grundgesetzänderung das Problem der Wanderungsbewegungen zwischen West und Ost, zwischen Süd und Nord allein nicht lösen kann.
Wir können die Zuwanderung der Menschen zu uns nach Europa auf diese Weise nur besser steuern und ein Stück weit eindämmen, aber nicht grundsätzlich verhindern. Wir müssen daher auch bei den Ursachen dieser Wanderungsbewegungen ansetzen. Wenn wir Wanderungsbewegungen von Ost nach West in Europa verhindern wollen, müssen wir die Unterschiede in den Lebensverhältnissen vermindern. Wir müssen uns bemühen, das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen Ost und West schrittweise abzubauen. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Anstrengung aller Europäer.Wenn wir die Wanderungsbewegungen von den armen Ländern des Südens in den reichen Norden eindämmen wollen, müssen wir Hilfe vor Ort leisten. Wir müssen dazu beitragen, daß sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Dritten Welt so weit verbessern, daß die Menschen dort wieder eine Lebensperspektive für sich sehen und daß nicht gerade die Jüngeren, die Gebildeten, die Beweglichen unter ihnen ihr Heil bei uns in der nördlichen Hemisphäre suchen. Dazu bedarf es nationaler, europäischer und internationaler Anstrengungen im Bereich der Entwicklungspolitik und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Die Asylpolitik tangiert mittlerweile die rechtsstaatliche Ordnung unserer Bundesrepublik Deutschland, den inneren Frieden in unserem Land.
Die Asylproblematik droht die innere Verfaßtheit, die Seele unserer Bundesrepublik Deutschland zu beschädigen.
Ein tragendes Element unserer Ordnung ist die Toleranz gegenüber Ausländern. Die Deutschen sind in ihrer überwiegenden Mehrheit ausländerfreundlich.
Das Miteinander von Millionen ausländischer Mitbürger mit den Deutschen ist seit Jahrzehnten friedlich und freundlich. Dabei muß es auch in Zukunft bleiben. Aber das setzt voraus, daß jetzt gehandelt wird, daß Taten folgen.Es ist höchste Zeit. Es ist bereits fünf nach zwölf. Jeder einzelne von uns muß sich jetzt seiner Verantwortung bewußt werden. Denn nur dann können wir dem inneren Frieden und dem friedlichen Zusammenleben von Deutschen und Ausländern gerecht werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ich nicht dazu neige, unnötig anzuheizen, fange ich mit einer freundlichen Bemerkung an. Wenn die heutige Debatte überhaupt etwas Gutes bewirkt hat, dann dies, daß jetzt endlich, seit genau zwei Tagen, erstmals ein Vorschlag der Koalition zur Behandlung des Asylproblems vorliegt.
Vorher gab es das nicht. Bei aller Eilbedürftigkeit, die immer wieder beredet wurde: Diese Koalition legte vor zwei Tagen erstmals ein einheitliches Koalitionspapier auf den Tisch.
Das begrüße ich in der Tat. Denn wir haben es über Monate und Monate vergeblich gefordert.
Ich füge hinzu: Wir werden diesen ganz jungen, frischen Text und die darin enthaltenen Vorschläge sorgfältig prüfen.
Die dafür nötige Zeit werden wir uns nehmen. Heute werden wir uns jedenfalls in der Sache nicht einlassen.
Das erwarten Sie in Wahrheit auch gar nicht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9575
Hans-Ulrich KloseDenn die heutige Debatte hat erkennbar nicht den Sinn, in der Sache voranzukommen. Was heute hier veranstaltet wird, ist ein taktisches Manöver. An dem beteiligen wir uns nicht.
Wir wissen doch alle, meine Damen und Herren, und alle Welt weiß, daß es in den vergangenen Wochen in der Fraktion der CDU/CSU kräftige innere Konflikte gegeben hat.
— Wollen Sie das denn bestreiten? Ursprünglich wollten Sie heute Ihren Antrag zur Änderung des Grundgesetzes zur Abstimmung stellen. Da Sie erkannt haben, daß das einen Fortschritt in der Sache eher erschwert als erleichtert, haben Sie die heute vorgelegte Entschließung erfunden und die F.D.P. auf diese Linie gedrückt. Die taktischen Überlegungen kann ich nachvollziehen.Ihr Spiel mitzuvollziehen ist unsere Sache nicht,
schon deshalb nicht, weil wir sehen, wie die CSU das Spiel in Bayern betreibt. Dort hat es am 7. Oktober eine Abstimmung über einen von der CSU vorgelegten Antrag gegeben, von dem jedermann wußte, daß er keine Bedeutung für die Lösung des Asylproblems hat. Eine solche Lösung war auch gar nicht beabsichtigt. Beabsichtigt war, die derzeit laufende Anzeigenkampagne zu begleiten, die nur ein Ziel hat: Emotionen zu schüren und Andersdenkende, Sozialdemokraten, Freie Demokraten und GRÜNE, öffentlich zu denunzieren. Das ist ein befremdlicher, ein böser Vorgang,
ein Vorgang, der — wie ich hinzufügen möchte, Herr Kollege Bötsch — nicht geeignet ist, zur Annäherung in der Sache beizutragen.
Zudem wissen Sie, meine Damen und Herren von der CSU, doch inzwischen auch, daß Sie mit dem Feuer spielen. Wer rechtsradikale Methoden kopiert, kann dabei nicht gewinnen.
Im Gegenteil, die Demokratie verliert, wir alle verlieren.Deshalb bitte ich Sie erneut, mit solchen gefährlichen Manövern aufzuhören und zu jener Linie der Vernunft zurückzukehren, um die wir seit dem Herbst des vergangenen Jahres ringen.Der erste notwendige Schritt war der der Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung. Daß hier nicht alles getan worden ist, was hätte getan werden müssen, sagen Sie doch selber in Ihrem Entschließungstext.
Dort heißt es, es müßten in Bund und Ländern alle Anstrengungen unternommen werden für die Umsetzung und vollständige Anwendung des Asylbeschleunigungsgesetzes, für die Ausschöpfung aller Beschleunigungsmöglichkeiten vor allem bei straffälligen Asylbewerbern, insbesondere bei Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz, sowie für eine konsequente Abschiebung ausreisepflichtiger abgelehnter Asylbewerber.
Im Klartext heißt das doch, daß bisher noch nicht alles, was hätte geschehen müssen, praktisch umgesetzt worden ist.
Hier gibt es ganz offenkundige Versäumnisse beim Bund, vor allem bei der notwendigen Personalverstärkung, aber, wie ich fairerweise hinzufügen möchte, auch bei den Ländern; Stichwort: Sammelunterbringung.
Es ist Sache der Bundesregierung und der Länder, für die vollständige Anwendung des Beschleunigungsgesetzes zu sorgen. Unsere Kritik richtet sich gegen Sie, Herr Kollege Seiters, denn Sie sind nun einmal Innenminister,
und sie richtet sich, was die „Altfälle" angeht, auch gegen Sie, Herr Kollege Schäuble.
Von den „Altfällen" ist übrigens in Ihrem Entschließungstext nichts zu lesen. Was soll denn bitte schön mit diesen „Altfällen", die auf Ihre Kappe gehen, geschehen, Herr Kollege Schäuble?
In der derzeit in unserer Partei laufenden sehr schwierigen, ja sogar quälenden Diskussion über den Gesamtkomplex Zuwanderung spielen solche Fragen eine erhebliche Rolle: Warum die Verfassung ändern, wenn nicht zuvor alle ohne Verfassungsänderung möglichen und schon lange geforderten Maßnahmen zur Steuerung der Zuwanderung eingesetzt worden sind?
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9576 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Hans-Ulrich KloseDiese Frage müssen Sich sich gefallen lassen, und die damit verbundene Kritik auch. Sie stellen die Regierung; Mängel im administrativen Vollzug gehen zu Ihren Lasten.
Zur Sache werde ich mich zu Ihrem Entschließungsentwurf nicht äußern. Das können Sie von uns nicht erwarten.
Denn wir sind — offenbar anders als Sie, wie ich Ihrem Beifall entnehme — eine demokratische Partei und nehmen die Regeln der innerparteilichen Demokratie ernst.
Wir führen derzeit — ich wiederhole es — eine schwierige innerparteiliche Diskussion über unser Zuwanderungskonzept. Die Asylproblematik ist ja nur ein Teil davon. Sie kennen die Position des Parteivorstands der SPD, und Sie wissen, daß wir am 16./17. November einen Außerordentlichen Parteitag nicht nur zu diesem Thema, aber sehr wesentlich auch zu diesem Thema haben werden. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten im Umgang zwischen Fraktion und Partei, daß wir diese innerparteiliche Willensbildung abwarten müssen und wollen.
Die Mitglieder der SPD-Fraktion sind freie Abgeordnete; aber wir sind sozialdemokratische Abgeordnete und arbeiten in enger Verbundenheit mit unserer Partei. Und Sie halten es nicht anders. Wenn Sie hier etwas anderes behaupten, dann sage ich: Dies ist pure Heuchelei!
Wir leben in einer Parteiendemokratie, und zu den Selbstverständlichkeiten einer Parteiendemokratie gehört, daß wir dies wechselseitig respektieren. Es wäre im Interesse der Sache besser gewesen, wenn Sie Ihren Antrag heute nicht auf die Tagesordnung gesetzt und zur Abstimmung gestellt hätten.
Sie wissen, daß wir heute zur Sache nicht debattieren oder gar zustimmen können. Ohne uns geht es aber nicht.Was hat also Ihr Antrag für einen Sinn? —
Sie, Herr Kollege Solms — das habe ich den Medien entnommen —, sagen, er sei ein Gesprächs- und Verhandlungsangebot. Nun gut, Ihnen nehme ich das ab. Ich täte es noch überzeugter, wenn Sie sich an dem Abstimmungsprozeß nicht beteiligten.
Anders sehe ich es bei der Union. Sie wollen doch in Wahrheit von Schwierigkeiten in den eigenen Reihen ablenken,
und Sie konnten offenbar nicht der Versuchung widerstehen, einmal mehr einen taktischen Punkt zu machen.
In der Sache ist damit nichts gewonnen.
Im Gegenteil: Die Menschen werden zunehmend unruhiger, weil sie
miterleben müssen, daß nur noch taktiert wird.
Und das, sage ich Ihnen, ist vor allem bei dieser Problematik und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der rechtsextremistischen gewalttätigen Auseinandersetzungen in den letzten Wochen, die immer noch anhalten, absolut unangemessen.
Eine Verfassungsänderung ist kein Spiel.
Eine Verfassungsänderung ist immer bedeutsam. Das gilt vor allem, wenn das Grundrecht auf Asyl geändert werden soll.Der Bundeskanzler hat erst kürzlich — bezogen auf dieses Grundrecht — von einer Bringschuld der Deutschen gesprochen. Sehr richtig, Herr Bundeskanzler. Aber daraus folgt doch, daß wir es uns bei diesem Thema nicht leicht, sondern schwer machen müssen.
Es gilt sorgfältig abzuwägen, was notwendig und wirksam ist und was unantastbar bleiben muß. Mit leichter Hand ist das nicht zu entscheiden.
Wir Sozialdemokraten machen es uns schwer.
Das hat überhaupt nichts mit einer Verweigerungshaltung zu tun. Es hat etwas zu tun mit den historischen Erfahrungen dieser Partei, deren führende Mitglieder in der Zeit zwischen 1933 und 1945 ins Exil getrieben worden sind.Unser vor einer Woche verstorbener Ehrenvorsitzender mußte ins Exil. Zwei der bedeutenden Hamburger Bürgermeister der Nachkriegszeit, Max Brauer und Herbert Weichmann, waren nach dem heutigen Sprachgebrauch Asylanten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9577
Hans-Ulrich KloseSie haben überlebt, weil sie in anderen Ländern Asyl gefunden haben. Das werden wir nicht vergessen. Sie dürfen das auch nicht vergessen.
Wie können Sie dann aber von uns erwarten, daß wir mit unseren Erfahrungen und den Lehren, die wir daraus gezogen haben,
heute, nachdem seit zwei Tagen ein Antrag vorliegt, leicht und schnell ja sagen zu einer Verfassungsänderung bei diesem Grundrecht, das die Mütter und Väter der Verfassung sehr bewußt so in das Grundgesetz geschrieben haben?
Nein, meine Damen und Herren von der Koalition, das können und wollen wir nicht. Wir machen es uns schwer. Wir ringen um die richtige Entscheidung, und wir lassen uns von Ihnen weder unter Druck setzen noch vorführen.
Ich weiß und merke das ja an Ihrer Reaktion: Diese Worte werden Sie nicht beeindrucken. Sie werden auf einer Abstimmung heute bestehen, weil Sie es aus partei- und koalitionstaktischen Gründen so beschlossen haben. Aber wir sind frei und selbstbewußt genug, um Ihnen zu sagen, daß wir uns an dieser Prozedur und an all den anstehenden Abstimmungen nicht beteiligen werden.
Es tut mir leid, daß das so ist. Ich hatte gehofft, wir wären ein Stück weiter. Sie müssen verantworten, was Sie heute tun. Gutes tun Sie nicht. Im Gegenteil, Sie schaden der Sache.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die vielzitierten Väter des Grundgesetzes
Dieser einfache Satz war die Konsequenz aus schlimmen Erfahrungen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In einem neuen, nämlichdemokratischen, Deutschland sollten politisch Verfolgte Zuflucht finden können. Kein Gnadenerweis sollte dies sein, sondern die Erfüllung eines von der Verfassung gewährten individuellen Anspruchs. Wir Freien Demokraten wollen das Recht auf Asyl für wirklich politisch Verfolgte erhalten.
Wie Sie aus dem zur Abstimmung stehenden Entschließungsantrag ersehen, ist dies der gemeinsame Wille der Koalitionsfraktionen.
Mir ist soeben mitgeteilt worden, daß bei der Anmoderierung der Übertragung dieser Debatte der Berichterstatter zum Ausdruck gebracht habe, das Asylrecht werde aufgegeben, die Freien Demokraten seien umgefallen. Ich kann dem Herrn nur empfehlen, sich an den eigentlichen Quellen zu orientieren und nicht seine eigene Meinung zum besten zu geben.
Deswegen will ich — falls das so stattgefunden haben sollte, ich selbst habe es nicht hören können — auch den Fernsehzuschauern klarmachen, daß in Punkt II 1 der Entschließung, die heute zur Abstimmung steht, zu lesen ist: „Politisch Verfolgte im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention werden auch weiterhin in Deutschland als Asylberechtigte anerkannt."
Wer berechtigt ist, genießt ein Recht. Er hat einen Anspruch, einen einklagbaren Anspruch. Das ist überhaupt nicht mißzuverstehen.
Angesichts der immer schneller steigenden Asylbewerberzahlen ist die Sicherung des Asylrechts zur Zeit jedoch nicht mehr gewährleistet: Über 250 000 Flüchtlinge waren es im Vorjahr, fast 320 000 in den vergangenen neun Monaten — mit steigender Tendenz.Dies überfordert Bund, Land und Kommunen, beunruhigt die Bevölkerung und gefährdet in letzter Konsequenz unser aller Gemeinwesen.
Es ist richtig, was in den hinter uns liegenden Diskussionen zum Asylrecht immer wieder betont wurde: Auch der Parlamentarische Rat hat bei seinen Beratungen durchaus Überlegungen angestellt, in welcher Weise die zukünftige Bundesrepublik überhaupt in der Lage sein würde, politisches Asyl zu gewähren, wenn man bedenkt, daß damals das Land in Schutt und Asche lag und selbst auf Hilfe von außen angewiesen war.Liest man die Protokolle über die Beratungen, so sieht man ganz eindeutig, daß der Parlamentarische Rat auf Grund der Erfahrungen aus der Naziherrschaft beabsichtigte, daß politische Asylrecht denen zukommen zu lassen, die politisch mit Konsequenzen für Leib und Leben bedroht waren. Diesen wollte er eine Zuflucht gewähren.
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9578 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Hermann Otto SolmsDer Parlamentarische Rat hat die Konsequenz nicht vorhersehen können und auch nicht beabsichtigt, daß dieses Recht von einer großen Zahl von Menschen beansprucht werden würde, die gewiß in Not sind, für die es aber nicht gedacht war. Man konnte natürlich nicht voraussehen, welches schwierige, komplizierte Regelwerk spätere deutsche Gesetzgeber, Gerichte und Regierungen in Bund und Ländern und deren Verwaltungen aus diesem einfachen Satz in der Verfassung gemacht haben.Durch Vorschriften, die immer wieder geändert wurden und durch eine Rechtsprechung bis in die feinsten Verästelungen hinein, die kaum noch einer versteht und deren Durchführung nicht mehr gelingt, haben wir es geschafft, uns in einem unauflösbaren Verfahrensgestrüpp zu verfangen.
Dadurch haben wir unsere Handlungsfähigkeit so weit eingeschränkt, daß wir dem Massenzustrom, den wir heute gewärtigen, nicht mehr gewachsen sind.
In typisch deutschem Drang nach perfekten Regeln und größter Einzelfallgerechtigkeit laufen wir Gefahr, das Asylrecht, das wir eigentlich schützen wollten, zu gefährden. Auch hier bewahrheitet sich die alte Weisheit „summum ius summa iniuria". Das bedeutet: Wenn man die Einzelfallgerechtigkeit in der Gesetzgebung vorhersehend perfekt gestalten will, erreichen wir einen Zustand, daß Recht nicht mehr umgesetzt werden kann, daß es schlußendlich zur Rechtsverweigerung führt.
Der große Andrang der Flüchtlinge bei nur geringer Anerkennungsquote, die Überlastung der Behörden und Gerichte und die Unruhe in der Bevölkerung haben einen Zustand herbeigeführt, der die Asylrechtsgewährung für politisch wirklich Verfolgte in Gefahr bringt. Deshalb müssen wir handeln. Deshalb müssen wir auch handeln. Hier ist die Politik gefordert. Hier hat sie Wege zu zeigen, wie das Grundrecht auf Asyl in Übereinstimmung mit allen gesellschaftlich relevanten Kräften bewahrt werden kann. Wir müssen den massenhaften Asylmißbrauch im Interesse des zweifelsfrei Verfolgten und Bedrängten mit einfachen praktikablen Regelungen bekämpfen.
Ziel muß es sein, die offensichtlich unberechtigten Asylantragsteller sofort in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken, wenn ihnen keine irreparablen Nachteile drohen. So haben wir es in unserem Antrag formuliert.
Nur dann kann es gelingen, den Anreiz zur Einwanderung in diesen Fällen zu beseitigen. Nur dann wirdes gelingen, dem Schlepperunwesen, das immer mehrum sich greift, die Geschäftsgrundlage zu entziehen.
Diesen beiden Zielen dient der Entschließungsantrag der Koalition, nämlich die Asylrechtsgarantie für die wirklich politisch Verfolgten zu sichern und den Asylrechtsmißbrauch zu stoppen. Dem dient auch die geplante Verfassungs- und Gesetzesänderung. Ich sage hier mit Nachdruck: Eine Verfassungsänderung, die diese Ziele nicht erreicht, die nicht zu einer deutlichen Verbesserung bei der Bekämpfung des Mißbrauchs führt, würde das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates noch mehr erschüttern und ist daher nicht zu verantworten.
Daran werden sich die F.D.P. und — wie Herr Schäuble gerade zum Ausdruck gebracht hat — auch die CDU/CSU-Fraktion nicht beteiligen. Dabei haben wir in unserem Antrag eines unmißverständlich klargestellt: Auch in Zukunft wird das individuelle Asylrecht für wirklich politisch Verfolgte garantiert.Wenn, Herr Kollege Klose, der Antrag auch aus Ihrer Sicht etwas bewirken sollte oder bewirken kann, dann doch das, daß diese Garantie des Asylrechts von den Koalitionsfraktionen nunmehr eindeutig und unmißverständlich bestätigt wird. Ich bedanke mich bei dem Parteivorsitzenden der CDU, dem Bundeskanzler Helmut Kohl, daß er mit der Zustimmung zu diesem Antrag zum Ausdruck gebracht hat, daß er unter einem heiligen Recht, wie er es vor über einem Jahr genannt hat, ein einklagbares Recht versteht; denn diese Klärung mußte herbeigeführt werden.
Dieses Recht wird gesichert und nicht durch die Genfer Flüchtlingskonvention ersetzt, wie vielfach fälschlicherweise in den Zeitungen gestern und heute kommentiert worden ist. Ich denke, wir sind uns in diesem Wunsch mit der großen Mehrheit des Hauses einig. Aber natürlich müssen wir jetzt auch gemeinsam dafür sorgen, daß unser Wunsch verwirklicht werden kann. Dazu gehört, daß wir für die große Zahl der offensichtlich unbegründeten Asylanträge ein verkürztes Verfahren mit Rechtsschutzmöglichkeiten mit dem Ergebnis schaffen, daß diese Personen innerhalb weniger Tage in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden können.Ich will hier ganz deutlich sagen, daß wir den Vorschlag der CSU, Beschwerdeausschüsse einzurichten, für den falschen Weg halten.
Aber das sind Fragen, die dann im Gesetzgebungsverfahren geklärt werden können.Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Die Entschließung läßt dies aber offen, HerrSolms!)— Die Entschließung läßt dies offen. Ich sagte ja: Das muß im Gesetzgebungsverfahren geklärt werden. Ich will hier die Meinung der F.D.P.-Fraktion zum Ausdruck bringen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9579
Dr. Hermann Otto SolmsIch möchte nur ein Wort zu den Anzeigen sagen, die gegenwärtig von der CSU geschaltet worden sind. Ich kommentiere und bewerte das nicht; das werden die Bürger, die Wähler bewerten, denn das ist deren Aufgabe.
Ich habe die Erfahrung gemacht, daß sich solche Aktionen in der Regel gegen diejenigen richten, die sie veranlaßt haben.
Nur wenn es gelingt, diese Verfahren so zu gestalten, daß die nicht berechtigten Asylantragsteller in wenigen Tagen zurückgeschickt werden können, kann der Mißbrauch erfolgreich unterbunden werden. Wer aus einem sogenannten Nichtverfolgerstaat oder aus einem sicheren Drittstaat zu uns kommt, kann nicht mit längerem Aufenthalt rechnen.Dazu gehört, daß die finanziellen Anreize zur Einreise für politisch nicht Verfolgte gemindert werden müssen. Das Sozialhilferecht ist so zu ändern, daß die Leistungen auf das Notwendigste beschränkt werden und daß Geldleistungen weitestgehend in Sachleistungen umgewandelt werden.
Dazu gehört schließlich, daß erheblich straffällig gewordene Ausländer aus Deutschland ausgewiesen werden, einerlei, ob sie Asylbewerber sind oder nicht.
Für all dies und für weitere notwendige Änderungen zeigt unser Entschließungsantrag die Richtung auf: Wir können die Augen nicht davor verschließen, daß die Bundesrepublik der bevorzugte Aufnahmestaat für Flüchtlinge in Europa geworden ist. Notwendig ist daher auch eine international verbindliche Verständigung über ein burden sharing in diesem Bereich. Ziel ist eine einheitliche europäische Asylrechtskonvention, an der alle europäischen Staaten mit gleichen Rechten und Pflichten teilnehmen. Auch hierfür ist die Grundgesetzänderung notwendig.Wir können uns nicht einbilden, daß sich elf europäische Staaten danach richten, was in der Bundesrepublik Deutschland Praxis ist,
sondern das sind selbständige Staaten, die ihre Normen selber bilden. Die gemeinsame europäische Grundlage, die alle anerkennen, sind die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Daran werden sich alle diese Staaten orientieren.Es ist nicht länger hinnehmbar, daß wir mit einem Bevölkerungsanteil von 20 % 70 % der Asylbewerber in Europa aufnehmen. Um dem weltweiten Wande-rungs- und Flüchtlingsproblem begegnen zu können, müssen wir in Europa auch auf eine gemeinsame Zuwanderungsbegrenzungsregelung hinwirken. Dazu wird in dem Antrag ein Prüfungsauftrag erteilt.Wir müssen ferner eine europäische Initiative starten, um die Ursachen für Flucht und Wanderung in den Ursprungsländern zu bekämpfen. Nur dadurch ist der Wanderungsdruck auf Dauer erfolgreich zu mindern.
Mit diesem Entschließungsantrag verbinden wir den Wunsch und die Bitte — ich will das so formulieren — an die SPD-Bundestagsfraktion, nun bald zu gemeinsamem Handeln im Bereich des Asylrechts bereit zu sein. Die Diskussion hat doch nicht erst jetzt begonnen. Herr Kollege Klose, es ist wenig überzeugend, zu sagen, Sie hätten den Entschließungsantrag erst jetzt auf den Tisch bekommen. Er liegt seit Dienstag auf Ihrem Tisch.
— Meine Damen und Herren, es ist in diesem Hause auf allen Seiten üblich, Entschließungsanträge kurz vor den Debatten vorzulegen. Das Thema ist ja nun wirklich nicht neu.
Ich verstehe diesen Entschließungsantrag als eine Einladung an die SPD, sich an der Lösung dieses Problems zu beteiligen. Die klassischen Fraktionen dieses Hauses sind aufgerufen, dies zu tun. Schon wegen der verfassungsändernden Mehrheit müssen alle daran mitwirken.
Wenn Sie meinen, daß diese Entschließung die Absicht hätte, Druck auszuüben oder die SPD vorzuführen, so ist das nicht richtig.
Ich weiß ja auch aus vielerlei Gesprächen mit Kollegen von Ihnen, daß sie mit dem Inhalt dieses Entschließungsantrages sehr zufrieden sind.
Ich weiß aber auch, daß ein ganz anderer Druck auf Sie ausgeübt wird, nämlich der Druck Ihres Parteitages, der vor Ihnen liegt.
Ich will das nicht aberkennen; das ist für eine demokratische Partei normal. Deswegen sind wir bereit, zu warten, bis Sie Ihren Parteitag hinter sich gebracht haben,
um dann aber umgehend über konkrete Verhandlungen zu Entscheidungen zu kommen; denn wir müssen noch in diesem Jahr diese Diskussion beenden.
Sie wissen wie wir, daß wir nun handeln müssen. Wir müssen in einem demokratischen Diskussionsvorgang die Lösungen erarbeiten, und wir müssen dann gemeinsam entscheiden. Dazu rufen wir Sie auf.
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9580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Hermann Otto Solms Vielen Dank.
Als nächste spricht die Abgeordnete Frau Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schäuble, zum Weinen Anlaß bietet allenfalls der Wettlauf, der mit parteitaktischem Kalkül zur Abschaffung des Asylrechtes heute hier eingeleitet wird.
Herr Klose, ich vermag wirklich nicht zu erkennen, was positiv daran sein kann, einen Antrag auf dem Tisch zu haben, der die Menschenwürde antastbar macht.
Die heutige Debatte ist eine Provokation in zweierlei Hinsicht, eine kleine Provokation gegenüber der SPD, die sich in einem offenkundigen Streit um den neuen Kurs befindet. Wenn heute diese Debatte von der Koalition darüber erzwungen wird, dann zeigt das einfach, daß sie keinen Anlaß und keinen Weg scheut, dieses Thema selbst vor dem Hintergrund brennender Flüchtlingsheime für billige Parteipolitik zu instrumentalisieren.
Eine große Provokation aber ist die heutige Debatte gegenüber den Opfern der rassistischen Anschläge. Ein entschlossenes Vorgehen gegen derartige Ereignisse durch die Bundesregierung ist keineswegs zu verzeichnen, geschweige denn etwa eine positive Antwort der Koalition auf den Vorschlag des nordrhein-westfälischen Innenministers Schnoor von letzter Woche, gemeinsam, parteiübergreifend mit Kirchen, Gewerkschaften und allen demokratischen Kräften dieses Landes zu einer Kundgebung gegen Rassismus und Gewalt aufzurufen. Letzte Woche haben wir hier zum Thema Rechtsextremismus und Gewalt debattiert. Unisono, von sämtlichen Parteien, wurde erklärt, dagegen entschlossen vorgehen zu wollen. Offenkundig war die Debatte der letzten Woche die Stunde der Unehrlichkeit, während heute die Stunde der Ehrlichkeit geschlagen hat, wir diesen Antrag hier auf dem Tisch haben und darüber debattieren sollen.
Ich will mich dennoch kurz mit dem Antrag auseinandersetzen, und zwar nicht nur, um ihm ein Nein entgegenzustellen, worüber, wie ich meine, heute durchaus in dieser Weise abgestimmt werden kann, sondern auch um nachzuweisen, worum es eigentlich geht.
Wird der Inhalt dieses Antrages Gesetz, dann ist das individuelle Asylrecht, das Grundrecht auf Asyl, abgeschafft. Alles Gerede von bloßer Veränderung oder Ergänzung ist schlicht Heuchelei. Das genau ist der Preis der seit der deutschen Einheit losgetretenen unwürdigen Asyldebatte. Ein solcher Angriff auf Art. 16 bedeutet das Abstreifen der letzten „Fessel", mit der angesichts der verheerenden Folgen des deutschen Faschismus die deutsche Gesellschaft zu Humanität verpflichtet werden sollte und wurde, zu einer Humanität, die einer willkürlichen und von staatlichen Interessen diktierten Verfügung entzogen bleiben sollte. Diese Verpflichtung ist jetzt der Bundesregierung ganz offensichtlich unerträglich geworden, und deshalb will sie sie abschaffen. Das Grundrecht auf politisches Asyl ist ein Recht, das wie kaum ein anderes den Stand einer Gesellschaft in Sachen Humanität widerspiegelt.
Wir alle wissen, daß die Situation in erster Linie für die Flüchtlinge, aber auch für Kommunen, die durchaus bereit sind, zu einer menschenwürdigen Unterbringung beizutragen, nicht unkompliziert ist. Dennoch sagen wir: Es ist eine Frage des politischen und ökonomischen Willens, das zu bewältigen. Toleranz, wie sie letzte Woche von allen gefordert wurde, bewiese sich genau in der Bewältigung dieser Probleme, ohne sie auf dem Rücken der betroffenen Flüchtlinge auszutragen.
Frau Lederer, einen Augenblick bitte! — Ich möchte die Damen und Herren Abgeordneten bitten, entweder Platz zu nehmen oder den Plenarsaal zu verlassen; denn so können wir die Debatte nicht weiterführen.
Dieser Pegel an Lautstärke zeigt mir, daß hier offensichtlich eine Übereinstimmung darin besteht, diesen Kurs tatsächlich einzuschlagen, also das Asylrecht abzuschaffen. Das zeigt der Öffentlichkeit schlicht, wie weit es gekommen ist. Genau das ist die Situation hier.
Ein Grundrecht wie das Asylrecht bewährt sich dann, wenn Menschen Zuflucht suchen, also heute und nicht 1953, als nur wenige in dieses Land wollten, von dem der Zweite Weltkrieg und der Holocaust ausgegangen waren.Wenn sich die F.D.P. — wie vorhin Herr Solms — gegenüber der Koalition damit brüstet, das Individualrecht, also den gerichtlich einklagbaren Anspruch jedes Asylantragstellers auf Prüfung seines Antrages, durchgesetzt zu haben, so ist diese Behauptung einfach gelogen; denn es ist nicht so. Im gesamten Text ist davon an keiner Stelle die Rede.Viel schlimmer: Nach einem ablehnenden Schnellbescheid sollen diese Menschen sofort in ihr Heimatland, den Verfolgerstaat, abgeschoben werden. Purer Zynismus ist der Hinweis, verwaltungsgerichtliche Klagen könnten dann vom Heimatland aus betrieben werden. Man stelle sich einmal vor: Eine abgeschobene Kurdin, deren Folterung einem deutschen Gericht für die Anerkennung bekanntlich nicht ausreicht, soll eine unanfechtbare Klage von der Türkei, von Diyarbakir, aus verfolgen. Das ist nicht nur eine absurde und zynische Vorstellung, sondern ein ganz tiefer Einschnitt in die Rechtswegegarantie des Art. 19 des Grundgesetzes
und damit ein tiefer Einschnitt in die demokratische Kultur dieser Gesellschaft.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9581
Andrea LedererDer Angriff auf Art. 16 bedeutet, Humanität aktuellen außen- und innenpolitischen Erwägungen unterzuordnen. Dafür stehen die beabsichtigten Länderlisten.Ich komme noch einmal auf die Diskussion im Zusammenhang mit dem SPD-Parteitag zurück. Ich sagte schon, daß ich in der heutigen Debatte durchaus eine Provokation gegenüber der SPD zu erkennen vermag. Um so bedauerlicher sind die vorschnellen Äußerungen von Sozialdemokraten heute morgen, daß dieser Antrag begrüßt wird; dieser Antrag stelle einen verhandlungsfähigen Kompromiß dar. Es ist zuzugestehen, daß der Antrag nicht ungeschickt die Vorschläge der SPD-Führung aufzugreifen versucht, was ihn allerdings nicht um einen Deut akzeptabler macht.Eines ist für mich aber prinzipiell nicht nachvollziehbar — darauf sind Sie, Herr Klose, bereits eingegangen —: Wie kann der Plan der SPD-Führung, eine sogenannte Änderung des Art. 16 mitmachen zu wollen, tatsächlich beabsichtigt sein — wenn der Sonderparteitag zustimmt — angesichts der Tatsache — Sie haben bereits Beispiele erwähnt —, daß mindestens 6 000 Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei während des deutschen Faschismus ins Exil gehen mußten?
Wie kann dies — betrachten Sie es zunächst nur moralisch — eigentlich begründet sein?
— Ich halte mich nicht zurück. Wir wollen genau diese Diskussion führen, und genau hierauf wollen wir eine Antwort auch von Ihnen haben.
— Es geht um den von Ihnen immer wieder bemühten Rechtsstaat, um die von Ihnen immer bemühte Demokratie. Wir sind hier auf dem besten Weg, in zentralen Fragen einen massiven Demokratieabbau und eine massive Entwicklung nach rechts zu erleben. Das haben Sie zu verantworten! Wenn auch die SPD noch mitmacht, dann kann ich nur „gute Nacht" zu diesem Land sagen. Dann wird das, was Sie hier reden, im Hinblick auf das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland Früchte tragen; das garantiere ich Ihnen.Ein Nein zu diesem Antrag heute ist nicht ein Nein zu einem x-beliebigen CDU-Antrag; es ist ein Nein zum Rassismus.
Es ist ein Nein zu den täglich stattfindenden Angriffen auf Flüchtlinge und Menschen aus anderen Ländern. Es ist nicht zuletzt ein Gebot elementaren menschlichen Anstands.
Wir fordern alle politischen Parteien auf, die Debatte über die Änderung, die Aufhebung oder den angeblichen Mißbrauch des Asylrechts sofort zu beenden. Der Art. 16 des Grundgesetzes muß so bleiben, wie er ist; er darf nicht angetastet werden.
Frau Lederer, es war nicht genau zu hören. Aber wenn Sie gesagt haben sollten, dieser Antrag sei rassistisch, dann muß ich Ihnen sagen: Diesen Ausdruck weise ich in bezug auf den Entschließungsantrag zurück.
Nehmen Sie dazu bitte Stellung.
Ich wiederhole, was ich gesagt habe. Ich habe gesagt: Ein Nein zu diesem Antrag ist ein Nein zum Rassismus.
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Bötsch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heutigen Debatte im Deutschen Bundestag kommt aus der Sicht unserer Bevölkerung eine besondere Bedeutung zu. Die Lösung des Problems des Asylmißbrauchs ist in den Augen unserer Bürgerinnen und Bürger derzeit die Frage mit dem größten Gewicht. Deshalb ist es so wichtig, daß durch die heutige Debatte und die heutige Diskussion endlich Perspektiven für eine wirkliche und dauerhafte Lösung erkennbar werden.
Um so mehr bedauere ich es, daß sich die SPD dieser Debatte inhaltlich verweigert.
Ich kann verstehen, daß manchen in der SPD die heutige Abstimmung über den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen unangenehm ist. Die Rechtfertigung, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, vor dem eigenen Parteitag enthebt Sie aber nicht Ihrer Verantwortung als frei gewählte, dem eigenen Gewissen unterworfene Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
An der Abstimmung nicht teilzunehmen ist Flucht aus der Verantwortung
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9582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Wolfgang Bötschund zeugt von schlechtem parlamentarischen Verständnis; es ist schlicht und einfach unparlamentarisch.
So fördern Sie nicht das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie,
das wir doch alle brauchen.Meine Damen und Herren, ich bin gestern einige Male gefragt worden, ob es so etwas im Deutschen Bundestag schon einmal gegeben habe. Ich habe dann etwas darüber nachgedacht,
und mir ist etwas eingefallen, nämlich das Mißtrauensvotum 1972, als sich die SPD ebenfalls nicht an der Abstimmung beteiligt hat, weil sie den eigenen Reihen nicht getraut hat. Das ist mir als Vergleich eingefallen.
Meine Damen und Herren, weil die CSU-Anzeigen hier erwähnt worden sind, will ich etwas dazu sagen. Herr Kollege Klose, ich habe von 1974 bis 1976 dem Bayerischen Landtag angehört, gehöre seit 1976 dem Deutschen Bundestag an und war vorher fünf Jahre Mitglied des Würzburger Stadtrates. Es gibt keine einzige Entschließung, keine einzige Entscheidung und keine einzige Abstimmung, die ich dort getroffen oder an der ich teilgenommen habe, deren ich mich schämen müßte und die das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hätte.
Parlamentarische Abstimmungen sind keine geheime Kommandosache;
nein, sie sind öffentlich, und selbstverständlich können ihre Ergebnisse nach einer Bundestagsdebatte auch veröffentlicht werden.Wo, meine Damen und Herren, war eigentlich Ihr Aufschrei im Jahre 1983, als vor der Abstimmung im Deutschen Bundestag über den NATO-Doppelbeschluß Pressionen auf die Abgeordneten ausgeübt wurden, sich so oder so zu verhalten, mit Mahnwachen vor den Häusern, mit Todesrunen auf den Gehsteigen vor den Häusern? Da habe ich nichts von Ihnen gehört, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Dr. Bötsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Bitte sehr.
Herr Kollege Bötsch, begreifen Sie eigentlich nicht, daß es bei dieser Anzeigenkampagne nicht darum geht, eine Abstimmungsfrage und ein Abstimmungsergebnis zu veröffentlichen, sondern daß Sie durch diese Anzeigen Abgeordnete in derselben Weise an einen Pranger stellen, wie es früher bei der Raketendebatte, wo Sie es angegriffen haben, der Fall war? Machen Sie nicht in einer üblen Weise genau das, was Sie Ihren politischen Gegnern immer vorgeworfen haben?
Herr Kollege Hirsch, ich habe mich auch nicht meines Abstimmungsverhaltens im November 1983 zu schämen, habe mich aber damals dagegen gewandt, daß man vorher versucht hat, auf mein Abstimmungsverhalten Pressionen auszuüben. Hier geht es nur darum, Abstimmungsverhalten öffentlich zu machen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Darauf möchte ich doch hingewiesen haben.
Herr Abgeordneter Dr. Bötsch, gestatten Sie weitere Zwischenfragen? — Nein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es rächt sich bitter, daß Sie sich so lange in der Sache verschlossen haben. Darum geht es heute.
— Da gibt es wirklich nichts zu lachen. Verfahrensänderungen, Personalaufstockungen, organisatorische Maßnahmen und alles andere, was wir versucht haben, haben nichts genutzt, meine Damen und Herren,
Wir haben es nur deshalb versucht, weil Sie sich einer Verfassungsänderung verweigert haben und bis zum heutigen Tage verweigern.
Ihr Parteivorsitzender hat auf dem Kongreß der IG Metall vorgestern gesagt: Kommen wir heute nicht zu wirksamen dauerhaften Lösungen, werden morgen ganz andere entscheiden, und dies in ganz anderem Sinne, als wir es uns vorstellen. — Das war an Ihre Adresse gerichtet, meine Damen und Herren. Insofern sollten Sie Ihrem Parteivorsitzenden heute folgen und heute hier unserer Entschließung zustimmen; das ist der Punkt.
Auch wir wissen, daß eine Entschließung noch keine Änderung des Grundgesetzes ist
und natürlich noch nicht die gesetzlichen Voraussetzungen selbst schafft;
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstau, den 15. Oktober 1992 9583
Dr. Wolfgang Bötsch
sie ist aber ein wichtiger Weg zur Grundgesetzänderung. Wir sind diesen Weg gemeinsam in der Koalition nur gegangen, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern und zu einer Gesetzesformulierung zu kommen. Darum geht es jetzt.
Wenn es Ihnen lieber ist: Ich stelle es Ihnen frei, zum fertigen Entwurf der Verfassungsänderung, wie er von der CSU formuliert ist, Stellung zu nehmen, falls Sie nicht zu einer Entschließung Stellung nehmen wollen. Sie haben dazu ja durchaus die Möglichkeit.
Der Kollege Dr. Solms und der Kollege Dr. Schäuble haben die einzelnen Vorschläge konkret dargestellt und erläutert. Ich kann mir das deshalb ersparen. Ich betone nur noch einmal, damit es auch da keinen Irrtum gibt: Wirklich politisch Verfolgte im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sollen auch weiterhin Asyl in der Bundesrepublik Deutschland erhalten. Aber besonders wichtig ist, wie der Kollege Solms gesagt hat, die künftige Möglichkeit, aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen sofort vollziehen zu können. Das ist der Punkt, um den es im Endefffekt in der Spitze geht.
Da haben wir — F.D.P. und CSU — eine Meinungsverschiedenheit, nämlich die, ob das besser in einem schnellen — darüber sind wir uns einig — gerichtlichen Verfahren geht, oder ob man hier nicht besser unabhängige Beschwerdeausschüsse einrichtet. Die Entschließung läßt dies offen; das hat der Kollege Solms heute noch einmal eingeräumt. Frankreich hat diese Beschwerdeausschüsse. Wir können doch nicht sagen, daß in Frankreich deshalb eine demokratische oder rechtsstaatliche Entwicklung minderen Ranges im Gange ist.
Das ist doch entscheidend. Deshalb müssen wir im Rahmen des Verfahrens darüber noch einmal ganz, ganz ernsthaft sprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in unserer Entschließung ist auch die Frage angesprochen, ob allein mit dem Asylrecht die Probleme zu lösen sind. Nein, wir können damit sicherlich nicht alle Probleme lösen. Kollege Dr. Schäuble, unser Fraktionsvorsitzender, hat auf die Not in den Herkunftsländern hingewiesen und betont, daß die Not dort beseitigt werden muß. Ich sage: Unsere Bevölkerung wird dies auch mitmachen. Sie wird bereit sein, dafür mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, wenn wir damit einen Teil der Asyl- und der Zuwanderungsproblematik lösen können.
An diese Aufgaben müssen wir herangehen. Wir jedenfalls sind dazu bereit.
Aber dazu brauchen wir kein besonderes Gesetz; all das können wir mit den bisherigen ausländerrechtlichen Bestimmungen regeln. Damit ist die in dem Entschließungsantrag angesprochene Prüfung für uns im Grunde genommen abgeschlossen.
Aber man kann es natürlich trotzdem noch einmal im Detail einer Überprüfung unterziehen.
Unsere Bürgerinnen und Bürger müssen die Gewißheit und das Zutrauen haben, daß die Asylverfahren zügig und nach rechtsstaatlichen Grundsätzen abgewickelt werden und daß Deutschland nicht hilflos Wanderungsströmen und Schlepperorganisationen ausgeliefert ist. Deshalb muß der Mißbrauch des Asylrechts so bald wie möglich, am besten noch in diesem Jahr, durch die notwendigen Grundgesetzänderungen abgestellt werden.
Die Entschließung der Koalitionsfraktionen zeigt die notwendigen Lösungswege auf. Ob am Ende dieses Weges der Erfolg steht, hängt von der Formulierung und der Entscheidung über den konkreten Text des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ab. Das wird die eigentliche Nagelprobe für dieses Parlament sein. Vorschläge dazu liegen als Grundlage für die Gespräche zwischen den gutwilligen demokratischen Parteien vor.
Meine Damen und Herren, ich appelliere noch einmal an die SPD: Wenn Sie sich heute hier schon nicht an der Abstimmung beteiligen — eine Stimmenthaltung hätte ja vielleicht noch einen Sinn gemacht; aber eine Nichtbeteiligung an der Abstimmung ist wirklich ein eigenartiger Vorgang in diesem Parlament —, sollten Sie wenigstens endlich die Gespräche aufnehmen, den Eiertanz beenden und konkret mit uns verhandeln, damit wir so bald wie möglich zu einer Änderung des Grundgesetzes kommen.
Ich bedanke mich.
Als nächster spricht der Abgeordnete Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Asyldebatte, wie sie gegenwärtig in Deutschland geführt wird und wie sie sich im vorliegenden Antrag der Koalitionsparteien widerspiegelt, ist schäbig und demagogisch.
Die Probleme, mit denen sich die Gemeinden und Städte herumschlagen und die die Atmosphäre in Deutschland vergiften, haben ihre Ursache nicht im Grundrecht auf Asyl,
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9584 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Konrad Weiß
sondern in der Handlungsunfähigkeit der Exekutive.
Schlimmer noch: Es gibt inzwischen Hinweise darauf, daß diese Debatte instrumentalisiert wird, um vom Mißlingen der deutschen Einigung abzulenken.
Wie anders ist zu erklären, daß in Rostock und anderswo die unzumutbaren Zustände bei der Unterbringung von Asylbewerbern so lange hingenommen wurden, bis es zu dieser Tragödie gekommen ist? Wie anders ist die vielfache Duldsamkeit der Polizei gegenüber rechtsradikalen Terroristen zu begreifen und wie die verbreitete Desinformation über die tatsächlichen Ursachen und über die tatsächliche Situation?Auf all das Schändliche, das seit Monaten in Deutschland geschieht, hat die Bundesregierung, haben die CDU und die CSU und nun auch die F.D.P. — und ich frage mich: nun auch die SPD? immer nur die eine stereotype Antwort: Das Asylrecht muß geändert werden. Gerade in der gegenwärtigen Situation ist das verantwortungslos und bestärkt jene, die Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit predigen und praktizieren. Diese Forderung hat längst etwas Irrationales und Abstruses; denn niemand wird mir erklären können, daß die 400 000 unbearbeiteten Asylbewerbungen durch die Änderung des Grundgesetzes abgearbeitet würden. Niemand wird ernsthaft Argumente vorbringen können, daß dadurch auch nur ein Flüchtling weniger nach Deutschland kommen wird. Niemand wird glaubhaft machen können, daß die oftmals unwürdigen Verhältnisse in Aufnahmelagern und Asylbewerberheimen dadurch menschenwürdig werden. Niemand wird nachweisen können, daß durch die Änderung des Grundgesetzes der rechtsradikale Terror gestoppt und der passiven und aktiven Fremdenfeindlichkeit in Deutschland Einhalt geboten werden kann.Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist der festen Überzeugung: Nicht das Menschenrecht auf Asyl muß aufgegeben werden, sondern die sträfliche Passivität von Regierung und Behörden.
Wir bekennen uns ohne Wenn und Aber, Herr Kollege Schäuble, zum Satz des Grundgesetzes: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."
Wir wissen uns darin einig mit zahllosen deutschen Bürgerinnen und Bürgern. Wir wissen uns einig mit ihnen in der Verantwortung, dieses Menschenrecht mit aller Kraft zu verteidigen und nicht zuzulassen, daß es parteipolitischen Interessen geopfert wird.
Wer ein so grundlegendes Menschenrecht wie das auf Asyl antastet, gefährdet unser Gemeinwesen und unsere Demokratie. Wer so handelt, ist verfassungsfeindlich.
Ich beziehe mich auf Art. 79 und Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes, auf die Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes.Überall in Deutschland, meine Damen und Herren, haben sich nach den feigen Terrorangriffen auf ausländische Frauen, Männer und Kinder Bürgerinnen und Bürger gefunden, um Art. 16 Abs. 2 unseres Grundgesetzes Verfassungswirklichkeit werden zu lassen. Sie haben den Schutz von Ausländerinnen und Ausländern übernommen, wenn Polizei und Behörden ihn verwehrten. Sie haben Menschen geholfen und ermutigt und in Wort und Tat Menschlichkeit bewiesen. Sie haben dort gehandelt, wo Politiker und Beamte versagten. Ich bin mir gewiß: Würde man die Deutschen fragen, ob der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" aufgegeben werden soll, so würde die Mehrheit dieses Ansinnen empört zurückweisen.
Das bedeutet nicht, daß sie und wir, die das Asylrecht mit aller Kraft verteidigen, blind wären für die Probleme, die durch die große Anzahl von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Einwanderern, die in Deutschland Zuflucht suchen, entstehen. Wir sehen, daß unter den vielen manche sind, die das Asylrecht mißbrauchen. Aber es ist eben kein Mißbrauch, Herr Schäuble, wie uns weisgemacht werden soll, wenn sich Menschen, die vor Verfolgung, vor Krieg und Bürgerkrieg, vor Hunger und Not geflohen sind, in unserem reichen Land das Überleben erhoffen.
Nicht die Flüchtlinge sind für die Mißstände verantwortlich, sondern diese handlungsunfähige Regierung ist es.
Viele Probleme ließen sich bereits durch eine konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze lösen. Daß so viele Asylanträge unbearbeitet sind, ist ein Skandal, ein politisch gewollter Skandal. Ich glaube nicht mehr an die immer beschworene Überlastung der Behörden, an die Überforderung der Kommunen, an die hundert anderen Vorwände. Ich sage: Das ist gewollt. Der Unmut der Bürgerinnen und Bürger ist gewollt, die Fremdenfreindlichkeit ist gewollt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9585
Konrad Weiß
Diese Gesellschaft will nicht teilen. Diese Gesellschaft will ihren Besitz und ihren Wohlstand verteidigen — um jeden Preis.
Wenn wir nicht umkehren, meine Damen und Herren, wird im Land der Deutschen wieder die Demokratie sterben. Ein grundsätzlicher Wandel unserer Immigrationspolitik ist nötig. Das aber ist auch unterhalb einer Verfassungsänderung möglich. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat dazu konkrete Vorschläge unterbreitet, die dem Deutschen Bundestag seit Monaten vorliegen. Unser Vorschlag zu einem Niederlassungsgesetz hat Wege gewiesen, wie den bereits in Deutschland lebenden Ausländern und Ausländerinnen die rechtliche Gleichstellung ermöglicht wird. Zusätzlich haben wir einen Vorschlag für die längst fällige Neubestimmung des Staatsbürgerbegriffes vorgelegt.Unser Flüchtlingsgesetz schafft Voraussetzungen für die konsequente Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention. Das Einwanderungsgesetz, das die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gleichfalls in den Deutschen Bundestag eingebracht hat, will endlich der unübersehbaren Tatsache, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist und bleiben wird, gerecht werden. Wir wollen eben kein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, wie es im Antrag der Koalition demagogisch heißt. Zuwanderungsbegrenzung, das bedeutet im Klartext: Deutschland den Deutschen und Ausländer raus!
Wir wollen eine geregelte Einwanderung. — Ich schäme mich
für die rechtsradikalen Angriffe! Ich schäme mich dafür, daß ein Grundrecht aufgegeben werden soll,
das Sie beschwören, aber nach dem Sie nicht handeln wollen!
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat in ihrem Entschließungsantrag weitere Vorschläge für eine humane Flüchtlings- und Einwanderunspolitik unterbreitet. Es bleibt mir nicht die Zeit, alle unsere Vorschläge auch nur aufzuzählen.Wir sind bereit zum Gespräch, und wir sind auch offen für Vorschläge, aber wir werden nicht daran mitwirken, das Menschenrecht auf Asyl zu beschädigen. Die Erkenntnis, daß Menschenrechte unteilbar sind, haben wir in der DDR in einem mühevollen und schmerzlichen Prozeß erlangt. Diese Erkenntnis ist das Vermächtnis des Deutschen Herbstes.Wir sind das erste Parlament im wiedervereinigten Deutschland und haben danach zu handeln. Wir fordern die Bundesregierung entschieden auf und bitten Sie, die Abgeordneten des deutschen Volkes, die Blockade gegen die Menschlichkeit aufzugeben und umzukehren — —
zu den Grundwerten von Demokratie und Humanität.
Das Wort zu einer Kurzintervention nach diesem Beitrag hat Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Der letzte Redner hat eben gesagt — und ich fühle mich angesprochen, weil ich diesem Antrag zugestimmt habe und auch zustimmen werde —, wer sich so entscheide, dem müsse man unterstellen, Fremdenfeindlichkeit ist gewollt.
Ein Parlamentarier, der anderen das vorwirft, begibt sich nicht nur außerhalb der Gemeinschaft der Parlamentarier, sondern auch außerhalb der Gemeinschaft aller anständigen Menschen in Deutschland.
Ich erteile jetzt das Wort dem Bundesminister des Innern, Herrn Seiters, und denke, daß wir hier nicht weiter zu dieser Intervention, die wichtig ist, Stellung nehmen, sondern daß sie wirkt auf uns alle.
— Sie ist wichtig in der Aussage. Ich sage hier auch als Parlamentspräsidentin für unser gesamtes Parlament, daß Fremdenfeindlichkeit nicht gewollt ist.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn der Deutsche Bundestag heute seinen Willen bekundet, daß unsere Verfassung geändert werden soll, damit erstens die wirklich politisch Verfolgten schnell anerkannt werden, zweitens die nicht politisch Verfolgten keinen Anreiz erhalten, zur Asylantragstellung in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, und drittens die Asylbewerber, die sich zu Unrecht auf Asyl berufen, rasch in ihre Heimatländer zurückgeführt werden, dann entspricht dieser Beschluß dem Willen und der Erwartungshaltung des ganz überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung.
Wenn wir nicht wollen, daß Radikale und Extremisten von einer Situation profitieren, die von vielen Menschen in unserem Lande in den Gemeinden und
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9586 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Bundesminister Rudolf SeitersKreisen als besorgniserregend, beängstigend und unerträglich empfunden wird, dann müssen die demokratischen Parteien endlich eine überzeugende Antwort geben auf einen offensichtlichen Asylmißbrauch und die Verfassung unter voller Wahrung der Genfer Flüchtlingskonvention ändern.Ich sage, ein Parlament kann auf Dauer keine Politik machen gegen den erkennbaren Willen des Volkes.
Ich habe bereits bei der Beratung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes meine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß auch die achte Beschleunigungsnovelle das Asylproblem nicht lösen könne.
Nach der geltenden Rechts- und Verfassungslage müssen wir jedem Asylbewerber ein aufwendiges Prüfungsverfahren garantieren, verbunden mit einem vorläufigen Bleiberecht und den entsprechenden Sozialhilfeansprüchen, und dies bei einer Steigerung von 120 000 Asylbewerbern im Jahre 1989 über 256 000 im vergangenen Jahr bis hin zu voraussichtlich 450 000 im Jahre 1992. Einer solchen Herausforderung ist kein anderes europäisches Land ausgesetzt. Dieser unkontrollierte Zustrom ist bei der geltenden Rechts- und Verfassungslage der Bundesrepublik Deutschland weder von den Ausländerbehörden der Länder noch von den Gerichten noch vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu bewältigen.Meine Damen und Herren, in dem gleichen Zeitraum, da in einer großen Kraftanstrengung und mit einer Rekordzahl das Bundesamt 140 000 Asylanträge entschieden hat, sind zusätzlich 274 000 Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Mittlerweile sind es im Jahre 1992 bereits 340 000.Herr Kollege Klose, Sie haben von den „Altfällen" gesprochen. Ich bitte, diesen Ausdruck wirklich einmal zu überprüfen. Wenn 400 000 Anträge in Zirndorf nicht entschieden sind, aber allein in diesem Jahr 340 000 Asylbewerber gekommen sind, dann können Sie sich sehr schnell ausrechnen, daß über 85 % der Fälle, die in Zirndorf liegen, in den letzten Monaten entstanden sind.
Ich sage noch einmal: Es geht um die Ausländerbehörden der Länder, es geht um das Bundesamt, aber es geht auch um die Verwaltungsgerichte, denn bei den Verwaltungsgerichten liegen mit steigender Verfahrensdauer 100 000 unentschiedene Rechtsmittelverfahren, und auch diese Zahl wird sich weiter erhöhen.Es geht somit nicht allein um die Beschleunigung, Verkürzung und Vereinfachung der Verwaltungsentscheidungen, sondern auch um die Entlastung derGerichte. Sonst bricht uns das gesamte Verfahren zusammen, meine Damen und Herren.
In diesem Zusammenhang noch eine zweite kurze Bemerkung, Herr Kollege Klose. Ich habe in der Vergangenheit die Länder nie angegriffen, weil sie ihre Zusagen nicht haben erfüllen können. Ich sehe auch die Schwierigkeiten der Länder. Aber ich bitte doch wirklich, jetzt einmal zu sehen, daß, obwohl die Absprache lautete, daß die Sammeleinrichtungen, die Erstaufnahmelager, am 1. Juli 1992 eingerichtet sein sollten, Hessen seine Standorte in Gießen und Gelnhausen erst am 1. Februar 1993, Nordrhein-Westfalen einen Standort mit 1 850 Plätzen erst zum 1. April 1993 und Rheinland-Pfalz die Standorte in Neustadt und Trier ebenfalls erst zum 1. April 1993, einrichten. Dies bedeutet, daß ich, wenn keine Standorte und keine Sammelaufnahmeeinrichtungen da sind, dann auch keine Außenstellen einrichten kann, und wenn ich keine Außenstellen habe, kann ich auch keine Beamten dort hinschicken. Und wer sich für Bamberg interessiert, interessiert sich noch lange nicht für Augsburg.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kolbow?
Nein.
— Was die Entscheider betrifft, hat auch das Bundesamt seine Probleme ja, aber das Land Hessen — ich nenne dieses Beispiel — hatte sich verpflichtet, zum 1. Juli 1992 37 qualifizierte Entscheider zu benennen. Es hat 20 Vorschläge gemacht, von denen sich elf als geeignet herausgestellt haben. Ich könnte auch andere Länder als Beispiele anführen. Lassen Sie uns bitte mit dem Schwarzen-Peter-Spiel aufhören. Nach der geltenden Rechts- und Verfassungslage ist das Problem ohne eine Änderung unserer Verfassung nicht zu lösen.
Ich möchte nochmals fragen, ob Sie jetzt eine Zwischenfrage zulassen.
Nein.Meine Damen und Herren, da wir wollen, daß politisch Verfolgte im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland auch weiterhin als Asylberechtigte anerkannt werden, frage ich: Wer will eigentlich ernsthaft Einwände dagegen erheben, daß eine Asylgewährung grundsätzlich ausgeschlossen sein muß, wenn auf Grund völkerrechtlicher Verträge ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und dieser die Genfer Flüchtlingskonvention beachtet? Wer will ernsthaft Einwendungen erheben, daß wir von der Asylgewährung ausschließen, wenn der Ausländer ein schweres nichtpolitisches Verbrechen im Sinne des Art. 1 der Genfer
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Bundesminister Rudolf SeitersFlüchtlingskonvention begangen hat? Wo gibt es ernsthafte Argumente dagegen, daß unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention in einem verkürzten und vereinfachten Verfahren beschieden wird, wer aus einem verfolgungsfreien Herkunftsland oder aus einem sicheren Drittstaat oder aus einem Land kommt, in dem er in einem rechtsstaatlichen Verfahren und nach den Maßstäben der Genfer Flüchtlingskonvention bereits als Asylbewerber abgelehnt wurde? Ich kann solche Argumente nicht erkennen.
Ich kann auch nicht erkennen, warum wir zulassen sollten, daß jemand, der erklärt, er werde politisch verfolgt, nach glücklichem Erreichen der Bundesrepublik Deutschland die Stellung seines Asylantrags grundlos verzögert oder seine Mitwirkungspflichten, etwa zur Feststellung seiner Identiät, in gröblicher Weise verletzt. Ich erwarte im übrigen von dem, der angeblich politisch verfolgt wird, daß er alles tut, um seine Anerkennung als politisch Verfolgter in der Bundesrepublik Deutschland möglichst schnell zu erreichen. Ich erwarte auch, daß er in dem Land, in dem er Zuflucht sucht und Heimstatt finden möchte, keine Straftaten begeht.
Ich verweise noch einmal auf die Hunderttausende von unentschiedenen Fällen bei den Verwaltungsgerichten. Es geht sowohl um die Verwaltungsentscheidung als auch um die anderen Dinge. Das schnellste Verwaltungsverfahren ist letztlich wirkungslos, wenn auch in offensichtlich aussichtslosen Fällen die Aufenthaltsbeendigung hinausgezögert werden kann. Deshalb ist es notwendig, daß in den offensichtlich aussichtslosen Fällen — so steht es im Entschließungsantrag — „aufenthaltsbeendende Maßnahmen sofort vollzogen werden können" . Dies ist aus meiner Sicht der entscheidende Schlüssel für die Lösung des Problems.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Verhalten anderer europäischer Staaten, die sich ebenfalls zur Genfer Flüchtlingskonvention und zur Europäischen Menschenrechtskonvention bekennen. Ich verweise auf die Länder Frankreich und Belgien, auf die Schweiz, die etwa Polen, Rumänien, Bulgarien, Indien auf eine Liste verfolgungssicherer Herkunftsländer gesetzt haben. In Deutschland liegt jetzt schon die Anerkennungsquote für Rumänien bei 0,17, für Bulgarien bei 0,1, für Indien und Polen bei 0,0. Ähnliches gilt für Nigeria, Ghana, Zaire und andere. Aus diesen Ländern einschließlich Indien sind allein in diesem Jahr bereits 25 000 Asylbewerber in die Bundesrepublik gekommen.
Sicherlich ist es notwendig, bei einer Diskussion über eine Änderung des Grundgesetzes die Erfahrungen, die für die Schaffung des Asylrechtsartikels maßgeblich waren, wachzuhalten und zu beherzigen. Aber auch unsere westeuropäischen Nachbarn haben eine demokratische und eine Asyltradition, zum Teillänger als die Bundesrepublik Deutschland. Wir werden es auf Dauer nicht durchhalten, beim Asylrecht einen Sonderweg zu gehen, der uns von den anderen europäischen Staaten isoliert und alle Verhandlungen blockiert, die auf die Harmonisierung des europäischen Asylrechts gerichtet sind.
Wer das Bekenntnis zu Europa und zur internationalen Zusammenarbeit bei der Bewältigung der Asyl- und Flüchtlingsprobleme ernstnimmt, muß auch bereit sein, nationale Regelungen aufzugeben, um den europäischen Weg voll mitzugehen.
Meine Damen und Herren, der heutige Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der F.D.P. bietet einen guten Ansatz, den Weg für eine baldige Verständigung über die notwendige rechtliche Ausgestaltung der Grundgesetzänderung freizumachen. Auch eine Verfassungsänderung löst nicht alle Probleme, aber ohne eine Änderung des Grundgesetzes werden wir von den Problemen überrollt. Deswegen plädiere ich leidenschaftlich dafür, die Sorgen unserer Bevölkerung ernstzunehmen und den Staat auch in diesem Bereich wieder handlungsfähig zu machen. Dazu brauchen wir schnellstmöglichst die Änderung unserer Verfassung.
Der Abgeordnete Ullmann hat sich zur Geschäftsordnung gemeldet.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Laut § 52 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages beantrage ich von seiten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über den von uns eingebrachten Entschließungsantrag namentliche Abstimmung. Als Gruppe können wir nur an Sie appellieren. Wir tun das im Gefühl der tiefen Beunruhigung, daß von Ihnen ein Antrag zur Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes eingebracht wird, ohne daß Sie sich wörtlich darüber erklären, welche Änderung vorgesehen ist, wie es unsere Verfassung vorschreibt.
Wollen Sie es so weit kommen lassen, daß dieses Hohe Haus jemanden wie mich an ein ganz anderes deutsches Parlament erinnert,
das am 11. August 1960 einen Beschluß gefaßt hat, daß es mit allen Maßnahmen der Regierung einverstanden sei, ohne daß ein einziges Wort dazu gesagt wurde, welche es seien.Wenn Sie unsere Beunruhigung nicht verstehen und unseren Antrag ablehnen, wird der Öffentlichkeit einmal mehr dokumentiert sein, daß Sie keine Klärung wollen und dazu auch gar nicht mehr in der Lage sind.
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Dr. Wolfgang UllmannDie Hauptursache sehe ich in jener hartherzigen Selbstgerechtigkeit, die den Worten des Grafen Lambsdorff zu entnehmen sind.
Ich teile die Anstandsvorstellungen von Konrad Weiß, aber nicht die des Grafen Lambsdorff.
Herr Ullmann, Sie haben einen Antrag auf namentliche Abstimmung eingebracht. Haben Sie dafür die erforderlichen Unterschriften bzw. die Unterstützung ihrer Gruppe?
Ich bitte um Abstimmung, Frau Präsidentin.
Wir werden über Ihren Antrag nach der Aussprache abstimmen und jetzt zunächst die Aussprache weiterführen.
Das Wort zur Kurzintervention hat der Abgeordnete Kolbow.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wähle die Form der Kurzintervention zwangsläufig, weil der Herr Bundesinnenminister mir nicht die Möglichkeit gegeben hat, eine Frage an ihn zu richten. Ich wollte die Frage an ihn richten, warum er, der intellektuellen Redlichkeit entsprechend, nicht z. B. auch das Bundesland Bayern bei seinen Negativaufzählungen erwähnt hat. Dies frage ich nicht, um aufzurechnen, sondern möchte um der intellektuellen Redlichkeit willen, den Herrn Minister bitten, auch zu anderen Ländern Stellung zu nehmen und mir die Fragen zu beantworten: Warum waren z. B. im Freistaat Bayern die Sammelunterkünfte vom Bund erst im September übergebbar? Warum dauert im Freistaat Bayern die Besetzung der Unterkünfte mit Asylbewerberinnen und Asylbewerbern bis zum Frühjahr 1993?
Ich hätte auch gerne noch gewußt, Herr Bundesinnenminister, ob Sie Kenntnis davon haben, daß im Freistaat Bayern Asylbewerberinnen und Asylbewerber, deren Aufenthaltsberechtigung erkennbar abgelaufen war, die ausländerrechtlich keine Duldung mehr erfahren, nicht abgeschoben werden, wie es rechtlich sofort möglich wäre.
Mir drängt sich der Eindruck auf, daß Sie aus Ihrer Sicht als Bundesinnenminister eine unerlaubte Begleitung des taktischen Zieles des CDU/CSU-F.D.P.-Antrags unternehmen, indem Sie die SPD nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich in einen Nachteil bringen, was unter Demokraten unanständig ist.
Herr Bundesminister Seiters zur Gegenantwort.
Herr Kollege Kolbow, Sie haben völlig recht, daß auch andere Länder — auch CDU- und CSU-geführte Länder — ihre Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes haben.
Das habe ich doch nie bestritten. Ich habe dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages die ganzen Unterlagen zugeleitet.
— Nun warten Sie doch einmal ab, was ich zu Herrn Kolbow sage. Ich habe vorhin ausdrücklich gesagt, daß ich die Länder nicht angegriffen habe, weil ich deren Schwierigkeiten sehe.
Aber, verehrte Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei und Fraktion, die Bayern haben mich nicht angegriffen, wohl aber die Hessen und die Rheinland-Pfälzer, und dagegen werde ich mich wohl zur Wehr setzen dürfen.
Es hat sehr wohl etwas mit intellektueller Redlichkeit zu tun, wenn ich sage, daß ich die Länder nicht angreife, weil ich deren Schwierigkeiten kenne, wenn ich mich aber gegen aus meiner Sicht ungerechtfertigte Vorwürfe wehre. Die Bayern haben keine ungerechtfertigten Vorwürfe erhoben. Hessen und Rheinland-Pfalz, Herr Scharping und Herr Eichel, haben es aber getan,
und ich bedanke mich für die Gelegenheit, daß ich hier noch einmal diese ungerechtfertigten Angriffe als völlig verfehlt zurückweisen kann.
Eine weitere Kurzintervention vom Abgeordneten Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedaure, daß es am Ende dieser sehr sachlichen Debatte zu dieser Aufgeregtheit, aber auch zu einem Schwarzer-Peter-Spiel kommt, das ich als unwürdig empfinde.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben eine Bemerkung gemacht, die man nicht stehen lassen kann. Wenn Sie die 8. Novelle, das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, für unpraktikabel halten, dann frage ich mich, warum Sie als Bundesinnenminister diesem Gesetz zugestimmt und es mit uns gemeinsam ausverhandelt haben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9589
Dr. Burkhard HirschIch muß Ihnen sagen, daß ich jedenfalls im Innenausschuß zu der Überzeugung gekommen bin, daß Bund und Länder nicht alles getan haben, um dieses Gesetz so schnell wie möglich umzusetzen.
Dazu gehören auch die quälend langsamen Verfahren, in denen leerstehende Kasernen zur Verfügung gestellt werden. Dazu gehört auch das quälend langsame Verfahren, in dem die Länder nicht ihre Zusagen einhalten, uns Entscheider zur Verfügung zu stellen, die freigeworden sein sollten, weil der Bund Aufgaben der Ausländerämter übernimmt. Nein, hier hat keine Seite eine Veranlassung, der anderen irgend etwas vorzuhalten. Die Verwaltung hat dieses Gesetz angepackt wie einen normalen Verwaltungsvorgang, ohne zu erkennen und zu würdigen, welcher Problemdruck hier besteht.Die zweite Bemerkung, die ich machen muß, Herr Innenminister: Sie machen mir die Zustimmung zu der Resolution schwer. Ich stimme der Rede zu, die mein Fraktionsvorsitzender gehalten hat und in der klar gesagt worden ist, daß die Rechtsschutzmöglichkeiten auch in Eilverfahren gegeben sein müssen. Darunter verstehe ich, daß ein Richter eingeschaltet bleibt. Das ist für mich die Grundlage für die Zustimmung zu dieser Resolution.
Herr Bundesminister Seiters,
Herr Kollege Hirsch, zu Ihrer zweiten Bemerkung kann ich nur sagen, daß ich Sie nun wirklich nicht verstehe, denn in allen Punkten, in denen ich zum Entschließungsantrag gesprochen habe, habe ich wörtlich zitiert, was CDU/CSU und F.D.P. als Fraktionen gemeinsam in dieses Haus eingebracht haben, und dazu stehe ich in der Tat nach wie vor.
Die zweite Bemerkung: Ich brauche meine Position nicht zu verändern, die ich hier im Parlament betont habe, als es um das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz gegangen ist. Ich habe damals erklärt — dazu stehe ich nach wie vor —, daß diese 8. Novelle, das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, die Lösung mancher Probleme erleichtern kann, daß sie aber das eigentliche Problem nicht löst.
Ich brauche diese Position nicht zu verändern, und ich weiß nicht, warum ich mir vorhalten lassen muß, daß ich heute genauso rede wie vor einem halben Jahr. Ich möchte das auch für die Zukunft so halten.
Herr Kollege Hirsch, ich schätze Sie persönlich sehr. Ein bißchen leidgeprüft aus den vielen Diskussionen mit Ihnen bin ich aber schon. Wenn Sie mich hier persönlich ansprechen, füge ich hinzu, es wäre gut, wenn Sie die Position schon vor einem halben Jahr bezogen hätten, die Sie persönlich heute mit diesem
Entschließungsantrag einnehmen. Dann wäre manches schneller gegangen.
Eine weitere Kurzintervention der Abgeordneten Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Ullmann, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben Sie eben gesagt, wenn dieses Parlament diesem Entschließungsantrag zustimmt, würde Sie das an ein Parlament erinnern, das Sie aus anderen Zeiten kennen,
Ich stimme diesem Entschließungsantrag nicht zu. Sie wissen, daß sich die Fraktion der SPD an der Abstimmung nicht beteiligt. Wenn Sie aber die Tatsache, daß die Mehrheit in diesem Hause eine andere Meinung hat als Sie, zum Anlaß nehmen, dieses Parlament mit der ehemaligen Volkskammer zu vergleichen, dann weise ich das zurück. Das ist Ausdruck eines totalitären Staatsverständnisses.
Herr Ullmann zur Entgegnung!
Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich fühle mich von Ihnen überhaupt nicht verstanden.
— Ich bitte doch um Aufmerksamkeit. Ich habe hier nicht beanstandet, daß in diesem Haus Leute sitzen, die ganz anderer Meinung sind als ich. Davon gehe ich aus, und das ist normal in einer Demokratie. Ich halte es auch für normal in einer Demokratie, daß man über einen Grundrechtsartikel ganz verschiedener Meinung sein kann. Das nehme ich den Kollegen von der CDU/CSU auch gar nicht übel. Übel nehme ich allerdings, daß uns ein Entschließungsantrag vorgelegt wird, in dem nicht gesagt wird, worum es geht. Das ist mein Punkt.
Letzte Kurzintervention des Abgeordneten Bötsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem es offensichtlich einige Informationslücken gibt, was am 10. Oktober letzten Jahres in Vorbereitung des Beschleunigungsgesetzes vereinbart worden ist, wer damals Zusagen gemacht hat und wer skeptisch war, möchte ich hier eine kurze Bemerkung machen.Im Vorfeld des 10. Oktober 1991, im Sommer letzten Jahres, hat der damalige Bürgermeister Wedemeier aus wahlkampftaktischen Gründen gesagt, er würde mit der Asylproblematik nicht mehr fertig. Daraufhin hat die SPD gesagt, eine Grundgesetzänderung
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9590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Wolfgang Bötschkomme für sie nach wie vor nicht in Frage, sie würde aber von den Ländern aus an Beschleunigungsmaßnahmen mitwirken. Daraufhin hat der Bundeskanzler zu dieser Runde am 10. Oktober eingeladen. Die einzigen, die damals die Zusage gemacht haben, das Verfahren in sechs Wochen zu beenden und ganz schnell Sammellager zur Verfügung zu stellen, waren die Vorsitzenden der SPD, der damals noch im Amt befindliche Fraktionsvorsitzende Vogel und der jetzige Parteivorsitzende Engholm.Skepsis haben damals der Innenminister Dr. Schäuble, Ministerpräsident Teufel, der bayerische Innenminister Stoiber und ich selbst geäußert. Wir haben gesagt: Wir machen es mit, wir probieren es, wir sind aber skeptisch. Jetzt den Bundesinnenminister anzugreifen, weil er die damalige Situation nicht durch Handeln in der Form überwinden konnte, wie Sie es versprochen haben, weil Ihre Länder nicht mitgemacht haben, das ist wirklich ein starkes Stück, meine Damen und Herren.
Ich habe gesagt: Damit ist die Reihe der Kurzinterventionen beendet.
— Das gehört zu unserer Geschäftsordnung; wir haben es miteinander hier im Plenum vereinbart. Wir haben lange darum gerungen.
Jetzt hat der fraktionslose Abgeordnete Ortwin Lowack das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stimme der Entschließung von Union und F.D.P. zu.
Ich tue dies in der Hoffnung, daß sie ein wichtiger Schritt bei der Lösung eines der größten Probleme in Deutschland ist — eines Problems übrigens, das sich die Politik weitgehend selber geschaffen hat. Nur das Verfahren, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist in der Tat abenteuerlich, denn gesetzgeberisch ist dieser Akt ein Nichts, ein Nullum. Das wissen Sie auch. Es ist ein Akt der Selbstdisziplinierung der Regierungskoalition, für die das Plenum nun einmal gebraucht — ich möchte nicht sagen: mißbraucht — wird. Das erinnert mich ein bißchen an eine Verlobungsanzeige, in der steht: Wir haben uns wieder einmal verlobt. Dabei bin ich mir allerdings über die Rolle der CSU noch nicht ganz im klaren.
Es ist ein Affront gegen die Sozialdemokraten, sicher eine Art Häme, der Versuch, den politischen Gegner bloßzustellen und politisches Kapital daraus zu schlagen, weil der eine Parteitag schon stattgefunden hat, der andere aber noch erwartet wird.Es soll vor allen Dingen Entschlußfreudigkeit demonstriert und über die eigenen Fehler der Vergangenheit hinweggetäuscht werden. Lieber Wolfgang Schäuble, es ist wirklich ein Phänomen, wie oft hier große Probleme dargestellt werden, unter denen unsere Menschen zu leiden haben, während die, die in der Politik Verantwortung tragen, so tun, als ginge sie das im Grunde genommen überhaupt nichts an, als wären das Phänomene, die einfach da sind.Ich frage Sie: War es nicht so — vielleicht bin ich falsch informiert —, daß die Fraktion der Union sich auch gegen ihren eigenen Fraktionsvorsitzenden in einer langen Sitzung durchgesetzt hat oder durchsetzen mußte? Ich möchte Sie fragen: Warum ist es denn keine Gesetzesinitiative, die heute eingebracht wird? Warum wird hier der Weg eines Entschließungsantrags gegangen?Die Situation ist gespenstisch; der Innenminister hat dazu Stellung genommen. 15 000 DM kostet ein Asylbewerber, der bei uns bleibt, von vielen anderen Kosten abgesehen. Über eine Million leben bei uns, 450 000 neue werden hiersein — eine steigende Tendenz und vor allen Dingen ein riesiges Potential an Kriminalität. Auch das muß man doch einmal offen ansprechen. Wir können doch nicht permanent so tun, als ob das nicht wahr wäre.Wir wissen, daß heute bis zu 85 % der Dealer aus dem Bereich der sogenannten Asylbewerber kommen. Davor die Augen zu verschließen wäre falsch. Das kann sich dieses Parlament nicht leisten. Wenn dann die Menschen auf die Straße gehen, weil sie glauben, daß die Politik nicht mehr in der Lage ist, die Probleme zu lösen, dann darf die einzige Reaktion aus der Politik nicht die sein, zu schimpfen und zu sagen, man müsse schärfer gegen Gewalt gegen Ausländer vorgehen.
Natürlich müssen wir scharf dagegen vorgehen, aber es muß doch auch klar sein, daß Gewalttaten an Deutschen, daß Kriminalität, die hier von Leuten begangen wird, die unser Gastrecht in Anspruch nehmen, genauso bestraft werden müssen. Das Gastrecht hat in der Tradition unserer Menschen eine große Rolle gespielt. Sie können bis an die Wurzeln zurückgehen und bei Tacitus nachlesen, welche Rolle es gespielt hat. Das setzt aber auch voraus, daß die Menschen, die zu uns kommen, dieses Gastrecht nicht mißbrauchen. Der Asylmißbrauch muß bestraft werden, weil es das Erschleichen öffentlicher Leistungen bei uns ist. Ich bitte, darüber nachzudenken: Dafür braucht man keine Grundgesetzänderung; das könnte man auch anders machen.Vor allem: Geben wir denen, die draußen als Sicherheitskräfte tätig sind, das Gefühl, daß es noch Sinn gibt, Leute zu bestrafen, die unsere Straßen verunsichern. Oder kennen Sie die Leserbriefe von Menschen nicht, die sich scheuen, einkaufen zu gehen — es sind alte Frauen und Kinder —, weil sie in bestimmten Bereichen unserer Großstädte Angst haben? Wenn Sie solche Leserbriefe nicht bekommen, dann denken Sie bitte an den Leserbrief eines Professors aus Prag, der in einer großen Tageszeitung veröffentlicht wurde. Er schreibt: Wenn ich ein paar
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Ortwin LowackStudenten von meiner Universität nach Deutschland schicken möchte — ich weiß von vornherein, daß sie nach einem Jahr wieder zurückkommen; ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen —, dann habt ihr nicht das Geld dafür, 500 DM im Monat aufzubringen, aber dort deckt ihr letztlich Machenschaften ab, die euch außenpolitisch handlungsunfähig machen, und bezahlt dafür.Noch eine Anmerkung zum Schluß. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist es nicht wirklich gespenstisch, daß die Probleme, über die wir heute debattieren, tatsächlich erst dann angegangen werden, wenn zwei Koalitionspartner Angst, fast schon Existenzangst haben? Es kann doch nicht wahr sein, daß man dann erst an die Probleme herangeht und sagt, es bestehe Gefahr von rechts, letztlich aber nur daran denkt, daß man Prozente bei einer Wahl verliert.Bitte, packen Sie die Probleme rechtzeitig an und nicht erst dann, wenn Sie mit Gefahren arbeiten müssen, wenn Sie glauben, Ängste wecken zu müssen, die zu wecken für uns tatsächlich gefährlich werden könnte.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Asyldebatte — da hat Konrad Weiß recht — ist in der Tat schäbig. Herr Lowack, es tut mir leid, aber ich muß es sagen: Ihr eben hier geleisteter Beitrag war in diesem Rahmen besonders schäbig.Der vorliegende Koalitionsantrag, um den es hier geht, ist von einer falschen Grundeinstellung durchzogen. Das Problem sind nach diesem Antrag die Asylbewerber und -bewerberinnen. Das Problem sind Flüchtlinge, die zu uns fliehen, um Leben und Gesundheit für sich und ihre Kinder, für ihre Angehörigen zu retten. Kein Wort des Bedauerns gegenüber den Opfern der deutschen Pogrome, dafür aber unterschwelliges Verständnis für die Täter. Kalt-bürokratisch soll ein Fundament dieses Staates, das Asylrecht, beseitigt werden. Eine der wenigen positiven politischen Schlußfolgerungen aus der Katastrophe des deutschen Faschismus soll revidiert werden.Die neonazistische Rechte in Deutschland wird ermutigt, weiterzumachen mit Gewalt, mit Ausschreitungen, mit Pogromen. Kein Wort im Entschließungsantrag der Koalitionsparteien dazu, daß sich durch die Pogrome in Deutschland die internationale Stellung des neuen Deutschland völlig zu verändern, drastisch zu verschlechtern beginnt.Das Goethe-Institut z. B. berichtet, daß die Zahl der Anmeldungen für Deutschkurse im Ausland bereits deutlich zurückgeht.
Ja, nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis.Herr Sudhoff, der deutsche Botschafter in Paris, klagt über einen dramatischen Ansehensverlust der Deutschen in Frankreich. Ich kann das aus eigener Erfahrung nur bestätigen.Was wird aber z. B., wenn sich die deutschen Pogrome etwa gegen weitere islamische Gruppen richten und die islamische Welt deutsche Produkte zu boykottieren beginnt?Die Politik der Zurückweisung von Menschen in Not ist nicht nur unmenschlich — das ist das Wichtigste —, sie ist auch politisch und ökonomisch absolut widersinnig und grundfalsch. Nur am Rande noch zu den ökonomischen Aspekten. Die Rechtsentwicklung in Deutschland und die blindwütigen Attacken gegen das Asylrecht für politisch Verfolgte, dessen Verankerung als Grundrecht in der Verfassung eine der nobelsten politischen Gesten in der Nachkriegszeit war, können auf lange Sicht sogar die Stabilität der Währung dieses Landes erschüttern und die Träume von der deutschen Führungsrolle in Europa, was Stabilität angeht, vernichten.Doch darauf ruht hier nicht das Hauptaugenmerk, nicht heute, nicht in dieser Debatte. Es geht vielmehr um eine Frage elementarer Menschlichkeit. Wenn den im Koalitionsantrag aufgeführten Punkten Rechnung getragen wird, dann gibt es das Recht auf Asyl für politisch Verfolgte nicht mehr als Grundrecht. Dann hat der rechte Mob, der rechte Sumpf gesiegt. Dann wird er dazu ermutigt, die nächsten Angriffe, Übergriffe und Pogrome zu planen und durchzuführen. Die Schwäche der Demokraten, auch in diesem Hause, wird zur Stärke derjenigen, die diese Republik und ihre in vier Jahrzehnten herausgebildete halbwegs liberale, halbwegs zivilisierte Tradition beseitigen wollen.Gegenüber dem Rechtsradikalismus und Rassismus muß ganz klar gesagt werden: Wir lassen uns nicht durch neonazistische Tendenzen und durch Pogrome
die positiven Entwicklungen der Nachkriegszeit, die Öffnung nach außen, die Öffnung zum Westen hin, die Öffnung für Menschen in Not zerstören. Dazu gehört im Verständnis der humanen Kräfte in diesem Land und in unseren Nachbarländern insbesondere auch das Asylrecht für politisch Verfolgte mit der Rechts-weggarantie und mit dem bislang noch gegebenen hohen Maß an Abschiebungssicherheit für die Betroffenen.Unmenschlichkeit verroht, so wie die Pogrome bereits zur Verrohung in der Bevölkerung beitragen. Eine alltäglich praktizierte Abschiebungspraxis z. B. und andere im Koalitionsantrag vorgesehene Maßnahmen fördern die weitere Verrohung, geben der Rechten und den neonazistischen Kräften weiteren Auftrieb.Deshalb fordern wir, deshalb fordert die ökologisch und sozial orientierte Linke mit „Pro Asyl" und mit den anderen Menschenrechtsorganisationen in der BRD: I fände weg vom Asylrecht. Keine Grundgesetzänderung. Der Koalitionsantrag ist inhuman, löst die Probleme nicht, beeinträchtigt die weitere Entwicklung in Deutschland zu einem europäisch-liberalen Land, treibt den Ewiggestrigen weitere Unterstützer und Unterstützerinnen zu.
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Dr. Ulrich BriefsEin Nein zum Koalitionsantrag ist insofern — das ist schon gesagt worden — ein Nein zu Rassismus, ein Nein auch zu Antisemitismus, ein Nein zu Ausländerfeindlichkeit insgesamt.Herr Präsident, ich danke Ihnen
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie zunächst einmal über die Geschäftslage infomieren. Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Lüder und der Abgeordneten Frau Lederer zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort, und zwar vor der Abstimmung über den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste.
Bevor der Abgeordnete Lüder spricht, werde ich eine Kurzintervention des Abgeordneten Müller zulassen. Ich mache aber darauf aufmerksam, daß weitere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor der Abstimmung von mir nicht mehr zugelassen werden, sondern, wie ich das geschäftsordnungsmäßig tun kann, nach der Abstimmung, damit uns hier nicht eine Flut von Erklärungen präsentiert wird.
Ich lasse dann über den Geschäftsordnungsantrag des Abgeordneten Ullmann abstimmen, um festzustellen, ob er die nötige Mehrheit für die von ihm gewünschte namentliche Abstimmung über den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN findet.
Dann lasse ich über die Entschließungsanträge abstimmen.
Nachdem dies geklärt ist, Herr Abgeordneter Müller, haben Sie zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nur feststellen, daß es auch eine ganze Reihe von Sozialdemokraten gibt, die Herrn Ullmann richtig verstanden haben.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Lüder,
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gemäß § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung erkläre ich: Ich werde einer Änderung des Grundgesetzes, soweit sie für ein europäisches Asylrecht notwendig ist, zustimmen, wie ich es hier mehrfach erklärt habe.
Zur heutigen Entschließung aber sage ich nein und nenne dazu insbesondere fünf Gründe:
Erstens. Die Entschließung vernachlässigt in meinen Augen die Grundregeln unserer Verfassungspolitik, daß Grundgesetzbestimmungen nicht mit einfacher Mehrheit eines Verfassungsorgans, sondern nur mit Zweidrittelmehrheit beider Gesetzgebungskörperschaften geändert werden können. Nicht Druck auf die Minderheit, sondern breite Überzeugung soll einer Verfassungsänderung vorausgehen. Heute soll
Druck ausgeübt werden, nicht aber Überzeugung gebildet werden.
Zweitens. Die Entschließung ändert an der rechtlichen Realität in unserem Lande nichts. Sie spiegelt aber dem nur allgemein politisch interessierten Bürger, der die Einzelheiten unseres Verfahrensrechts nicht kennt, fälschlich und vorwerfbar vor, der Gesetzgeber Bundestag würde schon hier und heute verantwortlich Recht setzen.
Drittens. Die Entschließung dient dem Kampf gegen den demokratischen Partner einer Verfassungsänderung; sie dient nicht der Lösung der vielfältigen Probleme mit der großen Zahl der Asylbewerber.
Viertens. Die Entschließung schafft keine Klarheit. Sie ist doppeldeutig interpretierbar. Ich möchte nicht, daß wir uns dem Vorwurf der Doppelzüngigkeit ausgesetzt sehen.
Fünftens. Die Entschließung läßt manches offen und stellt Ermächtigungsnormen zum Abbau von Gerichtskontrolle in Aussicht, die auch über das Asylbewerberverfahren hinaus den Rechtsstaat einschränken könnten. Wer an Art. 19 Abs. 4 rüttelt, weil Gerichte überlastet sind, gefährdet eine tragende Säule unserer Rechtsstaatlichkeit.
Weil ich den Weg, den diese Entschließung weist, nicht mitgehen kann, stimme ich entgegen dem Votum meiner Fraktion mit Nein.
Wie angekündigt, frage ich jetzt, wer dem Antrag des Abgeordneten Ullmann zuzustimmen gedenkt, daß über den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN namentlich abgestimmt wird. Ich bitte um das Handzeichen. — Damit, Herr Abgeordneter Ullmann, ist die notwendige Mehrheit nicht erreicht.
Ich gebe jetzt der Frau Abgeordneten Lederer nach § 31 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu meinem Abstimmungsverhalten zum Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reden. Ich halte den Antrag bis auf einen Punkt für sehr gut. Ich möchte begründen, warum ich mich bei der Abstimmung leider der Stimme enthalten muß.Es geht um Punkt II Ziffer 6, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die Initiative zu einem Einwanderungsgesetz vorzulegen. Gerade nach der heutigen Debatte und angesichts dessen, was auch in
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Andrea Ledererdem von der Koalition vorgelegten Antrag steht, kann das nur heißen, daß sie auch im Grunde aufgefordert wird, das zu ermöglichen, was sie ohnehin vorhat: ein Zuzugsbegrenzungsgesetz und damit ein Abschottungsgesetz. Ich kann es einfach nicht als positiv ansehen, solche Anträge auf den Tisch des Hauses zu bekommen. Es tut mir leid, so gerne ich diesem Antrag zustimmen würde: Ich muß mich auf Grund dieser Aufforderung bei der Abstimmung leider der Stimme enthalten.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste. Er liegt Ihnen auf Drucksache 12/3465 vor. Wer dafür zu stimmen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt worden. Die SPD-Fraktion hat sich an der Abstimmung nicht beteiligt.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/3467. Wer diesem Antrag zuzustimmen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Antrag gegen die Stimmen der Antragsteller sowie gegen einige Stimmen aus der Gruppe PDS/Linke Liste und bei Nichtbeteiligung der SPD-Fraktion an der Abstimmung mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur vereinbarten Debatte zur Asylpolitik auf Drucksache 12/3428. Hier ist namentliche Abstimmung beantragt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. —
Ich darf die Fraktionen fragen, ob wir die Abstimmung schließen können. — SPD? — CDU/CSU? — F.D.P.? — Ich frage zusätzlich: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das abzustimmen wünscht? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Die Schriftführer können mit der Auszählung beginnen. Das Ergebnis wird später bekanntgegeben.*)
Ich möchte das Haus darüber informieren, daß die Abgeordneten Dr. Hirsch, Baum und Scheu eine Erklärung zur Abstimmung zu Protokoll gegeben haben. **)
Meine Damen und Herren, wer an der anschließenden Debatte nicht teilzunehmen wünscht, den bitte ich, den Raum möglichst schnell zu verlassen. Denn so kann ich keine Aussprache eröffnen. — Diese Aufforderung war ernstgemeint. Ich bitte, sie zu befolgen. — Das gilt auch für den Fraktionsvorsitzenden der F.D.P., den Abgeordneten Solms. — Herr Minister Krause, wenn Sie so nett sein würden, sich entweder zu setzen oder den Saal zu verlassen, können wir weitermachen.
*) Seite 9595A
**) Anlagen 2 und 3
Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von den Abgeordneten Rudolf Bindig, Evelin Fischer , Monika Ganseforth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966
— Drucksache 12/556 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/2388 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Schmude Heinrich Seesing
Vorgesehen ist eine Debattenzeit von einer halben Stunde. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich kann die Debatte eröffnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmude.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit der Ratifizierung des vorliegenden Protokolls zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte werden wir einen bedeutsamen Beitrag zur Stärkung des internationalen Schutzes der Menschenrechte leisten. Jeder einzelne soll durch diese völkerrechtliche Vereinbarung das Recht bekommen, sich an den Ausschuß für Menschenrechte der Vereinten Nationen mit der Beschwerde zu wenden, seine bürgerlichen oder politischen Rechte würden verletzt.In der Bundesrepublik Deutschland stellen unser innerstaatlicher Rechtsschutz und das Beschwerdeverfahren nach der Europäischen Menschenrechtskonvention schon bisher sicher, daß Rechtsverletzungen kontrolliert und korrigiert werden. Für uns Deutsche liegt die Bedeutung dieser Ratifizierung also vor allem darin, daß wir uns einem Regelwerk unterwerfen, dessen Beachtung wir gleichermaßen von anderen fordern, bei denen die Individualbeschwerde beim Menschenrechtsausschuß der UNO einen wirklichen Zugewinn an Menschenrechtsschutz durch ein Verfahren bringt.Erst jetzt, im Herbst des Jahres 1992, kommen wir in Deutschland zur Ratifizierung dieses Protokolls, das bereits seit 1966 zur Unterzeichnung ausliegt. Wir haben uns in der Zwischenzeit mit diesem Vorhaben nicht leichtgetan. Da war von der Schwäche der durch das Protokoll gewährten Rechte die Rede, der eine förmliche Ratifizierung nicht angemessen sei. Der Ertrag lohne den Aufwand nicht, hieß es. Die Sorge wurde geltend gemacht, daß ein zweites Verfahren neben dem Beschwerdeverfahren nach der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Verwirrung und zu doppelgleisigen Verfahrensläufen führen könne.
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9594 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Jürgen SchmudeBei diesen Vorbehalten sind wir angesichts der eindringlichen Appelle, auch Deutschland möge diesem Protokoll seine Unterstützung nicht versagen, nicht geblieben. Wir mußten in der Tat einsehen, daß in dem schwierigen, immer wieder mit Niederlagen verbundenen Kampf für die internationale Achtung der Menschenrechte auch kleine Fortschritte ein Gewinn sind.
Sie bilden die Grundlage für weitere Forderungen und Verbesserungen. Wir haben uns u. a. bei einem Besuch unseres Unterausschusses für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen in New York sagen lassen, wie sehr man bei der UNO auf unseren förmlichen Beitritt zu diesem Fakultativprotokoll wartet.Bei dem heute zur Schlußabstimmung anstehenden Gesetzentwurf handelt es sich um einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion. Nicht die Bundesregierung, nicht die Regierungskoalition, sondern die Opposition hat diese Initiative eingebracht.
: Es
wird aber schwieriger, dem zuzustimmen,wenn so verfahren wird! Ich bedaure dassehr!)— Moment, ich werde auch Sie zufriedenstellen. — Sie hat dafür in den Ausschüssen die Zustimmung aller Fraktionen bekommen, so daß wir das Gesetz jetzt verabschieden können.
Leicht war dieses Ergebnis nicht zu erreichen. Nachdem sich die Bundesregierung lange Jahre hindurch geweigert hatte, ein Ratifizierungsgesetz vorzulegen, traf die SPD-Initiative zunächst auf massiven Widerspruch aus dem Regierungslager. Ich bin froh und dankbar dafür, daß die Ausschußberatungen zu intensiven und sachlichen Erörterungen der Problematik geführt haben, denen sich die Koalitionsfraktionen geöffnet haben.Wir Sozialdemokraten selbst konnten zur Verständigung — herr Scharrenbroich, jetzt sollten Sie zuhören — durch das freimütige Eingeständnis beitragen, daß auch wir in der Vergangenheit eine Zeitlang die Ratifizierung dieses Protokolls abgelehnt haben, und zwar aus den gleichen Gründen, die später die jetzige Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen vorgebracht haben.Das gilt auch für mich, meine Damen und Herren. Während ich mich jetzt als Berichterstatter des Rechtsausschusses über den erfolgreichen Beratungsabschluß zur Ratifizierung hin freue, habe ich vor gut zehn Jahren als Bundesjustizminister die Ratifizierung für entbehrlich gehalten und keine Schritte zu ihrer Einleitung unternommen. Das will ich hier klarstellen.Über den menschenrechtlichen Gegenstand hinaus haben wir in diesem Beratungsprozeß bemerkenswerte Klarstellungen erreicht, deren künftige Beachtung die Rechte des Bundestages stärken wird. So warim Regierungsbereich längere Zeit umstritten, ob es nicht das Recht der Regierung sein und bleiben müsse, die Initiative zur Ratifizierung internationaler Vereinbarungen selbst zu ergreifen. In sorgfältiger Prüfung der Rechtslage und in Würdigung der bisherigen Parlamentspraxis sind wir im Rechtsausschuß übereinstimmend, auch in Übereinstimmung mit der Bundesregierung, zu der Überzeugung gekommen, daß das Parlament sehr wohl ein solches Initiativrecht hat.
Gleichermaßen haben wir im Rechtsausschuß unter Hinweis auf die frühere Parlamentspraxis klargestellt, daß es zur Ratifizierung einer völkerrechtlichen Vereinbarung nicht der vorherigen Zeichnung durch die Bundesregierung bedarf.Schließlich hatten wir uns auch mit der Auffassung zu befassen, es handele sich bei dem Fakultativprotokoll überhaupt nicht um einen ratifizierungsfähigen Vertrag im Sinne des Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes, weil Gegenstände der Bundesgesetzgebung nicht betroffen seien. Die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland brauche doch nur unverändert zu bleiben, um den Anforderungen des Protokolls zu genügen. Auch das aber, der völkerrechtliche Ausschluß bestimmter Rechtsänderungen, betrifft die innerstaatliche Gesetzgebung. Und deshalb bedarf es der Ratifizierung.In allen drei Punkten werden die erreichten Klärungen für künftige Verfahren bedeutsam sein.Mit der jetzt anstehenden Ratifizierung unternimmt die Bundesrepublik Deutschland in ihrem ausdauernden und nachdrücklichen Ringen um die internationale Gewährleistung der Menschenrechte einen weiteren wichtigen Schritt. Dabei erinnere ich daran, daß das Zweite Fakultativprotokoll zur Abschaffung der Todesstrafe, dessen Ratifizierungsgesetz wir im März im Bundestag ohne Aussprache beschlossen haben, auf eine 1980 von der Bundesregierung in der UNO ergriffene Initiative zurückgeht. Immer noch wird diese brutale, zutiefst unmenschliche Strafe in vielen Ländern praktiziert. Das beharrliche Bemühen um ihre Abschaffung hat in Europa erfreuliche Erfolge gebracht, darüber hinaus aber — auch in den USA! — leider noch viel zuwenig bewirkt.Auf dem noch unabsehbaren langen Weg zur wirklichen Sicherung der Menschenrechte in der Welt sind die beiden Fakultativprotokolle nur Stationen nach jeweils kurzen Strecken. Immerhin: Auch durch diese kleinen Schritte wird dem Einwand der Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Landes, den wir gegen das Einfordern von Menschenrechten oft hören, ein weiteres Stück Bodens entzogen. Wer als anerkannter Staat zur Völkergemeinschaft gehören will, wer völkerrechtlichen Normen zum Schutz der Menschen beigetreten ist, der kann das Recht auf ungestörte Willkür nicht beanspruchen. Sein Einwand der Einmischung ist allenfalls ein qualifiziertes Geständnis der Rechtsverstöße.Wir müssen, meine Damen und Herren, damit fortfahren, die Menschenrechte von Zeit zu Zeit zum
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Dr. Jürgen SchmudeGegenstand von Bundestagsdebatten zu machen. Und wir müssen sie in allen politischen Bereichen zur Sprache bringen, in denen sie mitbetroffen sind: in der Außenpolitik, in der Außenwirtschaftspolitik und demnächst besonders sorgfältig in der Asylpolitik.
Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen nunmehr das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU und F D.P. zur Asylpolitik, Drucksache 12/3428, bekanntgeben.Abgegebene Stimmen: 390. Mit Ja haben 364 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 24 Abgeordnete gestimmt. Zwei Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 391; davonja: 365nein: 24enthalten: 2JaCDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, Walter Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-GüntherDr. Bauer, Wolf Baumeister, Brigitte Bayha, Richard Belle, MeinradDr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-DirkDr. Blank, Joseph-Theodor Blank, RenateDr. Blens, Heribert Bleser, PeterDr. Blüm, NorbertBöhm , Wilfried Dr. Böhmer, MariaBörnsen , Wolfgang Dr. Bötsch, WolfgangBohl, Friedrich Bohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Brähmig, Klaus Breuer, PaulBrudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler , Klaus Büttner (Schönebeck),HartmutBuwitt, DankwardCarstens , Manfred Dehnel, WolfgangDeres, KarlDeß, AlbertDiemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, HansjürgenDr. Dregger, AlfredEchternach, JürgenEhlers, WolfgangEhrbar, UdoEichhorn, MariaEngelmann, Wolfgang Eppelmann, RainerEylmann, HorstEymer, AnkeFalk, IlseDr. Faltlhauser, KurtFeilcke, JochenDr. Fell, KarlFischer , Dirk Erik Fischer (Unna), Leni Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, HerbertDr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-JoachimGanz , Johannes Geiger, MichaelaDr. Geiger , Sissy Geis, NorbertDr. Geißler, HeinerDr. von Geldern, Wolfgang Gerster , Johannes Gibtner, HorstGlos, MichaelDr. Göhner, ReinhardGötz, PeterDr. Götzer, WolfgangGres, JoachimGrochtmann, Elisabeth Gröbl, WolfgangGrotz, Claus-PeterDr. Grünewald, Joachim Günther , Horst Frhr. von Hammerstein,Carl-DetlevHarries, KlausHaschke , GottfriedHaschke , Udo Hasselfeldt, GerdaHaungs, RainerHauser , Otto Hauser (Rednitzhembach), HansgeorgHedrich, Klaus-Jürgen Heise, ManfredDr. Hellwig, RenateDr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, ErnstHintze, PeterHörsken, Heinz-Adolf Hörster, JoachimDr. Hoffacker, Paul Hollerith, JosefDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, SiegfriedHüppe, HubertJäger, ClausJaffke, SusanneJagoda, Bernhard Dr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, DionysDr.-Ing. Jork, Reiner Dr. Jüttner, EgonJung , Michael Junghanns, UlrichDr. Kahl, Harald Kalb, BartholomäusDr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, VolkerKeller, PeterKiechle, IgnazKittelmann, PeterKlein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Köhler , VolkmarDr. Kohl, Helmut Kolbe, ManfredKors, Eva-MariaKoschyk, Hartmut Kossendey, Thomas Kraus, RudolfDr. Krause , GüntherDr. Krause , Rudolf KarlKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, ArnulfKronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Eberhard Lamers, KarlDr. Lammert, Norbert Lamp, Helmut Johannes Lattmann, HerbertDr. Laufs, PaulLaumann, Karl Josef Lehne, Klaus-Heiner Lenzer, ChristianDr. Lieberoth, Immo Limbach, EdithaLink , Walter Lintner, EduardDr. Lippold , Klaus W.Dr. sc. Lischewski, Manfred Löwisch, SigrunLohmann , WolfgangLouven, JuliusLummer, Heinrich Dr. Luther, MichaelMaaß , Erich Männle, UrsulaMagin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Dr. Mayer ,MartinMeckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf HorstDr. Merkel, Angela Dorothea Dr. Meseke, HeddaDr. Meyer zu Bentrup, ReinhardMichalk, MariaMichels, MeinolfDr. Mildner, Klaus Gerhard Dr. Möller, FranzMolnar, ThomasMüller , Elmar Müller (Wadern), Hans-WernerMüller , Alfons Nelle, EngelbertDr. Neuling, Christian Neumann , Bernd Nitsch, JohannesNolte, ClaudiaDr, Olderog, Rolf Ost, FriedhelmOswald, EduardOtto , Norbert Dr. Päselt, GerhardDr. Paziorek, Peter Paul Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeffermann, Gerhard O. Pfeifer, AntonPfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero Dr. Pinger, Winfried Pofalla, RonaldDr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Pützhofen, DieterRahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, HansDr. Ramsauer, Peter Rau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, WilhelmReddemann, Gerhard Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Berthold Reinhardt, ErikaRepnik, Hans-Peter Dr. Rieder, NorbertDr. Riedl , Erich Riegert, KlausDr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode , Helmut Romer, Franz-XaverDr. Rose, KlausRossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Rühe, VolkerDr. Rüttgers, .Jürgen Sauer , Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Scharrenbroich, Heribert Schätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Schemken, Heinz Schmalz, Ulrich Schmidbauer, Bernd Schmidt , ChristianDr. Schmidt , JoachimSchmidt , Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),Hans Petervon Schmude, Michael Dr. Schneider , OscarDr. Schockenhoff, Andreas
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9596 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergGraf von Schönburg-Glauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,Reinhard
Schulz , Gerhard Schwalbe, ClemensDr. Schwörer, Hermann Seehofer, HorstSeesing, HeinrichSeibel, WinfriedSeiters, RudolfSikora, JürgenSkowron, WernerDr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, BärbelSpilker, Karl-Heinz Dr. Sprung, RudolfSteinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, HansDr. Frhr. von Stetten,WolfgangStockhausen, KarlDr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, MichaelDr. Süssmuth, Rita Susset, EgonTillmann, Ferdinand Dr. Töpfer, KlausDr, Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, GunnarVerhülsdonk, Roswitha Vogel , Friedrich Vogt (Düren), WolfgangDr. Voigt ,Hans-PeterDr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, TheodorGraf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr, Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wetzel, KerstenWiechatzek, GabrieleDr. Wieczorek , BertramDr. Wilms, Dorothee Wilz, BerndWimmer , Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, Fritz Wittmann ,SimonWonneberger, Michael Wülfing, ElkeWürzbach, Peter Kurt Yzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zierer, BennoZöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaDr. Babel, GiselaBaum, Gerhart Rudolf Bredehorn, Günther Cronenberg , Dieter-JuliusEimer , Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, JörgDr. Feldmann, Olaf Friedrich, HorstFunke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGanschow, Jörg Genscher, Hans-Dietrich Gries, Ekkehard Grüner, MartinGünther , Joachim Hansen, DirkDr. Haussmann, Helmut Heinrich, UlrichDr. Hirsch, BurkhardDr. Hitschler, WalterDr. Hoth, Sigrid Dr. Hoyer, Werner Irmer, UlrichKleinert , Detlef Dr. Kolb, Heinrich Leonhard Koppelin, JürgenDr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Leutheusser-Schnarrenberger,SabineLühr, UweDr. Menzel, Bruno Mischnick, WolfgangNolting, Günther Friedrich Otto ,Hans-Joachim Paintner, Johann Peters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , ManfredRind, Hermann Dr. Röhl, KlausSchmalz-Jacobsen, Cornelia Dr. Schmieder, JürgenDr. Schnittler, Christoph Schüßler, Gerhard Schuster, HansDr. Schwaetzer, Irmgard Sehn, MaritaSeiler-Albring, UrsulaDr. Semper, SigridDr. Solms, Hermann OttoDr. Starnick, Jürgen Thiele, Carl-Ludwig Dr. Thomae, Dieter Türk, JürgenWalz, IngridDr. Weng , WolfgangWolfgramm , TorstenWürfel, UtaZurheide, Burkhard Zywietz, WernerFraktionslos Lowack, OrtwinNeinF.D.P.Dr. Blunk , Michaela Lüder, WolfgangPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Enkelmann, Dagmar Dr. Fuchs, RuthDr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, BarbaraJelpke, UllaDr. Keller, DietmarLederer, AndreaDr. Modrow, HansPhilipp, IngeborgDr. Schumann , FritzDr. Seifert, IljaStachowa, AngelaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Poppe, GerdSchenk, ChristinaSchulz , Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, VeraFraktionslosDr. Briefs, Ulrich Henn, BerndEnthaltenCDU/CSU Scheu, GerhardF.D.P.Homburger, BirgitDer guten Ordnung halber stelle ich fest, daß sich die SPD-Fraktion an der Abstimmung nicht beteiligt hat. Der Entschließungsantrag ist angenommen.Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Seesing das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In mehreren Reden im Deutschen Bundestag habe ich schon Gelegenheit gehabt, in unterschiedlichen Fragestellungen zur Menschenrechtspolitik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Stellung zu nehmen. Das ist mir bisher immer verhältnismäßig leichtgefallen, weil in fast allen Fällen die Kolleginnen und Kollegen der SPD, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen einer Meinung waren. Auch bei der heutigen Verabschiedung eines Gesetzes zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 ist das wieder so, und dennoch ist alles anders. Wir folgen dem Antrag, also dem Gesetzentwurf einer Bundestagsfraktion, einem internationalen Pakt zuzustimmen.Es geht zunächst um die Grundfrage, ob der Bundestag überhaupt berechtigt ist, Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen aus seiner Mitte heraus einzubringen. Noch bis in die Ausschußberatung hinein wurde von der Bundesregierung darauf hingewiesen, daß ein solches Initiativrecht gegen die Grundprinzipien der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten bei völkervertraglichen Beziehungen verstoße. Der Rechtsausschuß hat sich dieser Auffassung nicht angeschlossen. Im übrigen sitzen im Rechtsausschuß genügend Mitglieder, die selbst Gesetzesinitiativen zu Vertragsgesetzen eingebracht haben. Ich gehöre auch dazu. Wir haben also keinen Grund gesehen, diese parlamentarische Praxis nunmehr wieder zu ändern.
Im übrigen kann ich auf die Ausführungen von Herrn Kollegen Dr. Schmude verweisen, der auf die verfahrens- und verfassungsrechtlichen Probleme eingehend hingewiesen hat.Man kann sich aber nunmehr die Frage stellen, warum dann die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgerechnet einem Antrag der SPD-Opposition folgt. Die Antwort ist in der Sache zu sehen. Ausgehen muß
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Heinrich Seesingman dabei von der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der UNO vom 10. Dezember 1948. In ihr wird das Ziel der UNO verdeutlicht, die Menschenrechte zu achten und zu verwirklichen. Die Fassung ist ziemlich weit und umfaßt die von uns als klassisch eingestuften politischen Menschenrechte und die neuen sozialen Menschenrechte.Es ist der UNO dann noch gelungen, die Programmsätze der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in die Form von zwei Pakten umzugießen, nämlich in den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und in den Pakt über bürgerliche und politische Rechte, und um den letzteren geht es heute.Die Bundesrepublik Deutschland hat den Pakt am 17. Dezember 1973 ratifiziert, am 28. März 1979 ist er in Kraft getreten. Der Pakt geht davon aus, daß der einzelne Mensch nur dann seine bürgerlichen und politischen Rechte genießen kann, wenn die entsprechenden rechtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse geschaffen sind. Die Vereinten Nationen erhoffen, daß sich das Ideal des freien Menschen, auch frei von Not und Angst, weltweit durchsetzt und von den Unterzeichnerstaaten auch besonders gefördert wird.Der Pakt ist mehr als Absichtserklärung zu verstehen. Die Maßnahmen der UNO zum konkreten Schutz der Menschenrechte einzelner durch Organe der UNO erschöpfen sich neben dem UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung in dem heute zur Debatte stehenden Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.Deswegen waren und sind wir der Überzeugung, daß sich auch die Bundesrepublik Deutschland dem einzig möglichen Verfahren öffnet, das die UNO hier zuläßt: Der Ausschuß für Menschenrechte ist berechtigt, Mitteilungen von Personen entgegenzunehmen und zu prüfen, die behaupten, in ihren im genannten Pakt angeführten Rechten verletzt worden zu sein.Leider sind Beschlüsse über Individualbeschwerden völkerrechtlich unverbindlich. Der Ausschuß veröffentlicht sie im Anhang zu seinem Jahresbericht. Damit bleibt das Beschwerdeverfahren unbestreitbar hinter den Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention zurück. Weil aber auch wir dem Ziel der weltweiten Anerkennung von Individualbeschwerden näherkommen wollen, sprechen wir uns für die Ratifizierung des Fakultativprotokolls aus.Wir haben nachweisen können, daß schon viele Staaten, die der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind, auch das Fakultativprotokoll ratifiziert haben, ohne daß es in der Praxis zu Überschneidungen, wechselseitigen Beeinflussungen oder zu Störungen gekommen ist. Wir sind im Gegenteil der Auffassung, daß wir weltweit ein Signal geben, damit auch andere Staaten nunmehr das Fakultativprotokoll ratifizieren.Im übrigen bleibt aber auch unsere schon häufiger geäußerte Forderung bestehen, daß ein internationaler Gerichtshof für Menschenrechte geschaffen werden muß.Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Gerd Poppe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Ratifizierung des Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte durch die Bundesrepublik Deutschland sind fast 19 Jahre vergangen. Während dieser ganzen Zeit haben die jeweiligen Bundesregierungen ihren Widerstand gegen die Ratifizierung des Fakultativprotokolls, das ein Individualbeschwerdeverfahren vor dem Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen zuläßt, aufrechterhalten. Die Begeisterung der Bundesregierung über das Fakultativprotokoll hält sich auch heute noch in Grenzen. Ich erwarte dennoch, daß sie der Ratifizierung, die durch die parlamentarische Initiative und einen breiten Konsens aller Fraktionen und Gruppen des Deutschen Bundestags möglich wird, nicht länger im Wege stehen wird.Wir meinen, daß durch diesen Schritt Verbesserungen des internationalen Menschenrechtsschutzes gefördert werden und daß er auch vorteilhaft für die deutsche Menschenrechtspolitik auf der Ebene der Vereinten Nationen ist.Es ist zwar unbestreitbar, daß der individuelle Beschwerdeweg innerhalb der Europäischen Menschenrechtskonvention besser geregelt ist als im Fakultativprotokoll zum Zivilpakt der UN, aber die Berichterstatter weisen zu Recht auf die außerordentlich wichtige weltweite Signalwirkung einer Ratifizierung durch die Bundesrepublik hin.Nach wie vor sind Menschen aus den meisten Staaten der Erde allein auf diesen Beschwerdeweg im Rahmen der UN angewiesen, weil ihnen weitergehende regionale Instrumente zum Menschenrechtsschutz nicht zur Verfügung stehen.Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle noch einmal an die breite Übereinstimmung erinnern, die uns in bezug auf die dringliche Verbesserung und sinnvolle Ergänzung der bestehenden UN-Menschenrechtsgremien verbindet. Die Ratifizierung dient auch dem gemeinsamen Bemühen von Bundestag und Bundesregierung, zusammen mit den Partnern in den Vereinten Nationen auf die Einrichtung eines Hochkommissariats für Menschenrechte und eines Menschenrechtsgerichtshofes hinzuarbeiten; denn als Vertragsstaat dieses Protokolls kann die Bundesrepublik viel effektiver auf die Schaffung solcher Einrichtungen hinwirken. Hierauf hat beispielsweise amnesty international bereits aus Anlaß der ersten Lesung dieses Ratifizierungsgesetzes vor etwa einem Jahr hingewiesen.An diesen Zusammenhang sei auch deswegen erinnert, weil der Deutsche Bundestag in nächster Zeit vor Entscheidungen von großer Tragweite steht, die nicht losgelöst von den Vereinbarungen zum internationalen Menschenrechts- und Minderheitenschutz behandelt werden dürfen. Deshalb betrachte ich den
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Gerd Poppeerreichten Konsens hinsichtlich der Ratifizierung des Fakultativprotokolls — so überfällig dieser auch ist — nicht als reine Formalität. Er sollte uns vor Augen stehen, wenn es künftig darum geht, der vielfach proklamierten Priorität der Menschenrechte ungeachtet aller politischen Interessenkonflikte gerecht zu werden.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Bemerkungen in der heutigen Debatte sind nicht nur wegen des mir zur Verfügung stehenden knappen Zeitraums kurz. Ich habe bereits bei der ersten Lesung meine persönliche Sympathie für diesen Gesetzentwurf zum Ausdruck gebracht.
Die Rechtspolitiker der F.D.P. teilen nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken, die die Bundesregierung in diesem Zusammenhang erhoben hat. Es ist nicht ausgeschlossen — der Kollege Schmude hat darauf schon ausführlich hingewiesen —, daß wegen der Regelung in Art. 2 des Fakultativprotokolls Gegenstände der Bundesgesetzgebung berührt sind. In gleicher Weise kann in Art. 4 Abs. 2 des Fakultativprotokolls ein Bezug zur Bundesgesetzgebung gesehen werden.
Auch im übrigen steht außer Zweifel: Der Bundespräsident kann trotz unserer Zustimmung mit der Bundesregierung frei entscheiden, ob das Abkommen tatsächlich ratifiziert werden soll. Der Grundsatz der Trennung der Gewalten ist damit beachtet.
Auch in der Sache zählen frühere Bedenken nicht mehr. Die Berlin-Frage, um nur dieses Beispiel zu nennen, ist obsolet geworden. Dafür ist die positive Wirkung unserer heutigen Debatte um so deutlicher. Der Beitritt des wiedervereinten Deutschlands gerade in diesen Tagen der Ausschreitungen gegen Ausländer in unserem Lande unterstreicht die Bedeutung des Schutzes der Menschenrechte und der Kontrolle,
ein Signal, und da stimme ich allen Vorrednern zu, dessen außenpolitische Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte. Die F.D.P. stimmt daher dem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Professor Dr. Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung des Fakultativprotokolls ebenfalls zu, ohne aber im geringsten die Illusion zu haben, damit den Grundrechtschutz in der Bundesrepublik Deutschland merklich stärken zu können. Weder den vielen Hunterttausenden, die in Ostdeutschland aus dem öffentlichen Dienst entlassenwurden, noch denjenigen, deren Wohnhaus oder Datsche bedroht ist oder gegen die zehn- oder hunderttausende Ermittlungsverfahren angestrengt werden, wird diese Bestimmung ernsthaft helfen. Es macht eben wenig Sinn, einerseits den Grundrechtschutz in einer Detailfrage bis zum letzten zu komplettieren oder für andere Länder ein Signal zu setzen, ihn gleichzeitig jedoch massenweise abzubauen oder in Frage zu stellen. Das eigentliche Problem sehe ich in dem neuen McCarthyismus, wie er in dem Rechtsanwaltsüberprüfungsgesetz — ich empfehle Ihnen dazu das Studium eines Artikels von Dr. Kleine-Cossack, „Rechtsstaat und freie Advokatur im Stasi-Strudel" im Anwaltsblatt 10/92 — oder dem Entwurf eines Gesetzes zur Verjährung von SED-Unrechtstaten zum Ausdruck kommt.Ich habe in diesem Hause schon mehrfach betont, daß in meinen Augen die DDR trotz unbestreitbarer Fortschritte bis zum Schluß kein Rechtsstaat war. Das lag in hohem Maße daran, daß die Führung der SED nicht bereit war, ihre politischen Entscheidungen einer rechtsstaatlichen Prüfung, etwa durch Verwaltungsgerichte, zu unterwerfen. Ich habe mich wie eine Reihe meiner wissenschaftlichen Kollegen dem entgegengestellt und wurde nicht wenig des juristischen Positivismus und Formalismus beschuldigt. Um so bestürzter bin ich, wenn ich heute lesen muß, daß der Verfassungsminister des Bundeslandes Sachsen, Herr Eggert, in „Die Zeit" vom 18. September erklärt: „Einer meiner Träume ist es, den Rechtsstaat nur für einen Tag außer Kraft zu setzen", oder wenn Herr Heitmann, Justizminister des gleichen Landes, in der „Deutschen Richterzeitung" vom 12. August schreibt, daß er dem kreativen Richter empfiehlt, wenn er keine passenden Straftatbestände findet, an dieser Stelle die Bücher zuzuklappen und „den Blick zur Decke" zu richten. Beide sind im übrigen zu Höherem ausersehen; der eine bewirbt sich als stellvertretender CDU-Vorsitzender, der andere ist als nächster Bundespräsident im Gespräch.Ich habe die große Befürchtung, daß die Abrechnung mit der DDR die in der Bundesrepublik gewonnene Rechtskultur im Osten, aber auch im Westen ernsthaft gefährdet. Was gegenwärtig läuft, ist die immer stärkere Unterordnung des Rechts unter die Politik — ein Vorgang, gegen den ich mich in der DDR gewandt habe und den ich hier genausowenig akzeptieren kann.Kleine-Cossack schreibt: „Das Primat der Politik darf nicht zu einem Verfall der Rechtskultur führen. Die Gefahren für die rechtsstaatliche Ordnung sind jedoch unübersehbar."Ich übersehe nicht den Widerstand liberaler Rechtswissenschaftler und auch der Frau Ministerin der Justiz, die auf dem Parteitag der F.D.P. forderte: „... ein enges Bündnis mit den liberalen, aufgeklärten Teilen unseres Volkes, das sich den bedrohlich-populistischen Tendenzen in den sogenannten Volksparteien standhaft und engagiert entgegenstellt. Gerade jetzt ist nicht die Zeit, liberale Positionen über Bord zu werfen."Es bedarf offensichtlich eines breiten Konsensus der Verfechter von Rechtsstaatlichkeit. Wir sollten die Abstimmung über das Fakultativprotokoll zum Anlaß
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Dr. Uwe-Jens Heuernehmen, über die Gefährdung von Rechtsstaatlichkeit und den Zustand des Grundrechtsschutzes, besonders im Osten Deutschlands, ernsthaft und kritisch nachzudenken. Es ist nicht so, daß etwa nur noch ein Stein im Gebäude unseres Rechtswegestaates fehlt. Wir sollten denen wehren, die sich an Stützpfeilern dieses Gebäudes zu schaffen machen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Scharrenbroich das Wort.
Herr Präsident, herzlichen Dank! Ich habe mich deswegen gemeldet, weil verschiedentlich angemerkt worden ist, daß sich Oppositions- und Koalitionsfraktionen hier verständigt haben. Ich möchte sagen, daß dies auch für das Parlament sehr wichtig ist. Daß wir uns im Unterausschuß Menschenrechte geeinigt haben, ist überhaupt nichts Außergewöhnliches. Ich lege Wert darauf, daß wir möglichst in dieser Tradition fortfahren.
Des weiteren erinnere ich daran, daß wir im Dezember vergangenen Jahres am „Tag der Menschenrechte" angekündigt haben, daß wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. Ich möchte mich als Sprecher meiner Fraktion im Unterausschuß Menschenrechte ausdrücklich bei den Kolleginnen und Kollegen des Rechtsausschusses bedanken, daß Sie hier alle Hürden, die aufgebaut worden sind, überwunden haben, damit wir, wenn wir einklagen, daß andere Menschen in anderen Ländern das Recht zur Individualbeschwerde wahrnehmen können, natürlich zunächst selber das Fakultativprotokoll unterzeichnen müssen.
Vielen Dank.
Nunmehr erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Rainer Funke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Erste Fakultativprotokoll zum Zivilpakt hat uns allen sehr viel Kopfzerbrechen bereitet. Der Kollege Schmude hat ja auch auf seine frühere Eigenschaft als Justizminister hingewiesen und betont, welche Schwierigkeiten die Bundesregierung gesehen hat, dem Protokoll beizutreten.
Mit dem Zweiten Fakultativprotokoll, das wir vor kurzem verabschiedet haben, haben wir ein deutliches Signal zur Abschaffung der Todesstrafe in aller Welt gesetzt. Vor diesem Hintergrund begrüße ich es, daß wir heute auch über das Erste Fakultativprotokoll zum Zivilpakt beraten. Insoweit stehen wir erfreulicherweise vor einer veränderten Situation; der Kollege van Essen hat darauf bereits hingewiesen.
Der schnelle Abbau der Ost-West-Spannungen in den vergangenen Jahren hat Auswirkungen auf viele
Einzelfragen, so auch auf die Beurteilung des Ersten Fakultativprotokolls. Die früheren Bedenken verschiedener Bundesregierungen haben an Gewicht verloren. So überwiegen jetzt die positiven, die für den deutschen Beitritt zum Fakultativprotokoll sprechenden Gesichtspunkte. Die Bundesrepublik kann durch diesen Beitritt die Gedanken der Universalität der Menschenrechte bekräftigen und unserer Forderung nach einer Verbesserung der internationalen Kontrolle der Menschenrechtspraxis Nachdruck verleihen.
Indem wir nach dem Zweiten Fakultativprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe nun auch dem Ersten Fakultativprotokoll über die Verbesserung der Kontrolle beitreten, unterstreichen wir zugleich unseren Wunsch, daß auch andere Staaten diesen Schritt tun mögen, insbesondere solche Staaten, die sich bisher überhaupt keiner internationalen Kontrolle über Menschenrechtspraxis unterworfen haben. Das ist eine Reihe von Staaten.
Der Menschenrechtsschutz nach dem Fakultativprotokoll ist nicht optimal. Das war ja auch einer der Gründe, warum wir nicht beigetreten sind. Die Bundesrepublik Deutschland tritt dafür ein, einen Weltgerichtshof für Menschenrechte zu schaffen, der nach dem Muster des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg über Menschenrechtsverletzungen in einem justizförmigen Verfahren durch völkerrechtlich verbindliches Urteil entscheidet. Darauf hat Herr Seesing — für alle Fraktionen verbindlich, wie ich meine — hingewiesen. Solange wir einen solchen Gerichtshof nicht haben, müssen wir die bestehenden Instrumente, trotz ihrer Unvollkommenheit, nutzen und haben dabei die Hoffnung, daß auch hier die Entwicklung weitergehen wird. Die Bundesregierung wird einem deutschen Beitritt zum Fakultativprotokoll aus den genannten Gründen nunmehr aufgeschlossen gegenüberstehen.
Die Bundesregierung wird prüfen, wie vermieden werden kann, daß es zu einer doppelten Überprüfung von Menschenrechtsverletzungen nach dem Fakultativprotokoll und der Europäischen Menschenrechtskonvention kommt; denn eine Doppelprüfung würde den Anforderungen eines sinnvollen und angemessenen Menschenrechtsschutzes nicht entsprechen. Mit dem Beitritt zum Fakultativprotokoll folgen wir dem Beispiel vieler Konventions-Staaten, die dem Fakultativprotokoll beigetreten sind, obwohl sie sich dem Individualbeschwerdeverfahren nach der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits unterworfen hatten.
Der deutsche Beitritt zum Fakultativprotokoll bringt uns in diesem Punkt unseren Partnern in Europa ein Stück näher. Dies ist auch ein Aspekt, den wir in einem zusammenwachsenden Europa besonders begrüßen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
MeineDamen und Herren! Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zum Fakultativprotokoll über bürgerliche und politische Rechte, das Ihnen auf Drucksache
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9600 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg12/556 vorliegt. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/2388, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Wer dieser Empfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Ich rufe die Punkte 5 a und 5 b der Tagesordnung auf:5. a) — Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen — Drucksachen 12/3211, 12/3327, 12/3363 —— Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Ande-rung des Arbeitsförderungsgesetzes
— Drucksache 12/3008 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/3423 —Berichterstattung:Abgeordnete Heinz Schemken Adolf OstertagDr. Gisela Babelbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksachen 12/3458, 12/3459 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Gero Pfennig Ina AlbowitzKarl Dillerb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Gerd Andres, Dr. Ulrich Böhme (Unna), Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik: — Arbeit statt Arbeitslosigkeit —— Drucksachen 12/2666, 12/3423 —Berichterstattung:Abgeordnete Heinz Schemken Adolf OstertagDr. Gisela BabelZum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD namentlich abstimmen werden. Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit von zweieinhalb Stunden. Wenn das Haus damit einverstanden ist — was offensichtlich der Fall ist —, darf ich feststellen, daß das so beschlossen ist.Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es gibt Grund zur Sorge auf dem Arbeitsmarkt. Niemand bestreitet das. Wir teilen diese Sorge, aber es gibt auch Zeichen der Hoffnung.Sorgen macht uns, daß in der ehemaligen DDR 9,8 Millionen Beschäftigte waren und im gleichen Gebiet jetzt 6 Millionen. Bei den 6 Millionen sind noch die ABM-Beschäftigten und die Kurzarbeiter mitgezählt. Dort ist in drei Jahren mehr als ein Drittel der Beschäftigten abgebaut worden, und jeder kann sich vorstellen, welcher Veränderungsdruck auf den Menschen lastet. Das stellt auch hohe Solidaritätsanforderungen an den Westen. Man muß sich vorstellen, was in Westdeutschland geschehen wäre, wenn in drei Jahren ein Drittel der Beschäftigten ihre Arbeitsplätze hätten aufgeben müssen. In den Proportionen Westdeutschlands wären das mehr als 10 Millionen Beschäftigte gewesen. Ich sage das, damit Sie sich das Ausmaß vorstellen können.Es macht auch Sorgen, daß in Westdeutschland der Rückgang der Arbeitslosigkeit unter dem jahresüblichen Wert liegt. Die Kurzarbeit steigt, und in den letzten sechs Monaten stagniert die Zahl der Erwerbstätigen. Wir hatten gute Jahre, in denen wir Jahr für Jahr einen starken Beschäftigungszuwachs hatten.Doch, meine Damen und Herren, nicht nur dies gilt es zur Kenntnis zu nehmen; es gibt auch positive Zeichen. Ich möchte diese positiven Zeichen mit dem gleichen Nachdruck vortragen, weil ich denke, wir müssen alles tun, um Resignation zu verhindern. Denn Resignation blockiert Engagement. Wir müssen dort Zuversicht stärken, wo die Zeichen positiv sind, wir müssen auch ihnen Verbreitung und öffentliche Aufmerksamkeit widmen.Ein erstes positives Zeichen in Ost- und Westdeutschland, meine Damen und Herren, gab es Ende September: mehr Ausbildungsplätze als Bewerber. Zu diesem Zeitpunkt waren in den neuen Bundesländern 3 232 Lehrplätze noch nicht besetzt. Dem standen 1 219 unvermittelte Bewerber entgegen. Faustregel ist also: Auf einen Bewerber kommen mehr als zwei Lehrplätze, wobei ich zugestehe, daß die Lehrplätze nicht immer vor der Haustüre liegen und daß sie nicht immer der Traumberuf sind. Im Westen ist die Differenz noch größer. In Westdeutschland hatten wir Ende September 123 531 Ausbildungsplätze noch nicht besetzt. Dem standen 11 829 Bewerber entgegen. Auf einen Bewerber kommen also mehr als zehn offene Stellen.Meine Damen und Herren, ich will diese Nachricht auch deshalb unter die Leute bringen, damit gezeigt wird, daß man etwas bewirken kann; denn dieses Ergebnis ist nicht vom Himmel gefallen. Da haben Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern, Betriebsräte und Gewerkschaften mitgewirkt. Das ist ein Zeichen: Wo Wille gebündelt wird, kann man auch etwas bewirken. Im Grunde ist das ein „Lehrstellen-Wunder":
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9601
Bundesminister Dr. Norbert BlümIn schweren Zeiten allen Bewerbern in Ost- und Westdeutschland, die einen Ausbildungsplatz haben wollen, einen zu besorgen, das halte ich für einen großen Erfolg und für ein Zeichen der Hoffnung.Ich will ein zweites nennen: 85 % der Männer und 72 % der Frauen, die im dritten Quartal 1991 an einer Maßnahme der Bundesanstalt für Arbeit zur Anpassungsfortbildung in den neuen Bundesländern teilgenommen haben, bezogen sechs bzw. neun Monate später weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe.
Das ist ein großer Beweis dafür, daß diese Qualifizierung ihren Sinn hat und daß sich Anstrengung lohnt.
— Darüber sollten wir uns doch gemeinsam freuen. Es geht nicht um kleine parteipolitische Vorteile.Ich will auch noch ein drittes positives Zeichen nennen: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Westdeutschland — darüber liegen die Untersuchungen vor — betrug 1988 im Sommer 685 000, 1992 im Sommer 477 000. Das Programm zum Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit hat gewirkt, und wir sollten uns auch über diesen Erfolg freuen.
Neben vielen Feldern des Rückgangs gibt es in den neuen Bundesländern auch Felder, wo das Wachstum spürbar ist. Der Hauptverband der deutschen Bauindustrie rechnet mit einem realen Wachstum der Bauinvestitionen von 4 %. Damit würde das Wachstum doppelt so stark ausfallen wie noch zur Jahresmitte geschätzt.Die Bundesbank vermeldet in ihrem jüngsten Monatsbericht, daß die Nettozuflüsse im sogenannten langfristigen Kapitalverkehr mit dem Ausland im August von 4,7 Milliarden DM auf 9,5 Milliarden DM gestiegen sind. Das kann ja nicht nur an den hohen Zinsen liegen. In ein krisengeschütteltes Land, wie es manche darstellen, kämen solche langfristigen Anlagen nicht. Das ist ein Beweis dafür, daß dem Standort Deutschland noch immer viel Zutrauen in der Welt gilt. Auch wenn es große Probleme gibt: Dieser Standort Deutschland ist auch als Arbeitsstandort noch immer ein Spitzenland in der Welt. Wir sollten ihn nicht zugrunde reden.
Ich will einmal eines sagen: Ich habe viele gute Beziehungen zu meinen Kollegen in den ehemaligen RGW-Ländern. Gemessen an deren Problemen geht es uns sehr gut. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der gesagt hat: Deine Sorgen möchte ich einmal haben. — Ich will unsere Sorgen nicht geringachten, messe sie aber auch an der Hinterlassenschaft des Sozialismus in den anderen Ländern. Diese haben es schwerer, aus dem Tal herauszukommen, als wir es zusammen in Deutschland haben werden.Unsere Arbeitsmarktpolitik hat dabei den beschäftigungspolitischen Dammbruch verhindert. Sie trägt seit dem 1. Juli 1990, dem Tag der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die Hauptlast, den Beschäftigungseinbruch abzuwenden. Sie ist auch der Teil, der mit großem Erfolg gearbeitet hat. Deshalb rate ich uns, nicht ausgerechnet den Teil, der effektiv war, pausenlos in Frage zu stellen. Da gibt es andere Felder, auf denen man dem Beispiel der Arbeitsmarktpolitik folgen könnte.Ich warne auch davor, das Ganze nur mit Geld anzugehen, obwohl wir auch die Zahlen nicht verheimlichen müssen. Prophylaktisch möchte ich dem Kollegen Schreiner, da ich mir seine Rede schon ausdenken kann — ich habe etwas Phantasie —, sagen, daß er vorsichtig mit der Wiederholung seiner alten Kahlschlagthesen sein sollte. 1991 haben wir 19,3 Milliarden DM für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern aufgewendet; ich wiederhole: 19,3 Milliarden DM in 1991. 1992 sind es 30,6 Milliarden DM. 1993 — für Ihre Rede sollten Sie es mitschreiben, Herr Schreiner —
— nein, das ist eine Empfehlung — werden es 34 Milliarden DM sein. Das ist also eine weitere Steigerung des Volumens, das wir für den Arbeitsmarkt solidarisch aufwenden.Wir haben seit 1991 im Durchschnitt 2 Millionen Menschen die Arbeitslosigkeit mit unserer Arbeitsmarktpolitik erspart. Diese wollen wir gemeinsam verteidigen. Man muß sich einmal vorstellen, wir hätten in einer solchen Lage noch 2 Millionen mehr Arbeitslose: Das wäre ja ein Programm von Hoffnungslosigkeit.Nun zu den einzelnen Maßnahmen. Zunächst zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 1992 hatten wir durchschnittlich 370 000 bis 400 000 ABM-Beschäftigte. Durch diese Novelle wird die Zahl auf 340 000 bis 350 000, also um 30 000 bis 50 000 zurückgehen. Aber diesen Rückgang können und wollen wir durch ein neues Instrument kompensieren: Arbeitsförderung Umwelt Ost. Ich finde, das ist ein ausgesprochen intelligentes und hilfreiches Instrument. Es findet sich in der Novelle, die wir heute hier verabschieden. 249h heißt der Paragraph.Das Geld, das die Bundesanstalt für Arbeit den Arbeitslosen zahlen müßte, zahlen wir Trägern, die in der Altlastensanierung tätig werden, weil es vernünftiger ist, Arbeit zu bezahlen als Arbeitslosigkeit.
Das ist die Überführung von konsumtiven in produktive Aufgaben. In der Tat, wir glauben, schon ganz kurzfristig 15 000 Bergleuten bei der Sanierung der Altlasten im Braunkohlebereich damit helfen zu können.Das Problem ist, daß wir zu diesem Geld, das die Bundesanstalt bereitstellt, natürlich noch weitere Finanzquellen brauchen: Treuhand, Bund und Länder. Wir haben unsere Bereitschaft dazu ja bereits erklärt.Ich will hinzufügen, daß die Novelle auch die Veränderung von Förderungsvoraussetzungen enthält. Wir möchten entweder 80 % der Arbeitszeit oder
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9602 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Bundesminister Dr. Norbert Blümeine AB-Maßnahme fördern, wenn deren Entgelt niedriger ist als die Entgelte nicht zugewiesener Arbeitnehmer, also außerhalb von AB-Maßnahmen.Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich dafür bedanken, daß bereits zwei große Gewerkschaften ihre Bereitschaft erklärt haben, hier mitzuwirken, um zu einer Tarifgestaltung zu kommen, die es ermöglicht, mehr Menschen unterzubringen, als es ohne diese Mitarbeit möglich wäre. Das zeigt, daß noch immer ein hohes Maß an Verantwortung und Sozialpartnerschaft in unserem Land vorhanden ist.Zweiter Punkt. In dieser Novelle sind auch die Ausgliederung systemfremder Leistungen und die Verbesserung der Qualität enthalten.Zunächst zur Ausgliederung. Wir sind ja dem Ziel schon seit langem auf der Spur, in unserem Sozialsystem genauer zu untersuchen: Was soll denn mit dem Geld der Beitragszahler finanziert werden, und was ist eigentlich Aufgabe der Allgemeinheit und damit die Last der Steuerzahler? Dazu haben wir auch in dieser Novelle unseren Beitrag geleistet. Vorbereitungslehrgänge zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses und allgemeinbildende Kurse werden in Zukunft nicht mehr von der Bundesanstalt für Arbeit gefördert. Ich will Ihnen auch erklären, warum. Wieso ist denn der Beitragszahler — das sind Millionen von Arbeitnehmern, darunter auch Handwerksmeister — verpflichtet, mit seinem Beitrag das Versagen von Schulpolitik zu bezahlen? Das sollen die bezahlen, die die Verantwortung dafür tragen, daß der Hauptschulabschluß nicht von allen erreicht wird.
Die Bundesanstalt ist doch nicht der Lastesel aller Mängel. Denen muß geholfen werden. Ich will ausdrücklich sagen: Der Erwerb des Hauptschulabschlusses muß gefördert werden. Aber ich frage mich: Ist das eine Aufgabe von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die beitragspflichtig sind, oder ist das nicht eine klassische Aufgabe aller Steuerzahler? Das kann uns nicht egal sein; denn wenn es nur die Beitragszahler sind, sind es eben nicht alle Staatsbürger. Ein Interesse daran, daß alle ihren Hauptschulabschluß erreichen, haben doch nicht nur die Arbeitnehmer; das ist doch eine gemeinsame Aufgabe.Ich will auch darauf hinweisen, daß die Bundesanstalt dennoch weiterhin berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen für diesen Personenkreis fördert, auch mit allgemeinbildenden Unterrichtsinhalten. Dennoch muß die berufliche Vorbereitung im Vordergrund stehen. Es ist also nicht so, daß dieser Personenkreis jetzt völlig aus dem Blickfeld der Bundesanstalt verschwindet.Dritter Punkt. Eine Neuzuordnung ist die Finanzierung der Aufgabe „Integration der Aussiedler". Wir alle sind in der Pflicht, unseren Mitbürgern, die als Aussiedler zu uns kommen, zu helfen, in der sprachlichen Förderung, in der Eingliederung insgesamt. Aber auch hier gilt die Frage: Ist das Aufgabe der Beitragszahler, oder ist das Aufgabe der Steuerzahler?Die Novelle sieht eine vom Bund finanzierte sechsmonatige Sprachförderung oder die dazugehörige Eingliederungshilfe vor. Wäre es dabei geblieben, daß das alles die Bundesanstalt zahlt, dann machte das mehr als 3 Milliarden DM für die Beitragszahler aus, 3 Milliarden DM für eine Aufgabe, die nicht originär den Beitragszahlern zukommt, sondern allen. Das ist auch im Sinne von mehr Genauigkeit, Qualitätsverbesserung bei der Fortbildung und Umschulung.Ich habe ja schon vorhin davon gesprochen, welch großen Erfolg Fortbildung und Umschulung haben. Dennoch muß man selbstkritisch fragen, ob alle Bildungsträger wirklich für den Arbeitsmarkt fortgebildet haben. Ich habe — auch im nachhinein — nicht zu kritisieren, daß Bildungsträger im ersten Aufbruch zunächst einmal jeden genommen haben, der zu ihnen kam, und daß das Arbeitsamt auch nicht lange sortiert hat. In der Not braucht man Rettungsringe, keinen kostenlosen Schwimmunterricht. In der Not muß schnell gehandelt werden, und deswegen haben wir schnell gehandelt. Aber das entbindet uns doch nicht von der Pflicht, zu überprüfen, ob alle Bildungsmaßnahmen wirklich zielgerichtet auf Verwertung im Arbeitsmarkt hin angelegt sind und ob sie den Qualitätsstandard erreichen, der für eine Fortbildungsmaßnahme notwendig ist.Es handelt sich ja nicht um eine Arbeitnehmerverwahranstalt, sondern es muß eine sinnvolle Bildung sein. Deshalb sieht die Novelle vor, daß ein Abschluß der Überprüfung einer Bildungsmaßnahme durch die Bundesanstalt für Arbeit vor Beginn der Maßnahme stattfindet, denn wenn sie einmal läuft, sind Korrekturen nur schwer möglich.In Zukunft muß sich ein Teilnehmer vor Beginn einer Maßnahme auch beraten lassen. Es geht darum, daß man in der Beratung auf die Berufsaussichten nach Absolvierung möglicher Bildungsangebote hinweist und daß man ins Gespräch mit demjenigen kommt, der sich fortbilden will, und damit an schon vorhandene Erfahrungen anknüpft.Die Möglichkeit, an einer zweiten Bildungsmaßnahme teilzunehmen, wird eingeschränkt. Ich finde, auch das ist sinnvoll. Die Bundesanstalt kann ja nicht sozusagen permanente Bildung bezahlen. In der Not geht es zunächst einmal darum, dem, der ohne Arbeit ist, den nächsten Schritt durch eine Qualifizierungsmaßnahme zu ermöglichen.
Ich komme sodann zu dem heißdiskutierten § 128 des Arbeitsförderungsgesetzes. Auch dazu möchte ich zunächst einmal grundsätzlich etwas sagen. Es hat sich so eingeschlichen, daß die Bundesanstalt auch betriebliche Personalpolitik bezahlt. Viele, gerade die Großkonzerne, haben sich ihre betriebliche Personalpolitik von allen Arbeitnehmern und allen Arbeitgebern bezahlen lassen, selbst von den Arbeitnehmern, die in Kleinbetrieben gearbeitet haben und nie in den Genuß eines solchen Zuschusses gekommen sind, selbst von den Arbeitgebern, die gar nicht das Geld hatten, in ihren Betrieben solche Sozialpläne anzubieten. Das kann doch nicht solidarisch sein. Die Sozialkasse ist doch nicht die Abholerkasse für die
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Bundesminister Dr. Norbert BlümStarken. Deshalb, finde ich, muß dem ein Riegel vorgeschoben werden.
—Ja, das weiß ich. Aber wir stimmen doch hoffentlich darin überein, daß die Bundesanstalt keine Ersatzkasse für betriebliche Personalplanung ist, denn es bezahlen doch alle Arbeitnehmer, auch diejenigen, die gar nicht in den Genuß der Leistungen der Bundesanstalt kommen können, und alle Arbeitgeber. Der kleine Schlossermeiser konnte sich das nie leisten, aber er hat mit seinem Beitrag über Jahre hinweg die betriebliche Personalplanung großer Firmen finanziert.
Ich will noch einen zweiten Aspekt hinzufügen. Was mir Kummer bereitet, ist die Tatsache, daß sich mit all diesen Maßnahmen — mit der Frühverrentung, auch mit AlÜG, einer Notmaßnahme — langsam eine Gewohnheit auf unserem Arbeitsmarkt einstellt, die ich im Hinblick auf die Menschlichkeit des Arbeitsmarktes für gefährlich halte. Es schleicht sich die Gewohnheit ein, daß die Fünfzigjährigen schon zum alten Eisen gehören. Wenn wir so weitermachen und eine Notmaßnahme an die andere reihen, dann wird das plötzlich selbstverständlich, dann ist das nicht mehr die Ausnahme. Dann leisten wir einem Jugendtick in unserer Gesellschaft mit viel Geld Vorschub.
Das kann bei Gott nicht unsere Sozialpolitik sein, zumal hier ja auch ein großer Schatz an Berufserfahrung vorhanden ist. Das ist doch das, was die älteren Arbeitnehmer einbringen. Gegenüber Vorteilen, die die Jüngeren einbringen, bringen sie den großen Vorteil eines Schatzes an reicher Berufserfahrung ein. Eine Gesellschaft handelt verschwenderisch, wenn sie die Berufserfahrung gerade der älteren Frauen und Männer brachliegen läßt.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner zu beantworten?
Ja, bitte.
Herr Bundesminister, halten Sie es nicht gerade aus diesen Gründen für geboten, daß die Bundesregierung durch eine Verbesserung des Arbeitsschutzes, der Arbeitszeiten und der Arbeitsbedingungen endlich dafür sorgt, daß Menschen, die schon älter sind, noch menschenwürdig arbeiten können?
Sehr richtig. Deshalb sind wir in den vergangenen zehn Jahren auf diesem Weg kräftig vorangekommen, und das wird auch in den kommenden zehn Jahren so sein. Ich teile völlig Ihre Ansicht: Das wertvollste Gut der Arbeitnehmer ist ihre Gesundheit, und sie muß geschützt werden. Deshalb wird dem Gesundheitsschutz in der Arbeitszeitordnung eine größere Bedeutung zugewiesen. Deshalb sind wir auch Vorreiter in bezug auf einen harmonisierten Arbeitsschutz in Europa. Wir waren diejenigen in Europa — ich bin dankbar für Ihre Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheit gibt, auf einen Erfolg der Bundesregierung hinzuweisen, der offenbar noch unbekannt ist —, die die einheitliche Gefahrstoffverordnung vorangetrieben haben. Wir sind in Sachen Asbestverbot am weitesten fortgeschritten. Ich glaube nach wie vor, daß wir europaeinheitliche Regelungen dafür brauchen.
Herr Minister, der Abgeordnete Büttner bittet noch einmal um eine Zwischenfrage.
Bitte.
Halten Sie es auch für einen Erfolg dieser Politik, daß die Zahl derer, die aus gesundheitlichen Gründen in die Frühverrentung gehen müssen, immer weiter zunimmt und daß die Altersgrenze bei der Frühverrentung immer weiter sinkt?
Auch das muß Anlaß zum Nachdenken sein, wobei wir, Herr Kollege, insofern etwas mißtrauisch sein sollten, als viele Betriebe diesen Weg für ihre Arbeitnehmer bevorzugen, um sich in der Personalplanung Entlastung zu verschaffen. Auch dafür ist die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente nicht vorgesehen. Deshalb haben wir in der zurückliegenden Zeit ja auch mehrfach versucht, den Zugang zu diesen Maßnahmen exakter zu definieren, als das in der Vergangenheit der Fall war. Aber das führt nicht an der Antwort vorbei, daß dem Gesundheitsschutz und dem Arbeitsschutz unser Hauptaugenmerk gelten muß. Wir sind in dieser Frage einen großen Schritt vorangekommen, ohne die Hände jetzt zufrieden in den Schoß zu legen.Ich will noch auf weitere Veränderungen eingehen, die in dieser Novelle enthalten sind. Ich beziehe mich auf die Zusammenarbeit der Bundesanstalt für Arbeit mit der Rentenversicherung. Es gibt ja das Altersübergangsgeld als Notmaßnahme. Viele — das entspricht ja auch der Gesetzeslage —, die 60 Jahre alt sind und eine höhere Rente beziehen, als das Altersübergangsgeld ausmacht, müßten nach dem Willen des Gesetzgebers dann in Rente gehen. Die Rentenversicherung kann Anträge in so großer Zahl allerdings nicht bearbeiten. Sie ist schon mit ihrer Alltagsarbeit völlig überfordert. Sie leistet ungeheuer viel.In den 100 Jahren seit Bestehen der Rentenversicherung war die Arbeitslast noch nie so groß, wie sie jetzt ist. Zu den 1 Million Anträgen, die die Rentenversicherung früher im Westen bearbeitet hat, kommen jährlich 650 000 aus dem Osten hinzu. Ich meine, wir sollten den Beschäftigten von dieser Stelle aus einmal unsere große Anerkennung aussprechen. Sie leisten ungeheuer viel für den Sozialstaat. Sie haben über alle Grenzen der Pflicht hinaus gearbeitet.
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Bundesminister Dr. Norbert BlümIch meine, wir sollten ihnen jetzt nicht zumuten, zusätzlich noch die große Zahl von Anträgen auf den Bezug von Altersübergangsgeldern zu bearbeiten und die Renten in allen Feinheiten auszurechnen. Deshalb läuft das Altersübergangsgeld weiter. Allerdings bezahlt die Rentenversicherung der Arbeitslosenversicherung das Geld, das sie eigentlich ausgeben müßte, um es dem Rentner direkt zu zahlen. Das ist, wie ich glaube, eine unbürokratische Maßnahme. Aber wahrscheinlich kann man in diesen komplizierten Zeiten nicht immer so bürokratisch vorgehen. Man muß an die Menschen denken. Sie beziehen weiter Altersübergangsgeld. Die Bundesanstalt verliert kein Geld, sondern sie bekommt es von der Rentenversicherung ersetzt. Ich meine, das ist ein Zeichen dafür, daß die Sozialpolitik immer pragmatisch sein muß, daß sie sich nicht in ideologischen Wolkenkuckucksheimen verliert; ich hoffe, sie tut es auch heute nicht.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich möchte meinen Beitrag mit folgenden zusammenfassenden Bemerkungen abschließen:Erstens. Arbeitsmarktpolitik ist unverzichtbar.Zweitens. Wir wollen die Zurücknahme bei ABM durch das neue Instrument Arbeitsförderung Umwelt Ost kompensieren, mit dem Altlasten saniert werden sollen. Wir wollen nicht nur kompensieren: Wenn alle mitmachen, können wir die Zahl der jetzt in ABM Beschäftigten sogar übertreffen; ich wiederhole: wenn alle mitmachen. Die Bundesregierung jedenfalls ist bereit, alle Kräfte zu mobilisieren. Durch dieses sinnvolle Instrument wird die Beschäftigung für den Arbeitnehmer und die Sanierung der Altlasten garantiert. Das ist eine wichtige Voraussetzung für Investitionen.Drittens. Diese Novelle versucht, die Neuordnung im Sinne einer Klärung der Frage herbeizuführen, was zu Lasten der Beitragszahler und was zu Lasten der Steuerzahler zu finanzieren ist. Insoweit verbinden wir mit dieser Novelle immer ein Stück Gestaltung der Sozialpolitik. Wir gehen sie immer gestalterisch, nicht nur buchhalterisch an.Viertens: Qualitätssicherung, indem wir die Fortbildung und Umschulung stärker als bisher auf ihre qualitativen Kriterien überprüfen.Fünftens: Ausnutzung der Sozialkassen. Hier wollen wir einen Riegel vorschieben, ohne deshalb in besonderen, komplizierten Fällen die Hilfe der Bundesanstalt zu verweigern.Ich bedanke mich ganz besonders für die Anregung, die aus dem Parlament, sowohl aus der CDU/CSU wie aus dem Ausschuß für Arbeit, in diese Gesetzgebung eingeflossen ist.
— Dann ist das ein großes Versehen.
— Ich war so in Fahrt. Ich will es ausdrücklich sagen: Liebe Frau Babel — Herr Präsident, wenn Sie mir das nicht auf die Zeit anrechnen —, ich will Ihr Verdienst bei dieser Frage vor der deutschen Öffentlichkeit ausdrücklich hervorheben.
— Das hat sie auch verdient, und deshalb will ich mir dazu auch die Zeit nehmen.Alles in allem: Das A und O aller Beschäftigungspolitik sind Investitionen. Was wir machen können, sind Rahmenbedingungen. Wir können Brücken bauen. Aber die schönste Brücke nutzt nichts ohne Ufer. Das Ufer muß ein neuer Aufschwung zu mehr Beschäftigung sein. 120 Milliarden DM gehen als Investitionen in den Osten, davon nur 24 Milliarden DM private Investitionen. Hier lahmt das private Bein.Richtig ist, daß Soziale Marktwirtschaft auch Verantwortung ist. Wer die neuen Bundesländer nur als Absatzmärkte betrachtet, handelt nicht nur im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft nicht verantwortlich, er handelt auch wirtschaftlich dumm; denn wo nur Absatz, wo nur Kunden sind, da muß subventioniert werden. Aber die Menschen haben Anspruch, sich selber durch ihre Arbeit ihr Einkommen zu verschaffen. Deshalb können die neuen Bundesländer nicht vornehmlich Absatzmärkte sein, sondern sie müssen Produktionsstätten sein. Dafür brauchen wir einen Solidarpakt, an dem alle mitwirken und zu dem nicht jeder Vorschläge macht, was der andere tun sollte, sondern zu dem jeder seinen Beitrag leistet. Wir jedenfalls sind dazu bereit.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
— Schon die Art des Vortrags des Herrn Bundesarbeitsministers,
die erstaunlich leise Art seines Vortrags, hat darauf hingedeutet, daß er hier eine Art Zwangsrede gegen seine eigenen inneren Überzeugungen hält.
Im Grunde hätte er die Rede halten wollen, die ich jetzt halten werde.
Meine Damen und Herren, im Westen steigt die Arbeitslosigkeit, im Osten ist die Talsohle der Beschäftigungsverluste noch immer nicht erreicht. Die Lage in Ostdeutschland ist dramatisch genug. EsOttmar Schreinergibt Dörfer und Städte, in denen die Hälfte der Menschen im erwerbstätigen Alter arbeitslos ist. Die offiziellen Statistiken besagen nur wenig über das wirkliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit. Vor allem Frauen, Behinderte und ältere Menschen werden massiv aus dem Arbeitsmarkt gedrängt.Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung — da stimmt Herr Blüm sicherlich zu — ist weit davon entfernt, den dringend notwendigen Durchbruch für Investitionen und reguläre Arbeitsplätze zu schaffen.
In dieser Situation sind die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik für viele Menschen zu einem letzten Hoffnungsanker geworden,
doch noch ein — wenn auch zeitlich befristetes —Beschäftigungsverhältnis zu finden.Meine Damen und Herren, mit der heutigen Abstimmung über die hier vorliegenden Gesetzentwürfe und Anträge entscheidet der Deutsche Bundestag darüber, ob die Massenarbeitslosigkeit insbesondere in Ostdeutschland zusätzlich im kommenden Jahr durch den von der Bundesregierung bezweckten Abbau der Arbeitsmarktinstrumente massiv angeheizt oder aber, dem SPD-Antrag folgend, um über eine halbe Million abgebaut werden kann. Die Alternative ist sehr klar.Die von der Bundesregierung vorgelegte zehnte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz ist ausschließlich von Spardiktaten bestimmt.
1993 soll sich die Bundesanstalt für Arbeit allein durch die Beitragsleistungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanzieren. Ein Zuschuß des Bundes aus Steuermitteln soll entfallen. Das ist der erste Kernpunkt der Kritik, Herr Minister.
Es ist geradezu widersinnig, und unbegreiflich genug: In Zeiten steigender Arbeitslosigkeit in Ost- und in Westdeutschland versucht die Bundesregierung, sich aus der finanziellen und politischen Verantwortung für die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit herauszustehlen. Das ist der erste Kern unserer Kritik.
Mehr noch: Die Bundesregierung zwingt die Bundesanstalt für Arbeit, die vermuteten Haushaltsdefizite im nächsten Jahr u. a. durch einen drastischen Rückbau der Arbeitsmarktinstrumente auszugleichen.
Dies führt nach übereinstimmenden Schätzungen aller ostdeutschen Bundesländer durch entsprechende Kontingentverringerungen sowohl für ABM als auch für Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung zu einer jahresdurchschnittlichen Erhöhung der Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland um weitere ca. 150 000 Menschen.
Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen sind finanzpolitisch äußerst fragwürdig, gesellschaftspolitisch mehr als gefährlich,
und unter Verteilungsgesichtspunkten — Stichwort: gerechte Finanzierung der deutschen Einheit — sind sie das letzte vom letzten.
Ich werde versuchen, Ihnen das zu begründen. Die Maßnahmen sind finanzpolitisch äußerst fragwürdig — das ist meine erste Behauptung —, weil z. B. Kontingentkürzungen bei ABM keinesfalls mit entsprechenden Einsparungen gleichzusetzen sind. Tatsächlich verlagern sie nur die Kosten von der aktiven Arbeitsmarktpolitik hin zur passiven Finanzierung von Arbeitslosigkeit.Im übrigen widersprechen die Kürzungen auch den Erkenntnissen des Bundesarbeitsministers selbst.
Noch im vorigen Jahr hieß es in der Broschüre des Bundesarbeitsministeriums zum Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost — ich zitiere wörtlich —:Die Beschäftigung von Arbeitslosen in ABM ist ingesamt gesehen nicht teurer als durch Arbeitslosigkeit erzwungenes Nichtstun.Originalzitat Ihres Hauses, Herr Minister!In einer Stellungnahme des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zur Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages zu den Gesetzentwürfen zum Arbeitsförderungsgesetz am 30. September dieses Jahres in Bonn heißt es — wörtliches Zitat —:Eine Auflistung der fiskalischen Kosten je Monat und Person zeigt, daß die Kosten für AB-Maßnahmen nur durch die Kosten bei Kurzarbeitern und Arbeitslosen ohne Leistungsbezug unterboten werden. Dies liegt im wesentlichen daran, daß die AB-Maßnahmen infolge der Einbindung in Produktionszusammenhänge, zusätzlich positive Wirkungen entfalten, die bei Lohnersatzleistungen fehlen. Die Förderung von AB-Maßnahmen würde danach unter diesem Kostengesichtspunkt entlastend wirken. Positiv zu Buche schlägt auch der Wert des geschaffenen Produkts, dies ist in dieser Rechnung noch nicht einmal berücksichtigt.So das DIW.Ich füge nun hinzu, Herr Minister: Selbst wenn gut ausgestattete Maßnahmen der Arbeitsförderung um einiges teurer wären als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit — — Ich verstehe gar nicht, wieso der Generalsekretär der F.D.P., der aus dem Osten kommt, hier ständig grinst. Bei 3 Millionen Menschen,
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Ottmar Schreinerdie drüben so gut wie arbeitslos sind, grinsen Sie hier fortgesetzt,
und das, obwohl Hunderttausende drüben zu verzweifeln drohen.
Ich füge hinzu: Selbst wenn gut ausgestattete Maßnahmen der Arbeitsförderung um einiges teurer wären als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit, so wären sie doch tausendmal sinnvoller als die passive Hinnahme von erzwungenem Nichtstun. Sinnvolle Maßnahmen der Arbeitsförderung tragen zur gesellschaftlichen Wertschöpfung bei. Gerade in Ostdeutschland leisten AB-Maßnahmen einen ganz erheblichen Beitrag zur Verbesserung der Infrastruktur und ebnen mit den Weg für den Aufbau neuer Unternehmungen.Niemandem hilft auch die in der zehnten Novelle AFG beabsichtigte Umwandlung von AB-Maßnahmen in Teilzeitarbeitsverhältnisse.
Hier werden Arbeitnehmer zweiter Klasse geschaffen, deren Entlohnung sich der Sozialhilfe nähert, diese in vielen Fällen sogar unterschreitet.Nach einer Beispielsrechnung ist das schon bei einer Facharbeiterfamilie mit einem Kind in Ostdeutschland bei 80 % Arbeitszeit und 80 % Lohn fast immer der Fall. Die Löhne im Osten sind eben keineswegs so hoch, wie uns Herr Möllemann und andere mit ihrer Kampagne für Lohnsenkung und Tariföffnungsklauseln weismachen wollen. Das Bundesverfassungsgericht sagt: „Das Existenzminimum darf nicht besteuert werden", aber die Bundesregierung fördert im gleichen Atemzug Arbeit mit einer Entlohnung unterhalb des Existenzminimums.
Herr Abgeordneter Schreiner, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Babel zu beantworten?
Wenn sie sinnvoll ist, Herr Präsident.
Bitte.
Meine Frage wird schon sinnvoll sein.
Herr Kollege Schreiner, wie bewerten Sie denn die Tatsache, daß ein Sozialhilfeempfänger, der eine Familie mit zwei Kindern hat, im Westen, wenn Sie alle Sozialleistungen addieren, ein Einkommen hat,
das über dem eines Facharbeiters liegt, der für alle seine Kosten selbst aufkommt?
Frau Kollegin, Ihre Rechnung ist falsch. Sie mag bei einigen wenigen Beschäftigten zutreffen. Dann besteht aber die Lösung nicht darin, die Sozialhilfe zu kürzen, sondern darin, sie entsprechend den Lohnniveaus anzuheben.
Mit ihrem Änderungsantrag bietet die Bundesregierung jetzt eine gefährliche Scheinlösung an. Zwar wird bei ABM und den Arbeitnehmern nach § 249h AFG Vollzeitarbeit wieder förderungsfähig, aber um den Preis einer Lohnsenkung um 10 %. Faktisch soll der Arbeitnehmer also die restlichen 20 % seiner Arbeitszeit für den halben Lohn arbeiten. Das ist nicht nur den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, sondern auch der offizielle Aufruf zum Rechtsbruch. Noch gelten Tarifverträge auch für ABM-Beschäftigte. Die Arbeitslosen dürfen ein solches Vermittlungsangebot aber nicht ablehnen, wenn sie nicht eine Sperrzeit riskieren wollen. Wir geraten hier leicht in eine Zwangsjacke, die in Richtung staatlich verordneten Arbeitsdienst läuft.Meine Damen und Herren, die vorliegende zehnte Novelle führt aber auch in Westdeutschland zu nicht hinnehmbaren Verschlechterungen. Ich greife aus Zeitgründen nur zwei Beispiele heraus. Die bisherige Förderung des nachträglichen Erwerbs des Hauptschulabschlusses soll ersatzlos gestrichen werden. Jedermann weiß, daß Jugendliche ohne Hauptschulabschluß auf dem Arbeitsmarkt so gut wie keine Chance haben. Viele dieser Jugendlichen werden der Gesellschaft dann auf ganz andere Weise zur Last fallen, z. B. als jugendliche Gewalttäter.Wir können Sie nur dringlichst auffordern, diese Maßnahmen zu verlängern. Es ist eines der schäbigsten Kürzungsprojekte in der zehnten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes, weil es auf dem Rücken der Schwächsten der Schwachen ausgetragen wird.
Für mich spielen ordnungspolitische Überlegungen so lange keine Rolle, wie nicht eine wie auch immer angemessene Anschlußregelung gefunden worden ist.
Die Änderungen des § 128 AFG und der damit zusammenhängenden Regelungen sind auch nach den Änderungen im Ausschuß unserer festen Überzeugung nach nicht praktikabel. Sie werden zudem den in vielen Branchen angekündigten Personalabbau in unverantwortlicher Weise vorantreiben und führen darüber hinaus zu keinen wirklichen Einsparungen. Die Gelder, die heute die Bundesanstalt für Arbeit zur Finanzierung von Frühverrentungen beisteuert, werden dann zur Finanzierung offener Arbeitslosigkeit verausgabt. Ich prognostiziere Ihnen,
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Ottmar Schreinerdaß im Gegensatz zu heute zukünftig in nicht wenigen ertragsschwachen Unternehmungen auf Grund der Neuregelungen statt zum Mittel sozialverträglicher Frühverrentung älterer und häufig auch arbeitsmäßig verbrauchter Menschen zum Mittel betriebsbedingter Kündigungen jüngerer Arbeitnehmer gegriffen wird.Es ist sozialpolitisch und im Interesse der Menschen völlig unverständlich, wieso die Bundesregierung Frühverrentungen erschwert und Massenentlassungen fördert. Wir sind froh darüber, daß zumindest für den Montanbereich, wo drastische Personaleinsparungen anstehen, eine gemeinsame Ausnahmeregelung bis Ende 1995 gefunden werden konnte. Im übrigen aber haben Sie alle Vorschläge der SPD, die zu einer sachgerechten und praktikablen Regelung geführt hätten, abgelehnt.
Nun sage ich Ihnen noch etwas zu Ihrer Bemerkung vom Jugendtick. Auch ich bin, da ich langsam in die Jahre komme, dagegen, einer Art Jugendtick zu huldigen. Nur soll mir irgendeiner erklären, welchen Sinn es machen soll, wenn Maßnahmen, die ergriffen werden, bewirken, daß der 57jährige abgearbeitete Industriearbeitnehmer weiter zur Arbeit gehen muß, während sein 30jähriger Sohn zur Entlassung ansteht. Welchen Sinn soll das machen?
Wenn Sie vom Jugendtick reden, Herr Bundesarbeitsminister, wissen Sie auch, daß nur ein Drittel der westdeutschen Arbeitnehmerschaft gesund und im Erwerbsleben stehend das Rentenalter erreicht.
— Nein, ich gehe nicht haarscharf am Problem vorbei. Es geht vielmehr um die Frage: Finden wir eine angemessene Lösung, die verhindert, daß bei ertragsschwachen Unternehmungen statt einer aus humanen, arbeitsmarktmäßigen und anderen Gründen sinnvollen Frühverrentung von älteren, abgearbeiteten Arbeitnehmern die jüngeren über Massenentlassungen in die offene Arbeitslosigkeit entlassen werden? Das ist die Frage.
Ich habe zudem gesagt, Ihre Maßnahmen sind gesellschaftspolitisch äußerst gefährlich und nicht zu verantworten. Wir haben gegenwärtig schon in Ostdeutschland einen Sockel an Langzeitarbeitslosen in Höhe von ca. 300 000 Menschen. Diese Zahl steigt täglich weiter an. Langzeitarbeitslosigkeit verändert den Menschen. Eine auch aus westdeutschen Beobachtungen bekannte Folge ist die zunehmende Gewalt in der Familie. Die Opfer sind in der Regel Frauen und Kinder.Die Hoffnungslosigkeit vor allem arbeitsloser junger Menschen entlädt sich häufig in sinnlosen Gewaltaktionen. Die wachsende Ausländerfeindlichkeit hat hierin eine wesentliche soziale Ursache. Die gesellschaftliche Ausgrenzung junger Menschen führt zuHaß, ja, wie wir gesehen haben, zu Mord und Totschlag. Ein sozialer Rechtsstaat muß wirksamer gegensteuern, als dies gegenwärtig geschieht. Sie bewirken mit der zehnten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes das Gegenteil. Die Hoffnungslosigkeit insbesondere in Ostdeutschland wird weiter wachsen.In einer neue Jugendstudie des Computerkonzerns IBM, die im September dieses Jahres vorgestellt wurde, heißt es: Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung sind drei Viertel der befragten Jugendlichen im Alter von 16 bis 24 Jahren im Osten und etwa die Hälfte im Westen von der wirtschaftlichen Entwicklung enttäuscht. Der Jugend in Ostdeutschland bereitet die wachsende Arbeitslosigkeit die allergrößten Sorgen. Hilfe von Staat und Wirtschaft fordern sie vor allem, um mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze, mehr Freizeitangebote und Wohnungen zu schaffen.Die Generalbevollmächtigte des Konzerns, Frau Schulte-Wolters, sagte bei der Vorstellung der Studie, hier liege der wesentliche Grund für eine bisher nicht gekannte Staatsverdrossenheit. Hier liegt auch ein wesentlicher Grund für die Abwendung vieler Jugendlicher von den demokratischen Parteien, die Hinwendung zum Rechtsradikalismus in seinen verschiedenen Spielarten und damit einhergehend eine zutiefst besorgniserregende Ausländerfeindlichkeit.
Ich wünsche mir schon seit langem, unsere Gesellschaft, unsere Medien und wir Politiker würden mit einer vergleichbaren Intensität über soziale Ursachen von Haß und Gewalt und gesellschaftliche Präventionsstrategien diskutieren, wie wir über staatliche Abwehrmaßnahmen gegenüber den Auswirkungen dieser Ursachen sprechen.
Es hätte wesentlich mehr Sinn gemacht, am heutigen Vormittag im Deutschen Bundestag über die sozialen Ursachen von Gewalt zu diskutieren als über einen Schein- und Pseudoantrag der CDU/CSU und F.D.P. mit dem einzigen Ziel, die Sozialdemokraten vorzuführen. Dann hätte die Debatte einen wesentlich größeren Sinn gehabt.
Meine Damen und Herren, ich habe schließlich gesagt, Ihre Gesetzesvorlage sei auch unter dem Gesichtspunkt einer sozial gerechten Verteilung der Lasten gerade das Gegenteil dessen, was geboten und überfällig ist. Sie verschärfen noch durch den vollständigen Rückzug des Bundes aus der Finanzierung des Haushaltes der Bundesanstalt die soziale Schieflage der bitter notwendigen Unterstützungsleistungen für Ostdeutschland. Nunmehr sollen nämlich auf dem Feld der Arbeitsförderung und der Lohnersatzleistungen ausschließlich die abhängig Beschäftigten in Westdeutschland als die Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit den Finanztransfer von West- nach
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Ottmar SchreinerOstdeutschland in einer Höhe von über 30 Milliarden DM finanzieren.Die Ungerechtigkeit dieser Form der Lastenverteilung, an der eben nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen beteiligt sind, belastet in hohem Maße die Solidaritätsbereitschaft der westdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Vor wenigen Tagen noch hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung die Ergebnisse einer Untersuchung vorgetragen, wonach bei den gesellschaftlichen Gruppen die Arbeiter in Westdeutschland mit rund 4 % des Monatseinkommens die Hauptlast der Finanzierungskosten tragen, wohingegen Selbständige und Beamte nur ca. 1,5 % ihres Monatseinkommens aufwenden müßten. Hauptursache dieser Unterschiede ist nach Angaben des Instituts die Finanzierung von Transfers der Sozialversicherung von West- nach Ostdeutschland aus den Mitgliedsbeiträgen.Anstatt diese Entwicklung zu korrigieren, tragen Sie zu einer weiteren Verschärfung bei, indem sich der Bund aus jeder Finanzierungspflicht gegenüber der Bundesanstalt zurückzieht.
Wir fragen: Wie ernst ist vor diesem Hintergrund eigentlich Ihr lautes Nachdenken über einen gesellschaftlichen Solidarpakt zu nehmen? Wirkliche Solidarität kann nicht erzwungen werden. Der Bereitschaft zur Solidarität geht aber voraus, daß es gerecht zugeht und jeder die Lasten noch schultern kann, die ihm aufgebürdet werden:
Wir Sozialdemokraten haben dazu Vorschläge gemacht, z. B. die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe, um vor allem die Freiberufler und Beamten angemessen an der Finanzierung der Einheit zu beteiligen, z. B. die Fortsetzung der Ergänzungsabgabe bei Schonung der unteren Einkommen. Wir Sozialdemokraten sind nicht in Instrumente verliebt. Entscheidend ist, daß es bei der Finanzierung der deutschen Einheit gerecht zugeht.
Herr Abgeordneter Schreiner, der Abgeordnete Hörsken möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Er hat sich schon längst wieder hingesetzt.
Er wollte Sie nur nicht in Ihrem Redefluß unterbrechen.
Ich bitte, die Uhr anzuhalten, Herr Präsident, da ich noch ein paar Bemerkungen machen wollte.
Herr Abgeordneter Schreiner, daß Sie überhaupt daran zweifeln, daß ich das nicht täte.
Bitte schön.
Herr Kollege Schreiner, könnten Sie diesem Hause vielleicht einmal erläutern, was es 1982 unter der Verantwortung der Sozialdemokraten bei steigender Arbeitslosigkeit an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegeben hat?
Lieber Herr Kollege Hörsken, in jeder Rede spielt der Bundesarbeitsminister Adam Riese und erzählt, was 1980, was 1970 und was 1890 war. Die Beantwortung Ihrer Frage macht überhaupt keinen Sinn, weil wir vor völlig neuen Herausforderungen stehen.
Ich räume Ihnen gerne ein, daß nach meiner Auffassung — ich habe das damals bereits bei uns in der Fraktion vorgetragen — auch unsere Antworten nicht ausreichend waren. Aber diese Bundesregierung hat doch 1982 die alte sozialliberale Bundesregierung mit dem Versprechen abgelöst, alles besser und nicht alles schlechter zu machen.
Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion setzt mit ihrem Antrag „Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik: — Arbeit statt Arbeitslosigkeit —" auf eine neue mittelfristige Strategie. Im Kern geht es darum, mit einem Strukturförderprogramm und einem Initiativprogramm für Frauen 550 000 zusätzliche Arbeitsplätze in Ostdeutschland über einen Zeitraum von drei Jahren zu fördern. Die Finanzierung erfolgt aus Bundesmitteln und verstärkt durch Landesmittel. Ansonsten sollen arbeitslose Arbeitskräfte unter Anrechnung der Lohnkostenzuschüsse auf das Auftragsvolumen vorzugsweise bei privaten Arbeitgebern Beschäftigung finden. Arbeitsförderungsgesellschaften und gemeinnützige Träger können Aufträge erhalten.Beide Programme gehen bewußt über das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium des Arbeitsförderungsgesetzes hinaus, das Privatinvestitionen nur in sehr begrenztem Maße unterstützen kann. Beide Programme sollen die Lücke zwischen der kurzfristig durchaus wirksamen Arbeitsmarktpolitik und der notwendigen, aber erst langfristig und nur teilweise arbeitsmarktwirksamen Investitionsförderung schließen. Ergänzend sind die Forderungen nach einer regional abgestimmten Verzahnung von Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Nicht zuletzt geht es um eine gerechtere Lastenverteilung durch die Einführung eines Arbeitsmarktbeitrags.Unser Antrag beruht im wesentlichen auf drei Überlegungen. Erstens. Es wird geschätzt, daß im Jahre 1992 die verschiedenen Formen der Unterbeschäftigung in Ostdeutschland — offizielle Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit Null, Vorruhestand, Altersübergangsgeld usw. — ca. 35 Milliarden DM kosten. Hier findet angesichts des buchstäblich auf der Straße liegenden Arbeitsbedarfs in Ostdeutschland eine gigantische Verschwendung beitragsfinanzierter Lei-
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Ottmar Schreinerstungen statt, denen keinerlei Wertschöpfung gegenübersteht.
Zweitens. Die enormen Defizite im Bereich der öffentlichen Infrastruktur — nicht nur, aber vor allem im Umweltsektor — in Ostdeutschland sind ein wesentliches Investitionshindernis. Sie stellen zudem eine enorme Belastung für die in der jeweiligen Region lebenden Menschen dar. Unser Vorschlag eines attraktiven, wirtschaftsnahen Förderinstruments dient somit gleichermaßen der Verbesserung der Lebensqualität.Drittens. Private, oft noch kapitalschwache Unternehmen in Ostdeutschland sollen besonders gefördert werden. Unser Programm sieht neben der Lohn- auch eine besondere Sachmittelförderung vor. Wir wissen, daß mittelfristig angelegte Arbeitsplätze einer angemessenen Sachmittelausstattung bedürfen. Die Zuweisung der Mittel in der Regel an private Unternehmungen soll dazu beitragen, allmählich von den eher staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wegzuorientieren und statt dessen den Aufbau von Dauerarbeitsplätzen in der privaten Wirtschaft zu fördern.Uns ist gelegentlich entgegengehalten worden, es sei sinnvoller, die Fördermittel direkt an die Kommunen zu geben. Arbeitsmarktpolitische Gründe sprechen aber dagegen. Der Arbeitsplatz und damit auch der Kostenentlastungseffekt ist nur bei einer konkreten arbeitsplatzbezogenen Förderung möglich. Zudem ließe sich die Sachmittelförderung bei den Gemeinden kaum umsetzen, es sei denn, man würde dort ein regelrechtes Imperium von Firmen in öffentlicher Hand aufbauen, was niemand will.Meine Damen und Herren, der Vorschlag der SPD hat breiteste Zustimmung gefunden. Der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit hat in einer Erklärung vom 25. September dieses Jahres die zehnte Novelle der Bundesregierung als kontraproduktiv und nicht den Arbeitsmarkterfordernissen entsprechend bezeichnet.
Er hat darüber hinaus die Anregungen der „Schweriner Erklärung" aller Arbeitsministerinnen und Arbeitsminister Ostdeutschlands begrüßt. In der „Schweriner Erklärung" vom 27. August dieses Jahres, die, um es noch einmal zu betonen, von allen Arbeitsministern Ostdeutschlands unterzeichnet wurde, heißt es — ich zitiere —:Durch eine enge Verzahnung der Instrumente der Arbeitsförderung mit der Wirtschaftsförderung sollen gerade auch Anreize für privatwirtschaftliches Engagement in den neuen Bundesländern geschaffen werden.Das aber ist genau die Quintessenz unseres Antrags, der Ihnen heute zur Abstimmung vorliegt.Dem „Handelsblatt" vom 29. September dieses Jahres entnehme ich, daß der scheidende Vorstandsvorsitzende der Siemens AG, Dr. Karlheinz Kaske, der Auffassung ist, die ostdeutschen Länder benötigten dringend ein Strukturprogramm. Mit welchen Maßnahmen ein Arbeits- und Strukturprogramm für Ostdeutschland realisiert werden solle, bedürfe der Diskussion. Entscheidend sei allein — so wörtlich —,daß diese 16 Millionen Menschen dort rasch zu vernünftigen Lebensbedingungen kommen.
— Er fährt fort:Und jetzt kommen dieselben,— Herr Kollege Louven; er hat sie nicht ausdrücklich genannt —die 40 Jahre lang Strukturpolitik in Westdeutschland gemacht haben, und beklagen sich darüber, daß jemand Strukturpolitik für Ostdeutschland machen will. Das darf doch wohl nicht wahr sein.So Herr Kaske, Vorstandsvorsitzender der Siemens AG.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen: Ich will Ihnen nicht verheimlichen, daß mir das Institut der deutschen Wirtschaft brieflich mitgeteilt hat — ich zitiere —:Ihr Antrag „Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik: Arbeit statt Arbeitslosigkeit" zeigt einen gangbaren Weg auf.Die SPD-Fraktion — um das abschließend zu sagen — ist in der nicht alltäglichen Situation, für einen Vorschlag, bei dem es immerhin um mehr als eine halbe Million Arbeitsplätze geht, einen breiten und alle gesellschaftlich relevanten Gruppen umfassenden Konsens gefunden zu haben bzw. zu finden.Meine Damen und Herren, Sie sind mit Ihrem Rückzug nach vorgestern völlig isoliert; Sie sind allein auf weiter Flur. Sie finden in der Gesellschaft niemanden mehr, der Ihre nach rückwärts gewandten Maßnahmen unterstützt. Deshalb: Geben Sie sich einen Ruck, ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück, stimmen Sie dem SPD-Antrag zu. Machen wir uns ans Werk. Helfen wir den Menschen.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Heinz Schemken das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Zahlenspiel von Herrn Schreiner ist hochinteressant. Es bleibt aber dabei, daß das Arbeitsförderungsgesetz ein ganz wichtiges Element ist, um die Probleme in den jungen Bundesländern, die natürlich ein einmaliger Vorgang sind und die uns auch mit Sorge erfüllen, zu bewältigen.Ich verstehe aber nicht, wie Sie zu Ihren Zahlen kommen, Herr Schreiner. Ihre Aussage, damit würden
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Heinz Schemken150 000 Menschen arbeitslos, hat der Herr Minister soeben widerlegt. Denn von den 900 000 in Qualifizierungsmaßnahmen sind weit über 80 % der Männer und weit über 70 % der Frauen in den Arbeitsmarkt zurückgekehrt. Also hat Qualifizierung zu einem Arbeitsplatz geführt. Deshalb kann man bei einer Regelung, die auf das Wesentliche beschränkt werden soll, nicht mit einer geringeren Zahl „aufsatteln".Ich sage ganz bewußt: Angesichts der Sorge, die uns umtreibt, mußten wir trotz der knappen Beratungszeit fristgerecht den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz vorlegen, um zu verhindern, daß uns ab dem 1. Januar 1993 die Instrumente nicht zur Verfügung stehen, die wir benötigen, um den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung in den neuen Bundesländern in der Tat sicherzustellen.Daß wir in einer kritischen Phase sind, bestreitet niemand. Aber, ich meine, wir dürfen den Verteilungsstreit nicht weiter betreiben. Denn es steht doch außer Frage, lieber Herr Schreiner: Es ist ja nicht so, daß die Bundesregierung in den Jahren zwischen 1982 und heute auf dem Arbeitsmarkt nichts geleistet hätte. Sie hat sicherlich nicht alles erfüllen können. Aber eines steht fest: 1982 sackte die Beschäftigungsquote unter 26 Millionen. I leute liegt sie in den alten Bundesländern bei weit über 29 Millionen. Dies sind immerhin weit mehr als 3 Millionen Arbeitsplätze. Das ist immer jeweils ein Einzelschicksal, 3 Millionen mal ein Einzelschicksal.
So wollen wir auch in bezug auf den Transfer in die jungen Bundesländer fortfahren. 130 Milliarden DM gehen herüber. Sie kommen aber nicht zielgerecht an. Ich werde dazu gleich noch etwas sagen.Über 30 Milliarden DM — das hat soeben der Bundesarbeitsminister deutlich gemacht — gehen allein über die Beitragszahler in die neuen Bundesländer.
—Nur in der Arbeitslosenversicherung. — Das Budget der Bundesanstalt für Arbeit beträgt mittlerweile ungefähr 97 Milliarden DM. Ich sage ganz deutlich: Da müssen wir uns die Frage nach der Finanzierbarkeit stellen.
Wer sich dieser Frage nicht stellt, täuscht den Bürgern etwas vor. Wollen Sie die Beiträge erhöhen? Wollen Sie die Belastung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber weiter steigern? Wir halten dies in der augenblicklichen Situation nicht für vertretbar.
Wollen Sie den Bundeshaushalt weiter belasten, müssen Sie die Steuern erhöhen. Auch dies können wir den Bürgern augenblicklich nicht zumuten.
— Nein.Wir stellen fest, daß die Akzeptanz der Bürger, auch was die Frage einer möglichen Neuverschuldung angeht, gering ist. Denn eine Neuverschuldung bedeutet eine Belastung in der Zukunft und beeinträchtigt den Handlungsspielraum gerade von uns Sozialpolitikern. Wir könnten in Zukunft weniger Sozialpolitik machen, wenn wir im Haushalt durch eine Neuverschuldung noch mehr eingeengt würden.Daß die Akzeptanz bei den Bürgern nicht mehr vorhanden ist, zeigt sich daran, daß sie sich von den traditionellen demokratischen Parteien entfernen. Dies ist so, und es hat nicht allein mit der Arbeitslosigkeit zu tun. Auch die Ausländerfeindlichkeit hat nicht nur mit der Arbeitslosigkeit zu tun; es ist ein völlig anderes Phänomen auch in der Asylproblematik. Sie wissen sehr wohl, daß sich gerade dort, wo Bürger in Arbeit sind, die Ausländerfeindlichkeit breitmacht. Wir müssen da an die Wurzeln. Da bin ich mit Ihnen einig.
— Auch dort, wo sie in Arbeit sind; ich hatte noch gestern abend Gelegenheit, das zu erfahren.Die Schwerpunkte müssen wir nun einmal setzen, um in den Fragen der Zukunft in den neuen Bundesländern auf diesem hohen Niveau überhaupt voranzukommen. Auf diesem hohen Niveau, auf dem wir uns bei den Ausgaben befinden, muß es möglich sein, mit Schwerpunkten effizienter an die Lösung der Probleme heranzugehen.Der wirtschaftliche Aufschwung wird durch völlig andere Phänomene behindert. Da gibt es einen Auftragsstau bei den öffentlichen Verwaltungen. Es fehlen 30 000 Mitarbeiter in den Grundbuchämtern. Über eine Million Anträge auf Regelung von Vermögensfragen liegt dort. Es kann nicht hingenommen werden, daß in großem Umfange die Investitionen scheitern — ich nenne noch einmal die Transferleistungen von 130 Milliarden DM in die jungen Bundesländer —, weil Vermögen nicht übertragen wird, weil Grundstücke nicht vermessen werden und Bebauungspläne fehlen, Planungs- und Genehmigungsverfahren sich über Jahre hinziehen.
Dies geht nicht so weiter. Ich sage das ganz deutlich.Das können Sie auch mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nicht ausgleichen. Wir brauchen deshalb im Solidarpakt Ost wichtige Entscheidungen, die diesen Mißstand beseitigen. Ich meine, hierzu brauchen wir die Zustimmung und Solidarität aller Gruppierungen.Wer heute allein die Solidargemeinschaft der Beitragszahler zur Kasse bittet, um diese Schäden in der ehemaligen DDR zu beseitigen, schafft das nicht; er wird damit scheitern. Wir brauchen die Entlastung — das ist der Sinn dieses Arbeitsförderungsgesetzes — der Beitragszahler, z. B. die Herausnahme von Eingliederungsleistungen für Aussiedler, wie es der Herr Minister ausgeführt hat. Fremdleistungen müssen heraus. Notwendig ist die Überprüfung der Qualität
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Heinz Schemkenarbeitsmarktpolitischer Maßnahmen und der Zweckmäßigkeit von beruflichen Bildungsmaßnahmen vor Beginn der Förderung. Es wird hier auch manches finanziert, was am Ende nicht zu dem gewünschten Erfolg führt.Wir brauchen die Einschränkung der Förderungshöhe bei dem Einarbeitungszuschuß, weil er sich so nicht bewährt hat, weil er einen Mitnahmeeffekt hat. Wir brauchen auch die Angleichung der Förderungskonditionen der allgemeinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den jungen Bundesländern an die Kriterien der alten Bundesländer. Wir können nicht mehr in dem bisherigen Ausmaß aus dem Vollen schöpfen; es muß hier auch eine Neubegrenzung der Finanzierungsverantwortung herbei. Dies gilt auch für die Empfänger von Altersübergangsgeld.Die Einführung eines neuen Instruments — Sie hatten es auch gesagt, Herr Schreiner — ist sicherlich zu begrüßen. Deshalb sollte man Positives auch positiv sein lassen. Es geht darum, Arbeitslosen langfristig die Sicherheit zu geben, daß sie in sinnvolle Arbeit kommen, indem wir dort die Umweltprobleme beseitigen, indem wir insbesondere die Sanierung der Umwelt mit Freilegung von Industriebrachen zur Verfügbarkeit von Industrieansiedlungen, von Wohnungsbau und anderen Strukturelementen schaffen. Dies ist eine sinnvolle Hinführung von Beitragsmitteln auf einen Punkt, wo die Menschen nun wirklich etwas davon haben. Schon allein aus diesem Grunde könnte man diesem Antrag zustimmen, Herr Schreiner.
— Ich komme gleich noch dazu.Die CDU/CSU, aber auch die F.D.P. — das darf ich für Frau Dr. Babel sagen — haben hier Erwartungen. Wir haben gestern noch in einem anderen Zusammenhang sehr intensiv darüber beraten. Ich denke an das Zusammenspiel auch in den Verhandlungen von Bund und Ländern in vielfältiger Beziehung, die jetzt folgen. Ich teile da Ihre Bedenken bezüglich der jungen Menschen, die nicht den Hauptschulabschluß haben. Diese Frage muß bundesweit von Rostock bis Konstanz und von Aachen bis Görlitz geregelt werden. Das wird nämlich jetzt sehr unterschiedlich von den einzelnen Ländern in Anspruch genommen. Es handelt sich am Ende „nur" um 25 Millionen DM. Ich will jetzt nicht auf gewisse Länder schielen; darum geht es gar nicht. Uns geht es um die Jugendlichen.
— Ja, sicher, man könnte natürlich das Land Nordrhein-Westfalen nennen, Herr Louven; ich will Ihren Einwand aufgreifen. Mir geht es jetzt aber gar nicht darum. Mir geht es darum, darauf hinzuweisen: Wir haben im Ausschuß die Entschließung gefaßt, daß hier eine Anschlußregelung erfolgt, damit wir imstande sind, den jungen Menschen den Einstieg in das Berufsleben zu garantieren, weil sie sonst eben die Langzeitarbeitslosen von morgen sind.
Herr Abgeordneter Schemken, der Herr Abgeordnete Urbaniak möchte eine Zwischenfrage stellen.
Wenn mir das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Nein, aber das Stichwort Nordrhein-Westfalen gibt offenbar Anlaß zu der Zwischenfrage.
Herr Kollege Schemken, Sie wissen doch, daß dieses Instrument, den Hauptschulabschluß durch Arbeit und Lernen nachzuholen, sehr, sehr erfolgreich war. Sie kennen das insbesondere aus dem Bereich, aus dem Sie kommen. Sie führen das aber in dem Gesetz, das Sie vorlegen, dem Ende zu. Es gibt keine Perspektive, wie wir diese Maßnahmen für junge Menschen weiterführen können. Welchen Vorschlag haben Sie denn, damit wir mit dem bewährten Mittel weiterfahren können? Das müßten Sie einmal sagen.
Herr Urbaniak, die Bundesregierung hat nach unserem Entschließungsantrag, im zuständigen Fachausschuß verabschiedet, den Auftrag, die Verhandlungen mit den Ländern unverzüglich zu führen. Wir werden am Ende eine Lösung finden müssen.
Vielleicht sollten wir auch einmal über folgenden Punkt kurz nachdenken. Wir versäumen schon seit Jahren — Sie können mir das wirklich glauben; ich bin da mitten in der Bildungspolitik drin —, junge Menschen in den Hauptschulen frühzeitig für einen praktischen Beruf zu motivieren. Dies müßte schon im achten und neunten, spätestens aber im zehnten Schuljahr geschehen. Denn über die praktische manuelle Tätigkeit führen Sie manchen, der theoretisch nicht so begabt ist, aber in seiner praktischen Entfaltung ein Talent ist, dann auch zu entsprechender fachlicher Ausbildung. Ich kann das, was Sie sagen, im Kern nur bestätigen. Das sollte die Arbeitsverwaltung auch einmal leisten.Ich gebe noch folgendes zu bedenken und verweise dabei auf die Entschließung, die wir in dem zuständigen Fachausschuß gefaßt haben und die in der Berichterstattung über das Arbeitsförderungsgesetz erwähnt wird. Wir sind der Meinung, daß auch im Rahmen des Solidarpaktes darüber nachgedacht werden muß, ob es alleine den Beitragszahlern zuzumuten ist, diese Leistungen für die jungen Bundesländer zu erbringen. Im Rahmen des Solidarpakts muß darüber nachgedacht werden — die Initiative dazu ist ja von uns im Ausschuß eingebracht worden —, wie wir hier zu einer gerechten Verteilung der Aufwendungen kommen. Daran kommen wir nicht vorbei.Ich meine, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen können nicht allein von dem Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit geleistet werden. Dazu gehört vielmehr, daß alle gesellschaftlichen Gruppierungen mittun. Das kann die Bundesregierung nicht alleine bewältigen. Das können wir auch nicht alleine bewältigen. Am Ende kann nur die Summe der Steuerzahler, die Summe derjenigen, die wir allesamt vertreten, dem Anliegen des Aufbaus Ost gerecht werden.
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Heinz Schemken— Herr Urbaniak, Sie haben bisher keine Alternativen aufgezeigt, auch Herr Schreiner nicht.
— Ich habe der Rede von Herrn Schreiner keine entnommen; ich sage das ganz offen.Ich weise auf den Solidarpakt und die Notwendigkeit hin, alle gesellschaftlich relevanten Kräfte zu gewinnen, um den Beitragszahler zu entlasten, damit er nicht alleine für dieses Ungleichgewicht zu bezahlen hat. Ich meine, dies ist ein guter Beginn. Sie sollten dem eigentlich nur zustimmen.
— Ja, bitte schön, Frau Weiler.
— Entschuldigen Sie.
Ich habe eine Kehlkopfentzündung, und deswegen klingt meine Stimme heute so.
— Nein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Weiler?
Herr Kollege Schemken, Sie sprachen gerade davon, daß Sie Gegenvorschläge vermißt haben. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß Teil der heutigen Debatte der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ist, in dem wir ausführliche Finanzierungsvorschläge gemacht haben?
Frau Kollegin, die SPD macht nur Vorschläge, wie man Mehreinnahmen erzielen kann, wie man abschöpfen kann. Sie können aber nicht nur abschöpfen und sagen: Wir brauchen Mehreinnahmen, weil es ein Defizit gibt. Am Ende machen Sie keinen passablen Vorschlag — es sei denn, dieses einfache Instrumentarium —, um die anstehenden Probleme zu lösen.
Ich sage abschließend: Mit der gegenwärtigen Finanzierung allein aus Beitragsmitteln ist dies nicht sozial gerecht zu regeln; das sage ich ganz offen. Wir erwarten hierbei die Mitwirkung aller gesellschaftlichen Kräfte und lehnen deshalb den zu kurz gegriffenen Antrag der SPD ab.
Kollege Schemken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs?
Bitte.
Sie haben in Ihrer Schlußbemerkung soeben gesagt, daß wir doch Vorschläge gemacht haben. Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß in dem Programm „Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik — Arbeit statt Arbeitslosigkeit" nicht nur über Geld gesprochen wird, sondern auch über die Frage, wie man zusätzlich 500 000 Menschen in Arbeit bringt? Insofern haben wir doch eine Alternative. Ich möchte Sie fragen, warum Sie dieser Alternative nicht zustimmen können.
Weil wir der Meinung sind, daß diese Alternative unter den augenblicklichen Prämissen, auch angesichts der Vorgaben des Bundeshaushalts und des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit, nicht das Optimum darstellt.
— Ja, man muß ehrlich bleiben. Wir halten den einen oder anderen Weg, den Sie vorschlagen, nicht für den richtigen Ansatz, weil wir mehr darauf setzen, den ersten Arbeitsmarkt zu fördern.
Wir Sozialpolitiker können dieses Thema nicht allein mit dem Einsammeln der links und rechts Abgedrifteten bewältigen.
Wir brauchen hier einen vernünftigen Ansatz aller in der Gesellschaft relevanten Kräfte. Das kann die Bundesregierung allein nicht schaffen, sondern mitziehen müssen auch die Landesregierungen und eine gut funktionierende Kommunalverwaltung vor Ort.
Kollege Schemken, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön, Frau Rennebach.
Herr Schemken, was sagen Sie dazu, daß sämtliche Experten, die an unserer Anhörung teilgenommen haben, auch die Vertreter der Unternehmensverbände und der oberste Arbeitsmarktexperte, nämlich der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, gesagt haben, daß unser Programm ein richtiger Weg ist und Ihr Programm in die weitere Langzeitarbeitslosigkeit führt?
Nicht alle haben es gesagt. Sie haben sich auch nicht ausdrücklich auf dieses Programm kapriziert.Ich will Ihnen eines sagen: Zwischen den Funktionären, die uns in den Anhörungen Auskunft geben, und denen, die sie vertreten, gibt es — das sage ich Ihnen ganz offen — meilenweite Unterschiede.
— Herr Urbaniak, damit Sie sich nicht so aufregen: Wenn ich einerseits höre, wie beispielsweise der Mittelstand und das Handwerk in den Anhörungen zu den Gesetzentwürfen Stellung nehmen, und andererseits höre, was draußen der Handwerksmeister sagt, dann glaube ich manchmal, ich hörte zwei verschiedene Welten.
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Heinz SchemkenFrau Rennebach, auf gutem Weg werden wir uns sicherlich wieder treffen. Wir halten etwas davon, daß die Bewältigung dieser Aufgabe in einem Solidarpakt von allen angegangen wird.Ich muß jetzt darauf achten, daß die Debatte nicht unnötig verlängert wird; deshalb möchte ich keine weitere Zwischenfrage mehr zulassen, zumal ich gleich noch einen wichtigen Hinweis zu geben habe.Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß die Sorgen uns alle miteinander nicht mehr loslassen. Es hat daher keinen Sinn, die Schuld der einen oder der anderen Partei zuzuschieben. Ich habe soeben schon darauf hingewiesen: Der Konsens und die Akzeptanz in der Bevölkerung sind aus ganz anderen Gründen aufs äußerste in Gefahr. Wir sollten uns bemühen, in diesen existentiellen Fragen Brücken zu schlagen und die Kluft nicht noch weiter aufzureißen.
Ich darf nun noch eine redaktionelle Bemerkung machen, Frau Präsidentin. Wir danken dem Sekretariat des Ausschusses für die geleistete Arbeit. Es ist nur ein kleiner Fehler zu korrigieren, der sicherlich durch die Eile, bei einem so wichtigen Gesetzgebungsvorhaben ein gutes Ergebnis zu erreichen, unterlaufen ist. Auf Seite 29 der Beschlußempfehlung steht unter Ziffer 10 Punkt 2: bis zum 31. Dezember 1994. Es muß natürlich heißen: bis zum 31. Dezember 1995.Ich bedanke mich recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste hat nun die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heute zur Entscheidung stehende 10. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz ist alles andere als ein Beitrag zur Beschäftigungsförderung. Die Bundesregierung setzt damit den eingeschlagenen Weg von Kürzungen und Einsparungen fort und das, wie schon gesagt wurde, in einer Situation, in der Ausbau, Mittelaufstockung und ganz neue Impulse im Interesse einer aktiven Arbeitsmarktpolitik vonnöten wären.Dies jedenfalls war auch die Auffassung von fast allen Experten in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zur AFG-Novelle. Von Gewerkschaften über kommunale Spitzenverbände bis zu Betroffenenorganisationen werden die beabsichtigten arbeitsmarktpolitischen Einschnitte abgelehnt und ihre Wirkung angesichts der katastrophalen Beschäftigungslage, besonders in den neuen Bundesländern, als äußerst kontraproduktiv angesehen. Besonders kritisiert wurde — dem kann ich mich nur anschließen —, daß von den vorgesehenen Einsparungen vor allem jene Beschäftigtengruppen betroffen sind, die ohnehin nur schwer ins Erwerbsleben zu integrieren sind: Langzeitarbeitslose, Jugendliche,Behinderte, Berufsrückkehrerinnen und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Lassen Sie mich hinzufügen: Mir ist wirklich unverständlich, mit welcher Ignoranz wir z. B. 15 000 Petitionen, die an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gegangen sind, und auch die viele Post, die uns Abgeordneten zugegangen ist, behandelt haben. Kürzungen in der individuellen Förderung von Fortbildung und Umschulung sind in diesem Zusammenhang ebenso fatal wie die Reduzierung der Einarbeitungszuschüsse und die beabsichtigte Abschaffung der Möglichkeit, nachträglich den Hauptschulabschluß zu erwerben. Ähnliches gilt für die Verschärfung der Fördervoraussetzungen für die berufliche Rehabilitation, die Eingliederung von Aussiedlerinnen und Aussiedlern und die Änderung der ABM-Konditionen.Lassen Sie mich anfügen: Herr Blüm, Sie haben wieder das Argument einer notwendigen Ausgliederung systemfremder Leistungen gebracht. Ich denke, darüber ist in der Tat zu diskutieren. Aber solange keine Kompensationen für die entstehenden Lücken auf dem Tisch liegen, halte ich solche Entscheidungen für unverantwortlich.
Mit der 10. Novelle spitzt sich aber nicht nur die Lage der jeweils Betroffenen zu; gefährdet sind dadurch auch eine Vielzahl von Projekten, Initiativen und Einrichtungen, die die soeben genannten Bereiche zum Schwerpunkt ihrer Maßnahmen haben. Durch den Wegfall von Bundeszuschüssen ist ihre Weiterarbeit — teilweise sogar ihre Existenz in Frage gestellt; ebenso die Weiterbeschäftigung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesen Bereichen.Ein ganzes Netzwerk von kommunalen und anderen Beratungsstellen, das sich um die Qualifizierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Vermittlungsaussichten bemüht, ist durch die Sparnovelle bedroht. Die dort Beschäftigten sind zutiefst verunsichert; dies auch deshalb, weil die örtlichen Arbeitsämter in Ost und West — quasi in Vorwegnahme der Novelle — durch einen Runderlaß des Präsidenten der Bundesanstalt vom 14. Juli dieses Jahres gezwungen sind, bei der Bewilligung von Maßnahmen nach den neuen Konditionen zu verfahren.Die Sparnovelle hat aber noch einen anderen Aspekt: Sie trägt nicht dem Umstand Rechnung, daß arbeitsmarktpolitische Maßnahmen bestimmte Anlaufzeiten brauchen, bevor sie wirklich greifen. Hier gab es sicherlich einen Verbesserungsbedarf. Aber jetzt, da in vielen Einrichtungen ein qualifiziertes Angebot entwickelt wurde und das Interesse bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern gewachsen ist, werden Maßnahmen gestrichen, muß entlassen werden. Das führt zur Verunsicherung bei den Trägern und motiviert nicht gerade dazu, an längerfristigen Konzepten zu arbeiten.Besonders drastische Auswirkungen wird das mit der 10. Novelle vorgesehene Auslaufen der Sonderkonditionen für AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern haben. Nicht von ungefähr hat der Vertre-
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Petra Blässter des Arbeitslosenverbandes — und ich füge hinzu: typischerweise wieder der einzige Experte aus dem Osten — bei der Anhörung davor gewarnt, ABM in Größenordnungen von 100 000 Stellen zu streichen. Damit droht die soziale Infrastruktur vieler Kommunen und Regionen zusammenzubrechen. So richtig Zweckmäßigkeitsprüfungen für Fort- und Umschulungsmaßnahmen sind, so wichtig ist es auch, daß es dafür verbindliche und durchschaubare Kriterien gibt. Es darf eben nicht passieren, daß in Berlin eine Maßnahme vom Arbeitsamt Hohenschönhausen als ungeeignet abgelehnt und dieselbe vom Arbeitsamt Neukölln empfohlen wird. Qualitätserlasse bedeuten, wenn sie nicht reine Willkürakte bleiben sollen, allerdings höhere Personalkosten; darüber müßte sich die Bundesregierung im klaren sein.Meine Damen und Herren, es gibt auch einen neuen Gedanken im Gesetzentwurf der Bundesregierung. Die beabsichtigte Einführung des § 249h AFG folgt dem Motto, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Nachdem sich sogar die Vertreter des Arbeitgeberverbandes zu dieser Formel durchgerungen haben und das Deutsche Institut für Wirtschaft nachweist, daß sich ein solches Konzept sogar rechnet — der Kollege Schreiner hat bereits darauf verwiesen —, hat die Bundesregierung nun das Projekt „Umwelt Ost" aufgelegt.Auch wir sind der Auffassung, daß es allemal besser ist, Arbeitsplätze zu schaffen, als massenhaft Qualifikation und Fähigkeit brachliegen zu lassen. Und eine Verbindung von Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik entspricht unseren Forderungen ebenso. Was die Bundesregierung allerdings aus diesem Konzept mit § 249h AFG macht, halten wir für unvertretbar. Die dort aufgestellten Konditionen lehnen wir als verantwortungslos ab.Wir wenden uns vor allem gegen die Kürzung der Regelarbeitszeit auf 80 % und die damit verbundene Einkommenskürzung. Das bedeutet für viele Beschäftigte ein Einkommen am Rande des Existenzminimums. Es gibt dafür auch keinen ersichtlichen Grund. Ich verweise hier noch einmal auf Modellrechnungen des DIW. Auch 100 % Zuschüsse rechnen sich.Wir betrachten diese Regelung zudem als Angriff auf die Tarifautonomie.Darüber hinaus lehnen wir den Zuweisungszwang ab, weil damit die Zumutbarkeitsregelung weiter verschärft wird; denn Beschäftigte können in Jobs vermittelt werden, die weit unter ihrem Qualifikationsniveau liegen. Eine Welle von Dequalifikationen wäre die Folge.Schließlich fürchten wir, daß mit einem Projekt „Umwelt Ost" Frauen eher ausgegrenzt denn gefördert werden. Eine Koppelung von Arbeitsmarkt- und Strukturmaßnahmen unter frauenspezifischen Gesichtspunkten muß auf den Bereich der sozialen Infrastruktur, z. B. Beratung, Versorgung, Dienstleistungen sowie kulturelle Initiativen, ausgedehnt werden.Meine Damen und Herren, in dem heute zur Abstimmung stehenden Änderungsantrag der PDS/ Linke Liste haben wir unsere Forderung an eine Novellierung des AFG aufgenommen. Wir halten esfür notwendig, daß mit einer Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes die Chancen der auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten Beschäftigungsgruppen verbessert werden. Dies gilt insbesondere für Frauen, die in den neuen Bundesländern inzwischen zwei Drittel der Erwerbslosen stellen. Wir fordern deshalb, die vor allem Frauen benachteiligenden Vorschriften des AFG zu beseitigen und sie durch solche zu ersetzen, die dem Leben von Frauen in der Bundesrepublik gerecht werden.Im einzelnen sieht unser Antrag zur Aufhebung von frauendiskriminierenden Vorschriften im AFG folgendes vor:Erstens: Frauenförderung durch verbindliche Quoten. Die Bundesregierung schlägt in ihrem Novellierungsentwurf zwar vor, unter den arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen des AFG die besondere Förderung von Frauen vorzusehen, sie beschränkt sich aber auf eine Soll-Vorschrift.Nach allen Erfahrungen bewegen Appelle und Soll-Vorschriften nichts. Als weitergehende Regelungen schlagen wir deshalb eine verbindliche Quote vor, die insbesondere in den Vorschriften für die berufliche Bildung und die Vergabe von ABM ihren Niederschlag finden muß. Frauen müssen entsprechend ihrem Anteil an den Erwerbslosen gefördert werden, wobei sich der Anteil nicht nur aus der Zahl der registrierten Arbeitslosen errechnen darf.Zweitens: Beitragspflicht für kurzzeitige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Beschäftigte, die weniger als 18 Stunden wöchentlich arbeiten, zahlen bisher keine Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Das bedeutet aber auch eine Gleichsetzung dieser prekären Beschäftigungsverhältnisse mit Nichterwerbsarbeit, bezogen auf Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes, sprich: fehlende Anwartschaftszeiten bei späterer Arbeitslosigkeit oder Umschulung. Knapp 30 % aller Teilzeitkräfte haben solche Arbeitsverhältnisse, über 90 % davon sind Frauen. Damit künftig alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von der ersten Stunde an Beiträge in die Arbeitslosenversicherung und andere Sparten des Sozialversicherungssystems zahlen, ist § 169 a AFG ersatzlos zu streichen.Drittens: Anerkennung von Kindererziehungszeiten, Zeiten der Pflege und ehrenamtlicher Tätigkeit für Anwartschaften im Sinne des AFG. Der unterschiedliche Umgang mit Nichterwerbszeiten von Männern und Frauen — im Gegensatz zu Kindererziehungszeiten oder Zeiten der Pflege wird der Wehrund Ersatzdienst einer Beschäftigungszeit im Sinne des AFG gleichgestellt — beinhaltet eine ungerechtfertigte Schlechterstellung von Frauen und ist nichts anderes als mittelbare Diskriminierung.Wir halten daher eine generelle Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen und ihre Anpassung an veränderte Arbeitsmarktbedingungen, Beschäftigtenstruktur und Erwerbsbiographien für notwendig. Anwartschaften dürfen nicht länger an beitragspflichtige Erwerbsarbeit gekoppelt werden.Eine Reform des AFG im Interesse von Frauen erfordert, daß bestimmte Formen von Nichterwerbsarbeit, z. B. Kindererziehung, Zeiten der Pflege oder
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Petra Blässehrenamtlicher Tätigkeit, Anwartschaften im Sinne des AFG begründen, indem sie beitragspflichtigen Tätigkeiten gleichgesetzt werden.Viertens: Abschaffung von Verfügbarkeitsregelungen. Laut § 103 AFG werden Leistungen für Arbeitslose und Umschülerinnen und Umschüler nur bewilligt, wenn die Antragstellerinnen und Antragsteller dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Von dieser Regelung sind wiederum vor allem Frauen betroffen. Sie stehen dann dem Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht zur Verfügung, wenn sie Aufgaben in der Kindererziehung oder in der Pflege wahrnehmen. Diskriminierend für Frauen ist der von Arbeitsämtern verlangte Nachweis, ob die Betreuung ihrer Kinder gesichert ist, während Männer danach nicht gefragt werden.
Bei der Arbeitslosenhilfe wird die Verfügbarkeit gar an die Nachfrage nach einem Vollzeitjob geknüpft. Frauen, die nur teilzeitarbeiten können, verlieren ihren Anspruch. Wir fordern daher eine Novellierung des § 103 AFG, die solcher Art Diskriminierung ein Ende macht.Fünftens: Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung. Da sich die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe nach der Bedürftigkeit von Antragstellerinnen und Antragstellern richtet, werden Unterhaltsansprüche und Vermögensverhältnisse überprüft. Dies geschieht teilweise in unwürdiger, die Intimsphäre verletzender Weise. Durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Schlechterstellung auf dem Arbeitsmarkt sind es in erster Linie Frauen, die davon betroffen sind.Ein Anspruch entfällt nach bisheriger Gesetzeslage auch, wenn ein fiktiver Unterhalt angenommen werden kann, aber von den Betroffenen nicht realisiert wird, z. B. wenn Mütter sich schämen, ihren Kindern zur Last zu fallen. Der § 137 AFG muß so formuliert werden, daß auch Frauen einen eigenständigen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben.Wer es also mit seinen Bekenntnissen zur Gleichberechtigung der Frau ernst meint, sollte dem Änderungsantrag der PDS/Linke Liste und unserem Entschließungsantrag zustimmen.Meine Damen und Herren, angesichts der Tatsache, daß die Bundesregierung mit der 10. Novelle des AFG an ihrem Kurs des Sozialabbaus, der Deregulierung und Abwälzung der Kosten auf Länder und Kommunen festhält, wird die PDS/Linke Liste gegen die heute vorliegende Beschlußempfehlung stimmen. Da wir die Forderung „Finanzierung von Arbeit statt Arbeitslosigkeit" teilen und in ihrer Umsetzung den richtigen Weg sehen, unterstützen wir den Entschließungsantrag der SPD.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Und nun hat die Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir kommen heute zur Schlußberatung und Entscheidung über ein ausgesprochen schwieriges, politisch höchst strittiges Gesetz. Es geht um Änderungen der Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz. Es geht um Streichungen, es geht ums Sparen, und zwar bei sozialen Leistungen, bei Förderinstrumenten, die im Einsatz waren, um Schwachen, Arbeitslosen, Gescheiterten, um solchen, die dem Arbeitsmarkt nicht gewachsen sind, wieder auf die Beine zu helfen.
Ich behaupte, es gibt für Politiker nichts, was schwieriger wäre, was besser und gründlicher bedacht sein muß, ehe man das beschließt.Meist fühlen sich die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung unter dem Diktat der Haushalts- und Finanzpolitiker. Sie fühlen sich — über alle Parteigrenzen hinweg — in ihrer Flaut gar nicht wohl. Es geht in der Regel gerade um die Bestimmungen, die sie mit gutem Grund und in bester Absicht beschlossen haben, um Hilfestellung zu geben, und die jetzt verändert werden müssen.In den Beratungen spielten volkswirtschaftliche Grundüberlegungen, also der Wert eines in den Ausgaben begrenzten Haushalts, die Eingrenzung der Staatsverschuldung, die Auswirkung der Daten auf Volkswirtschaft und Arbeitsmarkt, überhaupt keine Rolle. Das wird in anderen Ausschüssen, bei anderen Anlässen und von anderen Personen im Plenum verhandelt. Wer aber diese Zusammenhänge verkennt — die Opposition ist hier immer noch unangefochtener Pokalsieger —, verkennt auch die Wirkungsmechanismen zwischen Finanz-, Arbeits- und Sozialpolitik.
Daß ein Sparhaushalt, der uns in allen Bereichen, also auch bei der Sozialpolitik und der Arbeitspolitik, zum Beschneiden von Leistungen zwingt, nicht unsozial ist, begreifen nur diejenigen, die das ganze Gefüge betrachten.
Ich will es plastisch und drastisch sagen: Natürlich ist es betrüblich und einschneidend, wenn die Möglichkeit, den Hauptschulabschluß — vom Arbeitsamt finanziert — nachzuholen, jetzt wegfällt. Die Kollegen aus dem Osten haben mich gefragt, wie es kommt, daß im Westen jemand keinen Hauptschulabschluß gemacht hat. Es ist für sie relativ merkwürdig und unbegreiflich, daß ein Bildungssystem nicht in der Lage ist, jedem einzelnen zumindest einen solchen Abschluß zu ermöglichen.
Im Osten Deutschlands ist das kein Problem gewesen, meine Damen und Herren.
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9616 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Gisela BabelDiese Streichung ist in Einzelfällen sicher hart, aber vor dem Hintergrund des zusammengebrochenen, nur ganz mühsam aufzubauenden Arbeitsmarkts im Osten und der ungeheuren finanziellen Probleme erscheint es mir viel wichtiger, alle Anstrengungen auf Erhalt und Neuschaffung von Arbeitsplätzen zu konzentrieren, die auch für einen Bewerber, der sich so mühsam qualifiziert hat, erst einmal vorhanden sein müssen.
Insofern betrachten meine Fraktion und ich die AFG-Novelle als einen Beitrag zu einem gebremsten Staatshaushalt. Ich betrachte den Haushalt 1992, wenn ein Zuwachs von 2,5 % — nicht nur vom Bund, sondern auch von den Ländern und Gemeinden — angestrebt wird, als einen Beitrag zur Stabilisierung des Marktes. Die stabile Marktwirtschaft im Westen ist eine Voraussetzung für die Gesundung der Marktwirtschaft im Osten.
Diesen Bogen, den ich in dieser sozialpolitischen Debatte einmal weit spannen möchte, müssen wir in den Blick nehmen; sonst halten wir uns bei Teilaspekten und Teilwahrheiten auf.Nun zum AFG und zum SPD-Antrag zur Arbeitsmarktpolitik: Da das Gesamtbild schon entrollt ist, lassen Sie mich nur zu einigen Fragen schwerpunktmäßig Stellung nehmen.Viel Kritik erntete in der Diskussion die Teilzeit-ABM: 80 % Lohn für 80 % Arbeitszeit. Die Kritiker meinten, die ungleiche Entlohnung innerhalb eines Betriebes würde zu Schwierigkeiten führen, Führungskräfte ließen sich nicht für 80 % finden, das Entgelt würde unter das Niveau der westlichen Sozialhilfe rutschen; Kollege Schreiner hat diese Argumente noch einmal vorgetragen.Keines dieser Argumente überzeugt. Teilzeitkräfte gibt es in allen Betrieben; die niedrigere Entlohnung wird akzeptiert. Führungskräfte sind natürlich — da gebe ich der SPD recht — über ABM-Tarife in Ein- bis Zweijahresrhythmen und zu einem gedeckelten Beitrag von 2 500 DM sicher nicht zu finden. Aber daß dieser ABM-Tarif unter das Niveau der westlichen Sozialhilfe rutscht, weise ich zurück. Im übrigen kommt das Einkommen eines Arbeiters, der seine Familie durch Arbeit ernähren will, auch bei uns der Sozialhilfe völlig gleich. Das halte ich für einen Skandal. Ein solcher Arbeiter müßte sich besserstehen; Leistung muß sich für ihn lohnen. Wenn wir diese Anreizstrukturen beseitigen, werden wir noch größere Probleme bekommen.
Nicht angesprochen werden von den Kritikern die Vorteile einer Teilzeit-ABM. So können z. B. die Mittel auf mehr Menschen verteilt werden,
Kollegin Babel, es gibt zwei Zwischenfragen, eine vom Kollegen Gilges und eine von Kollegin Fuchs. Gestatten Sie beide?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Babel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das frühere Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit durch mehrere wissenschaftliche Untersuchungen festgestellt hat, daß nur in wenigen Fällen, und zwar bei einem Ehepaar mit mindestens fünf Kindern, der Sachverhalt eintreten kann, daß die Sozialhilfe einschließlich der jeweiligen Beträge für Kinder höher ist als das Einkommen in einer unteren Lohngruppe, z. B. bei der Post oder der Bahn? Hier gibt es zahlreiche Untersuchungen, trotzdem wird dieses Vorurteil immer wieder vorgetragen. Lesen Sie diese Untersuchungen doch einmal nach!
Herr Kollege Gilges, ich kenne diese Untersuchungen. Ich weiß aber, daß es für Ballungsgebiete andere Berechnungen gibt. Da kommen natürlich noch die Strukturnachteile einer solchen Region hinzu. Wenn Sie in einer Region wohnen, in der bezahlbarer Wohnraum sehr schwer zu finden ist, dann sind die Unterschiede zwischen einem Sozialhilfeempfänger, der Wohngeld bezieht, und einem Facharbeiter durchaus ausgeglichen. Das ist dann schon bei einer Kinderzahl von zwei der Fall. Ich bin gerne bereit, Ihnen entsprechende Unterlagen zu geben. Wir brauchen uns hier sicher nicht über Sachfragen zu streiten, allenfalls über Einschätzungsfragen.
Kollegin Anke Fuchs, bitte.
Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß es ziemlich unsinnig und unfair ist, niedrige Lohngruppen gegen nicht so gut ausgestattete Sozialhilfeempfänger auszuspielen?
Sie sagen, Arbeit müsse sich lohnen. Wann wird die Bundesregierung — unseren Vorschlägen folg end und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entsprechend — den steuerlichen Grundfreibetrag endlich so bemessen, daß sich Arbeit wieder lohnt und die einfachen Arbeitnehmer von ihrem Lohn leben können?
Zuerst zur letzten Frage: Ich begrüße die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die uns zum Handeln zwingt. Wir sollten von staatlicher Seite nicht so viel fordern, daß nicht einmal das Existenzminimum einer Familie steuerfrei bleibt; da stimme ich Ihnen zu.Wir sollten diese beiden Gruppen, die Sie gerade angesprochen haben, in der Tat nicht gegeneinander ausspielen. Wir sollten lieber gemeinsam Arbeitsplätze schaffen und die Anreizstrukturen hierfür erhalten. ABM-Tarife können z. B. im Bergbau von kleineren Betrieben nicht gezahlt werden. Hier ist dann das Entstehen von Arbeitsplätzen angesichts eines relativ hohen Lohnniveaus gehemmt. Um diese Anreizstrukturen geht es mir, nicht um das gegenseitige Ausspielen.
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Dr. Gisela Babel— — Ich möchte jetzt in meiner Rede fortfahren; ein heiteres Frage-und-Antwort-Spiel ist diesem Thema nicht angemessen.Wir sollten auch von den Vorteilen der TeilzeitABM sprechen. Gerade Vertreter der kleineren Betriebe begrüßen sie, und sie geht zum Teil auch auf ihre Anregung zurück. Besser wäre es natürlich, wenn sich die Tarifpartner über solche Fragen einigen könnten — Ansätze dazu gibt es in einigen Gewerkschaften — und nicht der Gesetzgeber eingreifen muß.
— Frau Rennebach, das stimmt nicht ganz.
— Die Tarifautonomie spreche ich gerade an, Frau Kolbe! Die Gewerkschaften sollten hier zugunsten der Menschen umdenken, die sonst keine Chance haben zu arbeiten. Mit Tarifen für AB-Maßnahmen auf einem niedrigeren Level könnte man sehr viel bessere und weitergehende Fortschritte erzielen, als wenn wir als Gesetzgeber das machen müssen.Meine Damen und Herren, wichtig ist vor allem der erste Arbeitsmarkt. Er hängt allein von unternehmerischen Entscheidungen ab, und diese hängen wiederum von wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ab. Die Arbeitsmarktpolitik muß also nicht nur dafür sorgen, daß über ABM und Qualifizierung die Entstehung von Arbeitsplätzen nicht behindert wird, sondern muß sie möglichst nachhaltig und möglichst rasch fördern. Das richtet den Blick unweigerlich auf die Investitionshemmnisse, die sich den Plänen und Vorhaben von Investoren entgegenstellen.Als erstes werden immer wieder die langen Bearbeitungszeiten bei Behörden, Grundbuchämtern und Vermögensämtern beklagt. Darüber hat soeben auch der Kollege Schemken zu Recht gesprochen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Franke, hat auf meine drängenden Fragen, was denn nun hier zu tun sei, etwas ungnädig geantwortet, man dürfe als strenger Vater — damit meinte er nicht so sehr sich selbst als vielmehr den Gesetzgeber, also uns — seinen Kindern nicht alles durchgehen lassen. Die Behörden im Osten sollten ihre Leute umschulen, also ihre Hausaufgaben machen, wie es so schön heißt.Es kann uns doch aber nicht im Ernst genügen, daß wir uns, wenn die Aktenberge wachsen, wenn 33 000 Grundbuchbeamte fehlen und wenn die Vermögensämter von einer Million Anträgen erst 8 % bearbeitet haben, an ordnungspolitischen Grundsätzen aufhalten, wenn davon Investitionen abhängen und deswegen Arbeitsplätze nicht entstehen. Ich kann mich mit einer solchen Antwort nicht zufriedengeben. Wir müßten hier sehr viel mehr Intitiativen ergreifen, in Kurzkursen ausbilden, akademisch Ausgebildete für diese vorübergehende, aber jetzt drückende Arbeit gewinnen, die Schreibtische vermehren und in den Schulen im Westen in Überlast ausbilden. Das ist eine Aufgabe, für die wir durchaus ältere Arbeitnehmer gewinnen könnten, weil es sich hierbei um eine zeitlich begrenzt zu leistende Arbeit handelt, so daßwir mit dieser vorübergehenden Arbeit nicht Jüngeren Chancen nehmen.Ebensowenig kann es uns befriedigen, zu hören, daß für Wohngeldbescheide Beamte zuständig sind und die Verantwortung bei den Kommunen liegt, wenn in diesem Winter auf Grund der vom Bund beschlossenen Gesetze ein riesiger Berg von Wohngeldanträgen sich auftürmt und eben nicht bearbeitet wird. Wenn schließlich auf dem Gebiet der Existenzgründungen Qualifikation gebraucht wird, kann man uns nicht mit der ordnungspolitischen Grundüberzeugung kommen, wonach Qualifikationsmaßnahmen nur für unselbständig Beschäftigte gedacht sind und ansonsten Rückzahlungsverpflichtungen nach sich ziehen. Damit wird Initiative erstickt.In der Anhörung ist wiederholt gesagt worden, daß im Osten eine ungewöhnlich ernste Situation herrscht. Für Maßnahmen, die drängen und die sinnvoll und notwendig sind, sollten wir den Mut haben, ordnungspolitische und in friedlichen, satten Zeiten sicher richtige Grundsätze beiseite zu schieben.Dies zumindest hat die SPD mit ihrem Vorschlag „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" gründlich getan. Sie will durch ein Strukturförderprogramm 500 000 Arbeitsplätze schaffen und mit einem zweiten Programm 50 000 neue Arbeitsplätze für Frauen bekommen.
— Ja, wenn wir das addieren; das können wir machen.Für diese Programme sollen nicht die Beitragsmittel der Bundesanstalt herangezogen werden, sondern eine Arbeitsmarktabgabe von Selbständigen, Beamten und nicht beitragzahlenden Einkommensteuerpflichtigen.Bei der Beurteilung dieser Strategie ist an drei Punkten anzusetzen: Welche Arbeit soll aus diesem Programm gefördert werden?
Wie hoch sind die Kosten? Wie ist die vorgeschlagene Arbeitsmarktabgabe zu werten?Zur ersten Frage hören wir wenig: Es geht um Arbeiten zu Strukturverbesserungen im Umweltschutz, um soziale Leistungen und um öffentliche Dienstleistungen. Ich will nicht leugnen, daß es an Unterstützung für derlei Aufgaben großen Bedarf gibt; es gibt viel zu tun; es wird nötig sein, mit enormen Geldmitteln Umweltschäden zu beseitigen. In bescheidenem Umfang ist ein solches Projekt in § 249 h AFG bereits begonnen worden. Längerfristig werden hier Arbeitsplätze bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern im Umweltbereich über die schon erwähnten Teilzeit-Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert.Völlig fehlen in dem SPD-Vorschlag aber Überlegungen, wie diese Arbeit und ihre öffentliche Finanzierung auf den ersten Arbeitsmarkt wirkten, ob sie nicht Arbeiten den Betrieben wegnehmen, ob sie wirklich Rahmenbedingungen schaffen und Investi-
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Dr. Gisela Babeltionen begünstigen und anlocken. Wie gesagt, es fehlen dazu jegliche Ausführungen.Was nicht fehlt, ist der Hinweis, daß aktive Arbeitsmarktpolitik auf dem jetzigen hohen Niveau erhalten werden muß und nicht unter eine Mindestquote sinken darf. In den Augen der F.D.P. ist der hohe Anteil von Geldmitteln in der Arbeitsmarktpolitik eher Ausdruck einer angespannten, problematischen Situation.
Lassen wir das aber einmal beiseite und gehen wir davon aus, daß die von der SPD erhofften Arbeitsplätze den ersten Arbeitsmarkt nicht beeinflussen, jedenfalls nicht negativ, sondern sich fördernd und unterstützend auswirken.Da stellt sich die Hauptfrage, wie das zu finanzieren wäre. Argumentiert wird, daß Arbeitslosigkeit Geld kostet — 68 % — und daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit 75 oder mit 80 % des Lohnes im Vergleich nicht sehr viel teurer kommen. Daß dies schöngerechnet ist, daß ein Arbeitsplatz — auch als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme — mit Sachkosten von etwa 50 000 bis 90 000 DM in Wirklichkeit sehr viel teurer wird, haben die Experten in der Anhörung deutlich gemacht.Auf einen Tatbestand — das sei am Rande bemerkt — hat Lothar Späth hingewiesen: Im Osten wie auch im Westen Deutschlands ist die Zukunft nur mit hochqualifizierten, hochtechnischen Arbeitsplätzen zu meistern. Bei Opel in Eisenach sind 1 Milliarde DM für 2 000 Arbeitsplätze oder 500 000 DM pro Arbeitsplatz investiert worden. Das ist die Dimension, um die es in Wahrheit geht.Wo soll das Geld für solche Unternehmen herkommen? Ich darf an dieser Stelle einmal den Sachverständigen Dr. Klodt vom Institut für Weltwirtschaft zitieren, der bei unserer Anhörung sowohl zum § 249h unseres Entwurfs als auch zu Ihrem Vorschlag folgendes ausgeführt hat:Wenn ich den gesamten Gesetzentwurf oder auch den Vorschlag der SPD betrachte, komme ich zu dem Schluß, daß die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt worden sind. Es steht um die Staatsfinanzen ernster, als es in diesem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Sie werden sich in diesem Ausschuß in den nächsten Jahren sicherlich noch mit Dingen befassen müssen, die Ihnen heute völlig unsozial und völlig unzumutbar vorkommen.Er fragt am Ende:Isoliert betrachtet, glaube ich durchaus, daß der SPD-Vorschlag sicherlich mehr an direkter Beschäftigungswirkung bringt als das, was § 249h überhaupt bringen kann. Aber, wie gesagt, es ist die Frage: Können wir uns das leisten?
Ich glaube, daß diese Programme nicht finanzierbar sind und daß wir froh sein müssen, mit dem jetzigen § 249h ein Instrument zu haben, mit dem wir testen können, wie Umweltschäden beseitigt werden.Auf eine in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit breit diskutierte Frage will ich noch eingehen, auf die Arbeitsmarktabgabe oder Ergänzungsabgabe. Sie wurde von fast allen Gruppen, die in der Anhörung zu Wort kamen, unterstützt. Vor allem können die Beitragszahler des Versicherungssystems Arbeit nicht die Belastung aus der großen Arbeitslosigkeit in den östlichen Bundesländern tragen.Seit Wegfall der Solidarabgabe flammt die Diskussion wieder heftig auf. Zudem sprechen viele Experten und Politiker von der Notwendigkeit, neue und zusätzliche Mittel zur Finanzierung der deutschen Einheit zu gewinnen.
Das sind noch nicht einmal die Lasten, die wir heute zu finanzieren haben und deretwegen wir in einen Sparhaushalt zurückgehen, sondern das sind neue Lasten, die zu finanzieren sein werden.Für mich hätte der während der Anhörung geäußerte Vorschlag sehr viel für sich, die Arbeitsmarktmaßnahmen, insbesondere die für den Osten, als Folgen der deutschen Einheit über Steuern zu finanzieren, im gleichen Zug aber den Satz des Beitrags zur Bundesanstalt zu senken, wodurch gerade die unteren Einkommensschichten stärker entlastet werden könnten, Dies wäre gleichzeitig ein Beitrag zur Senkung von Lohnnebenkosten.
Lassen Sie mich am Schluß einige Bemerkungen zu den Veränderungen machen, die der umstrittene § 128 AFG erfahren hat. Für mich ist das ein Beispiel, wie Politik und Verbände, teilweise unter Klagen der Verbände, Vorschläge der Exekutive zerrupfen und verbessern können.Das Verfahren ist nicht einfacher geworden, aber es trägt den verschiedenen Bedenken besser Rechnung. Statt Unternehmen — bis auf die kleinen mit nur 20 Beschäftigten — bei Entlassungen älterer Arbeitnehmer zu Lasten der Arbeitslosen- und Rentenversicherung immer dann in die Erstattungspflicht zu nehmen, wenn keine sozial gerechtfertigte Kündigung möglich war, gibt es jetzt mehrere Stufen: Entlassungen von Arbeitnehmern, die über die übliche Fluktuation der Arbeitnehmer hinausgehen und auf größere betriebliche Strukturveränderungen hindeuten, können ältere Arbeitnehmer in dem Anteil umfassen, der dem in der Belegschaft entspricht. Noch günstiger sieht es bei größeren Entlassungen aus.Das heißt nicht, daß Unternehmer von den Vorschriften des Kündigungsschutzes freigestellt würden; das ist manchmal in der Öffentlichkeit nicht ganz deutlich geworden. Das heißt nur, daß Sie das Arbeitslosengeld dem Arbeitsamt nicht zu erstatten haben.Schließlich haben wir eine Vorstufe eingerichtet, wonach kleine Betriebe mit 20, 40 oder 60 Beschäftigten zu einem, zwei oder drei Dritteln der Erstattung herangezogen werden. Das bedeutet eine gleitende Belastung für den Mittelstand, die ich sehr begrüße.
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Dr. Gisela BabelDaß die Stahlindustrie für drei Jahre frei bleibt, mag manche entrüsten, die das Problem der Frühverrentung überhaupt nur bei Großbetrieben ausmachen. In den Größenordnungen, in denen hier Arbeitsplätze abgebaut werden, ist das aber zu rechtfertigen.Alles in allem hoffe ich, daß der § I 28 AFG so, wie er jetzt verabschiedet wird, den Balanceakt vollführt, Anreize zur Frühverrentung zugunsten älterer Arbeitnehmer abzubauen, aber die notwendige Flexibilität für innerbetriebliche Personalentscheidungen beizubehalten.Daß die SPD weder über die Notwendigkeit des gesetzgeberischen Handelns noch über den richtigen Weg brauchbare Aussagen gemacht hat, wird sie in der Debatte sicher selbst zum Ausdruck bringen.
Wie ich anfangs sagte: Der Weg zu diesem Gesetz war dornig; ob er zu Ende ist oder über die Bundesländer verlängert wird, ist offen. Ich appelliere an alle, sich im klaren darüber zu sein, daß die hier vollbrachte Sparleistung schwer genug war, daß sie Anerkennung verdient und daß sie vor allem nicht rückgängig gemacht wird.Ich bedanke mich.
Die Kollegin Christina Schenk hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Defizit der Bundesanstalt für Arbeit soll durch den Gesetzentwurf durch umfassende Leistungskürzungen verringert werden, und zwar vorrangig zu Lasten ohnehin weithin ausgegrenzter Betroffenengruppen. Auf die Situation einer dieser Betroffenengruppen möchte ich hier näher eingehen.Die Formulierung „Frauen sind die Verliererinnen der deutschen Einheit" hat ihren Ursprung u. a. in der verheerenden Situation der Erwerbstätigkeit von Frauen sowie im Abbau sozialer Leistungen für Frauen, insbesondere für solche mit Kindern. Somit ist diese Formulierung einerseits Teil der Beschreibung ostdeutscher Realität, andererseits leistet sie einer resignierenden Akzeptanz dieser absolut nicht akzeptablen Situation Vorschub. Sie ist geeignet, den Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten von Politik zu verstellen, die es auch in einer kapitalistischen Marktwirtschaft gibt, entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt.Aber genau dieser politische Wille fehlt der Bundesregierung. Der massenhafte Arbeitsplatzverlust von Frauen — ihr Anteil an den Erwerbslosen nähert sich mittlerweile der 70-%-Marke — ist nur zum Teil das Ergebnis des Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft, der ja Männer und Frauen betrifft. Zum anderen Teil ist es — ganz offensichtlich und deutlich erkennbar — politische Strategie dieser Bundesregierung, den Arbeitsplatzverlust von Frauen zu einer dauerhaften Ausgrenzung aus der Erwerbsarbeit werden zu lassen.Ich erinnere hier nur an die Äußerungen des sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf, der von der Notwendigkeit der Rückführung der übersteigerten Erwerbsbeteiligung von Frauen in den ostdeutschen Bundesländern auf ein normales Maß gesprochen hat.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Franke, hat es noch deutlicher gesagt: Ziel arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ist es, die Quote der erwerbstätigen Frauen in den ostdeutschen Bundesländern von mehr als 90 % auf das altbundesdeutsche Niveau von 55 % zu senken.
Die Strategie besteht also offenbar darin, die dramatische Arbeitsmarktsituation in den ostdeutschen Bundesländern vor allem über die Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt zu entlasten. Als Alternative wird den Frauen der Rückzug ins Private angeboten. Damit würden Frauen aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden, die Zahl der Arbeitslosen würde sinken, und die Bundesregierung könnte ein weiteres mal verkünden, wie dank ihrer gewaltigen Anstrengungen der Aufschwung Ost voranschreitet.Die von der Bundesregierung vorgelegte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz hat u. a. ganz offensichtlich die Funktion, die Verdrängung von Frauen vom Arbeitsmarkt weiter zu befördern. Maßnahmen wie die Kürzung der Mittel für berufliche Fortbildung und Umschulung, des Einarbeitungszuschusses, die Streichung der Orientierungskurse, die Kürzung der Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen insgesamt treffen vor allem Frauen. Sie sind es, denen mit diesen Maßnahmen der Zugang zum sogenannten ersten Arbeitsmarkt und damit zu einer existenzsichernden Erwerbsarbeit noch mehr erschwert werden soll.Die Neufassung des § 2 des Arbeitsförderungsgesetzes, dem nun der Satz „Frauen sollen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden" beigefügt wurde, ist in seiner Unverbindlichkeit nicht mehr als ein Feigenblatt für die frauenfeindliche Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung. Für erwerbslose Frauen bietet diese Sollbestimmung keinerlei Handhabe, Arbeitsförderungsmaßanahmen und ihre adäquate Beteiligung an diesen Förderungsmaßnahmen fordern zu können. Das kann so nicht bleiben.Das, was die Bundesregierung mit der Novelle zum AFG vorgelegt hat, ist vor allem für Frauen nicht der Ausbau einer ohnehin unzureichenden Arbeitsförderungspolitik — so umfangreich sie auch sein mag —, sondern Teil einer Arbeitsverhinderungspolitik. Das ist vielleicht nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß der eigentliche Urheber der Novelle zum AFG nach meiner Vermutung nicht der Arbeitsminister, sondern der Finanzminister ist, dem es offensichtlich gelungen ist, kurzsichtige haushaltspolitische Erfordernisse zum einzigen Kriterium der Novellierung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zu machen.Wie kurzsichtig das ist, müßten eigentlich sowohl der Arbeitsminister als auch der Finanzminister wissen. Es gibt genügend Untersuchungen aus der lang-
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Christina Schenkjährigen Erfahrung der Altbundesrepublik mit der Arbeitslosigkeit, die belegen, daß, langfristig gesehen, die Finanzierung von Arbeitslosigkeit teurer wird als die Finanzierung von Arbeit. Der Rückzug des Bundes aus der Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik schiebt die Haushaltsprobleme nur vor sich her. Denn nicht die Erwerbslosen, sondern die in Erwerbsarbeit Befindlichen vergrößern die Einnahmen des Bundes.Eine Politik der Finanzierung der Arbeitslosigkeit hingegen erhöht auf Dauer die Kosten. Es sind nicht nur Lohnersatzleistungen zu zahlen, sondern es wächst mit zunehmender Dauer der Erwerbslosigkeit der Aufwand, der erforderlich wird, um Menschen sowohl fachlich als auch mental wieder zur Teilnahme am Erwerbsleben zu befähigen.Die Denkhaltung, die in der vorliegenden Novelle des AFG durchscheint, ist für mich nur unter der Annahme erklärbar, daß wir es mit einem Bundesfinanzminister zu tun haben, der hofft, für die Haushaltsdefizite der Zukunft nicht mehr einstehen zu müssen. Wenn ich mir die Situation im Osten ansehe, scheint er mit dieser Hoffnung durchaus Chancen auf Realisierung zu haben.Es gehört auch nicht viel prophetisches Geschick dazu, vorauszusagen, daß angesichts der zu erwartenden Dauer der Arbeitsmarktprobleme in den ostdeutschen Bundesländern die unvermeidbaren Sekundäreffekte der Arbeitslosigkeit, wie Qualifikationsverlust und eine allgemeine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, an Gewicht gewinnen und letztlich den Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft behindern werden. Dies ließe sich nur dann vermeiden, wenn der Übergangsprozeß von Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik begleitet würde.Aber genau bei den in diesem Zusammenhang relevanten Maßnahmen, z. B. ABM, Fortbildung und Umschulung, wurde der Rotstift angesetzt. Zu Ihrer Erinnerung: Heute liegt die durchschnittliche Dauer der Erwerbslosigkeit in den ostdeutschen Bundesländern für Männer bei 36 Wochen, für Frauen schon bei 44 Wochen. Ein weiteres Steigen der Zeitdauer der Erwerbslosigkeit bei Frauen dürfte angesichts der Politik der Bundesregierung sicher sein.Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein Argument eingehen, das Herr Blüm in seiner Rede zur Begründung der Novelle am 11. September den Anwesenden zugemutet hat. Er begründete die bei ABM und bei den im Umweltbereich geplanten Maßnahmen vorgesehene Beschränkung von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt mit dem Satz: „Es muß ein Anreiz bestehen bleiben, aus den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den normalen Arbeitsmarkt überzuwechseln. "Herr Blüm, gehen Sie doch einmal mit dieser Argumentation in ein x-beliebiges Arbeitsamt oder ein x-beliebiges Projekt, das auf der Grundlage von ABM funktioniert! Fragen Sie die Menschen dort, ob sie irgendeines Anreizes bedürfen, um den Willen nach einem festen, dauerhaften, tariflichen bezahlten Arbeitsplatz zu entwickeln! Die Menschen im Osten haben bewiesen, daß sie in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich sind, wenn sie mit dieser Art von Zynismusund Ignoranz gegenüber ihren wirklichen Problemen konfrontiert werden.Zum anderen möchte ich Sie daran erinnern, daß es die Idee dieser Bundesregierung war, im Rahmen des Gemeinschaftswerks Ost den Kommunen die Umwandlung fester Arbeitsplätze im sozialpflegerischen Bereich, in dem vor allem Frauen beschäftigt sind, in ABM zu empfehlen. Eine solche Formulierung verhöhnt also auch alle, deren einzige Chance darin bestand, auf der Grundlage dieser Orientierung ihren festen Arbeitsplatz in Kindereinrichtungen und Pflegestationen gegen eine befristete ABM-Stelle einzutauschen.Die Kommunen sichern heute einen großen Teil ihrer sozialen Infrastruktur über ABM. ABM sind also keine vom Arbeitsamt finanzierte Hängematte, sondern in der gegenwärtigen Situation von existentieller Wichtigkeit sowohl für die Gewährleistung sozialer Aufgaben in den Kommunen als auch für die Menschen, die jetzt real keine andere Möglichkeit haben, der Arbeitslosigkeit zu entgehen.Es ist Selbstbetrug, nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, daß die Kommunen, zumal die im Osten, für eine längere Übergangszeit auf ABM-Mittel schlichtweg angewiesen sein werden.Die vom Arbeitsminister geäußerte Unterstellung — quasi in Form eines Bequemlichkeits- oder gar Faulheitsverdachts — negiert außerdem, daß die Arbeit, die gerade in alternativen Projekten, z. B. den Frauen-, Jugend- und Antigewaltprojekten, geleistet wird, schon heute viel Idealismus von denen verlangt, die sie tun.Die bürokratischen Anforderungen, die diese Projekte beim Kampf um Räume, Geld und ABM-Stellen zu erfüllen haben, sind in der Regel so groß, daß sie nur selten in der regulären Arbeitszeit erledigt werden können, wenn die inhaltliche Arbeit nicht gefährdet werden soll. Die Stop-and-go-Politik der Bundesanstalt für Arbeit tut da ein übriges und führt zu einer Verunsicherung all derer, die — oftmals schon in selbstausbeuterischer Weise — mit diesem Instrumentarium arbeiten müssen.Die Diskriminierung der in den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geleisteten Arbeit muß endlich aufhören. Gebraucht wird eine Politik, die die Notwendigkeit der in den ABM-Projekten geleisteten Arbeit anerkennt, die diesen Projekten eine Perspektive gibt und sie von den Grenzen befreit, die mit dem Zwang zum Denken in Bewilligungszeiträumen entstehen.Dazu gehört auch eine ABM-Politik der Bundesanstalt für Arbeit, die berechenbar ist und nicht von Runderlaß zu Runderlaß ihre Bedingungen ändert.In diesem Zusammenhang verdient die Tatsache Erwähnung, daß die Bundesanstalt für Arbeit bereits im August dieses Jahres in einem Runderlaß die Arbeitsämter anwies, vom Bundestag noch nicht beschlossene Änderungen zum AFG umzusetzen. Frau Bläss hat bereits darauf hingewiesen.Das hierin deutlich werdende Defizit an Demokratie fand seine Fortschreibung in der Art und Weise, wie die Damen und Herren von der Regierungskoalition im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mit
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Christina Schenkden Aussagen umgegangen sind, die von den Expertinnen und Experten in der eigens zum Gesetzentwurf der Bundesregierung durchgeführten Anhörung getroffen worden waren und die auch in zahlreichen Petitionen und sonstigen Stellungnahmen zum Ausdruck gebracht werden.Die wichtigsten Neuregelungen zum AFG, die die zehnte Novelle vorsieht, sind von Gewerkschaften und Verbänden und Interessenvertretungen der Betroffenen in bemerkenswerter Einhelligkeit als sozial- und arbeitsmarktpolitisch unverantwortlich abgelehnt worden.Im übrigen wurde dabei nicht nur kritisiert, sondern es wurden gleichzeitig viele Vorschläge zur wirklichen Weiterentwicklung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums gemacht, die u. a. vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung entwickelten Modelle ihrer Finanzierung inbegriffen.Es steht außer Frage, daß das Arbeitsförderungsgesetz einer grundlegenden Reform bedarf, aber nicht in der Weise, wie das hier versucht wird.Der von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachte Entschließungsantrag umreißt, worum es hier nach unserer Meinung gehen muß, insbesondere vor dem Hintergrund der jetzigen Situation in Ostdeutschland. Ich nenne nur einige Eckpunkte.In der gegenwärtigen Situation darf es in Ostdeutschland keinen Abbau von AB-Maßnahmen und beruflichen Bildungsangeboten geben. Diese müssen vielmehr erhalten und ausgebaut werden.Die frauendiskriminierenden Bestimmungen im AFG sind skandalös und müssen endlich aufgehoben werden. Der Anteil der Frauen an den AB-Maßnahmen muß entsprechend ihrem Anteil an den Erwerbslosen durch einklagbare Quoten garantiert werden.Die Orientierungskurse nach § 41a sind beizubehalten. Sie geben vor allem Berufsrückkehrerinnen wertvolle Entscheidungshilfen. Die Möglichkeit mehrstufiger Bildungsmaßnahmen ist beizubehalten.Im Interesse einer dauerhaften sozialen und beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen darf es keine Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen in der beruflichen Qualifikation geben.Zum Schluß: Arbeitslosen muß der Schutz des Arbeits- und Tarifrechts in vollem Umfang garantiert werden.Ich meine, daß die Verwirklichung dieser in unserem Entschließungsantrag gemachten Vorschläge kein nennenswertes Problem mehr sein sollte. Es liegen dafür zahlreiche Hinweise, zahlreiche Konzepte, zahlreiche Vorschläge und Vorstellungen bereits vor. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Unser Kollege Bernd Henn hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage, mit welchen Instrumenten man der Beschäftigungskrise begegnen muß, ist zunächst, meine ich, auch eine Frage nach den Ursachen der Krise.Wenn ich die Worte von Heinz Kriwet, dem Vorstandsvorsitzenden von Thyssen, höre, der gesagt hat, das Stahlwerk Eisenhüttenstadt sei überflüssig wie ein Kropf, und wenn ich daran denke, daß sich solche Vorstellungen auch in den Köpfen anderer Industrieller finden — zumindest verhalten sie sich so, was ihre Neigung zu Investitionen im Osten angeht —, dann muß ich in der Tat zu der Auffassung kommen, daß aktive Arbeitsmarktpolitik zwar nicht überflüssig ist, aber wirkungslos bleiben muß. Wenn es keine Märkte für Produkte aus Ostdeutschland gäbe, dann hätten wir eine Reinigungskrise, und es müßten Kapazitäten vom Markt genommen werden. Wie sich das zur Zeit in Deutschland abspielt, ginge das alles zu Lasten der Ostländer.Wenn man da so nüchtern herangeht — ich schließe nicht aus, daß einige das tun —, dann könnte das Kalkül darin bestehen, daß sich die Lösung auf dem Arbeitsmarkt wie folgt abspielt — grob gerechnet —: Eine Million geht so nach und nach noch in den Westen, einer Million Frauen wird die Erwerbsneigung ausgetrieben, und eine Million bleibt arbeitslos. Das ist eine sozial beherrschbare Größe. Der Rest hätte Arbeit.Ich habe niemanden, der hier im Saal ist, im Verdacht, daß er so denkt und daß er so herangeht. Ich weiß freilich nicht, wie das kurz vor der namentlichen Abstimmung sein wird.Aber wir wissen und sind uns darüber im klaren, daß die Arbeitsmarktpolitik eine ganz entscheidende Brückenfunktion haben muß. Ich stimme dem zu, Herr Bundesminister. Fortbildung und Umschulung sind eine ganz entscheidende Vorleistung für wirtschaftliche Entwicklung. ABM ist ganz entscheidender Faktor für sozialen Frieden, und sozialer Frieden ist wiederum ein wesentlicher Faktor für die Attraktivität des Standorts Bundesrepublik und insofern ganz wichtig.Aber auch ohne diese ökonomische Funktion — das will ich hinzufügen — bin ich dafür, ABM gegen Arbeitslosigkeit zu setzen, Fortbildung und Umschulung gegen Arbeitslosigkeit zu setzen. Denn das hat für die Betroffenen nicht nur eine ökonomische Funktion, sondern auch eine ganz wesentliche therapeutische Funktion.Ich will es vielleicht etwas überspitzt formulieren. Wer lange Zeit arbeitslos ist, wer keine Aussicht mehr hat, Arbeit zu bekommen, unterscheidet sich von einem Pflegebedürftigen sicher erheblich, aber eben letztlich doch nur graduell und nicht prinzipiell. Deswegen haben diese Maßnahmen eben nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine wesentlich menschliche Funktion.
— Ich weiß, daß da die Grade sehr weit auseinandergehen können. Aber versetzen Sie sich in die Lage eines Langzeitarbeitslosen, welche psychischen Veränderungen auch dort stattfinden, so daß man dem
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Bernd HennBegriff Pflegebedürftigkeit schon sehr nahekommen kann.
Dies allein ist ein Grund, in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit im Bereich der Arbeitsmarktpolitik mehr zu tun und nicht weniger. Deswegen lehne ich diese Gesetzesnovelle ab.Ich möchte aber hinzufügen, daß die Vertreter neoliberaler Wirtschaftspolitik reklamieren — ich gucke Sie an, Frau Dr. Babel, ich meine Sie aber nicht allein —, man müsse immer prüfen, ob Dauerarbeitsplätze entstehen, wenn man diese Instrumente benutzt.Ihnen möchte ich sagen: Im Prinzip haben Sie als F.D.P. nach meiner Meinung solange kein Recht, diese Aussage zu treffen, solange Sie, die ja in diesem Land für Wirtschaftspolitik verantwortlich sind, nicht sagen, wo denn dieses andere Ufer liegt, von dem Herr Bundesminister Blüm gesprochen hat, in welcher Entfernung und in welcher Richtung denn das neue Ufer der Wirtschaft im Osten liegt.Solange der Bundeswirtschaftsminister nach dem Motto verfährt: die Kristallkugel zeigt kein klares Bild, ich kann über Branchenstrukturen und Entwicklung keine Aussage machen, so lange müssen die Sozialpolitiker berechtigt sein, eine Brücke zu bauen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie nach nirgendwo führt. Denn anders kommen wir da aus dem menschlichen Dilemma nicht heraus.Ich fürchte, daß der Aufschwung Ost in näherer Zukunft nicht stattfindet und daß der Abschwung West bereits eingesetzt hat. Wer die Interviews von Minister Möllemann in dieser Woche gelesen hat, muß feststellen, daß er bereits versucht, die Gewerkschaften als Schuldigen für diese Misere festzunageln und die Ordnungsfunktion der Tarifverträge anzugreifen. Das ist für mich eine Orientierung an einem Zustand vor 1918. Es ist kaiserlicher Obrigkeitsstaat, wenn man einen Zustand herbeiführt, der die Abdingbarkeit von Tarifverträgen erlaubt. Dies ist eine Kriegserklärung an die Gewerkschaften. Das ist jedermann bewußt.Man muß sich aber auch bewußt sein, daß diese Schwächung der Gewerkschaften in ihrer zentralen Funktion die Koordinaten in unserer Demokratie verschieben würde. Denn starke Gewerkschaften stärken die Demokratie, nicht umgekehrt.Deshalb appelliere ich an die Sozialpolitiker, diesen Tendenzen entgegenzuwirken, und zwar alle gemeinsam, die wir jetzt in diesem Raum sitzen.
Der Kollege Dr. Alexander Warrikoff hat das Wort.
Frau Präsidentin! Im Namen der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Ihrer Stimme eine gute Besserung wünschen.
Mir fällt die angenehme Aufgabe zu, zum Problem des Vorruhestands, also zum § 128, einige Bemerkungen zu machen. Hier kommen verschiedene Motive, die zum Vorruhestand führen, zusammen. Ich nenne die allerwichtigsten. Das eine ist der Wunsch der Unternehmen, die Mitarbeiterschaft zu verjüngen, das andere der Wunsch der Arbeitnehmer, die oft gerne früher in den Ruhestand gehen, und schließlich — ganz besonders wichtig und ernst — ein sozialverträglicher Weg des Personalabbaus. Denn es ist einfach sozialverträglicher, den Personalabbau über den Vorruhestand als über die Entlassung jüngerer Mitarbeiter, die in die Arbeitslosigkeit gehen, zu vollziehen.Es geht hier überhaupt nicht um die Frage, ob und unter welchen Umständen die Auflösung von Arbeitsverträgen im Zusammenhang mit Vorruhestand möglich ist. Ich hatte in den Ausschußberatungen manchmal den Eindruck, als ob darüber gesprochen würde. Das ist also nicht der Fall. Ob ein Arbeitsverhältnis aufgelöst werden kann oder nicht, richtet sich nach ganz anderen Bestimmungen, insbesondere den Kündigungsschutzbestimmungen. Hier geht es ausschließlich um die Frage, wer zahlt, wenn — auf der Grundlage anderer Bestimmungen — das Arbeitsverhältnis aufgelöst wurde.Da kommen im Prinzip zwei Geldquellen in Frage. Die eine Möglichkeit ist: Der Arbeitgeber zahlt die sich aus dem Vorruhestand ergebenden Kosten. Die zweite Quelle sind Beiträge aus der Solidargemeinschaft, die hinzukommen. Das und nur das ist der Konflikt, mit dem wir es im Rahmen des § 128 zu tun haben.Auf alle Fälle kommt es zu einer Zahlung durch die Beitragszahler, also durch die Bundesanstalt für Arbeit, durch die Arbeitslosenversicherung, wenn die Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit dem älteren Arbeitnehmer ganz unabhängig von seinem Alter in jedem Fall sozial gerechtfertigt gewesen wäre, wenn also eine Kündigung möglich gewesen wäre oder das Ganze aus wichtigem Grund erfolgt ist oder aber es zu einer unzumutbaren Belastung des Betriebs geführt hätte. Es ist ganz selbstverständlich, daß hier Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung bestehen.Der Punkt ist aber, daß zwar in diesen Fällen, aber nicht immer die Solidargemeinschaft der Beitragszahler einen Beitrag leisten muß, insbesondere in dem Fall nicht, den ich schon erwähnte: wenn entweder die Arbeitgeber ihre Belegschaft verjüngen oder die Arbeitnehmer vorzeitig in den sicher wohlverdienten Ruhestand gehen wollen. In diesen Fällen kommt es nicht in Frage, daß der Personalabbau unter wesentlichem Einsatz der Mittel der Beitragszahler, also der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, abgewickelt wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9623
Dr. Alexander Warrikoff— Ja, das finde ich auch.
Vielleicht können wir uns so einigen, daß Sie das Geschehen selber beobachten. Dann brauche ich nicht zu reden. Wenn Sie eine Zwischenfrage zulassen wollen oder nicht, bringen Sie das bitte selber zum Ausdruck,
Ich sollte gefragt werden, ob ich eine Zwischenfrage zulasse. Wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich gesagt: Herr Kollege Schreiner, ich lasse eine Zwischenfrage auch dann zu, wenn sie nicht sinnvoll ist.
Schönen Dank, Herr Kollege Warrikoff, für die Replik von heute vormittag.
— Ich wollte Sie fragen, ob Sie freundlicherweise bereit sind, mir zu erklären, wieso auf der einen Seite die Beitragszahler von der Mitfinanzierung des sozialverträglichen Personalabbaus insbesondere im Frühverrentungsbereich so weit wie möglich entlastet werden sollen, während auf der anderen Seite ausschließlich sie die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland finanzieren sollen. Welchen Sinn macht das?
Die Frage ist deswegen unsinnig, weil sie unrichtig ist. Sie haben von den Beitragszahlern gesprochen. In beiden Beispielsfällen geht es aber um die beiden Gruppen von Beitragszahlern, sowohl die Arbeitgeber wie auch die Arbeitnehmer. Ich habe gerade davon gesprochen, daß beim Vorruhestand zum Zwecke der Verjüngung die Arbeitgeber nicht aus ihrer Verpflichtung entlassen werden dürfen. Insofern geht Ihre Frage daneben.
— Ich habe sie sehr wohl verstanden. Sie haben von der Belastung der Beitragszahler gesprochen und gefragt, wieso ich in dem einen Fall von der Belastung der Beitragszahler rede und im anderen Fall von denselben Beitragszahlern. Ich versuche jetzt zum zweitenmal zu erklären, daß es hier um eine Belastung oder Entlastung der Arbeitgeber geht. Wir sind der Auffassung — ich wiederhole es, damit es der Kollege Schreiner versteht —: Wenn die Arbeitgeber ihr Personal verjüngen wollen, dann dürfen sie das nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern tun. Das ist der Punkt.
— Ich verstehe auch nicht ganz, warum sie das offenbar nicht tut.
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zum Antrag der SPD, zu dem ich in der Tat Fragen habe. Leider werden Sie heute nicht mehr sprechen, und ich kann keine Zwischenfragen an Sie richten. Das ist in diesem Haus nicht üblich.
Die SPD will keinen neuen § 128, sondern sagt: Grundsätzlich können alle, die älter sind, ohne jede Begrenzung — es gibt keinen § 128 mehr — in den Vorruhestand geschickt werden, und das soll keineswegs der Arbeitgeber zahlen, der in den Vorruhestand schickt.
— Auf Aufforderung der Präsidentin hin habe ich das außerordentliche Recht, in diesem Hause das Wort erteilen zu dürfen.
Bitte sehr, Frau Rennebach.
Herr Warrikoff, Sie haben es wie immer unnachahmlich gemacht. Aber trotzdem muß ich Ihnen eine Frage stellen. Zu meinem ganz großen Bedauern haben Sie unseren Antrag, den Antrag der Sozialdemokraten zur Umlagefinanzierung analog dem Konkursausfallgeld als Ersatz des § 128, nicht gesehen.
Ich habe ihn dreimal gelesen, um ganz sicher zu sein. Vorsicht!
Aber wie können Sie dann behaupten, wir wollten diesen Raum rechtsfrei lassen? Das wollen wir doch gar nicht.
Hören Sie mir bitte zu Ende zu. Bitte nehmen Sie Platz, weil ich jetzt in meinem Konzept weiterfahre. Ich will Ihnen ersparen zu stehen.
— Doch! Ich habe jetzt angefangen, zum SPD-Entwurf Stellung zu nehmen, zu dem Sie mich jetzt fragen. Daher können Sie gern Platz nehmen. Sie können auch stehen bleiben, wenn Sie das wollen. Es dauert aber etwas länger.Meine Damen und Herren, die SPD sagt in ihrem Entwurf — den ich in der Tat, um ganz sicherzugehen, mehrfach gelesen habe nichts über irgendwelche zahlenmäßigen oder sachlichen Begrenzungen,
was den Vorruhestand älterer Arbeitnehmer betrifft. Alle älteren Arbeitnehmer können nach dem Prinzip der SPD in den Vorruhestand geschickt werden.
Gezahlt werden soll das Ganze von der Solidargemeinschaft der Arbeitgeber. Das heißt, Sie wollen, daß
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9624 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Alexander Warrikoffjeder Arbeitgeber die Möglichkeit hat - was wirüberhaupt nicht gut finden —, alle Älteren hinauszudrücken, ohne daß er selber zahlen muß. Das soll zu Lasten der Solidargemeinschaft aller Arbeitgeber gehen.
Das ist natürlich in hohem Maße mittelstandsfeindlich. Denn wir wissen, daß gerade die mittelständischen Betriebe — aus sehr guten Gründen — zögern und davor zurückschrecken,
ältere Mitarbeiter in den Vorruhestand zu schicken. Über die Solidarumlage aller Arbeitgeber würden sie die Entlassungsaktionen der Großindustrie mitfinanzieren. Das würde dazu führen, daß in den Großbetrieben alle älteren Arbeitnehmer zu Lasten der Solidargemeinschaft ausgeschaltet würden.
Bitte sehr, Herr Andres.
Herr Dr. Warrikoff, sind Sie geneigt, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Problem u. a. darin liegt, daß viele ältere Arbeitnehmer über langjährige Beschäftigungsverhältnisse verfügen, daß sie deshalb außerordentlich lange Kündigungsschutzzeiten und damit verbundene Regelungen haben und daß es eigentlich irrsinnig ist — denn wir haben große Industriebereiche, die vor unglaublichen Personalabbaumaßnahmen stehen; Herr Goeudevert von VW hat von 18 000 Personen gesprochen, die Chemie oder andere Branchen stehen vor ähnlichen Problemen —, eine Regelung zu machen, wie Sie sie gemacht haben, die nach Aussage gestern im Ausschuß schlaffe 50 Millionen DM erbringt, wenn überhaupt? Das wollen wir schön abwarten; da sprechen wir uns wieder. Zu unserem Umlageverfahren mit Ausnahmeregelungen für Kleinbetriebe und ähnlichen Dingen mehr, in das alle, die es nutzen wollen, einbezogen werden, haben selbst die BDA und die Industrie gesagt, das sei ein gangbarer Weg. Er sei vernünftig. Sind Sie geneigt, das alles zur Kenntnis zu nehmen?
Daß das für eine Reihe von Arbeitgebern ein ganz gangbarer Weg ist, ist völlig klar,
vor allem für die Arbeitgeber, die in großem Stil den Vorruhestand nutzen wollen. Denn die können sich erholen, ohne daß sie bei der Solidargemeinschaft aller Arbeitgeber einen einzigen Pfennig zahlen müssen. Wir halten — um Ihre Frage zu beantwortendiesen Weg nicht für sinnvoll.Im übrigen halten wir auch die Vorstellung um zu dem dritten Punkt zu kommen —, daß nur die Arbeitgeber diese Solidargemeinschaft bilden sollen, für bedenklich; denn immerhin haben ja auch die Arbeitnehmer Vorteile aus dem Ganzen,
denn die Arbeitnehmer gehen immer nur mit ihrer eigenen Zustimmung, und sie gehen in einen wohlverdienten Vorruhestand, der offenbar für viele attraktiv ist; sonst würden sie ja die Zustimmung nicht geben, Frau Kollegin Fuchs.Wir gehen in dieser Sache neue Wege, meine Damen und Herren.
— Wenn Sie diese neuen Wege nicht zur Kenntnis genommen haben, zeigt das, daß Sie das nicht verstanden haben.
Wir bleiben bei dem Grundsatz der Erstattung, der im Prinzip nur dann entfällt, wenn der Vorruhestand sozial gerechtfertigt ist oder aus einem wichtigen Grund eintritt. Diese Regelung war ja schon früher da, und sie hat, wenn der Arbeitgeber von dieser Sache Gebrauch machen wollte, dazu geführt, daß im Einzelfall die Arbeitsverwaltung prüfen mußte, ob die soziale Rechtfertigung vorliegt. Und, meine Damen und I-lerren, ob uns das gefällt oder nicht, daran ist die Arbeitsverwaltung aus sehr verständlichen Gründen gescheitert.
Das kann man in einem Drei-Phasen-Prozeß prüfen, ob das sozial gerechtfertigt ist oder nicht. Es ist nicht möglich, das in allen Einzelfällen zu prüfen. Es gab ja 200 000 Einzelfälle, die unentschieden waren und dann im Wege des Vergleichs beseitigt wurden.Deswegen haben wir uns zu einer pauschalierenden Betrachtungsweise entschlossen, deren primärer Zweck — im Gegensatz zu Ihrem Ansatz — vorrangig nicht der ist, den entlassenden Arbeitgeber zu entlasten, sondern der, die Zahl der Streitfälle auf ein vernünftiges Maß zu senken. Es ist keine Befreiung für die Arbeitgeber, sondern eine Befreiung von bürokratischen Zwängen, die das Ganze unhantierbar machen würden.Übrigens haben Sie in Ihrer Vorlage mit Recht auch gesagt, daß das frühere Verfahren nicht durchführbar ist.
Wir haben also hier jetzt eine Staffelung gemacht.Ich bin übrigens der Überzeugung — und ich biete Ihnen jetzt Gelegenheit zu lebhaften Zwischenrufen und spitzen Bemerkungen —, daß es auf diesem komplizierten Gebiet Lösungen, die alle zufriedenstellen und wo jeder in jedem Falle sagt, das sei großartig, nicht gibt. Das heißt, wir sind hier auf einem Gebiet, wo eine komplexe Abwägung mit dem Zweck erfolgt, insgesamt ein Optimum zu erreichen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9625
Dr. Alexander WarrikoffWir haben uns entschlossen, es in den Fällen, in denen der Personalabbau insgesamt weniger als 3 % beträgt, bei dieser Einzelfallprüfung zu belassen. Dies kann man in Frage stellen, aber da die Zahl der Fälle bei 3 % Gesamtpersonalabbau — davon sind nur ein kleiner Teil ältere Arbeitnehmer — sehr niedrig ist, ist die Einzelfallprüfung wegen ihrer geringen Zahl auch für den einzelnen Betrieb zumutbar.Wir nehmen an, daß ein Abbau zwischen 3 und 10 älterer Arbeitnehmer im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer pauschalierend etwa das Bild trifft, und wir sagen: Wenn der Arbeitgeber im Einvernehmen mit den Arbeitnehmern in diesem Umfang abbaut, bedarf es der Einzelfallprüfung nicht mehr, und die Arbeitsverwaltung wird von dieser detaillierten Prüfung entlastet.Damit da keine Mißverständnisse aufkommen, weise ich aber auf folgendes hin: Überschreitet der Arbeitgeber diese Zahl von 10 %, dann muß er in allen Fällen nachweisen. Das muß so sein. Sonst würde man ja die kritischen Fälle über 10 % gar nicht erfassen. Das ist klar; ich weise nur darauf hin.Bis jetzt habe ich vor allem von der Problematik des Pauschalnachweises oder der Abkehr von der Einzelfallprüfung gesprochen. Jetzt kommt ein zweiter legitimer Gesichtspunkt, nämlich arbeitsmarktpolitische Überlegungen. Beträgt nämlich der Abbau in einem Jahr über 10 %, dann haben wir es mit einer gewissen Krisensituation zumindest des Unternehmens zu tun.Hier sagen wir: Wir würden es in einer solchen Krisensituation, wenn das Unternehmen vor die Wahl gestellt ist, entweder Ältere in den Vorruhestand oder gegebenenfalls Jüngere in die Arbeitslosigkeit zu schicken, auch unter dem Gesichtspunkt der Solidargemeinschaft vorziehen, daß dann eben mehr Ältere in den Vorruhestand gehen. Und bei über 10 Entlassungen ist diese Gefahr, diese Alternative sehr real. Deswegen lassen wir hier im Wege der Pauschalierung, also einer Mischung des Elements der Abkehr vom Einzelfall zusammen mit arbeitsmarktpolitischen Überlegungen, eine Verdoppelung der Quote zu.
— Herr Schreiner, erst einmal liegt Ihre Zeiteinschätzung grob daneben. Ich habe bisher zwölf Minuten gesprochen,
und von diesen zwölf Minuten entfielen acht auf die Beantwortung von Zwischenfragen der SPD.
Zweitens hatte ich gestern abend im Ausschuß den Eindruck, daß Sie es überhaupt nicht verstanden haben. Alle Sachbeiträge gestern waren so, daß es so aussah, als ob Sie das nicht verstanden hätten. Deswegen nehme ich mir jetzt die Zeit und die Gelegenheit, es vor allem auch für die Opposition in aller Ruhe zu erklären.
— Das wird in jedem Fall geschehen, da die Arbeitsverwaltung selbstverständlich über geltendes Recht unterrichtet wird. Davon darf ich doch ausgehen, Herr Minister Blüm?
Unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten gibt es noch eine weitere Steigerung, nämlich folgenden Sachverhalt: Wenn ein Betrieb in kürzester Zeit 20 % abbauen muß und dies gleichzeitig in einer Region erfolgt, in der bereits hohe Arbeitslosigkeit besteht, wollen wir dem Arbeitgeber, natürlich im Einvernehmen mit Betriebsrat und Arbeitnehmern, die Möglichkeit geben, vorrangig ohne eine Quote und ohne Proportionalität ältere Arbeitnehmer zu entlassen. — Soweit dieses Pauschalierungskonzept.Der nächste Punkt, den ich erwähnen möchte, ist, daß wir eine Sonderregelung mit dem Mittelstand getroffen haben: 20, 40, 60. Bis 20 ist Vorruhestand ohne weiteres möglich, dann mit gestaffelten Ersatzzahlungen. Im Zusammenhang mit dem Mittelstand möchte ich vor allem darauf hinweisen, daß diese Pauschalierung auch eine besondere Entlastung für den Mittelstand ist. Denn während große Firmen mühelos diese Nachweise führen konnten, ob das nun sozial gerechtfertigt ist oder nicht, ist für den Mittelstand diese Pauschalierung eine praktikable Regelung. Eine Regelung, die jedem einzelnen ganz klar macht, wie viele Leute in den Vorruhestand gehen können, ohne daß es zu Ärger, Auseinandersetzungen und Prozessen kommt, ist gerade für den Mittelstand von großem Wert.
Ich erwähne auch noch, daß die Problematik der Sozialpläne damit weitestgehend, ja, ich glaube, überhaupt erledigt ist, weil bei Sozialplänen immer höhere Zahlen des Abbaus gelten.
Ich muß mir ja selbst das Wort entziehen. Ach nein, der neue Präsident ist da, dann kann er das ja machen. Er hat Stimme, jawohl!Es ist also so, daß Sozialpläne in diese Pauschalierungsbetrachtung hineinfallen, so daß aus unserer Sicht Sonderregelungen für die Behandlung von Sozialplänen nicht erforderlich waren.Aus Gründen der Zeitnot und im Hinblick auf das gelbe Licht gehe ich auf die Abfindungsproblematik nicht mehr ein, glaube aber, daß wir in ungewöhnlicher Weise — —
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9626 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Alexander Warrikoff— Herr Schreiner, nun habe ich es länger, ausführlicher gemacht, als Sie es für richtig halten. Und jetzt erklären Sie mir, daß Sie trotz der Ausführlichkeit das nicht verstehen. Sie treiben mich ja an den Rand der Traurigkeit.Also, meine Damen und Herren — und damit möchte ich schließen —, es ist gar nicht so einfach, einen einfachen, wohldurchdachten, gut strukturierten, gerechten Entwurf der Opposition klarzumachen.
Frau Kollegin Regina Kolbe, ich erteile Ihnen das Wort.
— Entschuldigung, wenn schon einmal jemand humorvoll ist, machen Sie ihn doch nicht gleich wieder herunter!
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation diese Form der Heiterkeit nicht angebracht.
— Doch, aber die Problematik ist viel zu ernst.Diese 10. AFG-Novelle ist in kürzester Frist, nämlich innerhalb von fünf Wochen, durch die parlamentarische Beratung gepeitscht worden. Verständnis hätten die von der Reform Betroffenen für diese Eile dann gehabt, wenn die Novelle positive Effekte gebracht hätte. Aber so?Grundlegend ist zu verzeichnen, daß man auf positive Veränderungen gerade im Bereich der Sozialpolitik warten muß. Ich denke da an die Pflegeversicherung. Da hat diese Bundesregierung sehr viel Zeit. Bei dem Tempo der AFG-Novellierung litt die Qualität der Beratung. Herr Warrikoff hat das eben selbst gesagt: Nur ganz schnell weg vom Tisch! — Und ich verstehe die Kollegen. Unangenehme Angelegenheiten erledigt man gleich. Ich bedaure ganz besonders meine ostdeutschen und auch die westdeutschen Kollegen im Bereich der Sozialpolitik, die bei der Verabschiedung dieser Novelle sicherlich ihre Bauchschmerzen haben werden, eingequetscht in Fraktionsdisziplin, mit ihren Gewissensnöten; man könnte ja auch frei entscheiden.Ich kann auch nicht verstehen, daß die Sozialpolitiker der Regierungskoalition wieder zu Erfüllungsgehilfen des Finanzministers geworden sind.
Die Zielstellung hieß Einsparung, und diese wurde auch prompt erfüllt. Diese zehnte Novelle nimmt denjenigen am meisten, die dringend auf unsere Hilfe angewiesen sind. Die Konflikte werden auf demRücken der Schwächsten ausgetragen. Wir hatten heute morgen über das Thema Asyl debattiert. Weil das Recht auf Asyl mißbraucht wird, schaffen wir es ab. Das Steuerrecht wird auch mißbraucht. Wann diskutieren wir über einen Antrag der CSU, der die Abschaffung der Steuern zum Inhalt hat? Herr Waigel wird sich freuen; nein, er wird sich dagegen wehren — und dies mit Erfolg.Gegen die uns vorliegende AFG-Novelle haben sich die Betroffenen ausgesprochen. Aber ich konstatiere: ohne Erfolg. Ich erwähne z. B. die Behindertenverbände. Was nützen diesen Menschen schöne Worte? Sie brauchen konkrete Hilfen. Diese nehmen Sie ihnen, wenn Sie 500 Millionen DM in diesem Bereich einsparen. Neue Wege in der Behindertenpolitik bedeuten für den Haushalt 1993 8 Millionen DM — als fester Titel eingestellt. Das ist die Ausgleichsabgabe, die bei Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten gezahlt werden muß. Ich ahne Schlimmes für das zu erwartende SGB IX.Ich habe in diesem Hause schon oft gehört, daß Sie einen Wählerauftrag haben und ihn erfüllen. Wenn ich feststelle, wie weit Sie sich dabei von den Realitäten entfernt haben, so tut dies weh und macht bitter.
Jeder von uns im Ausschuß hat eine Menge an Post bekommen. Es waren viele gute Vorschläge darunter. Auch bei der Anhörung kam ganz deutlich zum Ausdruck: Dieses Gesetz kommt zu früh. Das haben die Sachverständigen aus der Arbeitsverwaltung und der Wissenschaft deutlich dargelegt.Wenn man so an den berechtigten Wünschen und Vorschlägen vorbei ein Gesetz beschließt, braucht man sich über das Ergebnis nicht zu wundern. Dieses Ergebnis heißt Politikverdrossenheit. Fest steht: Die Mehrheitsverhältnisse erlauben es Ihnen, dieses Gesetz heute zu verabschieden. Fest steht aber auch: Diese Bundesregierung steht allein. Sie macht Front gegen den Rest der Republik.Anfang 1990 hat mich die reibungslos funktionierende Organisation hier in Bonn beeindruckt. Alles empfand ich als perfekt. Heute sage ich Ihnen: Es ist erschreckend; hier hat sich nichts verändert. Alles läuft weiter in den ausgetretenen Bahnen. Aber dieses Land hat sich verändert. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren: Es wird zwar viel von einer neuen Geschäftsgrundlage durch die Herstellung der deutschen Einheit geredet, aber mit dem Herzen haben es die meisten noch nicht begriffen.
Mein größtes Problem mit dieser Politik ist die Einfallslosigkeit, mit der sie betrieben wird: nicht bereit sein, neue Wege zu beschreiten, wie sie dagegen der Antrag „Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik — Arbeit statt Arbeitslosigkeit" aufzeigt.Die aktive Politik am Arbeitsmarkt hat in den neuen Ländern zu einer erheblichen Entlastung bei-
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Regina Kolbegetragen. Insgesamt 1,8 Millionen Personen sind auf diese Weise in Qualifizierungs-, Beschaffungs- und Übergangsmaßnahmen gebracht worden. An der Situation am Arbeitsmarkt hat sich bis heute nichts geändert; im Gegenteil: Bei den Treuhandbetrieben wird es weitere Entlassungen geben. Von den vorgesehenen Kürzungen bei den ABM werden rund 100 000 und bei der beruflichen Förderung etwa 50 000 Menschen betroffen sein.Gerade für die Menschen in der ehemaligen DDR, die ihr Selbstverständnis in noch höherem Maße als im Westen — das trifft besonders auf die Frauen zu — über Erwerbstätigkeit definierten, ist es besonders bitter, von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein; und hier ist kein Ende abzusehen.Statt endlich zu reagieren, wird von seiten dieser Regierung kein Konzept vorgelegt. Sie bleiben alle Antworten schuldig. Es werden ABM im Osten gekürzt, die zur Zeit für viele Menschen die einzige Möglichkeit bieten, in Arbeit zu kommen. Für fatal halte ich es, daß ABM nicht mehr unter Tarifbedingungen zustande kommen sollen. Die beiden im Gesetz vorgeschriebenen Regelungen drängen Familien mit nur einem Verdienst auf ABM-Basis damit unter die Armutsgrenze; sprich: Das Gesetz macht sie zu Sozialhilfeempfängern.Diese Regelung bedeutet auch, daß der sozialpolitisch gewollte Abstand zwischen Arbeitseinkommen und Sozialhilfe aufgehoben wird. Das alles wird hier unter dem Aspekt „Arbeit soll sich lohnen" diskutiert!Bisher hat mir niemand widersprochen, wenn ich sagte, die Generation der 50jährigen werde keine Chance mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt haben. Also — was bieten wir diesen Menschen als Alternative an?
— Ja. Jeder, der so etwas anbietet, sollte verpflichtet werden, unter diesen Bedingungen mindestens einen Monat zu leben. Er sollte erfahren, was das bedeutet.
— Nein, das ist Ihre Alternative. Wir haben ein anderes Konzept.
Betroffen unter den Älteren sind ca. 2 Millionen Menschen. Wir brauchen für diese Menschen Programme für eine befristete Zeit.Oder nehmen wir die Frauenförderung. Das AFG ist in einigen Punkten frauendiskriminierend. Nach wie vor wird es für Frauen die Verfügbarkeitsregelung geben. Man konnte sich auch hier nicht einem Änderungsantrag meiner Fraktion anschließen. Darin hieß es: „Frauen sind mindestens entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen zu fördern." Die tatsächlich gewählte Formulierung „Frauen sollen entsprechend ihrem Anteil ... " wird auf keinen Fall den von allen gewünschten Erfolg haben,Bei der uns allen bekannten Größenordnung von Frauenarbeitslosigkeit — 718 000 sind es in Ostdeutschland; der Anteil entspricht 64 % — reichen mir keine bloßen Absichtserklärungen. Ich brauche zwingende Regelungen.
Die Menschen erwarten von uns, daß wir handeln. Das kann allerdings nicht allein Aufgabe der Sozialpolitik sein. Es muß vor allem Aufgabe der Wirtschaftspolitik sein. Schönwetterreden haben die Menschen im Osten lange genug gehört. Sie wollen aktives Handeln von uns sehen. Diese AFG-Novelle wird der Situation in keiner Weise gerecht. Sie ist einzig und allein eine Spar-Novelle.
Es kann nicht oft genug betont werden, daß die Finanzierung von Arbeit allemal sinnvoller für das Wohlbefinden von Menschen ist als die Verwaltung von Arbeitslosigkeit. Normalerweise kann man davon ausgehen, daß die besseren Argumente überzeugen. Wenn Sie aber nicht einmal durch die beängstigende Entwicklung am Arbeitsmarkt zum Handeln bewegt werden können, so frage ich: Was dann?Meine Bitte an alle in diesem Hause: Bei allen Entscheidungen, die wir hier treffen, dürfen wir nicht vergessen, daß wir über das Schicksal von Menschen entscheiden.
Arbeitslosigkeit gehört zu den bittersten Erfahrungen, die Menschen machen. Sie bedeutet soziale Unsicherheit und sorgt mehr, als uns lieb sein kann, für sozialen Sprengstoff. Solange die Wirtschaftspolitik ihre Hausaufgaben nicht erfüllt, sind wir in der Sozialpolitik gefordert. Von daher meine herzliche Bitte: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Herr Abgeordneter KarlJosef Laumann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Kollegin Kolbe, ich denke, daß wir mit Pessimismus und nur durch das Aufzählen von all dem, was in den neuen Ländern sehr problematisch ist,
die Probleme nicht lösen können.
Dazu gehört auch, daß wir optimistisch an einige Dinge herangehen und den Menschen sagen, was in den letzten Jahren Gutes gelaufen ist.
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9628 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Karl-Josef LaumannIch glaube, daß doch jeder in Deutschland weiß, daß gerade die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie unsere Regierung es als eine der schönsten Aufgaben ansehen, daß wir jetzt die wirtschaftliche und soziale Einheit Deutschlands voranbringen müssen. Ich denke, daß auch viele von uns wissen, daß diese Aufgabe, die jetzt vor uns steht, uns sicher genauso beanspruchen wird, wie es wahrscheinlich für die Generation vor uns galt — das kann ich für meine Altersgruppe sagen —, die den Aufbau in den 50er Jahren geschafft hat. Diese Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben, sind doch wohl nur im Einklang von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu schaffen.
Unser gemeinsames Ziel, die Lebensverhältnisse rasch anzugleichen, werden wir nur erreichen, wenn wir den Zusammenhang dieser drei Politikbereiche sehen. Die Sozialpolitik ist nicht in der Lage, alle Probleme zu lösen. Dazu gehören auch die anderen Politikbereiche, insbesondere die Wirtschaftspolitik. Natürlich muß sich die Sozialpolitik auch nach den finanzpolitischen Gegebenheiten richten; denn das sind unsere Spielräume, die wir als Sozialpolitiker haben. Ich meine, daß die vorgelegte AFG-Novelle in einem hohen Maß dieses Kriterium, das wir in Finanzpolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik sehen, miteinander verbindet.Ich halte es für vernünftig, daß auf Grund der großen finanziellen Belastungen, die die deutsche Einheit und die damit verbundenen Reparaturkosten für vierzig Jahre Sozialismus nun einmal mit sich bringen, auch bei der Bundesanstalt für Arbeit die Finanzmittel für die Menschen ausgegeben und auf die Menschen konzentriert werden, die deren unbedingt bedürfen oder die durch Beiträge einen Anspruch erworben haben. Unter diesem Gesichtspunkt war und ist es richtig, daß wir gesamtstaatliche Aufgaben aus dem Bereich der Bundesanstalt für Arbeit herausgenommen haben. Das gilt sowohl für die Deutsch-Sprachkurse für Aussiedler als auch für den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses. Ich weiß auch, daß die Möglichkeit, nachträglich den Hauptschulabschluß erwerben zu können, für viele, insbesondere junge Menschen, unverzichtbar ist.Aber der Bundestag hat doch alles Recht dazu, zu erwarten, daß die Länder endlich ihre bildungspolitische Verantwortung und Aufgabe wahrnehmen.
Wenn ich in der neuerlichen Diskussion immer davon höre, daß die Länder immer mehr Kompetenzen fordern, dürfen wir als Bund einmal fordern, daß sie dort, wo sie traditionelle Aufgaben haben, diese Aufgaben erst einmal erfüllen. Bildungs- und Schulpolitik ist Ländersache, und es soll auch dabei bleiben.Ich werte es sehr positiv, daß wir bei der Beratung zum AFG im Ausschuß und in meiner Fraktionsarbeitsgruppe wesentliche Verbesserungen im Bereich des § 128 AFG haben durchsetzen können. MeinVorredner, Herr Dr. Warrikoff, hat dies im einzelnen erklärt.
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Büttner?
Halten Sie es auch für richtig, daß durch das AFG und die Nichtbeteiligung des Bundes am Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit im Westen der Bundesrepublik nahezu die Hälfte aller AB-Maßnahmen im nächsten Jahr wegfallen und damit die Ärmsten der Armen unter den Arbeitslosen aus dem Arbeitsmarkt hinausgedrängt werden?
Lieber Herr Kollege Büttner, ich kann Sie ein Stück weit beruhigen. Es wird nicht die Hälfte der AB-Maßnahmen wegfallen. Wenn ich richtig informiert bin, werden in Westdeutschland im Jahre 1993 etwa 60 000 AB-Maßnahmen auch nach der AFG-Novelle noch möglich sein. Wir können dann ja beide gemeinsam im Ausschuß prüfen, ob das so kommt.
— Um die 90 000.
Ich denke, daß es von daher richtig ist — und ich bin auch sehr froh, daß es uns gelungen ist , daß wir dann, wenn ein wirtschaftliches Unternehmen in eine scharfe wirtschaftliche Lage gerät, so daß es einen Personalabbau von über 20 % machen muß und dieser Personalabbau für den regionalen Arbeitsmarkt von Gewicht ist, mit dem Einverständnis der älteren Arbeitnehmer diese freisetzen können.Gleiches gilt für die Stahl-Regelung. Als NordrheinWestfale begrüße ich ausdrücklich, daß sie bis zum 31. Dezember 1995 fortläuft. In diesen problematischen Fällen, die ich dargestellt habe, halten wir es von der CDU/CSU schon für richtig, daß ältere Arbeitnehmer dann, wenn sie es möchten, sozial abgesichert in den Ruhestand gehen können, damit jüngere Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz behalten können.Der SPD-Vorschlag, die Finanzierung über eine Umlage sicherzustellen, würde nach meiner Meinung — so befürchte ich — dazu führen, daß noch mehr ältere Arbeitnehmer freigesetzt werden. Denn wer in einen Fonds einzahlt, will auch etwas herausbekommen. Dieses würde, so glaube ich, zu erheblichen Belastungen für die Betriebe in der Größenordnung bis zu 500 oder 600 Mitarbeitern führen, die in der Vergangenheit in der Regel die älteren Arbeitnehmer nicht freigesetzt haben. Umlagen führen auch zu finanziellen Belastungen der Unternehmen. Deshalb ist das zur Zeit falsch. Ich glaube fest daran, daß es richtiger ist, das zu tun, was wir mit dem Standortsicherungsgesetz vorschlagen: Gewerbliche Einkommen steuerlich zu entlasten, denn Investitionen sichern Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft, und die beste Sozialpolitik ist es immer noch, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß in der privaten Wirt-
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Karl-Josef Laumannschaft durch Investitionen Arbeitsplätze geschaffen werden.
In der heutigen Debatte ist uns immer wieder der Vorwurf gemacht worden, daß diese AFG-Novelle ein Kahlschlag in der Arbeitsmarktpolitik wäre. Ich möchte diesen Vorwurf ganz energisch zurückweisen. Im übrigen möchte ich Sie, Frau Fuchs, auch einmal daran erinnern, daß Ihre Fraktion und Ihr Arbeitsminister Ehrenberg mit Gesetz vom 22. Dezember 1981 den jetzt von Ihnen so oft kritisierten § 128 eingeführt hat, daß Sie damals gleichzeitig 3,5 Milliarden Leistungskürzungen im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit beschlossen haben und Sie damals gleichzeitig die Beiträge um rund 3 Milliarden Mark gesteigert haben.
Also bitte, denken Sie mal daran, was damals gelaufen ist.Wahr ist nämlich, daß noch keine Bundesregierung eine so aktive Arbeitsmarktpolitik betrieben hat wie die Regierung Helmut Kohl mit dem Arbeitsminister Norbert Blüm. Im übrigen ist unser Norbert Blüm in diesen Tagen zehn Jahre im Amt. Er ist damit der von der Dienstzeit her am längsten amtierende Sozialminister in der Geschichte Deutschlands.
Ich glaube, dies ist ein Grund, Ihnen, Herr Blüm, zu diesem Dienstjubiläum zu gratulieren. Ich und meine Fraktion sehen das auch so, daß diese lange Dienstzeit ein Beweis dafür ist, daß Sie in diesem Bereich des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung eine hervorragende Arbeit für unser Volk geleistet haben.
Im Jahre 1990 haben wir in der alten Bundesrepublik 90 000 AB-Maßnahmen durchgeführt. Zusätzlich gibt es Programme, die aus Bundesmitteln finanziert werden, zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Zum einen haben die Arbeitgeber die Möglichkeit, Lohnzuschüsse zu bekommen, wenn sie Langzeitarbeitslose einstellen. Zum anderen haben Arbeitslosen-Initiativen die Möglichkeit, wenn sie Langzeitarbeitslose sozial betreuen, sie fördern, sie wieder an das Arbeitsleben heranführen, ihre Arbeit über diese Mittel finanziert zu bekommen.Daß die AB-Maßnahmen auf Grund der großen Herausforderung in den neuen Ländern bei uns auf 60 000 AB-Stellen zurückgeführt werden, halte ich für verantwortbar, besonders wenn man bedenkt, daß in den neuen Ländern ca. 300 000 AB-Maßnahmen geplant sind. 60 000 AB-Maßnahmen im Westen ist immer noch doppelt soviel wie 1981 unter der SPD-Regierung. Was wahr ist, muß auch einmal hier gesagt werden.
Das jetzt novellierte Arbeitsförderungsgesetz wird auch zukünftig einen ganz entscheidenden Beitrag im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit leisten. Dies gilt insbesondere für die zur Zeit schwerwiegende Situation in den neuen Bundesländern auf Grund des Umstrukturierungsprozesses von einer maroden Planwirtschaft zu einer zukunftsorientierten sozialen Marktwirtschaft und den damit verbundenen Problemen. 300 000 AB-Maßnahmen allein für die neuen Länder, Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen mit qualitativ hohem Anspruch sind nicht Kahlschlagpolitik, sondern eine Arbeitsmarktpolitik, die auch vom Umfang her auf einem hohen Niveau angesiedelt ist.
In den neuen Bundesländern wurde die Umwelt durch die Stahlproduktion, durch die Chemie und die Braunkohle extrem geschädigt. AB-Großprojekte haben dazu beigetragen, daß mit der Beseitigung der Schäden begonnen werden konnte. Soweit arbeitslose Arbeitnehmer zur Beseitigung von Umweltschäden beschäftigt werden, sollen auch künftig Mittel der Bundesanstalt für Arbeit, die ansonsten für die Zahlung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe verwandt werden müssen, als Komplementärfinanzierung dieser Projekte in den neuen Bundesländern eingesetzt werden. Ich glaube, daß diese Maßnahme auch einen Beitrag leisten wird, daß zu den 300 000 AB-Maßnahmen, die wir in diesem Gesetz vorsehen, noch eine ganze Menge von arbeitsmarktpolitischen Elementen — ich nenne in diesem Bereich ÖkoABM — durchgesetzt werden. Das wird sowohl für unsere Umwelt gut sein, wird aber auch eine Entlastung für den Arbeitsmarkt sein. Ich wäre froh, wenn wir in diesem Bereich alle gemeinsam dafür sorgen würden, daß wir für diese Umwelt-ABM die Treuhand gewinnen können, die Länder gewinnen können, die Landkreise gewinnen können, die Städte und Gemeinden gewinnen können, denn desto mehr sich beteiligen, um so größer wird der Erfolg für diesen Bereich der Arbeitsmarktpolitik sein. Diese 10. AFG-Novelle ist — darum rede ich gar nicht herum — ein Beitrag zur Konsolidierung der Staatsfinanzen. Diese Novelle spart Geld ein.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Sie ist für mich auch ein Beispiel für sozialverträgliches Einsparen und verdient damit unsere Zustimmung.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen nur zu Ihrer Orientierung sagen, daß wir jetzt noch zwei Beiträge à 10 Minuten zu erwarten haben, das heißt, daß wir also frühestens um 15.00 Uhr mit dem Abstimmungsvorgang beginnen; darunter fällt dann auch die namentliche Abstimmung.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Adolf Ostertag.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat sich heute
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9630 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Adolf Ostertagmächtig ins Zeug gelegt, nicht wegen seiner Rede, sondern wegen des Aufmarsches zu diesem Thema. Er und seine Zuarbeiter waren in den letzten Wochen ja sehr fleißig bei der Vorbereitung dieser Debatte. Insgesamt 70 Bestimmungen des AFG sollen verändert werden. Schnell mußte auch alles gehen. So mußten wir zum Beispiel gestern im Ausschuß in 150 Abstimmungen das Ganze durchpeitschen.Der Bundesfinanzminister als Auftraggeber wird zufrieden sein. Seine Vorgaben, künftig keine Bundeszuschüsse mehr für die Nürnberger Solidarkasse zu bezahlen, wurden ja von dieser Koalition prompt erfüllt. Mit Einsparungen von 5,2 Milliarden DM stiehlt sich diese Bundesregierung ein weiteres Mal aus der arbeitsmarktpolitischen Verantwortung. Ich finde besonders schlimm, daß das ohne merkliche Gegenwehr des Arbeitsministers passiert ist.
In dieser dramatischen Situation auf dem Arbeitsmarkt verlangen die Millionen Kurzarbeiter, ABMler, Arbeitslosen im Bundesarbeitsminister einen Streiter für ihre Interessen
und keinen Arbeitsminister, der halbjährlich die Streichorgien mal des Wirtschaftsministers und mal des Finanzministers als Erfüllungsminister hinnimmt.
Die 10. Novelle des AFG hätte in Verbindung mit unseren konstruktiven und strukturellen Veränderungsvorschlägen für aktive Maßnahmen und neue Finanzierungsformen hoffnungsvolle Perspektiven für den Arbeitsmarkt festschreiben können. Statt dessen aber wird die Demontage des AFG fortgesetzt. Sie wird mehr Arbeitslose und Hoffnungslose vor allem in Ostdeutschland bringen. Heute gibt es 3 Millionen Arbeitslose. Die Tendenz steigt. Die Zahl wäre allein in den östlichen Bundesländern ohne die arbeitsmarktpolitischen Instrumente um 1,8 Millionen höher. Das ist sicherlich positiv zu vermerken.Angesichts dieser katastrophalen Situation sind wirkungsvolle arbeitsmarktpolitische Hilfen, die sich in den 60er, 70er und 80er Jahren bewährt haben, unverzichtbar; das ist unbestritten. Diese arbeitsmarktpolitischen Brücken jetzt abzubauen, bedeutet aber zusätzliche Produktion von Arbeitslosigkeit. Im Würgegriff des Bundesfinanzministers amputieren Sie von der Regierung die Förderinstrumente, die aktive Arbeitsmarktpolitik bisher ermöglicht haben.Wie gesagt, 5,2 Milliarden DM sollen eingespart werden, zum Teil auch durch die Verlagerung der Kosten auf die Länder und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Diese Milchmädchenrechnung kann ja nicht aufgehen;
denn die angestrebten Einsparungen werden logischerweise zu Mehrausgaben bei der Finanzierung der Arbeitslosigkeit führen. Damit schaffen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, auch ein gefährliches Pulverfaß für soziale Konflikte.Besonders betroffen sind die benachteiligten Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Frauen, Behinderte, Jugendliche ohne Hauptschulabschluß, deren Chancen ohnehin weiter verringert werden.
Herr Kollege, ich darf Sie eine Sekunde unterbrechen, aber die Konferenztätigkeit an der Regierungsbank nimmt einen etwas zu großen Umfang an.
Gerade diese Regierung hat es nötig, sich beim AFG zu unterhalten. Sie will wahrscheinlich nicht gerne wahrhaben, was sie angestellt hat.
Wie soll diese Regierung, diese Koalition in den kommenden Wochen glaubhaft über einen Solidarpakt reden, wenn sie mit dieser AFG-Novelle gegen die solidarischen Grundprinzipien verstößt? Was ist das für ein Verständnis von Solidarpakt, wenn im Vorfeld möglicher Gespräche Tarifverträge ausgehebelt werden? Die Einkommen in den östlichen Bundesländern sind so gering, daß eine weitere Absenkung die Menschen in die Armut treiben wird. Das Tarifniveau in der Metallverarbeitung Sachsens liegt im Vergleich zu Bayern bei gerade 58,9 %, die effektive Verdienstquote gerade mal bei 52,1%.
Wenn diese Regierung durch Öffnungs- und Revisionsklauseln noch weitere Lohnkürzungen möglich machen will, trägt sie die volle Verantwortung für die Folgen, nämlich zunehmende Armut und weitere Abwanderung.
Meine Herren und Damen, angesichts des industriellen Zusammenbruchs im Osten, der Arbeits- und Perspektivlosigkeit brauchen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Solidarpakt, nicht die Arbeitgeber; denn sie können mit diesem Zustand bisher hervorragend leben. Ein Solidarpakt Ost kann aber nicht gedeihen im vergifteten Klima von Karenztagen, Lohnverzicht und Deregulierung.
Eine solche Politik, einen so im Vorfeld schon strangulierten Solidarpakt zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lehnen wir Sozialdemokraten strikt ab.In der Schweriner Erklärung — sie ist heute schon zitiert worden — der Arbeitsministerinnen und Arbeitsminister der östlichen Bundesländer vom August wird nachgewiesen, daß diese AFG-Demontage für mindestens 150 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Aus bedeuten wird. Die Massenarbeitslosigkeit wird sich also vergrößern. Selbst Ihre eigenen Leute aus dem Osten lehnen Ihre sozialen Untaten ab,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9631
Adolf OstertagIm „Handelsblatt" vor zwei Tagen war zu lesen, daß sich Arbeitsminister Schreiber aus Sachsen-Anhalt gegen die krisenverschärfende Reduzierung der ABM-Stellen wendet.
Er weiß, wovon er redet, viele von Ihnen offensichtlich nicht; denn in Sachsen-Anhalt entfallen auf 100 Arbeitslose insgesamt 41 ABM-Teilnehmer, also 41 %. Er spricht sich — wie seine Ministerkolleginnen und -kollegen — auch gegen die Absenkung von ABM-Zuschüssen aus.Ähnliches hat heute auch der IG-Metall-Gewerkschaftstag beschlossen, der fordert, daß wir diese Novelle zurücknehmen, daß sie nicht wirksam wird. Die IG Metall bekräftigt nachdrücklich ihre Position, keine Tarifverträge für Arbeitnehmerbeschäftigungsmaßnahmen abzuschließen und keine Tarifklauseln vorzusehen, die schlechtere Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zur Folge haben.Diejenigen aus Ihren Reihen, die sich noch ernsthaft mit den Problemen und Sorgen der Menschen beschäftigen, wissen, daß ganze Bereiche des Arbeitsmarktes wegbrechen werden. Bewährte Trägerstrukturen, Arbeitslosenprojekte, Weiterbildungseinrichtungen, Beratungsstellen, Selbsthilfeeinrichtungen wird es in großem Umfang, wenn diese Novelle wirklich so greifen sollte, nicht mehr geben.Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wir sind schon gespannt auf die namentliche Abstimmung zu unserem Antrag; denn wir haben formuliert, was für die Arbeitnehmer im Osten insbesondere notwendig ist: verstärkte Hilfen für arbeitsmarktpolitische Zielgruppen, keine Kürzungen bei der individuellen Förderung und Umschulung, ein Arbeitsmarktbeitrag für Beamte, Selbständige, Freiberufler und natürlich auch Abgeordnete; das ist ganz klar.
Die von uns erarbeiteten Finanzierungsvorschläge sind überzeugend, und sie sind eigentlich auch bitter notwendig. Das gilt für den Arbeitsmarktbeitrag, und das gilt auch für das Umlageverfahren. Da will ich noch einmal auf Herrn Laumann und Herrn Warrikoff eingehen. Es ist schon erstaunlich, wenn Sie diesen Antrag gelesen haben, daß Sie ihn immer noch nicht begriffen haben. Er geht aus von einem Fonds, der von den Arbeitgebern gespeist wird. Derjenige, der einen Fonds speist, in ihn einzahlt, wird wohl auch darauf achten, daß er nicht übermäßig zur Kasse gebeten wird, wenn es um die Finanzierung der entsprechenden Bereiche geht.Meine Damen und Herren von der Koalition, diese Novelle stranguliert die aktive Arbeitsmarktpolitik. Wir haben gegenwärtig ein Verhältnis von 40 % der Ausgaben der Bundesanstalt für aktive Maßnahmen und von 60 % für passive Maßnahmen. Der Präsident der Bundesanstalt hat uns in der Anhörung versichert, daß sich dieses Verhältnis weiterhin verschlechtern wird, wenn diese Novelle greift. Ich glaube, das ist ein deutliches Argument dafür, daß es bitter nötig ist, im Osten künftig eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben.Diese 10. Novelle reicht bei weitem nicht aus. Sie demontiert dort, wo eigentlich aufgebaut werden soll. Sie darf so nicht verabschiedet werden.Vielen Dank.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mein Hinweis darauf, daß die namentliche Abstimmung erst nach 15 Uhr erfolgen soll, hatte auch den Sinn, denjenigen Kollegen, die noch wichtige Gespräche miteinander zu führen haben, die Möglichkeit zu eröffnen, dies außerhalb des Saales zu tun.
Das Wort hat die Kollegin Anke Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Dr. Babel, ich möchte mich in der Tat mit Ihnen darüber unterhalten, daß das Arbeitsförderungsgesetz kein klassisches Gesetz der Sozialpolitik ist, sondern daß es ein Gesetz ist, das mit wirtschaftspolitischen Instrumenten arbeitet. Ich hätte mir auch gewünscht, daß die Verzahnung von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik mehr im Vordergrund gestanden hätte. Heute war wieder isoliert das Arbeitsförderungsgesetz Gegenstand der Debatte. Meine Kolleginnen und Kollegen im Wirtschaftsausschuß hatten interessanterweise gar kein Interesse, in eine Einzeldebatte über dieses Gesetz einzutreten; sie sahen vielmehr nur das Geld, das benötigt wird. Ein Kollege aus dem Osten sagte sogar: Wir wollen da sparen, um Geld für Investitionszulagen zu bekommen. — Meine Bemerkung, wir bräuchten eine Verzahnung von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, ist bei den Wirtschaftspolitikern auf taube Ohren gestoßen. Meine Damen und Herren, ich finde das sehr bedauerlich.
Es ist doch klar: Die Arbeitslosigkeit kann mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht überwunden werden. Aber das AFG hat eine Brückenfunktion. Ich sage noch einmal: 100 000 Arbeitslose weniger oder mehr belasten oder entlasten öffentliche Haushalte um drei Milliarden DM. Das heißt: Es ist am teuersten, Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Es ist besser, den Menschen über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Beschäftigungsgesellschaften, Umschulung und Fortbildung Arbeit zu verschaffen, weil sie damit zugleich auch wieder Beitragszahler und Steuerzahler werden. Ich glaube, es ist auch Aufgabe dieser Debatte, diesen Gesamtzusammenhang zu verdeutlichen.
Nur, das ist oft nicht zu vermitteln, weil immer noch gesagt wird, das sei zu teuer, es koste zu viel Geld. Ich muß eines zu Herrn Blüm sagen: Wir haben jetzt zehn Jahre diesen Arbeitsminister, zehn Jahre Norbert Blüm als Arbeitsminister!
Ehrlicher geworden ist er nicht. Wenn Sie ehrlichwären, Herr Arbeitsminister, dann würden Sie sagen:Am liebsten würde ich ein anderes Arbeitsförderungs-
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Anke Fuchs
Besetz vorlegen, aber ich muß sparen, weil ich mich in der eigenen Regierung nicht habe durchsetzen können. Ich muß ein Defizit von 6 bis 9 Milliarden DM abbauen, und dann tue ich halt, was ich tun kann, auch wenn es ökonomisch sinnlos ist. Was interessieren mich die Folgen. Meine Aufgabe ist nur, ein Einsparvolumen zu erzielen. — Das ist Ihre Politik. So hätten Sie es ehrlicherweise begründen sollen, meine Damen und Herren.
Ich will mich aber gar nicht mit dem Arbeitsminister streiten, weil es da Zwänge gibt.
— Sie sagen, das hätte ich vergeblich versucht. Meine Kolleginnen und Kollegen sind da meistens ganz zufrieden.Ich möchte noch einmal auf den ökonomischen Ansatz zurückkommen. Die vorgelegte Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes ist auch in ökonomischer Hinsicht verfehlt, weil — ich wiederhole mich — neue Arbeitslosigkeit produziert wird, die dann wiederum über den Haushalt der Bundesanstalt finanziert werden muß. Die Folge wird doch sein, daß wieder mehr Menschen in die Hoffnungslosigkeit entlassen werden und daß, wie schon so häufig gesagt, vor allen Dingen die Schwächsten, nämlich die arbeitslosen Hauptschüler und insbesondere die Frauen, wieder diejenigen sind, die die Hauptlast dieser Einschränkungen zu tragen haben.
Ich will etwas zur Erwerbsarbeit von Frauen sagen. Einer der Kollegen sagte gestern im Wirtschaftsausschuß achselzuckend: Da kann man halt nichts tun. — Ist das denn unsere Perspektive? Ist es, wie Frau Schenk heute zu Recht vorgeworfen hat, bestätigt durch schriftliche Aussagen von Herrn Biedenkopf und dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke, Ihr Ziel, daß sich die Frauen im Osten dem Erwerbsverhalten der Frauen im Westen anpassen mit der Folge, daß dadurch die Erwerbslosigkeit von Frauen gelöst sei? Meine Damen und Herren, ich finde das unerträglich. Aber es ist das Ziel mit dieser 10. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes. Das muß man immer wieder sagen.
Die Bundesfrauenministerin sagt — ich zitiere wörtlich aus einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung" —: „Die Frauen sollten mehr als bisher um ihre Rechte kämpfen. " — Ja, das ist ganz in Ordnung. Sie sagt weiter, sie seien besonders vom wirtschaftlichen und strukturellen Umbruch betroffen. — Nun müssen Sie einmal zuhören. Sie sagte: „Die Frauen im Osten dürfen nicht glauben, sie würden ihre Rechte auf dem Silbertablett präsentiert bekommen. " — Ich halte dasfür zynisch, meine Damen und Herren. Was ist denn los mit Ihnen?
Was wollen die Frauen im Osten? Sie wollen einen Arbeitsplatz; sie wollen einen Kindergartenplatz; sie wollen in ihrem sozialem Umfeld zurechtkommen. Wenn das garantiert würde, wäre ihr Leben noch schwer genug. Davon, daß sie glauben, sie würden ihre Rechte auf dem Silbertablett präsentiert bekommen, kann überhaupt nicht die Rede sein. Ich finde es unverschämt, was den Frauen in den neuen Ländern unterstellt wird.
Frau Kollegin, ich darf Sie einen Moment unterbrechen. — Meine Damen und Herren — —
Herr Präsident, wer mir zuhören will, der hört mir auch zu. Ich komme schon dagegen an. Keine Sorge.
Meine Damen und Herren, ich bitte herzlich um Ruhe. Das ist nicht nur eine Frage der Kollegialität gegenüber der Rednerin, sondern es ist auch eine Frage des Eindrucks, den dieses Parlament nach außen macht. Auch Gespräche, die im Hintergrund geführt werden, stören hier vorn. Wenn Sie sich unterhalten wollen, dann verlassen Sie bitte den Saal.
Bitte fahren Sie fort.
Frau Ministerin Merkel, Sie haben in diesen Tagen mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit wiederum ein Programm zur Wiedereingliederung von Frauen in das Berufsleben nach der Familienphase vorgelegt. Ich frage Sie: Wie kriegen Sie das eigentlich hin? Heute wollen Sie einem Gesetz zustimmen, das wirksame Maßnahmen zugunsten von Frauen zurücknimmt. Wenn Sie glaubwürdig bleiben wollen, dann stimmen Sie der 10. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz nicht zu, sondern folgen unserem Vorschlag. Dann würden Sie einen Beitrag dazu leisten, daß Frauen Maßnahmen zur Wiedereingliederung auch wirklich in Anspruch nehmen können.
Ich fasse zusammen: Die Bundesregierung hat das Ziel, die Bundesanstalt für Arbeit ohne staatliche Zuschüsse auskommen zu lassen. Das ist auch das erklärte Ziel dieser Novelle. Deswegen hat mein Kollege Schreiner völlig recht, wenn er sagt: Damit löst sich diese Bundesregierung aus der Verantwortung für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und überläßt diese Verantwortung allein dem Beitragszahler. Das ist ungeheuerlich, meine Damen und Herren.
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Anke Fuchs
Sie tragen dazu bei, daß die Kosten der Finanzierung weiterhin von den Beitragszahlern aufgebracht werden. Sie alle wissen ja, daß nach der RWI-Untersuchung die Arbeiter 4 %, die Hauptlast der Kosten, tragen, und daß die Angestellten 3,5 % zahlen. Am wenigsten zahlen Selbständige, Landwirte und Beamte, die nur etwa 1,5 bis 2 % ihres monatlichen Einkommens aufwenden müssen. Damit werden, so sagt das RWI, Sozialversicherungspflichtige gleichsam einer Sondersteuer unterworfen. Das setzen Sie mit dem heute vorgelegten Gesetz fort. Entweder werden weiterhin die Beitragszahler belastet, oder Sie kürzen und streichen zu Lasten der Arbeitslosen und jener, die durch diese arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen eine Chance gehabt hätten.Aber es mehren sich ja die Zeichen, daß umgedacht wird. Man höre und staune: Der Herr Verteidigungsminister weist darauf hin, daß wir Strukturpolitik betreiben müssen. Er nennt Salzgitter und VW und meint zu Recht, es sei gesamtökonomisch sinnvoll, Betriebe im Eigentum der öffentlichen Hand zu belassen, wenn dies in einer Übergangsphase nötig sei. Es ist also an der Zeit, daß wir aufeinander zugehen, meine Damen und Herren, damit wir miteinander fragen: Wie können wir die Einheit ökonomisch, ökologisch und sozial gerecht gestalten? Dazu gehört aber nicht nur, daß Sie sagen: Wir geben Fehler zu, sondern auch, daß Sie die Fehler beseitigen.
Dazu gehört auch, daß Sie bei der Finanzierung der deutschen Einheit jetzt endlich die Gerechtigkeitslücke, von der Herr Rühe zu Recht spricht, schließen, den Solidaritätsbeitrag wieder einführen und mit uns zusammen für eine Arbeitsmarktabgabe sorgen.
Der Solidarpakt, der jetzt wiederholt angemahnt ist, wird nicht zustande kommen, wenn der Bundeskanzler nicht Signale aussendet, auf welchem Feld der Politik er eigentlich eine Änderung herbeiführen will. Der Solidarpakt wird nicht gelingen, wenn Sie sich weiter weigern, eine sozial gerechte Finanzierung der deutschen Einheit vorzulegen. Der Solidarpakt wird nicht gelingen, wenn Sie erst einmal die Gewerkschaften vorführen, ihnen Öffnungsklauseln bei Tarifverträgen zumuten und sie dann noch bitten, an den Tisch zu kommen. Das werden sie nicht mitmachen. Sie haben recht, wenn sie sich verweigern.Ich denke, daß in dieser Situation — ich komme auf Frau Dr. Babel zurück —, in der wir Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Sozialpolitik so miteinander verzahnen müssen, daß Arbeitsplätze geschaffen und nicht abgebaut werden, daß wir die Einheit sozial gerecht finanzieren, ein Klima entstehen kann, das sozialen Konsens ermöglicht und gute Gespräche für die Menschen in unserem Lande möglich macht. Wenn Sie aber heute der Zehnten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz zustimmen, sagen Sie damitzugleich, daß Sie nicht guten Willens sind, meine Damen und Herren.
Zu einer Erklärung zur Abstimmung Herr Kollege Engelmann, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erklärung der Landesgruppe der CDU Sachsen:
Die Landesgruppe Sachsen
im Bundestag wird mehrheitlich der Beschlußvorlage des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung zur AFG-Novelle zustimmen, da auf die Sonderregelungen für die neuen Bundesländer nicht verzichtet werden kann, die ansonsten zum 1. Januar 1993 auslaufen würden.
Die vorgesehene Kürzung der ABM-Stellen soll durch die Projekte Umwelt Ost kompensiert werden. Wir erwarten jedoch von der Bundesregierung und den Ländern, die finanzielle Absicherung dieses Umweltprogramms zu garantieren. Die soziale Absicherung der in ABM beschäftigten Bürger ist zu gewährleisten.
Noch eine persönliche Erklärung: Für das zum 31. Dezember 1992 auslaufende Altersübergangsgeld ist den älteren Arbeitnehmern eine Alternativlösung anzubieten.
Danke.
Meine Damen und Herren, die Landesgruppe der Thüringer in der CDU/ CSU-Fraktion hat eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten zu Protokoll gegeben. *)
— Je größer der Lärm, desto mehr verzögert sich die Abstimmung.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen, Drucksachen 12/3211, 12/3327, 12/3363 und 12/3423. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3468 vor. Wer für diesen Änderungsantrag stimmt, den bitte*) Anlage 4
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9634 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Vizepräsident Hans Kleinich um ein Handzeichen! — Gegenprobe! — Enthaltungen? —
Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der vom Berichterstatter vorgetragenen Korrektur zustimmen wollen, um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Zahl der zustimmenden Kollegen war eindeutig die Mehrheit. Der Gesetzentwurf ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3430. Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. —Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Ist auch der Kollege, der mit dem Fahrrad hierher unterwegs war, inzwischen eingetroffen? — Sind alle Stimmen abgegeben? — Dann schließe ich die Abstimmung.Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben *).Wir setzen die Beratungen fort. Wir stimmen zunächst über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/3429 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen zum Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3466. Die Gruppe PDS/Linke Liste hat beantragt, den Entschließungsantrag zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Frauen und Jugend zu überweisen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt hingegen sofortige Abstimmung.Nach ständiger Übung geht eine Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor. Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.Wir stimmen damit gleich in der Sache ab. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes,*) Seite 9642ADrucksache 12/3008. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/3423, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einer zukunftsorientierten Arbeitsmarktpolitik. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2666 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Unter Buchstabe c seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 und den Zusatzpunkt 4 auf:6. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDHumanitäre Soforthilfe für die Menschen in Bosnien-Herzegowina gegen die Gefahren des kommenden Winters— Drucksachen 12/3355, 12/3426 —Berichterstattung:Abgeordnete Friedrich Vogel Dr. Eberhard BrechtDr. Helmut Haussmannb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDVoraussetzungen der Anerkennung der neuen Bundesrepublik Jugoslawien und Initiativen zur Wiederherstellung des Friedens in Bosnien-Herzegowina— Drucksachen 12/2546, 12/3427 —Berichterstattung:Abgeordnete Friedrich Vogel Dr. Eberhard BrechtDr. Helmut Haussmannc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDBürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina— Drucksachen 12/2939, 12/3437 —Berichterstattung:Abgeordnete Meinrad Belle Dr. Burkhard HirschHans-Joachim Welt
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9635
Vizepräsident Hans Kleind) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDMenschenrechtsverletzungen in Serbien und Kroatien— Drucksachen 12/2290, 12/3390 —Berichterstattung:Abgeordnete Friedrich Vogel Dr. Eberhard BrechtUlrich IrmerZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Andrea Lederer, Dr. Hans Modrow und der Gruppe der PDS/Linke Liste Zur Jugoslawienpolitik der Bundesregierung— Drucksache 12/3431 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger AusschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es darüber Einverständnis? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Freimut Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hilfe für Bosnien angesichts des kommenden Winters — darauf bezieht sich einer der Anträge, die wir heute zu behandeln haben. Hilfe, das ist ein Thema, das mich und wahrscheinlich uns alle seit Monaten umtreibt.
— Aber anscheinend gelingt es nicht einmal den wenigen, die hier im Saal sind, der Debatte zuzuhören.
Der Überfallene schreit das Wort „Hilfe", der dem Mörder Ausgelieferte ruft dieses uralte Wort „Hilfe". Hilfe für Bosnien — wir führen hier heute eine Debatte aus verzweifelter Hilflosigkeit.
Vielleicht hatten die Menschen in Bosnien nie eine Chance, aber sie hatten immer eine Hoffnung, daß sie im friedlichen Zusammenleben einen neuen demokratischen Staat errichten könnten.
In Kroatien hat die serbische Armee Hunderttausende obdachlos gemacht und Tausende von Kulturdenkmälern und Häusern vernichtet. In Bosnien ist diese Armee dabei, ein ganzes Volk zu vernichten. Was ist seine Schuld? Es hatte die Unabhängigkeit angestrebt. Was waren seine Mittel? Die internationale Anerkennung. Sein Fehler? Das Vertrauen in die internationale Hilfe. Seine Schwäche? Die äußerste Entschlossenheit und Grausamkeit dieser Armee und der serbischen Tschetniks unterschätzt zu haben. Seine falsche Erwartung? Daß in Europa niemals wieder die Armee eines Staates die ihm ehedem anvertrauten Bürgerinnen und Bürger umbringt, vertreibt, vergewaltigt, erpreßt, einsperrt, foltert und quält. Sein Irrtum? Ähnlich wie wir geglaubt zu haben, daß es Völkermord nach Auschwitz und Kambodscha nicht mehr geben könne. Es herrscht dort Verzweiflung darüber, daß Massenmord wieder einen Platz in
der europäischen Geschichte hat, daß Tieffliegereinsätze auf Zivilisten wieder möglich sind — nicht im März und April 1945, sondern jetzt, in den letzten Monaten Tag um Tag.
Vielleicht hatten die Menschen aus Bosnien nie eine Chance. Sie hatten aber die Hoffnung, daß es Europa noch gibt und daß Europa zu ihnen hält, so wie sie glaubten, zu Europa zu gehören. Vielleicht hatten sie geglaubt, daß es nach 1945 in Europa keine Konzentrationslager mehr gäbe. Vielleicht hatten sie geglaubt, daß Europa ein Kontinent des Humanismus geworden sei.
Jetzt sind sie am Ende: Mindestens anderthalb Millionen Menschen in Bosnien und jenseits seiner Grenzen sind auf der Flucht. Zwei Drittel des Landes sind bereits von der serbischen Armee oder von serbischen Terrorkommandos erobert worden. Die Toten sind nicht gezählt; über 50 000 in wenigen Monaten sind es gewiß. Die vergewaltigten Frauen sind nicht gezählt; es sind Tausende. Die ermordeten Kinder sind nicht gezählt. Die Zahl der bis ans Lebensende in ihrer Seele verbrannten Kinder, die die tödliche Qual ihrer Eltern haben mitansehen müssen, kennt keiner.
Herr Kollege Duve, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? — Wir diskutieren ein wirklich ganz besonderes ernstes Thema. Ich finde es einfach unangemessen, wenn hier Kolleginnen oder Kollegen sitzen oder stehen und dabei dem Redner den Rücken zukehren. Ich bitte also um Aufmerksamkeit für den Redner.
Recht vielen Dank, Herr Präsident.Die Bosnier sind jetzt am Ende: ohne Waffen — es gibt ja das Embargo —, ohne Nahrung — es gibt ja die serbische Bedrohung durch die Flak —, ohne Häuser, ohne Zukunft. Jetzt drohen sie mit der Explosion von Giftgas. Wer ein Volk vernichtet, treibt einige seiner Männer in den Wahnsinn.Immer wieder aber wird man aufgefordert, beide Seiten zu sehen: Die serbische Armee, deren Soldaten tagtäglich Tieffliegerangriffe fliegen, und die Bosnier, deren einzige Waffe oft die Plastikflasche für ein paar Liter Wasser gegen das Verdursten ist. Immer wieder wird man um Neutralität gebeten: in Bonn, in Paris, in London. Nein, ich bin in dieser Sache nicht neutral.
Diese Schuld haben Serben auf sich geladen, aber nicht alle. Wir kennen viele, sind vielen begegnet und haben mit vielen gesprochen, die sich schämen. Es geht nicht um das Verdikt gegen ein Volk. Die serbische Armee aber führt einen Todeskrieg gegen Wehrlose. Zu welchem Zweck? Landraub und Vertreibung.Wir helfen aus Hilfslosigkeit, weil wir wirksame Hilfe, die den Krieg stoppt, nicht leisten können. Vielleicht haben die Militärs recht, die sagen: Eingreifen würde alles nur verschlimmern. Die Hilflosigkeit,
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Freimut Duveunsere Europa-Hilflosigkeit, aber bleibt. Nein, ich bin nicht neutral, ich kann nicht neutral sein. Wenn eine Armee ein Volk vertreibt und vernichtet, darf niemand neutral sein.
Wer während der Ermordnung zwischen Täter und Opfer neutrale Balance verlangt, macht sich zum Mitmörder.
Ich sage das an die Adresse der PDS: Ich finde Ihren Antrag abscheulich.
Es ist ein Antrag, der ohne jede Humanität ausschließlich davon spricht, daß man nicht einseitig die serbische Armee verurteilen soll. Sie verurteilen die Bundesrepublik Deutschland und die Bundesregierung, als seien sie an dem, was eine Armee dort macht, mitschuldig. Es ist nicht meine Regierung; dieser Antrag aber ist unglaublich.
Wir wollen, daß die Bundesregierung mit Hilfe des UNHCR 20 Millionen DM für die Hilfe im Winter ausschließlich für Bosnien und für die dort obdachlos gewordenen Flüchtlinge zur Verfügung stellt. Ursprünglich sah unser Antrag nicht vor, daß Hilfe für die Menschen „insbesondere" in Bosnien-Herzegowina gefordert wird. Die Bundesregierung und die F.D.P. haben darum gebeten, so zu formulieren.Ich sage hier vor der deutschen Öffentlichkeit und gebe zu Protokoll des Bundestages: Wenn das deutsche Parlament Hilfe für Bosnien leisten will, dann muß dies auch Hilfe für Bosnien sein.
Kroatien erhält bereits 50 Millionen DM. Wir fordern die kroatischen Behörden auf, mit dafür zu sorgen, daß die notwendigen Bauten jetzt rasch errichtet werden können; gerade in den Gemeinden gibt es in dieser Hinsicht Schwierigkeiten.Wir bitten auch die deutsche Botschaft in Zagreb, deren Mitarbeiter in diesen Monaten ganz Außerordentliches leisten mußten, ihre Arbeit so zu verrichtenich habe mich heute morgen noch einmal darüber informiert, ob das auch geschieht —, daß die bosnischen Flüchtlinge in Kroatien nicht das Gefühl haben müssen, dort Menschen zweiter Klasse zu sein.
Dies ist leider in der Begegnung mit kroatischen Behörden zu konstatieren. Ich denke, wir sollten den Einfluß, den wir auf die kroatische Regierung haben, nutzen. Wir sollten zum Ausdruck bringen! Man kann nicht einerseits einen deutschen Außenminister so loben wie man es getan hat, und dann andererseits nicht zuhören, wenn wir beim Verhalten etwasanmahnen: In Kroatien wird zur Zeit offiziell ein Unterschied zwischen kroatischen Vertriebenen und bosnischen Flüchtlingen gemacht. Es gibt zwei Begriffe für Menschen, die aus der gleichen Gegend kommen. Dies können wir nicht akzeptieren.Ich weiß, daß verzweifelte Menschen in ihrer Verzweiflung besonders empfindlich sind. Ich weiß auch, daß viele Kroaten trotz großer eigener Probleme in den letzten Monaten enorm geholfen haben. Jetzt darf diese Solidarität aber nicht zerrieben werden. Ich spreche auch von den Hilfsgütern, die über Zagreb gehen. Wir erwarten, daß 100 % dieser Hilfsgüter und Medikamente, die dort ankommen, auch in bosnische Hände gelangen.
Auch die Hilfsgüter, die aus Saudi-Arabien und anderen Ländern dorthin kommen, sollen zu 100 % verteilt werden. Es darf keine „Abgabengebühr" an einer Zwischenstation geben.Ich fordere die Bundesregierung auf, die Visumspflicht für Bürgerkriegsflüchtlinge endlich aufzuheben. Ich habe heute morgen gehört, daß die Zahl derjenigen die das Visum bekommen, sehr hoch ist; das ist zu begrüßen. Ich glaube aber, daß es angesichts des hier Geschilderten nötig wäre, diese Visumspflicht — dazu gibt es auch einen Antrag von uns — aufzuheben. Gerade sie führt nämlich zu einer sehr unterschiedlichen Behandlung in Zagreb.Wir wollen konkrete Hilfe leisten. Wir wollen das im Benehmen mit anderen europäischen Staaten und im Rahmen des UNHCR in Genf tun: Hilfe für die Winterbefestigung der Unterkünfte, Hilfe für weitere Nahrungsmittel, Hilfe durch Medikamente. Man könnte verzweifelt sagen: Dies ist nur ein Tropfen im bitterkalten Winter. Humanitäre Hilfe aber hilft vielleicht einem Teil der Menschen, zu überleben.Um dieser Menschen willen müssen wir dem Selbstmordkommando, das vorgestern mit dem Giftgaseinsatz gedroht hat, zurufen: Gebt euren Bedrohern und Vernichtern nicht noch die Chance, die Grausamkeitspropaganda erneut gegen die verzweifelten Opfer zu wenden.
Diese Propaganda mit den Greueltaten der anderen Seite hat diesen Krieg von Anfang begleitet. Sie ist auch deshalb so unerträglich, weil es immer schwerer wird, zwischen verantwortlichen Tätern und Angehörigen des serbischen Volkes zu unterscheiden, was bitter notwendig ist; denn die Serben sind unsere Mitbürger in Europa. Die serbischen Kritiker schauen gelähmt zu, was in ihrem Namen geschieht. Wir haben Kontakt zur verzweifelten serbischen Opposition in Belgrad und wollen diesen Kontakt auch weiter pflegen.
— Sie ist leider zu schwach; ich gebe Ihnen recht, Herr Kollege.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9637
Freimut DuveIch bin jetzt über meine Redezeit. Ich danke dafür, daß Sie mir dann doch bei diesem für uns alle so bitteren Thema zugehört haben.
Herr Kollege Vogel, Sie haben das Wort,
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Uns erreichen täglich Bilder aus den Bürgerkriegsgebieten von Sarajevo und aus anderen Teilen Bosniens, die uns nicht ungerührt lassen können und die ganze Debatte, die wir hier zu führen haben, auch ungeheuer schwer belasten. Aber auch die Nachrichten, die wir aus anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien hören, lassen uns nicht ungerührt. Ich denke an Kosovo. Ich denke auch an die kleine Region Sandzak und an die Woiwodina. Was mir am meisten zu schaffen macht — und ich denke, es geht Ihnen auch so —, das ist das Gefühl der Ohnmacht angesichts von Massakern, Gemetzel, Massenflucht unmittelbar vor unserer Haustür hier mitten in Europa. Hier stehen wir schon vor der Gefahr, daß wir angesichts der Ohnmacht resignieren, die wir empfinden.
Wir könnten jetzt lange darüber reden, welche Fehler in der Vergangenheit gemacht worden sind, und können auch feststellen, daß vieles nicht ein Ruhmesblatt für Europa ist. Da gibt es manches, womit wir uns noch zu beschäftigen haben, um daraus zu lernen.
Ich kann mir aber nicht versagen, auch meinerseits ein Wort zu dem Antrag der PDS/Linke Liste zu sagen. Ich kann das nur als einen dreisten Versuch ansehen, die Geschichte zu verfälschen, die tatsächlichen Verantwortlichkeiten zu verschleiern, als einen Versuch, die Schuld der kommunistischen Brüder in Serbien und Bosnien — und das ist ja an Namen wie Milošević und Karadziz festzumachen — zu vernebeln. Meine Damen und Herren, das, was wir dort erlebt haben und erleben, ist ja eine unselige Verschwisterung von Panzerkommunismus und ungehemmtem Chauvinismus.
— Ja, Herr Kollege Reddemann, Sie sprechen das richtig an. Und das, was die häßlichste Eskalation in diesem Konflikt ist, das ist das, was in den beiden Wörtern zusammengefaßt ist: „ethnische Säuberung".
Dann erleben wir in dem Antrag der PDS/Linke Liste, ich möchte sagen, unverschämte Unterstellungen hinsichtlich der Ziele deutscher Politik. Ich will es Ihnen nicht ersparen, das noch einmal anzuhören: Es gehe — so heißt es dort — in erster Linie darum, in der Politik der Bundesregierung alle Begrenzungen für einen weltweiten Einsatz der Bundeswehr möglichst abzustreifen; es gehe um den künftigen Zugriff auf Märkte und Rohstoffe.
Meine Damen und Herren, das Ganze ist nichts anderes als ein Pamphlet aus der Agitationsküche der SED.
Ich spreche Sie an, meine Kolleginnen und Kollegen von der PDS/Linke Liste. Sie können eben Ihre politische Herkunft doch nicht verleugnen.
Meine Damen und Herren, diesem Versuch, die Fakten zu verfälschen, müssen wir von vornherein entgegenwirken. Ich weiß aus meinen zahlreichen Besuchen und Gesprächen in allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien, aus Gesprächen mit fast allen führenden Politikern in den einzelnen Republiken: Die einzigen, die sich einer einvernehmlichen Klärung der sich aus der Auflösung des jugoslawischen Staates ergebenden Fragen verweigert haben, waren die Kommunisten, waren die Herren Milošević, Karadziz, die kommunistischen Generäle der ehemaligen jugoslawischen Volksarmee.
Ich möchte Ihnen vorschlagen, dem Antrag der PDS/Linke Liste nicht die Ehre anzutun, ihn erst an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen, sondern ich schlage vor, daß wir diesen Antrag hier gleich zur Abstimmung stellen und ihn ablehnen.
Herr Kollege Vogel, Sie beantragen das?
Ich beantrage das.
Meine Damen und Herren, aber jetzt der Blick nach vorne! Was wir zunächst tun müssen, ist, die Bemühungen der UNO zu unterstützen, die militärischen Auseinandersetzungen zu deeskalieren. Das bedeutet eine konsequente Fortsetzung der mit dem Beschluß des Sicherheitsrates vom 8. Oktober 1992 begonnenen Maßnahmen; dort ist das Flugverbot über Bosnien-Herzegowina erfolgt. In Ziffer 6 des Beschlusses heißt es:In the case of violation to consider urgently the further measures necessary to enforce this ban.Darauf warten wir jetzt.Das zweite ist der Beschlußvorschlag des Auswärtigen Ausschusses zum SPD-Antrag vom 6. 5. zu der aus Serbien und Montenegro gebildeten Bundesrepublik Jugoslawien. Hierzu möchte ich Ihnen, und zwar im Anschluß an das, was auch der Kollege Duve gesagt hat, nämlich daß wir nicht Serben gleich Serben setzen dürfen, doch das zitieren, was Ministerpräsident Milan Panić vorgestern in einem WDR-Interview gesagt hat. Dort heißt es wörtlich:Wir waren schwarze Schafe, wir waren Leute mit Teufelshörnern. Das hat sich geändert, sogar in Deutschland. Das Konzept der Kontinuität Jugoslawiens, d. h. daß das jetzige Jugoslawien automatisch die Nachfolge des zerfallenen Jugoslawien angetreten hat, war ein sehr großer politi-
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Friedrich Vogel
scher und diplomatischer Fehler der Belgrader Regierung.Recht hat der Mann! Ich glaube, daß er zu den Kräften gehört, deren Politik unsere Unterstützung gegenüber Serbien doch weitgehend verdient.Ich sehe jetzt leider den Kollegen Voigt nicht; aber ich möchte jedenfalls dem Kollegen Voigt sagen, daß ich ihm zustimme, wenn er sagt — —
— Ah, da ist er. Ich möchte dem zustimmen, was Sie in einem Interview gesagt haben, daß sich auf dem Gebiet von Kosovo — und ich möchte Sanschak ausdrücklich noch einmal hinzufügen — und auch um Mazedonien Schlimmes zusammenbraut. Mazedonien muß anerkannt werden, wenn wir eine Chance haben wollen, Mazedonien vor diesem Schlimmen zu bewahren.
Ich muß sagen, ich habe kein Verständnis mehr dafür, daß durch Griechenland die Anerkennung durch die EG-Mitgliedstaaten blockiert wird, obwohl alle Voraussetzungen für die Anerkennung durch die EG erfüllt sind.
Die Politik der EG und vieler Mitgliedstaaten der EG hat in der Vergangenheit häufig genug unter dem Vorzeichen „zu spät" gestanden. Ich meine, mit dieser Politik des „zu spät" sollte Schluß sein.Was jetzt im Vordergrund steht, ist humanitäre Hilfe für die Menschen in Bosnien-Herzegowina. Hierzu haben wir den Antrag aller Fraktionen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vorliegen. Ich möchte hinzufügen, daß wir erwarten, daß noch in diesem Jahr die Mittel zur Verfügung gestellt werden. Ich möchte insbesondere an die Kollegen im Haushaltsausschuß appellieren, uns dabei zu helfen, daß diese Mittel zur Verfügung gestellt werden können.
Im übrigen ist dieser Beschlußvorschlag des Auswärtigen Ausschusses ein gutes Beispiel dafür, wie wir in einer akuten Situation in einem sehr abgekürzten Verfahren sehr schnell zu einer Beratung und Beschlußfassung hier im Bundestag kommen können. Wir haben heute andere Anträge vorliegen, die einen langen zeitlichen Vorlauf hinter sich haben. Hier ist es schnell gegangen. Ich meine, dies sollten wir zur Nachahmung empfehlen, insbesondere auch an das Präsidium, wenn ich das mit allem Respekt sagen darf, und an den Ältestenrat dieses Hauses. Wir müssen in der Lage sein, dann, wenn etwas sehr plötzlich auf uns zukommt, hier im Plenum sehr schnell zu einer Beratung und Beschlußfassung zu kommen.
Mit diesem Antrag setzen wir, wie ich meine, eine wirklich vorbildliche Politik der humanitären Hilfeleistung durch die Bundesrepublik Deutschland fort. Das Auswärtige Amt hat uns am 21. September 1992einen Überblick über diese Leistungen vorgelegt. Ich empfehle, daß Sie alle sich das einmal anschauen. Die Bundesrepublik Deutschland steht, was die humanitäre Hilfeleistung angeht, auch was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, weit, weit vor allen anderen Mitgliedern der sogenannten G 24. Ich meine, wir sollten es uns zur Ehre gereichen lassen, dies fortzusetzen. Dies sollte unsere Politik sein.Schließlich wird die Bundesregierung aufgefordert, Berichte über Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien vorzulegen. Wir wissen, daß wir im Augenblick wenig Chancen haben, sie zu verhindern oder zu ahnden. Es ist aber möglich, sie zu dokumentieren. Deshalb begrüße ich es, daß der frühere polnische Ministerpräsident Mazowiecki von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen als Sonderberichterstatter dorthin geschickt worden ist. Er hat einen ersten Bericht vorgelegt. Er wird in nächster Zeit wieder in die Krisengebiete fahren.Ich begrüße auch, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen ersten Schritt in eine Richtung getan hat, von der ich nur hoffe, daß dies ein Anfang ist und wir dazu kommen, daß Menschenrechtsverletzungen, wenn sie schon nicht sofort geahndet werden können, zumindest dokumentiert werden, um diese Unterlagen für künftige Verfahren zur Verfügung zu haben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Dr. Jürgen Schmieder, ich erteile Ihnen das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es außerordentlich, daß sich das Hohe Haus heute mit diesem überaus wichtigen Thema der humanitären Hilfe für Bosnien-Herzegowina befaßt. Dieser Bereich berührt mich ganz besonders, da ich mich — wie Sie vielleicht wissen — aktiv an den humanitären Hilfsaktionen beteilige.Seit dem Sommer dieses Jahres bemühe ich mich immer wieder um verstärkte Hilfe für die unschuldigen Opfer in dieser von unvergleichbarer Grausamkeit gezeichneten Kriegsregion in Europa. Während im Sommer „nur" Kriegsverletzungen, Hunger und Folter die hauptsächlichen Todesursachen waren dies allein hat bis jetzt über 100 000 Todesopfer gefordert —, kommt nun ein weiterer schrecklicher Gegner hinzu: Der Winter steht vor der Tür und wird, wie die Zahlen des UNHCR belegen, eine Vielzahl von Menschenleben fordern. Allen voran trifft es die Schwächsten der Schwachen: die Säuglinge und Kinder.Wenn wir uns an dem Hunger- und Kältetod nicht mitschuldig machen wollen, müssen wir sofort handeln. Hier ist der Antrag der SPD zur humanitären Soforthilfe zu begrüßen. Allerdings sollten wir auch
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Dr. Jürgen Schmiederdie notleidende Zivilbevölkerung Restjugoslawiens nicht vergessen.In diesem Zusammenhang möchte ich ein großes Lob an die deutschen Hilfsorganisationen aussprechen. Mit bewundernswertem persönlichen und fast ausschließlich ehrenamtlichen Einsatz sind sie bis in die Kampfzonen hinein tätig.
Durch sie wird auch die korrekte Auslieferung der Hilfsgüter gewährleistet.In den nächsten Tagen fliege ich nach Kroatien und werde — neben politischen Gesprächen — versuchen, mir persönlich ein Bild von den Gefahren des Winters für die Flüchtlinge zu machen und die Arbeit der Hilfsorganisationen vor Ort kennenzulernen. Kroatien ist seit langem kaum noch in der Lage, die Flüchtlinge unterzubringen, geschweige denn zu ernähren. Ohne Unterstützung ist das Land gezwungen, seine Grenzen zu schließen. Die internationale Staatengemeinschaft, zu der auch Deutschland gehört, muß dies unbedingt durch Bereitstellen der erforderlichen Mittel verhindern.Gleichzeitig richte ich aus ostdeutscher Sicht einen Appell an die Hilfsorganisationen, daß sie die Firmen in den neuen Bundesländern stärker in die Planung der humanitären Hilfe einbeziehen. Bisher werden sie nicht oder zuwenig berücksichtigt, obwohl sie durchaus in der Lage sind, ihre Produkte preisgünstiger zur Verfügung zu stellen. Hier könnten die Hilfsorganisationen das bestehende Angebot besser ausnutzen.Daß es mir als Einzelperson gelungen ist, innerhalb kurzer Zeit über 180 000 DM an Hilfe zu organisieren, zeigt das große Potential, das man im Bereich der humanitären Hilfe noch ausschöpfen könnte. In diesem Zusammenhang warte ich immer noch auf eine Antwort unserer verehrten Bundestagspräsidentin auf meine Anregung einer Spendenaktion im Deutschen Bundestag. In diesem Zusammenhang möchte ich auch eine bemerkenswerte, von der F.D.P. initiierte Aktion des Landtags Sachsen begrüßen.Ich mahne jedoch, sich nicht nur auf humanitäre Hilfsaktionen zu beschränken. Es muß mit Hochdruck weiter an politischen Lösungen gearbeitet werden. Es nutzt nach wie vor nicht, Menschen auf Dauer vor dem Verhungern zu bewahren, ohne den Krieg zu beenden. Wir haben uns dem Mittel der Waffengewalt versagt, um gegen das Töten und die „ethnischen Säuberungen" vorzugehen; jetzt müssen wir als Teil der Weltgemeinschaft alle verfügbaren politischen Mittel einsetzen, um für einen dauerhaften Frieden in Europa zu sorgen.Lassen Sie uns die Solidarität der islamischen und christlichen Staaten nutzen, die gemeinsam mit friedlichen Mitteln arbeiten, die die Genozidversuche verurteilen und die Täter aus der Gemeinschaft friedliebender Staaten ausschließen!Auch muß für die Einheit der europäischen Staaten in bezug auf Flüchtlingshilfe, auf politisches und humanitäres Vorgehen gesorgt werden. Gerade England und Frankreich nehmen hier eine etwas undurchsichtige Rolle ein.Deutschland genießt bei der Mehrzahl der Staaten auf dem Balkan hohes Ansehen. Wir müssen uns der Verantwortung, die dieses Ansehen Deutschlands in den jungen Staaten mit sich bringt, bewußt werden. Diese Verantwortung zwingt uns geradezu, auch weiterhin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln an dem Friedensprozeß im ehemaligen Jugoslawien zu arbeiten und die humanitäre Hilfe zu fördern.Doch vergessen wir nicht: Hilfe vor Ort geht vor Evakuierung. Selbstverständlich müssen wir weiterhin im Rahmen einer gesamteuropäischen Kontingentregelung bereit sein, Flüchtlinge aufzunehmen, doch sollten sich unsere Kräfte verstärkt auf die direkte Hilfe in der Krisenregion konzentrieren.Hierbei gibt es viel Positives zu konstatieren. Deutschland erbringt mit 84,8 Millionen DM den weitaus größten Posten im Rahmen des EG-Hilfspaketes. Darüber hinaus wird für die direkte Hilfe von deutscher Seite eine Summe von 202,1 Millionen DM ausgegeben, davon für den Bau von Flüchtlingsdörfern rund 50 Millionen DM, für die Luftbrücke inzwischen 5,6 Millionen DM und für die laufende humanitäre Hilfe rund 48 Millionen DM.Schwerpunkte unserer Hilfe sind die Flüchtlinge in Kroatien und die notleidende Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina und daneben auch die Hilfe für Flüchtlinge in Ungarn, Serbien und Slowenien. Es sind auch über 300 000 Serben auf der Flucht. Sie bedürfen gleichfalls unserer Unterstützung.
Für das bisher Geleistete gilt mein Dank den deutschen und internationalen Hilfsorganisationen und ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern sowie der deutschen Regierung. Die Anstrengungen müssen dennoch verstärkt werden, um die Not zu lindern. Aber allem voran müssen Aktivitäten zur Beendigung dieses scheußlichen und hinterhältigen Krieges stehen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hans Modrow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das furchtbare Blutvergießen im ehemaligen Jugoslawien hält an. Not und Elend der Menschen steigen ins Unermeßliche. Herr Duve, ich stimme allem zu, was Sie dazu sehr emotional und auch für mich bewegend gesagt haben.Es bleibt, daß die Gefahr im ehemaligen Jugoslawien noch größer wird als das, was wir gegenwärtig erleben. Der Bürgerkrieg kann im Kosovo genauso ausbrechen, wie sich die Probleme in Mazedonien weiter ausweiten können. Daher unterstützt die PDS/ Linke Liste all das, was hier für eine schnelle humanitäre Hilfe für die Menschen in Bosnien-Herzegowina vorgeschlagen wird. Die Bundesregierung muß diesem Gebot der Menschlichkeit folgen; und das um so mehr — das sage ich hier in voller Verantwortung —, als sie mit einer vorschnellen Anerkennung zweier Republiken zunächst eine einseitige Partei-
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Dr. Hans Modrownahme vorgenommen und sich nicht neutral verhalten hat, wie Sie, Herr Duve, mit Recht fordern und Ihre Parteilichkeit hier zum Ausdruck bringen. Und darin liegt Mitverantwortung, die heute auch außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik weiter diskutiert wird.Es geht, Herr Vogel, wie Sie sagen, um die kommunistischen Brüder, und Sie werfen der PDS dabei Agitation im alten Sinne vor. Prüfen Sie selber Ihre Rede, und klopfen Sie sie ab nach den alten antikommunistischen Bildern!
Dann werden Sie feststellen, daß Sie dort genauso in ähnlicher Position und Denkweise leben. Wir sollten uns gemeinsam bemühen, uns davon zu trennen;
denn es wird nicht möglich sein das wurde ja hier mit aller Deutlichkeit sichtbar —, von „den Serben" und über „die Serben" zu sprechen, weil es weder „die Serben" noch „die Kroaten" noch „die Slowenen" gibt. In jeder dieser Republiken ist ein Differenzierungsprozeß nicht zu übersehen.Hier, glaube ich, beginnt das Problem. Die Rechte und die Pflichten zum Schutz nationaler Minderheiten zu vertreten steht außer Zweifel. Das gilt für die albanische Bevölkerung im Kosovo genauso im Rahmen dieser Republik Jugoslawien und Montenegro, wie es aber auch darum geht, dies für Kroaten in Bosnien-Herzegowina, für Serben in Kroatien und in Bosnien ebenfalls zu fordern.In diesem Sinne ist also die Einhaltung des Schutzes nationaler Minderheiten zu einem Kriterium für Anerkennung zu machen, doch dann wolle man sich auch wirklich an Konsequenzen halten! Eine Politik mit zweierlei Maß widerspricht den Prinzipien der souveränen Gleichheit der Staaten, und warum sind nun jene beiden Republiken, die sich als Bund verstehen wollen, nicht im Prozeß der Anerkennung?
Es wurde mit Recht darauf verwiesen, daß an der Spitze gerade dieser Republik als Ministerpräsident gewiß niemand steht, dem man nachsagen könnte, daß er nun ein Kommunist sei; denn Herr Panić ist ja nun nicht als ein von den USA vorgeschickter Kommunist dort hingegangen, sondern der Prozeß, der dort abläuft, hat eine wesentlich größere Differenziertheit in sich.
— Aber ohne Herrn Panić ist dieses Jugoslawien dann auch nicht anzuerkennen, denn er ist der Ministerpräsident dieser Republik.
— Da haben wir ja die Differenziertheit der Probleme, und sowie wir sie einseitig sehen, werden wir am Ende immer nur das getrennte Bild zueinander haben.Es ist daher notwendig, daß man, glaube ich, eben die ganze Komplexität dieser Dinge angehen muß.Und wenn sie sich an der Begründung unseres Antrages — das ist klar reiben und stören, sollten Sie zugleich aber auch die vorgeschlagenen Maßnahmen und Schritte nicht übersehen, mit denen wir die Komplexität der anstehenden Probleme vor allem anmahnen und sichtbar machen wollen.Es steht doch überhaupt das Problem an und damit auch die neue Gefahr, die andere Dimensionen setzt, wenn man darauf abzielt, Kosovo in Albanien einzubeziehen. Damit wird zugleich ein Gegensatz zur Unantastbarkeit der Grenze, so wie sie in Helsinki festgelegt wurde, heraufbeschworen.Bei allen diesen Dingen halten wir es deshalb für notwendig, daß man sich neben den notwendigen humanitären Maßnahmen dem Problem Jugoslawien in sehr komplexer Weise zuwendet und sich keinesfalls darauf einläßt, wie es der NATO-Generalsekretär unlängst wieder erklärt hat, über kriegerische Mittel etwa den Frieden herbeiführen zu wollen. So wird der Friede weder in Jugoslawien noch anderenorts zu erreichen sein.
Zu einer Kurzintervention der Abgeordnete Gerhard Reddemann,
Danke, Herr Präsident.Die Erbengemeinschaft der SED, die PDS
— vielen Dank, Frau Kollegin, ich wußte gar nicht, daß Sie so einsichtsfähig sind —, hat uns in ihrem Antrag mitgeteilt, daß die Bundesregierung schwere Schuld auf sich geladen habe, weil sie vorzeitig die diplomatische Anerkennung der Republiken Kroatien und Slowenien vorgenommen habe.Ich möchte das Hohe Haus daran erinnern, daß zwei Monate vor dieser Anerkennung die Parlamentarische Versammlung des Europarates, also eine repräsentative Einrichtung von damals 26 frei gewählten europäischen Parlamenten, alle Regierungen der Mitgliedstaaten aufgefordert hat, diese Anerkennung vorzunehmen, so daß der Vorwurf, der von der PDS hier an die Bundesregierung gerichtet wurde, im Grunde genommen ein Vorwurf an alle demokratischen Staaten Europas gewesen ist, weil sich diese Staaten für das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausgesprochen haben.Der Herr Kollege Modrow - oder sollte ich bessersagen: „der Genosse Modrow" — hat sich eben bitter darüber beklagt, — —
— Er ist es doch, wir können doch nichts dagegen sagen.
— Verzeihung, Herr Kollege Voigt, — —
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Entschuldigung, das löst Irritationen bei anderen Kollegen aus.
Wir wollen uns da nicht aufregen! Der Kollege Voigt ist natürlich Genosse, was ich nicht bin,
deswegen muß das, was Sie gesagt haben, auf Sie wieder zurückfallen.
Aber lassen wir doch diese Geschichte! Es geht doch, glaube ich, um etwas Ernsthaftes. Es geht um die Frage, die Herr Modrow wieder vorgelegt hat, indem er die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Völker in einer negativen Weise behandelt hat. Ich meine, es sollte notwendig sein, daß wir als die frei gewählten Vertreter des deutschen Volkes diese Rückgriffe auf die stalinsche Nationalitätenpolitik zurückweisen und uns stattdessen für das Selbstbestimmungsrecht der Völker einsetzen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach längerer, vielleicht zu langer Zeit sprechen wir wieder über den mit unverminderter Grausamkeit in Bosnien-Herzegowina geführten Krieg. Diese Zeit war gekennzeichnet vom andauernden, oftmals hektischen Bemühen urn eine Beendigung der Kämpfe und zugleich von einer anhaltenden Hilflosigkeit angesichts dessen Scheiterns. In diese deprimierende Bewertung sind alle eingeschlossen: Regierungen, Parteien, Parlamente und auch die viel zu kleine Friedensbewegung.Gesprochen werden muß auch über eigene Fehler, über Versäumnisse, deren Vermeidung oder Behebung den Krieg vielleicht nicht beenden, so doch aber eindämmen und seine unmittelbaren Folgen lindern helfen könnte.Zu den Versäumnissen gehört z. B., daß wir im Bundestag erst heute über Bedingungen zur Anerkennung des aus Serbien und Montenegro bestehenden Jugoslawiens beschließen. Zwar hat sich die Bundesregierung gemäß einem Beschluß der EG-Außenministerkonferenz auch ohne förmliche Aufforderung des Bundestages in der Praxis bereits an diesen Bedingungen orientiert, dennoch ist es nicht nachvollziehbar, wieso ein diesbezüglicher Antrag sage und schreibe fünf Monate braucht, um ins Plenum zu kommen. Es hätte dem Bundestag gut angestanden, schon sehr viel früher deutlich zu erklären, daß eine Politik zu verurteilen ist und ihre Verfechter unter anderem auch mit völkerrechtlichen Konsequenzen zu rechnen haben, die den ethnisch einheitlichen Nationalstaat als ihr Ziel formuliert und die gewaltsame Vertreibung der Angehörigen anderer Nationalitäten als geeignetes Mittel dazu sieht.
Ein Staat wie die gegenwärtige BundesrepublikJugoslawien kann kein akzeptiertes Mitglied derVölkerfamilie sein. Wie schon in den Vereinten Nationen vollzogen, so muß dieser Staat auch aus der KSZEausgeschlossen werden. Mindestens könnte durch dieNichtanerkennung seitens der Mehrheit der KSZE-Staaten Druck ausgeübt werden.Über normale Beziehungen zwischen Staaten kann erst geredet werden, wenn auch Restjugoslawien die international vereinbarten Menschenrechtsnormen einzuhalten bereit ist. Wann dies der Fall sein wird, wird daran zu messen sein, wann den Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat und allen Minderheiten ein friedliches und gleichberechtigtes Leben möglich ist.
Es wird oft zu Recht gesagt, daß zwar Serben den Krieg entfacht haben, aber Kriegsverbrechen und Grausamkeiten an wehrlosen Zivilisten auf allen Seiten verübt werden. Solche Feststellungen dürfen jedoch nicht zur Relativierung der serbischen Verantwortlichkeit für den Völkermord in Bosnien-Herzegowina führen.
Wir müssen auch klar sagen, daß nicht das serbische Volk verurteilt wird, sondern die politisch und militärisch Verantwortlichen
und die entmenschten Banden. Jede Opposition gegen sie und ihren Krieg, vor allem die Friedensbewegung in allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien, muß unterstützt werden.
— Sie ist in diesem Fall sehr klein geworden. Auch ich bedauere das sehr, aber es ist nicht nur ihr ein Vorwurf zu machen.Jetzt müssen die Flüchtlinge aus Bosnien, die Opfer dieser Politik, gerettet werden. Sie müssen in unbeschränkter Zahl, nicht gebunden an Visazwänge oder schriftliche Einladung, aufgenommen werden, auch dann, wenn das zeitweise den Interessen der Aggressoren entspricht. Aber hier geht es zunächst und vorrangig um Menschenleben.Daß andere EG-Länder Flüchtlinge nicht in dem erforderlichen Maße aufnehmen, darf nicht als Argument für eigene Beschränkungen dienen. Allerdings ist die Aufforderung an Staaten wie Großbritannien und Frankreich, ihren Beitrag zu leisten, mehr als gerechtfertigt. Wenn wir unter Hinweis auf die deutsche Vergangenheit unsere besondere Verantwortung gerade im Fall des ehemaligen Jugoslawien feststellen, sollten das auch andere Staaten tun, zumal wenn auch sie am Zustandekommen sowie am Scheitern des jugoslawischen Staatsgebildes nicht unbeteiligt waren.
Es gibt dringenden Handlungsbedarf, z. B. im Fall jener 1 500 unglückseligen Menschen, die nach ihrer Freilassung aus einem serbischen Gefangenenlager in Bosnien nun von Kroatien wieder ins serbische Lager zurückgeschickt werden sollen, wenn sich kein Aufnahmestaat findet.
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9642 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Gerd PoppeWir unterstützen alle Formen humanitärer Hilfe hier in Deutschland, in den kroatischen Flüchtlingslagern und in Bosnien selbst. Allein, sie genügt nicht. Es geht um die Eindämmung des Krieges, um seine Austrocknung durch konsequente Durchsetzung des halbherzig verhängten und noch halbherziger praktizierten Embargos.
Es muß endlich dafür gesorgt werden, daß keine militärisch wichtigen Güter mehr über die Grenzen des ehemaligen Jugoslawien gebracht werden. Land-und Seegrenzen sollten unter UN-Aufsicht gesichert und kontrolliert werden. Verstöße gegen das Embargo müssen geahndet und Staaten, die es unterlaufen, ebenfalls mit Sanktionen belegt werden. Wem es wirklich um den Frieden geht, sollte sich schnell dafür einsetzen. Jeder Tag zählt.
Bevor ich der Frau Staatsministerin das Wort gebe, will ich das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, Drucksache 12/3430, bekanntgeben. Abgegebene Stimmen: 529, davon ungültig: keine. Mit Ja haben 199 gestimmt, mit Nein haben 327 gestimmt; drei Enthaltungen.Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 527ja: 198nein: 326enthalten: 3JaSPDAdler, BrigitteAndres, GerdAntretter, RobertBarbe, AngelikaBartsch, HolgerBecker , Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, RudolfDr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Brandt-Elsweier, AnniDr. Brecht, EberhardBüchler , HansDr. von Bülow, Andreas Büttner , Hans Burchardt, UrsulaBury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, PeterDr. Däubler-Gmelin, Herta Dr. Dobberthien, MarlieseDreßler, Rudolf Duve, FreimutEbert, EikeDr. Eckardt, PeterDr. Ehmke , Horst Eich, LudwigDr. Elmer, Konrad Erler, GernotEsters, HelmutEwen, CarlFerner, ElkeFischer , EvelinFischer , Lothar Formanski, NorbertFuchs , Anke Fuchs (Veil), Katrin Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Dr. Gautier, Fritz Gilges, KonradGleicke, IrisHabermann, Frank-Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel Hasenfratz, KlausDr. Hauchler, Ingomar Heistermann, Dieter Heyenn, Günther Hilsberg, Stephan Horn, ErwinHuonker, Gunter Jäger, RenateDr. Janzen, Ulrich Dr. Jens, UweJung , VolkerKastner, Susanne Kirschner, Klaus Klappert, MarianneDr. sc. Knaape, Hans-Hinrich Kolbe, ReginaKolbow, Walter Koltzsch, Rolf Kubatschka, Horst Dr. Kübler, Klaus Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigittevon Larcher, Detlev Leidinger, RobertDr. Leonhard-Schmid, Elke Lohmann , KlausDr. Lucyga, ChristineMaaß , DieterMarx, DorleMascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Meckel, MarkusMehl, UlrikeDr. Mertens , Franz-JosefDr. Meyer , Jürgen Mosdorf, SiegmarMüller , Michael Müller (Pleisweiler), Albrecht Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Müntefering, Franz Neumann (Bramsche), Volker Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, EdithDr. Niese, Rolf Niggemeier, Horst Odendahl, Doris Oostergetelo, Jan Opel, Manfred Ostertag, Adolf Dr. Otto, HelgaDr. Penner, WillfriedDr. Pfaff, Martin Poß, JoachimReimann, Manfred von Renesse, Margot Rennebach, Renate Reschke, OttoReuschenbach, Peter W.Rixe, GünterRoth, Wolfgang Schanz, Dieter Schily, OttoSchloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer ,HorstSchmidt , Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schmude, JürgenDr. Schöfberger, Rudolf Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela Schröter, Karl-HeinzSchütz, DietmarDr. Schuster, Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf Simm, ErikaSinger, JohannesDr. Skarpelis-Sperk, SigridDr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, WielandSteen, Antje-Marie Steiner, Heinz-AlfredStiegler, Ludwig Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Terborg, MargittaDr. Thalheim, Gerald Thierse, Wolfgang Tietjen, GüntherToetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried Verheugen, GünterDr. Vogel, Hans-JochenVoigt , Karsten D. Wallow, HansWalter , Ralf Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weiler, BarbaraWeis , Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Wernitz, AxelWester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, Inge Weyel, GudrunDr. Wieczorek, Norbert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, DieterWimmer ,HermannDr. de With, Hans Wittich, BertholdWohlleben, Verena Ingeborg Wolf, HannaZapf, UtaDr. Zöpel, ChristophPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Enkelmann, DagmarDr. Fuchs, RuthDr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, UllaDr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Dr. Schumann ,FritzDr. Seifert, IljaStachowa, AngelaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Schenk, ChristinaDr. Ullmann, Wolfgang Weiß , Konrad Wollenberger, VeraFraktionslosDr. Briefs, Ulrich Henn, BerndNeinCDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, WalterAugustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9643
Vizepräsident Hans KleinBargfrede, Heinz-GüntherDr. Bauer, WolfBaumeister, Brigitte Bayha, RichardBelle, MeinradDr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-DirkDr. Blank, Joseph-Theodor Blank, RenateBleser, PeterDr. Blüm, NorbertBöhm , Wilfried Dr. Böhmer, MariaBörnsen , Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang Brähmig, KlausBreuer, PaulBrudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler , Klaus Büttner (Schönebeck),HartmutBuwitt, Dankward Dehnel, Wolfgang Deß, AlbertDiemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, UdoEichhorn, MariaEngelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eylmann, HorstEymer, AnkeFalk, IlseDr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, JochenFischer , Dirk Erik Fischer (Unna), Leni Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, HerbertDr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-JoachimGanz , Johannes Geiger, MichaelaGeis, NorbertDr. Geißler, Heiner Gerster , Johannes Gibtner, HorstGlos, MichaelDr. Göhner, Reinhard Götz, PeterDr. Götzer, Wolfgang Gres, JoachimGrochtmann, Elisabeth Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-PeterDr. Grünewald, Joachim Günther , Horst Frhr. von Hammerstein,Carl-DetlevHarries, KlausHaschke , GottfriedHaschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, RainerHauser , Otto Hauser (Rednitzhembach), HansgeorgHedrich, Klaus-Jürgen Heise, ManfredDr. Hellwig, RenateDr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, ErnstHintze, PeterHörsken, Heinz-AdolfHörster, Joachim Dr. Hoffacker, Paul Hollerith, JosefDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, SiegfriedHüppe, HubertJäger, ClausJagoda, Bernhard Dr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, Dionys Dr. -Ing. Jork, Reiner Jung , Michael Junghanns, UlrichDr. Kahl, HaraldDr. -Ing. Kansy, Dietmar Kauder, VolkerKeller, PeterKiechle, IgnazKittelmann, PeterKlein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Köhler , VolkmarKors, Eva-MariaKoschyk, Hartmut Kossendey, Thomas Kraus, RudolfDr. Krause , Rudolf KarlKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, ArnulfKronberg, Heinz-Jürgen Dr. -Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Eberhard Lamers, KarlDr. Lammert, Norbert Lamp, Helmut Johannes Lattmann, HerbertDr. Laufs, PaulLaumann, Karl Josef Lehne, Klaus-Heiner Lenzer, ChristianDr. Lieberoth, Immo Limbach, EdithaLink , Walter Lintner, EduardDr. Lippold , Klaus W.Dr. sc. Lischewski, Manfred Löwisch, SigrunLohmann , WolfgangLouven, JuliusLummer, Heinrich Dr. Luther, MichaelMaaß , Erich Männle, UrsulaMagin, TheoDr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Dr. Mayer ,MartinMeckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf Horst Dr. Merkel, Angela Dr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup,ReinhardMichalk, MariaMichels, MeinolfDr. Mildner, Klaus Gerhard Dr. Möller, FranzMüller , Elmar Müller (Wadern), Hans-WernerNelle, EngelbertNeumann , Bernd Nitsch, JohannesNolte, ClaudiaDr. Olderog, Rolf Ost, FriedhelmOswald, EduardOtto , Norbert Dr. Päselt, GerhardDr. Paziorek, Peter Paul Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeifer, AntonPfeiffer, Angelika Dr. Pinger, Winfried Pofalla, RonaldDr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, BerndRahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, HansRau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, WilhelmReddemann, Gerhard Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Berthold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert Riegert, KlausRingkamp, Werner Romer, Franz-Xaver Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Rühe, VolkerDr. Rüttgers, Jürgen Sauer , Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Scharrenbroich, Heribert Schätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Schartz , Günther Schemken, Heinz Scheu, GerhardSchmalz, UlrichSchmidt , Christian Dr. Schmidt (Halsbrücke), JoachimSchmidt , Andreas Schmidt (Spiesen), TrudiDr. Schneider , OscarDr. Schockenhoff, Andreas Graf von Schönburg-Glauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,Reinhard
Schulz , Gerhard Schwalbe, ClemensDr. Schwörer, Hermann Seehofer, HorstSeesing, Heinrich Seibel, Winfried Seiters, RudolfSikora, JürgenSkowron, WernerDr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-HeinzDr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, HansDr. Frhr. von Stetten,Wolfgang Stockhausen, KarlDr. Stoltenberg, Gerhard Stübgen, MichaelDr. Süssmuth, Rita Susset, EgonTillmann, Ferdinand Dr. Töpfer, KlausUldall, GunnarVogel , Friedrich Vogt (Düren), WolfgangDr. Voigt ,Hans-PeterDr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, HorstGraf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wetzel, KerstenDr. Wieczorek , BertramWilz, BerndWimmer , Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, MatthiasDr. Wittmann, Fritz Wittmann ,SimonWonneberger, Michael Wülfing, ElkeWürzbach, Peter Kurt Yzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zierer, BennoZöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaDr. Babel, GiselaBaum, Gerhart Rudolf Beckmann, KlausDr. Blunk , Michaela Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),Dieter-JuliusEimer , Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, JörgDr. Feldmann, Olaf Friedrich, HorstFunke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink, MargretGallus, GeorgGanschow, JörgGenscher, Hans-Dietrich Gries, EkkehardGrüner, MartinGünther , Joachim Hansen, DirkHeinrich, UlrichDr. Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Homburger, Birgit Dr. Hoyer, Werner Irmer, UlrichKleinert , Detlef Dr. Kolb, Heinrich Leonhard Koppelin, JürgenDr. -Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Leutheusser-Schnarrenberger,SabineLüder, WolfgangLühr, UweDr. Menzel, Bruno Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Otto ,Hans-Joachim
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9644 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Vizepräsident Hans KleinPaintner, JohannPeters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , ManfredRind, HermannDr. Röhl, KlausDr. Schmieder, Jürgen Dr. Schnittler, Christoph Schuster, HansDr. Schwaetzer, Irmgard Sehn, Marita Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, SigridDr. Solms, Hermann Otto Dr. Starnick, JürgenDr. Thomae, DieterTürk, JürgenWalz, IngridWolfgramm , TorstenWürfel, Uta Zurheide, BurkhardFraktionslos Lowack, OrtwinEnthaltenCDU/CSUDr. Jüttner, EgonBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPoppe, GerdSchulz , WernerDer Antrag ist abgelehnt.
Wir fahren jetzt mit der Debatte fort, und ich erteile der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, unserer Kollegin Ursula Seiler-Albring, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die Lage in Bosnien-Herzegowina ist schon lange nicht mehr außerordentlich besorgniserregend, nein, sie ist erschreckend und fürchterlich. Dies zum einen, weil die bosnischen Serben offensichtlich unbeeindruckt von der Weltmeinung ihren Eroberungskrieg mit aller Härte fortführen und damit die KSZE-Prinzipien, also die Grundlage des Zusammenlebens in Europa, rücksichtslos negieren. Zum anderen machen uns die Vorgänge deshalb so zornig, weil sie zu unermeßlichem menschlichen Leid geführt haben.Wir sind mit einer Bürgergkriegs- und Flüchtlingskatastrophe von einem im Nachkriegseuropa bisher unbekannten Ausmaß konfrontiert. Zwar konnten Lord Owen und Cyrus Vance im serbisch-kroatischen Verhältnis Bewegung erzielen, auch ist nicht zu bestreiten, daß sich der Belgrader Präsident Kosić und Premierminister Panic zunehmend von den alten Kräften um Milošević emanzipieren, dennoch hat sich die tatsächliche Lage in Bosnien-Herzegowina seit der Londoner Jugoslawienkonferenz im August kontinuierlich verschlechtert. Die Beschlüsse wurden nicht implementiert, sie wurden nicht umgesetzt.Im Gegenteil: Die serbische Landnahme geht weiter, die menschenverachtende Praxis der sogenannten ethnischen Säuberungen wurde sogar noch intensiviert, um sie vor Ankunft zusätzlicher VN-Friedenstruppen vollenden zu können. Das vom Sicherheitsrat erst am 10. Oktober verhängte Verbot militärischer Flüge über Bosnien-Herzegowina wurde nach ernstzunehmenden Hinweisen in der Zwischenzeit bereits mehrfach verletzt.All dies bestätigt unseren Verdacht, daß der Genfer Verhandlungsprozeß und die konstruktiven Aussagen von Panić und Kosić als Nebelwand mißbraucht werden sollen,
hinter der die bosnischen Serben ihre Kriegsziele um so ungestörter verfolgen können.Die Bundesregierung tritt beharrlich dafür ein, daß die Kampfhandlungen, sämtliche militärische Flüge und die sogenannten ethnischen Säuberungen sofort einzustellen und die mit Gewalt erworbenen territorialen Gewinne und Ergebnisse dieses unerträglichen, menschenverachtenden Vorgehens rückgängig zu machen sind. Bis dahin muß an den Sanktionen der VN ohne Abstriche festgehalten werden.
Was die im Antrag der SPD-Fraktion aufgeworfene Frage einer Anerkennung der aus Serbien und Montenegro bestehenden sogenannten Bundesrepublik Jugoslawien angeht, unterliegt diese selbstverständlich denselben Bedingungen, denen auch Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina unterlagen.
Zum einen muß die sogenannte Bundesrepublik Jugoslawien erklären, daß sie den gesamten Katalog von Verpflichtungen anerkennt, den die Gemeinschaft am 16. Dezember 1991 aufgestellt hat. Zum anderen — dies ist entscheidend — muß die Schiedskommission der Europäischen Gemeinschaft bestätigen, daß die Bundesrepublik Jugoslawien diese Kriterien auch tatsächlich erfüllt.
Dies bedeutet vor allem, daß Belgrad Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, einschließlich des Rechts auf regionale Autonomie sowie der Unverletzlichkeit der Grenzen, gewährleistet und dem Prinzip der friedlichen Streitbeilegung folgt.
Den Antrag zur humanitären Soforthilfe in Bosnien-Herzegowina begrüße ich nachdrücklich. Die moslemische Bevölkerungsgruppe ist in ihrer Existenz bedroht. Dadurch kommt eine neue Gefahr auf uns zu; denn wenn diese bosnischen Moslems das Gefühl erhalten, daß Europa sie in ihrem Elend im Stich läßt, werden sie unweigerlich in die Arme der islamischen Fundamentalisten getrieben, und zwar mit allen Konsequenzen, die dies für die Stabilität auf unserem Kontinent bedeuten würde.Der Krieg und die menschenverachtende Politik der sogenannten ethnischen Säuberungen haben Unzähligen Bosniern die Heimat genommen, Tausende, wenn nicht Zehntausende von Menschen sind vom Tod bedroht. Sollte die internationale Gemeinschaft nicht zu einer massiven Verstärkung der Hilfe vor Ort fähig sein, werden in diesem Winter Hunderttausende von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina herausdrängen, um dem Tod durch Hunger und Erfrieren zu entgehen.Die Bundesregierung — das wurde vorhin schon gesagt — ist nach der EG-Kommission größter Geber und hat bisher humanitäre Hilfen im Wert von über 275 Millionen DM für das ehemalige Jugoslawien
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9645
Staatsministerin Ursula Seiler-Albringbereitgestellt. Davon geht ein ganz großer Anteil in Richtung Bosnien-Herzegowina. Das Projekt — über 50 Millionen DM zur Schaffung von winterfesten Unterkünften für Flüchtlinge in Kroatien — wird vor Wintereinbruch umgesetzt. Darüber hinaus werden Möglichkeiten zur Lieferung von Baumaterialien für Unterkünfte und von winterfesten Zelten neben den schon bisher durchgeführten Lieferungen von Nahrungsmitteln und Medikamenten geprüft.Bis zur Unterbrechung der Luftbrücke nach Sarajevo am 2. September 1992 hat die Bundeswehr etwa ein Sechstel aller Hilfsflüge durchgeführt, und zwar, wie wir wissen, unter großen Risiken. Die deutschen Flüge sind am 10. Oktober wieder aufgenommen worden, nachdem die eingesetzten Transall-Maschinen mit Raketenabwehrsystemen ausgestattet worden waren, um das große Risiko wenigstens etwas zu mindern.Trotz dieser Bemühungen wird der bisherige Einsatz der internationalen Gemeinschaft für BosnienHerzegowina bei weitem nicht ausreichen. Vor allem die europäischen Staaten dürfen nicht aus ihrer Pflicht zur humanitären Solidarität für Bosnien-Herzegowina entlassen werden. Der Bundeskanzler hat daher gegenüber Premierminister Major angeregt, das Thema der humanitären Hilfe für Bosnien-Herzegowina auf die Tagesordnung des Sondergipfels zu setzen, der morgen in Birmingham stattfindet, um zusätzliche Anstrengungen aller Partner zu erwirken. Dabei geht es einmal um die rasche Intensivierung der Hilfe vor Ort. Dabei muß es aber auch, wie von uns immer wieder nachdrücklich gefordert wird, um Aufnahmekontingente aller EG-Staaten für die Menschen gehen, die in der Region nicht versorgt oder untergebracht werden können. Ohne eine massive, gemeinsame Anstrengung der internationalen Gemeinschaft würde sich vor unseren Augen mitten in Europa eine humanitäre Katastrophe ereignen, die angesichts der unmißverständlichen Aussagen und Warnungen der vor Ort tätigen Hilfsorganisationen jeder von uns mit Gewißheit voraussehen müßte.Nach Einschätzungen der Bundesregierung haben seit Ausbruch der Feindseligkeiten im Jahre 1991 einschließlich der Asylbewerber, deren Anteil aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina in den letzten Monaten zurückgegangen ist, sowie der beiden Hilfsaktionen im Sommer dieses Jahres für je 5 000 Personen deutlich über 250 000 Menschen Aufnahme gefunden. Die deutschen Auslandsvertretungen im früheren Jugoslawien, in Österreich, Ungarn und der ČSFR sowie die Grenzbehörden an der deutschösterreichischen Grenze erteilen in unbürokratischer Weise entsprechend dem Beschluß der Innenministerkonferenz täglich durchschnittlich mehrere 100 Visa an bosnische Flüchtlinge, denen hier lebende Verwandte oder Bekannte Obdach und Lebensunterhalt gewähren, sofern die ausländergesetzlichen Voraussetzungen in der Form der Zustimmung oder der Vorabzustimmung der für den Zielort zuständigen Ausländerbehörde vorliegen.Allein die Botschaft in Zagreb hat mit stark steigender Tendenz im September über 3 100 Visa für diesen Personenkreis ausgestellt. Herr Duve, ich möchte Ihnen danken für die Anerkennung, die Sie für dienicht einfache Arbeit unserer Mitarbeiter an der Botschaft in Zagreb ausgedrückt haben.Die Auslandsvertretungen und Grenzbehörden sind angewiesen, sich vordringlich mittels Telefons, Telefax oder Fernschreibens um die Einholung der notwendigen Zustimmung der Ausländerbehörden zu kümmern, falls diese bei der Visa-Antragsstellung nicht vorliegt.Hervorheben möchte ich ferner, daß im Einvernehmen zwischen Bund und Ländern das vorläufige Bleiberecht für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina bis zum 31. März 1993 verlängert wurde. Hinsichtlich einer gemeinsamen Kontingentregelung europäischer Staaten für die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien ist bisher trotz nachdrücklicher Bemühungen der Bundesregierung leider noch kein Erfolg zu verzeichnen. Unsere Partner verweisen weiterhin auf ihre Position bei der Genfer Flüchtlingskonferenz, d. h., daß primär nur Hilfe vor Ort geleistet und Aufnahmen nur in besonderen humanitären Fällen ermöglicht werden.Was den Antrag der SPD-Fraktion zu Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien angeht, möchte ich feststellen, daß die Bundesregierung den Bundestag hierüber laufend unterrichtet hat und dies auch zukünftig tun wird. Es liegt der Bericht des Sonderbeauftragten der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, des ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, über die schwerwiegende Menschenrechtslage im ehemaligen Jugoslawien vor. Außerdem ist inzwischen der Bericht der KSZE-Mission unter Leitung von Sir John Thompson verfügbar, der insbesondere die unmenschlichen Bedingungen in den Internierungslagern in Bosnien-Herzegowina bestätigt.
In voraussichtlich zwei bis drei Wochen wird ein zusätzlicher Bericht der KSZE-Mission unter Leitung des Schweden Corell über die Menschenrechtslage in Kroatien und Bosnien-Herzegowina vorliegen. Schließlich wurde der Sonderbeauftragte der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, Mazowiecki eingeladen, dem Auswärtigen Ausschuß am 5. November aus erster Hand über die Menschenrechtslage im ehemaligen Jugoslawien zu berichten.Ich darf wiederholen: Soweit darüber hinaus Bedarf besteht, ist die Bundesregierung auch in Zukunft jederzeit bereit, dem Bundestag über die aktuelle menschenrechtliche Situation im ehemaligen Jugoslawien Bericht zu erstatten.Vielen Dank.
Als nächster hat das Wort Herr Eberhard Brecht.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der fortwährenden Gewalttaten und des Elends in Bos-
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9646 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Eberhard Brechtnien-Herzegowina, aber auch im Kosovo, wächst der Druck der europäischen Öffentlichkeit auf ihre Regierungen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um endlich eine Lösung in diesem schon lange währenden Konflikt herbeizuführen. Auch den Vereinten Nationen sagt man in der Öffentlichkeit nach, daß sie den Vertrauensvorschuß nach Überwindung der OstWest-Konfrontation in Jugoslawien jämmerlich verspielt hätten.In der Tat hat es die Weltorganisation nicht vermocht, die Minderheitenrechte im ehemaligen Jugoslawien durchzusetzen, die entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen zu verhindern oder gar den schwelenden Krieg auf dem Balkan auszutreten.Aus meiner Sicht hat der Sicherheitsrat zwei Fehler begangen: Einmal hat man trotz der eindringlichen Bitte von Präsident Izetbegovic darauf verzichtet, in Bosnien-Herzegowina präventiv Blauhelme zu stationieren;
die jüngst beschlossene zusätzliche Stationierung von 6 000 Blauhelmen, die erst Ende dieses Monats begonnen werden kann, ist politisch richtig, kommt aber viel zu spät. Zum anderen hat das generelle Waffenembargo gegen Gesamtjugoslawien die bosnisch-moslemische Seite militärisch stärker geschwächt als die ohnehin aufgerüsteten serbischen Verbände. Eine vermeintliche Neutralität der UNO wurde so zu einer ungewollten Parteinahme. Ich plädiere damit nicht etwa für Waffenlieferungen in das Spannungsgebiet, sondern ich mahne für künftige Konflikte einen solchen Gebrauch des Embargoinstruments an, der tatsächlich auch den Aggressor trifft, nicht aber das Opfer.
Mit einer Gesamtbewertung der Jugoslawienpolitik durch die UNO zögere ich. Man kann doch nicht den Arzt verurteilen, der zur Heilung einer Krankheit nicht in der Lage ist, dem Patienten aber zumindest zu einer Linderung seiner Leiden verhilft.Blickt man tatsächlich genauer hin, dann entdeckt man Teilerfolge, die man bei aller berechtigter Kritik nicht einfach übersehen sollte. So hat die Stationierung der UNPROFOR-Schutztruppe in Ost- und Westslawonien und in der Krajina dazu beigetragen, daß die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Einheiten Kroatiens und den Serben so gut wie zum Erliegen gekommen sind. Einen weiteren Teilerfolg bildet die Stationierung der UNO-Schutztruppe in Sarajevo. Trotz der enormen Schwierigkeiten, mit Hilfe der Luftbrücke die bedrängte Bevölkerung Sarajevos mit dem Nötigsten zu versorgen, haben doch die Piloten der Hilfsflüge und die UNO-Schutztruppe am Flughafen für die dortige Bevölkerung Enormes geleistet. Dafür verdienen sie unser aller Anerkennung.
Das Instrumentarium, das der Völkergemeinschaft zur Befriedung des ehemaligen Jugoslawiens prinzipiell zur Verfügung steht, ist begrenzt. In der Öffentlichkeit wird immer häufiger nach einer militärischen Intervention in Bosnien-Herzegowina gerufen, die als Ultima ratio der Zwangsmaßnahmen im Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen vorgesehen ist. Die Vorstellung, mit Flugzeugen oder Landtruppen den Frieden erzwingen zu können, ist jedoch aberwitzig. Zu Recht hat der UN-Generalstabschef Powell in der New York Times vor einem militärischen Eingreifen in den Konflikt auf dem Balkan gewarnt, da einmal die Konfliktfronten und zum anderen die Definition eines Ziels dieses schwerwiegenden Eingriffs nicht klar sind. Ließe man sich auf eine Intervention ein, könnte humanitäre Hilfe kaum noch geleistet werden und eine Deeskalation durch vertrauensbildende Maßnahmen würde unmöglich werden.Wir sollten vielmehr auf den Druck der Völkergemeinschaft unterhalb der Schwelle einer militärischen Intervention setzen, der die Konfliktparteien, insbesondere aber die Serben, zu Zugeständnissen am Verhandlungstisch in Genf bewegen könnte.
In Genf werden die großen Probleme nicht frontal gelöst. Einzelne Maßnahmen sollen vielmehr den Spielraum für eine weitere Eskalation einengen.
Ermutigende Ergebnisse sind das Abkommen über die Halbinsel Prevlaka oder die in der Arbeitsgruppe „Vertrauensbildende Maßnahmen" erreichte Zusicherung der kriegführenden Parteien, ihre Luftabwehrwaffen registrieren zu lassen und aus den humanitären Korridoren abzuziehen.Frau Staatsministerin hat eben von einer Nebelwand gesprochen. Ich glaube, es bleibt uns nicht viel anderes übrig, auf dieses Instrument des Drucks und des Spielraums am Genfer Verhandlungstisch zu setzen. Es bleibt auch abzuwarten, ob die auf Druck des Weltsicherheitsrates vom Serbenführer Karadzić angekündigte Verlegung der Luftwaffe vom bosnischen Banja Luka nach Serbien auch wirklich erfolgt und dort die UNO einen weiteren Einsatz der serbischen Luftwaffe unterbinden kann.
Zu dem internationalen Druck — Herr Karadzić hat sich heute dazu erklärt —
gehört der von uns bereits im Juli geforderte und inzwischen erfolgte Ausschluß Restjugoslawiens aus der UNO und der heute im Plenum vorliegende Antrag, der klare Voraussetzungen für die Anerkennung der neuen Bundesrepublik Jugoslawien benennt. Wir werden diese Republik nicht anerkennen, solange sie ihre Truppen nicht aus Bosnien-Herzegowina abzieht und die Menschen- und Minderheitenrechte der Albaner im Kosovo, der Ungarn in der Vojvodina und anderer Minderheiten in ihrem Staatsgebiet mißachtet. Rücksichtslose Gewaltanwendung darf nicht belohnt werden.Seit gestern erleben wir die ersten bedrohlichen Vorbeben einer Gewalteskalation im Kosovo. Von New York und Genf muß das unmißverständliche
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9647
Dr. Eberhard BrechtSignal ausgehen, daß die Wiederherstellung der Autonomie der Kosovo-Albaner notwendig zum Verhandlungspaket der Genfer Gespräche gehört.Zum internationalen Druck gehört aber auch die Tätigkeit des ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki im Auftrag der Menschenrechtskommission, die gerade jetzt eine zweite, etwas systematischere Bereisung des Krisengebietes unternimmt. Jeder Serbe, jeder Kroate, jeder Moslem im ehemaligen Jugoslawien muß über Flugblätter oder das Radio informiert werden, daß er bei einer groben Verletzung der Menschenrechte das Risiko einer Bestrafung eingeht.Es ist jedoch beklagenswert, daß viele Staaten die Aufgaben der Kommission nicht sonderlich ernst zu nehmen scheinen und deren Alimentierung daher sehr dürftig ausfällt. Die Unterausschüsse für die Vereinten Nationen und für Menschenrechte des Bundestages sowie der Auswärtige Ausschuß haben Präsident Mazowiecki nach Bonn eingeladen. Nach dieser Begegnung sollte entschieden werden, ob und in welcher Form die Bundesrepublik die Arbeit des Sonderbeauftragten der Menschenrechtskommission noch besser unterstützen kann.Im humanitären Bereich muß die notleidende Bevölkerung mit Wasser, Nahrungsmitteln, Medikamenten, Brennstoffen und winterfesten Notunterkünften versorgt werden und müssen Schwerkranke bzw. Verwundete evakuiert werden. Dazu dient unser Antrag um Aufstockung der bereits bewilligten 50 Millionen DM um weitere 20 Millionen, die jedoch in Bosnien-Herzegowina und durch den UNHCR eingesetzt werden sollen. In diesem Zusammenhang ist es begrüßenswert, daß die Briten und Franzosen Landwegkorridore für humanitäre Zwecke nutzen und sichern wollen.Deutschland wird aus verfassungsrechtlichen Gründen den Schwerpunkt seiner Hilfe auf die Luftversorgung von Sarajevo durch Transall-Maschinen legen. Diese wichtige Aufgabe hat auch einen symbolischen Hintergrund für uns Deutsche. Gibt es nicht auch viele von uns, deren Ernährung während der Berliner Blockade 1948/49 durch die Luftbrücke der Westmächte gesichert wurde?Nicht nur die Deutschen, jeder Europäer muß sich seiner Verantwortung bewußt sein. Durch Passivität werden wir mitschuldig, denn Hunderttausende von Menschen in Sarajevo oder anderswo in Bosnien-Herzegowina in diesem Winter verhungern oder erfrieren.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Meinrad Belle.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich spreche zum innenpolitischen Teil des Antrags Bürgerkriegsflüchtlinge der SPD-Fraktion und zum Resolutionsentwurf der Koalitionsfraktionen.Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland ist und bleibt ein ausländerfreundliches Land. Sie ist bemüht, überall Hilfe bei Notlagen zu geben. Die Lage im ehemaligen Jugoslawien, besonders in Bosnien-Herzegowina, ist fürchterlich. Menschen werden getötet, gefoltert, von Haus und Hof vertrieben.Wir leisten Hilfe vor Ort. Um Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina in benachbarten Regionen unterzubringen und zu versorgen, wurden bis jetzt rund 98 Millionen DM bereitgestellt. Darüber hinaus wurden weitere 10 Millionen DM als unmittelbare Sachleistungen erbracht. Für die Einrichtung der Luftbrücke nach Sarajevo wurden bislang 6 Millionen DM aufgewendet. Unser Anteil an der EG-Hilfe beträgt rund 89 Millionen DM, so daß bis heute insgesamt über 200 Millionen DM zur Verfügung gestellt wurden.Wir leisten Hilfe durch Aufnahme von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Bis heute wurden rund 220 000 Personen aufgenommen. Wir sind das Hauptaufnahmeland.Wir leisten Hilfe durch Sonderaufnahmeaktionen im Juli und August dieses Jahres. 10 400 hilfsbedürftige Personen haben bei uns vorübergehend Aufnahme gefunden. Erleichterte Visumserteilung erfolgt für Personen, deren Unterbringung und Versorgung in Deutschland durch Verwandte, Bekannte oder durch Wohlfahrtsorganisationen sichergestellt ist. Die Bundesregierung hat darüber hinaus die Hälfte der Kosten übernommen, die den Ländern aus der Aufnahme von über 10 000 hilfsbedürftigen Personen entstehen. Und von Mai bis Ende August wurden zusätzlich über 30 000 Visa erteilt.Meine Damen und Herren, ist damit die Hilfsbereitschaft der Deutschen erschöpft? Nein, die Hilfs- und Aufnahmeaktionen zugunsten besonders hilfsbedürftiger Menschen aus Bosnien-Herzegowina werden fortgesetzt. Allerdings können diese Aktionen nicht mehr isoliert durch die Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werden. Die Not ist so groß geworden, daß eine sinnvolle Hilfe nur noch im Rahmen einer gesamteuropäischen Aufnahmepolitik geleistet werden kann. Aktuell steht hier die Frage nach der möglichen Aufnahme von ehemaligen Gefangenen aus aufgelösten serbischen Lagern an. Nach intensiven Gesprächen mit den europäischen Nachbarn scheint eine europäische Lösung greifbar geworden.Die Bürgerkriegsflüchtlinge haben in Deutschland gesichertes Bleiberecht, Schutz vor Abschiebung, sie haben Arbeitsmöglichkeit und Arbeitserlaubnis. Niemand muß in ein Asylverfahren hineingehen, und niemand sollte diese Leute in ein Asylverfahren drängen. Allerdings kann auch kein Bürgerkriegsflüchtling gehindert werden, vom Asylrecht Gebrauch zu machen, solange das Grundgesetz nicht geändert ist.Abschließend folgt:Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, in den internationalen Bemühungen um eine Beendigung des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien nicht nachzulassen. Die Anstrengungen, dem schreckli-
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9648 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Meinrad Bellechen Blutvergießen ein Ende zu setzen, sind zu verstärken; denn nur die Beendigung des Konflikts kann auch das Elend und die Not der Menschen in den Krisengebieten beenden.Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Bundesländern die flexible Aufnahmepolitik im Rahmen des Möglichen fortzusetzen. Wir anerkennen die Aufnahmebereitschaft der Bundesländer bei der gesonderten Aufnahmeaktion der über 10 000 hilfsbedürftigen Personen und für die verwundeten und kranken Menschen aus BosnienHerzegowina.Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihren Appell gegenüber den anderen europäischen Staaten zu verstärken und mit Nachdruck auf eine gesamteuropäische Kontingentlösung der Aufnahmefrage zu dringen. Eine gesamteuropäische solidarische Antwort ist gefordert.Ich bitte Sie daher, dem Resolutionsentwurf der Koalitionsfraktionen zuzustimmen, und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur humanitären Soforthilfe für die Menschen in BosnienHerzegowina, Drucksachen 12/3355 und 12/3426. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Voraussetzungen der Anerkennung der neuen Bundesrepublik Jugoslawien und Initiativen zur Wiederherstellung des Friedens in Bosnien-Herzegowina, Drucksachen 12/2546 und 12/3427. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung von PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3437, den Antrag der SPD auf Drucksache 12/2939 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Innenausschuß die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Innenausschusses zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Menschenrechtsverletzungen in Serbien und Kroatien, Drucksachen 12/2290 und 12/3390. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der
Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Jetzt kommen wir zum Antrag der Gruppe PDS/ Linke Liste zur Jugoslawien-Politik der Bundesregierung auf Drucksache 12/3431. Die Gruppe PDS/Linke Liste wünscht Überweisung an den Auswärtigen Ausschuß. Die Fraktion der CDU/CSU hingegen verlangt sofortige Abstimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über die Ausschußüberweisung vor. Wer stimmt also für den Überweisungsvorschlag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Dann können wir gleich in der Sache abstimmen. Wer stimmt für den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3431? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Soziale Grundsicherung im Alter und bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit
— Drucksache 12/2519 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf Dreßler, Wolfgang Thierse, Ottmar Schreiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes
— Drucksache 12/2663 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich konstatiere Übereinstimmung mit dieser Vereinbarung. — Damit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeordneten Ulrike Mascher das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Warum bringt die SPD-Bundestagsfraktion, obwohl sie am 21. Juni 1991 zusammen mit der Regierungskoalition dem RentenÜberleitungsgesetz zugestimmt hat, bereits ein Jahr später einen Gesetzentwurf zur Korrektur dieses Gesetzes ein? Ich werde Ihnen die Antwort geben. Lassen Sie mich aber erst kurz etwas zur Vorgeschichte des Renten-Überleitungsgesetzes sagen.Angesichts der riesigen Aufgaben, das Rentenrecht Ost und das Rentenrecht West miteinander zu verbinden, hatte die SPD — anders als die Bundesregierung — vorgeschlagen, eine gesamtdeutsche Rentenreform schrittweise zu vollziehen, auch unter Einbeziehung der positiven Bausteine aus dem DDR-Rentenrecht, z. B. die Mindestrente im Alter oder die
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Ulrike MascherAnerkennung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten. Aber die Regierung wollte möglichst rasch und ohne einen weitergehenden Bestandsschutz für die DDR-Renten das West-Rentenrecht auf die ehemalige DDR übertragen.Vorstellungen, wie sie von der SPD formuliert wurden, in Ost- und Westdeutschland eine soziale Grundsicherung im Alter zu schaffen und eine eigenständige Alterssicherung der Frauen zu entwickeln, wurden damals kategorisch abgelehnt. Das bedeutet, daß im Westen immer noch der Anteil der alten Frauen, die im Alter in Armut leben, weil sie aus Scham nicht den Gang zum Sozialamt antreten, für unser Land ein negatives Kennzeichen, ein Armutszeugnis bleibt. Die Chance, unser Rentenrecht „armutsfest" zu machen, wie es die Caritas in ihrem Armutsbericht formulierte, wurde wieder einmal vertan.Nach einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat Sie erinnern sich vielleicht noch; 1991 war es Rheinland-Pfalz — hat die SPD-Bundestagsfraktion die Chance genutzt und eine Reihe von Verbesserungen im Renten-Überleitungsgesetz durchgesetzt, z. B. die Verlängerung und Dynamisierung des Sozialzuschlags in den neuen Bundesländern, was so etwas wie eine Mindestsicherung für die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner darstellt, einen verbesserten Bestandsschutz für die Rentenzugänge und den fast vollständigen Verzicht auf einen Mißbrauch des Sozialrechts als Instrument der Abstrafung.Die SPD-Fraktion hat nach kontroverser Diskussion dem Renten-Überleitungsgesetz zugestimmt. Aber wir haben angesichts des Zeitdrucks, unter dem das Gesetzgebungsverfahren stand, immer wieder betont, daß wir nach den ersten Erfahrungen, falls erforderlich, rasch eine Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes beantragen werden.Das Gesetz trat am 1. Januar 1992 in Kraft. Bereits nach wenigen Wochen gab es heftige Proteste und bittere Kommentare von enttäuschten Rentnerinnen und Rentnern.
— Es gab auch Zustimmung, Frau Dr. Babel, in der Tat. Aber wir wollen versuchen, auch die Proteste und die bitteren Kommentare aufzugreifen.Die Bundesregierung hat einen Bericht über die Erfahrungen mit der Rentenüberleitung und einen möglichen gesetzgeberischen Korrekturbedarf vorgelegt. Ich darf aus der Zusammenfassung dieses Berichtes zitieren:Soweit im Rahmen der Rentenüberleitung Verständnisprobleme aufgetreten sind, kann diesen nur durch Aufklärung der Betroffenen begegnet werden. Durch abgestimmte Aufklärungs- und Informationsaktionen aller Beteiligten wurden die Verständnisprobleme in vielen Fällen behoben, aber zumindest abgebaut.Wer angesichts der realen Einkommensverluste von verheirateten Rentnern beim Sozialzuschlag von Verständnisproblemen spricht oder die Verbitterungbestimmter Berufsgruppen übergeht, weil sie als Zollbedienstete oder Techniker nach einer schematischen Bewertung eine leitende Stellung in staatsnahen Systemen hatten und deswegen eine Begrenzung bei der Berechnung ihrer Rente erfahren, der leistet dem schwierigen Einigungsprozeß, glaube ich, keinen guten Dienst.Die SPD hat jedenfalls versucht, in ihrem Gesetzentwurf einige Punkte aufzugreifen. Ich fordere den Bundesarbeitsminister, aber auch die Koalitionsfraktionen auf, doch ernsthaft zu prüfen, ob sie nicht bei einigen Punkten zustimmen können, z. B. dem Bestandsschutz beim Sozialzuschlag für Verheiratete. Bis zum 31. Dezember 1991 bekamen Rentnerehepaare mindestens 1 200 DM, d. h. jeder 600 DM. Ab dem 1. Januar 1992 gab es nur noch 960 DM für ein Rentnerehepaar. Mir ist bewußt, daß zum 1. Juli 1992 dieser Betrag auf 1 054 DM entsprechend der Sozialhilferegelsätze erhöht wurde. Aber am 1. Januar 1993 wird es beim Sozialzuschlag keine Erhöhung der Obergrenzen geben, da es keine entsprechende Erhöhung der Sozialhilferegelsätze gibt.Andererseits sind die Renten in Ostdeutschland zum 1. Juli 1992 erhöht worden. Sie steigen zum 1. Januar 1993.Ich denke, daß die von der SPD vorgeschlagene Besitzstandswahrung für Rentnerehepaare eine finanzielle Mehrbelastung bedeutet — auf der einen Seite wegen der regulären Rentenerhöhungen, auf der anderen Seite wegen der Erhöhung der Obergrenzen für den Sozialzuschlag —, die finanziell durchaus vertretbar wäre.Unser zweiter Punkt ist, daß wir bei der Begrenzung der Entgeltpunkte in der dynamischen Rente für Sonder- und Zusatzrentner, die in den sogenannten staatsnahen Systemen tätig waren, den Fallbeileffekt endlich beseitigen wollen. Als Mitarbeiter in leitender Stellung gilt, wer mehr als das 1,4fache des DDR-Durchschnittsverdienstes erzielt hat. Ein solcher Leitender erhält bei der Bewertung seiner Arbeitsverdienste nur noch 1,0 Entgeltpunkte. Das bedeutet, daß jemand, der das 1,39fache verdient hat, 1,39 Entgeltpunkte erhält. Bei demjenigen aber, der das 1,40- oder das 1,41fache verdient hat, wird durch das Fallbeil auf 1,0 Entgeltpunkte gekürzt. Das erscheint uns ungerecht. Wir wollen deshalb eine Begrenzung auf höchstens 1,4 Entgeltpunkte und keine Kürzung auf 1,0.Ein anderer wichtiger Punkt ist für uns, daß weitere Personengruppen aus der Abwertung ihrer früheren Arbeitsverdienste, also der Kappung der Entgeltpunkte, herausgenommen werden, denen keine besondere Systemträgerschaft — um dieses gräßliche Wort zu verwenden — vorgeworfen werden kann. Dabei denken wir an Schuldirektoren, Zollbedienstete oder Techniker im Bereich des Staatsapparates.Ein weiterer Punkt, den wir korrigiert wissen wollen, ist die Berechnung bei den Bestandsrenten. Anders als bei den Neurenten in den neuen Bundesländern, bei denen das Arbeitseinkommen in der tatsächlichen Höhe nachgewiesen werden kann und bei der Rentenberechnung entsprechend berücksichtigt wird, ist eine solche Regelung für die Bestands-
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Ulrike Mascherrenten nicht vorgesehen. Wir denken, daß diese Korrekturmöglichkeit auch für Bestandsrenten eröffnet werden sollte. Wir berücksichtigen dabei allerdings die Arbeitsüberlastung der Rentenversicherungsträger, so daß diese Möglichkeit vielleicht erst zum 1. Januar 1995 eröffnet werden sollte.Auch die freiwilligen Beiträge sollten in die Berechnung der dynamischen Renten einbezogen werden, wobei bei den Bestandsrenten der Zeitpunkt der Nachberechnung entsprechend der verwaltungsmäßigen Möglichkeiten der Rentenversicherungsträger erfolgen kann.Sie sehen, wir haben die Klagen und die Erklärungen der Rentenversicherungsträger angesichts des großen Arbeitsaufwandes und der großen Schwierigkeiten durchaus berücksichtigt. Wir wollen realistische Termine setzen. Wir müssen auch akzeptieren, daß einige unserer Forderungen nach Verbesserung, z. B. die nach der Pauschalumwertung bei Renten aus Zusatzversorgungssystemen oder nach dem Vorziehen des Termins auf Ansprüche auf Berichtigung, angesichts der realen Situation bei den Rentenversicherungsträgern und angesichts des Zeitablaufs nur noch einen begrenzten Wert haben.Allerdings packt mich immer noch ein zumindest leiser Zorn, wenn ich an die vollmundigen Erklärungen der Vertreter der Rentenversicherungsträger denke, die vor der Entscheidung über das RentenÜberleitungsgesetz erklärt haben, sie hätten alles im Griff. Diese Kritik soll nicht unsere Anerkennung der großen Leistungen und des Engagements der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen z. B. bei der BfA schmälern, denen unser Dank und unsere Anerkennung gebühren.
Vielleicht war der SPD-Vorschlag eines zeitlich gestuften Vorgehens doch ganz vernünftig und realistisch.Zurück zum Korrekturbedarf. Hier ist noch ein Punkt offen. Denn bei einem Unternehmen der DDR, nämlich bei Zeiss Jena, hat es eine besondere Form des Betriebsrentensystems gegeben. Dafür hat das Renten-Überleitungsgesetz keine Regelung vorgesehen. Das ist ein Fehler, der offenbar dem Zeitdruck bei der Beratung des Renten-Überleitungsgesetzes anzulasten ist.Wenn ich die ersten Reaktionen aus dem Arbeitsministerium richtig deute, scheint sich hier eine Lösung abzuzeichnen. Ich werte das als ein positives Signal, daß auch bei den anderen Forderungen der SPD, z. B. der Streichung des Fallbeileffektes, beim Ausnahmekatalog für verschiedene Berufsgruppen, aber auch bei der Bestandssicherung beim Sozialzuschlag oder bei der umfassenden Berücksichtigung der tatsächlichen Arbeitsentgelte für Bestandsrenten, ein solches positives Nachdenken möglich ist.Zusammen mit dem Renten-Überleitungsgesetz haben wir einstimmig einen Entschließungsantrag angenommen, der spätestens für 1996 Regelungen zur Bekämpfung der Altersarmut und für eine eigenständige Alterssicherung der Frau fordert. Die SPD wirddafür umfassende Vorschläge vorlegen. Zur Bekämpfung der Altersarmut haben wir heute schon einen gebracht. Ich denke, daß angesichts der realen Probleme im Zusammenhang mit der ständig steigenden Armut in unserem Land — ich gehe davon aus, daß meine Kollegen aus dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, aber auch der Arbeitsminister den Armutsbericht der Caritas gelesen haben — gemeinsame Reformschritte zur Bekämpfung der Altersarmut und für eine bessere Alterssicherung der Frau möglich sind. Ich hoffe hier auf eine konstruktive Zusammenarbeit.Danke.
Herr Kollege Heinz Rother, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle, die wir hier sitzen, haben es sich mit dem Renten-Überleitungsgesetz wahrlich nicht leichtgemacht, waren wir doch alle bestrebt, das Bestmögliche für unsere älteren Menschen zu erreichen. Ich glaube, das ist uns im Rahmen unserer Möglichkeiten auch gelungen. Aber wo Sonne ist, da ist auch Schatten. Ich weiß, daß es einige Härtefälle unter den Rentnern gibt.Bitte, glauben Sie mir, daß sich der größte Teil der Rentner über ihre Rente freuen und einen sorgenfreien Lebensabend führen können. In den neuen Bundesländern ist es vielen älteren Menschen noch nie so gut gegangen wie jetzt.
Das sage ich nicht einfach so. Das weiß ich aus meinen Sprechstunden und aus vielen Gesprächen, die ich mit älteren Menschen geführt habe. Besondere Freude empfinde ich, wenn mir Rentner ein Dankeschön sagen und mir erzählen, wie gut es ihnen geht, weiß ich doch an dieser Stelle: Die vielfältige Arbeit hat sich gelohnt, und unsere gemeinsamen Beschlüsse haben sich bewährt.Deshalb ist es mir unverständlich, wieso wir uns hier und heute über die Anträge der SPD-Fraktion auseinandersetzen müssen. Ich finde es gut, wenn um eine Sache gestritten wird. Aber ich finde es nicht gut, wenn versucht wird, ein mit Ihrer Zustimmung, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, beschlossenes Gesetz wieder aufzuweichen,
wo jeder von uns weiß: Hier sind die Grenzen erreicht, wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Dabei brennen uns viele wichtige Probleme unter den Nägeln und können aus Zeitmangel nicht schnell genug gelöst werden.Lassen Sie mich einige Ausführungen zu den beiden Anträgen der SPD-Fraktion machen. Eines der grundlegenden Merkmale unseres Rentensystems ist die Leistungsbezogenheit, d. h. die Höhe der zu zahlenden Rente hängt von der Anzahl der Beitragsjahre sowie der Höhe der geleisteten Beiträge ab. Dieses Grundelement darf auf keinen Fall durch eine
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Heinz Rotherwie auch immer geartete Vermengung von Rentenversicherung und Sozialhilfe verwischt werden. Das aber genau tun Sie, wenn Sie einen pauschalierten Grundbetrag fordern.Unser bestehendes Rentensystem funktioniert nur dann, wenn die Menschen möglichst viele und hohe Beiträge zahlen und sie auch wissen, daß sich das später für sie auszahlt, indem sie eine entsprechend hohe Rente bekommen.
Die Rente ist Alterslohn für erbrachte Leistung. So wie sich im aktiven Arbeitsleben der Lohn nach der Leistung richtet, so muß sich das im Alter bei der Rente fortsetzen. Diesem klaren Grundsatz widerspricht es jedoch, wenn man beitragsfinanzierte und steuerfinanzierte Teile der Rente so vermischt, daß niemand mehr den Unterschied erkennen kann. Die Leistungsbezogenheit der Renten darf man nicht verwischen und nicht verwässern.Es ist uns allen bekannt, daß es in der Bundesrepublik auch Fälle von Altersarmut gibt, denen wir in besonderer Weise unsere Aufmerksamkeit und Fürsorge widmen müssen. Daß das geschieht, zeigen die sinkenden Zahlen der Empfänger von Sozialhilfe.
Der Anteil der 65jährigen und älteren Personen ist von 1980 bis 1990 von 22 % auf 9 % zurückgegangen.
Das entspricht etwa 2 % der Rentenempfänger der Rentenversicherung. Selbst wenn man noch die Fälle hinzuzieht, die aus Bescheidenheit, Scham oder Unkenntnis nicht zum Sozialamt gehen, so ist der Anteil der Betroffenen doch klein. Dennoch stellt jeder einzelne Fall ein persönliches Schicksal dar, um das wir uns kümmern müssen, aber nicht durch eine Veränderung unseres Sozialsystems.
Vielmehr müssen wir bei diesem Problem die verwaltungsmäßige und organisatorische Zusammenarbeit von Rentenversicherungsträgern und Sozialhilfeträgern verbessern. Das heißt für mich vor allem verbesserte Information und Aufklärung der Menschen über die einzelnen Möglichkeiten der Sozialhilfe. Das könnte organisatorisch durchaus bei den Rentenversicherungsträgern angesiedelt werden, etwa durch die Bereitstellung von geschultem Personal. Auch könnten Verfahrenserleichterungen in der Weise erfolgen, daß Sozialhilfeanträge bei diesen Stellen eingereicht werden können.Auf diese Art und Weise können wir das Problem ebenso in den Griff bekommen, ohne gleich unser gesamtes Sozialsystem, das sich meines Erachtens bisher gut bewährt hat, auf den Kopf stellen zu müssen. Deshalb lehnt die CDU/CSU den Antrag der SPD-Fraktion ab.Ebenso lehnen wir den zweiten Antrag der SPD, der sich mit der Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes befaßt, ab. Ich meine, daß sich das RentenÜberleitungsgesetz bisher bewährt hat. Es ist hier in großartiger Weise gemeinsam gelungen, in relativ kurzer Zeit die Bürger der ehemaligen DDR an einem der fortschrittlichsten und leistungsstärksten Rentensysteme, die es überhaupt gibt, teilnehmen zu lassen. Dies ist gerade für die Bürger in den neuen Bundesländern so erfreulich, da sie nach dem alten DDR-System in den meisten Fällen als Almosenempfänger behandelt wurden.Die bei der Umsetzung aufgetretenen Probleme sind vor allem Verständnisprobleme, aber auch Probleme bei der Verfahrensbeschleunigung. Insoweit sehe ich hier im Moment keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Zumindest wäre eine gesetzliche Änderung in der Praxis momentan gar nicht durchführbar, da die Rentenversicherungsträger mit der Umsetzung des Renten-Überleitungsgesetzes vollauf beschäftigt sind.
— Sie wissen nicht, wie ich zu Hause rede.
Diese Auffassung wird im übrigen auch von den Rentenversicherungsträgern geteilt.Auch dieser Antrag zielt teilweise wieder auf eine unzulässige Vermischung von beitragsabhängiger Rente und steuerfinanzierter Sozialhilfe ab. Hier soll der Steuerzahler wieder dafür herhalten, bestimmte Renten auf eine Höhe zu bringen, die sie auf Grund der Höhe der Beitragszahlungen nicht erreichen können. Dies belastet nicht nur den Steuerzahler unnötig, sondern es ist auch ungerecht gegenüber denjenigen Rentnern, die sich diese Rentenhöhe durch ihre Beiträge erarbeitet haben.
Die Sozialhilfe soll eben nur dazu dienen, eine gewisse Grundversorgung zu gewährleisten, nicht aber Renten auf eine bestimmte Höhe zu bringen.Mit der Neuregelung im Renten- Überleitungsgesetz wurden zugunsten der Betroffenen mit 600 DM für Alleinstehende sowie 960 DM für Verheiratete Einkommensgrenzen beschlossen, die bereits über den Sozialhilfesätzen liegen. Diese Sätze wurden mittlerweile entsprechend der durchschnittlichen Veränderung des Regelsatzes der Sozialhilfe sogar auf 658 DM für Alleinstehende und 1 054 DM für Verheiratete erhöht. Somit bleibt hier für eine weitere Erhöhung, wie von Ihnen gefordert, kein Raum, ohne das gesamte System in Frage zu stellen.Was den Antrag der SPD betrifft, die Begrenzung der Entgeltpunkte für Sonder- und Zusatzrentner in staatsnahen Systemen entfallen zu lassen, so möchte ich Ihnen insoweit zustimmen, daß es hier wirklich zu einigen Pauschalierungen gekommen ist.
Wenn man z. B. die Zusatzversorgungssysteme dertechnischen Intelligenz betrachtet, so muß man sich
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Heinz Rotherdurchaus eingestehen, daß nicht automatisch jeder, der dieser Gruppe angehörte, als systemkonform und systemstabilisierend eingeordnet werden kann.Bei den Zusatzversorgungssystemen sind mir aus meiner Praxis natürlich auch Härtefälle bekannt. Ich denke da z. B. an einen Professor — so wird es weitere Intelligenzler geben —, der mit mir gemeinsam aktiv bei der Wende mitgearbeitet hat, sich also für Besseres eingesetzt hat und nun zum Schluß weniger Rente bekommt. Meinen Sie im Ernst, daß wir an solche Menschen nicht denken, daß wir nicht versuchen, diese Härtefälle zu lösen?
— Im Moment sind uns die Hände gebunden, weil wir die Umsetzung des Renten-Überleitungsgesetzes nicht gefährden wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie dies nicht ganz genau wissen.Nach übereinstimmender Aussage der Rentenversicherungsträger sind diese mit der Umsetzung des neuen Rentenrechts über ihre Kapazitätsgrenze hinaus so belastet, daß jede weitere Änderung zu einem Kollaps führen würde. Ich meine, im Sinne einer möglichst raschen Umsetzung der bisherigen Regelungen sollte man auf wünschenswerte, aber nicht durchführbare Maßnahmen verzichten,Ähnlich gelagert ist der Antrag, den Termin für einen Rechtsanspruch auf Berichtigung der Umwertung gerade für ältere Rentner vorzuziehen. Dies ist ebenfalls wünschenswert, aber praktisch nicht durchführbar. Das Datum 1. Januar 1994 wurde ja nicht einfach aus der Luft gegriffen, vielmehr sollten die Rentenversicherungsträger in die Lage versetzt werden, die Arbeiten, die mit dem Renten-Überleitungsgesetz im Zusammenhang stehen, zunächst einmal zügig durchzuführen. Durch diesen Termin wird nicht ausgeschlossen, daß, soweit Kapazitäten vorhanden sind, bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Überprüfung erfolgen kann. Es nützt uns deshalb wenig, jetzt Daten zu beschließen, die in der Praxis mangels vorhandener Kapazität sowieso nicht eingehalten werden können.Die Forderung nach der Möglichkeit des Nachweises höherer Einkommen auch bei Bestandsrenten ist ebenfalls nicht realistisch, weil dies zu Ungerechtigkeiten gegenüber den Zugangsrentnern führen würde. In Anbetracht der hohen Zahl der Bestandsrenten wurde ein vereinfachtes Umwertungsverfahren durchgeführt. Danach wurden alle Beitragszeiten zum Teil auch durch solche Zeiten anerkannt, die nach dem jetzt geltenden Recht z. B. als Ersatzzeiten niedriger bewertet würden. Somit muß man konsequenterweise auf der anderen Seite auch die Nachteile akzeptieren, daß höhere Einkommen nicht nachgewiesen werden können.Da Sie, meine Damen und Herren von der SPD — das setze ich jetzt voraus —, mit den Menschen an der Basis gut zusammenarbeiten, wissen Sie mit Gewißheit, daß es in den neuen Bundesländern Rentner gibt, deren Rente noch nicht berechnet werden konnte, und zwar einfach auf Grund der Fülle der neuen Aufgaben der Rentenversicherungsträger und der gegebenen Möglichkeiten der technischen Abarbeitung. Da wollen Sie nun schon wieder verändern. Ist Ihnen der dabei zu betreibende Arbeitsaufwand bekannt?
Ich habe das Gefühl, daß Sie nach dem Bau eines guten, stabilen Hauses, welches „Renten-Überleitungsgesetz" heißt, das wir gemeinsam geschaffen und auf das wir gerade die Richtkrone gesetzt haben, schon wieder an den Fundamenten rütteln wollen.
Ich denke, wir sollten gerade auch an dieser Stelle den vielen Handwerkern, die dieses Haus mit errichtet haben — das sind auch die vielen Mitarbeiter der Rentenversicherungsträger — für ihren Fleiß und ihre Einsatzbereitschaft bei der Umsetzung des RentenÜberleitungsgesetzes herzlich danken.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD ruft zu einer Debatte über ihren Antrag zur Mindestsicherung im Alter und zur Änderung des Renten-Überleitungsgesetzes. Zwei Stunden hat man dafür eingeplant. Ich stelle mir vor, es könnte das Unvorstellbare eintreten: Beide Anträge fänden eine Mehrheit. Die SPD müßte tief erschrocken sein. Sie hätte an einem regnerischen Oktobernachmittag eine soziale Revolution veranstaltet, das Rentensystem umgekrempelt, die Rechtssicherheit erschüttert, die Mitarbeiter der Rentenversicherungsanstalten in Verzweiflung gestützt.
Aber die SPD vertraut darauf, daß ihr die Mehrheit in diesem Haus in den Arm fällt und ihre Unvernunft bremst. Sie vertraut darauf, daß ihre Vorschläge — das sind ja alte, vergilbte Vorschläge zur Mindestsicherung, alte Hüte; halb neue zur Rentenüberleitung — keine Chance haben, daß diese Debatte ihr aber die Gelegenheit verschafft, soziale Betroffenheit auszubreiten.
Ich kann nicht verhehlen, daß ich diese Veranstaltung abstoßend finde. Sie verrät Leichtfertigkeit und Überheblichkeit.
Sie können doch nicht im Ernst mit der ehrwürdigen Rentenversicherung so umgehen, die Sie immer mitgetragen und immer mit verantwortet haben. So können Sie auch nicht mit den Rentnern in Deutschland umgehen, denen Sie vorspiegeln, Ihre Vorschläge brächten Verbesserung en, könnten Inflationsraten ausgleichen, könnten Renten ebenso sichern wie steigern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9653
Dr. Gisela BabelUnd das Renten-Überleitungsgesetz? Haben Sie es nicht mit beschlossen? Haben Sie es nicht mit durchschaut? Auf einmal sind alle Entscheidungen, an denen die Betroffenen Anstoß nehmen, nur auf die schlechte Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung bzw. deren Erwecken von falschen Hoffnungen zurückzuführen, nicht aber auf CDU/CSU, auf F.D.P. und eben auch auf SPD, die diesen Konsens hier gefunden haben. Sie verspielen allen Respekt, den Sie sich mit der Politik der Mitverantwortung für die Alterssicherungssysteme erworben haben.
Da ich Ihren sozialpolitischen Sprecher Rudolf Dreßlernicht in Ihren Reihen erblicke, kann ich mir das nur soerklären, daß er von diesen Aktionen nicht viel hält.Es sieht so aus, als stünden Sie nicht mehr hinter Ihren eigenen Beschlüssen. Es sieht so aus, als wären Sie nicht mehr mit von der Partie, als wollten Sie auf einen Kurs der staatlichen Alterssicherung einschwenken: weg von unserer beitragsfinanzierten, eigentumsähnlich geschützten Rentenversicherung.Mühsam, meine Damen und Herren, lernen die Bürger im Osten Deutschlands die Grundsätze wieder kennen, die diese Rentenversicherung auszeichnen: Eigene Beiträge schaffen die eigene Altersvorsorge. Je früher jemand einzahlt, je höher seine Beiträge sind, desto höher fällt später seine Rente aus.
Sie lernen kennen, daß ihre Renten durch Mittel der Sozialhilfe ergänzt werden, wenn das Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Sie lernen kennen, daß die Rente mit ihrer am Wachstum der Wirtschaft anknüpfenden Steigerungsrate leistungsbezogen ist, daß aber keiner, der sich nicht ausreichend selber versorgen kann, durch das Netz fällt, sondern Hilfe bekommt.In diesen mühsamen Lernprozeß fallen Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, mit einem völlig unnötigen und dürftigen Papier über die Mindestsicherung ein, die diese Grundsätze wieder in Frage stellt und Erinnerungen an das alte staatliche Versorgungsystem der ehemaligen DDR weckt.
Im einzelnen: Warum eine Mindestrente, müßte man die SPD fragen, und nicht die Bundesregierung die Frage beantworten lassen, was sie denn gegen eine Mindestsicherung hat, wie in der Kleinen Anfrage des Herrn Abgeordneten Dietmar Matterne vom August 1992. Die einzige Antwort auf diese Frage lautet: Weil das versteckter Armut entgegenwirkt. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf den armen Rentner hingewiesen, der sich schämt, zum Sozialamt zu gehen.
Zu Recht sagt die Bundesregierung, daß sich unser System der Rentenversicherung und der bedarfsgerechten Sozialhilfe bewährt hat. Heute sind Arbeitnehmer der Versuchung der Schattenwirtschaft immer mehr ausgesetzt. Dies gilt vor allem dann, wenn am Wochenende schwarz oft mehr verdient wird,
wenn mehr Geld auf die Hand gegeben wird, als während der ganzen übrigen Woche mit voller Abgabenlast vom Lohn übrigbleibt. Wenn sich die Vorstellung durchsetzt, daß nicht mehr „geklebt" werden muß, dann fallen die Leistungsanreize weg, selber Vorsorge zu treffen, meine Damen und Herren.
Zu Recht sagt die Bundesregierung, daß dann auch alle heute nicht Versicherungspflichtigen zur Vorsorge bei Arbeitslosigkeit, Invalidität und Alter verpflichtet werden müßten. Das ganze gegliederte System verändert sich. Die Mindestsicherung würde Ansprüche von Gastarbeitern im Ausland begründen. Die Verwaltung müßte bei der Rentenversicherung aufgebaut und bei der Sozialhilfe abgebaut werden. Kurz: Mehraufwendungen in Milliardenhöhe wären erforderlich.
Die SPD schweigt beredt darüber, auch darüber, wie diese aufzubringen sind.
Ich meine, die heutige Debatte müßte eindeutig ergeben, daß die Union und der Bundesarbeitsminister mit der F.D.P. diese Vorstellungen ablehnen. Es trägt auch zur Beruhigung der Rentenversicherung bei, wenn dieses Signal gesendet wird. Wir wollen die deutsche Rentenversicherung erhalten. Sie soll lohn- und beitragsbezogen bleiben. Unsere Anstrengungen müssen darauf gerichtet sein, daß möglichst viele — am besten alle — Bürger die notwendige Absicherung durch entsprechende Renten erwerben. Das setzt ein erfülltes Arbeitsleben voraus. Wir hatten heute morgen Gelegenheit, darüber zu reden. Uns muß es vor allem darum gehen, darauf hinzuarbeiten, daß Arbeitsplätze in ausreichender Zahl vorhanden sind und daß große Chancen für alle Bürger bestehen, besonders für Frauen, auch für Behinderte, am Arbeitsleben teilzunehmen und sich eigene Rentenanwartschaften zu erarbeiten.Ich komme nun zum zweiten Punkt, dem Antrag, das Renten-Überleitungsgesetz zu öffnen, um einige Verbesserungen anzubringen.Meine Damen und Herren, ich richte den dringenden Appell an die Kollegen, hier den Geist nicht aus der Flasche zu lassen, das Rentenrecht in Ruhe zu lassen. Bitte machen Sie sich klar und rufen Sie sich in Erinnerung, was Professor Ruland von der Rentenversicherung dazu gesagt hat. Dringend, geradezu flehend hat er die Politik und den Gesetzgeber gebeten,
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9654 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Dr. Gisela Babelnicht mit neuen Regelungen die jetzt und auch morgen noch auf Hochtouren laufende Arbeit in der Rentenversicherung zu stören.
Vordringlich ist die Bearbeitung der Rentenneuzugänge. Ich zitiere wörtlich, was Professor Ruland in seinem Artikel „Rentenüberleitung — erfolgreiche Aufbauarbeit" dazu gesagt hat:Für die Rentenversicherung gäbe es nichts Schlimmeres,
als wenn sie alle Bescheide, die sie in Ostdeutschland erlassen hat, wieder überprüfen müßte, weil sich zwischenzeitlich das Recht geändert hat . . . Die Bewilligung von Renten muß Vorrang vor der Korrektur von Rentenbescheiden haben.Wir sollten klug sein und dem folgen.
Nun will ich noch zu den einzelnen Änderungsvorschlägen Stellung nehmen. Es sind im übrigen die Vorstellungen, die Sie bereits damals, zu Beginn unserer Verhandlungen über das Renten-Überleitungsgesetz, vorgebracht haben
und bei denen wir uns schließlich auf das geeinigt haben, was heute Gesetz ist.
Änderung beim Sozialzuschlag: Da wollen Sie eine Anhebung von 960 DM auf 1 200 DM. Auch dies würde alles wieder neu aufrollen.Die Sonder- und Zusatzrenten sollten nach Ihrer Auffassung nicht von 1,4 Entgeltpunkten auf 1,0 Entgeltpunkte gesenkt werden. Ich sage Ihnen: Mit der SPD haben wir auch diese Position vertreten. Wir wissen, daß die Senkung der Zusatzversorgungsrenten eine Härte bedeutet. Dennoch stehen wir heute hinter den gefundenen Regelungen, und zwar auf Grund der Erkenntnis, daß wir die Rentenversicherung im Moment nicht öffnen können.Ich nenne weitere Änderungspunkte: Überprüfung der Bestandsrenten, der freiwilligen Zusatzrenten; Überprüfung der vorläufigen Umwertung; Nachweis höheren Einkommens bei Bestandsrenten; Berücksichtigung freiwilliger Beiträge. All dies ist an sich wünschenswert — der Kollege Rother hat das sehr ausführlich dargelegt —, aber für uns kann es nicht in Frage kommen, die Arbeit der Rentenversicherung damit zu stören.Bei einem einzigen Punkt, bei Punkt 7, haben Sie recht.
Frau Abgeordnete Babel, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Nein, ich komme jetzt gerade zu Punkt 7, den betrieblichen Versorgungssystemen bei der Firma Zeiss. Hier hat die heutige Debatte sicher auch zum Ziel, Druck auszuüben, den ich mit Ihnen verstärken möchte.
Es hat sich erwiesen, daß wir die Zeiss-Stiftung mit ihrer betrieblichen Altersversorgung tatsächlich übersehen haben. Ich finde das erstaunlich und muß die Kollegen der SPD daran erinnern, daß auch sie offensichtlich keine Kenntnis davon haben; denn sonst hätten sie das gesagt.
Wir alle müssen uns vorwerfen lassen, daß uns dies durch das Raster gefallen ist. Wir haben daher heute die Situation, daß die Arbeitnehmer bei den ZeissWerken, die auf eine Bestandsrente heruntergeführt werden, keinerlei Versorgung aus ihrer betrieblichen Rente haben. Das kann nicht angehen!
Insofern bin ich mit der SPD und, so glaube ich, mit den Kollegen von der Union und hoffentlich auch mit dem Bundesarbeitsminister der Meinung, daß wir bei dieser Frage sehr schnell zu einer einvernehmlichen Lösung finden müssen. Davor allerdings, das RentenÜberleitungsgesetz — unter Anhörung aller Verbände sowie unter Berücksichtigung der Wünsche aller Betroffenen — erneut anzugehen, warne ich entschieden. Ich hielte es für besser, es fiele uns ein Weg ein, der es uns möglich macht, die entsprechende Überführung in ein Rentensystem zu schaffen, ohne daß wir in dieser Frage formell ein neues Gesetzesverfahren einleiten müssen. Aber wenn kein anderer Weg übrig bleibt, dann ist die F.D.P. bereit, mitzumachen. Wir sind aber nicht zu einer neuen Diskussion über das Renten-Überleitungsgesetz bereit.
Vielen Dank.
Ich erteile nun der Abgeordneten Frau Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der jüngsten Aussagen der Bundesregierung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, wonach sie im Einvernehmen mit den Rentenversicherungsträgern keinen gesetzgeberischen Änderungsbedarf beim Renten-Überleitungsgesetz sieht, unterstützen wir den Antrag der SPD auf eine Korrektur. Viele Punkte Ihres Antrags sind eine zu begrüßende Ablehnung der eigenen ursprünglichen Zugeständnisse. Wir unterstützen folgende diesbezügliche Forderungen: das Vorziehen des Rechtsanspruchs auf Überprüfung auf den 1. Januar 1993; den Nachweis höheren Einkommens auch bei Bestandsrenten oder die Aufnahme von Betriebsversorgungssystemen in den Katalog der zu überführenden Zusatzversorgungssysteme.Vieles davon sprachen Sie vor Jahresfrist im Ausschuß an; doch die Aufgabe dieser Position im verabschiedeten Kompromiß des Renten-Überleitungsge-
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Petra Blässsetzes nimmt Sie mit in die Verantwortung für die sich jetzt zeigenden praktischen Wirkungen dieses Gesetzes. Gerade deshalb kann ich Ihren Vorschlag zur Korrektur der „systemnahen" Versorgungssysteme — ich meine die Art und Weise — nicht verstehen. Wenn Sie vorschlagen, den sogenannten Fallbeileffekt des Abhackens auf 1,0 Entgeltpunkte bei der 1,4-Überschreitungsprüfung für die sogenannten staatsnahen Systeme wegzulassen, dafür die Entgeltpunkt-Anerkennung bei der 1,4-Marke „einzufrieren", und wenn Sie weiterhin vorschlagen, den „Ausnahmekatalog" für diese Behandlung zu erweitern, weil „vielfach Personen von der Entgeltpunkt-Kappung betroffen sind, denen keine ,Systemträgerschaft' vorgeworfen werden kann", so wollen Sie das Gesetz lediglich entschärfen und nicht den Mißbrauch von Sozialrecht als politisches Strafrecht endlich abschaffen.Wir beharren auf unserem Standpunkt, diesen Mißbrauch des Gesetzes für zweifelhafte politische Ziele völlig zu beseitigen, wie wir das auch in unserem Antrag zur Erarbeitung eines neuen Rentenrechts kundgetan haben, der am 20. Mai dieses Jahres — vom Protest Tausender auf dem Berliner Alex begleitet — im Reichstag diskutiert und in die Ausschüsse überwiesen wurde.Unseres Erachtens ist die ganze Entstehung und weitere Behandlung des Renten-Überleitungsgesetzes ein beredtes Zeugnis für den Zustand der Demokratie in diesem Land. Wenn in der Problemstellung für das Renten-Überleitungsgesetz z. B. explizit vermerkt ist, daß die Maßgaben des Einigungsvertrages zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die Rentenversicherung nicht eingehalten werden könnten, weil sie „weder zu sachgerechten noch zu sozialpolitisch vertretbaren Ergebnissen führen" würden, andererseits der bereits erwähnte Bericht der Bundesregierung damit beginnt, daß „entsprechend den Vorgaben des Einigungsvertrages das Rentenrecht" der alten Bundesländer auf die neuen Bundesländer übergeführt wurde, so muß es doch Möglichkeiten geben, diesen Widerspruch überprüfen zu dürfen.Wie sieht es mit diesen Möglichkeiten aus? Die Rentenversicherungsträger beschwören uns Abgeordnete nahezu, Rechtskontinuität zu bewahren, und zeichnen Horror-Visionen des Umschlagens der jetzigen enormen verwaltungstechnischen Belastungen in ein Verwaltungschaos. Also nicht nur der politische Unwille, sondern auch die Drohgebärden der Versicherungsbeamten werden hier im Parlament eine Veränderung der Regelungen verhindern.Der Weg der Verfassungsbeschwerde ist sowieso schon dornenreich; nun hat sich das Bundesverfassungsgericht zur Entlastung noch Wege eröffnet, mit Sanktionen Beschwerden nicht zur Entscheidung anzunehmen, denen es von vornherein keine verfassungsrechtliche Bedeutung beimißt. Die von über 20 Verbänden organisierten und von Hunderten Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern im Juli eingebrachten Klagen sollten damit bzw. mit der Begründung über die Nichteinhaltung des Gerichtsweges formell abgewimmelt werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns hier im Parlament zur tatsächlichen Überwindung der Unzulänglichkeiten des Renten-Überleitungsgesetzes wieder gesetzgeberisch tätig werden. Bewahren wir die Verwaltungen und Gerichte vor der Klageflut, schaffen wir damit dort Raum für unvermeidbare Rechtsstreitigkeiten.Und denken Sie bitte nicht zuletzt an die Psyche der älteren Bürgerinnen und Bürger! Wie viele zerbrechen an dieser Behandlung. Es sind durchaus nicht nur — wie jüngst im Ausschuß der Vertreter der Rentenversicherungsträger sagte — die Leute der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, die meutern. Viele Rentnerinnen und Rentner finden sich nicht mehr zurecht. Da fielen per 1. Januar 1992 einfach Sozial- und Kinderzuschläge, Blinden- und Pflegegelder weg. Man verfuhr wohl nach dem Grundsatz: Die Rentnerinnen und Rentner haben genug Zeit; sollen sie sich gefälligst selber durch den Gesetzes-Dschungel quälen, wenn sie vom Staat noch etwas haben wollen. Natürlich weiß auch ich, daß manch eine bzw. einer noch Anspruch auf diese Leistungen aus anderen „Töpfen" hat; doch wie viele beantragen aus Unkenntnis nicht. Da helfen auch Ihre beliebten Aufklärungskampagnen nichts, Herr Blüm. Da hilft meines Erachtens nur eine radikale Verringerung der Bürokratie.Handlungsbedarf zur Korrektur in der Rentenüberführung gibt es auf einem weiteren Gebiet. In Vorbereitung der „Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung" wurden durch den Einigungsvertrag bestehende Unfallrenten der DDR den sich bildenden Berufsgenossenschaften zugeordnet. Der Anteil dieser alten Rentenlasten ist mittlerweile höher als der in den Berufsgenossenschaften der alten Bundesländer und stellt viele der neu entstandenen Berufsgenossenschaften vor Zahlungsschwierigkeiten. Dies ist aber nicht lediglich ein Problem der knappen Kapitaldecke der Berufsgenossenschaften in ihrer Gründungsphase, worin das Bundessozialministerium die Ursache sieht und das Problem weitgehend negiert. Die Ursache liegt unseres Erachtens darin begründet, daß sich laut Einigungsvertrag der „Verteilerschlüssel" der Fälle nach dem „Durchschnitt der Anteile aus dem der Beitragsberechnung zugrunde gelegten Entgelt des Jahres 1989" richtete; damit sind die Probleme vorprogrammiert.Betrachten wir z. B. die Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften: Diesen wurden auf dieser Basis 8,5 % der alten Rentenfälle der gesetzlichen Unfallversicherung der DDR zugewiesen. Mit dem seit 1989 erfolgten Arbeitskräfteabbau in der Landwirtschaft um 75 % wird die „Decke" der Einzahler natürlich immer dünner. Mir wurde ein Beispiel aus einem Marktfruchtbetrieb bekannt, in dem jetzt allein der Unfallversicherungsbeitrag rund 7 000 DM je Arbeitskraft ausmacht. Viele Landwirte und Unternehmen sind nicht in der Lage, ihre Beiträge zu zahlen. So gingen in der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft Berlin nahezu 18 000 Widersprüche gegen Beitragsbescheide und — damit verbunden — viele Stundungsanträge ein.
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9656 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Petra BlässWir schlagen vor, den im Einigungsvertrag vorgesehenen Ausgleich, der wohlweislich bereits einkalkuliert wurde, von 1994 auf 1993 vorzuziehen und nötigenfalls einen Bundeszuschuß zu gewähren. Der Verteilerschlüssel sollte entsprechend der veränderten Wirtschaftsstruktur überprüft werden.Meine Damen und Herren, wir unterstützen den SPD-Antrag für eine „soziale Grundsicherung im Alter und bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit". Allerdings meinen wir, daß es sich bei Ihren Vorschlägen mehr um eine Grundsockelung als um eine Grundsicherung handelt. Sie nennen zwar keine Höhe, aber die Bemerkung, daß der Sozialzuschlag der Betroffenen in den neuen Bundesländern in diese Grundsicherung überführt werden müsse, läßt befürchten, daß Ihr Orientierungspunkt nur wenig über dem Sozialhilfeniveau liegen könnte. Dennoch würden wir uns freuen, wenn eine vorwärts gerichtete Diskussion endlich auch parlamentarisch beginnen könnte, um die unhaltbaren Zustände von — vor allem weiblicher — Altersarmut und den entwürdigenden Gang zum Sozialamt zu beenden.
Solange Rentenansprüche vorrangig nur über die Erwerbsarbeit zu erreichen sind und andere gesellschaftlich notwendige Arbeiten nicht anerkannt oder unterbewertet werden — also nicht, wie beispielsweise in unserem Pflege-Assistenz-Gesetz, leistungsgerecht entlohnt und beitragserbringend sind —, solange wir also eine lohnarbeitszentrierte Sozialpolitik haben, sind für Grundsicherungen Hilfskonstruktionen notwendig. Wir meinen aber, daß auch durch eine solche Hilfskonstruktion bei einer „normalen Vita" von Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit — wie Kindererziehung und Pflege —, also aus Beitragszeiten plus ihnen gleichgestellten rentenrechtlichen Zeiten, eine Rente von annähernd der Hälfte des aktuellen durchschnittlichen Einkommens aller Beschäftigten erreichbar sein muß. Daher sehen wir Ihren Vorschlag als Grundsockelung an, als einen ersten zuzustimmenden Schritt zu einer viel weitergehenden Grundsicherung. Eine solche Grundsicherung muß faktisch eine grundlegende Ausgestaltung und Ergänzung des gesamten Systems der sozialen Sicherung umfassen.Die PDS/Linke Liste arbeitet an einem Gesetzentwurf, der von der Schaffung, Umverteilung und Neubewertung von Arbeit zu einer tatsächlichen Sicherung bei Arbeitslosigkeit, bei Arbeitsunfähigkeit und im Alter sowie von Kindern, Auszubildenden, Studentinnen und Studenten führt und die Sozialhilfe nur noch für einzelne wenige „unkalkulierbare Wechselfälle" des Lebens erforderlich macht, so daß sie de facto überflüssig ist.Wir werden uns an den Diskussionen über den SPD-Antrag gern beteiligen, weil er einen für einen Sozialstaat unhaltbaren Zustand wie die Altersarmut zu mildern versucht.Ich danke.
Das Wort
hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Blauer Himmel, eine kühle Brise, ein sonnengebräuntes, nach dem letzten Trend der Sommermode gekleidetes Seniorenpaar auf großer Fahrt. Der Text neben dem Hochglanz bestätigt es — ich zitiere —: „Der Lebensstandard langjähriger Beitragszahler ist auch in Zukunft durch die Rente gesichert."So stellt sich das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung allen Ernstes den Rentner vor, der in den Genuß der Regelungen des Renten-Überleitungsgesetzes gekommen ist. Wer in seinem Wahlkreis Bürgersprechstunde hält, wird mit einer ganz anderen Realität konfrontiert: Da kommen meist einzelne Seniorinnen und Senioren, die das genaue Gegenteil jener Glanzpapieridylle repräsentieren. Die einen sprechen das eine um das andere Mal bei mir vor, weil sie nach Monaten noch keine Mark und keinen Pfennig Rente bekommen. Auf Anfrage erklären die zuständigen Stellen, die Bearbeitungsfristen seien durchaus normal;
wenn das Geld weiter ausbleibe, sollten die Betroffenen doch zur Sozialhilfe gehen.Es kommen andere, die viel von der nächsten Rentenerhöhung gehört haben und nicht verstehen können, wieso es eine Erhöhung sein soll, wenn sie beträchtlich weniger als zuvor bekommen.Es erscheinen schließlich alle jene Intellektuellen aus Schulen, Hochschulen, aus den verschiedenen Bereichen der Kultur, die auch dann, wenn auf sie die ominöse Kategorie der „Systemnähe" nicht zutrifft, in der Situation sind, daß ein ehemaliger Schulhausmeister mehr Rente bekommt als sein Direktor, obwohl es bei Pfarrern, die ja schließlich auch in der alten DDR gearbeitet haben ich weiß nicht, wie „systemnah" —, völlig anders ist.Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. Spricht mich doch unlängst in Stollberg, Erzgebirge, ein ehemaliger Wismut-Bergarbeiter an mit dem Wunsch, mir zu danken, weil es ihm noch nie so gut gegangen sei wie jetzt. Ich habe den Dank angenommen im Wissen darum, daß er dem ganzen Parlament, auch dem Bundesminister, seinen Mitarbeitern und natürlich auch den Mitarbeitern der Rentenversicherungsträger gilt
und daß es gewiß noch mehr Leute gibt, die das gleiche sagen könnten und auch sagen.Aber, meine Damen und Herren, gibt uns dies das Recht, allein auf diese Zufriedenheit zu schauen und zu meinen, der Rest — das seien eben die beklagenswerten Ausnahmen und im übrigen alles Einzelfälle? Denn es darf ja nicht übersehen werden: Die auf immer wieder verschobene Zahltermine Vertrösteten, die, deren Renten erst einmal gekürzt wurden, die der Zorn ergreift, wenn sie sich mit ihren westdeutschen verbeamteten Kollegen vergleichen — sie alle
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Dr. Wolfgang Ullmannmessen sich nicht mehr an den Standards des Renten- und Preisniveaus der früheren DDR. Sie messen sich vielmehr an jenem Werbefoto, Herr Blüm, das das Bundesministerium ihnen vorhält und das ganz genauso ausschaut wie all jene Stromlinienförmigen, die von allen Werbewänden herablächeln. Wie sollen sie, denen nicht mehr viel Zeit zum Leben und Erleben bleibt, mit den sie quälenden Ungerechtigkeiten fertigwerden? Auf diese Frage müssen wir als Gesetzgeber antworten, und wir sollten es im Interesse der Hochbejahrten schnell tun.Die beiden SPD-Anträge weisen den richtigen Weg; besonders letzterer greift einige der wesentlichsten Beschwernisse auf. So wird der Bedarfssatz für die Sozialzuschlagsberechnung für Bestandsrenten per 31. Dezember 1991 von 960 DM auf 1200 DM angehoben, d. h. Wiederaufnahme der bis 31. Dezember 1991 gültigen Regelung, deren Abschaffung per 1. Januar 1992 eine der Hauptquellen für Rentenminderungen ist.Eine wesentliche Abhilfe liegt in dem Vorschlag, die Entgeltpunktreduktionvon 1,4 auf 1,0 bei Überschreitung jener Obergrenze im Falle sogenannter staats- bzw. systemnaher Beschäftigter in einem erweiterten Kreis Betroffener entfallen zu lassen.Von höchster Dringlichkeit aber ist die vorgeschlagene Vorziehung der differenzierten Überprüfung von bestimmten DDR-Rentengruppen, die wegen ihrer Inkompatibilität mit dem System des VI. Buchs Sozialgesetzbuch falsch oder gar nicht berücksichtigt oder — wie das im Falle der sogenannten Betriebsrenten geschehen ist — schlicht ignoriert bzw. vergessen wurden.Wir begrüßen alle diese Vorschläge und werden in der Ausschußarbeit alles tun, um ihre bestmögliche und schnelle Realisierung sicherzustellen. Es sind erste Schritte in das sozialpolitische Neuland der neu vereinigten Bundesländer.Es sollte freilich nicht übersehen werden, daß gerade von seiten der Rentnerverbände, auch aus den westlichen Bundesländern, die Forderung erhoben wurde, die Sozialzuschlagsregelung auch auf sie anzuwenden, um auch hier der Sozialhilfeabhängigkeit im Alter entgegenzuwirken. Das weist in die Richtung des SPD-Antrages vom 4. Mai 1992, der eine „soziale Grundsicherung im Alter und bei Berufsoder Erwerbsunfähigkeit" fordert. Wir begrüßen das, können aber nicht umhin, festzustellen, daß der Entwurf Fragen herausfordert, die weiterer Diskussion bedürfen, so z. B. die Frage, ob der Grundbedarf am Sozialhilfesatz orientiert werden soll. Ist es sehr einleuchtend, außerhalb des Hauses lebende Kinder noch per Gesetz von allen Unterstützungspflichten zu befreien? Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird demnächst einen Gesetzentwurf zur Grundsicherung einbringen, der hoffentlich zur wechselseitigen Optimierung der ergriffenen Initiativen beitragen kann.Im Blick auf die Rentner in der ehemaligen DDR aber drängt sich eine Herausforderung auf, die nicht nur von sozialpolitischer, sondern von politischer, ja nationaler Dringlichkeit ist. Die durch den SPD-Entwurf thematisierten Probleme der völlig heterogenen Erwerbsbiographien, vor allem der Nichtbeamten im Bereich der alten DDR, die gesamtdeutsche Aufgabe einer eigenständigen Altersversorgung für Frauen — all das weist in die Richtung eines umfassenden Chancenausgleichs, ohne den die Gerechtigkeitsdefizite des deutschen Vereinigungsprozesses nicht geheilt werden können. Ich scheue mich nicht, es zu wiederholen: Die Teilung war die einschneidenste aller Kriegsfolgen. Wir haben vor uns die umfassendste Aufgabe aller Lastenausgleiche nach 1945: den Ausgleich der Teilungsfolgelasten, auch im Rentenrecht, aber nicht nur in ihm.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Günther Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einige Worte an Herrn Rother und an Frau Dr. Babel. Ich habe das Gefühl, Ihnen oder Ihren Referenten ist die Hör- oder Lesefähigkeit abhanden gekommen.Ich kann mir nicht vorstellen, daß eine intelligente Frau wie Sie, Frau Dr. Babel, davon spricht, daß wir die soziale Versicherung durch eine soziale Revolution umkrempeln wollen, wenn wir ganz deutlich sagen, daß wir zugunsten der Ärmsten der Armen dieses System ergänzen wollen. Da gehen Sie doch an den Tatsachen und an unseren Anträgen vorbei!Dann sagen Sie, Frau Dr. Babel, diese Veranstaltung sei abstoßend und von Leichtfertigkeit gekennzeichnet. Ich weiß nicht, wen Sie damit eigentlich kritisieren: den Deutschen Bundestag, der sich auf Antrag der SPD mit Fehlern in der Rentenüberleitung beschäftigt? Ist das abstoßend, ist das leichtfertig? Oder kritisieren Sie die Sozialdemokraten, die diese Dinge hier zur Sprache bringen?Was heißt, wir legten „dürftige Papiere" vor? — Von Ihnen sehen wir keine.Was heißt, sozialdemokratische Vorstellungen zur Ergänzung unseres beitragsfinanzierten Systems, das wir beibehalten wollen, führten zu staatlichen Versorgungssystemen à la DDR? Der Bundesarbeitsminister hat es längst aufgegeben, so etwas zu sagen, weil er weiß, daß er, wenn er hier z. B. zur Gesundheitsreform spricht und den Sozialdemokraten die Schaffung von Gesundheitssowjets vorschlägt, wie er das vor der Wende getan hat, das hinterher sehr bedauert und sich dann durch seinen Nachfolger im Gesundheitswesen, Herrn Seehofer, korrigieren lassen muß.Frau Dr. Babel, um Worte von Ihnen zu gebrauchen: Für mich haben Sie mit Ihren Ausführungen heute sehr viel Respekt vor dem Parlament und vor den armen, den bedürftigen Menschen in der Republik verspielt.
Meine Damen und Herren, ich finde es gut, daß wir hier über beide Anträge der SPD zusammen beraten — nicht weil die Einführung einer sozialen Grundsi-
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9658 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Günther Heyenncherung vorrangig ein Problem für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern wäre.Die Grundsicherung ist — das sage ich auch an Frau Dr. Babel gerichtet — ein Instrument zur vorbeugenden Bekämpfung der Armut. Armut droht nicht nur vielen Menschen in den neuen Ländern, sondern sie ist auch schon in den alten Bundesländern seit langem bittere Realität.Die gemeinsame Beratung beider Anträge hat Sinn, weil nach dem Renten-Überleitungsgesetz mit den Sozialzuschlägen zumindest in den neuen Bundesländern in ersten Ansätzen bereits das vorhanden ist, was wir Sozialdemokraten mit einer Grundsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger in Ost und West schaffen wollen. Es geht um die Bekämpfung von Armut, vor allem um die Bekämpfung der verdeckten Armut.Das, was von den einen verdeckte Armut und von anderen verschämte Armut genannt wird, ist Realität in diesem Lande. Es ist ebenso Realität, wie Armut generell ausgeklammert, verdrängt und offiziell nicht wahrgenommen wird. Das haben wir von der CDU und der F.D.P. hier gehört.6 Millionen Menschen, so sagen uns die Verbände, leben schon in den alten Ländern in Armut. Ein Drittel aller hier lebenden Menschen — so der über jede Schwarzmalerei oder ideologische Einseitigkeit erhabene Caritas-Verband — ist von Armut bedroht, und das in einem wirtschaftlich nach wie vor starken Land.Wer bereit ist, dies tatenlos hinzunehmen, wer vorsätzlich oder fahrlässig eine Politik zu verantworten hat, die uns immer näher in die hier nicht selten besprochene Zweidrittelgesellschaft führt, der hat, vorsichtig formuliert, ein gestörtes Verhältnis zum Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.
Wir Sozialdemokraten stehen auch in diesem Punkt zu unserer Verfassung. Wir wollen Armut aktiv bekämpfen und der darin begründeten Hoffnungslosigkeit entgegenwirken, und zwar durch eine Politik, die Arbeit schafft und Arbeitslosigkeit beseitigt, die Wohnraum in ausreichendem Maß zu bezahlbaren Mieten bereitstellt, die den Familien ein Leben oberhalb des Existenzminimums ermöglicht und die durch eine Ergänzung unseres vorhandenen Systems der sozialen Sicherung zu einer sozialen und bedarfsorientierten Grundsicherung führt.Es geht dabei - es ist wichtig, sich das klarzumachen — darum — ich wiederhole das —, unser im Prinzip bewährtes beitragsfinanziertes System der Sozialversicherung zu ergänzen. Das hätte man, Frau Dr. Babel, lesen können. Unser Vorschlag zu einer erstens bedarfsorientierten und zweitens sozialen Grundsicherung hat nichts, rein gar nichts mit einem Grundeinkommen oder mit Vorschlägen in Richtung eines steuerfinanzierten einheitlichen Mindesteinkommens zu tun.
Wir wollen an der richtigen Anbindung von Arbeit und Einkommen festhalten und nicht durch eine Entkoppelung von beiden die Gesellschaft weiterspalten und aus der Arbeitsgesellschaft aussteigen. Wir wollen unser beitragsorientiertes System ergänzen — auch das konnte man lesen — und der Tendenz zur Verarmung durch eine Integration der Grundsicherung entgegenwirken, und zwar in den neuen und in den alten Ländern, in den neuen Ländern jetzt durch eine Erhöhung der wichtigen und richtigen Sozialzuschläge, in der gesamten Republik durch Einführung einer sozialen Grundsicherung, in die dann der Sozialzuschlag bzw. die Regelungen dafür zu integrieren sind.Wenn wir den Sozialzuschlag anheben wollen, dann deshalb, weil die Menschen in den neuen Ländern dessen bedürfen. Wenn es um Menschen geht, lassen wir es uns nicht gefallen, daß Verwaltungen, so effizient sie auch sein mögen, sagen, sie könnten diese Dinge zugunsten der Menschen nicht erledigen.
Wir wollen bei den Rentnern und der Rentenversicherung mit der Grundsicherung anfangen. Das sind zwar nicht die einzigen, die von Armut bedroht oder betroffen sind; aber ich erinnere an die Rentenerhöhung von 2,71 % in den alten Ländern in diesem Jahr. Das war nicht die Folge der gemeinsamen und nach wie vor richtigen Rentenreform des Jahres 1989, sondern das war in erster Linie die Konsequenz der Tatsache, daß die Kosten der Einheit in dieser Republik überwiegend von Arbeitnehmern und in deren Gefolge dann von Rentnern getragen werden. Das war die Folge des Solidaritätszuschlags zur Lohnsteuer, und das war die Folge der sehr hohen Arbeitslosenversicherungsbeiträge.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ulrich Heinrich zu beantworten?
Weil Sie es nicht auf meine Redezeit anrechnen: gern.
Ja.
Herr Kollege Heyenn, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß Sie bei der Unterstellung, die Sie gerade gemacht haben, uns sei Armut gleichgültig, nicht berücksichtigt haben, daß wir die Armut in einer anderen Form bekämpfen, nämlich nicht über eine Grundsicherung, sondern über Sozialhilfe, über Wohngeld etc.? Hier gibt es unterschiedliche Systeme. Aber Ihre Unterstellung, die Armut lasse uns gleichgültig, kann doch nicht so stehen bleiben.
Ich will Ihnen gern antworten. Wenn Ihre Sprecherin einer Partei, die sich darum bemüht, einen Ausweg aus verdeckter und verschämter Armut zu finden, die dem jetzigen System, das Sie ja begrüßen, zweifelsohne innewohnt, vorwirft, dieses Bemühen sei eine abstoßende Veranstaltung, dann habe ich wirklich Zweifel, ob die Aussage, die Ihrer Frage zugrunde liegt, der Wahrheit entspricht.Wir wollen in einem ersten Schritt erreichen, daß die von den Rentenversicherungsträgern auf Grund
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Günther Heyennerworbener Ansprüche gezahlten Renten so aufgestockt werden, daß der notwendige Grundbedarf abgedeckt und der Gang zum Sozialamt erspart bleibt.Wenn man genau hinschaut und redlich argumentiert, dann erkennt man, daß diese Forderung nichts mit Leistungsausdehnung oder neuen Wohltaten zu tun hat. Was wir wollen, ist nämlich nichts anderes, als daß den Menschen das an Leistungen gewährt wird, worauf sie Anspruch haben, das sie aber vielfach — ich habe darauf hingewiesen — aus Scham, aus Angst oder aus Unkenntnis nicht in Anspruch nehmen. Wir wollen ihnen den Gang zum Sozialamt ersparen und ihnen damit auch eine Freiheit nehmen, nämlich die Freiheit, auf Ansprüche zu verzichten.
Wir erhoffen uns davon, daß die in verschämter Armut am Rand unserer Gesellschaft lebenden Menschen aus ihrem Randdasein herausgeholt werden und daß wir die Sozialhilfe damit gleichzeitig wieder in die Lage versetzen, ihren eigentlichen Aufgaben gerecht zu werden, nämlich Hilfe in besonderen Lebenslagen zu gewähren.
Wenn hier von seiten der F.D.P. dazwischengerufen wird, das sei eine ganz gewaltige Umschichtung, dann habe ich die anderslautenden Worte von Frau Dr. Babel im Ohr, daß die Zahl der armen Frauen und Manner, die über 65 Jahre alt sind und die Sozialhilfe in Anspruch nehmen, kontinuierlich abnimmt. Sie sollten sich einmal darauf einigen, was Sie hier sagen.Lassen Sie mich ein letztes sagen - das ist füruns selbstverständlich —: Die Finanzierung dieser Grundsicherung kann im Fall ihrer Einführung den Beitragszahlern nicht aufgebürdet werden. Der Kampf gegen die Armut ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die aus Steuermitteln zu finanzieren ist. Dabei ist eine Grundsicherung nicht völlig zum Nulltarif zu haben.Es gibt im übrigen erhebliche Einsparungen bei der Sozialhilfe. Wir wissen zwar — wir haben erst heute mit der Novelle zum AFG ein eindrucksvolles Beispiel dafür erlebt —, zu welch wirklich unsinnigen sogenannten Sparmaßnahmen die Koalition zu Lasten der Arbeitslosen bereit ist. Dies ändert aber nichts daran, daß die Menschen in unserer Republik einen Anspruch auf ein Leben oberhalb des Existenzminimums und damit auf ein Einkommen haben, das nicht nur ihr physisches Überleben, sondern auch eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben inmitten unserer Gesellschaft ermöglicht. Zynismus von seiten der F.D.P. und der CDU ist dieser Problematik wirklich nicht angemessen.Vielen Dank für das Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Volker Kauder.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Ich glaube, daß die Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion die Einlassungen von Frau Kollegin Babel etwas mißverstanden haben. Ich meine, wir sollten nicht eine unnötige Schärfe in diese Auseinandersetzung hineinbringen. Wir kennen unsere Kollegin Babel, und wir wissen, daß sie manchmal etwas salopp und auch pointiert formuliert. Aber ich habe noch nie den Eindruck gehabt, daß sie andere verletzen will. Deswegen, sollten wir es so stehen lassen und so nehmen.
— Herr Kollege Schreiner, wenn es darum geht, wer wen verletzt, haben Sie mich bisher noch nicht geschont. Ich muß sagen, ich bin nicht wehleidig. Allerdings muß ich zugeben: Die Aufgabe eines Generalsekretärs, die ich auch noch habe, ist zudem nicht vergnügungssteuerpflichtig. Deswegen müssen wir da eine gewisse Leidenstoleranz mitbringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD legt heute zwei Anträge vor und will damit den Anschein erwecken, als ob es um zwei ganz neue Sachverhalte gehe: zum einen um eine Grundsicherung und zum anderen um eine Änderung des RentenÜberleitungsgesetzes. In beiden Fällen handelt es sich aber um schon seit langem Bekanntes. Das gilt zumindest für die Grundsicherung.Bei dem Renten-Überleitungsgesetz geht es nicht, wie Sie, Herr Kollege Schreiner, vorhin formuliert haben, darum, Übersehenes zu korrigieren. Wir haben es hier mit Tatbeständen zu tun — daran haben Sie mitgewirkt; dies sei auch anerkannt —, von denen wir schon bei der Verabschiedung des Renten-Überleitungsgesetzes zumindest dem Grunde nach gewußt haben. Deswegen dürfen wir jetzt nicht den Eindruck erwecken, als ob uns da mordsmäßige Pannen passiert seien, die es nun zu korrigieren gilt. Zu beiden Punkten will ich nachher noch etwas sagen.Herr Kollege Heyenn, Sie haben nicht nur heute Ihre Vorstellungen zu einer Grundsicherung in Umrissen dargelegt, die vom Grundsatz her nicht neu sind.Neu ist allerdings, daß Sie in einem Beitrag in der „Sozialen Sicherheit" ein Gesamtkonzept vorgelegt haben und uns in Ihrem Antrag etwas verschwiegen haben, was Sie am Schluß Ihres Beitrags formuliert haben, daß Sie nämlich das Anliegen einer sozialen Grundsicherung, das Sie nun schon seit vielen, vielen Jahren auch hier in Debatten im Deutschen Bundestag bei allen möglichen Anlässen, durchzubekommen versuchen, nun in einer Strategie verwirklichen wollen.Sie schreiben am Ende Ihres Artikels in der „Sozialen Sicherheit", es werde sehr schwer sein, eine Mehrheit dafür zu bekommen. Ich prophezeie Ihnen, daß nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch
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9660 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Volker Kauderin der Bevölkerung eine Mehrheit dafür nur sehr schwer zu erreichen sein wird.Sie sagen, wir müssen das Ganze eben scheibchenweise machen, und jetzt wollen wir diese Chance nutzen und anfangen. Ich hätte es als richtig empfunden, wenn Sie in Ihrem Antrag gesagt hätten, das, was Sie jetzt formulieren, soll der Einstieg in etwas ganz anderes sein, so wie Sie es in Ihrem Zeitschriftenbeitrag dargestellt haben. Ich habe ja Gelegenheit, darauf noch einmal einzugehen.Nun zu Ihrem System der sozialen Grundsicherung. Ich will mich nur mit einigen wenigen Punkten inhaltlich auseinandersetzen.Ihr System der sozialen Grundsicherung basiert zunächst darauf, daß es noch genügend Menschen gibt, die diese soziale Grundsicherung erwirtschaften. Sie sagen, Sie wollten diese soziale Grundsicherung nicht als ein Mindesteinkommen konzipieren. Aber Sie wollen sie auf bestehende Systeme aufsatteln. Wenn Sie nun formulieren, Sie wollten eine soziale Grundsicherung, dann muß ich Ihnen die Folgen aufzeigen.Ich gehe davon aus, daß sie etwa in der Höhe der Sozialhilfe liegen wird. Wenn wir wissen, daß wir für eine Rente von etwa 1 000 DM 17 Jahre arbeiten müssen, dann kann ich mir durchaus vorstellen, daß eine soziale Grundsicherung in dieser Größenordnung auch wenn Sie es nun gar nicht ganz bewußt so formulieren und wollen — den einen oder anderen, sehr vorsichtig ausgedrückt, doch dazu bringen könnte, zu sagen: Mit diesen 1 000 DM als Rente lebe ich wohl. So wird er, auch wenn Sie es nicht wollen, auf jeden Fall tendenziell aus dem Arbeitsmarkt herausgetrieben. Dies ist ein Punkt, der mich ganz massiv daran zweifeln läßt, ob eine solche Haltung in unserer Bevölkerung überhaupt noch akzeptiert wird.Ich meine, unser Rentenversicherungssystem ist ein System, das leistungsgerecht funktioniert. Für seine hohe Akzeptanz in unserer Bevölkerung sind zwei Umstände entscheidend.Entscheidend ist erstens, daß die Menschen nicht nur den Eindruck haben, sondern wissen, daß es bei der Rente gerecht zugeht. Sie können überschauen, wie das Ganze funktioniert, welche Rente sie bekommen. Sie sind nicht abhängig von irgendwelchen willkürlichen politischen Entscheidungen. Rente ist kein Geschenk des Staates, sondern sie ist erwirtschaftet und verdient. Sie basiert auf dieser Sicherheit.Entscheidend ist zweitens — das ist ganz entscheidend , daß die Leute das System akzeptieren, daß sie wissen und den Eindruck haben: Jeder bekommt das, was er sich verdient hat.Wir alle wissen — da stimme ich den Sozialdemokraten zu —, wir haben eine Diskussion in unserem Land: Geht es sozial gerecht zu? Das wird auch im Zusammenhang mit dem Asylthema ganz intensiv diskutiert. Wir haben eine Diskussion in unserem Land: Geht es noch sozial gerecht zu, oder bekommen Menschen Leistungen, obwohl sie darauf überhaupt keinen Anspruch und dafür keinen Grund haben?Diese Diskussion würden wir verschärfen, wenn wir den Eindruck erweckten: Bei der Rentenversicherung gibt es zwar eine Grundrente, die erwirtschaftet werden muß, aber ganz unabhängig davon, wie hoch diese Rente eigentlich noch ist, wird draufgesattelt, ohne einen Beitrag dafür zu zahlen. Herr Heyenn, Sie schreiben in Ihrem Beitrag ausdrücklich, daß das Ganze eine beitragsfreie Geschichte sein soll, die durch Steuermittel finanziert werden muß. Dies, meine ich, kann nicht der richtige Ansatz sein.
— Herr Kollege Büttner, ich sage es Ihnen gleich.Wohin diese Fehlentwicklung führt, kann ich an einem Beispiel zeigen, das Sie im Renten-Überleitungsgesetz auch jetzt wieder angreifen. Wir haben alle miteinander, die wir hier sitzen, ganz bewußt gesagt, daß es im Renten-Überleitungsgesetz Sozialzuschläge auf die Rente gibt. Ganz bewußt haben wir dies formuliert. Aber wir haben auch immer formuliert, daß diese Sozialzuschläge kein Bestandteil der Rente sind, sondern — ich habe dies im Ausschuß mehrmals unwidersprochen formuliert — pauschalierte Sozialhilfe.Deshalb war es doch nur konsequent und richtig, Frau Kollegin Mascher, daß wir diese pauschalierte Sozialhilfe, als es vom Gesamtsystem her möglich war, bei Verheirateten wieder auf das zurückgeführt haben, was auch andere Verheiratete an Sozialhilfe bekommen.Das ist gar nichts Außergewöhnliches. Ich mache Ihnen jetzt ja keinen Vorwurf. Für die Menschen einzutreten ist immer eine wunderbare Sache. Das machen auch wir von der Union. Ich nehme an, Sie werden mir dies nicht absprechen.
— Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß wir von der Union, die wir alle maßgeblichen sozialen Gesetze in diesem Land entscheidend mitgeprägt haben und vieles sogar allein gemacht haben,
kein Interesse an den Menschen in diesem Land hätten. Herr Heyenn, das ist ein bißchen arg dick, was Sie da jetzt machen.
Ich komme zur Sache. Frau Mascher ist ein schönes Beispiel dafür, welchem Irrtum man unterliegen kann, wenn man verschiedene Systeme zusammenwirft und sie nachher nicht mehr auseinanderbekommt. Genau dies machen Sie, indem Sie vorhin gesagt haben — ich habe das ja gehört —: Auf einmal bekommen die Leute nur noch 1 056 DM Rente. Sie haben vorher mehr bekommen. — Nein, nein, die Leute bekommen ihre Rente, aber der Sozialzuschlag wird verändert.Manche Irritation, die in den neuen Bundesländern entstanden ist, nachdem die Rentenbescheide gekommen sind, beruht ausschließlich darauf, daß die Menschen nicht verstanden haben, daß auf die Rente ein
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Volker KauderSozialzuschlag gezahlt worden ist und daß dieser Sozialzuschlag — dies haben wir miteinander beschlossen — nach einer gewissen Zeit abzuschmelzen ist. Deswegen fragen sie: Was ist denn eigentlich passiert?Dies kann ich den Menschen nicht verdenken. Sie sehen ihre Gesamtleistung auf einem Rentenbescheid gedruckt. Da steht eine Summe. Dann kommt die Rentenerhöhung, die wirklich hervorragend war — ich werde dazu nachher noch einen Satz sagen —, und dann kommt unten, nachdem die Rentenerhöhung draufgesetzt worden ist, auf jeden Fall nicht wesentlich mehr heraus. Deshalb warne ich davor, zwei verschiedene Systeme miteinander zu verknüpfen,
Deswegen, Herr Heyenn, werden wir in diesem Punkt einer sogenannten sozialen Grundsicherung, wie Sie sie vorstellen, Widerstand leisten, nicht durch Polemik, sondern durch die sachlichen Argumente, die dagegen sprechen.Sie erwecken — vielleicht nicht bewußt, aber unbewußt — mit Ihrem Antrag auf eine soziale Grundsicherung im Alter zumindest den Eindruck, als ob es eine solche soziale Grundsicherung in unserem Land nicht gäbe. Dies ist falsch. Es gibt diese soziale Grundsicherung. Neben der Rente gibt es die Sozialhilfe, das BSHG, das die soziale Grundsicherung in unserem Land ist.
— Frau Rennebach, darauf komme ich gleich,
Herr Heyenn, dafür gibt es doch den Präsidenten; Sie brauchen doch nicht die Aufgaben anderer zu übernehmen. Hören Sie mir bitte zu.Ich habe mehr als zehn Jahre lang als Sozialdezernent in einem Landkreis genau mit diesen Dingen zu tun gehabt. Ich weiß auf Grund meiner praktischen Berufserfahrung, wovon ich rede. Ich weiß ganz genau, daß es arme Leute gibt es sind vor allem alte Frauen aus der Landwirtschaft, die eine kleine landwirtschaftliche Rente beziehen —, die sich tatsächlich schämen, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.Deshalb ist es richtig, wenn wir bei diesen Frauen und auch Männern ansetzen und ihnen sagen: Ihr braucht euch nicht zu schämen, diese Leistungen in Anspruch zu nehmen. Aber mit Ihrem Vorschlag einer sozialen Grundsicherung, Herr Heyenn und die Damen und Herren von der SPD, diskreditieren Sie unbewußt die Sozialhilfe noch weiter.
Wir brauchen keine gehobene Sozialhilfe wie die soziale Grundsicherung, um damit das Bundessozialhilfegesetz weiter zu diskreditieren; denn dann kann sehr schnell der Eindruck entstehen — das unterstelleich Ihnen nicht; aber das ist die Lebenspraxis —, daß diejenigen, die die gehobene Sozialhilfe, nämlich die Grundsicherung, in Anspruch nehmen, in Ordnung sind, daß aber diejenigen, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen — jetzt kommt eine Formulierung, die ich in Anführungszeichen setze, weil ich sie draußen in unserem Land höre —,
tatsächlich nur noch der „Bodensatz der Gesellschaft" sind. Genau dies will ich verhindern.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Bitte.
Bitte sehr.
Herr Kauder, wie bewerten Sie die Forderung der Caritas in ihrem „Armutsbericht", das Rentenversicherungssystem durch eine solche Einführung einer Mindestrente oder Grundsicherung — wie immer man das nennen will — armutsfest zu machen?
Frau Kollegin Mascher, Sie wissen so gut wie ich, wie problematisch die Definition des Begriffs Armut ist. Ich habe an diesem Begriff lange gearbeitet und weiß, wir haben bei uns in Deutschland keine Armutsforschung, die genaue wissenschaftliche Unterlagen zur Verfügung stellen könnte.Mich bedrückt es sehr, daß bei jeder Verbesserung der sozialen Leistungen, bei jeder Verbesserung vor allem im Bundessozialhilfegesetz, die dazu führt, daß mehr Menschen diese gesetzliche Leistung in Anspruch nehmen können, gesagt wird: Anhand der Leistungsdichte im Bundessozialhilfegesetz nimmt die Armut zu. Das ist eine unzulässige Argumentation; aber so wird auch in diesem Bericht argumentiert. Ich bin gerne bereit, im Ausschuß einmal über das zu diskutieren, was von der Caritas vorgelegt worden ist.Aber wir dürfen gerade als Sozialpolitiker nicht zulassen, daß uns immer dann, wenn wir die Leistungen erweitern und im Bundessozialhilfegesetz etwas verbessern, wodurch dann immer mehr Menschen in den Genuß dieser Leistungen kommen, uns sogleich am nächsten Tag vorgehalten wird: Die Armut in unserem Land ist gestiegen. Dies diskreditiert soziale Leistungen schlechthin. Da werde ich ebenfalls nicht mitmachen.
Wir wissen — ich habe bereits gesagt, daß vor allem Frauen betroffen sind, die eine kleine Rente haben —, daß es in diesem Bereich wirklich Probleme gibt.Heiner Geißler hat hier am 21. Juni, als wir über das Renten-Überleitungsgesetz gesprochen und unseren gemeinsamen Entschließungsantrag formuliert haben, einen richtigen Weg gewiesen, indem er gesagt hat: Wir lassen die Systeme, wie sie sind, weil sie sich
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Volker Kauderbewährt haben. Sie werden wohl nicht behaupten wollen, daß sich die Sozialhilfe nicht bewährt hat.Wir müssen aber versuchen, diese Systeme so zu vernetzen, daß die alten Frauen, die alten Menschen nicht von Schalter zu Schalter geschickt werden müssen, bis sie die soziale Leistung in Anspruch nehmen können. Dazu werden wir Vorschläge machen.Lassen Sie mich noch sagen: Sie schreiben in Ihrem Antrag, es gehe darum, die Sozialhilfe organisatorisch und finanziell zu entlasten. Es geht nach unserer Auffassung überhaupt nicht darum, die Sozialhilfe organisatorisch zu entlasten, sondern unser Anliegen kann es nur sein, den Menschen eine Beratung am Ort anzubieten. Auch da weiß ich, wovon ich rede.Sie sagen im Zusammenhang mit Ihrer Grundsicherung auch, daß es eine Anrechnung von Einkommen und Vermögen geben solle, weil der gutsituierte Unternehmer nicht auch noch die Grundsicherung bekommen soll. Bei dieser Anrechnung von Einkommen und Vermögen bedarf es einer Beratung, weil viele Menschen, vor allem ältere, nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Diese Beratung kann nicht vom Rentenversicherungsträger irgendwo in Frankfurt, Berlin oder einer anderen großen Stadt durchgeführt werden; sie muß am Ort erfolgen. Hierfür haben sich unsere Sozialämter bewährt.Deswegen wäre es ein glatter Irrsinn, diese Beratung jetzt auf die Rentenversicherungen zu übertragen und dort eine flächendeckende Beratung aufzubauen, die es bei den Sozialämtern schon gibt. Aus diesem Grund stimmt Ihre Aussage nicht.Ich will zum Schluß kommen: Was uns hier mit der sozialen Grundsicherung vorgelegt wird, ist uralter Wein im neuen Schlauch. Er bringt überhaupt keine Verbesserung in der Sache.
Dieser Antrag leidet vor allem daran, daß Sie nicht sagen — dies haben Sie in Ihrem Antrag vergessen —, daß die beste soziale Absicherung, die es für uns geben kann, darin besteht, daß die Menschen Arbeit haben und sich ihre Altersversicherung durch ihre eigenen Beiträge in die Rentenversicherung verdienen können.
Deswegen ist die Arbeitsmarktpolitik, die wir machen, ganz entscheidend für eine gute soziale Sicherung. Man sollte nicht ständig in neue Bedarfssysteme einsteigen.
Vor allem ein Punkt ist ganz wichtig — daran werden wir von der CDU/CSU festhalten —: Leistung muß sich lohnen. Wir wollen nicht diejenigen, die bereit sind, etwas zu leisten und damit einen wichtigen Beitrag für unsere Gemeinschaft leisten, aus dem Arbeitsmarkt herausdrängen, nach dem Motto: Es ist besser, ich nehme eine soziale Grundsicherung inAnspruch, arbeite nicht mehr und versuche, mir auf dem schwarzen Markt ein paar Mark mehr zu verdienen. Dies ist unsere Botschaft.
Ich erteile der Abgeordneten Frau Renate Jäger das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauder, es geht nicht darum, daß die SPD-Fraktion den Schein erwecken möchte, mit diesen beiden Anträgen etwas völlig Neues vorzulegen, sondern darum, daß wir dem gerecht werden, wovon auch Sie gesprochen haben, nämlich der Gerechtigkeit.
Frau Babel sagt, daß Ansprüche für die Menschen im Osten, vor allem für Rentner, erst allmählich erworben werden müssen. Ich denke, daß sich die Menschen in den östlichen Bundesländern durch 30, 40 und mehr Arbeitsjahre Ansprüche bereits erworben haben.
Uns muß es doch in erster Linie darum gehen — das ist der Sinn unserer Anträge —, daß diese Anwartschaften gerecht überführt werden. Natürlich können uns bei diesem schwierigen Problem Fehler unterlaufen, allerdings mit dem Unterschied: Die eine Seite verdrängt die Fehler, und die andere Seite nimmt die Fehler auf.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz kurz die Notwendigkeit dieser Änderung zum Renten-Überleitungsgesetz an einer kurzen geschichtlichen Betrachtung deutlich machen. — Herr Kauder, Sie wollten eine Frage stellen.
Sie sind also bereit. — Bitte sehr, Herr Abgeordneter Kauder.
Frau Kollegin, eine Anmerkung von Ihnen hat mich zu einer Zwischenfrage gedrängt. Würden Sie mir darin zustimmen, daß wir manches Problem nicht hätten, wenn alle anderen Bereiche beim Aufbau Ost so gut funktioniert hätten, wie das funktioniert hat, was im sozialen Bereich gemacht worden ist? Ich meine, wir haben allen Grund, miteinander festzustellen, daß wir als Sozialpolitiker unsere Hausaufgaben gemacht haben.
Ich möchte Ihnen mit der Lebensweisheit antworten: Es ist nichts so gut, daß es nicht besser gemacht werden kann.
In unseren damaligen Anträgen zum ersten Regierungsentwurf des Renten-Überleitungsgesetzes hatten wir, um Gerechtigkeit zu erreichen, eine größere
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Renate JägerSicherung des Vertrauens- und Bestandsschutzes für Anwartschaften verlangt. Ferner hatten wir eine den besonderen Lebensumständen und den Erwartungen in den östlichen Ländern entsprechende Um- und Neubewertung der Renten gefordert.All das hatten die Koalitionsfraktionen abgelehnt, ohne in geringster Weise auf die Stellungnahmen der Experten in den Anhörungen oder auf die Einschätzungen und Vorschläge der Interessenverbände, insbesondere der Gewerkschaften und Versicherungsträger, zu achten.
Die Ablehnung unserer Vorschläge zum RentenÜberleitungsgesetz verlief damals eigentlich genauso stereotyp wie die Ablehnung unserer Änderungsanträge zur zehnten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz in den letzten Tagen.
Damals wie heute waren und sind unsere Vorschläge auf die Gestaltung der inneren Einheit gerichtet, nämlich auf die Berücksichtigung der aktuellen realen Situation in den östlichen Bundesländern.Aber zurück zum Renten-Überleitungsgesetz: Erst nachdem der Bundesrat signalisiert hatte, daß er dem Regierungsentwurf nicht zustimmen werde, wurde die Koalition verhandlungsbereit. In diesen Verhandlungen haben wir eine Menge an Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger in den östlichen Bundesländern erreicht; meine Kollegin Mascher ging am heutigen Tag schon einmal darauf ein.Auf Grund des erreichten Kompromisses und auf Grund des Zeitdrucks, den ganz besonders Sie bewirkt haben, den Rentnern möglichst rasch eine Überleitung ihrer Renten zu ermöglichen, hatten wir dem Renten-Überleitungsgesetz auch damals zugestimmt. Mit dem Verschicken der neuen Rentenbescheide wurden Probleme sichtbar: solche, die von uns vorher gesehen wurden, und solche, die in der Kürze der Bearbeitungszeit nicht erkannt worden waren. Eine Protestwelle von Bürgern erreichte die verschiedensten Stellen. Ihren Höhepunkt erreichte sie zum Jahresbeginn, nach dem Inkrafttreten des Gesetzes. Die Abgeordneten aller Parteien aus den östlichen Ländern bezogen Prügel und mußten sich mit den zutage getretenen Unzulänglichkeiten des Gesetzes auseinandersetzen.
Ich zitiere aus einer Pressenotiz vom 18. Januar 1992:Mit der Rückkehr der Abgeordneten aus der parlamentarischen Weihnachtspause erreicht die Aufregung um die „Rentenlüge" im Osten Bonn. Die Auftritte empörter Bürger in den Wahlkreisbüros und die Austritte erbitterter Parteifreunde wollen die ostdeutschen CDU-Abgeordneten nicht auf sich beruhen lassen.In der folgenden Fraktionssitzung der CDU/CSU gerät der Arbeitsminister wegen der Sozialzuschlagsregelung in die Zwickmühle und vertröstet die ostdeutschen Abgeordneten auf ein Gespräch. In der Presse heißt es dazu: „Über eine große Ausweinstunde kommt man nicht hinaus." Auch eine gemeinsame Sitzung der ostdeutschen Landesgruppen fand statt. Aber das war es dann auch schon. Mit der Erklärung, die Vorwürfe beruhten auf mangelnder Information und Mißverständnissen, ließen sich die aufgeregten Ost-Abgeordneten von ihrer Bundesregierung wieder beruhigen. In gleicher Manier wurde versucht, mit den neu entstandenen Problemen im federführenden Ausschuß zu verfahren. Ergebnis: Ein Regelungsbedarf bestehe laut Einschätzung der Bundesregierung nicht.Im Gegensatz zu CDU, CSU und F.D.P. hat die SPD-Fraktion sich nicht einlullen lassen und die Probleme aufgegriffen, Lösungswege ausgearbeitet und eine parlamentarische Initiative ergriffen, über die nun heute beraten wird. In meinem Wahlkreisbüro kündigte ich im Januar eine Sprechstunde zu Rentenfragen an, aus der ich eine Versammlung machen mußte, weil gleich zu Beginn ca. 50 Bürgerinnen und Bürger vor der Tür standen. Die Bearbeitung der konkreten Anliegen nahm mehrere Wochen in Anspruch. Dabei war festzustellen, daß eine hohe Zahl an Rentenkürzungen eben nicht nur auf Irrtümern, sondern auf Versäumnissen dieses Gesetzes beruhten.Daß das Gewissen der Bundesregierung, was den Sozialzuschlag betrifft, trotz ihrer Argumentation nicht ganz so ruhig war, wie sie es uns weismachen will, beweist die Erhöhung der Einkommensgrenzen für den Sozialzuschlag vom Juli dieses Jahres.
Es wäre gut, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition aus den neuen Bundesländern — aber von der CDU/CSU-Fraktion ist aus den neuen Bundesländern natürlich niemand da, oder? —, wenn Sie sich an Ihre Aufregung zu Anfang dieses Jahres wieder erinnern würden, wenn Sie noch einmal die Briefe lesen würden und die Mängel erkennen würden, die dort aufgezeigt worden sind.
Hinsichtlich des Sozialzuschlages würden Sie bestimmt auf einen Brief stoßen, aus dem ich zitieren möchte:Seit der Wiedervereinigung, insbesondere im letzten Halbjahr, ist unser 2-Personen-Haushaltsbudget durch staatliche Maßnahmen um 40 % — das sind rund 1 300 DM monatlich — geschmälert worden. Das ist einerseits durch Kürzung meiner Altersrente um monatlich ca. 740 DM ab August 1991 und Wegfall des Sozialzuschlags von 155 DM bei der Altersrente meiner Frau ab Januar 1992 erfolgt und andererseits durch erhöhte Aufwendungen für Miete, Energie, Telefon etc. von ca. 400 DM je Monat eingetreten. Dieses Resultat entspricht sicher nicht dem erklärten politischen Grundsatz
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Renate Jägerdes Parlaments und der Regierung, daß es mit der Wiedervereinigung niemand in den neuen Bundesländern schlechter, vielen aber besser gehen soll.Dies ist kein Einzelbeispiel. Unser Vorschlag, beim Sozialzuschlag den Bestandsschutz zu sichern, ist wohl begründet.Ein weiteres Beispiel bezeugt die Notwendigkeit, über den Ausnahmenkatalog für die Kappung bei den Zusatzversorgungssystemen erneut nachzudenken. Ich zitiere aus einem Brief vom November 1991:In den letzten Tagen erhielt ich die Broschüre über das neue Rentenrecht ab 1. 1. 1992. Beim Durchlesen mußte ich feststellen, daß für die Direktoren oder Leiter im Bereich der Volksbildung eine Begrenzung wirksam wird.Der Absender fügt hinzu: Ich war Direktor.Diese Feststellungen betrachteich als lebenslängliche Bestrafung für mich.Neu zu relativieren ist auch die Entgeltpunktbegrenzung von 1,4 pro Jahr bei Höherverdienenden. Herr Rother, wir wollen die Entgeltbegrenzung nicht abschaffen.
— Ja, er hört nicht mehr zu. — Es ist mir unvorstellbar, daß Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, es als gerecht empfinden können, wenn jemand, der 1,41 Entgeltpunkte hat, auf 1,0 Entgeltpunkte zurückgestuft wird, während ein anderer mit 1,39 Entgeltpunkten diese ungeschmälert behält.
Ebenso ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß auch bei Bestandsrentnern höhere Verdienste in der Rentenberechnung berücksichtigt werden müssen, wie das auch den Neuzugängen ermöglicht wird.Ich habe nur einige unserer Vorschläge herausgegriffen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die auf die Mängel des Renten-Überleitungsgesetzes hinweisen. Die Korrektur dieser Mängel verursacht Mehraufwendungen, das will ich nicht bestreiten. Das allein kann aber kein Grund sein, den Antrag der SPD abzulehnen. Bei aller Geldknappheit sind wir für eine gerechte Verteilung der knappen Mittel verantwortlich.Ich danke Ihnen.
Nunmehr erteile ich dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Nobert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Konsens ist eine eigene Sache; das ist keine Schiffschaukel, in die man ein- und aussteigen kann, wie es einem gerade paßt. Wenn wir einen Konsens machen, dann stehen wir dazu und dann muß man auch bereit sein, ihn weiterzuentwickeln. Abersich hier hinzustellen nach der Rosinentheorie — die gute Seite hat die eine Fraktion gemacht, und da, wo es in der Kritik ein bißchen eisenhaltig wird, waren es dann die CDU, die CSU und die F.D.P. —, das funktioniert nicht.
— Doch, Frau Jäger hat dazu gerade ein Prachtbeispiel geliefert, Frau Jäger, die sich, wofür ich mich sehr bedanke, durch Sprechstunden an der Aufklärung der Rentner — davon haben Sie gerade berichtet — beteiligt. Aber es ist immer gut, in den Gesetzestext zu blicken, um auch beraten zu können.
Deshalb: die Anhebung des Sozialzuschlags am 1. Juli ist nicht Folge eines schlechten Gewissens, wie Sie es dargestellt haben. Möglicherweise auf Ihren Druck hin ist dann das schlechte Gewissen entstanden. Ein Blick ins Gesetz, Frau Jäger: Art. 40 § 2 des RentenÜberleitungsgesetzes, von Ihnen mitbeschlossen, setzt fest, daß der Sozialzuschlag bedarfsgerecht erstmals zum 1. Juli 1992 in dem Umfang, in dem sich der Regelsatz der Sozialhilfe für das Beitrittsgebiet im Durchschnitt seit dem letzten Anpassungszeitpunkt verändert, angepaßt wird. Wie wollen wir denn — ich sage das gar nicht kritisch — Vertrauen schaffen, wenn wir nicht zu allen Teilen des Konsenses stehen? Ich glaube, daß Rentenpolitik zu 90 % Vertrauenspolitik ist. Es gibt noch genug Grund und Gelegenheit, sich zu streiten, aber mein Appell an alle Seiten wäre: Das psychologische Verdienst des Rentenkonsenses besteht darin, den Versuch zu unternehmen, die Rente aus dem Streit herauszulassen.Ich will hier im Bundestag noch einmal meine Mutter als Zeugin erwähnen.
— Man kann es nicht oft genug sagen. — Sie hat immer gesagt: Es ist nicht so wichtig, wie hoch meine Rentenerhöhung ist; viel wichtiger ist, daß die Rente sicher ist. — Sie hat geglaubt, die Rente ist immer dann unsicher, wenn sich die Parteien darüber streiten. Ich glaube, daß meine Mutter damit für viele andere stand. Rentnerangst ist das, was wir bekämpfen müssen, und dem hat der Konsens gedient. Wir hätten es doch auch ohne Konsens machen können; mein Gott, die Mehrheiten haben dazu doch nicht gefehlt. F.D.P., CDU, CSU hätten es auch ohne Konsens machen können! Es war doch nicht mangelnder Mut, sondern es war Verantwortung. Und hat sich der Konsens nicht alles in allem bewährt?Ich will das auch noch einmal für dieses Renten-Überleitungsgesetz sagen. Ich habe gehört, heute mittag sei das Wort „Rentenlüge" zitiert worden, oder es war auch vom „Zustand der Demokratie" die Rede. „Zustand der Demokratie" war nicht auf die Presse bezogen, sondern Herr Ullmann hat den Zustand der Demokratie an der Erhöhung der Renten in den neuen Bundesländern abgelesen.Da wollen wir doch einmal die Kirche im Dorf lassen: Die Rentenausgaben haben in den neuen Bundesländern vor der Sozialunion — 30. Juni 1990 —
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Bundesminister Dr. Norbert Blümfür das ganze Gebiet 16,7 Milliarden Mark betragen — Mark, nicht D-Mark! —, 16,7 Milliarden Mark. 1993, bei der nächsten Anpassung, werden die Rentenausgaben für das gleiche Gebiet — also für den entsprechenden Personenkreis — nach 21/2 Jahren nicht 16,7 Milliarden Mark, sondern — man höre und staune — 53,5 Milliarden D-Mark betragen. Jetzt können Sie viele Einzelfälle vorführen, aber ich lasse mir auch im Deutschen Bundestag nicht einreden, daß die Rentner die Verlierer der deutschen Einheit wären.
Sie sind die ersten Gewinner, und sie brauchen dafür auch niemandem Dankeschön zu sagen; sie haben in diesem Jahrhundert auch am längsten mitgemacht, und sie haben nicht mehr so viel Zeit wie die Jungen, um es auszugleichen.Aber man soll hier nicht den Eindruck erwecken, als hätten wir nichts gemacht. Allein die Überleitung hat die Renten von über 760 000 Witwen im Durchschnitt um 240 DM pro Monat verbessert, 150 000 Witwen in den neuen Bundesländern haben zum erstenmal überhaupt eine Witwenrente bekommen.Heute mittag hatte ich den Eindruck, es gäbe nur Grund zu klagen. Laßt uns über Probleme, die sich ergeben, sprechen. Insgesamt sage ich aber voller Genugtuung: Dieser Bundestag hat in einer großen Übereinstimmung viel für die Rentner in den neuen Bundesländern gemacht, und es wäre gut, wenn das auch hier anerkannt würde. Es wäre sehr gut!
Bitte schön, Herr Abgeordneter Feige, eine Zwischenfrage.
Herr Minister, ich will auch nicht am Konsens knabbern, aber würden Sie meiner Mutter zustimmen, die mir sagte, daß das Leben in der DDR vorher auch auf einer ganz anderen Finanzierungsbasis stand, daß es in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen doch einiges gegeben hat, was auch für ostdeutsche Rentner viel, viel teurer geworden ist, und daß es auf diese Art und Weise nicht allen besser geht?
Richtig ist, daß man den Wert der Rentenerhöhung natürlich nur messen kann, wenn man ihn zu den Preisen in Beziehung setzt. Die Preise sind gestiegen. Aber selbst wenn man das in Rechnung stellt — da beziehe ich mich wieder auf Untersuchungen —: Bis Oktober 1991 ist der Lebensstandard der Rentner um 45 % gestiegen, bis zu diesem Sommer noch einmal um 25 %.Richtig ist auch — darauf hat, glaube ich, Frau Babel schon aufmerksam gemacht —, daß die Rente im Unterschied zum alten Sozialrecht in der DDR nicht eine umfassende Sicherungsfunktion hat, sondern daß neben die Rente Wohngeld tritt, daß neben die Rente Kindergeld tritt, daß neben die Rente in manchen Ländern Pflegegeld tritt; das war alles in derguten alten Rentenversicherung — ob sie so gut war, möchte ich sehr bezweifeln — vereint.Ich habe noch einmal eine Kritik hinsichtlich der Kindererziehungsjahre, die als großes Beispiel des alten DDR-Rentenrechts hier heute mittag auch angesprochen wurden, gleich zu Beginn der Debatte. Wissen Sie, wie hoch ein Kindererziehungsjahr angerechnet wurde? Mit sechs Mark. Im Westen sind es 34 DM für ein Kind. Selbst wenn im alten DDR-Recht mehr Kindererziehungsjahre anerkannt wurden, war es in der Gesamtmenge immer noch weniger als das, was das westdeutsche — jetzt gesamtdeutsche — Rentenrecht an Kindererziehungsjahren anerkennt. Nach der nächsten Rentenanpassung werden drei Jahre so viel ausmachen wie ein Jahr; das ist drei Jahre altes Recht. Wenn man schon vergleicht, dann, meine ich, muß man immer die Realitäten in die richtigen Proportionen setzen.Ich habe noch viele Zahlen dazu. Wir haben angesetzt, bei dem Wettlauf einen Abstand von 70 % aufzuholen; so stark waren die Renten Ost von den vergleichbaren Renten West entfernt. Anders ausgedrückt: Die Ost-Renten lagen im Verhältnis zu den West-Renten bei 30 %. Wir sind auch jetzt noch nicht bei 100 % angekommen, aber immerhin bei zwei Dritteln, und zwar nach 21/2 Jahren.Die Durchschnittsrente hat sich seit dem 30. Juni 1990 von 475 Mark auf 998 Mark zum 1. Januar 1993 erhöht.Die durchschnittliche Rente der Frauen in der ehemaligen DDR liegt schon über der durchschnittlichen Frauenrente im Westen, was darauf zurückzuführen ist — das ist ganz logisch —, daß die Erwerbsbiographie der Frauen in den neuen Bundesländern anders aussieht als im Westen. Mit anderen Worten: Sie haben mehr Erwerbsjahre.Solche Statistiken sind immer etwas kalt. Durchschnittszahlen treffen nicht das Einzelschicksal. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß manche gar nicht den Anpassungssatz ausgezahlt bekamen. Das aber ist die Folge einer Politik, die wir gemeinsam wollten, nämlich daß Besitzstand gesichert wird. Je breiter der Besitzstand war — vielleicht war er zu breit gesichert —, urn so länger dauert es, bis der volle Anpassungssatz durchschlägt. Ich hoffe, daß das nicht nur als Rentenchinesisch verstanden wird. Ich will es anders sagen: Wenn Sie einen Besitzstand schützen, dann wird die neu ausgerechnete Rente, die darunter liegt, einige Anpassungstermine brauchen, bis sie die geschützte Rente übertrifft. In dieser Zeit nimmt sie entweder nicht an der Rentenanpassung teil oder, wenn sie über die Grenze kommt, nicht mit dem vollen Betrag.Das, Frau Jäger, war doch wiederum nicht die Trickkiste der Bundesregierung — —
— Die gibt es auch nicht.
Ich wollte nicht, daß Sie, falls Sie sie suchen, auf einefalsche Fährte kommen. Die Trickkiste gibt es nicht.
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Bundesminister Dr. Norbert BlümEs war das gemeinsame Bestreben, solche Regelungen herbeizuführen.In der Diskussion ist das Grundsystem wieder in Frage gestellt worden. Ich will im übrigen der Opposition hier im Deutschen Bundestag ausdrücklich meine Anerkennung aussprechen, daß sie trotz populistischer Wellen diese 2,7 % Rentenanpassung im Westen verteidigt hat.
— Das möchte ich jetzt in einem zweiten Satz sagen. Diese Anerkennung kann ich nur der Opposition hier im Bundestag aussprechen; die SPD in Baden-Württemberg und die SPD in Schleswig-Holstein haben sich vom Wahlkampf verführen lassen, es so darzustellen, als sei dies das ein Ergebnis eines besonders schlimmen Einfalls der CDU. Ich will ausdrücklich sagen, daß die Opposition hier dazu gestanden hat. Aber schön ist das nicht, wenn unsere Wahlkämpfer eine SPD vorfinden, die mit zwei Zungen spricht: seriös in diesem Bundestag und unseriös in den Wahlkämpfen.
Der Kollege Kauder kann Ihnen ganze Anzeigen nennen, in denen diese 2,7 % so dargestellt werden, als sei das ein besonderer Einfall dieser Bundesregierung. Das ist das Ergebnis eines Systems, zu dem wir gemeinsam stehen, nämlich des Systems der lohnbezogenen Rente. Sie ist eine große Erfindung unseres Sozialstaats.
Dies, Herr Bundesminister, veranlaßt den Abgeordneten Heyenn, eine Zwischenfrage zu stellen.
Ich möchte Sie, Herr Bundesarbeitsminister, nur kurz fragen, ob Sie bereit sind, einmal mit mir gemeinsam nachzulesen, was zahlreiche CDU-Bundestagsabgeordnete aus den ostdeutschen Ländern über das RÜG und über die Höhe der Rentenanpassung in ihren Heimatwahlkreisen gesagt haben.
Herr Heyenn, damit Sie da auf keinerlei Befangenheit bei mir treffen: Ich sage, wenn Konsens gilt, dann gilt er für alle. Wenn sich manche von uns da abgeseilt haben, dann geht das ebenso gegen die Bedingungen eines Konsenses wie bei denen, bei denen ich es attackiert habe. Das waren nicht einzelne SPD-Abgeordnete, sondern die offizielle Wahlkampflinie der SPD in Baden-Württemberg hat im Unterschied zu Ihrer anständigen Linie gestanden.
Sie haben das System hier doch verteidigt, Herr Heyenn. Sie brauchen sich den Schuh Ihrer Parteimanager gar nicht anzuziehen. Stellen Sie sich doch nicht vor Leute, die gar nicht die Politik machen, die Sie gemacht haben. Ich habe es ausdrücklich gesagt; nur, gespaltene Strategien habe ich nicht gern.
Ich will noch etwas zu den 2,7 % sagen. Es kann sein
im letzten Jahre war es auch so —, daß eine
lohnbezogene Rente in einem Jahr einmal unter der
Preisentwicklung liegt. Aber insgesamt fahren die Rentner immer besser, wenn ihre Rente an die Löhne gekoppelt ist. Wäre die Rente an die Preise gekoppelt, stiege sie so wie die Preise, bliebe der Wert der Rente immer der gleiche. Die Rentner könnten sich für ihre Rente immer gleich viel kaufen. Der reale Wert der Rente würde nie verändert.
Ist die Rente aber an die Löhne gekoppelt, nimmt sie an der Wohlstandsmehrung teil, die sich die Arbeitnehmer durch die Lohnpolitik erstreiten.
Ich will das in Zahlen verdeutlichen. 1957, nach der Rentenreform, betrug die Durchschnittsrente im Westen 240 DM. Wäre sie den Preisen gefolgt, hätte diese Rente von damals 240 DM heute die Höhe von 760 DM. Das wäre die von vielen umschwärmte Bedarfsrente. Sie wäre von 240 DM auf 760 DM gestiegen.
Gott sei Dank waren die Erfinder der dynamischen Rente so klug, die Rente nicht populistisch an die Preise zu koppeln, sondern an die Löhne. Das Ergebnis ist: Diese Rente von damals 240 DM beträgt heute i 775 DM, also rund 1 000 DM mehr, als wenn sie an die Preise gekoppelt gewesen wäre.
Deshalb ist aus meiner Sicht das größte Verdienst der Überleitungsgesetzgebung, daß die Rente im Osten jetzt nicht mehr von der Laune des Gesetzgebers abhängig ist, sondern so steigt wie im übrigen Deutschland, nämlich an die Löhne gekoppelt. In der Übergangszeit steigt sie sogar schneller, nämlich mit halbjährlicher Anpassung, während sie im Westen nur einmal im Jahr steigt. In dieser Übergangszeit steigt sie im Osten gleichzeitig mit den Lohnerhöhungen, während die Rente im Westen der Lohnentwicklung mit einem Abstand von einem Jahr folgt. Im Osten werden wir das im Zuge der Verwirklichung eines gesamtdeutschen Rentenrechts natürlich auch einführen.
Alles in allem haben wir aus meiner Sicht keinen Grund, diesen Konsens in Frage zu stellen. Ich will mich noch einmal bei allen bedanken, die daran mitgewirkt haben. Herr Präsident, es ist mir heute mittag ein Versehen unterlaufen: Ich habe das Verdienst der F.D.P. im Zusammenhang mit dem Arbeitsförderungsgesetz nicht gebührend gewürdigt. Ich will es heute abend doppelt und dreifach tun und ausdrücklich sagen, daß die F.D.P. sowohl an diesem Rentenkonsens 1989 als auch an der Überleitung mit ganzer Kraft beteiligt war. Wir stehen auch gemeinsam zu diesem Rentenkonsens.
Bitte, Frau Jäger.
Herr Minister, wenn Sie sagen, daß Sie keinerlei Veranlassung haben, an einem Konsens überhaupt etwas zu verändern, frage ich Sie: Sind Sie wirklich der Überzeugung, daß in einem Konsens niemals ein Fehler oder ein Irrtum enthalten sein kann und daß man einen solchen Fehler in einem Konsens niemals berücksichtigen kann?
Wenn Sie das meinen, haben Sie mich
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Bundesminister Dr. Norbert Blümmißverstanden. Das Beispiel Zeiss Jena ist hier schon erwähnt worden.
Ich lade auch hier zu einem Konsens bei der Weiterentwicklung ein. Die Überleitung war eine große Aufgabe. Sie wissen ja, unter welchem Zeitdruck wir standen. Gott sei Dank haben wir es trotzdem geschafft.Ich beantworte also Ihre Frage folgendermaßen: Konsens heißt, daß man zu dem Vereinbarten steht und daß man Weiterentwicklungen wiederum im Konsens zustande zu bringen versucht. Man kann allerdings nicht jeden Tag eine neue Rentenversicherung erfinden. Es bleibt bei der lohnbezogenen Rente.Ich möchte noch etwas zur Armut sagen. Ich kenne kein Alterssicherungssystem der Welt keines; nennen Sie mir eines —, das im Kampf gegen die Altersarmut so erfolgreich ist wie die deutsche Rentenversicherung.
Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt bekommen — legen Sie mich nicht auf die genauen Zahlen fest — rund 250 000 Personen. Jene, die als alte Personen in größerer Zahl die Sozialhilfe in Anspruch nehmen, sind die alten Menschen in den Pflegeheimen. Weil das ist, wollen wir das nicht mit der Rentenversicherung, sondern mit der Pflegeversicherung lösen.Der eigentliche Grund für die Altersarmut ist das Schicksal, pflegebedürftig geworden zu sein. Das ist mit den Mitteln der Rentenversicherung nicht zu bewältigen. Es gibt normalerweise keine Rente, mit der Sie ein Pflegeheim bezahlen können. Dieses Problem kann man mit der Rente nicht lösen.Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich von 1980 bis 1989 fast verdoppelt. Der Kollege Kauder hat darauf hingewiesen, daß das nicht in jedem Fall durch eine Veränderung der objektiven Lebensverhältnisse bedingt ist, sondern auch durch eine andere Gesetzgebung, die beispielsweise mehr Ansprüche gewährt.Wahr ist aber auch: Der Anteil der Sozialhilfeempfänger über 65 Jahre ist genau in dieser Zeit zurückgegangen. Das ist auch ein Beweis dafür, wie erfolgreich unser Alterssicherungssystem ist.In diesem Zusammenhang noch folgende Zahl. Nicht jede kleine Rente ist schon der Ausweis von Armut.
Deshalb warne ich davor, von einer kleinen Rente immer anzunehmen, sie sei das Einkommen eines armen Mannes oder einer armen Frau.
Dazu gibt es folgende Untersuchungen. Das Durchschnittseinkommen der Witwen mit weniger als 300 DM Rente — da denkt man, das seien die ganz, ganz Armen — lag nach einer Untersuchung 198e— das ist schon ein paar Jahre her — bei 1 270 DM. Das Durchschnittseinkommen von Witwen mit einer Rente zwischen 300 und 600 DM — da denkt man immer noch, das seien die Armen — lag bereits bei 1 300 DM. Das Durchschnittseinkommen der Witwen mit einer Rente zwischen 600 und 900 DM — das sind immer noch kleine Renten — lag bei 1 340 DM.Warum war das so? Weil die Witwenrente nur ein Teil des Einkommens war, weil man daneben vielleicht noch eine eigene Rente bezogen hat, eine Betriebsrente, ein Einkommen aus Hausbesitz. Oder jemand hat nur wenige Jahre in eine Rentenversicherung eingezahlt und wurde anschließend Beamter. So kommt eine kleine Rente zustande, obwohl der Beamte anschließend vielleicht Ministerialdirektor oder Staatssekretär wurde.Wenn man also mit Sozialzuschlägen arbeitet, trifft man gar nicht die Richtigen. Wenn man pauschal aufstockt, trifft man gar nicht in jedem Falle die Ärmsten. Wir haben das beim Überleitungsgesetz nur gemacht, weil die Sozialhilfe in den neuen Bundesländern noch gar nicht funktionierte. Das ist der Grund für den Sozialzuschlag gewesen. Er ist sozusagen — der Kollege Kauder hat es schon gesagt — eine pauschalierte Sozialhilfe. Ich kann nur davor warnen, das zu einer Regeleinrichtung zu machen. Dann würden Leute begünstigt, die gar nicht die Ärmsten sind.Im übrigen mache ich auf folgendes aufmerksam. Ein Ehepaar in Halberstadt erhält 1 054 DM Sozialzuschlag. Das Ehepaar in Helmstedt bezieht vielleicht nur 900 DM Rente und bekommt diesen Sozialzuschlag nicht. Insofern könnte ein Sprengsatz ganz anderer Art entstehen, als er heute hier diskutiert wurde.Ich bin dafür, daß wir diesen Sozialzuschlag — so wie vorgesehen — ganz, ganz langsam zurückführen und daß wir die Sozialhilfe von dem Geruch befreien, ihre Inanspruchnahme sei etwas Unanständiges. Je öfter Sie so etwas hier behaupten, desto mehr vergrößern Sie die verschämte Altersarmut. Noch ein paar solcher Debatten, und niemand getraut sich mehr, zum Sozialamt gehen!
Sie beklagen die verschämte Altersarmut und tun in diesem Saal alles dafür, daß sich die Leute schämen, wenn sie zum Sozialamt gehen. Das halte ich für ausgesprochen kontraproduktiv.Es ist heute mittag schon gesagt worden, was wir tun sollten, nämlich eine stärkere organisatorische Verzahnung von Sozialhilfe und Rentenversicherung vornehmen. Die Kassen darf man nicht vermischen, sonst bezahlen die Bezieher kleiner Einkommen den Kampf gegen die Altersarmut. Dieser Kampf aber muß von allen Steuerzahlern bezahlt werden. In den Rententopf zahlen nur die Beitragszahler ein; deshalb darf aus diesem Rententopf nicht der Kampf gegen die Armut bezahlt werden. Das wäre eine Subventionierung.Sie klatschen hier Beifall für Vorschläge, die sozial klingen. In Wirklichkeit greifen Sie den Arbeitnehmern in die Hosentaschen. Das ist doch eine Aufgabe,
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Bundesminister Dr. Norbert Blümdie von allen zu leisten ist! Deshalb muß das verzahnt bleiben. Daher begrüße ich es, daß Sie in Ihrem Vorschlag von allen Ideen Abstand nehmen, dies aus der Rentenkasse zu bezahlen. Dann können wir es auch bei der Institution Sozialhilfe belassen und die Sozialhilfe besser mit der Rentenversicherung verzahnen. Da brauchen wir doch keine weltanschaulichen Kämpfe zu führen.Im Zeitalter der Computertechnik geht es nur darum, nicht den Anspruchsberechtigten von einem Schalter zum anderen zu schicken, sondern lediglich die Computerbänder auszutauschen. Es dürfen nicht die Menschen hin- und hergeschickt werden. Das ist eine organisatorische Verbesserung, die getroffen wird.Meine Damen und Herren, ich lade zu einer offenen Diskussion ein. Es geht hier um Schicksale. Ich wehre mich dagegen, daß wir unsere eigenen Ergebnisse madig machen. Die Rentner erwarten unseren Zuspruch. Eine Politik, die pausenlos die Betroffenheit, die pausenlos nur die Problemfälle vorführt, bringt die Menschen in eine Lage, in der derjenige, der nicht klagt, meint, er habe einen Defekt. Wenn hier nicht jeden Tag eine neue Klage vorgetragen wird, bricht Unruhe aus.Ich habe über Carl Zeiss gesprochen, daß wir darüber reden, wie wir das einführen. Aber laßt uns auch diese Frage im Konsens bei Verteidigung der Grundlagen von Überleitung und Rentenreform beraten. Denn wenn das aufgegeben wird, wenn hier Rosinenpickerei beginnt — die SPD für die guten Sachen mit Forderungen nach noch mehr und die Regierung für die Sachen, die Probleme bereiten , dann, so würde ich sagen, hören wir auf mit Konsens. Dann wird die Sache im Konflikt weiter behandelt. Ich bin gegen den Konflikt, weil er Menschen beunruhigen würde, weil unsere älteren Mitbürger in Angst versetzt würden. Wir haben die gemeinsame Aufgabe, diese Angst durch eine vernünftige gemeinsame Politik wegzubringen.Und, verehrte Frau Kollegin Jäger, es wird Ihnen und mir auch nicht erspart bleiben, diese komplizierte Sozialgesetzgebung weiterhin erklärend zu vertreten.Nun ist der Sozialstaat nicht so einfach, wie der sozialistische Kollektivismus war. Der konnte immer alles über einen Kamm scheren. Gerechtigkeit, die den unterschiedlichen Verhältnissen gerecht werden will, muß differenziert sein. Das ist der Preis für Gerechtigkeit! Einfache Lösungen sind sehr populär, aber auch sehr ungerecht. Die Lage der Menschen ist höchst unterschiedlich. Deshalb brauchen wir auch eine differenzierte Sozialgesetzgebung, und deshalb braucht diese Sozialgesetzgebung auch Menschen, die sie verteidigen und vertreten.Bei allen, die daran beteiligt sind, bedanke ich mich.
Frau Abgeordnete Jäger, bleiben Sie bei Ihrem Wunsch nach einer kurzen Intervention, oder ist das durch die
Zwischenfrage erledigt? — Ja, bitte, Sie haben die Möglichkeit.
Ich möchte nicht zum Inhalt sprechen, Herr Blüm, ich danke Ihnen für ihren Hinweis zum Gesetz. Ich bitte um Entschuldigung, daß mir der Fakt entfallen ist, und ich ziehe meine Aussagen bezüglich des schlechten Gewissens der Bundesregierung hiermit zurück.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Hans Büttner das Wort.
Nachdem er sich hier auf seinen Abgeordnetenplatz begeben hat: Lieber Kollege Blüm! Konsens ist ja etwas, was beide freiwillig tun. Den gab es in der Sozialgesetzgebung dieser Republik sehr lange. Es ist wahr, was wir nach dem Krieg aufgebaut haben in der Rentengesetzgebung, in der Krankenversicherung bis in die 70er Jahre hinein, war echter Konsens.Tatsache ist aber auch, daß seit den letzten drei Jahren alle Reformwerke, die hier gemacht worden sind, erst dann konsensfähig geworden sind, weil diese Regierung die SPD zumindest über den Bundesrat gebraucht hat. Das war auch bei der Frage des Renten-Überleitungsgesetzes der Fall.
Auch hier beim Renten-Überleitungsgesetz — deswegen sage ich einiges dazu — war ein entscheidender Punkt, daß wir von vornherein wie bei jedem Konsens unsere Position dargestellt haben. Wir vertreten auch das Renten-Überleitungsgesetz. Aber wir vertreten auch in bezug auf eine vertrauenerhaltende Rentenpolitik unsere Auffassung, daß sich Rentengerechtigkeit und Rentenstabilität nicht an statistischen Durchschnittszahlen festmachen, sondern an der Fähigkeit, inwieweit das System in der Lage ist, Fehler zu korrigieren und Ungerechtigkeiten zu beseitigen.
Hier ist auch deutlich geworden, daß die meisten Redner der Koalition sich in dieser Frage leider durch wenig Kenntnis und wenig Lesefähigkeit — mein Kollege heyenn hat das schon deutlich gemacht - , was unsere Anträge angeht, ausgezeichnet haben. Sie haben hier im Grunde genommen die Reformunfähigkeit nur bestätigt, die diese Regierung in sozialgesetzgeberischen Bereichen immer wieder gezeigt hat.Kollegin Babel, man sollte wirklich nicht über Dinge reden, bei denen man wenig Sachkenntnis einbringt. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen.Unser Antrag auf soziale Grundsicherung im Alter bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeit: Herr Kollege Kauder, auch Ihnen würde es gut anstehen, zumindest die Überschrift zu lesen; Sie haben eine Brille und sollten also wenigstens die großgedruckte Überschrift lesen können, um zumindest da in der Lage zu sein
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Hans Büttner
festzustellen, daß es eine pure Unverschämtheit ist zu behaupten, hier wird ein Einstieg in die Grundsicherung für jemanden versucht, der nicht arbeiten will. Hier geht es schlicht und einfach darum, unseren alten Menschen, die dieses Land aufgebaut haben und die, vor allem die Frauen, durch dieses Rentensystem der Vergangenheit nicht genügend eigene Anwartschaften erworben haben, einen Weg zu geben, damit sie nicht über Sozialhilfe, Formelkram, den sie gar nicht mehr verstehen, wenigstens das erhalten, was ihnen nach Recht und Gesetz auch zusteht. Was wir hier vorschlagen, ist nichts anderes als eine vernünftige Umorganisation der Mindestsicherung über das jetzige Rentensicherungssystem.
Genau das steht da drin und nichts anderes! Deswegen lesen Sie es genau! Das haben Sie nicht getan, sondern nur Ihren ideologischen Klamauk von sich gegeben,
Herr Abgeordneter Büttner, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kauder zu beantworten?
Kollege Kauder kann immer gerne fragen.
Herr Kollege Büttner, sind Sie bereit zu akzeptieren, daß der Kollege Ileyenn in einem Beitrag in der Juni-Nummer der „Sozialen Sicherheit" die Strategie dargelegt hat, indem er formuliert, daß dieser Antrag vom Mai 1992 der Einstieg in eine soziale Grundsicherung beitragsfrei für bestimmte soziale Tatbestände ist? Darauf habe ich hingewiesen und nichts anderes. Ich bitte Sie, mir nicht zu unterstellen, was ich nicht gesagt habe, und ich bitte Sie, das Protokoll nachzulesen.
Herr Kollege Kauder, ich habe das sehr wohl gelesen. Aber das, was hier diskutiert wird — so haben Sie es vorhin genannt —, ist alter Wein in neuen Schläuchen.
Alter Rotwein wird meistens besser, je länger er steht. — In dieser Frage wurde genau das aufgegriffen, was ein alter Mentor der Sozialpolitik, nämlich der leider schon verstorbene Alfred Schmidt, in seinen Thesen der Integration von Mindestsicherung für alte Menschen in das System der Rentenversicherung ausformuliert hat. Urn nichts anderes geht es dabei. Vielleicht machen Sie sich mal die Mühe, diese Papiere durchzulesen. Dann werden Sie begreifen, worum es geht, und nicht vordergründig irgendwelche Ideologien und Frontstellungen aufbauen, die nicht nötig sind.
— Das werde ich gerne tun, und dann werde ich Sie auch mal aufklären.Ein Zweites: Das gleiche gilt auch bei unserem Antrag. Es wurde ausdrücklich dargestellt, was hier an Korrekturen für das Renten-Überleitungsgesetz von uns angeregt worden ist. Wenn ich Ihre Worte, Herr Bundesminister, Herr Abgeordneter, in dieser Form ernsthaft aufnehme, dann habe ich eigentlich daraus geschlossen, daß Sie zumindest bereit zu sein scheinen, diese Vorschläge sachgerecht zu prüfen, wie man das in einem Konsensverfahren tut, damit wir nämlich diese Ungerechtigkeiten — die wirklich unser System gefährden können, wenn sie über Jahre hinweg aufrechterhalten bleiben, gerade in der jetzigen Situation — möglichst rasch beseitigen. Denn nur dadurch schaffen wir auch Vertrauen in unser System, wenn das Vertrauen in das Rentensystem bestehen bleibt.Ich will Ihnen aus einem Brief zitieren, den ein Verband, der uns nun nicht gerade besonders nahesteht, vor wenigen Tagen an den Bundeskanzler geschrieben hat.
— Der Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner, und Hinterbliebenen, Deutscher Beamtenbund, der Ihnen mit Sicherheit wesentlich näher steht als uns. Dieser Bundesverband schrieb u. a., ihm gehe es darum — und das ist auch in unserem Antrag entsprechend aufgeführt daß man einfach erstens bei den Bestandsrenten die echten Rentenbeitragszahlungen, die echten Verdienste früher anrechnet. Das ist ein legitimer Anspruch bei alten Menschen, die morgen oder übermorgen nicht mehr leben können, um ihnen heute Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und nicht erst, wenn sie im Grab liegen. Da geht es nämlich nicht mehr.Und das zweite, was sie hier aufschreiben — ich darf zitieren, Herr Präsident —:Wenn sich die Bundesregierung diesem Wunsch erneut verschließen sollte,— schreibt der Verband —so darf sie sich nicht wundern, wenn von den Betroffenen verstärkt der Vorwurf erhoben wird, sie mißbrauche das Rentenrecht als politisches Strafrecht.Wir haben Sie bei den Beratungen des RentenÜberleitungsgesetzes, das wir in dieser Frage mit großen Bauchschmerzen mitgetragen haben, darauf hingewiesen. Aber nichts wäre schlimmer, wenn dieser Eindruck sich in dem zusammenwachsenden Deutschland hei einer großen Zahl von Menschen verfestigen könnte. Da wird nämlich mehr Vertrauen zerstört, als wir durch eine solche Korrektur, die Änderungen notwendig macht, wieder aufbauen können.Ein Weiteres zu den hier dargestellten Schutzbehauptungen, daß unsere Verwaltung und auch die Rentenversicherungen bestimmte Maßnahmen nicht rechtzeitig ausführen könnte: Auch Professor Ruland, mit dem ich sehr häufig diskutiere, hat natürlich seinen Auftrag, hat seine Verwaltung und die Beamten in seiner Behörde zu schützen. Völlig richtig, das ist sein legitimer Anspruch. Aber wenn Menschen
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Hans Büttner
ungerecht behandelt werden, ist es unser legitimer Anspruch, die Verwaltung dazu zu bringen und instand zu setzen, daß sie solche Ungerechtigkeiten beseitigt.Es wäre eine Verabschiedung vom Parlamentarismus schlechthin, wenn wir Abgeordnete uns nur noch als Schutzwall gegenüber der Bürokratie verständen. Wir haben die Menschen zu vertreten, nicht unsere Bürokratie. Das ist unsere Aufgabe.
Was Sie heute nachmittag dazu teilweise gesagt haben, war nicht mehr parlamentarisch, war in der Tat eine Aufgabe des Vertretungsrechts der Bürger.
— Wenn man das umsetzt, dann findet sich auch bei den Rentenversicherungsträgern die nötige Bereitschaft, zumindest bei denen, die vor Ort mit den Problemen zu tun haben. Wenn wir ein bißchen mehr darauf achten würden, was die Behörden in den Fällen sagen, bei denen es um die Menschen geht, wenn wir also auf unteren Ebenen darüber redeten, dann würden wir feststellen, daß diese Umsetzung auch im Zuge des Renten-Überleitungsgesetzes möglich ist.Noch etwas dazu: Was Sie hinsichtlich Ihres Eintretens für die Bürokratie hier im Laufe des Tages sonst noch vorgeführt haben, wurde am Verhalten gegenüber den Aussagen der Bundesanstalt für Arbeit zum AFG deutlich. Auch dort haben Ihnen die Zuständigen in der Bürokratie, die die Probleme hautnah erleben, gesagt: Sie verabschieden ein Gesetz, das den Menschen, insbesondere den Ärmsten unter den Armen, Schaden zufügt.Die Arbeitsverwaltung in Bayern hat mir gestern in mehreren Gesprächen mitgeteilt, daß die Hälfte der AB-Stellen künftig auf Grund Ihres Gesetzes wegfallen werden. Die Ärmsten der Armen sind davon betroffen. Darauf achten Sie überhaupt nicht. Aber wenn es darum geht, für einige wenige Menschen Verbesserungen durchzuführen, gilt auf einmal das Wort: Die Bürokratie ist so übermächtig, daß man hier nichts mehr ändern kann. Ein komisches Verständnis von Verwaltung.Aber um zum Schluß versöhnlich bleiben zu wollen:
— Das muß bei einer Regierung, die sich so unbeweglich und reformunfähig zeigt, nicht sein.
— Das kann man sehr wohl sagen. Wo haben Sie denn versöhnt?Wenn ich ernst nehme, was der Herr Abgeordnete Blüm in seiner Eigenschaft als Minister vorhin von diesem Podium aus gesagt hat und wenn Sie das, was wir Ihnen vorgelegt haben, zu lesen in der Lage sind, dann müßte ich daraus eigentlich schließen, daß Sie zustimmen, beide Anträge im Ausschuß zu beraten, um in beiden Fällen zu vernünftigen Reformschritten zu kommen, nämlich zu einer vernünftigen Grundsicherung im Alter und zur Korrektur des RentenÜberleitungssystems.Ich danke Ihnen.
Das veranlaßt mich — wir sind am Ende der Debatte —, zu fragen, ob Sie mit der Überweisung der Anträge, Drucksachen 12/2519 und 12/2663, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse einverstanden sind. — Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan der Gemeinschaft zur Förderung des Fremdenverkehrs
— Drucksachen 12/706 Nr. 3.23, 12/3081 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rolf Olderog Carl Ewen
Dr. Olaf Feldmann
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden, so daß ich auch dies als beschlossen feststellen kann. Ich erteile dann dem Abgeordneten Dr. Olderog das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Bürgern ist die Politik der Europäischen Gemeinschaften zunehmend ein Argernis. Zentralismus, Bürokratismus und eine schwer erträgliche Regelungswut empfinden viele Bürger und politisch Verantwortliche in den Mitgliedsstaaten als eine Zumutung. Deshalb sollten wir diese Debatte heute — auch wenn sie vor ziemlich leerem Hause stattfindet — nutzen, um auch Grundsätzliches zur europäischen Tourismuspolitik zu klären.Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Ich bedauere, daß die Bundesregierung diesem Aktionsplan zur Förderung des Fremdenverkehrs im EG-Ministerrat schon vor der parlamentarischen Sommerpause zugestimmt hat. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihre Zustimmung verweigert.Was die Europäische Kommission in diesem Aktionsplan, was die EG aber auch in vielen Dokumenten anderer Art an Zielsetzungen, Maßnahmen und Forderungen zur Tourismuspolitik niedergelegt hat, geht weit über ihre Kompetenzen hinaus. Sie maßt sich an — immer weiter und breiter ausufernd —, in jeden nur denkbaren Bereich des Fremdenverkehrs hineinzureden, und schreckt uns durch ihren anscheinend grenzenlosen Aktionismus.Sehr viele Vorschläge dieses Aktionsplanes sind an sich zweifellos sinnvoll und sympathisch. Aber wir von der Union richten gegen diesen Plan einen zentralen
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Dr. Rolf Olderogordnungspolitischen Vorwurf: Er verletzt in eklatanter Weise den Grundsatz der Subsidiarität.Meine Damen und Herren, die Europäische Gemeinschaft — das sind heute leider zu viele Eurokraten, hoch oben auf dem europäischen Gipfel, weit weg von den Bürgern unten. Soll es wirklich Aufgabe der allerhöchsten europäischen Ebene sein, Vorschläge durchzusetzen, die z. B. regeln, wie in den Museen in München, Flensburg, Kopenhagen oder Palermo Besucher empfangen werden und welche Broschüren und Kataloge dort auszulegen sind? Wissen und schaffen das nicht die Verantwortlichen in den Kommunen, den Regionen, den Ländern oder den Mitgliedsstaaten selbst? Für wie inkompetent und hilflos hält Brüssel die Verantwortlichen unterhalb der europäischen Ebene eigentlich?Um ein anderes Beispiel zu nennen: Soll es wirklich Aufgabe der Brüsseler Administration sein, bis ins Detail ein Aktionsprogramm zu erstellen, das für Angebote von Urlaub auf dem Bauernhof sorgt — etwa auf Fehmarn — und auch noch die Verantwortung für Werbung und Marketing übernimmt?
Das ist doch die Aufgabe der örtlichen, privaten Werbegemeinschaften
in Schleswig-Holstein,
zumindest aber in Deutschland. Fällt dies nicht in die politische Verantwortung der kommunalen Ebene, vielleicht auch in die einer Ebene darüber? Mit Sicherheit ist es nicht die Aufgabe der Verantwortlichen in Brüssel!
Gleiches gilt für andere Bereiche aus diesem Dokument: Was ist mit Bildungsreisen und Kulturtourismus? Ist es Aufgabe von Brüssel, eine Vielzahl von Projekten auf die Beine zu stellen und sich damit —ich zitiere — „den Weg zu einem dauerhaften Engagement der Gemeinschaft auf diesem Gebiet zu öffnen"? Soll Brüssel Reiseführer und Karten für europäische Kulturreisen erstellen? — Das ist nun doch wirklich die originäre Aufgabe der örtlichen Fremdenverkehrsämter.Es ist zweifellos ein sympathisches Ziel, daß Brüssel mit einem umfangreichen Paket von Maßnahmen dafür sorgen will, daß auch den 40 % der Bevölkerung in der Europäischen Gemeinschaft, die noch nicht Jahr für Jahr eine Reise machen können, zu einer Reise verholfen wird. Aber auch das gehört doch nicht in das Aufgabenfeld der supranationalen europäischen Verwaltung.
Auch die Fremdenverkehrswerbung für den Urlaub inDeutschland, Frankreich, Italien, Griechenland istnicht die Verwaltungszuständigkeit von Brüssel, sondern am besten die der privaten Fremdenverkehrswirtschaft, allenfalls noch die der Nationalstaaten oder der von ihnen beauftragten Organisationen, die das ja auch tatsächlich ganz ordentlich machen.Gott sei es geklagt, daß im EG-Vertrag leider auch die Zuständigkeit für den Fremdenverkehr verankert worden ist. Glücklicherweise aber wurde die Regelungszuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft eindeutig abgelehnt.
Das für uns Allerwichtigste und Erfreulichste ist, daß in dem Vertrag von Maastricht vor allem ein ganz fundamentales Prinzip einer vernünftigen und bürgernahen Verwaltung und Politik aufgenommen worden ist, der Grundsatz der Subsidiarität, zu deutsch — Blüm hat es so formuliert —, laßt die Kirche im Dorf. Jede Maßnahme in Brüssel muß nach diesem Prinzip zulässig sein. Subsidiarität heißt zunächst einmal, daß die Europäische Gemeinschaft, der Staat, die öffentliche Hand überhaupt nur dann und nur insoweit tätig werden dürfen, als die private Wirtschaft, die freien Verbände und Organisationen eine Aufgabe nicht selbst lösen können
— oder es nicht tun, wenn ein Bedarf dafür besteht.Zum zweiten heißt Subsidiarität, daß grundsätzlich die untere staatliche Ebene Vorrang vor der höheren hat. Das bedeutet letztlich, daß Brüssel nur dann zuständig ist, wenn weder die Kommunen noch die Länder und Regionen noch die Nationalstaaten zur befriedigenden Lösung des Problems fähig sind. Ich betone mit ganz großem Nachdruck, Fremdenverkehr und Tourismus sind grundsätzlich und vorrangig Aufgabe der privaten Wirtschaft und der im gesellschaftlichen Bereich tätigen Fremdenverkehrsorganisationen. Gibt es einen Handlungsbedarf für die öffentliche Hand, dann stehen am Anfang Kommunen und Länder, erst danach der Bund und schließlich nur ausnahmsweise einmal die EG. Ich will gerne zugeben, daß Brüssel gelegentlich aus besonderem Anlaß für internationalen Informationsaustausch sorgen und Pilotprojekte durchführen darf. Das ist sicher so umfassend aber nicht geboten.In dieser ausufernden, flächendeckenden Ausweitung mit diesem im Aktionsplan und in anderen Dokumenten enthaltenen grenzenlosen Aktionismus, his in den letzten Winkel des Tourismusfeldes, ist die Aktivität von Brüssel ein Verstoß gegen die Subsidiarität. Gegen diesen Grundsatz wird in Brüssel täglich und auf allen Feldern immer wieder verstoßen.Genau diese schlimme Neigung, sich überall und für alles zuständig zu erklären und mit einer unermüdlichen Regelungswut nicht nur überflüssige, sondern auch meist leider unverständlich formulierte Vorschriften und Aktionspläne zu produzieren, ist eine der Ursachen, daß dieses Europa vielen Menschen in den Mitgliedsstaaten immer ferner, fremder und bedrohlicher wird. Gerade weil ich Europa will und Maastricht für notwendig erachte, kritisiere ich diesen
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Dr. Rolf OlderogFehler der Europäischen Gemeinschaft in aller Schärfe.
— Ob das kleine Macken sind, lieber Herr Feldmann, bezweifle ich. Für mich ist das eine sehr große Macke, und leider eine Macke, mit der wir es tagtäglich zu tun haben.
Neuerdings bekennen sich allerdings auch die Beamten und das Europäische Parlament zum Grundsatz der Subsidiarität. So steht es am Ende der Einleitung auf Seite 2 des Papiers, und auf Seite 21 heißt es, ich zitiere:Wichtigstes Kriterium ist die Frage, welche zusätzlichen, sonst nicht erzielbaren Wirkungen eine Aktion haben würde.Insbesondere geht es um „mögliche Synergien". In den im Anhang angefügten Finanzbogen heißt es im dritten Teil wörtlich:Die vorgeschlagenen Aktionen tragen dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung: Ihr Ziel istjetzt kommt die entscheidende Formulierungein Synergiegewinn durch Zusammenfassung von Entscheidungsträgern aller Ebenen.Meine Damen und Herren, das kann doch nicht wahr sein. Wenn diese angebliche Synergie durch Zusammenfassung aller Entscheidungsebenen wirklich ausreichte, könnte Brüssel natürlich auf jedem Feld Kompetenzen an sich ziehen. Ich halte diese Argumentation ordnungspolitisch für verfehlt.Meine Damen und Herren! Der Aktionsplan der Kommission bemüht sich ja noch, allzu verräterische Formulierungen zu vermeiden. Er spricht immer von Hilfen, Koordinierung, Informationsaustausch usw. Wenn Sie Klartext lesen wollen, was die Tourismuspolitiker in Brüssel wirklich wollen, wes Geistes Kind sie sind, dann sollten Sie sich den Antrag und die Begründung des Berichtes des Ausschusses für Verkehr und Fremdenverkehr des Europäischen Parlaments über eine gemeinschaftliche Fremdenverkehrspolitik vom 30. Mai 1991 — Berichterstatter war Eduard McMillan-Scott — zu Gemüte führen.
Hier einige Kostproben, wofür nach Meinung des Ausschusses die EG zuständig sein sollte:
Gründung von Schulungszentren für Kunsthandwerk, Musik und Kunst; Pflege und Nutzung lokaler und regionaler Folklore; Pflege von Naturschutzgebieten; Förderung traditioneller, einheimischer Baustile, Restaurierung verwahrloster Baudenkmäler; Ausarbeitung — man kann nur staunen — von Karten und Führern für Radwanderwege und Fahrradwege; Ausarbeitung von touristischen Fernsehprogrammen über benachteiligte Regionen, usw. usw.Ich verstehe ja, daß die Damen und Herren Abgeordneten in Straßburg auf der Suche nach interessanten Themen sind, aber alles dies ist ordnungspolitisch nun wirklich nicht akzeptabel. Sprecher der Intergroup Tourisme haben sich noch Mitte dieses Jahres enttäuscht darüber geäußert, daß der Aktionsplan die meisten Vorschläge des Europäischen Parlaments nicht berücksichtigt hat und McMillan-Scott hat auf eben dieser Sitzung erklärt, daß der Aktionsplan der Gemeinschaft nur ein erster Schritt sei. Der Vertrag von Maastricht — so forderte er — müsse für den Fremdenverkehr weiter ausgebaut werden.Von gleichem Geist, lieber Herr Feldmann und lieber Carl Ewen, ist auch die europäische Pauschalreiserichtlinie, mit der wir uns Woche für Woche im Ausschuß oder in Gesprächen mit den Verbänden zu unserem permanenten Arger herumschlagen müssen. Das alles ist verfehlt und muß auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, mich nicht falsch zu verstehen. Ich will Brüssel keineswegs alle Kompetenzen absprechen. Es gibt eine Reihe von Fragen, bei denen Brüssel nach meinem Verständnis von Subsidiarität geradezu gefordert ist, tätig zu werden. Einige zentrale Punkte: Herstellung gleicher — ich sage günstiger — Rahmenbedingungen für alle EG-Touristikunternehmen, z. B. Harmonisierung der die Betriebe treffenden Steuern sowie Gewährleistung eines freien Wettbewerbs; Durchsetzung hoher EG-einheitlicher Umwelt- und Hygienestandards; Aufbau einer europaeinheitlichen Fremdenverkehrsstatistik; Herr Feldmann, wie lange wird darüber geredet? Aber es passiert nichts.
— Das wollen wir, ich nenne das ja als unsere Themen. Weitere Punkte sind: Entzerrung der europäischen Ferientermine; Abbau aller Grenzformalitäten;
Beseitigung von Devisenbeschränkungen und -kontrollen im Reiseverkehr; schnellere Abfertigungen im Busverkehr; Harmonisierung und gegenseitige Anerkennung von beruflichen Abschlüssen; einheitliches Bildzeichensystem zur besseren Information der Touristen und schließlich auch Informationsaustausch sowie die wissenschaftliche Forschung zu Fragen von grundsätzlicher Bedeutung.Meine Damen und Herren, ich will noch etwas weiteres Positives zu den Fremdenverkehrspapieren aus Brüssel und Straßburg sagen Es ist erfreulich, daß die Europäische Gemeinschaft die große wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedeutung des Fremdenverkehrs erkannt hat. Auch die verabschiedeten Dokumente haben ihren Wert, zwar nicht als Aktionspläne, wohl aber als eine wirklich eindrucksvolle Sammlung hervorragender, touristischer Ideen, von denen viele in den Kommunen, in der freien Wirtschaft und vielleicht auch auf der Ebene der Länder und Nationalstaaten umgesetzt werden können. In
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Dr. Rolf Olderogdiesem Sinne lohnt es sich denn auch für jeden Touristiker, Kommunalpolitiker, Hotelier, Reiseveranstalter und Kurdirektor sowie für uns hier im Bundestag, die wir Fremdenverkehrspolitik machen, die Dokumente aus Brüssel sorgfältig zu lesen und zu studieren. Die Ideensammlung ist wirklich nahezu perfekt. Daß aber alle diese Ideen zu Maßnahmen der EG-Politik werden, müssen wir im wohlverstandenen Interesse Europas mit aller Entschiedenheit verhindern.Ich fordere die Europäische Kommission und vor allem auch die Tourismuspolitiker des Europäischen Parlaments auf, die verfehlte Fremdenverkehrspolitik der EG aufzugeben, sie zu stoppen und die Weichen neu zu stellen.herzlichen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Carl Ewen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der vergangenen Woche hat der Deutsche Bundestag in einer historischen Debatte fast einmütig die Zustimmung zu den Verträgen von Maastricht zur Europäischen Union gegeben.Mit dem Aktionsplan der Gemeinschaft zur Förderung des Fremdenverkehrs liegt nun bereits ein Stück Wirklichkeit der EG-Politik vor uns, die direkte Wirkungen auf das deutsche Fremdenverkehrsgewerbe hat. Der Aktionsplan wurde im April 1991 von der Kommission vorgelegt. Bisher hat die EG-Politik nur indirekt Einfluß auf den Tourismus genommen. Ich nenne als Beispiele die Deregulierung im Luftverkehr, die Angleichung der indirekten Steuern, die Pläne im Bereich des Gesellschaftsrechts, die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen.Regionalpolitik, Verbraucherschutz, Entwicklung des ländlichen Raumes, Förderung der kulturellen Entwicklung, Umweltschutzpolitik und berufliche Bildung wirken ebenfalls indirekt auf den Tourismus ein.Immer deutlicher wint — hier unterscheide ich mich vom Kollegen Olderog , daß sich der Grundsatz der Subsidiarität nur begrenzt aufrechterhalten läßt. Tourismus als Querschnittsaufgabe kann nicht umhin, die vielfältigen Beziehungen zu anderen Politikbereichen zu berücksichtigen.Jeder aufmerksame Beobachter der europäischen Szene weiß, daß die Kommission sich nach und nach in neue Politikbereiche einmischt, dies oft mit Zustimmung des Europäischen Parlaments und des Ministerrates. Daran hat die Bundesregierung dann jeweils doch wohl mitgewirkt, und daran haben unsere Kollegen im Europäischen Parlament mitgewirkt, die den gleichen Parteien wie wir angehören. Nun kann man das begrüßen oder auch nicht. Entweder man entwikkelt Gegenstrategien — dann ist allerdings in der Tat zu fragen, ob man Maastricht zustimmen darf —, oder man versucht, die europäische Politik aktiv mitzugestalten. Abwarten und Tee trinken reicht hier sicherlich nicht.Ich vermisse eine aktive Politik der Bundesregierung zur Entwicklung des ländlichen Tourismus in den Ziel-5 b-Gebieten. Dafür standen 1989 bis 1991 immerhin 176 Millionen ECU zur Verfügung. Für die Ziel-2-Gebiete — vom Strukturwandel betroffene Regionen — wurden noch einmal 267 Millionen ECU ausgegeben. Meines Wissens hat Deutschland daran kaum teilgehabt. Das heißt also, es findet Politik statt, ohne daß wir davon profitieren, obwohl wir sie mitbezahlen.Die Kommunen fühlen sich allein gelassen. Die dramatische Verschlechterung in der Landwirtschaft führt zur Verarmung der ländlichen Gebiete. Tourismus kann die finanzielle Lage verbessern helfen, wirtschaftliche Alternativen bieten und Aspekte des umweltgerechten und sozial verantwortlichen Tourismus verwirklichen.Die Bundesregierung muß gemeinsam mit den Ländern geeignete Maßnahmen zur Nutzung der EG-Mittel ergreifen; denn sonst könnte es uns eines Tages passieren, daß die EG feststellt, daß die Ziele, die für die Entwicklung der ländlichen Räume vorgegeben sind, nationalstaatlich bei uns nicht erreicht worden sind, und daraus ableitet, selbst zuständig zu sein und selbst aktiv werden zu müssen. Das gilt dann auch für Programme wie LEADER zur Stärkung ländlicher Gebiete, z. B. einsetzbar für EDV-gestützte Reservierungssysteme, oder LEDA zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch Förderung touristischer Aktivitäten.Der Kulturtourismus ist ein Aktionsschwerpunkt der Gemeinschaft. Der Aktionsplan unterstützt Pilotprojekte im Denkmalschutz, Aktionen zur Förderung der europäischen Kulturhauptstädte, Programme zur Förderung von Kulturveranstaltungen mit europäischem Rang und europäische Kulturreiserouten. Das Stichwort heißt Kulturszene Europa und soll natürlich für Gäste aus aller Welt, insbesondere aus Amerika und Asien, attraktiv gemacht werden.Dies alles findet statt, auch wenn sich die Bundesregierung und der Bundestag unter Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip durch Nichthandeln aus dem europäischen Konzert ausschließen.Wenn man bedenkt, in welch hohem Maße Mittel im Kulturbereich in den jungen Bundesländern benötigt werden, dann ist es mehr als dringend nötig, durch gezielte Informationen der Antragsberechtigten und durch Planungen und Prioritätensetzungen die nationalen Mittel durch EG-Mittel zu verstärken oder durch gemeinschaftliche, grenzüberschreitend abgestimmte Maßnahmen europäische Kultur für den internationalen Tourismus attraktiv zu machen.Ich fordere die Bundesregierung auf, grenzüberschreitende Projekte, etwa im Bereich des Zittauer Gebirges oder des Oderbruchs, unter Einbeziehung der EG zu entwickeln. Im Rahmen der Haushaltsberatungen haben wir die Erarbeitung einer grenzüberschreitenden Tourismuskonzeption „Euroregion Neiße" zwischen Deutschland, Polen und der noch bestehenden CSFR angeregt. Wir messen diesem Vorhaben einen wichtigen Stellenwert bei der Verbesserung der bilateralen Beziehungen zu unseren Nachbarn zu. Daneben erwarten wir wichtige Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Euroregion.
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9674 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Carl EwenImmerhin kann der Fremdenverkehr dafür eine Katalysatorfunktion übernehmen.Der Aktionsplan wurde nicht zu dem Zweck geschaffen, das Subsidiaritätsprinzip zu torpedieren. Der Aktionsplan dient dazu, die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Tourismus zu erhalten und die Qualität der touristischen Leistungen zu steigern.Angesichts der steigenden Konkurrenz auf dem fernöstlichen Markt mit erstklassigem Service und niedrigem Preisniveau vor Ort ist die Bundesregierung gehalten, im touristischen Bereich europäischer zu denken. Es geht nicht um den Schutz des eigenen Marktes gegenüber den europäischen Nachbarn, es geht um den Erhalt der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Tourismus als eines Teils des europäischen Tourismus im internationalen Wettbewerb.Wer Touristen in Asien, Süd- oder Nordamerika für den Urlaub in Deutschland gewinnen will, muß erkennen, daß dies ein Urlaub in Europa ist. Ob dann die Einreise über Frankfurt erfolgt oder nicht, wird entscheidend davon abhängen, wie die Werbung für Europa gestaltet wird.Die Bundesregierung tut meines Erachtens gut daran, allen interessierten Stellen des Fremdenverkehrsgewerbes so schnell und so umfassend wie möglich die Teilnahme an der EG-Tourismusförderung zu ermöglichen. Es müssen die Ansprechstellen geschaffen werden, die notwendig sind, damit die Aktionsprogramme der EG transparent werden. Noch zu oft existieren nur vage Kenntnisse über die Möglichkeiten der EG-Förderung im touristischen Bereich. Das Verfahren und die Zuständigkeiten sind nicht bekannt.Wer dem deutschen Fremdenverkehrsgewerbe und den vielen Initiativen im kulturellen, sozialen und im Umweltbereich den Zugang zu den Fördermitteln vorenthält, der darf sich nicht darüber beschweren, wenn andere Staaten oder Organisationen in den übrigen EG-Ländern die Sahne abschöpfen und ihre Projekte mit EG-Mitteln finanzieren. Das Gebot der Stunde ist, ein EG-Förderungsmanagement durch das Wirtschaftsministerium einzurichten.Das Ziel der Tourismuspolitik der Bundesregierung muß es sein, so aktiv wie möglich die europäische Tourismuspolitik mitzugestalten. Das Ja zu Maastricht verlangt dies geradezu.Es gilt, die Chancen des Aktionsplans für den bundesdeutschen Fremdenverkehr weitsichtig zu nutzen. Andere Länder machen uns dies vor. Im Tourismus müssen wir feststellen, daß natürlich die südeuropäischen Länder innerhalb des EG-Parlaments und innerhalb der Administration in Brüssel eine größere Bedeutung haben; denn touristisch gesehen sind wir ein relativ unbedeutendes Land, wenn man die Zahlen der Übernachtungen vergleicht. Das muß man sehen. Von daher wird es sehr schwer sein, deutsche Interessen durchzusetzen. Die Bundesregierung kann nicht den Kopf in den Sand stecken und sich nachher beschweren, wenn sie nicht — entsprechend ihrer politischen Bedeutung in Europa — angemessen beteiligt wurde.Zusammenfassend stelle ich fest: Die SPD-Fraktion sagt ja zur Beschlußempfehlung. Sie erwartet von der Bundesregierung eine aktive Unterstützung der vom Europäischen Parlament und der EG-Kommission entwickelten Tourismuskonzeption durch nationale Maßnahmen, die mit den Ländern und, wo möglich, mit den Nachbarstaaten abgestimmt sind.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die F.D.P. sagt ja zu Europa. Wir nehmen auch gelegentlich kleine Macken in Kauf. Wir stimmen dem Aktionsplan der Gemeinschaft zur Förderung des Fremdenverkehrs zu, so wie er am 13. Juli 1992 vom Rat verabschiedet wurde. Darin, meine Damen und Herren, hat sich einiges geändert; es sind wirklich einige Giftzähne gezogen worden.Wir fordern die Bundesregierung aber auch auf, sich in Brüssel dafür einzusetzen, daß bei der Umsetzung des Aktionsplanes der Grundsatz der Subsidiarität strikt beachtet wird, so wie die Subsidiarität in Maastricht beschlossen und nachträglich in die EG-Verträge unter Art. 3 b eingefügt wurde und wahrscheinlich auch am Wochenende in Birmingham auch eine große Rolle spielen wird.
Wir begrüßen, daß der Fremdenverkehr in den Tätigkeitskatalog der Gemeinschaft in Maastricht neu aufgenommen wurde; denn der Tourismus ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in Europa. 5 % des Bruttoinlandsprodukts entfallen auf den Tourismus, und fast 6 % der Erwerbstätigen sind im Tourismus tätig. Fast acht Millionen Menschen in Europa arbeiten im Tourismus.So richtig es ist, den Fremdenverkehr in den Tätigkeitskatalog einzubeziehen, so richtig ist es auch, daß es keine Gemeinschaftskompetenz für den Tourismus gibt. Das ist in Maastricht zwar diskutiert, aber abgelehnt worden. Wir wollen keine zentralistische, reglementierende Brüsseler Hauptzentrale für den Fremdenverkehr. Wir als Föderalisten dabei lassen sich die Baden-Württemberger von den Bayern nicht überrunden — wollen, daß die Länder, daß die Regionen für den Fremdenverkehr zuständig bleiben.
Herr Kollege Olderog, wir sollten aber gegenüber Brüssel fair sein, denn wir wissen doch, daß viele Regelungen, die von Brüssel kommen, durch die nationalen Regierungen angeregt und auf die Schiene gebracht wurden.
— Nein, vieles kommt auch von den nationalen Regierungen, nicht nur vom Parlament. Richtig ist: Wenn die Kommission etwas beschließt und sich nicht dagegen wehrt, dann ist sie natürlich auch mit schuld daran. Auch die Kommission, auch der Rat in Brüssel kann nein sagen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9675
Dr. Olaf FeldmannDie F.D.P. begrüßt daher, daß im Beschluß des Rates vom 13. Juli 1992 — nur darauf beziehe ich mich jetzt — unsere im Fremdenverkehrsausschuß vorgetragenen Argumente mit berücksichtigt wurden. Neu ist, daß neben der stärkeren Beachtung des Subsidiaritätsprinzips auch die Mitwirkungsrechte der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung gestärkt wurden und daß das ganze Aktionsprogiamm zeitlich — auf drei Jahre ab 1993 — und auch finanziell — auf 18 Millionen ECU — begrenzt wurde.Die F.D.P. begrüßt auch, daß sich der Aktionsplan jetzt auf Maßnahmen konzentriert, bei denen Aktionen auf der Gemeinschaftsebene sinnvoll sind, z. B. bei der Entwicklung der Fremdenverkehrsstatistik für die Gemeinschaft, bei der Entzerrung der Ferienzeiten, um eine bessere saisonale Verteilung des Fremdenverkehrs zu erreichen. Wir unterstützen auch die vorgesehen Maßnahmen im Ausbildungsbereich, vor allem die Information von Jugendlichen über Beschäftigungsmöglichkeiten im Tourismus.Volle Unterstützung verdienen auch die vorgesehenen Maßnahmen im Aktionsbereich Tourismus und Umwelt. Hier war die alte Vorlage wirklich sehr, sehr blaß. Gerade wir Fremdenverkehrspolitiker wissen, daß die intakte Umwelt nicht nur Lebensgrundlage für uns alle ist, sondern auch Existenzgrundlage für das Fremdenverkehrsgewerbe. Deswegen ist Umweltschutz langfristig auch Existenzsicherung für den Tourismus. Deswegen verstehen wir Fremdenverkehrspolitiker uns auch als Lobbyisten für die Umwelt.Auch die vorgeschlagene Unterstützung von Initiativen zur Förderung des sanften Tourismus, wie sie in der Vorlage enthalten ist, hält die F.D.P. für sinnvoll. Wir haben gerade am Montag dieser Woche im Fremdenverkehrsausschuß eine Anhörung zu diesem Thema durchgeführt und erfahren, daß zur Förderung eines umweltschonenden Tourismus objektivierbare, nachprüfbare und erfüllbare Kriterien erforderlich sind. Gefördert werden sollten daher konkrete, praxisorientierte Schritte für eine umweltschonende Betriebsführung. Schlagworte und Ideologien helfen weder der Natur noch den Menschen noch Europa.Unter diesen Prämissen stimmt die F.D.P. dem Aktionsplan der Gemeinschaft zur Förderung des Fremdenverkehrs zu.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Angela Stachowa.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fremdenverkehr und Tourismus sind aus dem Leben vieler Menschen in den Ländern Europas heute nicht mehr wegzudenken, allerdings aus unterschiedlicher Sicht. Für die einen verbirgt sich dahinter die Möglichkeit des Broterwerbs, für die anderen die Befriedigung von Bedürfnissen in der Freizeit- und Urlaubsgestaltung. Nicht zuletzt bringen Fremdenverkehr und Tourismus die Menschen und deren Kulturen näher, eine nichtunwichtige Frage beim Zusammenwachsen Europas.Ich empfinde es als gut, daß sich nicht nur die nationalen Parlamente und die Verantwortlichen in den Regionen verstärkt Fragen des Fremdenverkehrs und des Tourismus widmen, sondern auch das Europa-Parlament und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Die wirtschaftliche und soziale Bedeutung von Fremdenverkehr und Tourismus wird heute prinzipiell nicht mehr in Zweifel gezogen. Immerhin entfallen in der Gemeinschaft schon jetzt über 5 % des Bruttoinlandsprodukts und knapp 5 % des Außenhandels auf den Fremdenverkehr. Dort arbeiten 8 Millionen Menschen oder 6 % der Erwerbstätigen. Tendenz steigend.Die vorliegenden Dokumente zeigen das Bemühen der Zuständigen in der Europäischen Gemeinschaft, unter Berücksichtigung der Auswirkungen des künftigen Binnenmarkts und der Wirtschafts- und Währungsunion die weitere Entwicklung und den Strukturwandel des Fremdenverkehrs und Tourismus in Europa zu fördern. Die Diskussion zu diesen Dokumenten, auch hier in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, beweist zugleich, wie schwierig es ist, viele Partner mit ihren eigenen spezifischen Interessen unter einen Hut zu bringen. Die Profilierung einer gesamteuropäischen Tourismuspolitik steht erst am Anfang und wird nicht einfach sein.Wer ja zu Maastricht sagt, der muß auch die flankierenden Maßnahmen zur Verwirklichung der Europäischen Union auf anderen Gebieten ernsthaft prüfen und kompromißbereit sein. Unter diesem Gesichtspunkt betrachte ich den Aktionsplan der Gemeinschaft zur Förderung des Fremdenverkehrs als ein Angebot, wie Stellung, Ausstrahlung und Anziehungskraft eines gesamteuropäischen Fremdenverkehrs mit seinen vielen staatlichen und vielen privaten Beteiligten in der weltweiten Konkurrenz bestehen und hinzugewinnen können.Es wird wohl niemand behaupten, daß dieser Aktionsplan von Fachleuten erstellt wurde, die man auch nur in die Nähe von Anhängern einer zentralisierten Planwirtschaft stellen könnte.
— Ich bin noch nicht fertig.
Wenn aber in diesem Aktionsplan Forderungen nach bestimmten zentralen Regelungen unüberhörbar und unübersehbar sind, kann dies doch nur eines bedeuten: Das alleinige Vertrauen auf die automatische Regelung aller Fragen durch die Marktmechanismen reicht nicht aus, um diese neue Dimension gemeinsamen Wirkens erfolgreich zu bewerkstelligen, wobei ich durchaus die Gefahren einer zu detaillierten Planung nicht übersehe.Ein Knackpunkt, an dem sich die Geister scheiden, wie mir scheint, ist das Verständnis von Subsidiarität. Ich empfinde, daß dieser Begriff teilweise als Alibi verwendet wird. Im Aktionsplan treffe ich allerorten
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Angela Stachowaauf Aussagen wie Empfehlungen, Hilfestellung, Koordinierung z. B. von Gesprächsrunden, Unterstützung z. B. von Pilotvorhaben, Verbreitung von Erfahrungen usw.Ich sehe darin auch viele Aufforderungen, etwas zu tun, aber keine Verpflichtung, Entscheidungen nicht vor Ort treffen zu dürfen. Deshalb kann ich beispielsweise beim besten Willen nicht verstehen, inwieweit das Subsidiaritätsprinzip durch eine solche Aufforderung verletzt werden soll — ich zitiere — „durch die Wahrung traditioneller einheimischer Baustile auf die regionalen Identitäten und auf die besonderen Merkmale der einheimischen Kultur zu achten".
Ich betrachte dies eher als eine selbstverständliche Notwendigkeit, um Eintönigkeit zu verhindern und Besucher anzulocken. Ich beziehe mich auf die Begründung zu dem Beschluß.Zum Abschluß noch eines. Wenn schon erhebliche Mittel — z. B. im Rahmen des Programmes ländlicher Tourismus — bereitgestellt werden, dann müssen diese zur weiteren Qualifizierung des Fremdenverkehrs genutzt werden, vor allem auch in den neuen Bundesländern. Die Gemeinde möchte ich sehen, die die Mittel nicht annehmen will, nur weil dies dem Subsidiaritätsprinzip widerspricht. Etwas mehr Flexibilität wäre hier schon vonnöten, ebenso wie bei der schrittweisen und durchdachten Verwirklichung des vorliegenden Aktionsprogrammes.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nunmehr erteile ich der Abgeordneten Antje-Marie Steen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Ergänzungen zu den Ausführungen meines Kollegen Ewen machen und hier ganz besonders den Hinweis des Aktionsplanes auf die besondere Situation benachteiligter Bevölkerungsgruppen aufnehmen und die inhaltlichen Empfehlungen voll unterstützen. Seit ich Mitglied des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Tourismus und Fremdenverkehr bin, beschäftige ich mich intensiv gerade mit der Situation der Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und deren Möglichkeiten, Urlaub und Freizeit ungehindert genießen und erfahren zu können. Leider stehen diesem Wunsch viele Einschränkungen gegenüber. Auch ein noch so guter Beschluß wie der des Bundestages von 1990 hat keine entscheidenden und einschneidenden Veränderungen gebracht. Deshalb wäre hier die Frage an die Bundesregierung zu stellen, inwieweit sie die Anregung der Kommission aufgegriffen hat, sich z. B. an Pilotaktionen und vor allen Dingen Programmen für behinderte Touristen zu beteiligen, die auch ältere Menschen erreichen könnten.Inhaltlich von Gewicht ist die Forderung der Kommission nach der Unterstützung von Initiativen für einen Reiseführer, der umfassend Aufschluß über Reise- und Unterkunftsmöglichkeiten gibt. Insbesondere ist zu unterstützen, daß verbindliche Vorgaben für die Ausgestaltung von Fremdenverkehrseinrichtungen wie z. B. Hotels, Sehenswürdigkeiten oder öffentliche Gebäude erfolgen müssen.Allerdings nützt eine Broschüre allein nichts. Hier sollte die Bundesregierung für die Europäische Gemeinschaft beispielgebend sein, wenn es darum geht, zu konkreten Maßnahmen zu gelangen und selbst verbindliche Richtlinien und Standards vorzugeben. Gerade im europaweiten Reiseverkehr sind viele — nach meiner Ansicht zu viele — benachteiligte Personen ausgegrenzt. Nicht nur, daß 50 Millionen Menschen in der Gemeinschaft als behindert gelten, sondern auch die Tatsache, daß fast jeder zweite Europäer und jede zweite Europäerin keinen Urlaub machen können, läßt die Dimension der notwendigen Entwicklung des Sozialtourismus erkennen. Eine Vernetzung der Angebote und Nachteilsausgleiche, die gegenseitige Anerkennung von Freifahrtregelungen sowie die Erweiterung der für Jugendliche und Senioren angebotenen Vergünstigungen bei Reise und Urlaub sind Vorgaben für ein Europa aller Bürgerinnen und Bürger — ebenso wie die des grenzüberschreitenden, barrierefreien Reiseverkehrs und der Reisemöglichkeiten.
Ich kann mich hier nicht der Kritik der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion anschließen,
daß es — so steht es in der Beschlußempfehlung, und ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten — „zu weitgehend" sei, „insbesondere für die am meisten benachteiligten Schichten der Bevölkerung wie junge Leute, ältere Menschen, Einwanderer und Behinderte" ein „Recht auf Urlaub" zu statuieren. Angesichts des verhängnisvollen Urteils des Flensburger Amtsgerichtes, das einen Reiseveranstalter zu Schadenersatz verurteilte, weil sich Touristen durch die Anwesenheit von Behinderten bei gemeinsamen Essenszeiten in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt fühlten, müssen deutliche Signale von Bundestag, Bundesrat und EG ausgehen,
daß Barrieren abgebaut, Begegnungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen vorurteilsfrei möglich werden und Tourismus für alle in Europa erfahrbar wird.
Unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips und der Wahrung der föderalen Bildungssysteme unterstützen wir die Anregung der Kommission zur Festlegung einheitlicher Berufsprofile. Allerdings muß eine Anpassung der Berufsbilder auf dem höchstmöglichen Niveau erfolgen; sie darf keinesfalls zu einer Verschlechterung der Qualifikation in der Aus-
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Antje-Marie Steenund Weiterbildung führen. Unter Einhaltung der EG-Strukturfonds und der Unterstützung von Pilotaktivitäten sind die Möglichkeiten für neue Ausbildungsprogramme und besondere Schwerpunkte wie z. B. im Bereiche Kulturtourismus, Umweltschutz oder Sozialtourismus auszuloten, um durch qualifizierte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen allen Ansprüchen eines hochwertigen Wirtschaftszweiges zu genügen und damit die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Berufe zu erhöhen.
Frau Steen, es ist nicht einfach, Sie zu unterbrechen. Das ist schon eine Kunst. — Bitte schön, Herr Abgeordneter Feldmann.
Frau Kollegin, Sie haben eben die Koalition dafür gescholten, daß wir uns im Fremdenverkehrsausschuß dagegen ausgesprochen haben, ein Recht auf Urlaub für die von Ihnen zitierten Gruppen zu statuieren. Wer soll dieses Recht auf Urlaub — da Sie es für richtig halten — gewähren? Wer soll das bezahlen? Wie soll das vonstatten gehen?
Ich finde allein schon die Formulierung, wie sie in der Beschlußempfehlung steht, sehr diskriminierend. Sich darüber zu unterhalten, wie wir das realisieren, wäre Aufgabe des Ausschusses gewesen und dürfte nicht Inhalt einer Beschlußempfehlung sein.
Frau Kollegin, stimmen Sie mir zu, daß wir nur davon gesprochen hatten, wir hielten es für zu weitgehend. Ich weiß nicht, was in „zu weitgehend" an Diskriminierung steckt.
Ich finde, daß es wirklich eine Diskriminierung ist, wenn Sie in Abrede stellen, daß Menschen Anspruch auf Urlaub haben.
Sie halten es für zu weitgehend, daß das von der EG-Kommission gefordert wird.
— Bitte lesen Sie Ihre Beschlußempfehlung durch. Da steht es drin. Ich möchte, wenn Sie erlauben, ganz gerne in meiner Rede fortfahren.
— Ich denke, wir haben dazu gestern im Ausschuß Gelegenheit gehabt, Herr Dr. Olderog. Wir hatten dieses Thema auf der Tagesordnung. Ich muß Ihnen sagen: Die Präsenz der Abgeordneten auch Ihrer Fraktion um 18.30 Uhr war so miserabel, daß ich
darum gebeten habe, daß dieses Thema nochmals in den Ausschuß kommt.
— Ich möchte gerne in meiner Rede fortfahren.
Meine Damen und Herren, muß es bei diesem Tagesordnungspunkt so heftig zugehen?
— Herr Dr. Olderog, Sie haben zur Zeit nicht das Wort.
Das hat in der Tat die Abgeordnete Frau Steen. Bitte sehr.
Die internationale Zusammenarbeit da zu fördern, wo Ausbildungseinrichtungen und deren Träger, Gewerkschaften, Touristikunternehmen, Fach- und Hochschulen, sich um Probleme der Aus- und Fortbildung bemühen, findet unsere volle Unterstützung. Wir erwarten, daß dem Aspekt des umweltschonenden und sozial verantwortlichen Tourismus Vorrang vor dem sogenannten Ökotourismus eingeräumt wird. Die Vernetzung von grenzüberschreitenden Umweltschutzaktionen und die Vorgabe von Umweltverträglichkeitsprüfungen bei Investitionsvorhaben sind Schritte in die richtige Richtung und müssen regional festgesetzt werden. Die Strukturfonds der EG sollten stärkere Akzente auf fremdenverkehrsbezogene Umweltmaßnahmen und Qualitätsverbesserung der touristischen Angebote sowie umweltbezogene Projekte setzen.
Generell streben wir an, daß die ökonomischen Vorteile, die sich durch den vergrößerten Markt ergeben, zur Anhebung von Umwelt- und Verbraucherstandards, zur Verbesserung von Sozial- und Sicherheitsbestimmungen genutzt werden. Inwieweit ein europäisches Gütesiegel oder ein einheitliches Umweltzeichen der Bedeutung und Zielsetzung des umweltbewußten und sozial akzeptierten Tourismus Rechnung trägt, ist heute noch nicht abschätzbar. Allerdings sollten die Anreize und Erfahrungswerte, die ein sogenannter Umweltpreis auch auslösen kann, begriffen werden und zur Förderung des europäischen Umweltgedank ens genutzt werden.Deshalb hielte ich diese Aktion für unterstützenswert, allerdings mit klaren Vorgaben: daß auch verkehrspolitische Konzepte zur Minderung der Verkehrsbelastung in touristischen Zielgebieten Inhalt des Preises sind. Steuerungselemente, die Massentourismus und das ungehemmte Erschließen neuer Feriengebiete besser lenken und zu neuer Qualität führen können, müssen von der Bundesregierung aufgegriffen und ausgeformt werden. Dazu gehört auch die zeitliche Entzerrung von Schul- und Betriebsferien. Um eine Weiterleitung aller tourismus-
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Antje-Marie Steenpolitisch relevanten EG-Informationen und damit der Umsetzung von Programmen mehr Effektivität zu verleihen, sollte in Brüssel eine Koordinierungsstelle für den deutschen Fremdenverkehr eingerichtet werden. So könnten deutsche Tourismusinteressen besser vor Ort vermittelt werden und dem Prinzip der Subsidiarität mehr Wirkung verliehen werden.Ich schließe mich in der Empfehlung meines Kollegen Ewen an und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich habe jetzt ein kleines Problem. Der Abgeordnete Klaus Brähmig aus Pirna hat darum gebeten, seine Rede zu Protokoll zu nehmen. Dazu muß ich die Zustimmung des Hauses einholen. Die Koalition hat ihre Redezeit verbraucht.
— Und ob das stimmt. — Erheben sich dagegen Einwendungen? — Wenn das nicht der Fall ist, dann bedanke ich mich. *)
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Kolb das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach intensiven Beratungen hat der Rat der Tourismusminister der Europäischen Gemeinschaft am 4. Juni dieses Jahres den Aktionsplan zur Förderung des Tourismus einstimmig beschlossen. Dem Aktionsplan gingen mehrere Empfehlungen und Entschließungen der Europäischen Gemeinschaft zur gemeinschaftlichen Fremdenverkehrspolitik und die Durchführung des europäischen Jahres des Fremdenverkehrs voraus.Erstmalig in dieser Form liegt nun ein Programm vor, das auf die Förderung des Fremdenverkehrs in all seinen Erscheinungsformen abzielt. Mit diesem Dokument, meine Damen und Herren, will der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften die gesamtwirtschaftliche und gesellschaftspolitische Bedeutung des Tourismus in der Gemeinschaft und seinen Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft würdigen.Der Aktionsplan formuliert bewußt keine umfassende Tourismuspolitik, schafft aber eine formelle und systematische Grundlage für die künftige Tätigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs. Über die Notwendigkeit von Gemeinschaftsmaßnahmen im Tourismus kann man unterschiedlicher Ansicht sein. Herr Kollege Dr. Olderog hat das in seinen Ausführungen deutlich gemacht. Wir gehören zu den Staaten, die einer Gemeinschaftspolitik in diesem Bereich nicht allererste Priorität einräumen. Wir können uns allerdings auch nicht den Wünschen der südlichen Mitgliedstaaten verschließen. Für sie hat der Tourismus eine wesentlich größere gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Außerdem besteht bei') Anlage 5ihnen in verschiedenen Bereichen auch noch Nachholbedarf. Ihr nachdrücklich geäußertes Interesse an einem gemeinschaftlichen Aktionsplan kann daher von uns nicht übergangen werden.Vor diesem Hintergrund war es das Ziel, den Aktionsplan auf solche Maßnahmen zu konzentrieren, die wirklich von gemeinsamem Interesse sind, von denen also alle Mitgliedstaaten einen Nutzen haben.
— So ist es, Herr Kollege Feldmann.Die Bundesregierung hat sich dementsprechend von Anfang an für bestimmte Zielvorgaben eingesetzt. Dazu gehören zeitliche und finanzielle Begrenzung des Programms, angemessene Beteiligung der Mitgliedstaaten an der Durchführung, inhaltliche Beschränkung auf Maßnahmen, die der Vollendung des Binnenmarktes dienen und die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer Querschnittsaufgabe unterstützen, und schließlich die Konzentration auf Tätigkeitsfelder, für die eine Gemeinschaftsaktion auch wirklich nutzbringend ist.Der vom Ministerrat verabschiedete Aktionsplan — Kollege Feldmann hat dies schon bestätigt — trägt diesen Anforderungen weitgehend Rechnung. Der Aktionsplan ist für eine Dauer von drei Jahren konzipiert. Es sind Gesamtausgaben in Höhe von 18 Millionen ECU vorgesehen, die nicht überschritten werden dürfen.
Die Mitgliedstaaten haben über einen Verwaltungsausschuß, der aus weisungsgebundenen Regierungsvertretern besteht, ein umfassendes Mitwirkungsrecht, das ihnen die aktive Einflußnahme auf die Durchführung des Aktionsplans ermöglicht. Jedes Jahr findet eine Evaluierung der durchgeführten Maßnahmen statt. Nach Ablauf von drei Jahren entscheidet der Rat, ob das Programm fortgeführt wird.Das Subsidiaritätsprinzip, Kollege Dr. Olderog, ist in dem Aktionsplan nicht nur verbal ausdrücklich verankert. Zahlreiche ursprünglich vorgesehenen Maßnahmen wurden wegen Unvereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz gestrichen oder in ihrer Regelungstiefe auf eine Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten reduziert.
Das gilt insbesondere für die zum Teil sehr weitgehenden Maßnahmenvorschläge des Europäischen Parlaments, wie sie beispielsweise in dem Bericht des Ausschusses für Verkehr und Fremdenverkehr des Europäischen Parlaments über eine gemeinschaftliche Fremdenverkehrspolitik vorgeschlagen waren.
Die jetzt noch im Aktionsplan enthaltenen Maßnahmen sind nach Auffassung der Bundesregierung mit dem Subsidiaritätsprinzip weitestgehend vereinbar.
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. KolbLassen Sie mich das an Hand einiger Beispiele verdeutlichen.An der Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Fremdenverkehrsstatistik, meine Damen und Herren, dürfte kein Zweifel bestehen.
Ebenso unbestritten ist, daß eine solche Aufgabe nur durch alle Mitgliedstaaten gemeinsam erledigt werden kann. Sinnvoll ist es auch, gewisse Untersuchungen auf Gemeinschaftsebene durchzuführen, z. B. Untersuchungen über die Auswirkungen der lauf enden Gemeinschaftspolitiken auf den Tourismus.Auch die gemeinsame Analyse neuer Formen des Tourismus und die gemeinsame Entwicklung geeigneter, an die Nachfrage angepaßter Strategien sind aus der Sicht der Bundesregierung durchaus sinnvoll. Die von vielen Seiten gewünschte Entzerrung der Ferientermine kann letztlich nur durch eine Aktion auf Gemeinschaftsebene erreicht werden.Auch bei dem Katalog der spezifischen Maßnahmen sprechen gewichtige Gründe dafür, daß diese auf Gemeinschaftsebene ausgeführt werden. Bei diesen Maßnahmen geht es vor allen Dingen um die Stützung von Modellvorhaben, die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg und den Erfahrungsaustausch. Mit anderen Worten, es geht darum, guten Ideen und interessanten Initiativen zu einer europäischen Dimension zu verhelfen, Innovation und Zusammenarbeit zu fördern.
Konkret bedeutet das, daß zu bestimmten Themen, z. B. den ländlichen Tourismus, oder zum Verhältnis Tourismus Umweltschutz-Projekte gefördert werden sollen, die Beispielcharakter haben. Neben dem Pilotcharakter sollen die Ergebnisse der Projekte übertragbar und möglichst auch länderübergreifend angelegt sein. Um keine Abhängigkeiten zu schaffen, ist generell — ich halte das für wichtig — nur eine Anschubfinanzierung vorgesehen.
Auf allen Gebieten, die im Aktionsplan angesprochen sind, gibt es Zusammenarbeitspotentiale, die mit geringem Aufwand nutzbar gemacht werden und zu einer Ergänzung des touristischen Angebots in der Gemeinschaft beitragen können. In keinem Fall — das möchte ich ausdrücklich betonen — sieht der Aktionsplan die Förderung von Realinvestitionen vor. Ebensowenig sind im Aktionsplan normative Regelungen vorgesehen.Diese Ausführungen, meine Damen und Herren, beziehen sich ausschließlich auf den Aktionsplan, wie ihn der Ministerrat verabschiedet hat. Ich befasse mich hier nicht mit den wesentlich weitergehenden Vorstellungen, die etwa das Europäische Parlament zu diesem Thema entwickelt hat. Ich stimme mit der Beurteilung des Bundestagsausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus in seiner Beschlußempfehlung überein, daß eine Vielzahl der dort genannten Vorschläge und Maßnahmen mit dem Subsidiaritätsgrundsatz nicht vereinbar wären.In der Gesamtschau, meine Damen und Herren, ist es aus der Sicht der Bundesregierung zu begrüßen, das erstmals ein tourismuspolitisches Mehrjahresprogramm der Gemeinschaft vorliegt, das den Tourismus umfassend und unter Einbeziehung seiner zahlreichen Erscheinungsformen und seiner Berührungspunkte mit anderen Bereichen würdigt. Die Mitgliedstaaten haben begonnen, gemeinsame Interessen auf dem Gebiet des Tourismus zu formulieren. Damit ist ein konstruktiver Prozeß in Gang gesetzt worden.Eine Tourismuspolitik auf Gemeinschaftsebene kann allerdings nicht nur aus einem Bündel von Fördermaßnahmen bestehen. Ebenso wichtig ist, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaft ihre horizontal integrierende Funktion wahrnimmt, d. h. die tourismuspolitischen Belange bei der Formulierung anderer Gemeinschaftspolitiken einbringt. Der Kollege Ewen hat hier von der Querschnittsaufgabe gesprochen. Die Bundesregierung wird die EG-Kommission hierbei im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen.Lassen Sie mich abschließend, meine Damen und Herren, noch ein Wort zur Gemeinschaftskompetenz im Tourismusbereich sagen. Die Diskussion hierüber wird nach Verabschiedung des Maastricht-Vertrages weitergehen. Nach Auffassung der Bundesregierung besteht keine Notwendigkeit zur Einführung einer speziellen Gemeinschaftskompetenz auf diesem Gebiet.
Die Bundesregierung wird dies auch in Zukunft deutlich machen. Die erfolgreiche Durchführung des Aktionsplans wäre ein gutes Argument gegen eine Erweiterung der Gemeinschaftskompetenz, würde doch damit bewiesen, daß die Mitgliedstaaten auch auf der Basis der derzeitigen Kompetenzregelung fähig sind, Gemeinschaftsaktionen dort, wo sie notwendig sind, durchzuführen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren! Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr und Tourismus zum Aktionsplan der EG zur Förderung des Fremdenverkehrs, der Ihnen auf der Drucksache 12/3081 vorliegt. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen ! — Einstimmig angenommen.
Herr Präsident, ich möchte auf einen Druckfehler aufmerksam machen. Geht das über das Protokoll, oder wie läuft das?
Das ist in Ordnung, aber Sie hätten gut daran getan, das vor der Abstimmung zu machen.
Das wollte ich ja, aber Sie haben mich einfach überrollt.
Ich nehme die Schuld auf mich. Korrigieren Sie bitte!
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Auf der ersten Seite der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/3081, über die Sie gerade haben abstimmen lassen, heißt es unter B. Lösung: „Die Realisierung zu weitergehenden Maßnahmen ... " Das ist falsch und sprachlich unverständlich. Es muß heißen: „Die Realisierung zu weit gehender Maßnahmen ..."
Ihrem Wunsch gemäß wird die Änderung vorgenommen unter der Voraussetzung, daß sich keine Einwände im Plenum ergeben.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 10b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Kinderbetreuung
— Drucksachen 12/1449 Nr. 2.7, 12/2155 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marliese Dobberthien Ilse Falk
Auf Vorschlag des Ältestenrates soll die Beratung eine halbe Stunde dauern. Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden.
Die Debatte kann eröffnet werden, ich gebe der Abgeordneten Frau Falk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der zur Diskussion stehenden Empfehlung des Rates zur Kinderbetreuung handelt es sich um eine Vorlage, in der den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft empfohlen wird, Maßnahmen auszuarbeiten, die es Frauen und Männern ermöglichen, ihre beruflichen und familiären Verpflichtungen, die sich aus der Kinderbetreuung und -erziehung ergeben, miteinander in Einklang zu bringen. EG-weit bestehen hier zwischen den einzelnen Ländern und Regionen innerhalb der Mitgliedstaaten beträchtliche Unterschiede, so daß es auch im Hinblick auf den Binnenmarkt 1993 ratsam ist, hier, sofern Defizite bestehen, Initiativen zu ergreifen und zu fördern, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem europäischen Arbeitsmarkt zu erleichtern.Vier Bereiche werden konkret angesprochen: Kinderbetreuungseinrichtungen, Sonderurlaub für Eltern , Rahmenbedingungen, Struktur und Organisation der Arbeit, Teilung der Verantwortung.Es wird betont, daß Maßnahmen immer auch die zentralen, regionalen und lokalen Zuständigkeiten zu berücksichtigen haben, was bei uns sicher von besonderer Bedeutung in bezug auf die Kinderbetreuungseinrichtungen ist. Gerade hier gibt es noch viel zu tun bei uns. Wenn wir uns auch bei vielen Empfehlungen und Richtlinien, die wir aus Brüssel bekommen, häufig zurücklehnen und sagen: das brauchen wir alles nicht, das haben wir schon, so ist es doch im Bereich der Kinderbetreuungseinrichtungen so, daß wir da erhebliche Defizite haben.
Gerade die reiche Bundesrepublik sollte es sich nicht erlauben im europäischen Vergleich bei der Zahl der Einrichtungen auf einem der letzten Plätze zu rangieren.
— Sollte sie aber nicht.
In diesem Zusammenhang appelliere ich eindringlich an die Länder, ihrer Verantwortung durch entsprechende Mittelvergabe für ein bedarfsdeckendes Betreuungsangebot zu sorgen.
Es kann ja wohl nicht richtig sein, daß die Länder bei der Umsetzung des neuen gesetzlich verankerten Anspruchs auf einen Kindergartenplatz, dem sie mehrheitlich im Bundesrat zugestimmt haben, diesen nun blockieren und auf Nichtfinanzierbarkeit verweisen. Hier sollten recht deutlich die Prioritäten in den Länderhaushalten anders gesetzt werden.
Ich will mich im folgenden auf zwei Bereiche der Empfehlung beschränken: Erstens Rahmenbedingungen, Struktur und Organisation der Arbeit. Zweitens Teilung der Verantwortung. Beides sind Bereiche, die noch ein großes Umdenken in unserer Gesellschaft erfordern. Hier können zwar gesetzliche Vorgaben und Rahmenbedingungen, wie sie ja auch im geplanten Gleichberechtigungsgesetz vorgesehen sind, überaus hilfreich sein. Aber sie sind natürlich nur dann wirkungsvoll, wenn ihre Umsetzung von der Überzeugung getragen wird, daß der Wunsch nach Vereinbarkeit von Beruf und Familienpflichten ein berechtigter und zu unterstützender Wunsch ist.Hier liegt auch das besondere Interesse der Frauen an dieser Empfehlung; sind doch sie es, die immer noch die schwierige Verknüpfung von Kinderbetreuung, Hausarbeit und Erwerbsleben meist allein meistern müssen. Noch immer sind es häufig die Männer und Vorgesetzten, die die komplexen Probleme und Anforderungen, die sich daraus ergeben, nicht erkennen oder nicht erkennen wollen.Ich plädiere vehement dafür, daß mit Elternurlaub, Erziehungsurlaub und Teilzeitarbeitsangeboten größere Freiräume für die Familie geschaffen werden, deren Bedeutung für die individuelle Entwicklung von Kreativität und Persönlichkeit bei Kindern nicht hoch genug bewertet werden kann.Darüber hinaus hat in Deutschland wie auch europaweit in den letzten Jahren die Zahl der Alleinerziehenden stetig zugenommen. Insbesondere für diese Gruppe kumulieren die Probleme der Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und in vielen Fällen notwendiger Erwerbsarbeit.Es geht nicht an, daß die davon weit stärker betroffenen Frauen in eine an sich unnötige Sozialhilfeabhängigkeit und damit in soziale Randpositionen gedrängt werden. Auch hier ist es notwendig, den berechtigten Wünschen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch angepaßte Rahmenbedingungen und neue Strukturen der Arbeit Rechnung zu tragen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9681
Ilse FalkEs geht eben nicht um überzogene Forderungen einiger Emanzen, die sich partout nicht an den heimischen Herd zwingen lassen, auch nicht um die hochgesteckten Ziele privilegierter Karrierefrauen. Es geht immer wieder um die alltäglichen Schwierigkeiten von Frauen, die nach mehr oder minder langer Familienphase wieder in ihren erlernten Beruf zurückkehren möchten.Damit dies gelingt, ohne daß für die Frau aus der Doppel- eine Dreifachbelastung wird, fordert die EG-Kommission zu Recht Dienstleistungen, die flexibel, lokal verfügbar und multifunktional sind. In diesen Zusammenhang gehört unbedingt eine gesellschaftliche und finanzielle Aufwertung der verantwortungsvollen erzieherischen Berufe.
Neben alten Forderungen nach abgestimmten Kinderbetreuungseinrichtungen spielt hier eine ganz wichtige Rolle, inwieweit Arbeitgeber bereit sind, mitzuwirken an flexiblen Arbeitszeiten und familienfreundlichen Arbeitsbedingungen in dem Bewußtsein, daß für die Verknüpfung von Familie und Beruf nicht allein die Frau verantwortlich ist. Hier ist viel Phantasie von Vorgesetzten, Personal- und Betriebsräten gefordert.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß in der Empfehlung des Rates ein Artikel dem Thema „Teilung der Verantwortung" gewidmet ist.Ausdrücklich wird hier gefordert, eine verstärkte Beteiligung von Männern zu unterstützen und zu fördern, um so eine ausgewogene Teilung der elterlichen Pflichten zwischen Männern und Frauen zu erreichen und den Frauen eine bessere Eingliederung in das Berufsleben zu ermöglichen. Im Alltag vieler Männer nimmt die Erwerbstätigkeit einen überaus großen Raum ein, und ihre Zeit für die Familie konzentriert sich oft auf wenige verbleibende Abend-und Wochenendstunden.Hier sollten Maßnahmen ergriffen werden, die es auch Männern erlauben, Familienleben und Beruf miteinander in Einklang zu bringen, ohne auf eigene Aufstiegsmöglichkeiten zu verzichten und Diskriminierungen zu befürchten.
Eine bewußtere Teilung familiärer Pflichten zwischen Frauen und Männern auf der Basis familienfreundlicher Arbeitsbedingungen könnte ein wichtiger Schritt sein bei der Gestaltung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, die wir ja alle wollen.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Dobberthien.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal findetFrauenpolitik vor leeren Bänken statt. Aber immerhin haben wir Frauen diesmal die 50 %-Parität.
— Bei der CDU drei Viertel — es wäre schön, wenn der Gesamtanteil an Frauen 75 % betrüge.
— Da haben Sie recht; hoffentlich auch praktizierend.
Kinder oder keine Kinder zu haben berührt nur die Berufstätigkeit von Frauen, nicht aber die von Männern. In der Europäischen Gemeinschaft sind 92 % aller Männer, die Kinder unter zehn Jahren haben, aber nur 44 % aller Frauen mit Kindern unter zehn Jahren, berufstätig.In der Bundesrepublik Deutschland ist der Unterschied noch krasser: 94 % der Väter, aber nur 38 % der Mütter sind berufstätig. Kinder zu haben heißt also für fast keinen Mann Verzicht, wohl aber für mehr als die Hälfte aller Mütter. Dies bedeutet: Verzicht auf Arbeit, Verzicht auf Anerkennung, Verzicht auf Geld. Kinderbetreuung ist nach wie vor Frauensache. Die sogenannten „neuen Väter", in rührenden Kinofilmen und Kindschaftsrechtsdiskussionen beschworen, sind in der täglichen Realität noch immer mit der Lupe zu suchen.
92,4 % aller Mütter geben an, daß die Organisation der Kinderbetreuung bei ihnen liegt. Väter stehen hingegen außen vor. Mehr als jeder zweite Vater, nämlich 56 %, glaubt, keine Zeit für seine Kinder zu haben. Im Durchschnitt beschäftigen sich Väter täglich nur 15 Minuten mit ihren Kindern. Die erschrekkende Folge: Die Hälfte aller Kinder würde lieber auf den Vater als auf den Fernseher verzichten.Kinder zu haben besitzt für Väter auch hinsichtlich ihrer Berufstätigkeit kaum eine Bedeutung. Nur jeder 20. Mann kann sich vorstellen, seine Arbeitszeit nach der Geburt seines Kindes zu verringern. Dagegen können Hobbys und Freizeitaktivitäten für Männer durchaus ein Grund für Teilzeitarbeit sein. Aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für die meisten Männer kein Thema. Die traditionelle Rollenteilung — wie von Männern über Jahrhunderte geprägt — hat die Kinderbetreuung fast ausschließlich den Frauen überlassen. Dies wollen wir Frauen nicht länger hinnehmen.
Eine wachsende Zahl von Frauen will heute — genauso wie jeder Mann — auch dann berufstätig bleiben oder werden, wenn Kinder vorhanden sind. Sie verlangen vom Staat Hilfe und Unterstützung.
— So ist es, Frau Würfel. — Doch die täglicheBetreuungssituation ist miserabel. Mit dem derzeiti-
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Dr. Marliese Dobberthiengen Angebot an Kinderbetreuung sind nur 7 % der Mütter voll und ganz zufrieden. Laut einer „Brigitte"Studie von 1992 beklagen die meisten Mütter fehlende oder zu teure Plätze, zu große Gruppen oder zu ungünstige Öffnungszeiten.
Doch auch wer einen Kinderbetreuungsplatz gefunden hat, muß noch immer Verzicht leisten. Viele Frauen müssen schlechter bezahlte Teilzeitarbeit, einen Arbeitsplatzwechsel und den beruflichen Stillstand in Kauf nehmen, um Arbeit und Kinderbetreuung miteinander vereinbaren zu können.Die Misere ist entstanden, weil jahre-, jahrzehntelang die Bedürfnisse von Müttern mißachtet wurden. Mißachtet wurde auch das Recht eines jeden Kindes auf eine angemessene soziale und pädagogische Betreuung und Förderung. Wie oft haben sich männlich dominierte Gemeinderäte über die Interessen der Mütter hinweggesetzt! Wenn zur Alternative stand: neue Kindergartenplätze oder eine neue Flutlichtanlage, so bedarf es keiner hellseherischen Gabe, das Ergebnis vorherzusagen.
— Wie schön, wenn es sich ändern würde! Aber ich zitiere die Studie von 1992.
In dem Maße jedoch, in dem die schulische und berufliche Bildung von Frauen wuchs und die Kinderzahl sank, verlangten Frauen Hilfen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. So gehört die Kinderbetreuung denn auch zur Problematik der Chancengleichheit der Geschlechter. Wer die Gleichberechtigung will, muß Frauen und Mütter durch die Bereitstellung ausreichender und qualitativ hochwertiger Kindergartenplätze unterstützen. Und wer die Gleichberechtigung der Geschlechter will, muß die Väter dazu bewegen, sich endlich intensiver um ihre Kinder zu kümmern.Darum haben wir auch im Zusammenhang mit der Neuregelung des § 218 zur Unterstützung der Mütter einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für unverzichtbar gehalten
und festgeschrieben. Bei der Finanzierung darf jedoch der Bund Frau Falk, da habe ich eine andere Meinung als Sie — sich nun nicht aus der Verantwortung stehlen und die Länder alleine lassen.
Die Verwirklichung des Verfassungsgebotes der Gleichberechtigung und des Kindeswohls sind auch eine gesamtdeutsche und bundesstaatliche Aufgabe.Die benötigten 21 Milliarden DM sind Ausdruck der gewaltigen Versäumnisse der Vergangenheit. Ich bin sicher: Wenn schon früher mehr Frauen in der Politik Einfluß gehabt hätten, wäre es zu solchen Defizitenund Fehlentwicklungen nie gekommen. Nur in der ehemaligen DDR hat der Staat für ein ausreichendes Kinderbetreuungsangebot gesorgt, nicht immer qualitativ und ideologisch zufriedenstellend, aber zweifelsohne war es ein wichtiger Beitrag zur Entlastung der Mütter. Ich kann es daher weder begreifen noch billigen, wenn in ostdeutschen Kommunen Kindergärten verkleinert oder gar geschlossen werden. Das ist nicht nur kinder- sondern auch frauenfeindlich.
Doch das Rad der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen. Inzwischen erhalten Mütter eine politische Unterstützung durch die Europäische Gemeinschaft. In der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte haben sich Mitgliedstaaten verpflichtet, eine bessere Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit zu schaffen. Drei EG-Aktionsprogramme zur Chancengleichheit für Frauen und Männer verfolgen ebenfalls dieses Ziel.Zur Zeit bestehen noch große Unterschiede in den einzelnen Mitgliedstaaten. Belgien, Frankreich und Dänemark bieten bisher die beste Versorgung an, Irland und Portugal rangieren hinten. Die Bundesrepublik nimmt gerade eben einen mickrigen Mittelplatz ein. Nur für 30 % der unter dreijährigen und für 60 % der unter sechsjährigen Kinder gibt es einen Betreuungsplatz. Bloß 12 % aller Kinder können ganztätig untergebracht werden. Massive Nachbesserungen tun hier not. Zu Recht rät der Ministerrat in seiner Empfehlung den Mitgliedstaaten, sowohl die Kinderbetreuung sowie den Elternurlaub auszubauen als auch die verstärkte Beteiligung von Männern an elterlichen Pflichten zu fördern.Doch trotz der unterstützungswerten Forderungen bleibt die EG-Vorlage enttäuschend. Es handelt sich um eine Ansammlung unverbindlicher Empfehlungen, die zu befolgen den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Bei Nichtbefolgung brauchen sie mit keinen Sanktionen zu rechnen. Es muß nur berichtet werden. Auf den nach drei Jahren vorzulegenden Bericht dürfen wir dann auch gespannt sein.Meine Damen und Herren, die Ihnen vorliegende Beschlußempfehlung — wie von der Mehrheit des Ausschusses für Frauen und Jugend abgegeben — ist so banal, daß es sich kaum lohnt, darüber abzustimmen. Enttäuschend ist auch, daß der Änderungsantrag des Europäischen Parlaments, in dem die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, verbindliche Rechtsvorschriften zu erlassen, vom Rat nicht übernommen wurde. Unserer Kritik an der Unverbindlichkeit einer solchen Empfehlung mochten die Regierungsfraktionen im Ausschuß leider nicht zustimmen. Sonntagsreden und Handeln klaffen bei Ihnen noch immer sehr weit auseinander. Ich hätte mir mehr frauenpolitischen Mut gewünscht.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Uta Würfel.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992 9683
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Studie sagt aus, daß in allen europäischen Ländern ein gravierender Mangel an Betreuungseinrichtungen besteht und daß sich auch innerhalb des generell zu niedrigen Angebots an außerhäusigen Betreuungsmöglichkeiten große Unterschiede in Europa von Land zu Land zeigen. Nach den Ergebnissen der EG-Studie — und das ist ja nun wertungsfrei zu sehen — sieht es so aus, daß 1990 mehr als 30 % der kindergartenreifen Kinder bei uns in Deutschland keinen Kindergartenplatz vorfanden. Meine Vorrednerinnen haben es gesagt: Besser wird Deutschland erst dann dastehen, wenn die Kommunen unsere Vorgaben in dem Gesetz zur Neuregelung des § 218 StGB bis zum 1. Januar 1996 umgesetzt haben und dann zumindest für jede Mutter und jeden Vater, für jedes Elternpaar, das seine Kinder in einen Kindergarten schicken möchte, ein Kindergartenplatz vorhanden ist.
Auch für all diejenigen, die ihre Kinder durch eine Tagesmutter betreuen lassen wollen, weil ihre Kinder unter drei Jahre alt sind, sie berufstätig sein müssen und sich zu Flause keine andere Möglichkeit findet, muß eine Tagesmutter zur Verfügung stehen. Wie gesagt: Wir mußten den Kommunen Vorgaben geben
einen zeitlichen Vorlauf bis 1996 — weil erst noch die Kindergärtnerinnen ausgebildet werden müssen und die Infrastruktur — Kindergärten — errichtet werden muß.
Es ist immer ganz gut, einen Blick über den eigenen Gartenzaun zu werfen. Man sieht dann, daß Belgien und Frankreich in der Vergangenheit vorbildlich gehandelt haben. Den dortigen Müttern und Vätern stehen zu 95 % Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung.
Wenn ich nun „Mütter" sage, dann einfach deshalb — meine beiden Vorrednerinnen haben es betont —, weil offensichtlich Kinderbetreuung immer noch eine Sache der Mütter ist und daß Väter baß erstaunt sind, wenn ihnen ihre Ehefrauen erzählen, daß sie für ihr Kind — ihr gemeinsames Kind — keinen Kindergartenplatz, keine Betreuungsmöglichkeit finden. Deshalb verbietet sich eine Arbeitsaufnahme und eine berufliche Tätigkeit für diese Mutter von selbst, denn sie kann ihr Kind bislang in Deutschland nicht unterbringen.
In Dänemark sieht es wesentlich besser aus. Dort kann jedes zweite Kind unter drei Jahren in einer Krippe untergebracht werden. Bei uns sieht es so aus, daß 97 % der Kinder völlig leer ausgehen. Nur für 3 % der unter dreijährigen Kinder gibt es eine gute Unterbringungsmöglichkeit.
An den vorhandenen Zahlen sieht man also, daß die bestehenden Kinderbetreuungseinrichtungen nicht mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt gehalten haben. Die gesellschaftliche Entwicklung ist, daß Frauen heute wünschen, Kinder zu haben, aber gleichzeitig auch ihre berufliche Qualifikation dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen wollen. Sie wollen berufstätig und erwerbstätig sein, und dies nicht nur, weil sie damit unter Umständen für die Familie Geld verdienen müssen, sondern auch, weil es ihnen persönlich große Freude macht, ihre Qualifikationen zu zeigen und sie am Arbeitsmarkt einzubringen.
Tatsache ist natürlich auch, daß insbesondere Alleinerziehende darauf angewiesen sind, Kinderbetreuungsmöglichkeiten vorzufinden, wenn sie ihren Lebensunterhalt für sich und das Kind selbst bestreiten wollen, wenn sie es also ablehnen, der Fürsorge anheimzufallen, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Für diese Frauen, wenn sie vom Erzeuger des Kindes verlassen worden sind oder es ihre eigene Entscheidung war, allein zu leben, ist es besonders tragisch, wenn sie den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind nicht allein sicherstellen können.
Ganz schlimm ist es für die Frauen im Osten, die vor der Wiedervereinigung gewöhnt waren, daß sie berufstätig sein konnten und daß sie gleichzeitig ihre Kinder gut untergebracht wußten. Wenn es heute nun so ist — ich habe zwar gerade von meinem Kollegen Unterschiedliches erfahren —, daß die Betriebe geschlossen sind und daß den vorher berufstätigen Müttern sich die Möglichkeit der Kinderbetreuung nicht mehr bietet, ist es besonders tragisch, wenn die Frau einen Arbeitsplatz angeboten bekommt und sie die Arbeit nicht annehmen kann, weil es — so wie es den Frauen bei uns im Westen widerfährt — überhaupt keine Kinderbetreuungsmöglichkeit gibt. Auch ist es nicht mehr so wie früher, daß die Mütter dieser jungen Frauen — die Omas — zur Kinderbetreuung der Enkel zur Verfügung stehen.
Es ist schon gesagt worden, daß einzelne Firmen — auch bei uns in Deutschland — erkannt haben, wie wichtig es ist, Frauen eine Erwerbsmöglichkeit, eine berufliche Tätigkeit zu geben, deren Qualifikation im Betrieb anzunehmen und deshalb jetzt betriebliche Kindergärten vorzusehen. An uns hier wird es sein, von seiten des Staates und des Gesetzgebers den Betrieben noch ganz andere steuerliche Erleichterungen einzuräumen, damit sie sich wirklich genötigt sehen oder ermuntert werden, diese betrieblichen Kindergärten einzurichten.
Meine Redezeit ist zu Ende, Herr Präsident. Ich schließe deshalb.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gebe zu, daß ich mit der heutigen Debatte über die Verbesserung der Kinderbetreuung in den Staaten der EG meine Probleme habe. Einerseits haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, heute morgen mit der Annahme des Entschließungsantrages zum Asyl einer ganzen Anzahl ausländischer Kinder, die allein oder mit ihren Eltern dem Elend in ihrer Heimat entkommen wollen, die Chance auf eine menschenwürdige Zukunft genommen.
Andererseits diskutieren wir jetzt eine Beschlußempfehlung, die dazu beitragen soll, den gewünschten weißen westeuropäischen Kindern eine behütete Kindheit zu sichern. Darin liegt für meine Gruppe und
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9684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Petra Blässfür mich eine unglaubliche Demagogie. Dennoch will ich mich zur Sache äußern.
Angesichts der fehlenden Festlegungen zu sozialen und Frauenrechten im Maastrichter Vertrag ist die Frage, wie das 3. Aktionsprogramm zur Herstellung der Chancengleichheit von Frauen und Männern durch konkrete Einzelregelungen untersetzt wird, von großer Bedeutung. Die Frage der Kinderbetreuung ist in diesem Kontext ein zentrales Problem, ohne dessen Lösung Frauen weder eine eigenständige ökonomische Existenz begründen können noch Chancen auf eine Verbesserung ihrer Stellung in der Gesellschaft haben,Um so enttäuschender ist der vor uns liegende Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Kinderbetreuung ausgefallen. Sowohl der ursprünglich eingebrachte Entwurf als auch die vielfältigen Verbesserungsvorschläge des Europäischen Parlaments — ich füge hinzu: der Ausschuß für Frauen und Jugend weilte ja gerade zum Zeitpunkt der Diskussion in Brüssel spiegeln sich in diesem an Unverbindlichkeit kaum zu überbietenden Dokument in keiner Weise wider. Selbst die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU im Ausschuß für Frauen und Jugend haben darauf hingewiesen, daß es durchaus konkreterer und verbindlicherer Regelungen in der Kinderbetreuung von seiten der EG bedarf. Erneut wird auf einem entscheidenden sozialpolitischen Gebiet auf europäischer Ebene hinter bereits gefaßte Beschlüsse zurückgegangen.Leider ist dies kein Einzelfall. Es ist symptomatisch für die Art und Weise der europäischen Vereinigung, daß direkt und indirekt immer Frauen die Lasten dieses Harmonisierung genannten Abbaus sozialer Standards tragen sollen. Das erinnert in fataler Weise an die Art und Weise der deutsch-deutschen Einigung, nur daß in der EG der Hinweis auf 40 Jahre nicht helfen wird. Offensichtlich ist es in der EG leichter, den Arbeitgebern optimale Bedingungen für erfolgreiche Geschäfte zu schaffen als den Bürgerinnen und Bürgern soziale Rechte auf einem hohen Niveau.Wenn das so ist, müßte eine praktische Schlußfolgerung der Bundesregierung lauten, eigene Rechtsgrundlagen zu schaffen. Daran aber hapert es auf dem Gebiet der Kinderbetreuung in der Bundesrepublik seit 20 Jahren. Die überwältigende Mehrheit der Frauen glaubt es nicht mehr, wenn Parlamentarierinnen und Parlamentarier in diesem Hause in wohlgesetzten Worten ihre Kinderfreundlichkeit beschwören. Sie wissen, spätestens bei der Frage, wie diese zu finanzieren sei, hört die Kinderfreundlichkeit auf. Sie wissen auch, im Alltag sind sie es selbst, die sich nach einem Kinderbetreuungsplatz abstrampeln und dauernd mit Notlösungen und einem schlechten Gewissen leben müssen. ln den meisten alten Bundesländern ist die Betreuung für Kinder im Alter bis zu drei Jahren nur für 2 % aller Kinder möglich. Es fehlen derzeit etwa 500 000 Kindergartenplätze.
Daß die Situation in den neuen Bundesländern nicht so dramatisch ist, berücksichtige ich hier nicht, weil dies kein Verdienst der Bundesregierung ist. Sie verwaltete bislang nur die existierenden Mängel, ohne Ansätze für Abhilfe erkennen zu lassen. Der Entwurf für den Haushalt 1993 läßt die Schlußfolgerung zu, daß sich an dieser Praxis nichts ändern soll.Kinder bereichern das Leben — so stand es vor drei Jahren auf Werbeplakaten des Bundesfamilienministeriums. Nach einer repräsentativen Umfrage aus diesem Jahr sind zwei von drei Müttern in der reichen Bundesrepublik der Meinung, daß es ein Luxus sei, sich Kinder leisten zu können. Für dieses Resultat ihrer Familienpolitik sollten sich die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker schämen.Ich danke Ihnen.
Nunmehr erteile ich der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Angela Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in den letzten Tagen oft über Europa gesprochen, und wir haben gesagt, daß es ein Europa sein soll, das nicht nur aus Verwaltungsrichtlinien besteht, sondern ein Europa für Menschen, in dem auch bestimmte Mindestanforderungen auf sozialem Gebiet in allen Mitgliedsländern erfüllt sind. Dazu gehört für mich und viele andere selbstverständlich auch die Kinderbetreuung. Deshalb begrüße ich, daß sich der Rat dieses Themas angenommen hat.Ich möchte aus der Empfehlung der EG zur Kinderbetreuung drei Bereiche hervorheben.Erstens. Ich stimme der Empfehlung grundsätzlich zu. Dennoch bedauere ich, daß die Diskussion um die Kinderbetreuung in der Empfehlung vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Erwerbstätigkeit der Frauen steht. Es ist richtig: Die EG hat in Fragen der Kinderbetreuung keine verbindliche Zuständigkeit. Sie ist vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft, die sich mit den sozialen Rechten und Bedingungen der Menschen befaßt. Deshalb verstehe ich auch den Ansatz der Empfehlung. Ich will hier aber ausdrücklich sagen: In Deutschland stellen wir die Interessen der Kinder in den Vordergrund und haben deshalb den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz auch im Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgesehen und nicht etwa im Gleichberechtigungsgesetz.
Es kann natürlich nicht darum gehen, Frauen- und Jugendpolitik nun gegeneinander auszuspielen. Väter oder Mütter, die sich vor allem in den ersten Lebensjahren des Kindes ganz der Erziehung widmen wollen, verdienen genauso unsere Anerkennung und Unterstützung. Das müssen wir auch in unserer Politik stärker verdeutlichen.
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Bundesministerin Dr. Angela MerkelWir müssen aber auch im Sinne der Wahlfreiheit für Frauen und Männer selbstverständlich Kinderbetreuungsmöglichkeiten für all die Eltern schaffen, die sich für eine Erwerbstätigkeit entscheiden. Deshalb ist die EG-Empfehlung zu begrüßen. Ich sage hier aber noch einmal ausdrücklich, daß wir es bei Kindern zwischen drei Jahren und dem Eintritt in das Schulalter aus jugendpolitischer Sicht, aus pädagogischer Sicht für wichtig und richtig halten, daß Kinder in den Kindergarten gehen, egal, ob die Mütter und Väter erwerbstätig sind oder nicht.Die EG fordert nun ein flächendeckendes, erschwingliches — das ist richtig und zuverlässiges Angebot an Betreuungsplätzen. In vielen unserer EG-Partnerländer und auch in den neuen Bundesländern ist eine quantitative Versorgung mit Plätzen bereits weitgehend gesichert, wenn es auch noch ganz deutliche qualitative Unterschiede gibt. In den alten Bundesländern fehlen leider 600 000 Kindergartenplätze. Hier besteht Handlungsbedarf. Wichtige Schritte sind getan worden. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist auf den 1. Januar 1996 festgeschrieben. Ich hoffe, daß dies auch machbar ist. Wir werden noch schwierige und dauerhafte Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden führen müssen.
— Das schreckt uns nicht, aber die Gespräche müssen geführt werden.
Die Ministerpräsidenten insbesondere SPD-regierter Bundesländer haben zu meinem großen Erstaunen im Bundesrat freudig die Hand gehoben und scheinen diese Aufgabe ganz leicht bis zum 1. Januar 1996 bewältigen zu können.Über die Schaffung eines ausreichenden Angebots hinaus müssen wir natürlich auch für die Flexibilität und die Vielfalt der Betreuungsangebote sorgen. Ich unterstütze deshalb ganz ausdrücklich die Forderung des Rates, den unterschiedlichen Bedürfnissen von Kindern und Familien mehr Rechnung zu tragen.Zweitens. Im Interesse einer besseren Kinderbetreuung verlangt die Empfehlung der EG auch Anstrengungen der Wirtschaft zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dazu zählen mehr Betriebskindergärten ebenso wie familienfreundlichere Arbeitszeiten. Hier kann ich nur sagen: Wir müssen diese Empfehlung der Europäischen Gemeinschaft gemeinsam in die Tat umsetzen. Ich appelliere deshalb an die Sozialpartner, die Belange von Familien auch in Tarifverträgen mehr zu berücksichtigen.
In elf Branchengewerkschaften wird das bereits getan. Das muß die Regel werden,Nun muß ich, Frau Dobberthien, noch einmal ganz deutlich sagen: In den neuen Bundesländern bestehen auch heute noch ausreichend viele Kindergartenplätze. Die Entlassungen von Kindergärtnerinnen sind nur die Folge dessen, daß wir zuviel Kindergärtnerinnen haben. Ich glaube, wir sollten in der Argumentation redlich sein. Ich werde, wenn die Kindergartenplätze nicht ausreichen, sofort auf die Barrikaden gehen. Ich setze mich auch dafür ein, daß die Beiträge — das kommt jetzt als nächstes — sozialverträglich sind. Aber ich wehre mich dagegen, daß wir aus Steuergeldern Kindergärtnerinnen bezahlen, die zur Zeit nicht gebraucht werden. Wir müssen das im Sinne der Menschen aus den neuen Bundesländern auseinanderhalten.
— Gucken Sie sich doch bitte einmal die Gesetze in den neuen Bundesländern an. Sie sind doch alle viel besser als das, was wir aus den alten Bundesländern kennen. Ich bitte Sie: Seien Sie doch redlich und versuchen Sie nicht, die Menschen dort falsch zu informieren!Außerdem möchte ich Ihnen sagen — das wird von allen SPD-regierten Kommunen und Ländern akzeptiert —: Die Kindergartenbetreuung ist inhaltlich und von der Durchführung her keine Bundesaufgabe, sondern es ist eine Aufgabe der Länder. Zur Kulturhoheit der Länder bekennen sich am allermeisten die Länder selbst. Davon können und wollen wir nicht abweichen.
Drittens. In Art. 6 der Empfehlung wird die Verantwortung der Männer für die Betreuung und Erziehung der Kinder angesprochen. Die Empfehlung ist leider recht unverbindlich. Ich hätte mir hier deutlichere, klarere Worte gewünscht. In der Bundesrepublik nehmen nur 1,5 % der Väter Erziehungsurlaub. Dies ist kein Beweis dafür, daß die neue Partnerschaft zwischen Vätern und Müttern in irgendeiner Weise auch schon praktiziert wird. Hier ist Umdenken notwendig. Fortschritte bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sind nur dann möglich, wenn sich die Männer stärker in der Familie engagieren. Ein Beitrag dazu wird sein, daß wir in der Bewertung der Arbeit neue Akzente setzen; denn Frauen sind natürlich oft diejenigen, die weniger verdienen und sich deshalb den Familienaufgaben widmen.Wir bauen ein gemeinsames Europa auf. Dabei dürfen wir die Kinder natürlich nicht vergessen. Sie sind die Zukunft des gemeinschaftlichen Europas. Deshalb müssen wir alles tun, damit dieses Europa kinderfreundlich wird. Daher bin ich auch der Meinung, daß diese — wenn auch kleine — Initiative ein Schritt in die richtige Richtung ist.Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend
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9686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Oktober 1992
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergzu dem Vorschlag der EG zur Kinderbetreuung auf Drucksache 12/2155. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Oktober 1992, 9 Uhr ein.Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend.Die Sitzung ist geschlossen.