Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich Ihnen folgendes mitteilen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Knabe, Wetzel und der Fraktion DIE GRÜNENEinsetzung einer Enquete-Kommission „Langfristiger Klimaschutz"— Drucksache 11/787 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Briefs, Dr. Daniels , Frau Garbe, Dr. Knabe, Wetzel und der Fraktion DIE GRÜNENKlimaschutzprogramm: Sofortmaßnahmen gegen den Abbau der Ozonschicht und die Auswirkungen des Treibhauseffekts— Drucksache 11/788 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hillerich und der Fraktion DIE GRÜNENEinsetzung einer Enquete-Kommission— Drucksache 11/801 —Üb erweisungsvorschlag :Ausschuß für Bildung und Wissenschaft RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie4. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN zu dem Protokoll Nr. 6 vom 28. April 1983 zur Konvention des Europarates zumSchutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe— Drucksache 11/802 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß5. Aktuelle StundeBelastung der Bevölkerung in der Lüneburger Heide durch das NATO-Großmanöver Reforger6. Erste Beratung des von dem Abgeordneten Hüser und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zu Änderung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern— Drucksache 11/803 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß RechtsausschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOZugleich soll mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte — soweit erforderlich — von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Des weiteren ist interfraktionell vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 23 — Erste Beratung des Bundesarchivgesetzes — vorzuziehen. Er soll nach Punkt 20 aufgerufen und in verbundener Debatte mit Punkt 9 der Tagesordnung — er betrifft das Gesetz über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts — beraten werden.Punkt 24 b — hier handelt es sich um die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks — entfällt.Sind Sie mit der Erweiterung bzw. Umstellung der Tagesordnung einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und zum Schutz der Solidargemeinschaft vor Leistungsmißbrauch
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1740 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Präsident Dr. Jenninger
— Drucksache 11/800 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schemken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes legen die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP dem Hohen Hause einen Gesetzentwurf zur Entscheidung vor, der in der Kontinuität unserer Politik steht. Wir machen Politik in wohlüberlegten aufeinanderfolgenden Schritten.
— Die Nervosität kann ich verstehen, Herr Dreßler; das ist das Gewissen der 13jährigen verpaßten Gelegenheit.Wir werden diese Politik zum Wohl der Bürger fortsetzen. An diesem Ziel lassen wir unsere Politik messen. Wir werden auch bereit sein, dies mit dem Bürger draußen durchzustehen.Diese achte Novelle bringt vor allen Dingen in der Regelung der Kindererziehungszeiten endlich eine wegweisende Konzeption. Auch hier stelle ich fest, daß wir vieles nachholen, was in den 70er Jahren versprochen wurde. Die Neuregelung der Finanzierung zwischen Bund und Bundesanstalt für Arbeit ist damit sichergestellt. Es ist nicht der Verschiebebahnhof, wie Kritikaster aus Oppositionskreisen uns dies in diff amierender Weise anzudichten versuchen. Es handelt sich vielmehr um eine notwendige und endlich einmal auf Gerechtigkeitsmaßstab ausgerichtete Rentenpolitik.Die Novelle ist eine handfeste Politik für den Bürger.
Wir verbessern das Leistungsangebot der Arbeitsverwaltung, um insbesondere den Arbeitslosen die Integration in den Erwerbsprozeß zu ermöglichen und zu erleichtern.Sicherlich: Mit der Übernahme des Benachteiligtenprogramms in das Arbeitsförderungsgesetz übernimmt die Bundesanstalt für Arbeit auch die Finanzkompetenz. Das ist ganz wichtig. Gleichzeitig aber gewinnen wir damit für die Berufsausbildung junger Menschen nunmehr eine aufeinander abgestimmte Konzeption im Förderungssystem, das gerade benachteiligten Jugendlichen den Start ins Berufsleben erleichtert.Zusammen mit der Berufsausbildungshilfe, die bereits von der Solidargemeinschaft finanziert wird, steht uns nunmehr ein schlagkräftiges arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium aus einem Guß zur Verfügung.
Auch die Sprachförderung, meine sehr verehrten Damen und Herren, steht damit in einem engen Zusammenhang. Das Benachteiligtenprogramm hatten Sie von der SPD mit knapp 80 Millionen DM ausgestattet. Es umfaßt mittlerweile weit über 400 Millionen DM. Ich gehe davon aus, daß das auch in Ihrem Interesse liegt.
— Ja, das ist die Solidargemeinschaft.
Wer soll das sonst zahlen? Sollen das die Jugendlichen zahlen, die z. B. den Hauptschulabschluß nicht haben?Im übrigen macht der Gesetzentwurf die Sprachförderung davon abhängig, daß der Teilnehmer in seinem Herkunftsland erwerbstätig war und in der Bundesrepublik erwerbstätig wird. Ich darf darüber hinaus feststellen, daß die Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitnehmer ständig zunehmen. Diesen Anforderungen kann ein Arbeitnehmer aber nur dann gerecht werden, wenn er über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt. Ich denke hier vor allen Dingen an unsere Landsleute, die erst spät in ein freiheitliches Land kommen und unserer besonderen Unterstützung und Hilfe bedürfen. Gerade die Aussiedler tun sich mit der Eingliederung schwer. Das ist ein ernstes Thema. Wir sollten das nicht zerreden.Wir legen mit diesem Gesetz einen ganzen Katalog von Leistungsverbesserungen vor. Das gilt vor allen Dingen hinsichtlich der Leistungsverbesserungen für arbeitslose Arbeitnehmer, durch die der Bund entlastet wird. Im Vordergrund stehen für uns allerdings in erster Linie die Erweiterung und die Verbesserung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums. Wir kommen alten Forderungen von Arbeitsmarktpolitikern nach und verankern wichtige arbeitsmarktbezogene Leistungen in diesem Arbeitsförderungsgesetz. Noch vor Schaffung des Benachteiligtenprogramms haben gerade die Bundesanstalt für Arbeit und die Gewerkschaften — vor allem in den 70er Jahren — entsprechende Ergänzungen im Arbeitsförderungsgesetz gefordert, damit dieses wichtige Instrumentarium durch ein Gesetz gefestigt wird und nicht abhängig ist von Schwankungen in den jeweiligen Haushalten.So sollen künftig benachteiligte Jugendliche nicht mehr nur auf Grund befristeter Programme, sondern auf Grund dauerhaft gesetzlich verankerter Regelungen gefördert werden; denn trotz abnehmender Jugendarbeitslosigkeit wird die Zahl derjenigen, die den Hauptschulabschluß nicht haben, nicht wesentlich sinken. Nehmen Sie einmal die Zahl zur Kenntnis: Wir werden in der Ausbildung erleben, daß jährlich 150 000 weniger Auszubildende auf den Ausbildungsmarkt strömen. Wir werden aber gleichzeitig
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1741
Schemkenerleben, daß die Zahl derjenigen, die den Hauptschulabschluß nicht haben, nicht so weit sinkt, wie das eigentlich zwangsläufig in der Relation sein müßte. Wir werden von 62 000 auf vielleicht 50 000 kommen. Diesen jungen Menschen wollen wir vor allen Dingen mit dieser gesetzlich verankerten Konzeption des Benachteiligtenprogramms helfen. Das sind nämlich bei der Eingliederung die Schwächeren auf dem Arbeitsmarkt.Wir wollen den Jugendlichen, die schicksalhaft fragen, wohin der Weg in die Erwachsenenwelt geht, die Chance bieten, erst einmal lernen zu können, um sich damit zu qualifizieren. Wer sich heute nicht qualifiziert, ist der Langzeitarbeitslose von morgen.
— Damit sollten Sie sich einmal befassen, Frau Unruh.
Das ist nämlich ein wesentliches Problem auch unter dem Gesichtspunkt der Versorgung der älteren Menschen: daß qualifizierte Jugendliche den Weg in eine entsprechende berufliche Tätigkeit finden können.Wesentliche Zielsetzung des AFG sind aber Hilfen zur Eingliederung der Schwächeren in den Arbeitsmarkt. In diesem Zusammenhang ist auch die Einfügung eines Bildungsbeihilfegesetzes in das AFG zu erwähnen. Das ist auch ein Gesichtspunkt, der sicherlich Beachtung findet. Danach kann der Ausgleich von schulischen Defiziten bei arbeitslosen Jugendlichen gefördert werden.Mit der Eingliederung der Sprachförderung — ich hatte das soeben schon ausgeführt — in das AFG sind besonders die Aussiedler angesprochen. Bei gleichzeitiger Verlängerung der Förderungshöchstdauer von acht auf zehn Monate stärken wir die berufliche Eingliederung, die die aus dem Ausland kommenden Arbeitnehmer von uns sicherlich erwarten. Viele Aussiedler hatten auf Grund der Verhältnisse in ihrem Herkunftsland eben keine Möglichkeit, die deutsche Sprache zu pflegen. Insbesondere die jüngeren Aussiedler leiden darunter bei der Eingliederung sehr. In der komplizierten und technisch sich immer weiter entwickelnden Welt ist es besonders schwierig, sich auf dem Arbeitsmarkt ohne Deutschkenntnisse zurechtzufinden. Deshalb wird die Sprachförderung in starkem Maße in das AFG eingebaut.Wir bauen darüber hinaus die arbeitsmarktpolitischen Leistungen des AFG zielgruppenorientiert aus. Das ist wichtig; nicht mit dem Rasenmäher oder mit der Gießkanne. Ältere Arbeitslose, die schon lange ohne Arbeitsstelle sind und denen kaum noch eine Chance geboten wird, werden im Arbeitsleben wieder Fuß fassen. Die Höhe des Lohnkostenzuschusses wird dabei 75 % des Arbeitsentgeltes betragen. Von der bisher gesetzlich vorgesehenen jährlichen Degression des Förderungssatzes kann deshalb abgesehen werden. Die Förderungsdauer wird im übrigen auf acht Jahre verlängert. Wir hoffen, hiermit insbesondere die berufliche Wiedereingliederung der Älteren zu ermöglichen und sie weiter zu stützen.Neben dem Ausbau des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums erscheint es uns wichtig, die Vermittlungsmöglichkeiten zu verbessern. Das ist eine ganz wesentliche Frage. Wir stellen nämlich immer öfter fest, daß es Regionen mit offenen Stellen gibt, die nicht besetzt werden können. Das machen wir der Arbeitsverwaltung nicht zum Vorwurf, sondern wir sind der Meinung, wir müssen hier neue, weitere Wege gehen. Wir wollen deshalb die klaffende Lücke zwischen Angebot und Nachfrage überwinden, indem wir in stärkerem Maße versuchen, Arbeitssuchende und Arbeitgebende zusammenzuführen. So sollen künftig uneigennützige und unentgeltliche Arbeitsvermittlung Dritter sowie Veröffentlichungen von Stellenanzeigen in Rundfunk und Fernsehen möglich sein. Es ist ein ganz wichtiger Prozeß, daß die Kommunikation zwischen Arbeit und Arbeitsplatzsuchenden herbeigeführt wird.
Insbesondere wollen wir aber auch den Leistungsmißbrauch bekämpfen. Das ist eine ganz wichtige Sache; denn mit Verwaltungsvereinfachung und mit Hilfe des Gesetzentwurfes werden wir dafür sorgen, daß vor allen Dingen die Gelder der Beitragszahler nicht in falsche Kanäle geraten. Mißbräuchliche Inanspruchnahme — darüber müssen wir doch einmal reden — von Sozialleistungen gefährdet das Gesamtsystem, vor allen Dingen bei dem hohen Niveau, auf dem unser gesamtes Sozialsystem steht. Für uns alle, auch für die gesellschaftspolitischen Kräfte, die nach dem Kriege an diesem Sozialsystem mitgebaut und die Voraussetzungen geschaffen haben, ist es ein Schlag ins Gesicht, wenn dem Mißbrauch weiter Vorschub geleistet wird.Es bedeutet auch ein Stück Gerechtigkeit, wenn wir bei einem hohen Niveau des Angebots an sozialen Leistungen Mißbrauch verhindern, weil der Mißbrauch immer den trifft, der wirklich der Stützung der Gesellschaft bedarf und letztlich bei trotz einer so sehr beanspruchten Volkswirtschaft auf Hilfe rechnen darf.Die im Entwurf vorgeschlagenen Maßnahmen kosten die Bundesanstalt insgesamt das Geld, das verfügbar und in der Rücklage mit 5,47 Milliarden DM vorhanden ist. Diese Rücklage wird ausreichen, um die mit der Novelle verbundenen Mehrkosten abzudecken. Auch die weitere finanzielle Entwicklung bei der Bundesanstalt für Arbeit — daran wollen wir alle mitwirken, daran soll auch dieses Gesetz mitwirken — , ist im wesentlichen davon abhängig, wie sich die weitere wirtschaftliche Entwicklung auf die Beschäftigten und auf den Arbeitsmarkt auswirkt, damit die Bundesanstalt für Arbeit die finanziellen Belastungen aus eigener Kraft tragen kann.Wir bitten um Ihre Zustimmung, weil dies ein arbeitsmarktpolitisch richtiges Konzept ist, das sich an die Arbeitslosen, an die Benachteiligten richtet,
und hoffen auf eine sachgerechte Diskussion. Wir haben dazu die Gelegenheit in den Ausschüssen.
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1742 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
SchemkenIch bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Schemken! Sie haben über das Beiwerk dieses Gesetzes gesprochen. Sie haben es beflissentlich vermieden, über die verheerenden Inhalte zu reden, die durch eine Ausplünderung der Bundesanstalt für Arbeit gekennzeichnet sind. Das muß ich verurteilen.
Wir hatten gehofft, Herr Schemken, daß die Unionsfraktionen nach den verheerenden Verlusten in Bremen und in Schleswig-Holstein es sich zu Beginn dieser Woche noch einmal überlegen würden, ob sie diesen verheerenden Entwurf denn wirklich als Fraktionsentwurf in den Bundestag einbringen. Aber leider haben Sie nicht überlegt, sondern sind der Bundesregierung gefolgt. Hätten Sie dem widersprochen, hätten Sie sich diesem verheerenden Entwurf nicht angeschlossen, wäre das allemal im Interesse der Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit gewesen.
Dieser Entwurf ist ein neuer Versuch von Tarnung und Täuschung. Was als Zielsetzung angegeben wird, ist ein plumper Versuch der Irreführung — ja, ich würde von hier sagen: — sogar der Fälschung.
Der Bundesregierung geht es nur darum, den Beitragszahlern beitragsfremde Lasten aufzuerlegen und sich selbst von ihren ureigensten Aufgaben zu entlasten.
Herr Bötsch, Sie haben den Gesetzentwurf ja gar nicht gelesen,
sonst würden Sie doch schon im Vorblatt sehen, daß die Aussage, es gehe darum, gewisse Maßnahmen auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen, nur Folge ist, aber nicht Ursache. Ursache ist der Versuch des Ausplünderns der Bundesanstalt.Ich frage Sie, Herr Bundesarbeitsminister: Was hat denn die Arbeitslosenversicherung mit der Sprachförderung von Aussiedlern, Asylbewerbern und Kontingentflüchtlingen zu tun? Ich frage Sie, Herr Blüm: Was haben denn die Beitragszahler mit dem Benachteiligtenprogramm, mit der Förderung der Berufsausbildung von benachteiligten Jugendlichen zu tun? Ich will es Ihnen sagen: nichts, buchstäblich nichts.
Ihnen geht es ausschließlich darum, Kohle in Sonderzügen aus Nürnberg abzuholen.
Das sehen nicht nur wir so. Das sehen die Arbeitgeber so, das sehen die Gewerkschaften so, das sieht die Mehrheit der Bundesländer so.Die Bundesregierung will einen Teil der Lasten aus dem Kindererziehungsjahr aus den Beitragszahlungen zur Arbeitslosenversicherung finanzieren, und sie will sich weiter Finanzierungsspielräume für ihre unseriöse Steuerreform eröffnen. So hat es Herr Stoltenberg dem Erfüllungsgehilfen Blüm vorgeschrieben. Und hier soll das jetzt erledigt werden.
Herr Schemken, ich habe mich gewundert, daß Sie als Mitarbeiter doch wohl im weiteren Sinne der Arbeitgeberverbände
so sprechen konnten; denn die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände nannte Ihr Vorhaben eine klare ordnungspolitische Todsünde. Vielleicht ist das auch der Grund, daß kaum jemand von der FDP heute morgen da ist.Ich will hier sagen: Wo die Arbeitgeber recht haben, Herr Blüm, da haben sie recht. Und hier haben sie recht.
Herr Blüm, aussitzen, wie Sie es inzwischen von Helmut Kohl gelernt haben, geht diesmal nicht. Daß wir heute die erste Lesung dieser achten Novelle haben, dokumentiert, daß Sie mit einem Vermittlungsverfahren rechnen, daß Sie mit dem Widerspruch, mit der Ablehnung des Bundesrates rechnen. Deswegen mußten CDU/CSU und FDP diesen Entwurf einbringen. Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Aus unserer Sicht gibt es nichts zu vermitteln. Die konsequente Lösung heißt, diesen Gesetzentwurf so bald wie möglich zu beerdigen.
Ihr Entwurf wird zu einem Zeitpunkt vorgelegt, in dem sich der Arbeitsmarkt in einer dramatischen Abschwungphase befindet, das heißt konkret, in dem die Zahl der Arbeitslosen jahreszeitlich viel zu früh zu steigen beginnt und in dem wir in Teilen in der Bundesrepublik sogar den saisonalen Höchststand der Nachkriegszeit erreicht haben. Die Arbeitslosenzahl liegt faktisch und saisonbereinigt im Bundesgebiet um nahezu 50 000 über dem Vorjahresstand. Weitere Belastungen des Arbeitsmarktes drohen auf Grund der Strukturkrise bei Kohl — bei Kohle —,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1743
Heyennbei Stahl, bei den Werften. Genau zu diesem Zeitpunkt, Herr Blüm, wollen Sie den nächsten Griff in die Kassen der Arbeitslosenversicherung tun.Mit der achten Novelle setzt die Bundesregierung ihren Kurs fort, den eigenen Haushalt zu entlasten und den der Bundesanstalt zu belasten. Es ist doch erst wenige Wochen her, daß die Bundesanstalt mit weiteren 1,4 Milliarden DM für 1987 zusätzlich belastet wurde, obwohl wir wirklich Felder hätten, z. B. die Arbeitslosenhilfe neu zu gestalten. Zum Beispiel muß die heutige Berücksichtigung von Verwandteneinkommen bei der Arbeitslosenhilfe überdacht werden, zum Beispiel brauchen wir die Öffnung der Arbeitslosenhilfe für bis heute ausgegrenzte Arbeitslose. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet.Im Frühsommer 1,4 Milliarden DM, mit dieser achten Novelle weitere 929 Millionen DM. Das sind zusammen weit über 2 Milliarden DM, die Sie an zusätzlichen Lasten der Bundesanstalt für Arbeit aufbürden.
Die notwendige Folge ist, daß die Bundesanstalt für Arbeit bereits im nächsten Jahr tief ins Defizit geraten wird.
Darauf hat Herr Präsident Franke mehrfach hingewiesen. Sie haben das mit Ihrem aufgesetzten Optimismus gestern leider erneut im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung geleugnet.Schon 1988 erwarten wir ein Defizit von 1,5 Milliarden DM. Es kann leicht mehr werden. Hunderttausend zusätzliche Arbeitslose verursachen Kosten von 1,2 Milliarden DM, von denen allein 750 Millionen DM die Bundesanstalt zu tragen hat und ein großer Teil des Restes auf die Kommunen bei der Sozialhilfe aufläuft. Diese hunderttausend zusätzlichen Arbeitslosen prognostizieren uns wirtschaftswissenschaftliche Institute schon für 1987 gegenüber den ursprünglichen Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit. Wir werden wahrscheinlich nicht 2,15 Millionen Arbeitslose im Jahresdurchschnitt haben, sondern 2,25 Millionen.
Das ist Ergebnis Ihrer Politik, Herr Bundesarbeitsminister. Auf konkrete Fragen nach Ihrer Arbeitsmarktpolitik gestern im Ausschuß waren Sie lediglich in der Lage, von Fortbildung, von Umschulung und von ABM-Maßnahmen zu reden. Ich frage Sie: Was ist das für eine konstruktive, in die Zukunft weisende Beschäftigungspolitik,
deren einziger Inhalt Hilfsmaßnahmen zugunsten der Arbeitslosen sind, die aber kaum neue Arbeitsplätze schaffen?
Ich habe auf die Zunahme der Zahl der Arbeitslosen hingewiesen. Herr Blüm, wie wollen Sie eigentlich das wachsende Defizit bei der Bundesanstalt für Arbeit finanzieren? Was wird da schon vorbereitet? Werden da schon Karenztage vorbereitet, d. h. eine Nichtzahlung von Arbeitslosengeld für die ersten Tage der Arbeitslosigkeit? Ist die Vorbereitung solcher Dinge der Grund, weshalb in der Bundesrepublik erneut eine MiBbrauchsdebatte auf Stammtischniveau vom Zaum gebrochen wird? Herr Blüm, wir wären froh, wenn Sie uns jetzt nach den Wahlen in SchleswigHolstein und Bremen hier und heute sagen, was Sie wirklich vorhaben.Ich muß Sie darauf hinweisen, daß schon heute die mit großem Aufwand propagierte Qualifizierungsoffensive dem Geldmangel der Arbeitsverwaltung zum Opfer gefallen ist. Auch im Bereich von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und bei der Betreuung von Ausländern sind bereits Einschränkungen angeordnet worden.Obwohl der Bundesanstalt für Arbeit schon jetzt Mittel fehlen, krönen Sie Ihre Leistungen im Vollzug der Anweisungen Stoltenbergs erneut mit einer unseriösen Verschiebepolitik zu Lasten der Arbeitnehmer. Herr Blüm, wie lange vertreten Sie eigentlich schon nicht mehr die Interessen der Arbeitnehmer?Wir fordern Sie auf, sich zu besinnen. Wir fordern Sie auf, mit uns gemeinsam diesen Entwurf zu beerdigen. Denn eine Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes, die ernsthaft und erfolgreich einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten will, muß doch wohl von einer aufgabenfremden Belastung der Bundesanstalt für Arbeit absehen, muß zur Verstärkung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen beitragen und weitere beschäftigungswirksame Maßnahmen beinhalten, z. B. im Bereich der Strukturpolitik durch ein ökologisches Modernisierungsprogramm. All diese Dinge vermissen wir in Ihrem untauglichen Entwurf.Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausplünderer hat mich Herr Heyenn genannt. Als ich mein Amt antrat, stand der Bundesanstalt ein Defizit von 12 Milliarden DM ins Haus. Im Moment haben wir Rücklagen von 31/2 Milliarden DM. Am Ende des Jahres werden wir 4 Milliarden DM haben. Ausplünderer nennt mich ein Vertreter der Partei, die die Bundesanstalt mit leeren Kassen zurückgelassen hat.
Das ist so ähnlich, wie wenn einer nackt aus dem Geschäft geht und anschließend seinem Nachfolger, der 3 Milliarden DM in der Tasche hat, sagt, er wäre ein Plünderer. So ähnlich ist das.
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1744 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Bundesminister Dr. BlümSie haben sich mit Defiziten verabschiedet. Wir haben wieder Rücklagen. Das ist der Erfolg unserer Politik in der Bundesanstalt.
— Ich kann auf jeden Zwischenruf eingehen, wenn Sie mir Zeit geben. 2 Milliarden DM haben wir gespart. Das ist richtig.
— Richtig, Herr Vogel: reden lassen. Denn jeder Zwischenruf gibt ein neues Stichwort.
Jeder Zwischenruf schafft ein neues Selbsttor der sozial-demokratischen Partei.
Also Zwischenruf, wir hätten auf Kosten der Arbeitslosen gespart. 2 Milliarden DM haben wir gespart, und wir haben Leistungsverbesserungen in Höhe von rund 4,5 Milliarden DM durchgesetzt.Zweiter Punkt: „Ihre Bildungsoffensive ist gescheitert. " In diesem Jahr wird es ungefähr 600 000 Eintritte geben; als ich mein Amt übernommen habe, waren es ca. 260 000. Wenn 600 000 ein Scheitern sind, Herr Heyenn, was sind dann 260 000? Ich lasse mich jetzt gar nicht auf große Debatten ein. Lassen wir mal die Zahlen sprechen!Drittens „Verschiebebahnhof": Was die Bundesanstalt übernimmt, Benachteiligtenprogramm, Sprachförderung, ein Teil der ABM, das hat sie bisher schon organisiert. Also muß es doch etwas mit der Bundesanstalt zu tun haben. Wenn Sie nach Modellen für einen Verschiebebahnhof suchen, so erinnere ich daran, daß Sie einst die Arbeitslosenhilfe mit Beitragsgroschen bezahlt haben. Das ist eine Fürsorgeleistung. Das war der klassische Verschiebebahnhof. Verwechseln Sie mich nicht mit sich selber!Was tun wir für die Älteren? Wir zahlen einen höheren Lohnkostenzuschuß, damit die, die schwer ver-mittelbar sind, leichter unterkommen. Dieser Lohnkostenzuschuß nimmt nicht Jahr für Jahr ab, sondern wird auf längere Zeit dauerhaft gezahlt. Das ist eine handfeste Hilfe für die schwer Vermittelbaren.Für die Jüngeren haben wir das Benachteiligtenprogramm, das Bildungsbeihilfenprogramm. Das sind wichtige Hilfen; denn einerseits muß Qualifizierung sein, aber es gibt einen Teil der jungen Leute, der Arbeitnehmer, die an der Qualifizierung nicht teilnehmen können. Auch denen, die Handikaps haben, muß geholfen werden. Es ist auch ein Handikap, daß die Hauptschule ihre Pflicht nicht mehr erfüllt, daß immer mehr junge Leute den Hauptschulabschluß nicht schaffen. Da frage ich Sie: Wieso schaffen sie ihn in Sondereinrichtungen der Bundesanstalt? Das ist aus meiner Sicht eine schallende Ohrfeige für ein Schulsystem, das die Hauptschule vernachlässigt, das sie zur Restschule macht. Chancengleichheit beginnt nicht erst an der Universität. Wer handwerklich begabt ist, muß genauso gefördert werden. Sie von der Opposition sind die großen Chancengleichheitstheoretiker, wir sind die Chancengleichheitspraktiker! Die Hälfte der allgemeinbildenden Schulstunden an den Berufsschulen in Nordrhein-Westfalen fällt aus. Das ist die Benachteiligung der jungen Arbeitnehmer. Wir springen ein mit dem Benachteiligtenprogramm, mit dem Bildungsbeihilfenprogramm, mit Sprachkursen für Aussiedler. Da wird niemand bezweifeln, daß das etwas mit dem Arbeitsmarkt zu tun hat. Wenn wir den Landsleuten, den Aussiedlern, die hierher kommen, bei der Überwindung ihrer sprachlichen Defizite helfen, dann helfen wir der Vermittlung. Das ist alles ganz praktisch.Nächster Punkt: Verbesserung der Vermittlung. Ich bin für das Monopol der Bundesanstalt. Ich möchte nicht, daß die Vermittlung jetzt zum Geschäft wird. Aber ein bißchen vom hohen Roß können ein paar schon runterkommen. Laßt euch helfen bei der Bundesanstalt, durch Stellenanzeigen, durch Beiträge in Rundfunk und Fernsehen! Das kann den Arbeitslosen doch nur helfen.Wir stehen nicht mit Patentrezepten vor Ihnen. Die Patentrezepte, die Sie anbieten, sind alle schimmelig geworden. Wir bieten handfeste Politik. — Sie gähnen, Herr Vogel, wenn wir Lohnkostenzuschüsse verbessern, Sie gähnen, wenn wir handfeste Arbeitsmarktpolitik machen.
— Was richtig ist, muß man dreihundertmal sagen. Sie sagen doch immer dieselben Dummheiten. Wenn Sie Ihre Dummheiten mal abstellen, brauche ich die Erwiderung nicht zu geben.
600 000 mehr Arbeitsplätze nennen Sie Kasperei. Sie haben die Arbeitsplätze abgebaut, wir bauen sie auf.
— Ihnen fällt heute morgen aber auch gar nichts mehr ein. Morgens sind Sie schlecht in Form, Herr Vogel.
— Haben Sie noch ein paar Sachen? Heute rede ich über Arbeitsmarkt und Arbeitslose. Das ist mein Thema heute, und wir helfen den Arbeitslosen mit diesem Gesetz ganz konkret.
Zum Leistungsmißbrauch: Es wird doch wohl niemand sagen, daß es eine Hilfe für die Arbeitslosen ist, wenn manche Cleveren die Bundesanstalt und ihre Kasse ausnutzen. Deshalb wollen wir beispielsweise den Trick verhindern, daß Kündigungsschutz abgekauft wird, indem im letzten Monat höherer Lohn gezahlt wird, damit man ein höheres Arbeitslosengeld
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1745
Bundesminister Dr. Blüm1 bekommt. Manchmal ist solch ein Trick sogar zwischen den Ehepaaren abgesprochen. Diese Tricks stellen wir ab. Denn wir machen keine Sozialpolitik für die Cleveren; wir machen Sozialpolitik für die, die Hilfe brauchen.Deshalb brauchen wir mehr Arbeitsplätze — das ist das Erste und Wichtigste; hier kommen wir Schritt für Schritt voran — und mehr Hilfe für die Arbeitslosen. Dazu dient das Arbeitsförderungsgesetz, und dazu dient auch dieses Gesetz.
Meine Damen und Herren, bevor wir in unseren Beratungen fortfahren, darf ich besondere Gäste begrüßen.
In der Ehrenloge hat der Präsident der Volksversammlung der Demokratischen Republik Somalia, Herr Mohamed Ibrahim Ahmed, mit einer Delegation Platz genommen.
Ich begrüße Sie herzlich im Deutschen Bundestag. Herr Präsident, Ihr erneuter Besuch in der Bundesrepublik Deutschland ist Ausdruck der guten, ja, freundschaftlichen Zusammenarbeit unserer Länder und Parlamente. Dankbar erinnern wir uns an die große Hilfe bei der Geiselbefreiung in Mogadischu vor zehn Jahren.
Ich wünsche Ihnen nützliche und erfolgreiche Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in unserem Lande.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Herr Präsident! Volksvertreter und Volksvertreterinnen!
— Na ja, Gott, Sie können ja nie arbeitsuchend werden; Sie sind von der CDU.
— Von der CSU. Sie können nie arbeitsuchend werden; Sie sind mit Ihren Diäten bestens abgesichert.
Da Sie sehr lange hier herumsitzen, bekommen Sie natürlich eine Pension, von der andere nur träumen können. Also, halten Sie Ihren Mund!
Ich wollte Sie lediglich unterrichten, daß meine Kollegin leider erkrankt ist und ich Ihnen jetzt aus der Lamäng so ein bißchen die Leviten lese, sonst gar nichts.
Wenn der Herr Minister das — die Änderungen nach der 8. AFG-Novelle — so nett und menschlich
gesagt hat, dann hört sich das ja für das Publikum ganz gut an. Herr Minister Blüm kann das fast so engagiert vorstellen wie ich,
aber die Betroffenen wissen ja gar nicht, was dahintersteckt.
Natürlich wollen wir alle zusammen nur das Beste tun, damit die Massenarbeitslosigkeit beseitigt wird; das ist eine selbstverständliche Pflicht jedes Abgeordneten und jeder Abgeordneten. Aber woher kommen jetzt die Mittel, und wen schröpft man, um das zustande zu bringen? Das wird natürlich vergessen, und das versteht man auch draußen nicht. Da hört sich das ganz gut an, wenn man sagt, die Bundesanstalt für Arbeit soll das bezahlen. Ja, wer zahlt denn an die Bundesanstalt? Kommen da nun die großen Milliarden Bundeszuschüsse hinein von den Steuerzahlern, über das Volk, in der Volkssolidarität?
Nein, nur die Pflichtversicherten sollen dieses Schicksal tragen. Wer weiß, was es bedeutet, z. B. mit Löhnen, Herr Bundesarbeitsminister, die bei 1 200 DM monatlich für die 40-Stunden-Woche liegen, pflichtversichert zu sein? Das sind die armen Rentner von morgen. Das müssen wir doch bitte einmal signalisieren.
Die CDU wird nie begreifen, daß sie Millionen Stimmen verliert, aber trotzdem vom christlichen Gedanken aus nicht darangeht, und die Volkssolidarität schafft. Da sind wir GRÜNEN doch ein bißchen sehr, sehr besser. Wir haben ein bißchen zugelegt — in Schleswig-Holstein leider nicht genug; denn sonst hätte es dort mit dem SPD-Sozialminister Jansen vielleicht ganz, ganz andere Ansatzpunkte gegeben, wie man letztlich auch die Arbeitslosigkeit in Schleswig-Holstein in den Griff bekommt.
Die Wirtschaftspartei FDP hat natürlich überhaupt nicht im Kopf, daß es einer Solidarität der Besser- und Höchstverdiener oder, bitte, der Beamtenklientel, bedarf, um ausgleichend wirken zu können.
Es gibt ja nicht nur ein paar Betroffene Herr Minister Blüm; dann bräuchten wir uns hier nicht zu streiten. Es geht einfach darum, daß gegen diese Massenarbeitslosigkeit — man muß doch den Nachdruck auf „Massen" legen — schnellstens etwas passiert.
Hinter dem, was die SPD vorlegt, kann ich z. B. wieder gut stehen. Sie können nicht unseren Staat spalten. Auf der einen Seite fragen Sie überhaupt nicht, wo die ganzen Pensionen der Beamten und die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes herkommen. Sie hinterfragen immer nur: Wo ist die ständig kündbare Klientel in diesem Staat mit Mindestlöhnen und herabgesetzten Möglichkeiten des Verdienstes?
Wer soll das bezahlen? Da fragen Sie überhaupt nicht und denken nicht daran, über ein Notstandsprogramm die von mir zuerst genannte Klientel mehr zu belasten, damit die anderen davon, bitte schön,
1746 Deutscher Bundestag — II. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Unruh
etwas auch ihr eigenes Binnenmarktgefühl entwikkeln können. Wirtschaftspartei FDP!
— Ach, Sie wissen nicht, was ein Binnenmarkt ist?
Ein Binnenmarkt — dies jetzt zur Aufklärung natürlich der Zuhörer und Zuschauer — —
— Das ist doch egal. Da oben sitzen doch, bitte schön, Menschen aus dem Volk. Wenn ich nur Sie anschauen müßte, dann würde mir schon ein bißchen schlecht.
Nicht wahr? Das sind ja so die Punkte. Da oben
— kommen Sie mal hierher, gucken Sie mal! — sitzt eine Reisegesellschaft, die will ja auch etwas mitkriegen, was hier läuft. Und ich glaube nicht, daß das eine Reisegesellschaft von ehemaligen Parlamentariern ist. Das haben wir ja anders geregelt, daß Gott sei Dank wirklich die Menschen hierherkommen und eine Stunde mal erleben können, was hier so im Bundestag los ist.
Und da oben sitzen sehr wahrscheinlich sehr viele Menschen, die sehr wohl Arbeitsuchende waren. Ich hatte gestern eine Reisegruppe von Sozialinitiativen oder Arbeitsloseninitiativen.
Also, Herr Bundesarbeitsminister, Sie liegen schief.
Sie liegen schief. Aber ich weiß, wie clever Sie sind.
Sie wollen ja in Nordrhein-Westfalen ablösen. Also dann müssen Sie besser werden.
Und natürlich muß auch eine SPD besser werden. Zum Abschluß muß ich das hier mal sagen.
— Herr Dr. Vogel,
mit dem Kindererziehungszeitengesetz und damit, daß man 50 % der Ausgeschlossenen helfen will, draußen Wahlkampf machen und dann keine Normenkontrollklage mit den GRÜNEN machen, das finde ich bedenklich. Das meine ich. Bitte ändern Sie sich! So geht's nicht.
Ich finde es noch bedenklicher, daß ich gestern im Ausschuß habe hören müssen: weil DIE GRÜNEN nicht in den Landtag von Schleswig-Holstein gekommen seien, sei es politisch nicht mehr tragbar, daß man mit ihnen etwas im Deutschen Bundestag mache. So nicht! Wir stehen in der Gesamtverpflichtung aller Dinge, die das Volk angehen.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesamtanliegen der Achten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz findet unsere Zustimmung.Ich verhehle nicht, daß es manche Bedenken hinsichtlich der vorliegenden Finanzierung gibt. Mit diesem Gesetzentwurf werden allerdings die Koalitionsbeschlüsse vom Juni 1986 zur Finanzierung der Anerkennung der Erziehungsleistung für die vor 1921 geborenen Mütter umgesetzt.Ich räume ein, daß die Koalitionsvereinbarungen vom März dieses Jahres bei der 8. Novelle nur partiell verwirklicht werden konnten. Nach wie vor sind wir der Auffassung, daß es ungerecht ist, daß ein Arbeitsloser, der 30 Jahre lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geleistet hat, nur ein ebenso hohes Arbeitslosengeld bekommt wie ein Arbeitsloser, der eventuell nur fünf Jahre erwerbstätig war. Wir halten den von unserem Fraktionsvorsitzenden Mischnick schon seit Jahren gemachten Vorschlag, das Arbeislosengeld hinsichtlich der Bezugsdauer nach den Beitragsleistungen zu staffeln, aufrecht.Wir sehen in dem vorliegenden Gesetzentwurf einen ersten Schritt zur Entbürokratisierung der Arbeitsverwaltung und auch zur Vereinfachung des Arbeitsförderungsgesetzes, dem jedoch weitere Schritte folgen müssen. Gerade den Mitarbeitern der Arbeitsämter, denen ich jetzt von hier aus für ihre oftmals ausgesprochen schwierige Arbeit danken möchte, muß ein hohes Maß an Flexibilität und Entscheidungsfreiheit im Sinne unserer arbeitslosen Bürger zugestanden werden.
Wir hoffen auch, daß das vorgesehene Verfahren zur Erleichterung unentgeltlicher und uneigennütziger Arbeitsvermittlung, z. B. durch soziale Einrichtungen oder kirchliche Stellen, im Interesse der arbeitslosen Mitbürger in der Praxis in Zukunft unbürokratischer als bisher gehandhabt wird. Es steht doch außer Frage, meine Damen und Herren, daß wir alle privaten Initiativen, die dazu dienen, Arbeitslosen Arbeit zu beschaffen, zu unterstützen haben und nicht zulassen dürfen, daß diesen Initiativen noch weitere Steine in den Weg gelegt werden. Wir sehen in diesen vorgesehenen Erleichterungen für Arbeitsvermittlung durch Dritte natürlich einen ersten Einstieg zur Auflockerung des Arbeitsvermittlungsmonopols,
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Frau Würfelwas wir Freien Demokraten anstreben.
Die vorgesehene Verbesserung hinsichtlich der Wiedereingliederung älterer Arbeitsloser in das Berufsleben durch Lohnkostenzuschüsse sowie die Verlängerung des Überbrückungsgeldes für Arbeitslose, die sich eine selbständige Existenz aufbauen wollen, halte ich für eine arbeitsmarktpolitisch sachgerechte Maßnahme. Im Sinne unserer mittelständischen Unternehmen wird man in den parlamentarischen Beratungen sicherlich noch einmal sorgfältig prüfen müssen, ob die Einführung einer Bagatellgrenze bei dem Mehrkostenzuschuß der produktiven Winterbauförderung sowie die vorgesehene Erweiterung der Befugnisse der Bundesanstalt für Arbeit für Außenprüfungen und die jetzige Befristung der Sperrzeitenregelungen tatsächlich sachgerecht und notwenig sind.Was die Eindämmung der Mißbrauchsmöglichkeiten angeht, so glaube ich doch, im Hohen Hause Übereinstimmung dahin gehend vorzufinden, daß gerade diese Mißbrauchsmöglichkeiten im Interesse der Beitragszahler, aber auch der großen Zahl von Arbeitslosen, die arbeiten wollen, aber lediglich auf Grund einiger, einzelner schwarzer Schafe bereits in ihrer Gesamtheit diskriminiert werden, beseitigt werden müssen. Dazu trägt dieser Gesetzentwurf bei.Es ist allerdings richtig, daß diese Maßnahmen in den nächsten Jahren Probleme für den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit aufwerfen könnten. Deshalb ist es für uns von entscheidender Bedeutung, daß sich auch die Union eindeutig darauf festgelegt hat, daß eventuell auftretende Finanzierungsengpässe nicht durch Beitragssatzerhöhungen ausgeglichen werden.
Denn es steht wohl außer Frage, daß eine weitere Belastung der Beteiligten mit Sozialabgaben für alle Bemühungen, der Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeber, mehr Beschäftigung zu schaffen, kontraproduktiv wäre.In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, daß ich den Vorschlag des zuständigen Bundesratsausschusses für ausgesprochen erwägenswert halte, die bisherige sehr strikte Regelung für Frauen bei der Übernahme von Kinderbetreuungskosten, wenn diese Frauen an einer Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahme teilnehmen wollen, zu verbessern. Dieser Vorschlag des Bundesratsausschusses müßte unser aller Zustimmung finden. Frauen, die sich einer Weiterbildungs- oder Umschulungsmaßnahme unterziehen wollen, fehlen ja oft die finanziellen Mittel, da sie ja noch nicht erwerbstätig sind und es daher nicht bezahlen können, ihre Kinder betreuen zu lassen. Diese vorgesehene Übernahme von Kinderbetreuungskosten — und seien es jetzt auch erst einmal nur 60 DM im Monat — ist ein erster Schritt, dem selbstverständlich folgen sollte, daß die Übernahme von Kinderbetreuungskosten in Höhe von bis zu 60 DM pro Kind — und nicht für alle gemeinsam — erfolgt.Denn, wie schon gesagt, die Teilnahme an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen ist häufig erst die Voraussetzung für die Wiedereingliederung von Frauen ins Arbeitsleben. Ich möchte es jetzt hierbei bewenden lassen; denn unser Minister wird sich dazu noch äußern.
Das Wort hat der Abgeordnete Reimann.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Mit dem Entwurf zur Achten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes möchte die Bundesregierung — daher die Bezeichnung des Gesetzentwurfes — die arbeitsmarktpolitischen Instrumente ergänzen und die Solidargemeinschaft vor Mißbrauch schützen. Das klingt zunächst nach einem guten und sinnvollen Unternehmen, jedoch nur auf den ersten Blick. Insgesamt halten nur wenige Punkte der Novelle diesem Anspruch stand.Wir Sozialdemokraten begrüßen jede Verbesserung, auch die Fragen der Ausbildungsförderung, der Sprachförderung für Aussiedler und dergleichen mehr. Herr Minister, Sie haben eben richtig festgestellt: Die Organisation hatten die Arbeitsämter sowieso, aber jetzt donnern Sie den Arbeitsämtern auch die Kosten auf. Das sind bei der Sprachförderung allein 270 Millionen DM, um die Sie die Bundeskasse entlasten.
Ich halte das nicht für in Ordnung.Wenn Sie in diesem Zusammenhang die Hauptschulabschlüsse, die über die Arbeitsämter nachgeholt werden können, als Mangel des deutschen Schulsystems hier anprangern, hätte ich von Ihnen gerne ein Wort dazu gehört, wie Sie dazu stehen, daß Sie ständig die Leistungsgesellschaft propagieren, aber immer weniger Leistungsschwachen eine Chance eingeräumt wird, in dieser Leistungsgesellschaft mitzukommen. Das beginnt schon bei den Schulen und endet bei dem nicht bestandenen Hauptschulabschluß. Denken Sie einmal darüber nach.
— Herr Kollege Kolb, es sind 900 Millionen DM. In den nächsten Jahren sind es Milliardenbeträge, die die Bundesanstalt zu zahlen hat. Sie als Arbeitgeber. Auch Sie sollten einmal über die Beiträge nachdenken, die Sie dafür zu entrichten haben.Die inhaltliche Ausgestaltung der Novelle beweist wieder einmal, daß die Bundesregierung im Grunde genommen die Massenarbeitslosigkeit aussitzen will, weil kein ernsthafter Versuch unternommen wird, die Arbeitslosigkeit durch Schaffen neuer Arbeitsplätze abzubauen. Im Gegenteil: Es ist ein erneuter Versuch, Arbeitslosigkeit statistisch zu verwalten, die Zahlen zu schönen, d. h., die Arbeitslosen wegzumanipulieren. Ich werde das noch begründen.In meinem Beitrag will ich wesentliche Punkte des Gesetzentwurfs aus Oppositionssicht beleuchten; das ist meine Aufgabe. Die Bundesregierung will Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt schneller aus-
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1748 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Reimanngleichen, indem sie Stellenangebote und Stellengesuche künftig durch Ton, Fernsehen und Bildtext veröffentlicht. Das heißt: Dieses Ziel soll durch die Erweiterung der Publikationsmöglichkeiten erreicht werden. Die Bundesregierung öffnet damit den Stellenmarkt durch Rundfunk und Fernsehen — wie die FDP es möchte — auch für andere Vermittler und überläßt damit teilweise eine der elementaren Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit, nämlich Vermittlung und Beratung, dem angeblich freien Spiel der Kräfte in der Gesellschaft.
— Wollen Sie damit sagen: Die Bundesanstalt schläft und ist unfähig, das zu beherrschen? Dann sprechen Sie einmal mit Ihrem Minister darüber.Die Aufweichung des Alleinrechts der Bundesanstalt für Arbeit zur Vermittlung ist nach unserer Meinung kein geeignetes Instrument zur Belebung des Arbeitsmarktes.
Notwendig, Herr Minister, ist vielmehr, die personelle Ausstattung der Arbeitsämter bundesweit endlich einmal aufzustocken sowie durch die Fort- und Weiterbildung des Personals die Interessen der Arbeitsuchenden und der Betriebe durch qualifizierte Vermittlung und Beratung zu sichern. Das ist eins der zentralen Probleme. Gehen Sie einmal in die Arbeitsämter hinein und reden Sie mit den dortigen Mitarbeitern!
Sorgen Sie endlich mit dafür, daß qualifizierte Mitarbeiter der Arbeitsämter die Zeit haben, Betriebe aufzusuchen, Arbeitsplätze anzuschauen, um geeignete Beratung mit den Arbeitslosen führen und beurteilen zu können, ob diese für die Arbeitsplätze in der Industrie geeignet sind.
Das Alleinrecht der Bundesanstalt für Arbeit, Arbeitskräfte zu vermitteln, hat sich in den langen Jahren praktischer Arbeit gut bewährt. Allerdings kann auch das Arbeitsamt nur vermitteln, was an offenen Stellen angeboten wird und was zu vermitteln ist. Das heißt: Wer die Vermittlung von Arbeitsuchenden auf dem Arbeitsmarkt verbessern will — das gibt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf zumindest vor — , muß erstens sachliche und fachliche Kompetenzen schaffen und zweitens dafür sorgen, daß durch entsprechende Programme — wir Sozialdemokraten —nennen das „Arbeit und Umwelt" — Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Verhältnis von zwei Millionen Arbeitslosen und einer Million in der stillen Reserve zum Angebot von 170 000 offenen Stellen beweist, daß auch bei hoher Qualifikation von Arbeitslosen eine Vermittlungstätigkeit durch die Bundesanstalt für Arbeit kaum möglich ist und daß sich die Probleme nur lösen lassen, wenn die Bundesregierung endlich etwas für die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit tut. Diese Debatte zeigt auch, daß Sie die Arbeitslosigkeit für dieses und für die nächstenJahre einkalkuliert haben; das ist in Ihrem Programm.Jetzt will ich etwas zu § 128 sagen. In der jetzigen Form führt diese Vorschrift zu weiterer Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt. Ich will Ihnen auch erklären, warum. Wer entläßt schon ältere Arbeitnehmer in eine verdiente Rente, wenn er einen Erstattungsanspruch an das Arbeitsamt zahlen muß?
Ausgebildete junge Menschen sind in der Regel die Leidtragenden, denn sie werden aus den Betrieben herausgeschmissen, weil es keine andere Chance gibt.
Wir wollen nicht, daß junge Menschen nach Hause geschickt werden. Wir wollen, daß ältere Menschen durch Vereinbarungen und versorgt durch vernünftige Renten in den Ruhestand treten und daß die jungen Menschen eine Chance haben, in dieser Gesellschaft einen Arbeitsplatz zu finden.
Wir wollen die Beschäftigtengruppen auch nicht gegeneinander ausspielen. Wir möchten den Entsolidarisierungsprozeß, den Sie in dieser Gesellschaft einleiten, nicht mit den Gruppen in dieser Gesellschaft fortsetzen.
Deshalb, so meinen wir, wäre es sehr sinnvoll, wenn § 128 ganz aus Ihrem Entwurf gestrichen würde.Nun zu § 103. Es ist schon eine makabere Angelegenheit, wenn Sie nun Studierende und Schüler für nicht verfügbar erklären und damit von der Vermittlung ausschließen. Damit nehmen Sie rechtmäßig erworbene Ansprüche auf Leistung nach dem Arbeitsförderungsgesetz weg, und zwar zu einer Zeit, in der infolge Ihres unsozialen BAföG-Kahlschlags, der doch gerade die Studierenden aus den einkommenschwachen Schichten trifft, mittlerweile 40 % der Studenten ihr Studium ausschließlich durch eigene Arbeit finanzieren.
Was soll es eigentlich, wenn Sie Arbeitslosen, die, wie Sie es formulieren, selbständig werden wollen, so kräftig unter die Arme greifen — es ist Ihre Meinung, daß Sie ihnen unter die Arme greifen — , daß sie statt — wie bisher — drei Monate Arbeitslosengeld bei Gründung einer selbständigen Existenz sechs Monate Arbeitslosengeld beziehen. Wer im Ernst glaubt, mit einer solchen Regelung aus Arbeitslosen Selbständige machen zu können, der hat vom Wirtschaften aber wirklich keine Ahnung.
Meine Damen und meine Herren, ich habe nichts dagegen, wenn Arbeitslosen, die sich in einer Notsi-
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Reimanntuation befinden, geholfen wird, eventuell auch selbständig zu werden, aber die Förderung selbständiger Existenzen setzt voraus, daß dies eine vorrangige Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist, nicht aber, daß die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes um drei Monate verlängert wird. Wir alle, auch die Beitragszahler, insbesondere die der Bundesanstalt für Arbeit, die damit belastet werden, sollten einmal darüber nachdenken, wohin denn solche Existenzgründungen gehören.Ein weiterer Gesichtspunkt ist die in der Novelle vorgesehene Verschärfung der Meldepflicht. Herr Blüm, jetzt können Sie Ihre Lieblingsvorstellung endlich realisieren, denn jetzt können Sie endlich die vielen Frauen, die, ohne Leistungen zu beziehen, beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet sind, aus der Statistik herauskriegen. Das ist der Anspruch, den Sie damit verwirklichen.
Hier wird nämlich damit spekuliert, daß die Menschen der Vermittlung müde sind und daß sie nicht mehr zum Arbeitsamt gehen. Damit ist das Problem nach dem Motto gelöst: Der Arbeitslose, aber nicht die Arbeitslosigkeit wurde bekämpft.
— Ja, alle drei Monate.
— Nein. — Sie dünnen die Statistik aus. Sie tun nichts zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Sie werfen die Leute aus der Statistik heraus, und dazu soll dann optisch der Eindruck entstehen, als sei der Herr Blüm besonders leistungsfähig.
Herr Kolb, Sie wissen ja, daß die Leute, die Sie so oft zum Arbeitsamt bestellen, die Sie alle drei Monate zum Bittsteller machen, noch nicht einmal das Fahrgeld bezahlt bekommen. Das heißt: Sie belasten die auch noch zusätzlich.
— Ja, ich weiß, es ist schwer für Sie.Wir werden in der Abschlußberatung und in den Ausschußberatungen in den nächsten Tagen und Wochen unsere sozialdemokratische Position einbringen. Wir werden Verbesserungen beantragen, wir werden mit Ihnen diskutieren. Herr Minister, wir hegen aber auch die Hoffnung, daß Sie einen wohlwollenden Einfluß auf Ihre Regierungskoalition ausüben und dann den sinnvollen Anträgen der Sozialdemokraten zugunsten der Arbeitslosen und zugunsten einer vernünftigen Arbeitsmarktpolitik in den Ausschüssen zustimmen werden und daß wir in der letzten Lesung, wenn wir über das Gesetz abstimmen, ein vernünftiges Gesetz bekommen werden.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wie bereits in der Regierungserklärung vom 18. März angekündigt, soll durch die Novelle, über die wir heute sprechen, das bewährte Benachteiligtenprogramm des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Das Programm leistet heute einen wesentlichen Beitrag dazu, daß in unserer hochtechnisierten Gesellschaft auch ehemalige Sonderschüler, Hauptschulabgänger ohne Abschluß und junge Ausländer die Chance einer dauerhaften beruflichen Eingliederung haben.
Bundesweit erhalten zur Zeit durch das Programm 32 000 benachteiligte Jugendliche eine Ausbildung in anerkannten Ausbildungsberufen. 19 400 werden in überbetrieblichen Einrichtungen ausgebildet; weitere 12 800 werden durch ausbildungsbegleitende Hilfen während einer Ausbildung in einem Betrieb gefördert. Durch Stützunterricht und sozialpädagogische Unterstützung gelingt es, während der Berufsausbildung die schulischen Defizite und sozialen Benachteiligungen, die einem Ausbildungserfolg noch entgegenstehen, zu überwinden.
Ich glaube, es kann gar keinen Streit darüber geben, daß der Bundesarbeitsminister mit seinem Hinweis auf Schwächen im Schulsystem, auf die allseits leider praktizierte Benachteiligung der Hauptschule, recht hat.
Diese kritische Bemerkung richtet sich übrigens an die Adresse der hier im Hause vertretenen Parteien, soweit sie die Kultusminister stellen.
Man hat sich eine Zeitlang zu sehr auf die sogenannten weiterführenden Schulen konzentriert und hat die Hauptschulen sowohl von der Ausstattung mit Lehrern als auch von der Beschreibung des gesellschaftlichen Stellenwerts her vernachlässigt.
Das führte dazu — —
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Götte?
Ja, aber ich darf den Satz eben zu Ende führen: Das führte dazu, daß auch die hier in Rede stehenden Schwächen aufgetreten sind.
Deswegen muß es eine Gemeinschaftsanstrengung der Parteien, die die Kultusminister stellen, also aller im Parlament vertretenen Parteien mit Ausnahme der GRÜNEN, sein, dies zu ändern. — Bitte!
Herr Minister, wissen Sie eigentlich, wieviel Lehrer in Deutschland in große Gewissenskonflikte geraten, wenn es um die Frage geht,
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Frau Dr. Götteob sie schwachen Schülern in der Hauptschule überhaupt den Hauptschulabschluß geben sollen?
Wenn diese nämlich den Hauptschulabschluß bekommen, fallen sie nicht unter dieses Programm. Ist Ihnen bekannt, daß sich Lehrer, die die Familienverhältnisse mancher Schüler kennen, aus Gewissensgründen weigern, den Hauptschulabschluß zu erteilen, weil ein Hauptschulabschluß in diesem Falle bedeuten würde: keine Chance, in eine Berufsausbildung zu kommen?
Davon habe ich nicht gehört. Ich würde sagen: Ein Lehrer, der mit einer solchen Argumentation einem Schüler den ihm an sich zustehenden Abschluß verweigert, versteht seinen Beruf falsch.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand so argumentiert.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, ich möchte gern fortfahren.
Diese Förderung der Ausbildung bedeutet für den einzelnen oftmals eine ihm sonst nicht mehr gebotene Möglichkeit einer gleichberechtigten beruflichen und persönlichen Entwicklung. Sie liegt aber zugleich auch im Interesse der Gesellschaft, für die durch dieses Programm Folgekosten einer Beschäftigungslosigkeit vermieden werden, die die für die Ausbildung erforderlichen Kosten bereits in kürzester Zeit erheblich überschreiten würden.
Der Förderansatz dieser erfolgreichen Ausbildungsmaßnahmen ist unabhängig von der Ausbildungsplatzsituation. Langjährige Erfahrungen zeigen, daß Jugendliche aus den Zielgruppen des Programms auch bei einem ausreichenden Ausbildungsplatzangebot intensiver Förderung bedürfen, um einen Ausbildungserfolg zu erreichen. Durch ausbildungsbegleitende Hilfen wird diese Lernunterstützung während einer Ausbildung im Betrieb sichergestellt. Für benachteiligte Jugendliche, die auf Grund ihrer schulischen Defizite und sozialen Schwierigkeiten auch mit diesen ausbildungsbegleitenden Hilfen noch nicht in einem Betrieb ausgebildet werden können, ist auch in Zukunft eine noch intensivere Förderung während der Ausbildung in einer überbetrieblichen Einrichtung erforderlich.
Meine Damen und Herren, die gesetzliche Verankerung des Programms im Arbeitsförderungsgesetz bringt — das sage ich im Hinblick auf Fragezeichen, die gesetzt worden sind — vor allem den Vorteil, daß die Förderung der Berufsausbildung von benachtei-
ligten Jugendlichen in den Zusammenhang der Instrumente gestellt wird, auf die es aufbaut, beispielsweise auf die berufsvorbereitenden Maßnahmen.
Wegen der Trennung der Instrumente „Berufsvorbereitung" und „Förderung der Berufsausbildung" konnte es bisher leider geschehen, daß etwa ein ehemaliger Sonderschüler, der nach der Schule bereits eine berufsvorbereitende Maßnahme besucht hatte, nur deshalb statt einer Ausbildung nach dem Benachteiligtenprogramm eine zweite, manchmal auch eine dritte Vorbereitung besuchte, weil hierfür, nicht aber für die Förderung einer Ausbildung nach dem Benachteiligtenprogramm Mittel zur Verfügung standen. Durch die Aufnahme in das Arbeitsförderungsgesetz kann nun die Voraussetzung dafür geschaffen werden, vorhandene Mittel in Zukunft noch gezielter als bisher für das Förderinstrument einzusetzen, das von der Bildungssituation des betroffenen Jugendlichen her bildungspolitisch, aber auch wirtschaftspolitisch am sinnvollsten ist. Der Bundesbildungsminister wird die fachliche Zuständigkeit für die inhaltliche Gestaltung der Ausbildungsmaßnahmen des Programms auch nach der gesetzlichen Verankerung behalten. Damit ist sichergestellt, daß dieses erfolgreiche Programm ein wichtiges und lebendiges Instrument der Berufsbildungspolitik der Bundesregierung bleiben wird.
Zwei Bemerkungen zum Schluß zu dem, was eine Vorrednerin und ein Vorredner gesagt haben.
Frau Unruh, ich habe mit einer gewissen Faszination Ihren analytischen Bemerkungen, die Sie hier vorgetragen haben, gelauscht. Wenn das, was Sie zum Wahlergebnis in Schleswig-Holstein als Analyse vorgetragen haben, tatsächlich das ist, was Sie wirlich denken, dann wundert mich das, was ich in den letzten Tagen über den Analyseablauf in Ihrer Partei gelesen habe, freilich überhaupt nicht mehr.
— Es war mir ein Vergnügen. Sie ordnen das ganz richtig ein.
Zu Herrn Kollegen Reimann, der sich etwa in dem Sinne äußerte: Wenn ein großer Apparat, der ein Monopol für die Abwicklung einer Aufgabe hat, offenkundig Schwächen aufweist, dann sei seine Forderung nicht die nach Abstellung der Schwächen, sondern die, ihn weiterhin aufzublähen. Das ist eine Konsequenz, die mir nicht einleuchtet. Ich glaube, daß die Ausstattung der Bundesanstalt für Arbeit und ihrer nachgeordneten Stellen mit jetzt über 65 000 Mitarbeitern wirklich hinreichend ist. Wir müssen uns jetzt tatsächlich an die Schwachstellen begeben.
Ich sehe, daß der Kollege Penner sich mittlerweile von seinem Tiefschlaf im Abteil 1. Klasse der chinesischen Staatsbahn erholt hat und eine Zwischenfrage stellen will.
Deswegen will ich sie ihm gerne einräumen.
Herr Abgeordneter Penner, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
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Der Möllemann greift den Ereignissen vor.
Herr Bundesminister Möllemann, Sie waren in der vergangenen Woche so freundlich, den besonderen Charakter der Reise in der chinesischen Staatsbahn zu verkennen und denjenigen der Lüge zu zeihen —
Es geht um eine Zwischenfrage und nicht um eine Klarstellung zur chinesischen Staatsbahn.
Herr Abgeordneter Penner bitte sehr, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage erbeten.
Ja, das kommt jetzt, Herr Bundestagspräsident:... und denjenigen der Lüge zu zeihen, der Sie zu dieser Reise mit der chinesischen Staatsbahn in Beziehung setzte. Jetzt kommt die Frage, Herr Bundestagspräsident: Trifft es denn nicht zu, Herr Möllemann, daß Sie zu Beginn der 70er Jahre Mitglied einer Bundestagsdelegation unter Führung des damaligen Kollegen Jaeger waren, die sehr wohl eine Reise mit der chinesischen Staatsbahn von Hongkong nach Kanton gemacht hat?
Herr Zwischenfrager, ich muß Ihnen sagen, das hat nun wirklich mit dem Gegenstand der Beratungen nichts zu tun.
Ich bin zwar dafür, daß wir möglicherweise im Deutschen Bundestag eine Enquete-Kommission einsetzen, um dieses Problem zu klären,
aber ich lasse die Zwischenfrage nicht zu.
— Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, ich lasse diese Zwischenfrage jetzt nicht zu. Sie steht nicht im Zusammenhang mit der Beratung des Arbeitsförderungsgesetzes.
Herr Abgeordneter Reimann zu einer weiteren Zwischenfrage.
Herr Präsident, ich verspreche, nicht von der Staatsbahn zu reden.
Herr Minister, Sie haben ein über lange Zeit im Vermittlungsmonopol der Bundesanstalt funktionierendes System ausgerechnet jetzt als Schwachstelle bezeichnet. Würden Sie mir zustimmen, daß nicht die Vermittlung der Bundesanstalt daran schuld ist, daß wir soviel Arbeitslose haben und Probleme auftreten, sondern das Wirtschaften und das Wirtschaftssystem als solches und insbesondere die Politik der jetzigen Bundesregierung?
Nein, Herr Kollege, ich stimme Ihnen nicht zu. Ich möchte, damit hier kein Mißverständnis aufkommt, sagen, daß ich von Schwachstellen im System der Arbeitsvermittlung als einem System, das von einem Monopol betrieben wird, gesprochen habe. Das muß einem auffallen, und das muß man erkennen können, wenn man diese Eindrücke nicht in einem Schlafwagen der Staatsbahn verschlafen hat.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Stratmann und der Fraktion DIE GRÜNEN
Thorium-Hochtemperaturreaktor THTR 300 und die Hochtemperaturreaktorlinie
— Drucksache 11/728 —
Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/806 und 11/815 vor.
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Hans-Jochen Vogel geißelte in der Haushaltsdebatte letzte Woche die politische Devise von Herrn Geißler und sagte — ich zitiere — :Nicht die Taten zählen, sondern die Worte zählen, mögen sie wahrheitsgemäß, glaubwürdig und redlich sein oder nicht. Das ist Ihre Maxime.Ich teile die Empörung von Herrn Vogel über Herrn Geißler. Die Frage aber ist, ob der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion zum Hochtemperaturreaktor, dem Staatsreaktor von Nordrhein-Westfalen, nicht nach exakt derselben Maxime verfährt.Gehen wir der Reihe nach vor. Von Baubeginn an war der THTR 300 das Lieblingskind der SPD-Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Die Finanzierungskosten von 4 Milliarden DM teilten sich im wesentlichen Bund und Land. Gemeinschaftlich wird auch die Kernforschungsanlage Jülich finanziert, in der Forschungs- und Entwicklungsarbeit für die Hochtemperaturtechnologie geleistet wird und auf deren Gelände der meist unbeachtete Kugelhaufenversuchsreaktor AVR betrieben wird.Den Bergleuten im Kohleland NRW wurde die Hochtemperaturreaktorlinie mit der Verheißung schmackhaft gemacht, daß mit ihrer Hilfe Prozeßwärme zur Vergasung heimischer Steinkohle gewonnen werden könne. Heute ist klar, daß die entsprechende Technik, ein nukleares Prozeßwärmesystem, wenn überhaupt, nicht vor dem Jahre 2500 kommerziell zum Einsatz gebracht werden kann.
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1752 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
StratmannDie Weiterentwicklung dieser Linie macht also nur Sinn, wenn an die langfristige Nutzung dieser Reaktorlinie und deren Export gedacht ist.Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat sich bis heute nicht vom Konzept dieser Reaktorlinie verabschiedet. Im Gegenteil: Arm in Arm mit der Bundesregierung fördert sie auch 1987, dem Jahr nach Tschernobyl, diese Linie mit dem Projekt „Prototypanlage Nukleare Prozeßwärme".
1987 geschieht dies mit 47 Millionen DM an Landesmitteln, für 1988 sind 28 Millionen DM veranschlagt.Die Landesregierung NRW ist indirekt auch an dem geplanten Umbau des Versuchsreaktors AVR in Jülich beteiligt. Damit sollen demnächst weitere technische Voraussetzungen für den „Prototyp Nukleare Prozeßwärme" zur Kohlevergasung geschaffen werden.Während sich die SPD-Landesregierung einerseits eifrig in Ausstiegsrhetorik übt, erklärte Genehmigungs- und Aufsichtsminister Jochimsen im Dezember 1986, also nach dem Nürnberger Ausstiegsbeschluß der SPD, in der WAZ unmißverständlich — ich zitiere — :Den technologischen Fadenriß dürfen wir uns bei der Kohlevergasung und der Kohleverflüssigung nicht leisten. Dieses gilt auch für die Hochtemperaturreaktortechnologie.Auf deutsch: Wir müssen diese Technologie weiterentwickeln. Oder anders gewendet: Ausstieg aus der Atomenergie durch weiteren Einstieg.Überhaupt ist die SPD in der Förderung der Hochtemperaturreaktortechnologie wesentlich flexibler als die Bundesregierung. Während diese die Förderung der „Prototypanlage Nukleare Prozeßwärme" im Bundeshaushalt offen ausweist, hat die SPD-Landesregierung nach dem Nürnberger Ausstiegsbeschluß den entsprechenden Haushaltstitel „ökologisch modernisiert". Gefördert wird dasselbe wie vorher, aber es heißt jetzt — nuklear unverdächtig — : Förderung von Werkstoffen und Komponenten für Hochtemperaturprozesse. — Herr Geißler nennt das: Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten.Die tatsächliche positive Haltung der SPD-Landesregierung zum Hochtemperaturreaktor prägt auch ihre Haltung in der Sicherheitsfrage. Darin wird sie von der SPD-Bundestagsfraktion genauso unterstützt wie von der Bundesregierung. Die bekannten Sicherheitsmängel reichen ihr nicht aus, den THTR 300 nach Recht und Gesetz stillzulegen.Über die dem THTR angedichtete inhärente Sicherheit schreibt die „Atomwirtschaft", das offizielle Fachblatt der Kerntechnischen Gesellschaft, im August/September 1987 — ich zitiere — :..., daß man unter inhärenter Sicherheit keine hundertprozentige Sicherheit verstehen kann .. . Die Tatsache, daß auch mit passiven Komponenten keine absolut hundertprozentige Sicherheit in dieser Welt erreichbar ist, hat z. B. der neulich ohne erkennbaren Anlaß stattgefundene Einsturzeines Hotels in Singapur, dessen Tragekonstruktion nur aus passiven Komponenten bestand, gezeigt.
Die „Atomwirtschaft" schreibt das.
Darüber hinaus ist der THTR 300 nicht nur nicht inhärent sicher, sondern er weist HTR-spezifische Unfallmöglichkeiten und auslegungsgemäß besonders ungünstige Merkmale auf. So verfügt er z. B. wie der Tschernobyl-Reaktor über kein Containment im eigentlichen Sinn. Seit der Erteilung der vorläufigen Betriebsgenehmigung für den THTR im September 1985 sind unvorhergesehen schwerwiegende Konstruktionsmängel und Fehler zutage getreten, z. B. zu stark verdichteter Kugelhaufen mit den Konsequenzen von erhöhten Kräften auf die Abschaltstäbe, erhöhtem Kugelbruch, erhöhtem Anfall von Graphitstaub und -abrieb.Diese Konstruktionsmängel sind ursächlich für bestimmte Störfälle verantwortlich, z. B. für die erhöhte Radioaktivitätsfreisetzung am 4. Mai 1986 für den berühmt-berüchtigten THTR-Störfall. Wenn die Meldung des „Spiegels" Nr. 31/1987 zutrifft, wonach ein Tagesbericht im Zusammenhang mit dem Störfall im THTR am 4. Mai 1986 von dem Betreiber zurückgenommen wurde, weil er nicht genehm war, dann ist die Unzuverlässigkeit des Betreibers erwiesen und eine atomrechtlich vorgeschriebene Genehmigungsvoraussetzung entfallen.Schließlich ist die Frage der Entsorgung für den THTR bis heute völlig ungelöst. Seine Inbetriebnahme im September 1985 erfolgte ohne Nachweis eines genehmigungsfähigen Endlagers. Das geplante Endlager Gorleben ist offenkundig nicht genehmigungsfähig. Darüber dürften wir mittlerweile übereinstimmen. Selbst das vorgesehene Zwischenlager Ahaus ist zwischenzeitlich als angeblicher Entsorgungsvorsorgenachweis gerichtlich blockiert.Das geltende Atomrecht stellt also eine hinreichende Handhabe dar, um die Betriebsgenehmigung für den THTR 300 aus Gründen mangelnder Sicherheit, eines fehlenden Entsorgungsnachweises und mangelnder Zuverlässigkeit der Betreiber zu widerrufen.Wir GRÜNEN begrüßen deswegen den Ratsbeschluß der Stadt Dortmund vom 22. Mai 1986,
in dem die Mehrheit von SPD und GRÜNEN die Landesregierung auffordert: Die Betriebsgenehmigung für den THTR 300 in Hamm-Uentrop ist zu widerrufen.Wenn die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, unterstützt von der SPD-Bundestagsfraktion, ihre atomrechtlichen Möglichkeiten nicht nutzt, zeigt sie nur, daß sie es politisch nicht will.
Sie braucht ja auch diese Demonstrationsanlage, um in Zukunft HTR-Technologie exportieren zu können, haben doch die meisten Firmen, die am deutsch-sowjetischen HTR-Projekt beteiligt sind, ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1753
StratmannDen lediglich rhetorischen Ausstiegswillen der Landesregierung dokumentiert auch die geplante Sicherheitsüberprüfung aller Atomanlagen in NRW, „an der auch erklärte Kritiker der Atomkraft beteiligt werden", wie der SPD-Antrag in dieser Debatte suggeriert. Diese Beteiligung sieht so aus, daß von neun Mitgliedern der Überprüfungskommission ein Mitglied atomkritisch eingestellt ist. Um aber die Übermacht dieses kritischen Sachverstandes einzudämmen, hat die Landesregierung NRW mit der Federführung in der Kommission eine Firma als Generalunternehmer beauftragt — die Elektrowatt- Ingenieurunternehmung Zürich —, die im schweizerischen und bundesdeutschen Atomgeschäft engagiert ist, u. a. mit Kapitalbeteiligungen an Atomkraftwerken, z. B. dem AKW Obrigheim.
Die Seriosität dieses Gutachterunternehmens sieht Minister Jochimsen — ich habe ihn am letzten Samstag noch persönlich gefragt — dadurch gewährleistet, daß es einen Ruf zu verlieren habe. Endlich einmal kann ich zustimmen: Wer weiter im Atomgeschäft Geld machen will, darf sich in der Atomgemeinde nicht unbeliebt machen. Und so kommt die Zusammensetzung der Sicherheitskommission einem bestellten Persilschein für die Atomanlagen in Nordrhein-Westfalen gleich — mit programmiertem Minderheitsvotum als Alibi.Gegenüber der Großen Koalition aus Bundesregierung, Bundestagsfraktion der SPD und NRW-Landesregierung zum Weiterbetrieb des THTR 300 fordern wir GRÜNEN in Übereinstimmung mit weiten Kreisen der SPD-Basis
erstens die sofortige Stillegung des THTR 300 und des Versuchsreaktors AVR in Jülich,
zweitens den sofortigen Stopp jeglicher Förderung der HTR-Technologie, insbesondere auch in Nordrhein-Westfalen — das ist die Nagelprobe für Ihren Entschließungsantrag und Ihren Debattenbeitrag seitens der SPD heute — , und drittens ein Exportverbot für HTR-Technologie.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, der Kollege Stratmann hätte diese Rede nicht halten können, wenn er die Beantwortung der Großen Anfrage, die die GRÜNEN vor drei Wochen eingebracht haben, abgewartet hätte; denn dann wäre klargeworden, daß die Vorwürfe, die sich gegen den Hochtemperaturreaktor richten und die Herr Stratmann hier vorgetragen hat, unhaltbar sind. Vielleicht aber, Herr Stratmann, haben Sie diese Antwort der Bundesregierung auf dieGroße Anfrage deswegen nicht abgewartet, um diese Rede halten zu können.Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen stehen zu ihrer Energiepolitik. Diese Politik schließt die friedliche Nutzung der Kernenergie und auch den Weiterbetrieb des Hochtemperaturreaktors mit ein. Ein Ausstieg wird mit uns nicht stattfinden.
Unsere Haltung ist klar. Wir haben es daher auch nicht nötig, wöchentlich — wie es die Opposition heute wieder zeigt — , durch neue Entschließungen unsere Einstellung zur Kernenergie zu bekräftigen. Bei allem Respekt vor unterschiedlichen Standpunkten und vor der Diskussion über das Für und Wider der Kernenergie sollten Sozialdemokraten und GRÜNE darauf verzichten, hier im Deutschen Bundestag trotz fehlender Mehrheit immer wieder den Versuch zu machen, mit Hilfe von neuen Anträgen den Ausstieg aus der Kernenergie zu erreichen. Es wird hier keine Mehrheit für den Ausstieg geben.
Meine Damen und Herren, weder Einzelaktionen noch andere Umwege können den Betrieb oder die Inbetriebnahme von Kernkraftwerken, wenn sie den Anforderungen der Sicherheit genügen, verhindern.
Es ist daher besonders bedauerlich, daß der Hochtemperaturreaktor auch nach seiner erfolgreichen Inbetriebnahme weiter als Instrument zum Ausstieg aus der Kernenergie mißbraucht wird. Wir sind der Auffassung, daß der Hochtemperaturreaktor — seine erfolgreiche Inbetriebnahme hat uns in dieser Auffassung bestätigt — am Anfang und nicht am Ende einer zukunftsorientierten Großtechnologie steht. Die Hochtemperaturreaktorlinie bietet eben die einzige bisher bekannte Energiequelle, die eine Wärmeauskoppelung auf ausreichend hohem Temperaturniveau von 900 bis 950 Grad Celsius ermöglicht, wie sie für die Kohleveredelung und Kohlevergasung zwingend erforderlich ist.
Meine Damen und Herren, diese Linie bietet daher langfristig, aber nicht erst im Jahre 2500, wie hier vorhin gesagt worden ist, für die Kohle wirklich große Möglichkeiten.
Dies gilt auch für die Kohleveredelung der Zukunft mit Blick auf die steigenden Rohstoff- und Energiebedürfnisse einer rasant zunehmenden Weltbevölkerung. Die weitgehende technologische Verzahnung von Hochtemperaturreaktor und Kohlevergasungstechniken läßt eben die Option zu, aus Kohle mehr als
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1754 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
GersteinStrom und Fernwärme zu machen. Neue Produkte und Energieträger, die heute vorwiegend aus den Ressourcen Öl und Erdgas gedeckt werden, können auf diesem Wege aus der weltweit reichhaltig vorhandenen Kohle verfügbar gemacht werden. Dies ist und bleibt vor dem Hintergrund der endlichen Vorräte bei Mineralöl und Gas nach unserer Auffassung eine außerordentlich wichtige politische Aufgabenstellung.Meine Damen und Herren, auch Wasserstoff, der heute allgemein als ökologisch wünschbare Energie-und Rohstoffquelle angesehen wird, läßt sich in großen Mengen aus dem Verbund von Kohle und Kernenergie verfügbar machen.
Bei der Entwicklung des Hochtemperaturreaktors hat die Bundesrepublik Deutschland weltweit eine Spitzenstellung erreicht. Die erfolgreiche Inbetriebnahme hat dazu nicht unwesentlich beigetragen. Die aufgetretenen Probleme bei der Inbetriebnahme sind nach unserer Auffassung bei einem Prototyp dieser Größe normal. Sie haben auch die Sicherheit des Gesamtsystems in keiner Weise in Frage gestellt. Es liegen keine schweren, nicht behebbaren Konstruktionsfehler vor. Ich will an dieser Stelle den beteiligten Ingenieuren für ihre Leistungen auch Anerkennung aussprechen. Ich glaube, es fehlt, daß wir gelegentlich einmal sagen, daß hier wirklich ein hervorragendes Beispiel deutscher Spitzentechnik entstanden ist und funktioniert.
Wir wollen dafür sorgen, daß auch weiterhin der gute Ruf deutscher Ingenieurtechnik durch die Diffamierungen des Hochtemperaturreaktors durch GRÜNE und die Sozialdemokraten eben nicht geschädigt wird.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Große Anfrage vor drei Wochen mit über 80 sehr detaillierten Fragen eingebracht. Eine sachkundige und fundierte Antwort durch die Bundesregierung haben Sie nicht abgewartet. Uns interessiert die Antwort durchaus. Auch Sie wissen doch, daß eine solche Große Anfrage nicht in drei Wochen beantwortet werden kann.
Sie haben aber — und das ist typisch für Sie — bereits alle Schlußfolgerungen, trotz der nicht erteilten Beantwortung der Großen Anfrage, in Ihrem Antrag gezogen. Das legt die Vermutung nahe, daß es sich bei dem, was Sie heute morgen vorführen, nur um ein politisches Schaugeschäft handelt, bei dem Sie den Streit der Sozialdemokraten um die Kernenergie im Vorfeld des Landesparteitages in Nordrhein-Westfalen ausnutzen.Meine Damen und Herren, nun liegt auch ein Antrag der SPD-Fraktion vor. Er bekräftigt erneut die Notwendigkeit des Ausstieges aus der Kernenergie.
Er gewährt dem Hochtemperaturreaktor gerade noch Rechtsschutz. Das ist zu wenig. Der Antrag ist wohl aus dem umstrittenen Leitantrag für den Landesparteitag der SPD in Nordrhein-Westfalen abgeschrieben. Dieser Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, hat einen zentralen Fehler: Er erstickt die konstruktiven Ansätze, die in letzter Zeit gerade auch bei führenden Sozialdemokraten die Bereitschaft erkennen ließen, in der Ausstiegsdiskussion Positionen zu verändern und zumindest über den Zeitraum des Ausstieges erneut nachzudenken. Das Überbrückungskonzept der IG Bergbau und Energie ist dafür ein Beispiel. Zur Sicherung der Arbeitsplätze im Steinkohlenbergbau und zur Sicherung unserer Energieversorgung hält dieses Konzept im Grundsatz am Einsatz von Kohle und Kernenergie für lange Zeit fest. Und das paßt Ihnen nicht. In Ihrem Antrag haben Sie daher dieses Konzept einfach nicht zur Kenntnis genommen. Im Gegenteil, Sie begrüßen sogar den Beschluß der sozialdemokratischen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen zur Streichung von Kernkraftwerksstandorten. Damit tun Sie der deutschen Steinkohle keinen Gefallen. Im Gegenteil, Sie erschweren es nicht nur den revierfernen Ländern, die Kohlepolitik als Bestandteil gemeinsamer Energiepolitik von Bund und Ländern weiter mitzutragen.Wir halten es für notwendig, an der für die deutsche Stromversorgung günstigen Kombination von Kernenergie und Braunkohle in der Grundlast und von Steinkohle in der Mittellast festzuhalten. Dies hat der deutschen Steinkohle einen sicheren, einen steigenden Absatz ermöglicht.
Wer diesen Verbundeinsatz von deutscher Steinkohle und Kernenergie, wie Sie dies mit Ihrem Antrag tun, in Frage stellt, fällt dem deutschen Steinkohlenbergbau letztlich in den Rücken.Meine Damen und Herren, in der anstehenden Kohlerunde — wir haben darauf hingewiesen — wird es darauf ankommen, den notwendigen Kapazitätsabbau im deutschen Steinkohlenbergbau auf das unvermeidbare Maß zu begrenzen. Das wird aber nur gelingen, wenn die Grundlagen unserer Energiepolitik nicht einseitig durch länderspezifische Ausstiege aus der Kernenergie zerstört werden, so wie Sie das wiederum in Ihrem Antrag der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen heute empfehlen.Gerade Nordrhein-Westfalen als größtes Kohleland, dessen Menschen auch die größte Last der Anpassung zu tragen haben, müßte das stärkste Interesse an gemeinsamen Regelungen haben.
Wir sind zu solchen Regelungen bereit.
Der Entschließungsantrag der Sozialdemokraten läßt dieses gemeinsame Interesse völlig vermissen, und er steht einvernehmlichen Regelungen, die in diesem Herbst dringend nötig sind, im Wege. Meine Damen und Herren, wir werden beiden Entschließungsanträgen aus den vorgetragenen Gründen nicht zustimmen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1755
Das Wort hat der Abgeordnete Vosen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Koleginnen und Kollegen! Wir Sozialdemokraten haben den Eindruck, daß die GRÜNEN mit Ihrem Antrag den Versuch gemacht haben, die SPD
wieder einmal, wie das in der Vergangenheit oft der Fall war, in Fragen der Kernenergienutzung vorzuführen.
Das ist offensichtlich und durchschaubar.Wir müssen aber auch feststellen, daß die CDU und die FDP das — anscheinend — mit klammheimlicher Freude unterstützen.
Auch sie versuchen also, die SPD besonders in Fragen der Kohlenutzung in Verlegenheit zu bringen.
Wir würden im Rheinland, woher ich stamme, für ein solches Verhalten das Wort „schlitzohrig" gebrauchen. Ich muß Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Redlichkeit wäre hier angebracht und besser.
Nun muß ich den GRÜNEN noch sagen: Eifrig, eifrig! Man kündigt an: Das ist eine bedeutsame Frage. Hier muß die SPD vorgeführt werden; wir beantragen eine namentliche Abstimmung. — Das hat man dann anscheinend vergessen. Denn bis jetzt ist in Sachen namentlicher Abstimmung nichts verkündet worden. Auch Sie, Herr Stratmann, haben es eben nicht getan. Das ist wieder ein Windei, das Sie angekündigt haben.
Unruhe, Nervosität, Verunsicherung — das ist das, was Sie mit solchen Dingen letztlich erreichen wollen.14 Tage vor dem wichtigen nordrhein-westfälischen Parteitag, der sich hauptsächlich mit dem Landesenergiekonzept befassen wird, konfrontiert man uns hier in Bonn mit dem THTR, ohne daß dazu wirklich ein sachlicher parlamentarischer Anlaß besteht. Das ist durch den Kollegen Gerstein hier schon erläutert worden. Die GroBe Anfrage der GRÜNEN ist nicht beantwortet.
— Ich würde an Ihrer Stelle die namentliche Abstimmung noch schnell anmelden.
Das macht Sie doch sehr nervös, muß ich schon sagen.
Vergeßlichkeit!
Die Debatte ist nach der Geschäftsordnung des Bundestags zwar möglich, aber im Ergebnis ist sie ein schlecht verhülltes politisches Manöver. Mehr ist es nicht. Es wird Ihnen politisch aber nichts einbringen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN. Auch die Koalitionsparteien werden davon nichts haben. Denn wir haben jetzt die Gelegenheit, Ihnen nochmals unseren Standort zu erläutern.
Zu den GRÜNEN sage ich — hören Sie gut zu —: Sie werden uns nicht auf den illusionären Weg locken, den Sie gehen. Wir werden auf dem Weg des Gesetzes bleiben.
Zur Koalition sage ich:
Der Schwarze Peter für die Schließung von Zechen — das ist bedauerlich, Herr Gerstein — und die Vernichtung von Zehntausenden von Arbeitsplätzen liegt bei Ihnen. Das bleibt so, solange Sie sich nicht für unser Umstiegskonzept mit Kohlevorrangpolitik entscheiden. Die Position der SPD ist seit dem Nürnberger Parteitag in der Frage der Nutzung der Kernenergie gefestigt.
Sie lautet — jetzt hören Sie gut zu — : Die Nutzung der Kernenergie ist nicht zu verantworten. Die Kernenergie ist für Mensch und Umwelt zu gefährlich.
Tschernobyl hat uns — Ihnen anscheinend noch nicht — das sehr deutlich vor Augen geführt. Harrisburg — sichere Technik in den Vereinigten Staaten? — war zuvor die erste deutliche Warnung. Die Kernenergie ist mit der Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens wegen ihres umfassenden Sicherheitsbedarfs mit Sabotageschutz, mit Werksschutz und weitgreifender Personenüberwachung auf Dauer nicht verträglich, verträgt sich nicht mit der Demokratie.
Das Wort vom Polizeistaat, Herr Staatssekretär, wird in vielen Kreisen, besonders bei jungen Menschen oft gebraucht.
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1756 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
VosenDie Kernenergienutzung muß schließlich auch wegen des Risikos, daß weitere Länder die Atombombe bekommen, so rasch wie möglich beendet werden.
— Wer mit Atomtechnik umgehen kann, kann auch Bomben bauen! Der Umstieg kann unter den in Nürnberg beschlossenen Voraussetzungen
technisch und auch sozial verträglich bewältigt werden. Dies haben inzwischen selbst von der Regierung in Auftrag gegebene Gutachten bestätigt, die Sie aber leider nicht lesen, wie ich die Dinge so sehe. Ich fordere deshalb die Mehrheitsfraktion auch heute wieder auf, umzudenken und ihre starre Blockadehaltung in dieser Frage aufzugeben.Entgegen Ihrem Protest hier im Saal, meine Damen und Herren, ist es doch so, daß die Parteien im Grunde gar nicht über die Frage streiten, ob Kernenergie eine Übergangsenergie ist. Ich möchte Sie an Ihre eigenen Worte erinnern: Der Bundespräsident hat zum Innehalten aufgerufen, Herr Biedenkopf spricht von einer Ausstiegsfrist von 20 bis 30 Jahren, Herr Lambsdorff hat gesagt, in 50 bis 70 Jahren sollte man aussteigen, Herr Stoltenberg hat gesagt, eines Tages sollte man aussteigen.
— Das sind Ihre Vormänner; darauf müssen Sie mehr hören. — Herr Genscher hat wörtlich gesagt: Das ist eine Übergangslösung, und man sollte so schnell wie möglich aussteigen. Das haben Ihre Vormänner alle gesagt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Penner?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Vosen, können Sie bestätigen, daß der Spitzenpolitiker der GRÜNEN Joschka Fischer in einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung" vom heutigen Tage den sofortigen Verzicht auf die Kernenergie für irreal erklärt hat?
Dazu muß ich sagen: Ich habe es nicht gelesen. Aber das heißt, daß der Abgeordnete Fischer recht hat,
endlich mal ein Realo, der sich offen bekennt! Das finde ich sehr gut.Meine Damen und Herren, ich wundere mich, daß Sie das alles vergessen haben, und deswegen mögen Sie auch diese Debatten hier nicht. Sie wollen das vergessen.
— Ich weiß. Ich bin für Sie in diesen Fragen auch ein bißchen hilfreich.
Wir werden Sie immer wieder daran erinnern.Johannes Rau hat z. B. auch gesagt: Wir werden nicht zulassen, daß Zehntausende von Kumpeln in Nordrhein-Westfalen und an der Saar in Geiselhaft für die Zustimmung zu einem blinden Atomkurs der Bundesregierung genommen werden.
— Der gilt 15 Jahre und ist bald abgelaufen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Ihr Motto dazu dient, die Überkapazitäten der Kernenergie zur Stillegung von Zechen zu benutzen, so sind Sie nicht nur im Ruhrgebiet völlig unglaubwürdig geworden. So ist es nämlich: Die Kernkraft ist, vom Strombedarf her gesehen, bereits heute zum großen Teil überflüssig.
Sie können das auch nicht mit der heutigen Debatte zum THTR 300 verdrängen. Es ist für uns selbstverständlich, daß der THTR als eine Kernenergieanlage von unserem Beschluß in Nürnberg betroffen sein wird. Es ist ferner selbstverständlich, daß die SPDLandesregierungen alles in ihren Kräften Stehende tun werden, um unserem Plan für eine Energieversorgung ohne Atomkraft zur Ausführung zu verhelfen.
— Herr Stratmann, hören Sie mal meinen Argumenten zu, und dann sehen wir weiter.
Deshalb ist es nur konsequent, daß die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen für alle Atomanlagen in ihrem Land eine Sicherheitsüberprüfung angeordnet hat und daß sie weitere Atomstandorte in ihrem Land aus der Planung gestrichen hat. Es ist schließlich selbstverständlich, daß sich die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hinsichtlich des THTR an das geltende Atomrecht hält,
solange unser Antrag, ein Kernenergieabwicklungsgesetz im Bundestag zu verabschieden, noch nicht angenommen ist, d. h. von Ihnen abgelehnt bleibt. Das bedeutet, daß der THTR im bisher genehmigten Probebetrieb bleibt, wenn sich bei der Sicherheitsüberprüfung keine relevanten, nicht zu beseitigenden Sicherheitsmängel ergeben und wenn der Nachweis
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1757
Vosender Entsorgung — das ist wichtig — von den Betreibern erbracht wird.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb zu dem heutigen Tagesordnungspunkt einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem die von mir genannten wesentlichen Aussagen dem Deutschen Bundestag zur Beschlußfassung vorliegen. Die SPD-Bundestagsfraktion bekräftigt, daß die sichere, umweltfreundliche Energieversorgung ohne Atomkraft ihr Ziel bleibt. Sie bekräftigt, daß bei ernsthaftem Wollen und bei entsprechenden Gesetzgebungsmehrheiten dieses Ziel innerhalb von zehn Jahren erreichbar ist,
und sie bekräftigt, daß der Umstieg, solange die gesetzgeberischen Entscheidungen in ihrem Sinne nicht gefallen sind, nur Zug um Zug im Rahmen des jeweils geltenden Rechts erfolgen kann.Wir fordern Sie, meine Damen und Herren von den Mehrheitsfraktionen, heute noch einmal auf — und werden es noch öfter tun — , sich dem von uns gesetzten Ziel anzuschließen und unserem Entschließungsantrag zuzustimmen. Den Antrag der GRÜNEN lehnen wir selbstverständlich ab.Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter Vosen, zu Ihrer Kenntnisnahme und damit auch zur Kenntnisnahme des ganzen Hauses weise ich darauf hin, daß die Fraktion DIE GRÜNEN bereits vor Beginn der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt den Antrag auf namentliche Abstimmung über ihren Antrag gestellt hat.
Damit ist dieses Mißverständnis wohl aufgeklärt.
— Herr Kollege Stratmann, es ging nur um die Frage, ob ein Antrag gestellt worden ist oder nicht.
Ich darf in den Beratungen fortfahren und das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Laermann geben.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vosen, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Kenntnis nehmen, daß wir klammheimliche Freude über die von den GRÜNEN hier heute erzwungene Debatte empfänden. Ich möchte Ihnen ganz deutlich sagen, daß wir nichts von dem Versuch halten, fragwürdige und kurzfristige parteipolitische Profilierungsaktionen hier zu unterstützen. Wir meinen, daß wir dies im Interesse der Menschen in unseren Regionen, die von diesen Fragen sozial existentiell betroffen sind, nicht verantworten können. In unserer Verantwortung wollen wir uns ernsthaft mit diesen Problemen auseinandersetzen.Deshalb möchte ich auch Sie zunächst daran erinnern, daß die Landesregierung Nordrhein-Westfalen seit Jahrzehnten die Entwicklung des Hochtemperaturreaktors auf der Basis des Kugelhaufenreaktors zusammen mit dem Projekt nukleare Prozeßwärme gefördert hat, u. a. auch mit dem nach wir vor richtigen Ansatz, in echtem Verbund von Kohle, Kernenergie, gasförmigen und flüssigen Energieträgern aus Kohle mittels hochtemperaturiger nuklearer Prozeßwärme Energie zu erzeugen, also das Energiepotential von Kohle, von Steinkohle und von Braunkohle, verehrte GRÜNE, besser auszunutzen.Es handelt sich hier um eine Technik zur rationellen und ökologisch sinnvollen Primärenergienutzung. Ich sage das hier wiederholt: Die Kohle ist ein zu kostbarer Energierohstoff und zu schade, um mit einem mittleren Wirkungsgrad und unter hohen Umweltbelastungen verbrannt zu werden.
Deshalb haben wir uns hier im Bundestag über die Jahre hinweg zusammen mit den Kollegen von der SPD und im Einvernehmen mit der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen für die Hochtemperaturreaktorentwicklung eingesetzt.Herr Vosen, hier geht es nicht um Blockadehaltung. Ich appelliere an Sie, gerade an Sie, verehrte Kollegen und Kolleginnen von der SPD, um unserer gemeinsamen Verantwortung für die strukturelle und wirtschaftliche Entwicklung Nordrhein-Westfalens und des Saarlandes hier zu entsprechen, diese Gemeinsamkeit, die wir damals hatten, wiederherzustellen. Wir sind gefordert, den Menschen in diesen Regionen Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen.
— Dann gehen Sie mal in die Regionen, die vom Braunkohleabbau betroffen sind und die in der Gefahr sind, daß Zehntausende ihre Heimat verlassen müssen! Gehen Sie doch mal hin zu den Menschen
und fragen, welche Vorstellungen sie für die Zukunft wegen der großräumigen Grundwasserabsenkungen und ihren ökologischen Folgen haben!
Gehen Sie doch mal dahin, und reden Sie doch mal mit diesen Menschen!
Hier müssen Perspektiven aufgebaut werden.
Hier bietet sich eine Perspektive über diese Verbundtechnik.Die Hochtemperaturreaktorentwicklung ist eine Reaktorlinie, die, wie der Herr Kollege Gerstein schon
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1758 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Dr.-Ing. Laermannfestgestellt hat, mehr kann als nur Strom produzieren. Sie ist einsetzbar für Prozeßwärme in Industrieprozessen und für Heizwärme, und sie ist im Hinblick auf Notwendigkeiten im Ausland einsetzbar für Prozeß-dampf zur tertiären Ölförderung, für Prozeßdampf zum Aufschluß von Ölsanden und von Ölschiefer.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Menzel?
Danke; nein. Herr Präsident, ich habe nur zehn Minuten und bitte um Verständnis.
Es eröffnen sich Perspektiven für neue sicherheitstechnisch und ökologisch positiv zu bewertende ressourcenschonende Energietechniken mit guten Exportchancen. Aber wer die Nutzung im eigenen Land ablehnt, wird kaum erwarten können, daß entsprechende Anlagen auch exportiert werden können.
Es kann doch nicht richtig sein, in Moskau und Indonesien für diese Technik zu werben, aber die Stilllegung im eigenen Land zu verlangen bzw. die Genehmigung solcher Anlagen zu erschweren. Herr Vosen, dies ist etwas, was uns wirklich nicht mit klammheimlicher Freude erfüllt.
Der Entwicklungsschritt zu einer solchen Verbundtechnik kann vernünftigerweise nur über den stromerzeugenden HTR gehen, aber nur in der Übergangsphase. Es geht nicht darum, hier den Einsatz von Kohle zu substituieren, sondern es geht darum, für die Zukunft Möglichkeiten zu eröffnen, unsere sehr kostbare und kostspielige heimische Steinkohle mit einem größeren Wirkungsgrad und effizienter zu nutzen und neue Techniken hier zu entwickeln, um der Kohle eine über die Jahrzehnte hin sichere Position zu verschaffen.
Zum Braunkohleabbau habe ich schon einiges gesagt. Ich brauche das nicht zu wiederholen.
Die technischen Entwicklungen für den Einsatz des Hochtemperaturreaktors zur Prozeßwärmenutzung zur Kohlevergasung sind schon sehr weit gediehen.
Die wirtschaftlichen Voraussetzungen — sicher, da haben die GRÜNEN recht; aber wem erzählen Sie das; das ist uns sehr wohl bekannt — sind derzeit bei den heutigen Energiepreisen noch nicht gegeben. Aber dies kann sich ja, wie unsere Erfahrungen zeigen, sehr schnell und sehr kurzfristig ändern.
Deswegen gehört es zur Daseinsvorsorge und zur Pflicht des Staates, hier Optionen auf neue und Substitutionstechniken zu erhalten. Da sind zwölf Jahre wirklich eine kurze Frist. Verantwortliche Politik kann nicht auf Wunschträumen aufbauen, von denen man heute noch nicht weiß, ob es je zu einer Realisierung in dem vorgesehenen Rahmen kommen könnte.
Deswegen stimme ich, Herr Stratmann, der Aussage von Herrn Jochimsen zu: Wir müssen verhindern, daß es in diesen Entwicklungen einen technologischen Fadenriß gibt. Wenn wir diese Technik heute beerdigen, wird sie für alle Zukunft für uns gestorben sein, tot sein. Sie wird uns nicht mehr zugänglich sein und nicht mehr zur Verfügung stehen. Das können wir nicht verantworten.
Unter Sicherheitsaspekten ist die HTR-Linie positiv zu bewerten. Der Hochtemperaturreaktor weist eine Reihe passiver Sicherheitsmerkmale auf. Ich spreche hier ausdrücklich nicht von der Inhärenz des ganzen Systems. Aber inhärente Komponenten an den wichtigsten, gerade von der Sicherheitsseite aus wichtigsten Stellen sind doch gegeben. Hier spielt das Brandmauerprinzip tatsächlich eine wichtige Rolle. Ich will das jetzt nicht im einzelnen ausführen.
Herr Abgeordneter, der Redner hat nicht die Möglichkeit von Zwischenfragen eingeräumt.
Ein Niederschmelzen des Kerns ist prinzipiell ausgeschlossen: wegen der niedrigen spezifischen Leistungsdichte, wegen der negativen Temperaturkoeffizienten der Reaktivität, wegen des keramischen Kernaufbaus und weil das chemisch stabile Helium hier als Kühlmittel eingesetzt wird. International werden die Sicherheitsmerkmale der HTR-Linie positiv bewertet. Es wird den spezifischen Sicherheitseigenschaften zugeschrieben, daß weltweit ein steigendes Interesse an dieser Entwicklung festzustellen ist. Wollen wir doch einmal feststellen, daß gerade in den letzten Jahren wirklich international das Interesse an dieser Entwicklung wegen der besonderen spezifischen Sicherheitsmerkmale gestiegen ist! Das lassen wir hier nicht ohne weiteres vom Tisch wischen.
Die FDP teilt auch die Bewertung, die Herr Professor Farthmann laut der „Süddeutschen Zeitung" vom 11. September betreffend THTR vorgenommen hat. Wir teilen ausdrücklich seine Auffassung, wenn er formuliert: Wenn wir die ökonomische Erneuerung des Landes wollen, müssen sich die Unternehmer darauf verlassen können, daß die Landesregierung die Rechtslage loyal praktiziert. Voll einverstanden!Aber das gilt dann auch um so mehr, als die Landesregierung eben jahrzehntelang diese Entwicklung nach Kräften gefördert hat, initiiert hat in der richtigen Erkenntnis ihrer Bedeutung für das Kohleland Nordrhein-Westfalen.Um so weniger, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist der vorliegende Entschließungsantrag der Bundestagsfraktion zu verstehen. Wollen Sie wirklich ernsthaft zum Ausdruck bringen, daß Sie, hätten Sie die Mehrheit, die Gesetzeslage entgegen Ihrer jahrzehntelang verfolgten Politik rückwirkend ändern würden? Welche gerade für Nordrhein-Westfalen verheerende Demotivation von Ingenieuren und Technikern, von Investoren wäre die Folge!
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1759
Dr.-Ing. LaermannWelche verheerenden negativen Wirkungen auf den Strukturwandel würde das nach sich ziehen!
— Ja, Sie haben sich selbst überholt, Herr Kollege Vogel. — Ich habe den Eindruck, daß hier der unglückliche Versuch unternommen wird, von den absoluten Ausstiegsbeschlüssen des Nürnberger Parteitags zu einer realistischen Position zurückzufinden. Und weil das so ist, wird die FDP Ihren Entschließungsantrag ablehnen.
Meine Damen und Herren, es gibt derzeit weder technische, sicherheitstechnische noch finanzielle Gründe, den THTR stillzulegen. Bei diesem handelt es sich um ein Prototyp-Kraftwerk, das sorgsam und stufenweise in Betrieb genommen wurde. Bei jedem Prototyp muß das Zusammenwirken neu entwickelter Komponenten, Systeme unter realen Betriebsbedingungen erprobt werden. Dabei kann es natürlicherweise zu Fehlern kommen, können Mängel auftreten, können Verbesserungen notwendig werden; das liegt in der Natur der Sache.Für den THTR ist dabei entscheidend — nun hören Sie von den GRÜNEN gut zu, Herr Stratmann — , daß die Reaktorsicherheit zu jeder Zeit gewährleistet war und ist. Die Mängel, die aufgetreten sind, sind im peripheren Bereich aufgetreten, waren also nicht sicherheitsrelevant. Das gilt für die Störung in der Beschikkungsanlage im Mai vergangenen Jahres, das gilt für den Fehler im Kugelabzugsrohr, und das gilt auch für den aufgetretenen Kugelbruch. Ich betone noch einmal: Es gibt derzeit keine sicherheitstechnischen Gründe, den THTR stillzulegen.Deshalb lehnt die FDP auch den Antrag der GRÜNEN ab. Sie bringen eine Anfrage ein und warten die Antwort gar nicht ab. Warum eigentlich nicht? Sie formulieren Ihre Position — verständlicherweise — in Fragen. Fürchten Sie eigentlich, daß dann, wenn die Antworten hier vorliegen, aus der Realität heraus auch für Sie sichtbar wird, daß Sie Ihre Fragen, Ihre Positionen aufgeben und korrigieren müssen?
— Ich glaube, Sie werden nun, nachdem Sie die Debatte darüber erzwungen haben, ja wohl keine schriftliche Antwort mehr bekommen. Das ist nach der Geschäftsordnung so, oder sehe ich das falsch? Aber wie dem auch sei: Das, was Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, können wir nicht akzeptieren. Wir lehnen Ihren Antrag deshalb ab.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier ist die Frage der Kernenergie als Übergangsenergie angesprochen worden und es ist hier auf die verschiedenen Zeithorizonte hingewiesen worden. Jede Energie, die wir bis jetzt hatten, war eine Energie für eine bestimmte Zeit. Sobald wir eine neue, eine bessere Energie hatten, ist die vorhergehende Energie verdrängt worden: das Holz durch die Kohle, die Kohle — zum Teil, in ihrem Zuwachs — durch Öl, und dann kamen das Erdgas und die Kernenergie. Eine vernünftige Strategie kann nur darin bestehen, nicht etwa das aufzugeben, was wir haben, sondern das Neue so zu entwickeln, daß es für die Zukunft besser und verantwortbarer ist. Dies war die Linie sämtlicher Regierungen, die in den vergangenen Jahren über Kernenergie zu entscheiden hatten.Eine solche Entwicklung steht unter den Bedingungen der Sicherheit. Alle haben recht, die hierüber gesprochen haben. Aber unsere Grundposition — über alle Regierungen hinweg — ist gewesen, daß Kernenergie dann verantwortbar ist, wenn Sicherheit gewährleistet ist, und zwar ein Höchstmaß an Sicherheit. Dann hat aber auch das Umgekehrte zu gelten: Wenn ein Höchstmaß an Sicherheit gewährleistet ist, müssen Kernkraftwerke auch gebaut und betrieben werden können. Es darf nicht aus populistischen Argumenten aufgegeben werden, was in der Sache erforderlich ist. Dies ist keine vertretbare Politik.
Hinsichtlich der Sicherheit stand Deutschland immer unbestritten in der internationalen Spitze. Wir haben die Sicherheit weiterentwickelt. Unter den gleichen hohen Ansprüchen an Sicherheit steht auch der Hochtemperaturreaktor. Das Zusammenspiel zwischen aktiven und inhärenten Elementen der Sicherheit ist eine Sache. Kollege Laermann hat zu Recht darauf hingewiesen, in welch hohem Maße die besondere Konstruktion des Hochtemperaturreaktors Sicherheit ermöglicht und wie diese inhärenten Elemente zusammen mit aktiven Elementen gerade dieser Technik eine neue und zusätzliche Chance in unserer Gesamtstrategie der Energieversorgung eröffnen.Dazu gehört auch, daß wir schauen, wo Störfälle auftreten. Es ist eine Sache, mit höchster Aufmerksamkeit auf Störfälle zu achten, eine andere Sache ist es, Störfälle in der öffentlichen Debatte so hochzupusten, daß Angst erzeugt wird. Dies dient dem Ziel, Angst auszubeuten, nicht aber Probleme zu lösen. Das ist ein inhumaner Umgang mit Technik — und mit den Menschen.
Wenn die Strahlenschutzkommission gestern festgestellt hat, daß in Deutschland die Belastung infolge von Tschernobyl die natürliche Belastung der Umwelt nicht erreicht hat, wenn man weiterhin sieht, daß der sogenannte Störfall beim THTR vom 4. Mai 1986 nur ein 50tausendstel dieser Belastungen erbracht hat, dann müssen die Proportionen für jeden klar sein, der seine Position glaubwürdig vertreten will. Und Glaubwürdigkeit ist die Voraussetzung für jede Diskussion über Technik.
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1760 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Dr. Jenninger: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Vosen?
Aber nur die, denn sonst können wir den Zeitplan nicht einhalten. — Bitte, Herr Vosen.
Ganz kurz: Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß Angst durchaus ein schlechter Ratgeber ist, Verharmlosung auf der anderen Seite jedoch die gleiche Wirkung erzeugt?
Ich bin entschieden Ihrer Auffassung. Deshalb spreche ich dafür, die Zahlen wahrheitsgemäß und in den richtigen Proportionen darzustellen und nicht Dinge, die bei objektiver Betrachtung nicht relevant sind, hochzupusten, um Ängste zu erzeugen und aus Ängsten Politik zu machen. Das ist in der Tat ein miserabler Ratgeber.
Es wird hier über die finanzielle Belastung des Haushalts gesprochen. Wir haben sie ausgewiesen. Der BMFT wird für Sicherheitsforschung, für Sicherheitsbewertung und für Technologiebewertung 45 Millionen DM im Jahr 1987; absinkend auf 30 Millionen DM im Jahr 1991 ausgeben.
— Nein, es geht nicht mehr. — Wir werden diese beträchtlichen Summen ausgeben, weil wir diese Technik hier ermöglichen wollen.
Es wird über die Belastung der Haushalte beim Gesamtgerät gesprochen. Ich habe eine Kostenschätzung von 4 Milliarden DM vorgefunden. Wir haben dies mit Nordrhein-Westfalen, mit den Betreibern und Herstellern gemeinsam bewertet. Wir haben die Verträge geschlossen im Umfang von 4 Milliarden DM; die Kosten liegen nun auch bei 4 Milliarden DM.
Ich danke ausdrücklich den Firmen und den Ingenieuren, den Wissenschaftlern und den Mannschaften, die unter teilweise miserablen politischen Verhältnissen mit Standfestigkeit, Charakterstärke und Fachkunde ihre Aufgabe durchgeführt und die Sache durchgezogen haben. Auch dieses gehört zu einem ordentlichen Umgang mit einer Technik.
Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es ist hier von Ludwig Gerstein und von Karl-Hans Laermann hingewiesen worden — ich will das nicht weiter darlegen — auf die zukünftige Strategie für den Einsatz des Hochtemperaturreaktors für die Markteinführung über den Strom, auf die Chance zur Wärmeerzeugung und die Chance zur Prozeßwärme. Dies ist eine langfristige Strategie, die sich im Markt bewähren muß. Jeder aber, der glaubt, daß wir mit den heutigen Ölpreisen langfristig rechnen könnten, und der deshalb eine solche Linie abbricht, versündigt sich an der langfristigen Vorsorge für die Zukunft unserer Technik und unserer Energieversorgung. Auch diese Haltung gehört zu einem wahrhaftigen Umgang für alle Verantwortlichen.
Die GRÜNEN sprechen die Aufforderung aus, Export zu verbieten. Deutscher Export einer sicheren Technik in die Welt vermindert nicht die Sicherheit, er erhöht die Sicherheit. Export dieser Technik schafft Arbeitsplätze. Wenn wir hier Export untersagen, verzichten wir darauf, unseren Beitrag zu leisten zum Zusammenwirken der Techniken weltweit, und zwar zur Sicherung unserer Zukunft in einer begrenzten Welt.
Die Bundesregierung — Karl-Hans Laermann hat es ähnlich formuliert — sieht keinen Grund, den Reaktor stillzulegen, wie es die GRÜNEN verlangen, keinen sicherheitsmäßigen, keinen technischen und keinen finanziellen Grund. Es bleibt beim Energiebericht der Bundesregierung vom September letzten Jahres: Der THTR 300 in Schmehausen und der SNR 300 in Kalkar sollen zügig fertiggestellt und in Betrieb genommen werden.
Die Sicherheit ist ein hohes Gut. Wir alle, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, tun alles, um Sicherheit zu gewährleisten. Aber die Sicherheit schafft dann auch die Voraussetzungen, Technik durchzuführen und verantwortlich zu gestalten.
Herr Bundesminister, gestatten Sie, daß ich Sie unterbreche. — Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit. Der Redner ist nicht mehr zu verstehen. Ich bitte die Kollegen, die stehen, aus dem Saal zu gehen, wenn sie sich unterhalten wollen. — Bitte fahren Sie fort, Herr Bundesminister.
Sicherheitsdiskussionen dürfen nicht dazu degenerieren, Technik zu verhindern. Sonst leiden die Glaubwürdigkeit des Einsatzes für die Sicherheit und die Sicherheit selbst. Aber auch die Techniken werden nicht besser, sondern schlechter. Probleme werden nicht lösbarer, sondern unlösbar. Auf diese Weise können wir nicht den Beitrag leisten, den wir als Industrienation in einer begrenzten Welt, für eine wachsende Menschheit, zur Versorgung der Menschen mit Arbeit und Ressourcen und ohne Überlastung und Ausbeutung dieser Welt zu leisten haben.Wir werden heute über die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Erdatmosphäre diskutieren. Wenn wir die langfristigen Perspektiven ansehen, die Chance, CO2-Probleme, den Treibhauseffekt und die Erwärmung des Erdklimas mit unabsehbaren Folgen zu verhindern, dann müssen wir alle Techniken fördern, die nicht auf der Verbrennung von Holz, von Kohle und von Erdöl beruhen. Wir müssen die regenerativen Energien mit all ihren Möglichkeiten entwickeln. Dann müssen wir aber auch Kernenergie entwickeln, weil sie heute die einzige zusätzliche Ressource ist, die es uns ermöglicht, in einer begrenzten Welt nicht nur mit unseren Reserven gut umzugehen, sondern auch die Verantwortung für eine umweltgerechte Technik zu übernehmen und die Risiken und Gefährdungen einerseits gegen die Chancen andererseits abzuwägen. Eine Flucht aus der Wirklichkeit löst nicht das Problem, sondern eine vernünftige Gestal-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1761
Bundesminister Dr. Riesenhubertung der Zukunft aus Sachverstand und Tüchtigkeit und Verantwortungsbereitschaft begründet die Zukunft.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN. Die Fraktion DIE GRÜNEN verlangt hierzu gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Das Verfahren ist Ihnen bekannt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. — Ich bitte die Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen.
Meine Damen und Herren, ist noch ein Mitglied des Hauses im Saal, das noch an der Abstimmung teilzunehmen wünscht? — Da dies nicht der Fall ist, schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung werde ich später bekanntgeben.Wir können die Beratungen jetzt mit dem nächsten Tagesordnungspunkt fortsetzen. Dazu wäre es allerdings sehr hilfreich, wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze wieder einnähmen oder für Gespräche den Saal verließen.Ich habe die Kollegen gebeten, für die Beratung des nächsten Tagesordnungspunktes Platz zu nehmen, und würde mich freuen, wenn dies Beachtung fände.Ich rufe nun Punkt 4 der Tagesordnung sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Laufs, Schmidbauer, Fellner, Dr. Göhner, Lenzer, Gerstein, Dr. Blens, Bauer, Carstensen , Dörflinger, Eylmann, Dr. Friedrich, Harries, Herkenrath, Kalb, Dr. Lippold (Offenbach), Lummer, Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Neuling, Regenspurger, Frau Rönsch (Wiesbaden), Schmitz (Baesweiler), Schulhoff, Schwarz, Seesing, Zierer und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Baum, Frau Dr. Segall, Wolfgramm (Göttingen), Bredehorn, Eimer (Fürth), Grünbeck, Dr. Hirsch und der Fraktion der FDPEinsetzung einer Enquete-Kommission „Vor-sorge zum Schutz der Erdatmosphäre"— Drucksache 11/533 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Knabe, Wetzel und der Fraktion DIE GRÜNENEinsetzung einer Enquete-Kommission „Langfristiger Klimaschutz"— Drucksache 11/787 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitBeratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hauff, Schäfer , Frau Dr. Hartenstein, Müller (Düsseldorf), Roth, Bachmaier, Frau Blunck, Catenhusen, Duve, Fischer (Hornburg), Grunenberg, Dr. Hauchler, Heistermann, Ibrügger, Jansen, Jaunich, Dr. Jens, Jung (Düsseldorf), Kiehm, Kühbacher, Lambinus, Lennartz, Frau Dr. Martiny, Müller (Schweinfurt), Nagel, Peter (Kassel), Reimann, Reuter, Schanz, Stahl (Kempen), Urbaniak, Vahlberg, Vosen, von der Wiesche, Weisskirchen (Wiesloch), Dr. Vogel und der Fraktion der SPDSchutz der Ozonschicht durch Verbot des Einsatzes von Fluorchlorkohlenwasserstoffen
— Drucksache 11/678 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß fürJugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß mitberatendBeratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Briefs, Dr. Daniels , Frau Garbe, Dr. Knabe, Wetzel und der Fraktion DIE GRÜNENKlimaschutzprogramm: Sofortmaßnahmen gegen den Abbau der Ozonschicht und die Auswirkungen des Treibhauseffekts— Drucksache 11/788 —Überweisungsvorschlag :Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und TechnologieAusschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit HaushaltsausschußMeine Damen und Herren, interfraktionell ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
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1762 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Vizepräsident WestphalIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Der Riß am Himmel", „Ein Loch über dem Südpol", „Der Anfang vom Ende" , so oder ähnlich lauten die Schlagzeilen der letzten Wochen und Monate. Im Mittelpunkt steht dabei immer das Thema „Ozonloch/Treibhauseffekt".Dies ist kein neues Thema; es beschäftigt nicht erst seit heute Parlament und Regierung. Da ich vermute, daß Frau Hartenstein nachher auf diese Dinge eingeht, will ich einmal eine Erklärung zitieren, die da lautet:Die Bundesregierung beabsichtigt, wie sie schon mehrmals erklärt hat, eine Verminderung des Einsatzes von Fluorchlorkohlenwasserstoffen .. . durch eine Umstellung des Marktes auf Spraydosen mit mechanischen Pumpen oder mit umweltfreundlichen Treibgasen zu erreichen.Es werden weitere Ausführungen gemacht.Wer meint, daß dies neu wäre, den darf ich darauf aufmerksam machen, daß es sich um eine Mündliche Anfrage der achten Wahlperiode in der Fragestunde am 14. September 1977 und um die Antwort der damaligen Bundesregierung Schmidt handelt. Bereits ein Jahr vorher hat dieselbe Regierung darauf hingewiesen, daß auf Grund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse Veränderungen der Atmosphäre besondere Bedeutung beigemessen würde und daß hier etwas geschehen muß. Auch dies war bereits Mitte der 70er Jahre.Meine Damen und Herren, es muß für uns allerdings heute sehr beunruhigend sein zu wissen, daß anthropogene Einflüsse die Schutzfunktion der Ozonschicht beeinträchtigen und damit eine Gefährdung unserer Biosphäre die Folge ist. Eine starke Zunahme der Konzentration von atmosphärischen Spurengasen, die für das chemische Gleichgewicht in unserer Atmosphäre verantwortlich sind, hat offensichtlich schon zu Veränderungen der Ozonschicht geführt. Ein bislang funktionierender Regelkreis scheint aus dem Gleichgewicht zu geraten.Diese Veränderungen sind nicht spektakulär und sofort wahrzunehmen, sondern dies sind Prozesse, die allmählich ablaufen, die sich allmählich vollziehen. Substanzen wie zum Beispiel Fluorchlorkohlenwasserstoffe können durch ihre Langzeitwirkungen Schäden hervorrufen, die nur noch bis zu einem bestimmten Zeitpunkt korrigierbar sein werden.Nicht nur der Abbau unserer Ozonschicht droht zu einem Verhängnis zu werden, auch der sogenannte Treibhauseffekt hängt unmittelbar mit der Zunahme atmosphärischer Spurengase wie zum Beispiel FCKW, Methan, Distickstoffoxid und anderen zusammen. Auch dadurch wird das Strahlungsgleichgewicht der Erde verlängert. In mehreren Modellen wird ja beschrieben: Klimaveränderung, Anstieg des Meeresspiegels, all diese Szenarien, die dabei zu beachten sind.Wie aus einer Erklärung der UNEP vom Februar 1986 hervorgeht, wird angenommen, daß diese Gase vermutlich den durch CO2 allein hervorgerufenen Treibhauseffekt noch verdoppeln. Als Fazit führt die UNEP aus, daß sowohl das Gesamtozon als auch die vertikale Ozonverteilung, die Temperaturschichtung und das Klima durch die Zunahme atmosphärischer Spurengase beeinflußt werden. Daher sollten auch beide Fragenkomplexe der Ozonschichtveränderung und der Klimaänderung zusammen betrachtet werden. Das gibt eine Antwort auf den Antrag Ihrer Fraktion , eine gesonderte Enquetekommission für Klimaänderungen einzusetzen. Wir wollen das nicht. Wir sind der Meinung, daß beide Themenkomplexe zusammengehören und daß wir dies deshalb in einer gemeinsamen Enquetekommission beraten sollten, um für diese Themenkomplexe zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen.Viele namhafte Wissenschaftler weisen uns auf die beunruhigenden Entwicklungen in der Erdatmosphäre hin und stellen Fragen, die es noch zu klären gilt. Sie sagen selbst, hier gibt es eine Menge offener Fragen, die wir klären müssen. Sie weisen darauf hin, daß rechnerische Modelle teilweise zwar eine Erklärung für das Geschehen geben können, daß aber noch keine definitiven Aussagen über die Mechanismen dieser Veränderungen möglich sind.
Wir wollen deshalb eine Enquetekommission einsetzen, die sich mit der Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre befaßt, die eine Bestandsaufnahme über Veränderungen der Erdatmosphäre vornimmt, den derzeitigen Stand der Ursachen- und Wirkungsforschung feststellt und mögliche nationale und internationale Maßnahmen zum Schutz des Menschen und der Umwelt vorschlägt.Es wird dabei sicherlich einige Hauptthemen geben: erstens mögliche Klimaveränderungen durch Spurengase, zweitens die Auswirkungen des stratosphärischen Ozonabbaus und drittens notwendige Handlungsoptionen.Der Bundeskanzler Helmut Kohl hat in seiner Regierungserklärung vom 18. Mai 1987 auf diese Problematik hingewiesen und hat sowohl den Treibhauseffekt als auch den Abbau der Ozonschicht angesprochen und ausgeführt, daß die Bundesregierung international und national die notwendigen Maßnahmen ergreifen wird. Dies ist in Teilbereichen bereits heute geschehen:Erstens. Ich darf an die freiwillige Vereinbarung mit der Industrie erinnern, den Einsatz von FCKWs in Spraydosen bis zum 31. Dezember 1989, also in zwei Jahren, um mindestens 90 % zu verringern. Hier wird das Kooperationsprinzip realisiert. Wir sind dem Minister sehr dankbar für die Vorgehensweise. Das geht schnell, das wirkt schnell, das macht keine Verhandlungen über die EG, über nationale Rechtsverordnungen und andere Dinge notwendig. Es führt zu handfesten Ergebnissen. Meine Damen und Herren, es will etwas bedeuten, wenn in zwei Jahren um über 90 % reduziert wird.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1763
SchmidbauerIch habe vorhin extra an die Erklärungen der SPD-Regierung erinnert. Vor über zehn Jahren hatte man die Absicht, dies zu tun. Man hatte dies angekündigt. Es hat zu keinem Ergebnis geführt. Wir haben heute dieses Ergebnis erreicht.Zweitens. Der Einsatz von FCKWs für die Herstellung von Weichschaumstoffen und die damit verbundenen Emissionen von FCKWs in die Atmosphäre werden bis 1991 geregelt sein. Bis zum diesem Zeitpunkt müssen die Emmissionsgrenzwerte der TA Luft eingehalten werden. Das ergibt laut Umweltbundesamt eine Emissionsminderung von ebenfalls 90 % in diesem Bereich.Drittens. Die im Rahmen von UNEP durchgeführten Verhandlungen — ich denke, so kann man das heute bereits beurteilen — sind erfolgreich verlaufen. Die in Montreal erzielten Ergebnisse sind ein wichtiger Schritt, der seine Wirkung nicht verfehlen wird. In der Konsequenz heißt dies, daß wir mittelfristig international, weltweit FCKWs zu einem hohen Prozentsatz abbauen.Nicht minder wichtig ist es, daß zusätzlich zu den vollhalogenierten Kohlenwasserstoffen eine neue Stoffklasse, nämlich bromierte Kohlenwasserstoffe — sogenannte Halone — , in dieses Abkommen mit aufgenommen wurde. Ich denke, daß durch dieses Ergebnis ein wichtiger Beitrag auch zum Schutz der Ozonschicht geleistet wird.Ich sagte: Es ist ein erster Schritt. Zufrieden kann man damit natürlich nicht sein, wenn man nationale Maßstäbe anlegt. Aber ich finde, wir haben allen Grund, dem Bundesumweltminister Professor Dr. Töpfer für diese Bemühungen auf internationaler Ebene zu danken. Ohne die Schrittmacherrolle der Bundesregierung hätte es diese Bewegung im internationalen Bereich nicht gegeben.Ich bin auch sicher — Herr Bundesumweltminister, ich weiß, daß Ihnen auch das bewußt ist — , daß wir Probleme haben werden, dies EG-weit richtig umzusetzen, damit die Ergebnisse in Montreal nicht nur einem EG-Partner angerechnet werden, etwa nach dem Motto: Die EG unterzeichnet mit, bedankt sich herzlich und stellt dann fest, daß die Bundesrepublik Deutschland den Anteil der Reduzierung für Europa allein erbracht hat. So kann es natürlich nicht gehen. Wir werden auch hier, so denke ich, Pilotfunktionen, Schrittmacherfunktionen in Europa übernehmen.
Mit diesen von mir zitierten wichtigen Maßnahmen wird deutlich, daß die Einsetzung einer Enquete-Kommission nicht bedeutet und auch nicht bedeuten kann, daß wir warten, bis Ergebnisse vorliegen. Wir führen vielmehr parallel entsprechende Vorsorgemaßnahmen weiter. Dies wird dazu führen, daß wir in der notwendigen Geschwindigkeit weitere Verbesserungen erreichen werden.Ich denke, es ist jetzt nicht der Zeitpunkt, darauf hinzuweisen, Frau Hartenstein, daß der Antrag der SPD überholt ist. Es ist gut, daß Sie ihn gestellt haben, daß wir im Ausschuß abklären können, ob die Punkte 1 bis 6 schon erfüllt sind, womit Sie es sich hätten ersparen können, einen solchen Antrag zu stellen, oder ob wir an Hand einzelner Punkte Ihres Antrags in eine kritische Auseinandersetzung eintreten müssen, um das eine oder andere zu verbessern.Ich will hier auch sagen, daß der Antrag der GRÜNEN in bezug auf den Abbau von FCKWs eine 40seitige gute Vorlage ist. Es ist eine enorme Stoffsammlung. Ich denke, daß sie mit dazu beitragen kann, daß wir in der Enquete-Kommission bei der Beratung dieses Antrags in der Tat gemeinsam versuchen sollten, hier eine Basis zu finden, die notwendig ist, um die anstehenden Probleme gemeinsam zu lösen.Wir bieten das an. Wir bieten die Zusammenarbeit in der Enquete-Kommission an. Wir bieten die Zusammenarbeit auf diesem Feld auch in dem zuständigen Ausschuß an.Herzlichen Dank.
Bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich Ihnen das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/815 mitteilen. Es wurden 384 Stimmen abgegeben. Keine Stimme war ungültig. Mit Ja haben 29 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 351. Es hat vier Enthaltungen gegeben.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 384; davonja: 29nein: 351enthalten: 4JaDIE GRÜNENFrau BeerBrauerDr. Daniels EbermannFrau EidFrau Flinner Frau GarbeHäfnerFrau Hillerich HüserKleinert
Dr. KnabeFrau KriegerDr. Lippelt Dr. Mechtersheimer Frau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau OlmsSchilyFrau Schmidt-BottFrau Schoppe StratmannFrau Teubner Frau UnruhFrau Dr. VollmerVolmer Wetzel Frau Wilms-KegelWüppesahlNeinCDU/CSUDr. AbeleinBauer Bayha Dr. Becker
Frau Berger
Dr. BiedenkopfBiehleDr. BlankDr. BlensDr. BlümBöhm
Börnsen
Dr. BötschBohlBohlsen Breuer Bühler
Buschbom
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1764 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Vizepräsident WestphalCarstensen ClemensDr. CzajaDr. Daniels DawekeFrau Dempwolf DörflingerDossDr. DreggerEchternachEhrbar EigenEngelsbergerEylmannDr. FaltlhauserDr. Fell FellnerFischer Francke (Hamburg)Dr. FriedrichFrau GeigerGeisGerstein Gerster
GlosDr. GötzDr. GrünewaldGünther Dr. HäfeleHarriesFrau HasselfeldtHaungsHauser Hauser (Krefeld)Hedrich HelmrichDr. HennigHerkenrathHinsken Höffkes HöpfingerHörsterFrau Hoffmann Dr. HornhuesFrau Hürland-BüningDr. HüschDr. JenningerDr. JobstJung
Jung
Kalisch Dr.-Ing. KansyDr. KappesFrau KarwatzkiKlein
Dr. Köhler KolbKossendeyKrausKreyKroll-SchlüterDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertDr. Laufs LenzerLink
Link Linsmeier LintnerLouven Lowack Lummer MaaßFrau MännleMarschewskiDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MiltnerDr. MöllerMüller
NelleDr. Neuling Neumann NiegelDr. Olderog OswaldPetersenPfeffermann Dr. Pinger Dr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenReddemann Regenspurger RepnikDr. RiesenhuberFrau Rönsch Dr. RüttgersRufSauer
Sauer
Sauter
Sauter
Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz SchemkenSchmidbauerFreiherr von Schorlemer SchreiberSchulhoffDr. Schulte Schulze (Berlin)SchwarzDr. Schwarz-SchillingDr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersSpilkerSprangerDr. SprungDr. Stark
Dr. StavenhagenDr. Stercken StraßmeirStücklenSussetTillmannDr. Uelhoff UldallFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. VondranDr. WaffenschmidtGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarnkeDr. Warrikoff WeirichWeiß Frau Will-FeldFrau Dr. Wilms WilzWimmer
Frau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann Dr. Wörner WürzbachDr. WulffZeitlmannZiererDr. ZimmermannZinkFDPBaumBeckmannBredehornCronenberg Eimer (Fürth)EngelhardFrau Folz-Steinacker GallusGattermann Genscher Grünbeck GrünerFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HirschDr. Hitschler HoppeDr. Hoyer IrmerKleinert KohnDr.-Ing. LaermannDr. Graf Lambsdorff LüderMischnick Möllemann Neuhausen NoltingPaintnerRichterRindRonneburgerSchäfer
Frau Dr. SegallDr. Solms Dr. Thomae TimmWolfgramm Frau WürfelSPDFrau Adler AmlingAndresAntretter Dr. ApelBachmaier BahrBambergFrau Becker-Inglau BernrathBindigFrau BlunckDr. Böhme
BrandtBrückBüchler Dr. von BülowFrau BulmahnBuschfort Frau Conrad ConradiFrau Dr. Däubler-Gmelin Frau Dr. Dobberthein DreßlerDuveDr. Ehmke
ErlerEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
Dr. GlotzFrau Dr. GötteGrafGroßmann Grunenberg Haack
Frau HämmerleFrau Dr. HartensteinHasenfratz Dr. HauchlerHeimann HeistermannHeyennHiller
Dr. Holtz HornHuonkerJahn
JaunichJung Jungmann KastningKiehmKirschner Kißlinger Klein
Dr. KlejdzinskiKloseKolbowKoltzsch Koschnick KretkowskiKuhlwein Lambinus Leidinger Leonhart Lohmann
LutzMenzelDr. Mertens Müller (Düsseldorf) Müller (Pleisweiler) MünteferingNagelFrau Dr. NiehuisDr. Niese NiggemeierFrau Odendahl OesinghausOostergeteloPauliDr. Penner PfuhlDr. Pick Porzner PoßReimann ReuterRixeSchäfer SchanzDr. Scheer Scherrer SchluckebierSchmidt
Frau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchmudeSchröer SchützSeidenthal Frau SeusterSielaffSingerFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SoellDr. Spöri SteinerFrau SteinhauerStiegler StobbeFrau TerborgFrau Dr. TimmFrau TraupeUrbaniak Vahlberg Verheugen Dr. Vogel Voigt
VosenWartenberg
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1765
Vizepräsident WestphalFrau Weiler WestphalFrau WeyelFrau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer WischnewskiDr. de With WittichZumkleyEnthaltenSPDWeiermann ZeitlerFDPDr. Feldmann Dr. HaussmannDamit ist der Entschließungsantrag abgelehnt.Jetzt kommt als nächste Rednerin in unserer Debatte Frau Dr. Hartenstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Anträge, die zur Debatte stehen, haben in der Tat ein gemeinsames Thema und im Grunde auch das gleiche Anliegen, nämlich die Atmosphäre um den blauen Planeten zu schützen und das Leben auf der Erde zu bewahren. Darin sind wir uns schnell einig. Wir halten beide Anträge für wichtig — unseren sowieso — und auch beide für dringlich.Dennoch gibt es einen fundamentalen Unterschied, Herr Kollege Schmidbauer. Der Antrag der Koalition zielt auf weitausholende Bestandsaufnahmen und zeitraubende Untersuchungen, der Antrag der SPDFraktion dagegen sieht politischen Handlungsbedarf jetzt. Er fordert Maßnahmen zum Verbot der schädlichen Treibgase, und zwar sofort. Sie irren sich, wenn Sie sagen, wir hätten die Einsetzung einer EnquêteKommission beantragt.Um übrigens keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Wir unterstützen die Einrichtung einer Enquête-Kommission zum Schutze der Erdatmosphäre, aber wir meinen auch, daß über den Auftrag an diese Kommission doch noch gründlich diskutiert werden sollte. Ihr Antragstext liest sich nämlich streckenweise so, als ob Sie über ein halbes Jahrzehnt hinweg gleich ganze Rudel von Wissenschaftlern beschäftigen wollten, um „eine Bestandsaufnahme über die globalen Veränderungen der Erdatmosphäre vorzunehmen und den Stand der Ursachen- und Wirkungsforschung festzustellen sowie etc. ". Ich erinnere Sie daran, daß Präsident Carter zur Erstellung der Studie „ Global 2000" Hunderte von Wissenschaftlern fast vier Jahre lang an die Arbeit gesetzt hat.Natürlich gehe ich davon aus, daß auch nach Ihrer Auffassung der Ehrgeiz der Enquête nicht darin bestehen sollte, ein 2 000 Seiten umfassendes Werk zu liefern, das niemand liest.
Aber ein Warnsignal, Herr Kollege Laufs, ist schon jetzt angebracht. Die Einsetzung einer Enquête-Kommission zum Schutze der Erdatmosphäre darf kein Vorwand für ein Handlungsmoratorium im politischen Raum werden.
Die Aufgabe, längerfristige Vorsorgemaßnahmen ins Auge zu fassen, ist die eine Sache. Die Aufgabe,Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen, ist die andere Sache. Beides muß parallel laufen.
Wenn das so kommt, dann wäre es in Ordnung.Die drohende Klimakatastrophe ist seit geraumer Zeit in aller Munde, mindestens seit dem aufsehenerregenden Gutachten der Deutschen Physikalischen Gesellschaft aus dem Jahre 1985. Daß verheerende Auswirkungen ins Haus stünden, wenn sich das Klima im Schnitt um 2 bis 3 Grad erwärmen würde, braucht hier nicht ausführlich diskutiert zu werden; auch nicht, daß die FCKWs, von denen wir jährlich weltweit immerhin noch 700 000 bis 800 000 Tonnen produzieren, ebenso dazu beitragen wie die Unmassen an hausgemachtem Kohlendioxid, die wir in die Atmosphäre entlassen.Seit 1860 hat die CO2-Konzentration um nicht weniger als 20 % — mit weiter steigender Tendenz — zugenommen. Es kommen andere Ursachen hinzu, die den Treibhauseffekt verstärken. Hier gegenzusteuern, national wie international, und eine Trendwende herbeizuführen ist im wahrsten Sinne eine globale Aufgabe.Aber Trendwende wohin? Interessanterweise hat sich die Klimadiskussion sehr stark auf die CO2-Problematik konzentriert. Nicht nur Wissenschaftler, besorgte Bürger, Umweltverbände, sondern auch Leute der Wirtschaft, besonders auch der Energiewirtschaft, haben sich auffallend intensiv mit der unheimlichen Zukunftsvision eines sich ständig erwärmenden Erdballs beschäftigt.Keine Frage, daß die bedenkliche Erhöhung der CO2-Konzentration auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe zurückgeht. Der Raubbau an den tropischen Regenwäldern verschärft das Problem. Keine Frage auch, daß die vom Menschen erzeugte CO2Produktion verringert werden muß, wenn das Klimagleichgewicht erhalten bleiben soll.Bei der Antwort auf die Frage „Wie?" scheiden sich jedoch die Geister, vor allem, wenn es um den Energiesektor geht. Es gibt da nämlich seltsame Koalitionen. Plötzlich treten die Kernkraftbefürworter scheinbar an die Seite der Naturschützer. Des Rätsels Lösung liege darin — so wird argumentiert —, die saubere Atomenergie zu nützen statt Kohle oder Öl zu verbrennen. Und schon ist das Klima gerettet!
— Das ist ein ganz wichtiger Faktor, wird es auch in der Diskussion werden.Ich verkürze bewußt etwas — das räume ich ein —, aber es muß mit aller Eindringlichkeit darauf hingewiesen werden, daß hier falsche Alternativen aufgebaut werden. Die Gefahr einer Klimakatastrophe darf nicht als Hebel benutzt werden, um den Ausbau der Kernenergie voranzutreiben. Das wäre nicht verantwortbar.
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1766 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Dr. Hartenstein— Herr Laufs, ich bitte, einmal zuzuhören. — Es kann doch nicht der Schlüssel für die Zukunft sein, wenn die Verminderung der einen Gefährdung mit der Erhöhung der anderen, noch viel größeren, erkauft werden sollte.
Meine Damen und Herren, falsche Alternativen verstellen oft den Blick für den Weg der Vernunft. Der Weg der Vernunft weist eindeutig in die Richtung Energiesparen und Nutzung alternativer Energiequellen: der Solarenergie, der Wasserstofftechnologie, der Nutzung von Wind und Biogas. Wir wissen, daß hier große technische Möglichkeiten liegen. Wir haben das technische Können, wenngleich es natürlich noch weiterentwickelt werden muß. Es ist nicht die Technik, die uns fehlt, es ist auch nicht die Wissenschaft, die uns im Stich ließe. Es fehlt am politischen Willen, neue Wege zu gehen.
Immer wieder kommt das Argument, das Gesamtproblem sei nur international zu lösen. Diese Erkenntnis darf aber kein Alibi für nationales Nichtstun sein. Anders gesagt: Wir müssen national beginnen.
— Ihnen sag ich es. —
Wie sollen wir andere Länder, insbesondere Entwicklungsländer, überzeugen, daß Energieeinsparung besser ist als Energieverschwendung, wenn wir nicht selber damit beginnen?
Wenn Sie es genau wissen wollen, Herr Kollege Schmidbauer: Ich kann leider nicht erkennen, daß die Bundesregierung eine große Energieeinsparungsoffensive eingeleitet hätte.
Ich bitte, mich zu korrigieren, wenn dies anders ist.Lassen Sie uns in Ihrem Antrag den viertletzten Spiegelstrich, in dem Sie vorsichtig von Energieeinsparung und Änderung der Ressourcenverwendung als „möglichen Vorsorgemaßnahmen" reden, ganz weit nach vorne ziehen. Dann kommen wir rascher zusammen und auch rascher ans Ziel.Meine Damen und Herren, auch für die gefährlichen Treibgase gilt, daß der Hinweis auf internationalen Handlungsbedarf nicht zum Vorwand werden darf, zu Hause die Hände in den Schoß zu legen, oder anders gesagt: munter weiterzusprühen. Wir sind uns, hoffe ich, darüber einig, daß ein Abkommen, wie es soeben in Montreal unterzeichnet worden ist, nicht das Ende der Fahnenstange in Sachen FCKW sein kann. 50 % Reduzierung bis 1999, das ist offenbar der minimalste Nenner, auf den sich 47 Länder einigen konnten. Wir tadeln die Bundesregierung nicht, daß sie hier mit unterzeichnet hat, Herr Minister Töpfer. Wir erwarten aber, daß sie national mehr tut im Sinne unseres Antrags.
Die EG spielt hier ja wahrlich keine rühmliche Rolle. Sie hat sich seither selbst auf der Ebene der Vereinten Nationen als kräftiger Bremser betätigt. Auch jetzt hat man offenbar verstanden, ein Schlupfloch einzubauen: Man dürfe — so heißt es — 10 bis 15 % mehr produzieren als die obengenannte Marke angibt, um die Entwicklungsländer von der Eigenproduktion abzuhalten. Die hätten nämlich einen großen Nachholbedarf. Unübertreffliche Logik, meine Damen und Herren. Warum, so frage ich, geht es denn nicht andersherum? Auch hier gilt: Nur wenn wir den Entwicklungsländern mit eigenem guten Beispiel vorangehen, werden wir sie überzeugen können, daß Lebensqualität und Lebensstandard nicht von der Spraydosenseligkeit abhängt.
Wir dürfen uns nicht darauf hinausreden, daß eine „isolierte nationale Maßnahme nur einen sehr begrenzten Beitrag zum ... Schutz der Ozonschicht leisten könnte", so die Antwort von Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Grüner an meine Kollegin Renate Schmidt im Mai 1987.Wir fordern ein Verbot der FCKW in Spraydosen. Dort sind sie problemlos zu ersetzen, und zwar sofort. Wir fordern weiter den Einsatz umweltfreundlicher Substitute, z. B. bei der Herstellung industrieller Schäume innerhalb einer Übergangszeit von höchstens zwei Jahren. Wir fordern die Schaffung geschlossener Kreisläufe überall da, wo FCKW vorerst noch nicht ersetzbar sind. Mit diesen Forderungen finden wir uns übrigens in bester Übereinstimmung mit der Entschließung des Bundesrates vom Mai 1987. Er hat auch Wege gewiesen, wie diese Forderungen national umsetzbar wären, beispielsweise durch Rückgriff auf den § 17 des Chemikaliengesetzes.Sie haben eine freiwillige Vereinbarung mit der Industrie geschlossen. Auch wir haben dies in den 70er Jahren getan — und nicht ohne Erfolg. — Der Herr Minister hört gerade nicht zu. — Freiwillige Vereinbarungen sind nicht prinzipiell falsch, aber sie sind nur dann sinnvoll, wenn ihre Einhaltung kontrollierbar ist und wenn sie nicht zum Beispiel durch Export-und Reimport-Tricks unterlaufen werden können. Gegen Schwarze Schafe ist der Staat allemal machtlos, wenn er keinen Knüppel in der Hinterhand hat.Treibhauseffekt und Ozonabbau— ich bin sofort fertig, Herr Präsident —könnten zu einer der existentiellen Fragen der Zukunft werden,heißt es in Ihrem Antrag. Wir teilen diese Auffassung. Aber wenn dieser Satz nicht in den Wolken hängenbleiben soll, dürfen Entscheidungen über solche „existentiellen Fragen" nicht auf den Sankt-NimmerleinsTag verschoben werden.Lassen Sie uns sauber auseinanderhalten:Erstens, was notwendig und heute schon machbar ist, muß sofort getan werden.Zweitens. Was notwendig, aber nicht sofort machbar ist, muß sorgfältig durchdacht und dann mit Nach-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1767
Frau Dr. Hartensteindruck in die Wege geleitet werden, zum Beispiel der Aufbau einer neuen .. .
Sie dürfen jetzt nicht noch Beispiele bringen, Frau Kollegin. Es tut mir leid.
... globalen Energie-, Ressourcenschonungs- und Klimaschutzpolitik.
Danke schön — Ihnen besonders, Herr Präsident.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Segall.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Hartenstein, den Knüppel der Vorschriften, Rechtsverordnungen und Gesetze haben wir als Legislative immer im Hinterraum liegen. Darauf können wir immer zurückgreifen.
Ich halte es für viel sinnvoller, daß wir es erst einmal anders herum probieren.
Aber jetzt zu unserem eigentlichen Thema: Schon seit einiger Zeit machen sich Wissenschaftler über mögliche Klimaveränderungen und Veränderungen der Erdatmosphäre Sorgen. Zwei Problemgruppen seien hier genannt, zum einen der sogenannte Treibhauseffekt, und zum anderen die Bedrohung der Ozonschicht. Bevor ich dieses Problem genauer erläutere, möchte ich feststellen, daß diese Schlagworte vom Ozonabbau und vom Treibhauseffekt nicht über die Kompliziertheit der Materie hinwegtäuschen dürfen. Ich denke, daß die Beratungen und die Ergebnisse der Enquete-Kommission diese Beurteilung bestätigen werden. Es ist erforderlich, die Enquete-Kommission einzusetzen, um genauestens zu untersuchen, welche Faktoren die beschriebenen Umweltgefahren hervorrufen.
Dann, aber erst dann, meine Damen und Herren von der Opposition, können Verbote erwogen werden. Meinen nicht auch Sie, daß Verbote nur zuleicht dem Bürger etwas vortäuschen, nämlich daß damit zum Schutz der Umwelt bereits alles erforderliche getan sei? Damit würden wir ihn in falschen Illusionen wiegen.
Nun möchte ich etwas genauer die schlagwortartig beschriebenen Umweltprobleme erläutern, die uns dazu bewegen, die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" zu beantragen.
Da ist erstens der sogenannte Treibhauseffekt. Gemeint ist damit, daß wärmerückstrahlende Gase die natürliche Wärmeabstrahlung von der Erde verhindern. In erster Linie ist dafür das Kohlendioxid, das insbesondere bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe freigesetzt wird, verantwortlich. Wie sich dieser Treibhauseffekt auswirkt, ist jedoch zum Beispiel auch davon abhängig, in welchem Umfang der Ozean Kohlendioxid speichert und wie sich diese Speicherkapazität bzw. deren Abnahme auf die mögliche Zunahme der CO2-Emissionen auswirkt. Eine exakte wissenschaftliche Aufklärung dieses Kohlendioxidkreislaufs ist nötig, bevor der Gesetzgeber effektiv handeln kann. Allerdings gibt es Kohlendioxidemissionen auch noch aus anderen Quellen, das ist mir klar.
Ich wies bereits darauf hin, daß in erster Linie das Kohlendioxid für den Treibhauseffekt verantwortlich ist, daneben aber auch Methan, Lachgas, Stickoxide usw., nicht zuletzt auch die Fluorchlorkohlenwasserstoffe.
Die Fluorchlorkohlenwasserstoffe sind jedoch weniger wegen ihres Mitwirkens beim sogenannten Treibhauseffekt so gefährlich; die Hauptgefahr der Stoffe dieser Gruppe liegt in ihrer aggressiven Wirkung gegenüber der Ozonschicht, womit ich zum zweiten
maproblem und zugleich zum Antrag der SPD hinsichtlich eines Verbots der Fluorchlorkohlenwasserstoffe komme.
Seit 1974 tauchen verstärkt Hinweise auf, daß Fluorchlorkohlenwasserstoffe in der Lage sind, die Ozonschicht der Stratosphäre anzugreifen. Diese Befürchtungen, die zum damaligen Zeitpunkt noch eher auf Hochrechnungen denn auf empirischen Beobachtungen beruhten, bewegten den Rat der Europäischen Gemeinschaft auf Initiative der Bundesrepublik im Jahre 1980 dazu, Fluorchlorkohlenwasserstoffe, dem Vorsorgeprinzip entsprechend, in ihrer Produktion und Verbreitung zu begrenzen. Danach sollten die Produktionskapazitäten für FCKWs nicht erhöht und spätestens bis zum 31. Dezember 1981 die Verwendung der FCKWs bei der Abfüllung von Sprühdosen um mindestens 30 % gegenüber dem Jahre 1976 verringert werden. Im EG-Durchschnitt, also nicht nur in der Bundesrepublik, betrug die Verringerung im Jahre 1985 35 % gegenüber 1976. Entsprechend der Ihnen allen bekannten Vereinbarung zwischen Herrn Umweltminister Töpfer und der Industriegemeinschaft Aerosole werden die gefährlichen FCKWs bis zum Ende des Jahres 1989 aus diesem Industriebereich vollkommen verschwunden sein. Schon deshalb ist das geforderte Verbot der FCKWs für diesen Bereich mehr eine propagandistische Maßnahme denn eine Maßnahme, die der Umwelt hilft, meine Damen und Herren von der Opposition.
Das wissen Sie auch ganz genau. Sie wissen nämlich, daß die wirkliche FCKW-Problematik nicht mehr die Aerosolindustrie betrifft, sondern im Bereich der Kunststoffverschäumung
und der Kältemittel angesiedelt ist. Dennoch betiteln Sie Ihren Antrag propagandistisch wirksam mit „Verbot des Einsatzes von FCKWs" in Aerosolen.
Will man die Ozonschicht schützen, so muß man in dem Bereich der Kunststoffverschäumung und bei der Kältemittelproduktion ansetzen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Dr. Hartenstein?
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1768 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Dr. Segall, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß wir in den Punkten 2, 3 und 4 ausdrücklich auch auf die industrielle Verwendung und auf die industriellen Schäume abgehoben haben? Es ist nicht wahr, daß sich der Antrag nur auf Spraydosen bezieht.
Ich weiß. Ich komme jetzt gleich zu diesem zweiten Teil. Aber Sie versuchen publikumswirksam den Eindruck zu erwecken, als ob es um die Aerosole in den Spraydosen geht.
— Wollen wir uns darüber nicht streiten.
Will man die Ozonschicht schützen, so muß man in den Bereichen der Kunststoffverschäumung und der Kältemittelproduktion ansetzen. Was schlägt die SPD in diesem Bereich vor? Nichts anderes, als was der Bundesumweltminister bereits in die Tat umgesetzt hat. Die SPD fordert in ihrem Antrag, innerhalb einer Übergangszeit von zwei Jahren den Einsatz von FCKWs in industriellen Schäumen zu untersagen. Spätestens 1991 müssen aber sowieso schon die Immissionsgrenzwerte der TA Luft vom 27. Februar 1986 eingehalten werden. Das Umweltbundesamt erwartet dadurch eine Immissionsreduzierung von 90 % oder 3 000 Tonnen pro Jahr.
Einen anderen Weg schlagen die GRÜNEN vor. Sie wollen auf niedrig siedende halogenierte Kohlenwasserstoffe eine Steuer erheben, um so einen Anreiz zur Rückgewinnung von Altstoffen, zur Emissionsvermeidung und zur Entwicklung von Ersatzstoffen zu fördern.
Ich nehme die Gelegenheit wahr, um dringend an die Damen und Herren der Opposition zu appellieren, die Bereitschaft der Kälteanlagenbauindustrie, ihren Entsorgungspflichten nachzukommen, zur Kenntnis zu nehmen. Am 10. August hat der Verband des Kälteanlagenbauhandwerks Herrn Staatssekretär Stroetmann im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ein Konzept zur Entsorgung von Haushaltskühlgeräten und Anlagen vorgelegt. Käme man hier zu einer ähnlichen freiwilligen Vereinbarung wie mit der Aerosolindustrie, wären die von der Opposition vorgeschlagenen staatlichen und deshalb administrativ aufwendigen Instrumentarien unnötig.
Schließlich — damit komme ich zum letzten Grund, warum wir die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" beantragen — : Es werden nicht die FCKWs, sondern auch andere Spurengase für den Abbau der Ozonschicht verantwortlich gemacht. Um welche Stoffe es sich handelt und wie diese mit den FCKWs zusammenwirken, soll ebenfalls durch die Enquete-Kommission geklärt werden. Wir wissen einfach zu wenig. Entscheidungen, wie wir sie treffen müssen, mit ihren Auswirkungen vor allem auch auf die Energiepolitik, sollte man nicht ohne ausreichende Überprüfung treffen.
Ich hoffe nur, daß die Enquete-Kommission diese Grundlagen für unsere Entscheidung erbringt und nicht, wie leider schon so häufig, in einem Streit der Experten endet, damit auch wir hier in diesem Hause zu einem möglichst breiten Konsens kommen. Die Entscheidungen, die wir zu treffen haben, sind schon schwer genug, auch dann, wenn sich die Wissenschaft einig ist.
Ich danke.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wetzel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von der Regierungskoalition beantragte Einsetzung einer Enquete-Kommission ist ein vorzüglicher Vorschlag, aber leider hat er einen Haken.
Dieser Vorschlag in seiner vorgelegten Fassung kommt nämlich wenigstens fünf Jahre zu spät. Denn so wie Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, das Arbeitsprogramm dieser Enquete beschreiben, erweckt es den Eindruck, als seien Sie soeben erst aus einem umweltpolitischen Tiefschlaf erwacht. Zu weiten Teilen des von Ihnen vorgelegten Arbeitsprogramms gibt es bereits wissenschaftliche Erkenntnisse, die als so hinreichend gesichert gelten können, daß sie politische Maßnahmen jetzt und nicht in unabsehbarer Zeit erfordern.Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sie ein parlamentarisches Manöver fortsetzen wollen, das ich zur Genüge schon aus dem Ausschuß für Forschung und Technologie kenne: Der Forschungsminister ließ und läßt Klimaveränderungen erforschen — zum Teil auf recht gescheite Weise — , und wenn dann Ergebnisse vorliegen, erklärt er sich für deren politische Handlungskonsequenzen als unzuständig: die Handlungskonsequenzen seien Sache des Umweltministers. So bleiben Problemlösungen zwischen den Ressorts einfach auf der Strecke.
Daher haben wir den Verdacht, daß Ihre Enquete die Funktion eines — sagen wir mal — zwischenministeriellen Verschiebebahnhofs für politisch unterlassene Entscheidungen spielen soll.
— Dieser Verdacht, Herr Schmidbauer, den ich gerade geäußert habe, wird durch Ihren Antragstext erhärtet. Da sprechen Sie von „ernsthaften Anhaltspunkten" dafür, daß Treibhauseffekt und Ozonabbau auf menschliche Einflüsse zurückzuführen seien. Da ist die Rede davon, daß Spurengase, wie die Fluorchlorkohlenwasserstoffe oder das Kohlendioxid, eine Veränderung des Klimas bewirken „könnten", aber diese „nur ungenau abschätzbar" seien. Sie verlangen „realistische Bewertungen", „hinreichende Modellierungen" der Klimavorgänge, „genaue Abschätzungen". Die Folgen einer Klimaveränderung bedürften — ich zitiere noch einmal — „im Detail noch der eingehenden wissenschaftlichen Abklärung". Dann
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1769
Wetzelsagen Sie: Nach Einschätzung „der " Wissenschaftler— das sagt Ihr Antrag — —
— Verzeihung, wenn Sie sich hier von diesem Antragstext distanzieren wollen, dann ist das Ihre Sache, Herr Schmidbauer.
— Ich nehme Sie heraus, Herr Schmidbauer, und spreche von den mir nicht bekannten Autorinnen und Autoren.Dieser Antragstext formuliert dann, nach Einschätzung „d e r " Wissenschaftler existiere noch ein „weiter Bereich von Unsicherheit und Unwissenheit" .Ja, meine Damen und Herren, wie genau muß es denn für Sie eigentlich sein, damit Sie anfangen, politisch zu handeln? Wer sind eigentlich die von Ihnen erwähnten Wissenschaftler? Kennen Sie nicht die wissenschaftliche Literatur und die international vorherrschende Lehrmeinung, die von stark begründbaren Zusammenhängen zwischen den von uns erzeugten Spurengasen und dem Ozonloch sowie dem Treibhauseffekt spricht? Und wie detailliert müssen denn Ihrer Meinung nach die Folgen einer von unserer Produktionsweise verursachten Klimaveränderung abschätzbar sein, damit Sie globale Gefahren begreifen, die zum politischen Handeln nötigen?Meine Damen und Herren von der Koalition, ich halte es für ein politisch interessiertes Mißverständnis, wenn Sie diese von Ihnen beantragte Enquete-Kommission zu einer klimatologischen Forschungsanstalt machen wollen,
wenn Sie mit politischen Entscheidungen zum Schutz des Klimas so lange warten wollen, bis Kausalzusammenhänge — das ist Ihr entscheidender Punkt — hinreichend erforscht und befriedigend quantifiziert sind.
Durch Ihren ganzen Antrag zieht sich die Vorstellung, man müsse dieses komplexe Klimageschehen in seinen Kausalzusammenhängen erst hinreichend erforscht und quantifiziert haben, um wirklich auf breiter Front politisch handeln zu können.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmidbauer?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
: Ja, bitte.
Würden Sie zugeben, daß Ihre Ausführungen weit an dem vorbeigehen, was ich vor wenigen Minuten hier im Hinblick auf den Inhalt des Auftrages für die Enquete-Kommission aufgeführt habe?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Schmidbauer, ich komme sogleich auf diesen Widerspruch zu sprechen.
Dagegen sagen wir GRÜNEN: Politische Sofortmaßnahmen zum Klimaschutz sind überall dort erforderlich, wo sie sich plausibel aus dem gegebenen Kenntnisstand herleiten lassen. Die stattfindende Zerstörung der Erdatmosphäre belegt wie kaum eine andere Erscheinung, daß sich Politik unter den kategorischen Imperativ eines global begriffenen Umweltschutzes stellen muß: Ergreife als Regierung frühzeitig alle demokratisch legitimierbaren Maßnahmen, die dazu beitragen können, die Lebensbedingungen der Gattung zu sichern! Das ist der neue durch unsere Produktionsweise uns aufgenötigte kategorische Imperativ des Umweltschutzes.
Meine Damen und Herren, ich war doch — und jetzt komme ich auf Ihre Bemerkungen zu sprechen — recht verwundert, als ich dann die Schlußpassage Ihres Antrags las, denn sie steht im krassen Widerspruch zu seinem wesentlichen Inhalt. Mir scheint, daß Sie gegenüber Kritikern aus der eigenen Klientel einen Schluß brauchten, der so etwas wie politische Handlungsbereitschaft signalisieren sollte. Plötzlich heißt es da — ich zitiere wörtlich — , daß esin einigen Jahrzehnten, wenn die Wissenschaft sicherere Erkenntnisse hat, zu spät sein könnte, um noch korrigierend in die durch menschliche Aktivitäten bedingte Entwicklung einzugreifen.Na bravo, kann ich da nur sagen. Und auch den Schlußsatz können wir völlig unterschreiben. Sie sagen:Unsere Pflicht ist es, jetzt alles zu unternehmen, um Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen zu verhindern.
Nun, dabei wollen wir Ihnen behilflich sein. Sie haben vor sich als Antrag ein Klimaschutzprogramm der GRÜNEN liegen, das sich sehr präzise dazu äußert, was alles zu unternehmen ist, um weitere Gefährdungen zu verhindern.Mit Unterstützung zahlreicher Sachverständiger haben wir uns darin bemüht, den Erkenntnisstand zur Klimaproblematik zusammenzufassen und daraus politische Maßnahmen abzuleiten. Im Mittelpunkt stehen die Fluorchlorkohlenwasserstoffemissionen und die Emissionen von Kohlendioxid und anderen wärmeisolierenden Spurengasen. Zur Verringerung der FCKW sehen wir eine breite Palette von Möglichkeiten bei Erzeugern, Anwendern, Verbrauchern und in der Ersatzforschung.Ein erheblicher Teil des Kohlendioxids entsteht bei der Verbrennung fossiler Energieträger für die Strom-und Wärmeerzeugung sowie im Autoverkehr. Zur Verringerung der Emissionen haben wir einen koordinierten Maßnahmenkatalog entwickelt, der vor allem auf die Einsparung fossiler Brennstoffe und die Nutzung regenerativer Energieträger abzielt.Schließlich machen wir eine Reihe von Vorschlägen, wie durch die Entwicklung einer ökologisch ver-
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1770 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Wetzelträglichen Forst- und Landwirtschaft die Kohlendioxidemissionen weiter abgesenkt werden können.Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, auch wir GRÜNEN sehen beim Klimaschutz einen erheblichen Nachholbedarf an Forschung. Im Rahmen unseres Klimaschutzprogramms haben wir daher noch einen zweiten Antrag formuliert, der die Aufgaben einer einzurichtenden Enquete-Kommission festlegt. Wir halten eine Enquete-Kommission dann für sinnvoll, wenn sie wirklich diejenigen Probleme untersucht, deren Klärung für die längerfristige Vorbereitung politischer Entscheidungen erforderlich ist. An diesem Ziel orientiert sich unser Arbeitsprogramm für die Enquete.Meine Damen und Herren, das Ihnen vorgelegte Klimaschutzprogramm der GRÜNEN koppelt systematisch Sofortmaßnahmen mit langfristigen Maßnahmen, die durch eine Enquete vorzubereiten wären... Bei den Anträgen haben wir uns von einem Gedanken leiten lassen, dem Sie schließlich hoffentlich auch zustimmen werden: Was bereits jetzt politisch zum Schutz der Erdatmosphäre zu tun ist, muß getan werden. Wo noch geforscht werden muß, soll geforscht werden.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich feststellen, daß die Bundesregierung die Einsetzung dieser Enquete-Kommission sehr nachhaltig begrüßt. Wir sehen dann keineswegs den Versuch, ein Alibi für aktuelles Nichthandeln zu bewirken, sondern ganz im Gegenteil das Bemühen, die bestehenden Fragen aufzugreifen und mit möglichst viel wissenschaftlichem Sachverstand zu beantworten und damit eine doppelte Wirkung zu erzielen: zum einen eine weitere Bewußtseinsbildung, und zwar vor allem eine internationale Bewußtseinsbildung zu unterstützen. Denn so kann es ja doch wohl nicht sein, daß alles schon ausgeforscht und diskutiert wäre. Dann könnte ich nämlich überhaupt nicht verstehen, warum gerade aktuell in dieser Woche alle Kulturnationen in Montreal beisammen sind und warum das, was Sie alle als völlig unzureichend ansehen, offenbar nur mit größter Schwierigkeit überhaupt verabschiedet werden kann.
Wäre es alles so naheliegend und einfach, wie hier soeben gesagt wurde, wieso können denn dann solche Einsichten in Nationen wie Großbritannien und Frankreich, der UdSSR und den USA nicht zu einem gleichen Handeln, wie wir es vorhaben und vorgenommen haben, führen?
— Ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen wehtut, wenn ich darauf hinweise. Aber es ist nun einmal leider so.
Denn wie ist es sonst erklärbar, daß wir international
ich stelle mich hinter diese Aussage sehr nachhaltig — überhaupt keinen Vergleich mit irgendeinem Land auf dieser Erde zu scheuen haben, das auf diesem Weg weiter gegangen wäre?
— Auch mit den USA.
Denn wenn Sie einmal die Frage stellen, was in der Produktion von FCKW in den USA inzwischen geschehen ist, werden Sie sehen, daß eine Umschichtung stattgefunden hat und exakt das, was in den Anträgen hier gesagt wird, eingetreten ist: nämlich daß aus dem Aerosolbereich die Produktion in die Klimamittel hineingegangen und die Gesamtproduktion von FCKW eben nicht rückläufig gewesen ist. Bei uns geht es um die Produktionsrückläufigkeit und nicht um eine Substitution verschiedener Verwendungsmöglichkeiten. Das sind doch keine Werbeaussagen, sondern nachvollziehbare, überprüfbare Aussagen.
Deswegen wären wir sehr dankbar, wenn wir in Montreal ein gutes Stück weitergekommen wären. Dennoch gratuliere ich auch von dieser Stelle aus dem Generaldirektor der UNEP, Herrn Tolba, dafür, daß er das international überhaupt so weit gebracht hat,
— entschuldigen Sie bitte: daß er die internationalen Abkommen, die unter seiner Ägide laufen — denn sie laufen unter der Ägide der UNEP — , so weit gebracht hat, daß er sie international wenigstens so weit zum Abschluß hat bringen können. Man kann ihm dazu gratulieren — ich sage das nochmal. Und gehen Sie einmal davon aus, daß ich mit Herrn Tolba persönlich diese Frage erörtert habe und daß wir ihn in wenigen Tagen bei uns in der Bundesrepublik haben werden. Ich lade Sie gern ein, mit ihm diese Dinge hier bei uns zu diskutieren. Er wird uns hier besuchen.
Dies ist die eine Seite: der internationale Überzeugungsprozeß muß weitergetrieben werden. Ich würde es ja begrüßen, wenn wenigstens das, was in Montreal jetzt unterschrieben worden ist,
von allen bedeutsamen Staaten unterschrieben würde. Bis zum Augenblick hat zum Beispiel die UdSSR noch nichts unterschrieben, obwohl in diesen Vertrag eine besondere Öffnungsklausel für die UdSSR geschrieben wird, nämlich daß sie ihren ProKopf-Verbrauch von Fluorchlorkohlenwasserstoff auf 0,5 kg erhöhen kann — das wäre eine weitere Steigerung. Wir wären dankbar, wenn alle wenigstens das, was wir in Montreal als unzureichend ansehen, mitmachen würden. Das ist der Punkt.
Deutscher Bundestag — 1 1. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1771
Bundesminister Dr. Töpfer
Deswegen können wir doch nicht hierher kommen und die Meinung äußern, dies alles sei noch nicht der Punkt. Dies sind Fakten. Dies sind keine Meinungen, sondern Fakten.
Der zweite Punkt ist, daß wir nachhaltig bereits in unserer eigenen Verantwortung gehandelt haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wetzel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber selbstverständlich, gern.
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, würden Sie mir zustimmen, wenn diese von Ihnen korrekt geschilderten Phänomene im internationalen Bereich, insbesondere die Sowjetunion betreffend, für die ich die Angaben berstätigen kann, nicht auf einen ungeklärten oder nicht hinreichend weit fortgeschrittenen Forschungsprozeß in diesen Fragen, sondern auf andere Faktoren zurückzuführen sind; und welche sind es nach Ihrer Ansicht?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Also, zunächst einmal wollte ich doch nur den Beleg dafür bringen, daß die Wertung dieses Zusammenhangs international offenbar sehr viel anders und sehr differenziert vorgenommen wird
und daß es deswegen sinnvoll und richtig ist, daß die Koalitionsfraktionen hier die Einsetzung einer Enquete-Kommission beantragt haben. Das wollte ich damit begründet haben: daß hier nicht eine Alibiveranstaltung vorbereitet wird, um der Bundesregierung Handeln zu ersparen. Das war der Vorwurf und gegen diesen Vorwurf habe ich die Bundesregierung hier nachhaltig in Schutz zu nehmen, weil es den Tatsachen überhaupt nicht entspricht. Das ist der Punkt.
Ich möchte dasselbe hinsichtlich der Entwicklungsländer, Frau Hartenstein, aufgreifen. Auch in diesem Abkommen von Montreal — man muß das ja einmal lesen — steht, daß der Pro-Kopf-Verbrauch von Fluorchlorkohlenwasserstoffen in den Entwicklungsländern auf 0,3 Kilogramm gesteigert werden kann. Und da sagen Sie: Das ist eine Katastrophe, daß wir das nicht verhindern. Ja, entschuldigen Sie bitte: Das ist doch nicht eine Frage an uns, sondern das ist eine Erwartung an die Dinge, die mit Fluorchlorkohlenwasserstoffen dort gemacht werden können. Es ist denen doch nicht von uns aufgedrängt worden, sondern von uns abverlangt worden. Die Alternative war, dieses Abkommen nicht zu unterschreiben.Und wenn Sie, Frau Hartenstein, hierher kommen und sagen, es sei unerträglich, diese Abwägung von Energiequellen gegeneinander vorzunehmen, dann muß ich doch einmal schlicht und einfach zurückfragen: Wer tut denn das? Zunächst einmal ist diese Bundesregierung immer hingegangen und hat deutlich gemacht, daß jeder Energieträger umweltverträglich genutzt werden muß — jeder! Und deswegen machen wir Luftreinhaltung, um Schwefeldioxid und Stickoxide bei der Kohleverbrennung in den Griff zu bekommen. Deswegen unternehmen wir gleichzeitig, parallel dazu alle Anstrengungen, um die Kernenergie sicher und vertretbar nutzen zu können. Wir haben das heute morgen ja breit diskutiert. Dies ist keine Aufrechnungsfrage. Aber genauso richtig ist es — das können Sie vom Sachverständigenrat für Umweltfragen angefangen bis hin zu einem Zitat, das ich Ihnen gleich vortragen werde, verfolgen — , daß es eben jeweils verbleibende Umweltbeeinträchtigungen der einzelnen Energieträger gibt.
Und die zurückbleibende Umweltbeeinträchtigung nach der Nutzung von fossilen Energieträgern ist eben CO2.
— Augenblick! — Keine— ich zitiere —der beiden großen Energiequellen ist also ohne Risiko: weder die Kernkraft noch das Verbrennen von Kohlenwasserstoff. Kein Wissenschaftler kann uns im Augenblick wirklich sagen, welches Risiko am größten sei.So Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 1. Juli letzten Jahres in der Marktkirche von Hannover. Soll ich's Ihnen weiter zitieren?
Er geht genau davon aus, daß jeweils der Umweltwirkung des einzelnen Energieträgers Rechnung zu tragen ist, aber daß sie eben besteht. Und wenn Sie hierhin kommen und sagen, wir müssen einsparen, um den Entwicklungsländern Beispiele für Einsparungen zu geben, dann zitiere ich ihn noch einmal, den Altbundeskanzler. Er hat gesagt:Eine — wenn nicht die gefährlichste — Seite des Problems vieler Entwicklungsländer ist die Explosion der Zahl ihrer Bevölkerung.Und er kommt zu dem Ergebnis: in 100 Jahren eine Vervierfachung. Ja, meine Damen und Herren, wie wollen Sie denn dieser Bevölkerungsexplosion — und jeder Mensch hat Anspruch auf Energie — mit Energiesparen in den Entwicklungsländern begegnen?
— Entschuldigen Sie bitte, das ist hier gerade so vorgetragen worden.
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1772 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Bundesminister Dr. TöpferDen Satz kann ich Ihnen hier wörtlich vortragen, der hier gerade gesagt worden ist. Es ist hier wörtlich gesagt worden: Wir müssen bei uns sparen als Beispiel für Entwicklungsländer, damit auch die sparen. Ich kann das jederzeit gern wieder belegen.
Es ist also, meine Damen und Herren, wichtig, sehr wichtig, über Energieeinsparen zu diskutieren. Das haben wir vor wenigen Tagen an diesem Pult ja schon einmal getan.
Der Hinweis darauf, daß der Primärenergieverbrauch in der Bundesrepublik Deutschland seit 1974 nicht mehr angestiegen ist, ist der zentrale Beleg dafür, daß hier gespart wird, und zwar durch marktwirtschaftliche Mittel, weil die Preise im Energiebereich damals so angestiegen waren.
Herr Minister, gestatten Sie noch Zwischenfragen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe leider Gottes keine Zeit mehr, sonst sehr gerne.
Das sagen Sie so einfach! Die Kollegen müssen irgendwann auch eine Mittagspause haben. Ich denke da an unsere Mitarbeiter, nicht so sehr an uns.
Dr. Töpfer: Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Es tut mir herzlich leid, aber wir haben Gelegenheit, das im Ausschuß weiter zu erörtern. Wir werden es dort sehr gerne tun.
Ich halte abschließend fest: Diese Enquete-Kommission ist notwendig. Sie ist notwendig, um international die Willensbildung weiterzutreiben. Sie ist notwendig, um zu belegen, wo die besten Ansatzpunkte zum weiteren Handeln sind. Sie ist nicht notwendig als Alibi für eigenes Handeln, denn die Bundesregierung hat beispielgebend weltweit auf diesem Gebiet gehandelt. Die Fluorkohlenwasserstoffe sind ein Beleg dafür.
Recht herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Es ist interfraktionell vorgeschlagen worden, die Anträge auf Einsetzung von Enquete-Kommissionen sowie die weiteren Anträge an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weiterhin soll der Antrag zum Tagesordnungspunkt 4 b zusätzlich zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik — Bildung 2000"
— Drucksache 11/711 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
und den Zusatztagesordnungspunkt 3:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hillerich und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission — Drucksache 11/801 —Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
auf.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion schlägt heute dem Deutschen Bundestag die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik — Bildung 2000" vor. Wir wollen in dieser Kommission die langfristig wirksamen gesellschaftlichen Faktoren untersuchen, denen eine vorausschauende Bildungspolitik und alle im Bildungswesen Tätigen Rechnung tragen müssen. Wir wollen klären, welche Veränderungen in Bildungspolitik und Bildungspraxis notwendig sind, damit sich junge wie erwachsene Menschen durch eine zukunftsträchtige Erstausbildung und Weiterbildung auf neue Herausforderungen in Beruf, Familie und Gesellschaft vorbereiten können.Das ist mit Sicherheit ein ehrgeiziges Unterfangen, weil es einen ganzen Querschnittsbereich der Gesellschaftspolitik auf den Prüfstand stellen, zukünftige Entwicklungen in vielen gesellschaftlichen Feldern prognostizieren und Vorschläge für Veränderungen von Strukturen, Inhalten und Finanzierungssystemen im Bildungsbereich machen soll. Das wird nicht einfach sein. Aber es handelt sich um eine Aufgabe, die — wenn überhaupt — nur in der Form einer Enquete-Kommission und nur vom Deutschen Bundestag geleistet werden kann.Die Enquete-Kommission kann dabei an gute Traditionen der bundesdeutschen Bildungsgeschichte anknüpfen, etwa an den Deutschen Bildungsrat, der 1965 zu Beginn der Bildungsexpansion zur Entwicklung von Reformkonzepten gegründet wurde oder an den Bildungsbericht '70 der sozialliberalen Bundesre-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1773
Kuhlweingierung, in dem die Bildungspolitik an die Spitze der inneren Reformen gestellt wurde oder an den Bildungsgesamtplan von 1973 und an den Entwurf seiner Fortschreibung vom Dezember 1980. Immer handelte es sich um Versuche, im Dialog von Wissenschaft und Politik bildungspolitische Antworten auf gesellschaftliche Defizite und neue Herausforderungen zu finden.Den Bildungsrat gibt es nicht mehr, die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung darf keinen Bildungsgesamtplan mehr aufstellen, die Kultusministerkonferenz versucht, die tagespolitischen Konflikte zu bewältigen. Aber auch wenn die beiden letztgenannten Gremien die Kraft fänden, eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu entwickeln, könnten sie die vom Parlament verantwortete breit angelegte Volksdiskussion über Ziele, Inhalte und Strukturen des Bildungssystems nicht ersetzen. Die Grundsätze künftiger Bildungspolitik dürfen nicht nur in Beamtenpapieren hin- und hergeschoben werden, sie müssen Thema der höchsten deutschen Volksvertretung werden.
Dabei verkenne ich nicht, daß wir uns an der Schnittstelle mit originären Zuständigkeiten der Länder bewegen. Ich will deshalb diejenigen beruhigen, die in einer solchen Enquete-Kommission einen Anschlag auf den Kulturföderalismus sehen. Wir halten sehr viel vom kooperativen Föderalismus in der Bildungspolitik, so viel sogar, daß wir manchmal den Druck nicht verstehen, mit dem eine Mehrheit in der Kultusministerkonferenz, voller Mißtrauen gegenüber den bildungspolitischen Umtrieben der anderen Seite, einer Minderheit ihr eigenes System aufzwingen will.
Wir wollen den Länderinteressen durch ihre Einbeziehung in die Arbeit der Kommission Rechnung tragen. Aber ich stimme ausnahmsweise einmal mit der derzeitigen Bundesregierung überein, wenn sie 1984 in ihrem Bericht „Zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf" schreibt, in der föderalistischen Ordnung des Grundgesetzes bleibe die Wahrung und die Förderung eines Mindestmaßes an Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Interesse der Freizügigkeit, der Sicherung der Chancengerechtigkeit — ich würde lieber Chancengleichheit sagen — im Bildungswesen und der Mobilität, insbesondere im Beschäftigungssystem, eine ständig neu zu lösende Aufgabe. Ich hätte dem zwar noch einige Argumente mehr hinzuzufügen, aber entscheidend scheint mir zu sein, daß nur auf Bundesebene die Verzahnung der Bildungspolitik mit wichtigen anderen Politikbereichen wie Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozialmarkt-, Sozial-, Familien- und Technologiepolitik erfolgen kann.Die Enquete-Kommission wird zunächst Bilanz ziehen müssen, nämlich die Bilanz einer Reformphase der Bildungspolitik, die in den 60er Jahren begann und bis in die Mitte der 70er Jahre reichte und die — damals von allen Bundestagsparteien mehr oder weniger getragen — Ungleichheiten abbauen, die Bildungsinhalte reformieren, ein Mehr an Mitwirkung und Mitbestimmung durchsetzen und den Umgang zwischen den Beteiligten im Bildungswesen humanisieren wollte. Diese Grundsätze, meine Damen und Herren, haben auch heute noch Gültigkeit, und sie sollten die Meßlatte darstellen, wenn wir das Erreichte bewerten und Neues vorschlagen wollen.Unbestritten dürfte dabei sein, daß die Bildungsexpansion als Ursache und Ergebnis der Reformphase eine erhebliche Veränderung der Bildungslandschaft bewirkt hat. Die Bildungsbeteiligung wuchs, wissenschaftlich fundierte Inhalte verdrängten sogenannte volkstümliche Bildung, Unterricht und Strukturen wurden demokratischer, die Berufsausbildung wurde stärker am Qualifikationsinteresse der Arbeitnehmer orientiert, die Hochschulen wurden ausgebaut und demokratischer gestaltet.Aber manche der Ergebnisse werden heute ja nach politischem Standpunkt unterschiedlich bewertet. Kritik gibt es dabei von allen Seiten. Auf der Linken macht sich Enttäuschung über die Stagnation und über fehlende Auswirkungen der Reform auf andere gesellschaftliche Bereiche breit. Auf der Rechten — oder, wenn Sie so wollen, in der Mitte zwischen Union und FDP — sind häufiger Klagen über ein Zuviel an Expansion und Reformen zu hören. In beiden Lagern — wenn man diesen Begriff nach Ihrer Diskussion noch verwenden darf — macht sich jedoch auch Unsicherheit breit, wie es denn weitergehen soll. Das ist angesichts der neuen technischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen kein Wunder. Ich nenne dazu als Stichworte nur die ökologische Krise, die technologischen Umwälzungen der Industriegesellschaft, die zunehmenden internationalen Verflechtungen, den Wertewandel, wie er sich beispielsweise im veränderten Sinnverständnis der Arbeit und der Forderung nach mehr Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen zeigt, und in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch das gewachsene Selbstbewußtsein der Frauen, die sich mit der tradierten Rolle in Bildung, Beschäftigung und Gesellschaft nicht mehr abfinden.Die Gesellschaft reagiert auf diese Herausforderungen höchst widersprüchlich, und ebenso widersprüchlich ist häufig die Antwort der Bildungspolitik. Ich möchte dafür einige Beispiele nennen:Erstens. Das Angebot an Ausbildungsplätzen stimmt immer weniger mit der Struktur des Arbeitsmarktes überein. Hunderttausende von jungen Menschen können mit dem in der Berufsausbildung Erlernten wenig oder gar nichts anfangen.
Die einen fordern als Konsequenz eine stärkere Verkoppelung von Ausbildung und Arbeitsmarkt, die anderen sehen die Lösung eher in einer stärkeren Entkoppelung, um auf der Grundlage einer breiteren Allgemeinbildung besser auf Veränderungen in den Berufen und am Arbeitsmarkt reagieren zu können.Zweitens. Die Unsicherheit ist nicht nur in der Kultusministerkonferenz groß, was denn unter veränderten gesellschaftlichen und technologischen Bedingungen als notwendige Allgemeinbildung für alle Menschen verstanden werden soll. Die Frage wird, wie Andreas Flitner in diesen Tagen nachgewiesen hat, noch schwieriger, wenn bestimmt werden soll, welche Allgemeinbildung gleichzeitig auch Studier-
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1774 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Kuhlweinfähigkeit bedeuten soll. Reicht der Fächerkanon des 19. Jahrhunderts, um die Wirklichkeit des bevorstehenden 21. Jahrhunderts zu begreifen, oder muß der traditionelle Fächerkanon um all jene gut begründeten neuen Fächer erweitert werden, die sich die Arbeitgeberverbände vorstellen? Oder etwas flapsiger: Kann einem Bundesbildungsminister einfach die Allgemeinbildung abgesprochen werden, weil er in einem Rundfunktinterview den Autor von „Immensee" nicht nennen kann? Darf man es sich so einfach machen, daß man Allgemeinbildung als klassische Bildung plus Informatik definiert?Drittens. Alle Seiten fordern mehr Allgemeinbildung, und dennoch werden junge Menschen oft schon mit 15 oder 16 Jahren mit ihrem Anspruch auf Allgemeinbildung alleingelassen, weil ein einziger Berufsschultag pro Woche diesem Anspruch nicht gerecht wird.
Der Bundesbildungsminister hat dann ja auch noch vorgeschlagen, Religion und Sport aus dem Berufsschullehrplan zu streichen. Ist die frühzeitige berufliche Orientierung an Hauptschulen oder an Realschulen eher ein Verlust oder eher ein Zuwachs an Allgemeinbildung? Und warum wird dann diese Form der Allgemeinbildung den Gymnasiasten auch in der Oberstufe weitgehend vorenthalten?Viertens. Die Ausbildungszeiten haben sich aufallen Stufen des Bildungswesens verlängert, und dennoch wird heute die Forderung nach lebenslangem Lernen häufiger denn je erhoben und die entsprechende Notwendigkeit häufiger denn je betont. Ist es vernünftig, die Erstausbildung immer weiter zu verlängern — ich sage das bewußt vor allem in Richtung auf das Studium — , wenn gleichzeitig einmal erworbenes Wissen einem immer schnelleren Verfallsprozeß unterliegt? Kann die Konsequenz sein, Erfahrungen mit der Arbeitswelt auch für angehende Akademiker in eine frühere Phase zu verlegen, und welche organisatorischen Möglichkeiten sind dafür denkbar? Muß nicht Studium stärker als bisher auch Weiterbildungsphasen nach einem ersten Abschluß mit einbeziehen, oder wie weit muß oder darf die Spezialisierung in der Erstausbildung gehen?Fünftens. Wie kann bei zunehmender Freizeit — und sie wird zunehmen — verhindert werden, daß sich die Menschen in die passive Rolle von Nur-Konsumenten drängen lassen? Welche Bedeutung kommt dafür dem sozialen Lernen und der musisch-kreativen Bildung zu, wie kann wachsende Freizeit für mehr Entfaltung der Persönlichkeit in Familie und Beruf, in kulturellem Leben und Gesellschaft genutzt werden?Sechstens. Wie erziehen wir eigentlich junge Menschen zum sozialen Verhalten und zur Kommunikation mit anderen, wenn wir sie zu immer mehr technischer Kommunikation mit einem Leben aus zweiter Hand verführen? Lassen sich Kreativität und Selbständigkeit entfalten, wenn Kinder fast nur noch mit elektronischem Spielzeug — so muß man schon sagen — operieren?Siebtens. Übereinstimmung besteht inzwischen dahin gehend, daß nun auch junge Frauen das Recht auf eine ordentliche Ausbildung haben. Wir hören das ja von allen Seiten, auch von der Regierungsbank.
Dieses Recht ist noch längst nicht überall eingelöst. Wie wollen wir eigentlich damit umgehen, daß gut ausgebildete Frauen, die verstärkt auf den Arbeitsmarkt drängen, dort erheblich schlechtere Chancen haben? Wie wird sich diese Erfahrung auf die nächste Frauengeneration auswirken, die ja dann von Frauen erzogen wird, die in beträchtlichem Umfang mit dem, was sie vorher zusätzlich gelernt haben, auf einem Arbeitsmarkt, der sie nicht haben will, gescheitert sind?Achtens. Die individuelle Ausbildungsförderung erreicht heute nur noch eine Minderheit junger Menschen, obwohl wir uns doch alle darüber einig sind, daß es nicht nur aus Gründen der Chancengleichheit, sondern auch aus Gründen der wirtschaftlichen Entwicklung und des Überlebens der Bundesrepublik erforderlich ist, mehr junge Menschen besser und gründlicher auszubilden. Soll das Recht auf Ausbildung weiter in die Privatsphäre gedrängt werden, also sozusagen privatisiert werden, oder wäre es nicht gerade geboten, die Lasten dafür von der ganzen Gesellschaft tragen zu lassen, und zwar aus wirtschaftspolitischen, familienpolitischen und gesellschaftspolitischen Überlegungen?
Neuntens. Dem offiziellen Anspruch, gerade die rohstoffarme Bundesrepublik müsse in „Humankapital" investieren, steht eine restriktive Finanzpolitk gegenüber, die sich auf Schule, Berufsbildung und Hochschule schon in den 90er Jahren verhängnisvoll auswirken kann. Können wir es uns eigentlich leisten, daß die Lehrerkollegien an den Schulen wegen des Einstellungsstopps überaltern, und wollen wir eine ganze Generation von Nachwuchswissenschaftlern aus den Hochschulen auswandern lassen, um nur zwei der dramatischsten Beispiele zu nennen, die deutlich machen, wie weit das Bildungswesen heute finanziell in den Hintergrund gedrängt worden ist?Zehntens. Die Erkenntnis setzt sich durch, daß wir auf einem immer enger werdenden Planeten nur im Miteinander überleben werden; in der Runde über die andere Enquete-Kommission, die eben stattgefunden hat, haben wir ja einiges darüber gehört. Gleichzeitig wird in unserem Bildungssystem das Lernziel Solidarität immer noch und immer wieder durch Ellenbogenmentalität und Verdrängungswettbewerb gefährdet.
Um es in diesem Zusammenhang auch einmal deutlich zu sagen: Boris Becker ist für uns nicht das geeignete Vorbild für unsere Jugend.
Ich hoffe, auch Sie auf der Rechten werden das nichtbestreiten, denn man kann ja kaum sagen, daß je-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1775
Kuhlweinmand ein Vorbild ist, der mit seinen Steuern nach Monaco ausweicht.
— Die Vorhand alleine macht noch kein Vorbild.
Elftens. Viele sprechen heute davon, daß wir ein neues Verhältnis zur Natur lernen müssen, wenn wir und unsere Kinder weiter existieren wollen. Unser Bildungssystem hat aber bisher kaum den Versuch gemacht, zu einer neuen Moral gegen die schrankenlose Ausplünderung der Natur und anderer Völker zu erziehen.
Die Reihe der Widersprüche und offenen Fragen ließe sich noch lange fortsetzen, aber ich glaube, daß an diesen Fragen deutlich wird, wie notwendig es ist, einen neuen bildungspolitischen Konsens zu suchen. Nur dann wird es, wie in den späten 60er und frühen 70er Jahren möglich sein, in der Bildungspolitik einen größeren Schritt nach vorn zu machen. Dabei bin ich mir im klaren darüber, daß diese Konsensfindung nicht ganz einfach sein wird, weil es manchmal auch ideologisch sehr verhärtete Positionen in den verschiedenen Lagern, sage ich noch einmal mit aller Vorsicht, gibt. Aber ich glaube, daß sich dieser Versuch immer lohnt. Wir haben deshalb das Verfahren gewählt, unseren Einsetzungsantrag vor der endgültigen Einsetzung der Kommission in den Ausschüssen zu beraten. Ich stelle zu meinem Vergnügen fest, daß die Fraktion DIE GRÜNEN mit einem eigenen Antrag bereits die ersten Schularbeiten gemacht hat.
Ich hoffe, daß auch die Koalitionsfraktionen in den nächsten Wochen konstruktiv mitarbeiten, damit wir zu einem Einsetzungsantrag kommen, der von allen Seiten des Hauses getragen wird.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Daweke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mich erst bei meinem Kollegen Kuhlwein dafür bedanken, daß er immer da, wo er die politische Mitte beschrieben hat, mir nicht nur tief in die Augen geblickt, sondern auch noch durch Gesten mit der Hand klargemacht hat, wo er diese Mitte vermutet. Ich wollte auch meinen Geschäftsführer bitten, das der obersten Heeresleitung mitzuteilen. Das kann nur gut sein.
— Gut, aber in diesem Falle hat er recht. Das wollte ich nur festhalten.Meine Damen und Herren, ich will zunächst für die Union sagen, daß wir jede Initiative begrüßen, die die Bildungspolitik in einen größeren Zusammenhang stellt, der ihre Bedeutung unterstreicht. Sie ist viel bedeutender, als die Zahl der Kollegen, die heute hier sind, das vermuten läßt.
— Kolleginnen und Kollegen, natürlich.
Wir müssen uns nur fragen, Herr Kuhlwein, ob der Weg, den Sie gewählt haben, ein richtiger ist und ob das vor allen Dingen auch einer ist, der Erfolg verspricht.Sie haben einen Artikel zu diesem Thema überschrieben: „Auf der Suche nach einem neuen Konsens" . Das war übrigens peinlicherweise gerade in der Woche, als sich die Kultusminister in Mainz trafen, um einen letzten Versuch zu machen, in der Frage der differenzierten Oberstufe einen neuen Konsens zu finden, als sie alle sagten: „Den finden wir auch" und als ein Senator aus Ihrer Partei diesen Konsens in letzter Minute noch einmal aufgekündigt hat.
Ich sage das nur deshalb, weil das ein Beispiel für die Schwierigkeiten ist, denen wir uns gegenübergestellt sehen.Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich nicht eigentlich zu viel vornehmen, oder wir uns alle, wenn wir die Kornmission gründen, nicht zu viel vornehmen, nämlich da einen Konsens zu finden, wo es ihn in manchen Fragen scheinbar oder tatsächlich nicht gibt.Die Kritik an dem Antrag hat also zunächst zwei Seiten. Ich möchte eine inhaltliche und eine formale Kritik vortragen, die formale zuerst. Sie gehen in Ihrem Antrag sehr weit, was die Gesetzgebungskompetenz des Bundes und der Länder in diesem Bereich angeht. Nach dem Selbstverständnis des Bundestages gibt es für viele Fragen, die Sie anschneiden, keine Kompetenz des Hauses. Wir müssen uns also im Ausschuß darüber verständigen, was wir tatsächlich klären wollen, klären sollten, was wir klären dürfen und wo wir möglicherweise die Schwerpunkte anders setzen können. Wir haben deshalb auch vorgeschlagen, daß wir den Rechtsausschuß zusätzlich zu den anderen Ausschüssen, die Sie genannt hatten, um Prüfung bitten, was denn tatsächlich unser Kompetenzbereich ist. Ich hoffe, daß das dann klar ist und daß wir uns dann politisch darauf einigen können, die Themen zu nennen, die tatsächlich unsere Themen sind, und die sind in der Tat ausreichend.Das Bundesverfassungsgericht hat einmal gesagt, daß das Kernstück der Eigenständigkeit der Länder die Kulturhoheit sei. Heute ist der Tag, an dem vor 200 Jahren die amerikanische Verfassung in Kraft getreten ist, auch eine Verfassung mit föderalistischer Struktur. Die Alternative zum starken Zentralstaat ist ja eben der Dialog und der Kompromiß zwischen den Einzelstaaten. Sie sagen, genau das wollen wir leisten, wir wollen diesen Prozeß fördern. Ich denke, man muß, wenn man an den föderativen Staat glaubt, die Länder in ihrer Bedeutung mit einbeziehen. Wollen Sie das auch? Sie sagen beispielsweise in Ziffer I.3 Ihres Antrags:In Wahrnehmung der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland soll die Kommission auch auf den Sachverstand der Länder zurückgreifen.
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1776 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
DawekeIch glaube, wenn man es so sagt, dann macht man den Ländern deutlich, daß sie sozusagen ein Anhängsel des Bundes sind. Das sind sie aber nicht; sie sind freie Partner. Deshalb sollten wir am besten nicht auf sie zurückgreifen, sondern sollten uns bei unseren Untersuchungen auf unsere eigenen Aufgaben beschränken.Das bezieht sich beispielsweise nicht — um auf den Antrag der GRÜNEN einzugehen — auf die Schulangst und den Schulalltag. Wir sind nicht nur nicht zuständig, sondern wir verheben uns auch, wenn wir solche Dinge mit untersuchen.Ich finde, die Kompetenzen des Bundes sind für Untersuchungsaufträge, die wir uns selbst stellen können, bei weitem ausreichend. Denken Sie an die berufliche Bildung, an die Ausbildungsförderung, an die Grundsätze des Hochschulwesens, an die Forschungsförderung. Ich nenne auch Dinge, die Sie nicht genannt haben, wie das Dienstrecht oder die gesamten europäischen Fragen, die aus den anderen Ländern Europas auf uns zukommen und große Auswirkungen auch im gesamten Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland haben.Das ist zunächst aus meiner Sicht die Kritik an dem Ansatz, den Sie wählen. Die Kritik mündet vor allen Dingen in die Frage, wie Sie es mit der Verfassung unseres Landes halten.Zu den Inhalten möchte ich einige Bemerkungen bezüglich dessen machen, was mir auf den ersten Blick an Ihrem Antrag aufgefallen ist. Das eine ist, daß wir aufpassen müssen, daß wir nicht die Arbeiten von anderen Gremien, die eingesetzt sind und genau das leisten wollen, was Sie fordern, nämlich koordinierend tätig zu sein, wiederholen. Die Bund-LänderKommission für Bildungsplanung führt beispielsweise seit Jahren Untersuchungen über die Frage Bildung und Bildungssysteme sowie über die Übergänge durch. Dort kann man eine Menge Sachverstand ab-ruf en.Ich finde, Sie dürfen auch nicht den Eindruck entstehen lassen, als seien das sozusagen Gremien, die ihre Arbeit nicht getan hätten. Sie können in der Kultusministerkonferenz alles darüber erfahren, welchen Stellenwert die Allgemeinbildung heute hat. Der Streit in der Kultusministerkonferenz, über den ich berichtete, ist ja gerade ein Streit über die Frage, welchen Stellenwert die Allgemeinbildung hat und wie man sie definiert.Es gibt ein Koordinierungsgremium, das bei Ihnen überhaupt nicht vorkommt, nämlich der Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung in Berlin. In ihm sind der Bund, die Länder, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in bezug auf die Berufsbildung koordinierend tätig. Es handelt sich um ein sehr gut funktionierendes Gremium. Dort können wir sehr viele Informationen abrufen.Ich meine, das sollte man nicht wiederholen.Ich finde auch, daß Ihre Kritik nicht angebracht ist. Sie erklären — das haben Sie hier eben noch einmal als Verteidigung angeführt — , daß diese Gremien weitgehend von Beamten bestimmt seien. Ich will nur darauf hinweisen: Der Spielraum, den Sie den Beamten in dieser Grauzone zwischen dem Bund und denLändern und innerhalb der Länder geben, ist immer genauso groß, wie ihn die Politiker lassen. Insofern ist das auch eine Kritik an uns selbst: Wenn wir mehr gestalten, wird der Spielraum für diese Gruppe — ich habe das nicht als Beschimpfung aufgefaßt — bezüglich des Verwaltungsbereichs geringer.Der andere Vorwurf lautet, diese Gremien seien zu sehr von der Tagespolitik bestimmt. Was sollen wir denn tun? Wird es gelingen — wenn das die Hoffnung wäre, müßte man sie sehr schnell zurückziehen — , die neuen großen Visionen wie in den 60er Jahren zu beschreiben? Ich glaube nicht, daß uns das gelingen kann. Wir werden Vorschläge machen müssen zu einer Reparatur am laufenden Motor. Die Bildungspolitik hört nicht auf und wartet, was hier passiert. Sie stellt den Motor nicht für zwei Jahre ab und sagt anschließend: Jetzt haben wir es aber.
— Es stellt sich ja gerade die Frage, wie man gestaltend in ein System eingreifen will, das sich mit einer Eigendynamik fortsetzt.Die finanziellen Vorgaben werden wir in der Kornmission auch nicht ändern können. Insofern gibt es sehr große Lücken zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was machbar ist.Ein anderer Kritikpunkt an Ihrem Antrag bezieht sich auf einige Widersprüchlichkeiten. Ich nenne nur einmal folgendes. Sie sagen — das haben Sie eben auch wiederholt — in einem Artikel zu der Enquete-Kommission, daß gerade bei der Frage Allgemeinbildung und deren Stellenwert sehr häufig ideologische Diskussionen ausbrächen. Dann sagen Sie: Ziel ist aber, den Konsens zu finden. Und bei der Untersuchung der Frage, ob dieser anzustrebende Konsens nicht dazu führen muß, daß man möglicherweise seine Grundposition verändert, sagen Sie — wahrscheinlich zur Beruhigung der rein SPD-regierten Länder Saarland und Bremen —
dem Beigeordneten für das Bildungswesen in Bremen: Paß mal auf, du brauchst dich gar nicht weiter aufzuregen; es wird nämlich so sein, daß wir unsere Grundposition gleichzeitig wahren.Also angestrebt ist die Überbrückung von Ideologie, ein neuer Konsens bei Beibehaltung der Grundposition.
Ich weise nur darauf hin, daß das eine große Schwierigkeit ist, die wir sehen müssen. Ich mache Sie nur auf diesen Widerspruch aufmerksam.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Bitte sehr.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1777
Herr Kollege Daweke, haben Sie einmal die Definition gehört, daß Ideologie falsches Bewußtsein sei?
Ja, aber immer nur die Ideologie des anderen. Das scheint mir die Schwierigkeit deutlich zu machen.
Der nächste Punkt von mir wäre die Frage, ob wir nicht zusätzlich ein paar Themen einbringen sollten — ich habe eben schon einmal kurz darauf hingewiesen — , die Sie überhaupt nicht ansprechen. Ich nenne nur noch einmal ein Beispiel: das gesamte Dienstrecht, etwa die Rahmenvorgaben für die Besoldung. Man muß doch einmal feststellen — das wird man als Bildungspolitiker wohl einmal sagen dürfen — , daß z. B. so eine Einrichtung wie der BAT und freies Forschen eigentlich nicht zusammenpassen. Das kriegt man gar nicht hin. Denken Sie an die Notwendigkeit, hinsichtlich der Arbeitszeit flexibel zu sein. Sie können doch nicht die Labors plötzlich um 17.15 Uhr schließen. Oder denken Sie an die Schwierigkeiten, die Studenten heute haben — sie berichten einem auch davon — , weil Universitätsbibliotheken nach dem öffentlichen Dienstrecht organisiert sind. Das paßt eigentlich nicht zusammen. Wenn wir uns auf die Themen beschränken wollen, die uns angehen, dann geht uns, finde ich, das Dienstrecht sehr viel an.
Ich bin daher der Meinung, daß wir das einbringen sollten; denn das Dienstrecht und das Beamtenbesoldungsrecht haben große Auswirkungen auf die zukünftige Bildungspolitik.
Ich rechne dazu z. B. auch die Frage, deren Beantwortung mich interessiert: Ist demnächst, wenn sich Firmen, Hochschulen und Schulen um die sehr wenigen Leute kümmern, die es in diesen Jahrgängen gibt, noch der Wettbewerb durchzuhalten — die Post berichtet, er sei nicht durchzuhalten — angesichts der Besoldungen, die die Industrie bietet, und der Besoldungen, die beispielsweise die Bundespost jungen Ingenieuren bieten kann? Das ist doch eine wichtige Frage. Unter welchen Marktbedingungen wird sich das demnächst abspielen? Ich finde schon, daß das auch Rückwirkungen auf Bildung 2000 hat.
Ein anderes Thema — auch das habe ich eben schon kurz erwähnt — betrifft die Europapolitik. Wir wollen kürzere Schul- und Ausbildungszeiten. Die Europäer um uns herum haben alle kürzere Ausbildungszeiten außer bei Fachhochschulen. Also machen wir bei Fachhochschulen einen Krampf und addieren zu den drei Jahren Ausbildung, die dort Pflicht sind, noch künstlich Praktikazeiten, um auf die vier Jahre zu kommen, damit ein deutscher Fachhochschulingenieur Anerkennung findet in Frankreich und in England, wo es im Prinzip, de facto kürzere Ausbildungszeiten gibt, wo es aber eben vier Jahre Ausbildung im Schnitt gibt, die dort grundsätzlich auch eingehalten werden.
Die Frage der Äquivalenz von Abschlüssen stellt sich. Was muß passieren, um die Anerkennung von deutschen Abschlüssen in den Ländern der EG zu erreichen? Oder etwa die Frage: Ist ein Sozialrecht wie das BAföG auch auf EG-Ausländer übertragbar, die hier studieren? Es würde uns finanziell sofort aus dem Sessel werfen, wenn etwa Forderungen realisiert würden, die in der EG erhoben werden. Das sind wichtige Themen, die ich gerne noch anfügen möchte.
Ich darf zusammenfassen. Wir wollen in Ihrem Antrag einiges streichen, insbesondere die Sachen, die uns nichts angehen. Wir werden umformulieren, so daß wir den Auftrag realistischerweise erfüllen können. Wir werden dort etwas ergänzen, wo wir es für nötig halten. Aber wir wissen halt, daß Sie das Recht haben, eine solche Enquete-Kommission einzusetzen. Deshalb werden wir auch konstruktiv in ihr mitwirken.
Ich darf zum Schluß vielleicht noch kurz aus einem Buch zitieren — damit Sie sehen, wie aktuell Ihr Thema ist — , über neue Bildungspolitik. Das war zufällig ein Jahr vor der Bundestagswahl, 1976, erschienen. Herausgeber war Bernd Vogel, mit Beiträgen von Kohl, Biedenkopf und anderen.
Bernd Vogel schreibt auf dem Cover:
Der zunehmend enger werdende Spielraum der öffentlichen Finanzen und unüberbrückbare Kontroversen über die Bildungsziele und Bildungsinhalte, über die Zukunft der beruflichen Bildung, der Schule und Hochschulen signalisieren eine Veränderung der Bildungslandschaft. Bildungspolitischer Fortschritt verlangt es wohl, ein neues, überlegtes Konzept, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, zu erarbeiten.
Ich war mir nicht ganz sicher, als ich das gestern gelesen habe, ob das nicht ein Satz ist, den ich bei Ihnen wiedergefunden habe. Es ist ein Satz, der fast so bei Ihnen steht. Ich trage das hier nur vor, damit wir uns darauf besinnen, daß den Anspruch, solche Konzepte zu erarbeiten, auch unsere Vorgänger erhoben haben. Die Erfolgserlebnisse, die sie hatten, waren nicht so, daß wir uns mit zu viel Euphorie in diese Arbeit stürzen sollten. Ich sage aber noch einmal: Wir werden uns konstruktiv an ihr beteiligen.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hillerich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Hinblick auf einen enormen Bedarf an grundsätzlicher Beratung und Auseinandersetzung über unser Bildungswesen und über die gegenwärtige und künftige Bildungspolitik gibt es Konsens auch für die Bundestagsfraktion der GRÜNEN — wo hier so viel von Konsens die Rede ist. Daher begrüßen wir die Initiative der SPD-Bundestagsfraktion zur Einsetzung einer Enquete-Kommission. Dennoch haben wir einen eigenen Antrag eingebracht, nicht nur, weil wir den im SPD-Antrag angesetzten Zeitraum für völlig unzureichend halten, sondern vor allem, weil wir eine grundsätzlich andere Ausrichtung von Bildungspolitik für nötig halten, als sie in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, vorgenommen wird.Aufschlußreich für Ihr Verständnis von Bildungspolitik sind die Passagen in Ihrem Antrag, wo Sie aus
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1778 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Hillerichdem wirtschaftlichen Strukturwandel und dem technischen Innovationsprozeß auf eine — ich zitiere — :wachsende Abhängigkeit der Wirtschaft vom „Produktionsfaktor persönliche Qualifikation"schließen, die an den „Arbeitnehmer" — haben Ihre Kolleginnen da nicht aufgepaßt?: die „Arbeitnehmerin" kommt nicht vor! — und an das „Management" neue Anforderungen stellen. Das ist keine Bildungspolitik, das ist Personalpolitik in der großen Firma Bundesrepublik Deutschland.
Als ich dann noch las, daß die Enquete-Kommission den „Personalbedarf" aufzeigen soll, habe ich mich erst noch einmal vergewissert, ob ich nicht vielleicht doch einen Leitartikel aus der Zeitschrift „management" vor Augen habe.Es mag ja sein, daß Sie hierin Konsens mit unserem Bildungsminister, Herrn Möllemann, haben, für den Bildungspolitik im Grunde nichts anderes bewerkstelligen soll als die Anpassung menschlicher Fähigkeiten und Haltungen an wirtschaftliche und technologische Erfordernisse. Nur, während Herr Möllemann dies weitgehend dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen will, liegt Ihnen das technokratische Management als staatliches Handlungsmuster näher.Unserer Auffassung nach sollte Konsens in der Bildungspolitik dahin gehend bestehen, daß — erstens — den Bildungsbedürfnissen und -ansprüchen aller Menschen in unserer Gesellschaft Geltung zu verschaffen ist; daß zweitens das Anliegen von Bildung die Entfaltung der Persönlichkeit in allen Lebensbereichen ist, und drittens halten wir es für notwendig, daß Bildungspolitik allen Herausforderungen begegnet, die menschliches Überleben und menschliches Miteinander gefährden, bedrohen und einschränken.
Entsprechend dieser Ausrichtung von Bildungspolitik will unser Antrag die Aufgaben einer Enquete-Kommission begreifen. Ich möchte dies an einigen Beispielen verdeutlichen. Den Bildungsbedürfnissen und -ansprächen aller Menschen in unserer Gesellschaft Geltung zu verschaffen heißt für uns GRÜNE vor allem anderen: Parteinahme für diejenigen, denen das Grundrecht auf umfassende und selbstbestimmte Bildung, allem Gerede von Chancengleichheit zum Hohn, immer noch nicht in vollem Umfang zugestanden wird; Parteinahme für all diejenigen, die nicht in den Genuß der für andere reservierten Bildungsprivilegien kommen und die heute unter dem zynischen Etikett „Benachteiligte" allenfalls einer nachträglichen Sonderbehandlung ausgesetzt werden.So muß auch hier wieder laut und deutlich gesagt werden: Es ist ein Skandal, daß heute immer noch Frauen und Mädchen in Schule und Hochschule, in Berufsausbildung und Weiterbildung ihr selbstverständliches Grundrecht auf freie und gleichberechtigte Teilnahme nur eingeschränkt wahrnehmen können, daß sie unter dem Druck männlicher Konkurrenz und im Zeichen einer — auch bildungspolitischen — Wende immer offener ins Heim und an den Herd zurückverwiesen oder in unqualifizierte Ausbildungen und unterbezahlte Arbeiten abgedrängt werden. — Und dies trotz allem, was ihnen auf Grund einer überaus ungerechten Arbeitsverteilung zwischen Männern und Frauen an Leistung abgefordert wird und trotz einer vergleichsweise höheren Bildungsmotivation und durchschnittlich besserer Zeugnisse und Schulabschlüsse.Meine Damen und Herren, es liegt schon ein tiefer Sinn darin, daß unsere I-Männchen und -Frauchen über den Schulanfang vorsorglich mit einer Schultüte hinweggetröstet werden. Aber so viel Zuckerbrot gibt es trotz aller Anstrengungen der einschlägigen Industrie nun doch nicht, um den Kindern und Jugendlichen das versüßen zu können, was sie dann in unseren Schulen erwartet.
Statt um freie Entfaltung geht es da knallhart um meßbare Leistung, um Selektion. ,Fordern statt Fördern' heißt da die Parole. Unsere Neun- bis Zehnjährigen werden sortiert in Kluge, weniger Kluge und angeblich eher praktisch Begabte, ganz zu schweigen von denen, die noch immer in Sonderschulen abgeschoben werden, es sei denn, sie haben das nur wenigen beschiedene Glück, eine Gesamtschule oder wenigstens noch für kurze Zeit eine Orientierungs- oder Förderstufe zu besuchen. Noch immer ist Schule geprägt von Zensuren und Konkurrenzdruck. Seine Folgen sind Schulangst und Entmutigung. Das ist die Peitsche, die über dem Zuckerbrot geschwungen wird.Noch einige Worte zur Schule selbst, meine Damen und Herren: Der ,Nürnberger Trichter' hat noch nicht ausgedient, ja, er ist nach wie vor das beliebteste Requisit, und sei es in seiner modernen Gestalt als Cornputer oder programmierter Unterricht. Nicht Faulheit und Rechtschreibschwäche, Herr Minister Möllemann, sind die Hauptprobleme des Schulalltags, sondern gähnende Langeweile und der allseits verbreitete Motivationsmangel. Wenn wundert's, denn nicht entdeckendes Lernen, nicht Handlungs- und Problemorientierung, nicht fächerübergreifender oder Projektunterricht, nicht ganzheitliches, selbstbestimmtes Lernen sind angesagt. Statt dessen sollen neuerdings die alte Paukschule wiederbelebt, Eliteförderung forciert und fortschrittliche Schulversuche abgewürgt werden — und dies nach ca. 70 Jahren Schulreformdiskussion und gegen den Rat und das Engagement vieler Pädagoginnen und Pädagogen.Bildung ist mehr als bloßes Eintrichtern von Wissen, ist auch mehr als unkritische, anpasserische Berufsorientierung. Eine umfassende, praktisch umgesetzte und theoretisch reflektierte Arbeitsorientierung in allen Schulformen und -stufen ist dagegen notwendiger Bestandteil einer allseitig entwickelten Allgemeinbildung.Dies setzt allerdings einen veränderten Arbeitsbegriff voraus, einen, der wirklich alle Arbeit einbezieht, also neben der Erwerbsarbeit auch die Haus- und Erziehungsarbeit, unbezahlte Sozialarbeit und vielfältige Formen unbezahlter, selbstbestimmter Eigenarbeit. Ein auf die Produktion von Qualifikation reduziertes Bildungssystem hat mit Bildung nichts mehr gemein.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1779
Frau HillerichEine der Herausforderungen, denen Bildung und Bildungspolitik unbedingt begegnen müssen, ist bei den jüngsten Wahlen in Bremen und Bremerhaven durch den erschreckend hohen Stimmenanteil von neofaschistischen Gruppierungen deutlich geworden. Dies ist kein Problem nur von Randgruppen oder etwa eines, dem mit einem auf Institutionenkunde verkürzten Politikunterricht an den Schulen zu begegnen wäre. Das muß sehr viel umfassender geschehen. Auch in der Bildungspolitik müssen wir uns fragen, was Bildung nach Auschwitz ist. Ich möchte hierzu einige Sätze aus einem Aufsatz des Berliner Erziehungswissenschaftlers Professor Ulf Preuß-Lausitz zitieren. Er sagt:Auschwitz meint ... die Erfahrung, daß eine industrielle Gesellschaft mit einem hohen formalen Bildungsniveau industriellen Massenmord und systematische Ausgrenzung mehrerer Bevölkerungsgruppen aus dem Alltag organisiert und offenbar weitgehend gebilligt hat. Auschwitz, das Ausgrenzungs- und Existenzvernichtungsprojekt, ist von der technischen Elite direkt vorbereitet und durchgeführt worden. ... Klassischbürgerliche Bildung schützte offenkundig nicht vor Friedensfeindlichkeit, Ausgrenzungsbereitschaft und Vernichtungswillen.Preuß-Lausitz zufolge liegt das auch daran, daß sich bürgerliche Bildung nicht als gesellschaftlich eingreifend versteht, weil in ihrem Konzept die „Abspaltung der Handlungs- und Gesellschaftsebene und damit der Moral", der gesellschaftlichen Verantwortung, angelegt ist. Dies gilt ebenfalls für den heute noch verbreiteten bruchlosen Glauben an Fortschritt, technische Beherrschung und abstrakte Rationalität. Gerade in unserer Gesellschaft sind Bildung und Erziehung nach Auschwitz — ich zitiere noch einmal Preuß-Lausitz —daran zu binden, daß das Abweichende, das Besondere und das Fremde nicht als Bedrohung erlebt, sondern als Bereicherung erfahren wird.
Frau Abgeordnete, Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich komme zum Schluß.
„Erziehung nach Auschwitz hat aber auch den Zusammenhang von Rationalität und Inhumanität zu reflektieren. "
Weitere Herausforderungen, die unser Überleben und Miteinanderleben bedrohen und denen sich unser Bildungswesen stellen muß, finden Sie in unserem Antrag. Ich hoffe sehr, daß sich auch die anderen Fraktionen ihrer Aufnahme in den Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission nicht verschließen werden.
Nun müssen Sie zum Schluß kommen. Das war doch ein guter Schlußsatz.
Noch einen Satz. — Über eines muß sich die Enquete-Kommission allerdings klarwerden: Staatliches Handeln im Bildungswesen sollte nicht zu einer weiteren Verrechtlichung und Reglementierung führen. Vielmehr müssen die zahlreichen unterschiedlichen Kompetenzen entwirrt und entzerrt und Reglementierungen abgebaut werden, daß Raum und Luft, allerdings auch finanzielle Mittel für freie Initiativen bleiben, die Neues ausprobieren und Impulse geben können.
Ich danke Ihnen.
Das „kommen" in dem Begriff „Ich komme zum Schluß" muß immerhin eine ganz schöne Entfernung überwinden.
Jetzt hat der Abgeordnete Neuhausen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute vorliegende Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission reiht sich in die Bemühungen um eine Belebung neuer, breiter bildungspolitischen Diskussionen ein, wie sie von dem Bundesbildungsminister Möllemann schon in seiner Ansprache vor dem Bundestagsausschuß für Bildung und Wissenschaft im Mai dieses Jahres angeregt wurden. Das ist ausdrücklich zu begrüßen.Ihr Antrag knüpft — das meine ich sehr im Ernst und bitte zuzuhören — an die Ausführungen an, die sagen, daß der Stellenwert von Bildungs- und Wissenschaftspolitik im Kontext der Bundespolitik wieder deutlicher werden sollte und daß wir gemeinsam klarmachen müssen, welche Bedeutung beide Bereiche für die Aufgaben des Bundes haben und wie umgekehrt Maßnahmen des Bundes, die er in seiner eigenständigen Zuständigkeit trifft, auf Bildungs- und Wissenschaftspolitik der Länder zurückwirken. Denn nur beides entspricht dem Begriff des kooperativen Föderalismus.Nun möchte ich gleich zu Anfang an eine Berner-kung anknüpfen, die Klaus Daweke gemacht hat. Wir haben uns überhaupt nicht abgesprochen. Aber der Blick fällt auf die gleichen Textpassagen. Sosehr ich den Hinweis auf die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes unterstütze, so wenig förderlich erschiene es mir, neue Pendelschläge bei dieser Gelegenheit im Verhältnis Bund/Länder in Gang zu setzen, die immer dadurch gekennzeichnet sind, daß einmal dem Bund — überspitzt gesagt — jede Zuständigkeit für Bildung abgesprochen wird und dann wieder — wie sich aus einer vielleicht mißverständlich aufgefaßten Passage herauslesen ließe — nur noch vom Sachverstand der Länder die Rede ist und nicht mehr von ihrer Kulturhoheit. Ich meine, daß eine klare Berücksichtigung der Zuständigkeiten und Möglichkeiten dem Auftrag, dem sich diese Enquete-Kommission stellen will, nur förderlich sein könnte.Eine zweite Bemerkung. Die Bezeichnung „Bildung 2000" weist — sie ist wohl ernst gemeint — darauf hin, daß es sich um perspektivische Untersuchungen handeln soll. Der Antrag der SPD spricht — Herr Kuhlwein hat es eben wieder getan — von „langfristig wirksamen gesellschaftlichen Faktoren", von einer „vorausschauenden Bildungspolitik" . Das ist allgemein, aber richtig, und muß bedeuten, daß die Untersuchung der Enquete-Kommission natürlich unmittelbares Regierungs- und parlamentarisches Handeln nicht ersetzen kann, aber auch die Arbeit der koope-
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1780 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Neuhausenrativen Instrumente der Bildungspolitik nicht, der Kultusministerkonferenz, Bund-Länder-Kommission, Wissenschaftsrat — ich brauche nicht aufzuzählen, was hier schon gesagt ist. Sie darf auch nicht als Wartesaal für kurz- oder mittelfristig zu lösende Fragen dienen.Ich versage es mir, bereits jetzt und hier auf Einzelheiten des Textes einzugehen. Dazu wird in den Ausschußberatungen Zeit und Gelegenheit genug sein. Denn der Text enthält natürlich eine Reihe von Feststellungen — die ich jetzt einmal als Begründung nehme — , mit denen wir übereinstimmen. In manchen anderen Formulierungen ist praktisch das Untersuchungsergebnis schon wie vorweggenommen. Das gilt in besonderem Maße für den Text des Antrags der GRÜNEN.Wir haben das eben gehört: Eine ganze Reihe von Themen, die Sie angesprochen haben, gehört unmittelbar in den Bereich der Länderkompetenzen. Zwar wäre Herr Möllemann auch ein guter Länderkultusminister für Schulen. Aber das ist er nun einmal nicht.Meine Damen und Herren, wenn es sich bei der Enquete um eine wirklich fruchtbare Untersuchung handeln soll, die bei aller Unterschiedlichkeit der bekannten Standpunkte dem dient, was der Kollege Kuhlwein die Suche nach einem neuen Konsens genannt hat — wie ich gelesen habe — , dann sollten bereits die Feststellung und die Beschreibung der Aufgaben von der Offenheit geprägt sein, die dafür notwendig ist.Ich greife das Wort vom Konsens gerne auf. Daß damit nicht die Hoffnung auf das Wunder der bildungspolitischen Harmonie gemeint sein kann, weiß jeder. Klaus Daweke hat einige skeptische Bemerkungen dazu gemacht. Aber wenn ich das ernst nehme, geht es wohl um den Konsens der Ernsthaftigkeit des Bemühens. Da stimmen wir überein. Einen solchen Konsens hat es in der Bildungspolitik schon einmal gegeben, und wir sollten uns bemühen, daran anzuknüpfen. Wie schwer das sein wird, weiß jeder, der über einige Jahre Praxis verfügt.Aber, meine Damen und Herren, lieber Herr Kuhlwein, die Suche nach Konsens hat auch Voraussetzungen. Erlauben Sie mir dazu einige Randbemerkungen, die in den Zwischenbereich von Kultur, Politik und Bildung hineinführen.Wie der Presse zu entnehmen war, hat die SPDFraktion in der Sommerpause einen Schimpfwörterkatalog erarbeitet, dessen Inhalt der Öffentlichkeit in der Haltung eines „Vereins fleckenloser politischer Moralisten" vorgestellt wurde. Diese Haltung ist für eine Partei ja auch selbstverständlich, die sich kürzlich unter der Überschrift „Der Streit der Ideologien und gemeinsame Sicherheit" sogar mit der SED in einem bemerkenswerten Papier u. a. um, wie es darin heißt, „Grundregeln einer Kultur des politischen Streits" bemüht hat. Ob allerdings die dringend zu empfehlende Ergänzung des erwähnten Schimpf wörterkatalogs um sommerliche Sprachblüten aus denPresseverlautbarungen der Bildungspolitiker der SPD, wie „Schlunzerei",
„Flop", „geradezu wahnsinnig", „Fiasko", „große Klappe", „kabarettreif", „zynisch", „Schnellschüsse", „unfähig", „Scheitern", „ Politschwabbelei " — vorige Woche — , diesem hohen Anspruch gerecht wird, muß bezweifelt werden; denn in dem erwähnten Papier wird gefordert, daß Kritik von dem Versuch getragen sein sollte, sich zunächst in die Logik der anderen Seite hineinzudenken. Dann ist in diesem Papier davon die Rede — Herr Kuhlwein, hören Sie einen Augenblick zu —, daß, wer diesen Versuch unternehme, sich nicht in aggressiver Polemik erschöpfe.
Es läge für uns nun nahe, das einzufordern, was auch in diesem Streitkulturpapier steht. Da heißt es nämlich: „Niemand" — so sagt dieses Papier zu Recht — „darf für sich ein Recht der deutlichen Kritik und der polemischen Darstellung in Anspruch nehmen, ohne es dem Kritisierten in gleichem Maße zuzubilligen". Aber ich sage das sozusagen als einseitige Vorleistung. Wo kämen wir denn angesichts der zitierten Beispiele hin?
Einen weiteren Beitrag haben Sie auch in der Sommerpause — offenbar in Ermangelung schöner sommerlicher Vergnügungen — geleistet, als Sie von einem „phantastischen Feuerwerk von Rohrkrepierern" sprachen. Das geht ja schon in militärische Bereiche, und man muß sich das mal konkret und bildhaft vorstellen. Wir haben keinen Ehrgeiz, hier nachzurüsten und mit gleichem Kaliber zurückzuschießen.
Meine Damen und Herren, Herr Kuhlwein, im Ernst: Mit der Bezeichnung „Bildung 2000" wird ein großer Anspruch erhoben. Er zielt auf die Zukunft vieler junger Menschen, auf ihr Hineinwachsen in eine sich ständig verändernde Welt. Bildung ist gerade der Politikbereich, in dem sich die Generationen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in besonderem Maße und mit weitreichenden Konsequenzen für viele individuelle Schicksale und unsere ganze Gesellschaft begegnen. Vielleicht gelingt es uns ja, bei der Arbeit der Enquete-Kommission einen Beitrag zur Widerlegung des alten Vorurteils zu leisten, das schon Joseph von Eichendorff in seinem Roman „Dichter und ihre Gesellen" zum Ausdruck brachte. Er läßt da Fortunat zu Walter sagen:Ich habe schon oft nachgedacht über den Grund dieser zärtlichen Liebe so vieler zum Staatsdienste. Hunger ist es nicht immer, noch seltener Durst nach Nützlichkeit. Ich fürchte, es ist bei den meisten der Reiz der Bequemlichkeit, ohne Ideen und sonderliche Anstrengungen gewaltig und mit großem Spektakel zu arbeiten.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1781
NeuhausenMeine Damen und Herren, die Enquete-Kommission darf — da sind wir uns sicher alle einig — kein großes Spektakel in diesem Sinne werden. Entgehen wir dieser Versuchung, dann hat sie die Chance, vielleicht die große Chance, einen wichtigen Beitrag zu der neuen Aufbruchstimmung für Bildung und Wissenschaft zu leisten, die wir gemeinsam stärken und nutzen sollten.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge auf Einsetzung der Enquete-Kommissionen an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Ausbildungsfinanzierung in Familien mit mittlerem Einkommen
— Drucksache 11/610 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Graf Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem wir je zehn Minuten hauptsächlich über Kompetenzen der Länder im Bildungswesen gesprochen haben, kommen wir nun, wenn auch nur je fünf Minuten, zu einer Kompetenz, die den Bund betrifft.
Am 15. Mai vorigen Jahres forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, einen Bericht über die Ausbildungsfinanzierung in Mehr-KinderFamilien mit mittleren Einkommen vorzulegen. Der Bericht liegt nunmehr vor.
Er bestätigt erstens, daß sich das Problem der Chancengerechtigkeit tatsächlich, wie in genannter Entschließung geargwöhnt, verschoben hat. Bei Einkommen, die knapp über den Grenzen liegen, bei denen der Staat helfend eingreift, z. B. mit Wohngeld oder zinslosem BAföG, muß die Ausbildungsfinanzierung aus versteuertem Einkommen erfolgen. Das führt insbesondere bei Mehr-Kinder-Familien dazu, daß die Lebenshaltung von Studentinnen und Studenten kaum oder nur unter fast unzumutbarer Absenkung des Lebensstandards finanziert werden kann.
Der Bericht konstatiert zweitens die Unterschiedlichkeit von Altersgrenzen im öffentlichen Recht und im Unterhaltsrecht, empfiehlt aber keine Harmonisierung, da den Staate die den Familien aufgebürdete Verantwortung zu teuer käme.
Sodann wird drittens und viertens referiert, welche direkten Transferleistungen und steuerlichen Maßnahmen dem genannten Mißstand entgegenzuwirken imstande wären. Ergebnis: entweder ordnungspolitische Problematik — mit Sozialleistungen in so hohe Einkommensbereiche zu gehen — , oder Unfinanzierbarkeit, z. B. bei entsprechender Anhebung der BAföG-Freibeträge.
So bleiben nur neue Finanzierungsmodelle: Ansparförderung, kollektives Bildungssparen, Ausbildungsdarlehen oder ein modifiziertes Bildungskreditmodell.
Diese Modelle werden nun in die Ausschußberatungen gehen. Dabei sollen folgende Forderungen vorrangig sein:
Erstens: rasche Durchführbarkeit. Das Modell sollte wegen der Wichtigkeit der Chancengerechtigkeit in einem sozialen Rechtsstaat so rasch wie möglich realisierbar sein.
Zweitens: Finanzierbarkeit. Das beste Modell taugt nichts, wenn es, weil zu teuer, nicht durchgeführt werden kann.
Auch ein verzinsliches Darlehen mit festen Konditionen und sozialen Sicherungen, etwa durch die Ausgleichsbank, würde bei sehr niedrigen Kosten Wege öffnen, die sonst verschlossen blieben.
Drittens: Beweglichkeit. Es gibt Familien, in denen die Kinder ebenso bereit wären, selbst für ihr Studiendarlehen geradezustehen, wie ihre Kommilitonen, die gefördert werden, und andere Familien, in denen die Eltern die Rückzahlungshaftung alleine tragen möchten. Man sollte daraus keine zu komplizierten Prinzipienfragen machen.
„Bildung 2000" war unser letzter Beratungspunkt. Zu diesen Perspektiven gehört auch der vielfache Wert selbstverantworteter Bildungsinvestitionen: zur Persönlichkeitsentfaltung, für Einkommen und Beruf sowie zur Freizeitgestaltung. Lebenslanges Lernen wird Wirklichkeit. Aber, anders als früher gedacht, weder der Vater noch Vater Staat können das alles finanzieren. Bildung rückt in die Dimension persönlicher Lebensplanung. Das Bildungskreditmodell kann ein Weg sein, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sinnvoll zusammenzuführen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es zumindest ungewöhnlich, daß der Minister seinen eigenen Bericht nicht vorstellt.
In diesem Fall kann ich es verstehen. Als nämlich derBildungsminister für die Vorlage des Berichts um
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1782 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau OdendahlFristverlängerung bat, haben wir sie eingeräumt in der Hoffnung „Gut Ding will Weile haben". Die Weile wurde vertan; denn was uns dann auf mehr als 100 Seiten auf den Tisch kam, ist mehr als enttäuschend.Seine Aufgabe, einen Lösungsvorschlag vorzulegen, erfüllt der Bildungsminister nicht. Er läßt die betroffenen Familie mit kleineren bis mittleren Einkommen in dem allseits bedauerten Mittelstandsloch stecken und regt dann als Ersatz eine Diskussion über die Vor- und Nachteile der im Bericht dargestellten Finanzierungsmöglichkeiten an. Es mag für Sie anregend sein, Herr Minister Möllemann, für den Finanzminister vor allem billig, aber für die Studenten und die Studentinnen und ihre Familien ist das gar nichts als ein billiger Trost.Eines hat Ihr Bericht wieder einmal deutlich gemacht: Es gibt keine Alternativen zur Wiederherstellung des BAföG. Nur eine angemessene Ausbildungsförderung durch BAföG kann die soziale Chancengleichheit im Bildungssystem gewährleisten und sicherstellen, daß Bildungsentscheidungen nicht von der Finanzkraft der Eltern abhängen.Es ist ja schön, Graf Waldburg, wenn man solche Finanzplanungen überhaupt anstellen kann, weil man das im Kreuz hat, was man dazu braucht. Aber da, wo es fehlt, sind wir wirklich gefordert.
Ihr Kahlschlag beim Schüler-BAföG und die Umstellung der Studentenförderung auf Volldarlehen in Verbindung mit der unzureichenden Anpassung der Freibeträge haben dazu geführt, daß inzwischen die Gefördertenquote von fast 40 % auf weit unter 25 gesunken ist. Selbst an der Uni Bochum, die von überdurchschnittlich vielen Arbeitnehmerkindern besucht wird, erhalten nur noch 17 % aller Studenten BAföGLeistungen.Obwohl sich diese skandalöse Entwicklung schon im Mai 1986 bei der Verabschiedung der 10. BAföGNovelle abzeichnete, haben Sie von der Regierungskoalition die notwendigen Konsequenzen durch Erhöhung der Elternfreibeträge nicht gezogen, sondern die Bundesregierung um den Bericht gebeten, wie das sogenannte Mittelstandsloch in der Ausbildungsförderung beseitigt werden kann. Betroffen vom Rückgang der Gefördertenquote sind nämlich insbesondere Familien mit mittleren Jahreseinkommen — vom Facharbeiter aufwärts — , die mehrere Kinder in der Ausbildung haben und deren Verdienst knapp über den BAföG-Bemessungsgrenzen liegt. Für diese Familien ist ein Studium der Kinder oft nicht mehr finanzierbar, ganz abgesehen von den Fachschülern, die Sie schon lange abgeschrieben haben.
Nun kann man dem Bericht eine exakte Analyse nicht absprechen. Allerdings ist das, was dem Bildungsminister nun an Lösungsmodellen für die rund 300 000 betroffenen Studentinnen und Studenten eingefallen ist, für die SPD-Fraktion völlig unakzeptabel, für die Eltern zum Teil abenteuerlich. Die erörterten Bildungssparmodelle oder die Modelle, mit denen dasStudium über Ausbildungsdarlehen finanziert werden soll, laufen darauf hinaus, daß entweder die Eltern das Studium ihrer Kinder über einen langen Zeitraum ansparen und auf der Basis der so angesparten Summe und zusätzlich aufgenommener verzinsbarer Kredite das Studium finanzieren, oder daß das Studium zur Gänze durch Kredite mit staatlich garantierten Zinsobergenzen und entsprechenden Bürgschaften finanziert wird. Familien mit mehreren Kindern werden die monatlichen Raten erst gar nicht aufbringen können, ganz abgesehen von denen, denen das Problem jetzt unter den Nägeln brennt, Herr Möllemann, und die die Zeit zum Ansparen gar nicht mehr haben.Wir haben bei den Beratungen über die 10. BAföGNovelle im vorigen Jahr den einzigen seriösen Vorschlag eingebracht: einen konkreten Stufenplan, mit dem innerhalb der nächsten sechs Jahre bei den anstehenden BAföG-Änderungsgesetzen die Bedarfssätze und Freibeträge so erhöht werden sollen, daß die BAföG-Förderung wieder den Lebenshaltungskosten entspricht und die Gefördertenquote wieder auf 40% steigen kann. Sie können mit Ihren Vorschlägen weder den Rückgang der Geförderten-Quote stoppen noch das Mittelstandsloch stopfen, auch nicht mit den jetzt eilends herbeigeschafften Vorschlägen für die 11. BAföG-Novelle; das reicht nicht aus.
— Das ist gar kein anderes Thema. Das gehört dazu, weil Sie die Antwort schuldig bleiben.Der Haushaltsplan 1988 spricht eine deutliche Sprache. Da sieht man ganz klar: Die BAföG-Ausgaben gehen weiter zurück, egal, was kommt, und zwar trotz der Erhöhung, die Sie eingeplant haben. Ihre Evaluierungskommission hat, nachdem Sie schon sagten, vor 1989 könne da nichts rauskommen, bei uns den Verdacht erweckt, daß es sich um eine Nebelkerze handelt, mit der Sie von den wirklichen Problemen ablenken wollen.
In der Abfolge der Redner ist nun Herr Neuhausen an der Reihe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich bei dem Herrn Bundesbildungsminister, daß er hier dem Parlament den Vortritt gibt.
Wir sprechen ja immer über das Selbstverständnis der Parlamentarier. Hier ist ein gutes Beispiel.
Denn, Herr Kuhlwein, tun wir doch bitte nicht so, als wüßten wir nicht, was über den Bericht gesprochen werden wird und was in den Manuskripten — sonst gäbe es sie ja nicht — steht. Das ist ja nicht wahr.Diese Kritik fügt sich ja sowieso nahtlos an das an, was Sie, Frau Odendahl, jetzt und was Sie schon vorweg zu diesem Bericht gesagt haben. Sie haben näm-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1783
Neuhausenlich gesagt: Das ist eine Finanzierungsgemeinschaft statt BAföG. Sie haben damit einen Beitrag geleistet, Verunsicherung durch Verwischung und Vermischung völlig verschiedener Themenbereiche und Begriffe zu erzielen.
Deswegen möchte ich also zur Klarstellung aus dem Bericht kurz zitieren. Es heißt dort:Die Bundesregierung sieht in der Ausbildungsförderung unverändert eine Sozialleistung, die von ganz entscheidender Bedeutung für die von ihr gewollte soziale Öffnung und Offenhaltung des Bildungswesens, insbesondere der Hochschulen, war und ist.Dies ist ein Satz, der jede Vermischung verbietet. Es wäre im Interesse der Diskussion wirklich nützlich, das künftig nicht dauernd zu versuchen. Denn genau das, was im Sinne dieses Vorhabens ist, nämlich die Einbringung der 11. Novelle, der Kabinettsbeschluß, ist vor einigen Tagen geschehen. Es werden, wie in den letzten Jahren regelmäßig, die Bedarfssätze angehoben, und zwar zum Herbst 1988. Es werden die Freibeträge und verschiedene Pauschalen angehoben. Ich fand es schon merkwürdig, als ich in einer Pressemeldung der geschätzten Kollegin gestern die Klage las: Es wird den Studenten erst noch klarwerden, daß das alles erst 1988 geschieht. Ja, als wenn wir das nie so regelmäßig getan hätten und als ob es nicht die 10. Novelle gäbe, in der wir Verbesserungen für 1986 und 1987 beschlossen haben.
Meine Damen und Herren, wir müssen hier doch ein bißchen konkret bleiben.Wir haben, meine Damen und Herren, in diesem Bericht eine sehr gründliche Analyse — Frau Odendahl hat das anerkannt — eines bestimmten Problembereichs, nämlich von Menschen, von Familien mit Kindern mit sogenanntem mittleren Einkommen. Dabei muß man sich natürlich immer darüber im klaren sein, daß das hier mit einem Jahresbruttoeinkommen von 53 000 DM bei einem Kind beginnt und sich bis in höhere Stufen fortsetzt. Und es ist gar nicht zu verkennen, daß hier Probleme auftauchen, die wir ganz ernsthaft in Angriff nehmen müssen.Meine Damen und Herren, ich finde es aber nicht gut, wenn man dann verschiedene Modelle von vornherein als absolut unmöglich verwirft, wenn die Bundesregierung ihrerseits die Situation völlig offenhält und keines dieser einzelnen Modelle konkret vorschlägt, sondern — im Gegenteil — zur Diskussion dieser Punkte aufruft.
— Meine Damen und Herren, ich halte mich an den gedruckten Text; da können Sie das alles nachlesen. Ich bin ein gläubiger Mensch und mache daraus kein Hehl.Meine Damen und Herren, zu den im Bericht vorgestellten konkreten, neuen Finanzierungsmodellen kann man ja dieses und jenes sagen, aber eines verdienen sie: daß man sie ernsthaft diskutiert, sie also von der Regierung nicht nur vorlegen läßt und dann sagt: Das ist gut oder nicht gut. Vielmehr gilt es, diese Modelle eigenständig zu diskutieren, zu beraten und die verschiedenen Möglichkeiten zu erörtern. Denn eines ist ganz klar — und ich bitte Sie, das doch wirklich zur Kenntnis zu nehmen — : Es handelt sich hier um zusätzliche Angebote zum BAföG, nicht um den Versuch, BAföG auszuhebeln — um zusätzliche Angebote! Ich wundere mich, daß die Bereitschaft der Regierung und der sie tragenden Fraktionen, eine breite Diskussion auf diesem Gebiet zu eröffnen, nicht mehr Würdigung findet, als das bei Ihnen der Fall ist. Hier geht es um einen Bereich an der Nahtstelle, wo sich ja jedem ernsthaften Politiker die Frage stellen muß: Wo endet der Bereich staatlicher Hilfe, und wo beginnt die Eigenverantwortung, die Eigenleistung?
Wir können das nicht ausschließen. Hier müssen wir doch mit aller Offenheit und aller Seriosität in der Lage sein, Modelle zu diskutieren, ohne sie von vornherein dogmatisch abzulehnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wetzel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Neuhausen, ich wollte das zwar eigentlich nicht, aber Ihre Darstellung dessen, was da Mittelstandsbericht der Bundesregierung heißt, ist ja nun so nicht zu akzeptieren. Der Bundestag hatte letztes Jahr den Auftrag erteilt, die Bundesregierung möge das Problem dieses sogenannten Mittelstandslochs untersuchen, Modelle entwickeln, dazu die Kosten nennen und Vorschläge machen. Weder die Kosten der verschiedenen Modelle sind benannt, noch hat sich die Bundesregierung, das Bundeskabinett für irgendeine Wertung dieser Modelle entscheiden können. Das heißt: Der Auftrag, dieses Problem zu lösen, ist wieder einmal auf der Strecke geblieben. Die Bundesregierung meldet Entscheidungsunfähigkeit an.Meine Damen und Herren, ich will auf diesen Punkt nicht weiter eingehen. Fünf Minuten Redezeit sind angesichts eines solchen Problems lächerlich wenig, eine Zumutung. Ich will mich daher knapp fassen und auf das Entscheidende kommen.Sowohl der sogenannte Mittelstandsbericht als auch der soeben im Kabinett beratene 7. BAföG-Bericht machen deutlich — und das ist die entscheidende Einsicht, von der alle anderen Maßnahmen abzuleiten wären — , daß heute mehr denn je der Geldbeutel der Eltern darüber entscheidet, ob junge Menschen — bei gleicher Neigung, bei gleicher Eignung, bei gleicher Leistung! — studieren dürfen oder nicht.
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1784 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
WetzelAuch die für Herbst 1988 geplanten geringfügigen Verbesserungen des BAföG kehren die von dieser Regierung eingeschlagene Entwicklungsrichtung nicht um. Der soziale Rechtsstaat, von dem der Nestor der katholischen Soziallehre, Nell-Breuning, sagte, er sei verpflichtet, durch die Gewährung von Ausbildungsförderung die berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen herzustellen, wird schrittweise abgebaut. Belegt wird dies am schärfsten durch die Tatsache, daß von 1971 bis heute der Anteil der geförderten Studenten etwa um die Hälfte gesunken ist.
Diese Bundesregierung hat das BAföG auf eine reine Darlehensförderung umgestellt. Zusammen mit unsicheren Berufsaussichten bewirkt das eine Verschuldungsangst, die Kinder aus den niedrigeren Einkommensschichten immer mehr vor einem Studium zurückschrecken läßt — das läßt sich auch statistisch belegen — , und diese Angst ist durchaus berechtigt. Machen Sie sich einmal klar, was es heißt, daß diejenigen aus der künftigen Generation von Hochschulabsolventen, die nicht das Glück hatten, in eine reiche Familie hineingeboren worden zu sein, bereits heute mit mindestens 10 Milliarden DM verschuldet sind. Machen Sie sich das bitte klar, und machen Sie sich mit uns zusammen Gedanken darüber, ob wir dieses System einer reinen Darlehensförderung nicht dringend im Sinne eines sozialen Rechtsstaats ändern müssen.
— Über derartige Probleme können wir verhandeln, wenn Sie erst einmal anerkennen, daß eine Darlehensförderung eine Regelung ist, die von vornherein materielle Bildungsprivilegien errichtet bzw. verstärkt, weil sich andere, z. B. Kinder aus ärmeren Familien, in vergleichbaren Situationen nicht in gleicher Weise verhalten können.Herr Präsident, sehe ich das recht, daß das eine Zwischenfrage war und daß meine Antwort nicht auf die Zeit angerechnet wird?
Sie sehen das nicht recht.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe in meiner ersten Rede einen großen Fehler gemacht: Ich dachte, mir würden die Zwischenfragen auf mein Zeitkontingent angerechnet, und das war falsch.
Herr Wetzel, Sie sehen es nicht recht, aber Sie haben hier oben einen großzügigen Präsidenten sitzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Da bin ich aber sehr dankbar.
Meine Damen und Herren, die Zeit reicht nicht, alle Probleme zu beschreiben, z. B. die Folgen einer Darlehenshöhe, die nicht einmal für einen kärglichen Lebensunterhalt ausreicht. Das hat eine Fülle von Konsequenzen für Studiendauer, Intensität des Studiums, Qualität des Studienabschlusses und dergleichen. Auf alles das kann ich jetzt nicht eingehen.
Statt dessen möchte ich wenigstens andeuten, nach welchen Zielvorstellungen wir GRÜNEN mit Ihnen die künftige Debatte führen wollen und wie wir die Ausbildungsförderung im Sinne der Herstellung eines sozialen Rechtsstaats verändert wissen wollen. Zunächst einmal geht es damm, das Förderungssystem an den tatsächlichen Unterhaltsbedarf anzupassen. Ich nenne einige wenige Maßnahmen.
Erstens. Kindern aus Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen muß die Aufnahme in die Förderung erleichtert werden.
Zweitens. Aus bildungs- und zugleich sozialpolitischen Gründen brauchen wir die Wiedereinführung eines vorrangig vom Bund zu tragenden SchülerBAföG.
Dafür gibt es eine harte Serie von Begründungen — auch bildungspolitischer Art — , die mit der Zukunft einer demokratischen Industriegesellschaft zusammenhängen.
Drittens. Die Förderungshöchstdauer muß an die realen, wesentlich von unzureichenden Studienbedingungen verursachten Studienzeiten angepaßt werden. Wir können bei der Definition der Förderungsdauer nicht so tun, als sei an den Universitäten und Fachhochschulen alles picobello, was das Lehrangebot anbetrifft.
Die zweite wesentliche Zielvorstellung für eine strukturelle Veränderung der heutigen Ausbildungsförderung besteht für uns darin, daß der sozialpolitisch unerträgliche Zustand der Diskriminierung niedriger Einkommensschichten beseitigt werden muß. Es geht nicht an, für Kinder aus ärmeren Familien die materiellen Bildungsschranken fortbestehen zu lassen. Daher muß BAföG mittelfristig auf eine Zuschußförderung umgestellt werden. Schließlich: Die Höhe der Zuschüsse muß so bemessen sein, daß daraus ein normaler Lebensunterhalt zu finanzieren ist. — Ich sehe, daß die rote Lampe blinkt.
Die Großzügigkeit hat schon stattgefunden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich formuliere einen Schlußsatz. Wir bitten darum, daß wir uns im Ausschuß und vielleicht auch mit dem Minister darüber einigen können, daß wenigstens die Rückflüsse aus der Darlehensförderung und die nicht ausgeschöpften Mittel in Höhe von insgesamt 550 Millionen DM im Rahmen eines Sofortprogramms zur Verbesserung des BAföG eingesetzt werden.Danke schön.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1785
Das Wort hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Odendahl hat kritisiert, daß ich nicht zu Beginn der Debatte gesprochen habe. Sie haben den Bericht, über den wir hier diskutieren, schriftlich zugeleitet bekommen, und es ist zweckmäßig, daß ich mir zunächst Ihre Meinung dazu anhöre und dann etwas dazu sage. Aber wie man es macht, ist es verkehrt. Sonst höre ich oft genug, die Regierungsmitglieder sollten nicht dauernd am Anfang reden, sondern sie sollten dem Parlament den Vortritt lassen. Das ist aber, glaube ich, nicht der Punkt.
Ich möchte mich jetzt auch nicht über die zukünftige Struktur des Bundesausbildungsförderungsgesetzes und mögliche Veränderungen desselben äußern, denn das ist nicht das Thema; ich möchte mich vielmehr zu diesem Bericht äußern.
Der Bericht behandelt diejenigen Studierenden, deren Eltern über ein so hohes Einkommen verfügen, daß sie kein BAföG mehr bekommen. Damit wir wissen, worüber wir reden, nenne ich jetzt die Zahlen. Das sind Familien mit einem Kind, die ein Einkommen von mehr als 53 000 DM haben, und Familien mit vier Kindern, die ein Einkommen von mehr als 94 000 DM haben; nur damit wir wissen, worüber wir reden, weil Sie von den kleinen Einkommen sprechen. Ich würde bei einem Einkommen von 53 000 DM einer Familie mit einem Kind und bei einem Einkommen von 94 000 DM einer Familie mit vier Kindern
— auch brutto — wirklich nicht den Begriff „kleines Einkommen" verwenden.
Ein Zweites. Bis vor einiger Zeit habe ich noch Beiträge — bis hin zu dem der Kollegin von Wieczorek-Zeul — des Inhalts gehört: Mehr als 5 000 DM darf ein Mensch bei uns gar nicht verdienen.
Es geht hier um Leute, die 8 000 DM im Monat verdienen, und dann reden Sie von kleinen Einkommen. Ich will hier nur klare Grundlagen schaffen, über die wir reden. Das ist das erste, was geklärt werden muß.
Dann haben wir gesagt: Wie können wir diesen Familien mit einem solchen Bruttoeinkommen, für die es — gerade wenn sie mehrere Kinder in der Ausbildung haben — trotzdem eine Schwierigkeit darstellt, wenn auf einen Schlag Beträge von bis zu 823 DM pro Kopf und Monat, die theoretisch auch rechtlich eingefordert werden können, fällig werden, dabei helfen, das zu finanzieren?
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Präsident, da die Zeit sehr knapp ist, würde ich gern im Zusammenhang reden. Ich möchte auch lieber debattieren, aber dann müßten wir uns beim nächstenmal im Altestenrat vielleicht darauf verständigen, daß wir für unseren Bereich mehr Zeit durchboxen.
Hier sitzen mehrere wichtige Mitglieder von Fraktionsvorständen, die das mit herbeiführen können.Wir haben gesagt: Diesen Eltern muß — und zwar durch Modelle wie die, die ich Ihnen vorgelegt habe - geholfen werden, die Kosten in einer Weise zu finanzieren, die auch zumutbar ist. Es kann sein, daß das nicht ausreicht. Aber ich will auch kein Hehl daraus machen, warum ich einen bestimmten Satz im Auftrag des Bundestages zugegebenermaßen relativ großzügig interpretiert habe. Wenn es hier heißt, ich solle analysieren und Lösungsvorschläge präsentieren, dann könnte man ja auch meinen, das hieße: einen einzigen Lösungsvorschlag, der dann auch sofort in die Tat umgesetzt werden soll. Ich habe das auch deswegen nicht getan, weil natürlich auch diese Modelle den Staat Geld kosten werden. Es ist nicht zu definieren, wieviel, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen solche Modelle in Anspruch nehmen würden. Wenn wir also etwa sagen: Es wird eine Ausfallgarantie des Staates geben, oder es wird eine Garantie des Staates im Blick auf eine nicht zu überschreitende Höchstgrenze bei den Zinsen geben, dann kann ich nicht definieren, wieviel das kosten wird, weil ich a) nicht weiß, wie hoch in zehn Jahren die Zinslast sein wird, sprich: wieviel der Differenzbetrag ausmachen wird, den ich zu finanzieren hätte, und weil ich b) nicht weiß, wie viele Eltern auf ein solches Angebot zurückgreifen werden. Das liegt auf der Hand. Aber es würde Geld kosten.Wenn nun diese Koalition zwecks weiterer Konsolidierung der Staatsfinanzen — das ist bei den Zahlen, die Sie ja kennen, wahrlich schon schwer genug — sagt: Wir beschließen in den ersten zwei Jahren keine kostenwirksamen neuen Leistungsgesetze, dann kann ich als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft — es sei denn, ich wollte die Kabinettsdisziplin verletzen — nicht hingehen und sagen: Ja, aber nicht bei meinem Bereich. — Sonst würde ich jetzt schon ein Gesetz vorschlagen, das uns viel Geld kostet. Das ist der zweite Punkt, den ich erwähnen wollte.Der dritte Punkt: Sie haben hier — was mich nicht überrascht — den Kabinettsbeschluß zum Thema BAföG mit einbezogen. Ich würde darüber mit Ihnen gern in etwas umfangreicherer Form diskutieren, will hier aber noch einmal deutlich sagen, was ich auch bei der Vorstellung dieses Berichts gesagt habe: Es geht hier um die Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht — ich habe einen Bericht erstatten und die notwendige Anpassung vornehmen müssen — , aber nicht darum, eine Strukturreform der Ausbildungsförderung in Gang zu setzen. Diesen Anspruch erheben wir nicht. Dazu habe ich den Beirat für Ausbildungsförderungsfragen einberufen, und darin wirken — entgegen Behauptungen, die ich heute gelesen habe — sehr wohl die Gewerkschaften, die Studenten und andere mit. Ich habe sie gebeten, mir einen analytisch bewerteten
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1786 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Bundesminister MöllemannVorschlag zur Verbesserung des jetzigen Systems der individuellen Ausbildungsförderung zu machen. Mit entsprechenden Vorschlägen kann ich ins Kabinett und zu Ihnen ins Parlament erst nach Ablauf dieser Zweijahresfrist kommen — da bin ich gebunden —, aber ich habe mir vorgenommen, das dann auch zu tun, und bin gern bereit, dann mit Ihnen die Aussprache zu führen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Berichts zur Ausbildungsfinanzierung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir haben vereinbart, daß wir die Tagesordnungspunkte ohne Debatte und die eine Abstimmung, die dabei erforderlich ist, auf den Nachmittag — nach der Fragestunde — verlegen. Wir beginnen damit also nach der Fragestunde. Ich wäre dankbar, wenn das beachtet würde.
Wir treten nun in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Die Sitzung ist wieder eröffnet. Ich möchte dem Hohen Hause zunächst einmal bekanntgeben, daß der Ältestenrat eben in seiner Sitzung beschlossen hat, daß direkt nach Beendigung der Fragestunde die normale Tagesordnung weiter abgehandelt wird.
Die Fraktionen sind unterrichtet, und ich hoffe, daß das Haus dann so besetzt ist, daß wir keine allzu großen Schwierigkeiten haben, die Tagesordnung abzuwickeln.
Wir treten ein in die
Fragestunde
— Drucksache 11/781 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Bundesminister Möllemann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Wetzel auf :
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die plakative Verwendung der Farben blau und gelb auf einem Info des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft ursächlich zusammenhängt mit den Farben, die die Partei, der der zuständige Minister angehört, regelmäßig verwendet, wenn sie für sich wirbt?
Herr Abgeordneter, würden Sie sich bitte entsprechend den Gepflogenheiten des Hauses verhalten.
Herr Bundesminister!
Nein.
Die Antwort des Herrn Bundesministers heißt nein. Sie haben die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich fragen, Herr Minister, ob bei dem offiziellen Mitteilungsorgan Ihres Hauses — für diejenigen, die es noch nicht kennen, beschreibe ich, wie es aussieht — die Farben die gelbe Sonne über der blauen Ruhr bedeuten sollen, oder warum ist Ihr ästhetischer Gestaltungswille ausdrücklich auf gelb-blau gekommen?Möllemann, Bundesminister: Das ist eine sehr grundsätzliche Frage, der ich mich aber gerne etwas ausführlicher widmen will.Ich habe mir — das ist aus der Sicht des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, wie ich glaube, verständlich — zunächst einmal, als ich mit der Frage konfrontiert war, wie wir unsere Informationsmedien gestalten, z. B. Informationen aus der Publikation von Stadler, Seeger und Raeithel ,, Psychologie der Wahrnehmung" verschafft und dabei festgestellt, daß Goethe in seiner Farbenlehre folgendes sagte: Er ging von dem hellen Gelb und dem dunklen Blau aus und sah in diesen beiden Farben eine Grundpolarität. Grün war auf Grund seiner Kenntnisse der subtraktiven Farbmischung der Pigmentfarben für ihn nur ein Ergebnis der Mischung aus Gelb und Blau.
Rot dagegen sei eine Verdichtung des Gelb, so wie etwa die zunächst gelbe Abendsonne dann, wenn sie tiefer steht, d. h. dichtere Luftschichten durchdringen muß, rot erscheint.Goethes Bevorzugung von Gelb und Blau als Primärfarben in seinem Farbordnungssystem gegenüber Rot und Grün als abgeleiteten Farben wurde auf Grund von neueren empirischen Untersuchungen, nämlich von Hofstätter/Lübbert, hypothetisch damit zu erklären versucht, daß Goethe einen sehr viel stärkeren Gelbeindruck als Farbnormalsichtige gehabt haben muß, was die Vermutung nahelegt, daß Goethe eine Farbsinnstörung im Grünbereich gehabt haben könnte.Diese Frage mußte natürlich geklärt werden, bevor ich zu Entscheidungen kommen konnte. Deswegen habe ich nachgesehen, welche Farbstörungsabläufe es geben kann, und fand dazu in Meyers Konservationslexikon, Leipzig/Wien 1894, zunächst die Blaugelbblindheit — das bedeutet, das Spektrum besteht nur aus Rot und Grün, seine blauviolette Seite ist stark verkürzt — , aber merkwürdigerweise auch die Rotgrünblindheit. Ich habe mir gesagt, das kann am Ende nicht die Entscheidung bestimmen, und habe mich dann an Blieshaimer, dem bekannten Popper-Schüler orientiert, der den beiden Farben folgende Zuordnung gibt: Gelb — das ist Beweglichkeit, Streben nach Veränderung, Erlösung und Befreiung, Intuition, Logos und Glaube; Blau — das ist Intellektualität, Wahrheit, Gemüt, Geborgenheit, Treue.Das waren die wahren Gründe, keine anderen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1787
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, ich bin froh, daß es in Ihrem Hause Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter gibt, die wenigstens über minimale Literaturkenntnisse verfügen. Aber meine Frage zielte nicht auf das Abrufen derartiger Kenntnisse, sondern die Frage hat einen etwas ernsteren Hintergrund. Aus den Fragen haben Sie entnommen, daß ich den Verdacht hege, daß Sie im Widerspruch zu den vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Grenzen eine Parteiwerbung unter mißbräuchlicher Nutzung der Ihnen als Minister zu Gebote stehenden Möglichkeiten betreiben.
Deswegen möchte ich eine klare Antwort haben, ob Sie einen Zusammenhang zwischen der Verwendung der Farben Gelb und Blau und der Farben der von Ihnen vertretenen Partei sehen.
Möllemann, Bundesminister: Herr Kollege, zunächst werde ich gern Ihr eingeschränktes Kompliment an meine Mitarbeiter weitergeben. Sie verdienen übrigens durchaus uneingeschränkte Komplimente, was ihre Literaturkenntnisse angeht.
Ich habe ganz bewußt Ihre erste Frage mit Nein beantwortet. Das ist die Auffassung, die ich habe.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.
Herr Minister, wie hoch ist denn der Wert der noch im Ministerium lagernden früheren Kopfbögen? Verträgt es sich mit den Grundsätzen der Sparsamkeit, von heute auf morgen einen neuen Kopfbogen einzuführen, wenn noch soviel Material auf Lager liegt?
Möllemann, Bundesminister: Ich kann Ihnen im Moment die Blattzahl nicht nennen. Meine Mitarbeiter haben dort nicht nachgezählt. Deswegen kann ich hier auch nicht den genauen Wert sagen.
Nachdem nach Übernahme des Ressorts durch mich eine generelle Überprüfung der Wirksamkeit unserer Publikationen veranlaßt worden war, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß die Farbkombination, die seither galt — nämlich schwarz-weiß-rot — , vielleicht nicht ganz zeitgemäß sei und daß die Farbkombination weiß-blau-gelb von farbpsychologischer Seite her tatsächlich einen höheren Aufmerksamkeitswert haben würde.
Mir scheint das auch angesichts der versammelten Bemühungen, die das Haus jetzt hier unternimmt, das stärker ins Bewußtsein zu bringen, durchaus von Erfolg gekrönt zu sein.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Odendahl, bitte sehr.
Herr Minister, stimmt es, daß eine Münsteraner Werbeagentur dieses Deckblatt gestaltet hat?
Möllemann, Bundesminister: Wir haben uns eine Vielzahl von Entwürfen mit unterschiedlichsten Farben angeschaut. Ich habe mich um die Details, wie Sie sich denken können, nicht so sehr gekümmert, sondern nur die Farben vorgegeben.
Zusatzfrage des Abgeordneten Rose.
Herr Minister, sind Sie mit mir der Meinung, daß es nicht so sehr auf die Farben, sondern auf den Inhalt der Politik ankommt und deshalb Sie und Ihr Haus die Farben Blau und Gelb genauso beflügeln sollten wie mich z. B. die Farben Weiß und Blau?
Möllemann, Bundesminister: Das ist auch deswegen, Herr Kollege Rose, sehr verständlich, weil beispielsweise in einer frühen Phase des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft das Publikationsorgan des Bundesministeriums unter Minister Leussink die Farben Weiß und Blau verwendet hat.
Ich rufe nunmehr die Frage 40 des Abgeordneten Wetzel auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die indirekte Werbung für die FDP in einem offiziellen Info des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft im Hinblick auf die juristischen Grenzen, die das Bundesverfassungsgericht der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung gezogen hat, und wird das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Zukunft das Info ändern?
Herr Abgeordneter, darf ich Sie noch einmal daran erinnern, daß die Gepflogenheiten des Hauses zu beachten sind,
Möllemann, Bundesminister: Herr Kollege Wetzel, nach Auffassung der Bundesregierung stellt das offizielle Presseinfo des BMBW keine indirekte Werbung für die FDP dar. Es ist vielmehr ein zeitgemäß gestaltetes Informationsmedium. Die Bundesregierung kennt und achtet die juristischen Grenzen, die das Bundesverfassungsgericht der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung gezogen hat.
Ich beabsichtige nicht, das Info zu ändern.
Zusatzfrage, bitte sehr.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, sind Ihnen die höchstrichterlichen Entscheidungen zur Wahlwerbung bekannt? Ich zitiere aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts — Band 44, Seite 149 — , wo definiert wird, wo die Wahlwerbung beginnt:Sie muß sich stets der offenen oder versteckten Werbung für einzelne der miteinander konkurrierenden politischen Parteien oder sonstigen an der politischen Meinungsbildung beteiligten Gruppen enthalten.Ich frage Sie in diesem Zusammenhang: Erscheint es Ihnen als unverständlich, wenn ich die Verwendung dieser Farben auf Ihrem Info als eine Form zumindest versteckter Werbung für eine einzelne der miteinander konkurrierenden Parteien ansehe?Möllemann, Bundesminister: Ja.
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1788 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ist Ihnen weiter geläufig, daß nach dem Urteil die Öffentlichkeitsarbeit der Mehrheitsparteien nicht durch den Einsatz öffentlicher Mittel zu Hilfe kommen darf?
Möllemann, Bundesminister: Ja. Wetzel : Halten Sie — —
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie im Grunde genommen nur zwei Zusatzfragen stellen dürfen. Aufgrund der kurzen Beantwortung durch den Minister und der Großzügigkeit des Präsidenten soll Ihnen aber die Möglichkeit gegeben sein, noch eine Zusatzfrage zu stellen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Fragen zusammenfassen würden. Wir müssen uns an die Geschäftsordnung halten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Minister, können Sie wenigstens bestätigen, daß dieses Info mit den Farben Blau und Gelb, das aus Ihrem Haus kommt, aus öffentlichen Mitteln finanziert wird?
Möllemann, Bundesminister: Ja, selbstverständlich.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Odendahl.
Herr Minister, nachdem Sie sehr oft recht stereotyp ja gesagt haben, konnte ich Ihrer Antwort entnehmen, daß Ihnen die entsprechenden Urteile bekannt sind, sicher auch die Leitsätze zum Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1977 — Sie müssen jetzt nicht ja sagen — , wo es unter Punkt 6 heißt:
Tritt der informative Gehalt einer Druckschrift oder Anzeige eindeutig hinter der reklamehaften Aufmachung zurück, so kann das ein Anzeichen dafür sein, daß die Grenze zur unzulässigen Wahlwerbung überschritten ist.
Jetzt kommt meine Frage: Ist in Ihrem Hause gewährleistet, daß immer geprüft wird, ob der Inhalt nicht hinter dieser Aufmachung zurücktreten kann, und haben Sie dafür Stellen vorgesehen?
Möllemann, Bundesminister: Im Gegensatz zu manchen Vorstellungen anderer aus früheren Zeiten brauchen wir dafür bei uns keine Stellen. Dafür ist der Minister selbst die beste Gewähr.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.
Nachdem wir eine sehr ausweichende Antwort bekommen haben — von der manche meiner Kollegen hier gesagt haben, daß sie in dieser Form eigentlich nicht in das Hohe Haus gehöre; ich bin im übrigen der Überzeugung, daß die Art und Weise, wie hier vorgetragen wurde, den Regeln der Geschäftsordnung für die Fragestunde widersprechen, nach denen die Regierung gehalten ist, kurze Antworten zu geben — , möchte ich fragen, Herr Bundesminister, ob denn die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Karwatzki in Ihrem Ministerium, die ja einer anderen Partei angehört, diese Umstellung auf Blau und Gelb, auf die Parteifarben der FDP, mit Vergnügen gesehen hat und nun ihre Presseerklärungen auch mit Vergnügen auf blau-gelbem Papier veröffentlicht.
Möllemann, Bundesminister: Ich glaube, daß das Vergnügen der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Karwatzki darin besteht, daß sie diese wichtige Aufgabe wahrnehmen kann und daß sie in dem Informationsblatt, über dessen Gestaltung der Minister entschieden hat, wie alle anderen Mitarbeiter, wenn sie zu Publikationen kommen, auch publizieren kann.
Weitere Zusatzfragen zur Frage 40 werden nicht gewünscht.Ich rufe die Frage 41 der Abgeordneten Frau Odendahl auf:Was hat den Bundesminister für Bildung und Wissenschaft veranlaßt, das Deckblatt der Pressemitteilungen seines Ministeriums in den Farben seiner Partei, also in gelb/blau, zu gestalten?Herr Minister, Sie haben das Wort.Möllemann, Bundesminister: Frau Kollegin Odendahl, nach Übernahme meines neuen Ressorts habe ich auch eine generelle Überprüfung der Wirksamkeit unserer Publikationen veranlaßt, mit denen Bildung und Wissenschaft direkt oder auf dem Wege über die Medien, also über unseren Pressedienst der Öffentlichkeit vermittelt werden sollen. Aufgefallen war nämlich — und das nicht nur mir — die Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Zukunftsthemas Bildung und Wissenschaft und seiner publizistischen Aufbereitung.Bekanntlich kommt es in der Politik wie überall im Leben oft auch auf die Verpackung an. Nicht allein die Botschaft ist wichtig — sie ist natürlich das Wichtigere — , sondern auch die Präsentation, wenn ihr der gewünschte Aufmerksamkeitswert zuteil werden soll. Das ist eine Erkenntnis, die allgemein, auch in diesem Hohen Hause und auch in anderen Ressorts der Regierung, Platz gegriffen hat. Ich erinnere nur an die zeitgemäß gestylten Informationsdienste der Fraktionen, bei denen offenbar eine gewisse Vorliebe der Farbe Blau auf Weiß entgegengebracht wird — das wird am häufigsten verwendet — , dicht gefolgt von Rot auf Weiß oder Gelb und — in größerem Abstand — Grün. Die Fraktion der GRÜNEN präsentiert sich allerdings pechschwarz, was ich hinsichtlich seiner tieferen Bedeutung bisher nicht ausloten konnte.Im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft fiel mir jedenfalls auf, daß die Pressemitteilungen nicht mehr ganz zeitgemäß waren, zumindestens was ihr Äußeres angeht, und zwar sowohl im Hinblick auf die Typographie als auch auf die farbliche Gestaltung. Beides ist in den frühen 70er Jahren entworfen worden und, von einer kleinen Modifikation abgesehen, bis in die heutigen Tage unverändert geblieben, hat also Regierungs- und Ministerwechsel unbeschadet überdauert. Bei aller Sympathie für Beständigkeit schien mir hier eine Änderung dringend erforderlich.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1789
Bundesminister MöllemannSie bestand in einem neuen Layout, in einem Wechsel der Schriftart — statt der alten Helvetica verwenden wir jetzt die Futura — und in einem Farbwechsel. Schwarz und rot sind gängige Farben, die aber wegen der häufigen Verwendung nicht mehr besonders auffallen, was bei blau und gelb aber der Fall ist: eine freundliche, sympathieträchtige Farbkombination mit offenbar hohem Wiedererkennungswert.Nach meinem Verständnis, das nicht unbeeinflußt ist von Erkenntnissen der Werbepsychologie, der Typographie und der Farbenlehre, mußte also ein solcher Wechsel vonstatten gehen. Dies war, um die Frage zum Schluß noch einmal aufzunehmen, der Anlaß für die farbenfrohe Neugestaltung.
Ihre Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herr Minister, nachdem nun gerade der Haushalt des Bildungsministers sehr großen Sparmaßnahmen ausgesetzt ist, interessiert mich — weil ich als Schwäbin an Sparmaßnahmen interessiert bin und Sie geantwortet haben, daß auch noch anderes Papier da ist — , ob Sie in Zukunft beabsichtigen, dieses Papier, z. B. für Berichte, die nicht einen so erhöhten Aufmerksamkeitswert benötigen, zu verwenden.
Wir werden das Papier einer vernünftigen Verwendung zuführen. Ich kann jetzt noch nicht sagen, wo.
Frau Abgeordnete, Sie haben noch eine Zusatzfrage. Bitte schön.
Herr Minister, wäre es möglich, die Kosten, die diese neue Aktion verursacht hat, mitzuteilen, oder können Sie das nur schriftlich tun?
Ich muß dem nachgehen, weil ich das nicht genau präsent habe. Ich würde das ganz gern in einem Überblick der Kosten tun, die in verschiedenen Ministerien zu verschiedenen Zeiten bei der Umstellung von Informationsmitteln entstanden sind.
Zusatzfrage des Abgeordneten Irmer.
Herr Minister, hat Ihre Werbeabteilung auch dazu Stellung genommen, ob etwa, wenn es auf diese Informationsmaterialien regnet, die Farbe Blau und die Farbe Gelb nicht zur Farbe Grün zusammenlaufen?
Herr Abgeordneter Irmer, diese Gefahr ist weitgehend ausgeschlossen.
Herr Abgeordneter Kuhlwein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Bundesminister, welche Publikationen Ihres Hauses werden in welchen Zeitabständen auch noch auf die Parteifarben der FDP, blau/gelb, umgestellt?
Wir bemühen uns bei allen Publikationen um ein einheitliches Erscheinungsbild,
damit ein hoher Wiedererkennungswert gegeben ist, so daß Sie davon ausgehen dürfen, daß hier ein diffuses Bild nicht entstehen wird.
Es wird eine allgemeine Umstellung auf diese von mir zutreffend beschriebenen Farben erfolgen.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft abschließen kann. Herr Minister, wir bedanken uns.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf.
Als erstes rufe ich die Frage 42 des Abgeordneten Dr. Rose auf:
In welchen „nur ganz wenigen Fällen" haben die deutschen Auslandsvertretungen ein „Veto" gemäß § 4 Abs. 7 RV einlegen müssen?
Herr Staatsminister Schäfer steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, seit Inkrafttreten des Rahmenvertrages vor 12 Jahren hat das Goethe-Institut etwa 200 000 Veranstaltungen durchgeführt. Gemäß § 4 Abs. 7 des Rahmenvertrages kann der Leiter einer Auslandsvertretung im Rahmen der ihm übertragenen politischen Aufgaben gegen eine solche Veranstaltung Einspruch erheben. Nach den Unterlagen des Auswärtigen Amtes wurde von dem Recht des Einspruchs insgesamt in 12 Jahren dreimal Gebrauch gemacht. Dies geschah durch die deutsche Botschaft in Kanada 1976, durch das deutsche Generalkonsulat in Genua 1979 und durch die deutsche Botschaft in Colombo 1983.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Staatsminister, darf ich aus Ihrer Aufzählung entnehmen, da alle Fälle vor 1983 liegen, daß sich die neue Politik im Auswärtigen Amt so durchgesetzt hat, daß eine Abmahnung oder ähnliches nicht mehr notwendig ist?Schäfer, Staatsminister: Ich glaube nicht, daß Sie das daraus entnehmen können, Herr Kollege; denn ich halte drei Fälle bei 200 000 Veranstaltungen für nicht so gravierend, als daß wir eine Änderung unserer Politik hätten vornehmen müssen. Ich darf aber darauf hinweisen, daß es natürlich eine erhebliche Zahl von Fällen gibt, wo man sich — wie wir das auch für richtig halten — zwischen Goethe-Institut und Botschaft vorher einigt, wenn es sich dabei um Veranstaltungen handelt, die im Gastland Schwierigkeiten hervorrufen könnten. Die drei Fälle, die ich hier genannt
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1790 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Staatsminister SchäferI habe, beziehen sich auf Einsprüche, woraufhin Veranstaltungen abgesagt werden mußten.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Dr. Rose.
Können Sie mir dann, Herr Staatsminister, den tieferen Sinn erklären, warum im Juni dieses Jahres nochmals sehr umfassende neue Richtlinien des Auswärtigen Amts zu diesem Themenkomplex herausgekommen sind?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Rose, wenn ich recht verstehe, kommen Sie aus Bayern. Vielleicht stehen solche Bemühungen des Auswärtigen Amtes, Auseinandersetzungen um die auswärtige Kulturpolitik zu vermeiden, auch im Zusammenhang mit Ihrem Bundesland.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Dann rufe ich die Frage 43 des Abgeordneten Wartenberg auf:
Auf Grund welcher Rechtsgrundlagen werden Einreisevisa mit dem Zusatz „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" versehen — wie dies beispielsweise in einem am 21. Juli 1987 ausgestellten Visum für einen aus Burundi einreisenden Geschäftsmann geschehen ist?
Schäfer, Staatsminister: Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung darf ich zu den vorliegenden zehn Fragen, die alle denselben Fragenkomplex behandeln, eine Vorbemerkung machen, die die juristischen Grundlagen klärt. —
Der Stempeleindruck „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" bei der Erteilung von Visa beruht auf der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes vom Jahre 1967. Der Stempeleindruck wird auf Grund dieser Vorschrift auf Veranlassung der zuständigen Ausländerbehörden oder von den Auslandsvertretungen in Ausübung eigenen pflichtgemäßen Ermessens in den Sichtvermerk eingestempelt, falls der Reisende — ich zitiere —
im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben oder sich dort länger als drei Monate aufhalten wird.
Die Tatsache einer lang eingespielten, auf der allgemeinen Verwaltungsvorschrift von 1967 beruhenden Verwaltungspraxis zeigt, daß ihre Anwendung nicht durch die aktuelle AIDS-Problematik bedingt ist. Die Auflage wird weltweit angewandt. Die Bundesregierung hat keinen Einfluß darauf, ob und, gegebenenfalls, in welcher Weise der Eintritt der Bedingung „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" festgestellt wird. Dies ist ausschließliche Zuständigkeit der Bundesländer. Regel ist, daß die Ausländerbehörden der Länder den Ausländer nach einer gewissen Zeit auffordern, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen. Diese Untersuchung erfolgt nach Richtlinien, die die obersten Landesbehörden festlegen.
Ich darf nun zu Ihrer Frage kommen: Rechtsgrundlage sind § 7 Abs. 3 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 sowie die Nr. 5 und die Nr. 14 der Verwaltungsvorschrift zum § 21 des Ausländergesetzes.
Nr. 5 heißt:
Die Aufenthaltserlaubnis darf erst erteilt werden, nachdem die Ausländerbehörde ihre Zustimmung erteilt hat. Von der Ausländerbehörde geforderte Beschränkungen, Bedingungen oder Auflagen zur Aufenthaltserlaubnis sind zu berücksichtigen.
Nr. 14:
Wird eine Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerkes an einen Ausländer erteilt, der im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben oder sich dort länger als drei Monate aufhalten will, so ist sie mit der Bedingung zu versehen, daß sie erlischt, wenn festgestellt wird, daß der Ausländer an einer nach § 3 Abs. 1 und 2 Bundesseuchengesetz meldepflichtigen übertragbaren Krankheit, einer ansteckungsfähigen Geschlechtskrankheit oder einer Geisteskrankheit leidet, ein entsprechender Krankheitsverdacht besteht oder der Ausländer Ausscheider im Sinne des § 3 Abs. 4 Bundesseuchengesetz ist.
Soweit der Stempeleindruck „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" in einem Fall angebracht wurde, der einen Sichtvermerk für einen Aufenthalt unter drei Monaten und zu Nichterwerbszwecken betraf, handelt es sich, wie die angeforderte Berichterstattung aus Bujumbura ergeben hat, um eine Vorgehen in eigener Verantwortung der Botschaft, das durch die Vorschriften nicht geboten ist.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Wartenberg.
Ist es ein Zufall, daß dieses eigenmächtige Verhalten in Burundi geschehen ist, oder hat es etwas damit zu tun, daß dieses den eigentlichen Vorschriften entgegenstehende Verhalten gegenüber Reisenden aus den Ländern gezeigt wird, die sozusagen als der AIDS-Gürtel in Afrika gelten?
Schäfer, Staatsminister: Wir können Ihnen — und damit meine ich das ganze Auswärtige Amt — nicht sagen, was den Behördenleiter veranlaßt hat, diesen Stempel auf den Visumsantrag zu drücken. Ich kann nur sagen, daß Rechtsgrundlage auch in solchen Fällen das Ermessen aller Ausländerbehörden einschließlich der deutschen Auslandsvertretungen ist. Das heißt, er konnte das auch bei einem Visum unter drei Monaten tun. Aber wir gehen diesem Fall noch im einzelnen nach.
Weitere Zusatzfrage.
Sind Ihnen denn weitere Fälle aus den betreffenden Ländern in Afrika bekannt, in denen solche Vermerke in das Visum eingestempelt worden sind?
Schäfer, Staatsminister: Uns sind keine weiteren Fälle bekannt. Ich schließe aber nicht aus, daß es solche weiteren Fälle gibt. Wir sind dabei, das zu überprüfen.
Ich rufe nunmehr die Frage 44 des Abgeordneten Wartenberg auf:
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1791
Vizepräsident CronenbergIn welchen Fällen wird ein Einreisevisum mit dem Zusatz „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" versehen, für welche Länder gilt diese Regelung?Schäfer, Staatsminister: Die Praxis gilt weltweit. Spezielle Regelungen für spezielle Länder gibt es nicht. Für Angehörige der EG-Staaten gelten die EG-internen Regelungen des EG-Aufenthaltsgesetzes vom 22. Juli 1969 und die entsprechende Regelung des Ausländerrechts.
Bitte schön.
Noch eine Zusatzfrage. Wenn in Burundi so etwas von einem Konsulatsbeamten gemacht worden ist: Ist davon auszugehen, daß das ein einzelner Konsulatsbeamter gerade in diesem speziellen Land in eigener Ermächtigung gemacht hat? Ist das nicht doch eine Anweisung, die erteilt worden ist?
Schäfer, Staatsminister: Es gibt eine solche Anweisung nicht.
Noch eine Zusatzfrage, bitte schön.
Sie meinen, daß es rein zufällig geschehen ist, daß in diesen speziellen Ländern, die in der gesamten Diskussion der Welt, was AIDS angeht, eine große Rolle spielen, so etwas gemacht wird?
Schäfer, Staatsminister: Ich kann nicht ausschließen, daß der betreffende Beamte der Meinung war, daß es in Burundi eine besonders hohe Zahl von AIDSInfizierten gibt, und daß er glaubte, er müsse diesen Vermerk deshalb machen. Aber wir sind dabei — ich sagte Ihnen das schon, Herr Kollege, diesen speziellen Fall zu prüfen und daraus unsere Schlüsse zu ziehen.
Wir kommen zu den Fragen 45 und 46 des Abgeordneten Bernrath. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal. Er hat mir mitteilen lassen, daß er schriftliche Beantwortung erbittet. Das läßt unsere Geschäftsordnung aber nicht zu. Sollte aber der Abgeordnete Bernrath — Herr Staatsminister, ich hoffe, Sie sind damit einverstanden — noch kommen, solange Sie hier sind, würde ich die Frage dann nochmals aufrufen.
Ich rufe die Frage 47 der Abgeordneten Frau Hämmerle auf :
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, wenn andere Staaten — ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland — Einreisevisa für deutsche Bundesbürger mit dem Zusatz versehen „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken"?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, die Bundesregierung kann gegen die Verwaltungspraxis anderer Staaten, die unserer eigenen entspricht, keine Bedenken erheben.
Zusatzfrage? — Keine Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 48 der Abgeordneten Frau Hämmerle auf:
Sieht die Bundesregierung den Visumzusatz „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" als geeignetes Mittel zur AIDS-Bekämpfung an?
Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, das für die Sichtvermerkserteilung im Ausland federführende Auswärtige Amt sieht zwischen diesem Zusatz und der AIDS-Bekämpfung keinerlei Zusammenhang. Ihre Frage ist deshalb mit Nein zu beantworten.
Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Ich rufe die Frage 49 des Abgeordneten Dr. Nöbel auf:
Ist die Regelung, wonach Einreisevisa mit dem Zusatz „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" versehen werden können, mit dem Bundesminister des Innern abgestimmt?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz aus dem Jahre 1967, die Rechtsgrundlage für die von Ihnen zitierten Auflagen ist, ist vom Bundesminister des Innern mit Zustimmung des Bundesrates nach interner Abstimmung innerhalb der Bundesregierung erlassen worden.
Zusatzfragen gewünscht?
Herr Minister, Sie können also kein neueres Datum nennen, zu dem eine Regelung seitens des Auswärtigen Amtes oder in Abstimmung mit dem Innenministerium oder sogar auf Grund eines Kabinettbeschlusses getroffen worden ist?
Schäfer, Staatsminister: Nein.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie diesen Einzelfall so dargestellt, daß hier ausschließlich ein Beamter zur Verantwortung zu ziehen ist. Sehen Sie darin keine Diskriminierung?
Schäfer, Staatsminister: Ich habe zunächst noch nicht davon gesprochen, daß der Beamte zur Verantwortung gezogen wird, sondern wir haben auf Grund dieses Vorfalls eine Nachforschung angestellt, wie dieser Beamte dazu gekommen ist, einen solchen Vermerk einzutragen, obwohl der Ausreisende nur für weniger als drei Monate in die Bundesrepublik reisen wollte. Ich darf Ihnen — ich habe das eben schon angedeutet, Herr Kollege — sagen, daß dieser Fall im Auswärtigen Amt Konsequenzen in der Richtung haben wird, die wahrscheinlich auch Sie für richtig halten: daß wir nämlich ausschließen wollen, daß sich solche Fälle wiederholen.
Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Dr. Nöbel auf:Hält die Bundesregierung es für vertretbar, daß Einreisevisa mit dem Zusatz „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" versehen werden, nachdem bereits die Anweisung des Bundesministers des Innern, AIDS-kranke oder AIDS-infizierte Ausländer bei der Einreise zurückzuweisen, nach heftiger Kritik zurückgezogen werden mußte?
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1792 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Schäfer, Staatsminister: Ich darf auf meine Antwort an den Kollegen Bernrath verweisen, die ich nun dummerweise nicht vorlesen konnte. Ich stelle aber noch einmal fest, daß die Auflage „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" seit vielen Jahren der Praxis entspricht. Das Auswärtige Amt sieht keinen Zusammenhang mit der AIDS-Bekämpfung.
Zusatzfrage, bitte schön.
Können Sie uns mitteilen, wieviel Zeit die Regierung oder das Auswärtige Amt in etwa beansprucht, um diese Sache aufzuklären?
Schäfer, Staatsminister: Ich kann Ihnen sagen, daß das Auswärtige Amt möglicherweise schon morgen einen Erlaß an alle deutschen Botschaften herausgeben wird, der klarstellt, daß sich solche Vorfälle nicht wiederholen dürfen. Der Erlaß ist zur Zeit schon in Arbeit, auf ausdrückliche Weisung von Bundesminister Genscher.
Weitere Zusatzfrage.
Kann der Fragesteller davon ausgehen, daß er über das Ergebnis informiert wird?
Schäfer, Staatsminister: Selbstverständlich wird der Fragesteller gern über alle Vorgänge im Auswärtigen Amt informiert, sofern sie nicht geheim sind, Herr Kollege Nöbel.
Ich rufe die Frage 51 des Abgeordneten Graf auf:
Wie viele Visa wurden im letzten halben Jahr mit dem Zusatz „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" versehen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, eine Umfrage bei den Auslandsvertretungen auf Grund Ihrer Frage hat ergeben, daß die Zahl der im letzten halben Jahr mit diesem Zusatz versehenen Visa auf insgesamt rund 15 000 geschätzt werden kann.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 52 des Abgeordneten Graf auf:
Hat es bisher einen Fall gegeben, in dem ein Visum auf Grund des Zusatzes „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" erloschen ist, und welche Konsequenzen hatte dies gegebenenfalls für den Betroffenen?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Antwort kann nur durch die Länderbehörden erteilt werden. Ich empfehle deshalb, daß Sie entsprechende Erkundigungen über Landtagsabgeordnete einziehen. Wir vermögen das nicht.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Wartenberg.
Gibt es im Außenministerium Überlegungen, ob es insbesondere angesichts der Entwicklung der Diskussion über AIDS nicht auch sinnvoll ist, die alte Rechtsgrundlage zu überprüfen, da die Gefahr besteht, daß jeglicher Eintrag „Erlischt bei gesundheitlichen Bedenken" zu Vorurteilen gegenüber einem Ausländer führen muß, ob er nun drei Monate hier ist oder nicht?
Schäfer, Staatsminister: Da diese Vorschrift, wie ich Ihnen, Herr Kollege, schon gesagt habe, aus dem Jahre 1967 stammt, damals aus der Großen Koalition, verabschiedet mit Zustimmung aller SPD-Minister, muß ich sagen: Sie haben vielleicht damals — wir waren gar nicht beteiligt — einen Fehler gemacht.
Ich kann nur dazu sagen, daß die Problematik AIDS natürlich dazu führt, daß wir auch diesen ganzen Komplex der Erteilung von Visen neu behandeln müssen. Ich glaube, daß ein weiterer Aspekt zu beachten ist, nämlich daß es eine immens lange Zeit dauert, bis man zu einer Erteilung eines Visums kommt, wenn entsprechende Eintragungen vorgenommen worden sind, da erst Rückfragen bei den Bundesländern vorgenommen werden müssen, die wiederum über Ausländerbehörden die Gesundheitsämter befragen müssen. Das ist auch ein Vorgang, mit dem wir uns in diesem Haus intensiv beschäftigen müssen.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Ich rufe die Frage 53 des Abgeordneten Dr. Soell auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, ob und wann die m Saudi-Arabien widerrechtlich festgehaltenen deutschen Staatsbürger Uwe Hensel und Hartmut Krause Saudi-Arabien verlassen?
Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das Auswärtige Amt bemüht sich seit längerem um eine Ausreisegenehmigung für die in Saudi-Arabien wegen Forderungen gegen ihren Arbeitgeber festgehaltenen deutschen Staatsangehörigen Krause und Hensel. Bundeskanzler Kohl hat sich mit Schreiben vom Mai 1987 an den saudischen König für eine baldige Ausreise der beiden Deutschen eingesetzt. Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin mit allem Nachdruck für eine Ausreise der beiden Deutschen verwenden. Sie vermag jedoch nicht zu sagen, wann die beiden deutschen Staatsbürger Saudi-Arabien verlassen können.
Eine Zusatzfrage, bitte schön, Herr Dr. Soell.
Herr Staatsminister, ist es richtig, daß die beiden Bundesminister, der Bundesminister des Auswärtigen und der Bundeswirtschaftsminister, in den nächsten Wochen Saudi-Arabien besuchen?
Schäfer, Staatsminister: Ich bin nicht im einzelnen über die Reisepläne informiert. Soviel ich weiß, ist das vorgesehen, im Fall des Bundesaußenministers zumindest erwogen.
Aber ich kann Ihnen sagen, daß der Bundesaußenminister bereits in der nächsten Woche in New York anläßlich der UN-Generalversammlung Gelegenheit nehmen wird, bei seinem Gespräch mit Außenministern, auch mit dem saudischen Amtskollegen, erneut über diesen Fall zu sprechen. Wir werden nicht nach-
Deutscher Bundestaa — 1 1. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1793
Staatsminister Schäfer
lassen, Saudi-Arabien deutlich zu machen, daß diese beiden Monteure müssen ausreisen dürfen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatsminister, liegen dem Auswärtigen Amt Erkenntnisse vor, daß es diese aus unserer Sicht sehr ungewöhnliche Praxis auch schon in früheren Zeiten gab?
Schäfer, Staatsminister: Ich kann dazu im Augenblick nichts sagen. Ich weiß nicht, ob sich Ihre Frage auf Saudi-Arabien bezogen hat. Sie wissen, daß wir uns in diesem speziellen Fall sehr intensiv bemüht haben — die ganze Bundesregierung — und daß wir nicht aufhören werden, uns zu bemühen, daß den beiden Monteuren die Ausreise erlaubt wird.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Die Fragen 54 und 55 des Abgeordneten Böhm und 56 des Abgeordneten Stiegler werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 57 des Abgeordneten Verheugen auf:
Was hat die Bundesregierung unternommen, um gemäß den Beschlüssen der Ministertagung der EPZ am 10. September 1985 in Luxemburg die „Vereinigung der Großkraftwerkbetreiber ", Essen, von der Durchführung einer Sondertagung „Südafrika 1987" vom 9. bis 13. November 1987 in Johannesburg abzuhalten?
Herr Staatsminister.
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Verheugen, die vorgesehene Veranstaltung vom 9. bis 13. November 1987 in Johannesburg fällt nicht unter die Kriterien der von Ihnen erwähnten Beschlüsse der Ministertagung der EPZ vom 10. September 1985, da sie nicht der Förderung der Apartheid dient.
Herr Abgeordneter, Sie wollen eine Zusatzfrage stellen. Bitte sehr.
Herr Staatsminister, der entsprechende Beschluß der EPZ lautet, daß von kulturellen und wissenschaftlichen Veranstaltungen abgeraten werden soll, sofern diese nicht zur Beendigung der Apartheid beitragen. Darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß Sie der Meinung sind, diese Veranstaltung diene der Beseitigung der Apartheid?
Schäfer, Staatsminister: Sie haben leider das Zitat nicht zu Ende gelesen, Herr Kollege, denn es heißt hier im englischen Text — ich habe ihn vor mir — : „Discouraging cultural and scientific events except where these contribute towards the ending of apartheid" . Es heißt dann weiter: or have no possible role in supporting it". Ich kann Ihnen nur sagen: Diese Veranstaltung spielt nach unseren Erkenntnissen keine Rolle in der Weise, daß die Apartheid durch sie unterstützt würde. Insofern fällt sie nicht unter den EPZ-Beschluß.
Eine Zusatzfrage, Herr Verheugen.
Herr Staatsminister, sind Ihnen die bedeutende strategische Rolle der Energieversorgung Südafrikas und die Bedeutung der Energieversorgung Südafrikas für die Aufrechterhaltung dieses Systems bekannt?
Schäfer, Staatsminister: Mir ist die Bedeutung der Energieversorgung bekannt. Aber ich glaube nicht, daß Sie den Schluß ziehen können, daß durch die Beseitigung von Möglichkeiten in der Energiewirtschaft, genauer gesagt: bei der Herstellung von Strom, die Apartheid abgeschafft werden könnte.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Dann rufe ich die Frage 58 des Abgeordneten Verheugen auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die von der „Vereinigung der Großkraftwerkbetreiber ", Essen, organisierte Sondertagung „Südafrika 1987" im Hinblick auf die Bemühungen, das System der Apartheid in Südafrika zu überwinden?
Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Verheugen, die Sondertagung verfolgt nach dem, was uns mitgeteilt worden ist, einen Erfahrungsaustausch. Ich möchte zitieren, welche Themen angesprochen werden sollen: Energieversorgungssicherheit, Sicherheit am Arbeitsplatz, dabei auch Unfallverhütungsmaßnahmen, Ausbildung von Personal, und zwar Erhöhung der Qualifikation zur Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes, Aufstiegschancen, Verhinderung von Störfällen im Kraftwerksbetrieb und Umweltschutz, Sicherung der Umwelt, Vermeidung unnötiger grenzüberschreitender Emissionen, letztlich kerntechnische Sicherheit, Erfahrungsrückfluß aus dem Betrieb von Anlagen in anderen Ländern zur Vermeidung von kerntechnischen Störfällen.
Insofern können wir nicht erkennen, daß diese Tagung einer Überwindung der Apartheid in Südafrika entgegensteht.
Eine Zusatzfrage, bitte sehr.
Darf ich das so verstehen, Herr Staatsminister, daß Sie auch der Meinung sind, daß diese Tagung nicht den Beschlüssen der Europäischen Gemeinschaft des vergangenen Jahres widerspricht, wonach es keine neue nukleare Zusammenarbeit mit Südafrika geben darf?
Schäfer, Staatsminister: Es kann in diesem Fall, Herr Kollege, nicht davon gesprochen werden, daß die Teilnehmer an dieser Veranstaltung die nukleare Zusammenarbeit neu aufleben lassen wollen. Die Besichtigung eines Kernreaktors — ich habe mich sehr genau erkundigt — ist vorgesehen. Dieser Kernreaktor wurde von Frankreich an Südafrika noch vor einiger Zeit geliefert. Hier soll über die Frage der Störfälle und der möglichen Sicherheit diskutiert werden. Es ist etwas anderes, Herr Kollege Verheugen, ob man in einer so sensiblen Situation, wie sie in Südafrika gegeben ist, solche Veranstaltungen unbedingt nach Südafrika legen muß.
Sie wünschen eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
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1794 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Verheugen: : Ich wollte dann noch gerne wissen, ob nach Ihrer Meinung der Erfahrungsaustausch über Probleme der Kerntechnik, wie er in diesem Programm vorgesehen ist, tatsächlich keine Form der nuklearen Zusammenarbeit darstellt.Schäfer, Staatsminister: Ich kann das, nachdem ich Ihnen gerade die Themen der Veranstaltung vorgelesen habe, nicht so sehen. Denn es sind ja nun Kernkraftwerke in Südafrika vorhanden, die durch diese Tagung nicht erst geschaffen werden. Wenn hier z. B. die Frage von Störfällen und von Umweltbelastungen angesprochen wird, dann kann es ja nicht so sein, daß man das als eine nukleare Zusammenarbeit betrachtet. Wir müssen davon ausgehen, daß es diese Kernkraftwerke gibt. Aber ich darf wiederholen: Es ist angesichts der Lage in Südafrika die Frage, inwieweit solche länderübergreifenden Treffen ausgerechnet in Südafrika stattfinden müssen. Das ist aber eine Entscheidung, die diesem internationalen Gremium überlassen bleiben muß. Wir können es nicht daran hindern.
Weitere Fragen liegen mir nicht vor, jedenfalls keine, die Sie beantworten könnten, Herr Staatsminister. Ich bedanke mich bei Ihnen und rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Spranger zur Verfügung.
Ich rufe zunächst einmal die Frage 59 des Abgeordneten Fischer auf:
Wie erklärt der Bundesminister des Innern als Verfassungsminister, daß die von ihm als Leitfaden an die Volkszähler ausgegebene Broschüre „Volkszählung 87 — Schlagwortverzeichnis" im Gegensatz zu dem Urteil Nr. 29 des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975 , in dem das Gericht ausdrücklich von „Hauptbeschäftigung (,full-timejob')" spricht, die Mandatsausübung der Bundestagsabgeordneten als Teilzeitbeschäftigung" ausweist?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Fischer, die in der Broschüre „Volkszählung '87 — Schlagwortverzeichnis" enthaltenen Hinweise zu dem Stichwort „Abgeordnete " stehen nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975. Die Ausführungen im Schlagwortverzeichnis beziehen sich lediglich auf die Arbeitsstättenzählung. Hierzu wird beispielhaft erläutert, daß in den Fällen, in denen ein Abgeordneter sowohl am Parlamentssitz als auch in seinem Wahlkreis getrennte Büros unterhält, für beide Büros jeweils ein Arbeitsstättenbogen auszufüllen ist. Die Tätigkeit des Abgeordneten ist dabei jeweils als Teilzeitbeschäftigung einzutragen. Eine Einstufung als Vollzeitbeschäftigung in beiden Arbeitsstätten würde aus methodischen Gründen zu falschen Ergebnissen führen.
Der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß die Inanspruchnahme des Abgeordneten durch sein Mandat als „Full-time-Job" zu werten ist, kann im übrigen durch die Antwort auf Frage Nr. 7 des Personenbogens Rechnung getragen werden. Dort ist auch der Umfang der Wochenarbeitszeit anzugeben.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fischer.
Herr Staatssekretär, Ihnen ist doch wohl bekannt, daß Bundestagsabgeordnete in der Regel zehn und mehr Stunden am Tag arbeiten, auch hier in Bonn. Hat der Bundesinnenminister damit gemeint, daß wir dann zwanzig und mehr Stunden pro Tag arbeiten; oder zählt er zu der Ausnahme von dieser Regel?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Also, ich darf mal feststellen: Diese Broschüre ist vom Bundesamt für Statistik und den Landesämtern für Statistik herausgegeben worden, die im Hinblick auf die Volkszählung mögliche Fragen vernünftig beantworten wollten. Hier ist diese Antwort in bezug auf die Arbeitsstättenzählung erfolgt. Sie ist meines Erachtens auch logisch. Wenn jemand zwei Büros unterhält, in denen auch gearbeitet wird, kann er nicht in beiden Büros als Vollzeitarbeitskraft eingesetzt werden. Deswegen der Hinweis, daß in der Arbeitsstättenzählung bei den jeweiligen Büros, wenn sie existieren, „Teilzeitbeschäftigung" anzugeben wäre.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Wenn ich die zweite Zusatzfrage stellen darf: Herr Staatssekretär, vielleicht ist auch eine andere Interpretation möglich, nämlich daß der heutige Bundesminister Zimmermann seine langjährige Hauptbeschäftigung als Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis — ich glaube, es war 214 — vor seiner Berufung als Bundesminister als Teilzeitbeschäftigung mit Einkommen aus der Staatskasse für einen Full-time-Job verstanden hat?
Spranger, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihre Auslassungen nicht nachvollziehen. Das muß ich ganz offen sagen. Ich kann nur darauf verweisen, daß in bezug auf den Arbeitsstättenbogen das Statistische Bundesamt und die statistischen Landesämter hier zu dieser Interpretation gekommen sind, die nach meiner Auffassung überzeugend ist.
Weitere Wortmeldungen sind nicht zu verzeichnen.Die Fragen 60 und 61 des Abgeordneten Börnsen werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger, damit sind auch die Fragen zu Ihrem Geschäftsbereich erledigt.Ich kann den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz aufrufen. Zur Beantwortung steht uns hier der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn zur Verfügung.Ich rufe die Frage 62 des Abgeordneten von Schmude auf:Wie beurteilt die Bundesregierung die unveränderte Haltung des Hamburger Senats, den auf Hamburg entfallenden Kostenanteil für die Erfassungsstelle Salzgitter in Höhe von 8 000 DM jährlich ab 1988 nicht mehr zu zahlen?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1795
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich bitte die Fragen 62 und 63 im Zusammenhang beantworten zu dürfen.
Herr Abgeordneter, Sie sind damit einverstanden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte.
Ich rufe die Frage 63 des Abgeordneten von Schmude auf:
Hat die Bundesregierung Schritte unternommen, um den neuen von SPD und FDP getragenen Senat davon zu überzeugen, daß das Eintreten für Menschenrechte unteilbar ist und daß der Arbeit der Erfassungsstelle Salzgitter aus deutscher Sicht bei der Dokumentation von Menschenrechtsverbrechen in der DDR eine besondere Bedeutung zukommt?
Bitte sehr.
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege von Schmude, die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter ist 1961 als gemeinsame Einrichtung der Länder errichtet worden. Die Dienstaufsicht übt der Niedersächsische Minister der Justiz aus. In den vergangenen Monaten haben die Justizminister und Justizsenatoren der Länder Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Saarland den Niedersächsischen Minister der Justiz darüber unterrichtet, daß sie, beginnend mit dem Haushaltsjahr 1988, Mittel für die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter nicht mehr zur Verfügung stellen. In Hamburg geht diese Mitteilung auf einen Beschluß der Hamburger Bürgerschaft vom 4. und 5. Februar 1987 zurück. Der Niedersächsische Minister der Justiz, in dessen Geschäftsbereich die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter errichtet ist, hat angeregt, den Vorsitzenden der Konferenz der Justizminister und Justizsenatoren zu bitten, vorbereitende Gespräche zu führen, um die aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Der Bundesminister der Justiz unterstützt diesen Vorschlag.
Zusatzfrage. Bitte sehr, Herr von Schmude.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, ist bei dem kürzlichen Besuch des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, seitens der DDR die Forderung an die Bundesregierung gerichtet worden, die Erfassungsstelle in Salzgitter abzuschaffen?
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege von Schmude, mir ist darüber nichts bekannt.
Weitere Zusatzfragen werden nicht gewünscht.
Ich rufe die Frage 64 des Abgeordneten Bindig auf:
Ist die Darlegung des Bundesministers der Justiz , daß ein hauptsächlicher Grund, warum die Bundesregierung bisher das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte nicht gezeichnet und ratifiziert hat, darin liegt, daß in den allgemeinen Erläuterungen zur Kommentierung zu Artikel 6 festgestellt wird, „daß der Besitz von Atomwaffen das Recht auf Leben verletzt" und daß „bei Annahme des Fakultativprotokolls dies ein Einfallstor für Protestbewegungen wäre, die ihre Ablehnung der
Atomraketenstationienung im Weg einer Vielzahl von Einzelbeschwerden geltend machen könnten", offizielle Auffassung der Bundesregierung, und wieso kann eine Formulierung, die auf den „Besitz von Atomwaffen" abzielt, die Bundesregierung zu einer solchen Haltung veranlassen?
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, die Bundesrepublik Deutschland hat die Ernsthaftigkeit ihres Eintretens für die Menschenrechte seit langem dadurch dokumentiert, daß sie ihre Menschenrechtspraxis einer effektiven internationalen Kontrolle unterstellt hat, die im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention in einem justizförmigen Verfahren ausgeübt wird, das in der Regel durch eine abschließende Kommissionsentscheidung oder durch ein verbindliches Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgeschlossen wird. Ob es sich bei dieser Sachlage empfiehlt, daß sich die Bundesrepublik Deutschland zusätzlich auch dem Individualbeschwerdeverfahren nach dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte unterwirft, wird bisher nicht einheitlich beurteilt. So sind die Bedenken, die in dem in der Frage zitierten Schreiben von Bundesminister Engelhard angeführt werden, zu verstehen.
Die Auslegung des Art. 6 des Zivilpaktes durch den Ausschuß für Menschenrechte hat bisher bei den Erwägungen, die von der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Ratifizierung angestellt worden sind, jedenfalls keine entscheidende Rolle gespielt. Es ist zwar unrichtig, wenn aus dem Art. 6, der zum Schutz des Lebens verpflichtet, rechtlich bindende Schlußfolgerungen, etwa über die Abrüstungspolitik, gezogen werden. Denn dabei handelt es sich, wie wir alle wissen, um eine politische Frage, die in internationalen Verhandlungen einer Lösung zugeführt werden muß. Daß, wie in der Anfrage unterstellt wird, eine Formulierung, die auf den „Besitz von Atomwaffen" abzielt, die Haltung der Bundesregierung in dieser Frage bestimmt oder auch nur wesentlich mitbestimmt hätte, ist unrichtig.
Bitte sehr, eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bindig.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, daß diese Argumentation, die in der Anfrage dargelegt worden ist, bei der Erwägung bisher keine Rolle gespielt hat, dann möchte ich Sie fragen, warum denn genau diese Argumentation vom Bundesminister der Justiz gegenüber dem Parlement in einem Schreiben gebraucht worden ist und er diesen Grund als einen von fünf Gründen dem Parlament schriftlich mitgeteilt hat, den Sie jetzt als unwesentlich bezeichnen?Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, ich bin gerne bereit, die Schwerpunkte, die die Bedenken tragen, noch einmal zum Ausdruck zu bringen.Gegenüber dem seit Jahrzehnten bewährten und vorbildlichen System internationaler Kontrolle bleibt der Rechtsschutz, den das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der sogenannte Zivilpakt, bietet, erheblich zurück. Das Bundesministerium der Justiz zögert deshalb, die Ratifizierung des Fakultativprotokolls vorzuschlagen, weil befürchtet werden muß, daß damit ein
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1796 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Parl. Staatssekretär Dr. JahnSchritt in die menschenrechtspolitisch falsche Richtung getan wird. Insbesondere erscheint es problematisch, ob eine Schwächung des Systems der Europäischen Menschenrechtskonvention mit der Ratifizierung des Fakultativprotokolls verbunden ist, ob die komplizierten Vorbehalte, die andere Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention abgegeben haben, um dieser Gefahr zu begegnen, dazu ausreichen und ob sie nicht ihrerseits zu einer Abwertung des Fakultativprotokolls führen.Ich darf noch ein weiteres Argument hinzufügen, damit Sie die Argumentation komplett haben. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Bedenken zögert das Bundesministerium der Justiz mit der Ratifizierung des Fakultativprotokolls auch deswegen, weil wir befürchten, dadurch Bindungen einzugehen, die die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifizierung des Zivilpakts nicht übernehmen wollte und auch nicht übernommen hat. Der nach dem Pakt gebildete Ausschuß für Menschenrechte, der nicht nur für die Berichtsprüfungsverfahren nach Art. 40 des Pakts zuständig ist, sondern auch für die Prüfung von Individualbeschwerden nach dem Fakultativprotokoll, legt die von den Paktstaaten übernommenen Verpflichtungen überaus weit aus. Darauf wird übrigens auch im Schreiben des Bundesministers Engelhard an Herrn Kollegen Dr. Hirsch vom 13. Mai 1987 hingewiesen, auf das Sie auch in der Anfrage Bezug genommen haben.
Weitere Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Bindig.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich in meiner Frage nicht eine allgemeine Erklärung der Bundesregierung erbeten habe, welche Gründe sie im allgemeinen veranlassen, hier eine bestimmte Verhaltensweise an den Tag zu legen, sondern daß ich nach einem Grund gefragt habe, den Sie mir in einem Schreiben als einen hauptsächlichen Grund mit genannt haben? Ihr Schreiben habe ich hier in der Hand. Darin haben Sie gesagt, daß ein hauptsächlicher Grund auch derjenige sei, daß der Besitz von Atomwaffen die Bundesregierung bisher veranlaßt habe, diesen Pakt nicht zu unterschreiben. Und meine Frage richtete sich darauf: Wieso können Sie als Mitglied der Bundesregierung den Besitz von Atomwaffen in einem solchen Brief erwähnen?
Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Bindig, ich beziehe mich noch einmal auf den ersten Teil der Antwort, die ich Ihnen soeben gegeben habe. Das Motiv, das Sie unterstellen, liegt in dieser Form nicht vor.
Weitere Zusatzfragen liegen mir nicht vor.Die Frage 65 des Abgeordneten Müntefering wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Vereinbarungsgemäß setzen wir nunmehr die Tagesordnung fort.Zunächst einmal mache ich das Haus darauf aufmerksam, daß Tagesordnungspunkt 9 zusammen mit Tagesordnungspunkt 23 aufgerufen wird.Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 7 und 8 sowie 10 bis 14 auf:7. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. März 1982 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über die Berichtigung der deutschbelgischen Grenze im Bereich der regulierten Grenzgewässer Breitenbach und Schwarzbach, Kreise Aachen und Malmedy— Drucksache 11/476 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Auswärtiger Ausschuß InnenausschußFinanzausschuß8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Dezember 1984 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über den Verlauf der gemeinsamen Staatsgrenze— Drucksache 11/477 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes— Drucksache 11/677 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß11. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Erdölbevorratungsgesetzes— Drucksache 11/605 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Kakao-Übereinkommen von 1986— Drucksache 11/630 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO13. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Re-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1797
Vizepräsident Cronenbergpublik Argentinien über die Wehrpflicht von Doppelstaatern— Drucksache 11/356 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß14. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Oktober 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark über die Wehrpflicht deutsch-dänischer Doppelstaater— Drucksache 11/357 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: VerteidigungsausschußEine Aussprache ist nicht vorgesehen. Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weiterhin soll der Gesetzentwurf zu Tagesordnungspunkt 7 zusätzlich an den Finanzausschuß überwiesen werden. Gibt es aus dem Haus weitere Vorschläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall; dann sind die Überweisungen beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben für die Durchführung des AIDS-Sofortprogramms 1987 beiKapitel 15 02 Titel 685 05
Kapitel 15 03 Titel 685 06
Kapitel 15 04 Titel 531 06
— Drucksachen 11/205, 11/553 —Berichterstatter:Abgeordnete Rossmanith KühbacherZywietzFrau RustBeschlußfassungAuch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen. Wer stimmt der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist mit großer Mehrheit angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16:a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 6 vom 28. April 1983 zur Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe— Drucksache 11/458 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Auswärtiger Ausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klein , Frau Dr. Däubler-Gmelin, Antretter, Bachmaier, Bahr, Frau Blunck, Duve, Gansel, Heyenn, Hiller (Lübeck), Jahn (Marburg), Jansen, Jungmann, Kastning, Kirschner, Klose, Kolbow, Kuhlwein, Frau Luuk, Frau Dr. Martiny, Pauli, Dr. Pick, Frau Schmidt (Nürnberg), Schmidt (München), Dr. Schöfberger, Schütz, Sielaff, Frau Simonis, Singer, Stiegler, Waltemathe, Wiefelspütz, Dr. de With, Würtz, Frau Zutt, Dr. Vogel und der Fraktioin der SPDWeltweite Abschaffung der Todesstrafe— Drucksache 11/459 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Auswärtiger Ausschußsowie den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN zu dem Protokoll Nr. 6 vom 28. April 1983 zur Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe— Drucksache 11/802 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Auswärtiger AusschußInterfraktionell ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und eine Stunde Zeit vorgesehen. — Widerspruch erhebt sich offensichtlich nicht. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Debatte geht es um die Ächtung der Todesstrafe in Europa und darüber hinaus. Daß wir alle gemeinsam dies wollen, ist, wie ich hoffe, unter uns nicht umstritten. Bei uns in der Bundesrepublik ist sie abgeschafft. Das legt Art. 102 unseres Grundgesetzes unveränderbar fest. Das gehört auch zu den gemeinsamen Rechtsüberzeugungen, die wir haben, und ist — das ist für mich unbezweifelbar — unveräußerlicher Mindestbestandteil unserer Rechtskultur.Ich betone das an dieser Stelle nicht deshalb, weil es etwa ein Mitglied des Parlaments gäbe, das hier zu Zweifeln Anlaß geboten hätte, sondern weil ich hoffe, daß auch höchste Bundesbeamte in verantwortungsvollsten Stellungen — wie beispielsweise der Herr Generalbundesanwalt — sich auch in außerordentlich schwierigen Situationen ständig daran erinnern.Meine Damen und Herren, unsere Verfassung hat die Abschaffung der Todesstrafe für alle Konstellationen und auch als Antwort auf die Praxis und die Verbrechen des Nationalsozialismus abschließend und verbindlich festgelegt, an denen sich, wie wir heute wissen, leider auch zu viele Strafrichter an ordentlichen Gerichten, aber auch an Sondergerichten und im Rahmen der Kriegsgerichtsbarkeit beteiligt haben.Wir sind uns dessen bewußt und stützen unsere Ablehnung der Todesstrafe weltweit zusätzlich auf die Praxis, die wir aus den Ländern kennen, die sie
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1798 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Dr. Däubler-Gmelinheute noch anwenden. Dazu gehört die Abschrekkungswirkung der Todesstrafe, die mehr als zweifelhaft ist. Im Gegenteil: Es lassen sich mehr als deutliche Zusammenhänge zwischen Todesstrafe und ihrer Vollstreckung und dem allgemein steigenden Gewaltpegel in einer Gesellschaft aufzeigen. Dazu kommt, daß in vielen Gesellschaften, in vielen Ländern — Chile, Südafrika, aber auch andere Staaten gehören dazu — Todesstrafe und Folter zur Unterdrückung und Verfolgung politischer Gegner eingesetzt werden, was wir selbstverständlich scharf ablehnen.Wer Bilder von der Vollstreckung der Todesstrafe gesehen hat und weiß, wie ein Mensch — sei es auf dem Elektrischen Stuhl, in einer Gaskammer oder auf andere Weise zu Tode gebracht — stirbt, wird den Unterschied zwischen diesem Ereignis und den schrecklichen Mordtaten von Mafia oder Terroristen nicht mehr erkennen können. Wer sieht, daß leider auch in den Vereinigten Staaten von Amerika sogar Jugendliche unter 18 Jahren hingerichtet werden, muß nach der Einstellung, nach der Moral und nach dem Wertebewußtsein, ja auch nach dem Selbstbewußtsein derjenigen fragen, die solche Gesetze machen, die solche Urteile sprechen, die sie vollstrecken oder ihre Vollstreckung anordnen.Hier stimmt doch etwas nicht mit der Einstellung zum Leben und seinem Wert, und hier stimmt etwas nicht mit der Einstellung zum Menschen und seiner Fähigkeit, hinzuzulernen und sich zu ändern. Hier fehlt jedes Vertrauen in die Fähigkeit einer Gesellschaft, junge Menschen, heranwachsende Jugendliche — wie schrecklich und schwer ihre Straftaten auch sein mögen — doch noch zu ändern, sie zurückzuholen, sie wiederzugewinnen.Meine Damen und Herren, diese Überzeugung zu haben oder sie allein bei uns in der Bundesrepublik zu praktizieren, genügt in einer Zeit, in der die Kontinente und die Länder und auch die Menschen und die Rechtsordnungen aufeinander zuschreiten, nicht mehr. Die Todesstrafe muß weltweit geächtet werden. Ich hoffe, daß wir uns auch in dieser Feststellung einig sind. Wir wissen, daß viel zu viele Staaten sie noch praktizieren, ja, in den letzten Jahren drängt sich der düstere Eindruck auf, als würden es sogar mehr.Um so wichtiger ist das Engagement und auch die Initiative der Bundesrepublik. Aber wir wollen nicht vergessen, daß es auch Erfolge gibt. Die DDR hat jetzt endlich die Vollstreckung der Todesstrafe abgeschafft und ist auf dem Wege, sie auch gesetzlich vollständig zu beseitigen. Ich darf hier feststellen: Wir begrüßen dies ausdrücklich.Um so bedauerlicher ist es, daß es in den Vereinigten Staaten ein anderes Bild gibt. Wir wissen, daß dort die Auseinandersetzung mit der Todesstrafe gerade in diesen Tagen mit Leidenschaft geführt wird. Ich sage hier: Wir unterstützen ausdrücklich diejenigen in den Staaten der USA, die sie abschaffen wollen.Meine Damen und Herren, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat heute wiederum zwei Initiativen vorgelegt, die sich mit der europa- und weltweiten Ächtung der Todesstrafe jenseits unserer eigenen nationalen Grenzen befassen.Wir haben zunächst einen Gesetzentwurf vorgelegt, der endlich die Ratifizierung — d. h. die innerstaatliche Verbindlichmachung — jenes Protokolls Nr. 6 zur Konvention des Europarates zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe einleiten soll. Wir haben ferner einen Antrag vorgelegt, der die Bundesregierung ermutigt und sie auffordert, Initiativen zur Abschaffung der Todesstrafe weltweit zu ergreifen und sie auch zu unterstützen.Zunächst zu unserem Gesetzentwurf. Das sechste Zusatzprotokoll zur europäischen Menschenrechtserklärung ist ja seit 1983 ausgehandelt. Das ist jetzt schon fünf Jahre her. Das Aushandeln selber war gar nicht so leicht. Der verstorbene frühere österreichische Justizminister Dr. Christian Broda, der uns allen ja als engagierte und eindrucksvolle Persönlichkeit noch lebhaft in Erinnerung ist, hat seit 1978 unermüdlich als Motor gewirkt und auch mit unseren früheren Justizministern Dr. Vogel und Dr. Schmude die Fertigstellung dieses Protokolls vorangetrieben. Daß die Bundesregierung bis heute zögert, das Ratifizierungsverfahren einzuleiten, ist unverständlich. Eigentlich sollte es zu diesem Schritt nicht auch noch Mahnungen aus dem Parlament erfordern. Aber genau das ist der Fall. Wir haben schon 1984 gemahnt — vergeblich, es ist nichts passiert. Das Europäische Parlament hat zur Ratifizierung aufgefordert. Daraufhin ist auch nichts passiert. Im Juni 1986 schließlich haben wir den ungewöhnlichen Weg beschritten, daß eine Parlamentsfraktion einen Ratifizierungs-Gesetzentwurf vorlegt, um die Bundesregierung zu veranlassen, jetzt endlich aktiv zu werden. Das war offensichtlich nicht wichtig genug, um es noch in der alten Legislaturperiode aufzugreifen. Jetzt machen wir einen neuen Versuch.Herr Bundesjustizminister, ich verbinde mit diesem Versuch die Hoffnung und zugleich die Forderung, daß die Bundesregierung jetzt schnell handelt. Es ist bekannt, warum innerhalb der Bundesregierung — wohl nicht in Ihrem Hause — gezögert wurde. Es gibt Andeutungen aus dem Innenministerium, es gibt aber auch Andeutungen aus der Europäischen Menschenrechtskommission, und auch in den Zeitungen ist einiges zu finden. Da gab es wohl die Befürchtung, man werde nach Ratifizierung dieses Zusatzprotokolls niemanden mehr aus der Bundesrepublik ausweisen dürfen, wenn ihm zu Hause ganz konkret die Todesstrafe droht.In der Tat, meine Damen und Herren, genau darum geht es. Genau das will das Zusatzprotokoll in dieser Frage klar festlegen. Ich sage Ihnen: Das ist auch gut so. Denken wir doch einmal an das Schicksal jener 15 Chilenen, über die in diesem Sommer so viel geredet und geschrieben wurde, und erinnern wir uns doch an jene Angst und an die schreckliche Unsicherheit, die den politischen Flüchtling, jenen jungen Türken, Kemal Altun, zu seinem Sprung aus dem Fenster in jenem Berliner Gericht in den Tod getrieben haben.
So etwas darf sich doch nicht wiederholen. Die Ratifizierung dieses Zusatzprotokolls gibt die Möglichkeitdazu. Deshalb, meine Damen und Herren und Herr
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1799
Frau Dr. Däubler-GmelinBundesjustizminister Engelhard, wollen wir die damit verbundene Klarheit.Wir werden also — um das nochmals ausdrücklich zu betonen — nicht hinnehmen, daß in einem Ratifizierungsverfahren Vorbehalte, interpretierende Erklärungen oder andere Wege gesucht werden, die möglicherweise den inneren Regierungsfrieden im Kompromißwege auch in dieser Frage ein weiteres Mal retten, aber die im Zusatzprotokoll vereinbarte Klarheit verdunkeln könnten.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Ratifikation des Zusatzprotokolls auch als Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur. Wir alle fordern doch die Einigung Europas, und wir wollen nicht, daß sie sich auf die einheitliche Zulassung von Lastwagen oder nur auf abgestimmte Mehrwertsteuersätze beschränkt. Wir wollen einheitliche Rechtsgrundsätze in Europa, wir wollen Grundrechte und Klarheit darüber, welche Rechte Menschen haben. Wir wollen Klarheit darüber, was ein Staat darf und wo seine Grenzen gegenüber den Bürgern liegen, übrigens auch Straftätern gegenüber! Wenn wir das nicht zustande bekommen, wie wollen wir dann eigentlich die neuen Herausforderungen bewältigen, die auf uns und auch auf unsere Rechtsordnung zukommen? Ich erinnere nur an die ganzen Fragen der Gentechnologie oder der Reproduktionsbiologie, die doch zur Regelung anstehen, wobei wir nur eine Chance haben, sie in den Griff zu bekommen, wenn wir sie gemeinsam in Europa in einem einheitlichen Sinne regeln.Lassen Sie mich jetzt noch ein Wort zu dem Antrag der GRÜNEN sagen. Ich halte ihn für falsch. Keineswegs im Ziel; das ist er nicht, weil das Ziel selbstverständlich dem entspricht, was bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gilt. Ich halte ihn aber deshalb für falsch, weil es meiner Ansicht nach nicht richtig ist, ein Ziel nur hochzuhalten und gleichzeitig die heute notwendigen und heute möglichen Zwischenschritte zu seiner Verwirklichung nicht zu gehen oder sogar zu behindern. Deshalb bitte ich Sie, noch einmal über Ihren Antrag und darüber nachzudenken, ob er nicht Ihrem Ziel eher hinderlich ist. Ich glaube, das ist so, und ich glaube, wir sollten nach der Ratifikation dieses Zusatzprotokolls auch in den europäischen Nachbarländern einen zweiten Anlauf unternehmen, um die vollständige Abschaffung europaweit durchzusetzen.Nun zu unserem zweiten Antrag: Wir fordern, wie gesagt, die Bundesregierung auf, unsere Haltung zur Ächtung der Todesstrafe und zur Achtung der Menschenrechte weltweit deutlicher zu machen, und zwar in multilateralen Vereinbarungen, aber auch in zweiseitigen Gesprächen, Kontakten und Verhandlungen in den Vereinten Nationen und auch in anderen Bereichen.Wenn wir uns die Bundesrepublik einmal von außen betrachten, so bietet sie doch gerade auf diesem wichtigen Feld der Ächtung der Todesstrafe und der Achtung der Menschenrechte längst nicht das glänzende Bild, das sie eigentlich bieten könnte. Einerseits betont sie in Worten, daß sie dafür etwas tun wolle; wenn man andererseits sieht, daß sie die Ratifizierung der Anti-Folter-Konvention, die Ratifizierung des 6. Zusatzprotokolls oder auch die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zu dem Pakt, über den gerade in der Fragestunde gesprochen wurde, verzögert, ja, dann muß das doch verwirren! Da stehen doch die ausbleibenden Taten und die Verzögerungen gegen das, was erklärt wird. Deswegen bitten wir Sie, nein, wir fordern: Bringen Sie Ihre Worte und Ihre Handlungen unter einen Hut!
Meine Damen und Herren, warum war denn eigentlich Minister Blüms Reise nach Chile in diesem Sommer so ein Medienereignis weit über die Bundesrepublik hinaus? Doch nicht deswegen, weil auch er jetzt, nach 14 Jahren, in dénen in Chile gefoltert wird und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, weiß, daß das so ist; nein, seine Reise wurde doch deshalb so stark beachtet, weil er Mitglied dieser Regierung ist und weil eben die Taten dieser Bundesregierung gerade in diesem Bereich zu wünschen übrig lassen. Genau das muß sich ändern, ich hoffe, schnell, und ich hoffe auch, mit aktiver Unterstützung von Herrn Blüm.Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik ist ja ein weltweit geschätzter Wirtschafts- und Handelspartner. Wir wissen, daß mit der DDR nicht nur über Kredite gesprochen wird, sondern natürlich auch über Wirtschaftsbeziehungen und natürlich — darauf kommt es mir in diesem Zusammenhang an — über menschliche Erleichterungen, über zwischenmenschliche Beziehungen. Das will jeder von uns, das billigt jeder von uns — auch diese Verknüpfung.Meine Damen und Herren auch, gegenüber anderen Ländern praktiziert diese Bundesregierung die Verknüpfung von wirtschaftlichen Vorteilen und Erwartungen an politisches Verhalten, zumindest da, wo es um grundsätzliche Fragen geht. Ich darf hier an Nicaragua erinnern, dem ja Hilfe und Geld deshalb oder auch deshalb gestrichen wird, weil nach Auff as-sung der Bundesregierung die Menschenrechtslage dem nicht entspricht, was die Bundesregierung für richtig hält. Ich will gar nicht rechten, ob das jetzt so ist oder ob da auch wieder durch die ideologische Brille gesehen wird. Nein, ich will nur fragen: Warum passiert das eigentlich mit Chile nicht, Herr Bundesjustizminister? Warum eigentlich wurde nicht, um ganz konkret zu werden, beispielsweise der Abschluß der Umschuldungsverhandlungen, die doch für Chile ein außerordentlich günstiges Ergebnis brachten, wenigstens zu Gesprächen genutzt, die zu der Erwartung berechtigen, daß dort die Todesstrafe geächtet wird und die Menschenrechte respektiert werden? Warum eigentlich nicht? Warum verweigert die Bundesrepublik dies? Warum lehnt die Bundesregierung es, wie erst gestern in der Fragestunde geschehen, so apodiktisch ab? Es geht doch nicht um Bedingungen oder Vertragsänderungen, sondern es geht um Gespräche, in denen Erwartungshaltungen aus Anlaß von wirtschaftlichen Beziehungen, die für Chile beispielsweise günstig sind, geäußert werden, wie man das in anderen Fällen auch tut. Das, Herr Justizminister, ist nicht in Ordnung.
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1800 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Dr. Däubler-GmelinIch darf noch eine Frage an Sie richten. Ich hätte sehr gerne Auskunft darüber, welche Kontakte Sie aktivieren oder aktiviert haben oder in welchem Umfang Sie auch unseren Freunden gegenüber, also den USA und Ihrer Regierung gegenüber, unsere Haltung zur Todesstrafe zum Ausdruck bringen. Ich denke, Sie sollten dazu noch ein Wort sagen.Meine Damen und Herren, mit unserer Zustimmung zur Überweisung unserer beiden Initiativen an die vorgeschlagenen Ausschüsse, verbinden wir die Bitte, dieses Mal beide zügig zu behandeln. Ich darf hinzufügen, Herr Justizminister, ich fände es sehr schön, wenn das Ratifizierungsverfahren schnell auch auf Grund eines mitzubehandelnden Gesetzentwurf es der Bundesregierung ablaufen würde. Wir werden das unterstützen, vorausgesetzt, es verdunkelt das, was das Protokoll will, nicht. In dem Fall haben Sie uns auf Ihrer Seite.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gab und gibt in aller Welt oft recht eigenwillige Begründungen, um Menschen zum Tode verurteilen und hinrichten zu können. Ich sehe, daß immer noch viele Staaten auf allen Kontinenten aus politischen, religiösen, historischen und auch noch anderen Gründen auf der Todesstrafe beharren. Wenn ich es recht sehe, hat erst ein Achtel aller Länder auf der Erde auf die Möglichkeit der Verhängung der Todesstrafe bis heute verzichtet.Meine Damen und Herren, ich bin gegen die Todesstrafe, und ich fühle mich in dieser Haltung von meiner CDU/CSU-Bundestagsfraktion gestützt. Ich will das ganz deutlich sagen.
Sie hat in den letzten Wochen diese Auffassung wiederholt verstärkt vorgetragen: Wir sind gegen die Todesstrafe und erst recht gegen die Vollstreckung der Todesstrafe.Ich weiß, daß viele Bürgerinnen und Bürger darüber leider immer noch anders denken. Sie glauben, daß bestimmte Straftaten zu verhindern sind, wenn man nur die Todesstrafe anstrebt. Sie glauben also, daß die Todesstrafe eine abschreckende Wirkung hat; nur die Todesstrafe könne die Gemeinschaft vor brutalen Verbrechen schützen. Gerade nach Gewalttaten, die die Öffentlichkeit besonders erregen, bricht immer wieder eine solche Diskussion auf.Mit der Todesstrafe, so sagt man auch, müsse die Gesellschaft ihr Recht auf Vergeltung in Anspruch nehmen. Ich bin der Auffassung, daß die Strafe nach einer Straftat auch den Sühnecharakter deutlich machen muß, ich bin allerdings auch fest überzeugt, daß dem Menschen nicht ansteht, einen anderen zu töten. Auch der Staat hat dieses Recht also nicht. Ich will es ganz deutlich sagen: Ich lehne die Tötung ungeborenen Lebens, die Euthanasie und die Todesstrafe ab. Auch das ist die Haltung meiner Fraktion. Ich sage das, um den Gesamtzusammenhang aufzuzeigen. Wir werden uns mit der Frage der Menschenrechte und Menschenwürde gerade bei den Problemen, die Frau Däubler-Gmelin angesprochen hat, noch intensiver befassen müssen, denn die Frage nach dem Schutz des Lebens wird auch bei den neuen Technologien immer ernster und dringender gestellt werden.Es gibt viele Gründe, sich gegen die Todesstrafe auszusprechen. Das kann deutlich werden aus folgenden Feststellungen:Erstens. Das Recht auf Leben darf nicht eingeschränkt werden.Zweitens. In Staaten mit der Möglichkeit der Todesstrafe ist die Zahl der Gewalttaten nicht geringer als in Staaten ohne Todesstrafe. Nach meiner Auffassung ist der Rechtfertigungsgrund Abschreckung nicht zu halten. Es gibt sicherlich andere Mittel der Abschrekkung und Vorbeugung. Das für mich wichtigste Mittel ist die frühzeitige Hinführung, ja Erziehung der Menschen zur Anerkennung des Lebensrechtes eines jeden. Wer Gewalt gegen Sachen für legitim hält, wird nicht verhindern können, daß innerlich nicht gefestigte Menschen die Gewalt gegen Personen auch als legitim ansehen. Auch der sonst manchmal recht leichtfertige Umgang mit Leben von der Zeugung bis zum Tode kann die Hemmschwelle vor Gewalt gegen den anderen Menschen abbauen. Deswegen muß der, der sich gegen die Todesstrafe ausspricht, auch den Schutz des Lebens zu jeder Zeit wollen.Drittens. Keine Diktatur verzichtet bis heute auf die Todesstrafe. Wenn die DDR jetzt ankündigt, daß die Todesstrafe in Zukunft nicht mehr verhängt werde, so widerspricht das noch nicht meiner These. Die menschenfeindliche Einstellung des dortigen Regimes wird schließlich noch jeden Tag am Schießbefehl an Mauer und Stacheldraht deutlich. Noch ist der Schießbefehl nicht aufgehoben, noch gibt es Menschenrechtsverletzungen in der DDR. Ich frage mich, warum es einige Bundesländer und einige Mitglieder dieses Hauses so eilig mit der Schließung der Erfassungsstelle in Salzgitter haben, die das alles registrieren soll.Noch scheint in aller Welt die Zahl der Hinrichtungen — das ist auch von meiner Vorrednerin angesprochen worden — leider zuzunehmen.Viertens. In unserem Grundgesetz ist in Art. 102 festgelegt: „Die Todesstrafe ist abgeschafft." Ich könnte zur Begründung der Rechtssituation auch noch Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes anführen: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. "Damit gehen wir wirklich weit über alle bisherigen Konventionen, Protokolle und Entschließungen hinaus. Unsere Appelle richten sich jetzt also an die anderen, uns zu folgen. Wir haben die Erfahrung der Verbrechen des Nationalsozialismus gemacht. Deswegen erscheint uns der Verzicht auf jegliche Todesstrafe als richtig, notwendig und unabänderlich.Ich will nun nach dieser Positionsbestimmung ein Wort zu den Drucksachen sagen, die zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen werden sollen. Für uns brauchten wir eigentlich keine gesetzliche Regelung
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1801
Seesingdes Protokolls Nr. 6 zur Konvention des Europarats zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe. Wir haben eine eindeutige und klare Regelung im Grundgesetz. Dennoch wollen wir alles tun, zumindest diesem Protokoll Nr. 6 — wir müßten eigentlich noch mehr tun — europaweit Geltung zu verschaffen. Ich hoffe, daß die Unsicherheiten über die Auslegung des Protokolls — ich will das so umschreiben — , die noch bestehen, schnellstens ausgeräumt werden können,
damit die Voraussetzungen für die Ratifizierung geschaffen werden.Auch ich spreche mich für eine weltweite Abschaffung der Todesstrafe aus, wie sie in dem Antrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/459 angesprochen wird. Ich bin auch gern bereit, zu meinem amerikanischen Nachbarn zu sagen, daß er doch auch auf die Todesstrafe verzichten möge. Er wird dann auf die Rechtstradition der USA verweisen. Er wird auch darauf verweisen, daß viele Menschen in seinem Land noch immer auch wegen der historischen Erfahrungen nach dem Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn" verfahren möchten. Es wird dauern, bis ich unsere Haltung und Einstellung meinem amerikanischen Freund so nahegebracht habe, daß er sie auch für sich für richtig hält.Er wird mich fragen: Warum sprichst du nur mit mir? Da sind noch die vielen anderen! — Sicherlich werde ich auf unsere besondere Freundschaft verweisen. Ich muß aber einsehen, daß ich z. B. auch Herrn Gorbatschow oder den Leuten in Südafrika und in Chile und, wie ich glaube, in 150 anderen Ländern der Erde etwas Ähnliches sagen müßte.In manchen Ländern ist es sogar ein religiöses Gebot, den Bösen oder vermeintlich Bösen zu töten. Es wird also noch viel getan werden müssen, bis man weltweit aufhört, die Todesstrafe zu verhängen. Appelle können Aufmerksamkeit erregen. Aber wenn man einen weltweiten Verzicht auf die Todesstrafe will, werden wir alle wohl noch mehr tun müssen.Ich bin gern bereit, die Beratung der drei Drucksachen beschleunigen zu helfen.Und noch dazu: Geduld wird man haben müssen und eine klare, eindeutige Linie, eine Linie: Schutz des menschlichen Lebens allerorts und allezeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Eid.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr von der CDU — denn mehr außer dem Redner sind ja nicht da — ! Sehr geehrte Damen und Herren von den anderen Fraktionen! Es liegt gerade erst zwei Wochen zurück, daß wir ohnmächtig miterleben mußten, wie das von der Bundesrepublik unterstützte Apartheidregime in Pretoria wieder zwei Todesurteile vollstreckt hat. Die jüngste Reise von Bundesminister Blüm nach Chile und sein persönlicher Einsatz für die Aufnahme der 15 zum Tode verurteilten Chilenen sowie die Berichte von deren Angehörigen, die auf unsere Einladung hin in die Bundesrepublik kommen konnten, haben dazu beigetragen, daß sich die Öffentlichkeit in unserem Land wieder verstärkt der altbekannten Tatsache bewußt geworden ist, daß in Chile ein Terrorregime alle Menschenrechte mit Füßen tritt.Anders als große Teile der CDU/CSU, welche Menschenrechtsfragen für außen- und wirtschaftspolitische sowie auch innerparteiliche Auseinandersetzungen mißbrauchen, setzen wir GRÜNEN diesem instrumentalisierenden Menschenrechtsverständnis die universelle und unteilbare Geltung der Menschenrechte entgegen. Die Unteilbarkeit gilt zeitlich und geographisch, sie gilt in bezug auf die Gesamtheit der politischen und sozialen Menschenrechte. Wir wenden uns gegen die Vorstellung, der Zweck heilige die Mittel, und kritisieren deshalb alle Menschenrechtsverletzungen, gleichgültig, im Dienste welcher Ideologie oder welchen Gesellschaftssystems sie erfolgen.Eine der heute vordringlichen Aufgaben ist die weltweite Abschaffung der Todesstrafe; das angesichts der Tatsache, daß in 129 Ländern in Ost und West, in Nord und Süd die Todesstrafe gesetzlich verankert ist. Viele von ihnen, z. B. Südafrika, Chile und Bangladesch, legalisieren damit staatlichen politischen Mord. Wo immer wir GRÜNEN die Gelegenheit haben, mit entsprechenden Regierungsvertretern zu sprechen — sei das z. B. aus Jamaika, aus der Volksrepublik China oder der Sowjetunion — , setzen wir uns für die Abschaffung der Todesstrafe ein.Was nun den SPD-Antrag betrifft — der sich vornehmlich an die Länder im westlichen Bündnis richtet — , so unterstützen wir ihn als einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe. Wir teilen das Anliegen, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika zu bewegen, den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte zu ratifizieren. Besonders besorgt sind wir darüber, daß in 28 US-Bundesstaaten die Hinrichtung von zur Tatzeit Minderjährigen gesetzlich zugelassen ist. Was die Zahl solcher Hinrichtungen angeht, sind die USA Führungsmacht in der westlichen Welt.Die Ächtung der Todesstrafe entspricht keineswegs nur der christlich-abendländischen Tradition. Sie ist ein gemeinsames Gut vieler Kulturen und Religionen. Die Androhung und Vollstreckung der Todesstrafe widersprechen dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wo es heißt:Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlungen oder Strafe unterworfen werden.Dieses Menschenrecht ist durch nichts zu relativieren.Aus diesem Grund, Frau Däubler-Gmelin, haben wir ergänzend einen Antrag eingebracht, der eben diese Relativierungen, wie sie etwa im 6. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention über das Verbot der Todesstrafe enthalten sind, aufheben soll. Vor zweieinhalb Jahren ist dieses Zusatzprotokoll in Kraft getreten. Bis heute wurde es von der Bundesregierung nicht zur Ratifizierung vorgelegt. Selbst aus der Sicht dieser Bundesregierung kann
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1802 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Eidnichts gegen die Ratifizierung angeführt werden. Deshalb kann man die bisherige Verschleppung nur als Ausdruck mangelnder Ernsthaftigkeit im so oft beschworenen Einsatz für die Ächtung der Todesstrafe werten.Aber diese Bundesregierung hat ja nicht nur diese Ratifizierung verschleppt. Die Liste ist weit umfangreicher. Die Unterzeichnung und Ratifizierung des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahre 1966 steht bis heute aus. Die europäische Antifolterkonvention kommt nicht voran, weil die Bundesregierung die Ausarbeitung im Lenkungsausschuß verzögert. Selbst die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen von 1984, die weit hinter der Konvention des Europarates zurückbleibt, wurde von der Bundesregierung nur mit Vorbehalt unterzeichnet und bis heute nicht zur Ratifizierung vorgelegt. Wir erwarten, daß sich Außenminister Genscher gegenüber dem Justizminister endlich dafür einsetzt, daß mit dem Herummeiern und der weiteren Verzögerungspolitik Schluß gemacht wird.
So beschämend es ist, daß nicht die Regierung, sondern die Opposition heute den Gesetzentwurf zum 6. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention vorlegen muß, so unannehmbar ist auch jeder Versuch, der Opposition das Antragsrecht bei Ratifizierungen abzusprechen. Es sind nur die Versäumnisse der Bundesregierung, die dieses Recht begründen. Dieses Recht gründet vielmehr darin, daß das Monopol staatlicher Behörden für Außenpolitik am Ende des 20. Jahrhunderts ein Anachronismus ist. Wir GRÜNEN treten für einen Prozeß der Demokratisierung und der Entstaatlichung von Außenpolitik ein und verteidigen in diesem Zusammenhang auch das Antragsrecht der Opposition.Lassen Sie mich einige Worte zu unserem ergänzenden Antrag zum 6. Zusatzprotokoll sagen. Wir fordern die Bundesregierung auf, einseitig auf die Übernahme dieses Art. 2 zu verzichten und auf dessen ersatzlose Streichung im Zusatzprotokoll hinzuwirken. Mit der einseitigen Verzichtserklärung würde die Bundesregierung ein Zeichen auf dem Weg zum schrittweisen Abbau und zur völligen Abschaffung der Todesstrafe setzen. Aus den gleichen Erwägungen heraus fordern wir die Bundesregierung auf, sich für die von uns eingebrachten Streichungen und Änderungen des Art. 5 des 6. Zusatzprotokolls einzusetzen.Diese Bundesregierung hat in den letzten Jahren viele schöne Worte über die Menschenrechte gefunden. Sie, Herr Genscher — er ist nicht da, aber sein Stellvertreter; Sie werden es ihm aber bitte mitteilen — , haben sich an dieser Stelle für die weltweite Einschränkung der Todesstrafe und für eine bessere völkerrechtliche Verankerung des Rechts auf Leben ausgesprochen. Das finden wir gut. Aber, meine Damen und Herren von der FDP, CDU/CSU, Sie sollten diesen Worten Taten folgen lassen und die Anträge von SPD und GRÜNEN zustimmend beraten.Herzlichen Dank.
Herr Minister, ich wollte eigentlich erst die Fraktionsrunde zu Ende führen.
Der Abgeordnete Irmer hat das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe zu meiner Freude festgestellt, daß alle Fraktionen dieses Hauses für die weltweite Ächtung der Todesstrafe eintreten. Allerdings war ich einigermaßen verwundert, daß wir von den GRÜNEN wieder einmal hören mußten, von einer wieviel höheren moralischen Warte aus sie dies tun als alle anderen.Meine Damen und Herren, auch wir sind der Meinung, daß das Protokoll Nr. 6 zur Menschenrechtskonvention des Europarates nun schleunigst ratifiziert werden sollte.
Es ist im April 1983 von der Bundesrepublik Deutschland gezeichnet worden und ist noch nicht ratifiziert. Ich möchte betonen, daß dies nicht daran liegt, daß etwa die meiner Fraktion angehörenden Minister in der Bundesregierung hierfür verantwortlich gewesen wären. Ebenso trifft dies auf die anderen internationalen Verträge zu, die noch der endgültigen Inkraftsetzung hier in der Bundesrepublik Deutschland harren.Die Ratifizierung der UN-Folterkonvention vom 10. Dezember 1984 steht an. Ich bedauere eigentlich, daß die Bundesrepublik die Gelegenheit verpaßt hat, das internationale Inkrafttreten dieser Konvention dadurch herbeizuführen, daß sie als 20. Land ratifiziert hätte.
Wir haben hier den Dänen den Vortritt gelassen, die dies im Juni dieses Jahres getan haben. Es wäre schön gewesen, wenn dies die Bundesrepublik gewesen wäre.
Meine Damen und Herren, wir müssen hier allerdings auch ein wenig an die Verantwortlichkeit erinnern; denn, soweit ich unterrichtet bin, ist es z. B. der Freistaat Bayern gewesen, der das Zeichnen und Inkrafttreten der europäischen Folterkonvention bisher verhindert hat. Ich möchte an meine bayerischen Landsleute appellieren, doch endlich den Widerstand hiergegen aufzugeben und sich dem anzuschließen, was Bundesaußenminister Genscher und Bundesjustizminister Engelhard schon immer vertreten haben.
Gerade die Bundesrepublik Deutschland sollte keinen Zweifel daran lassen, daß sie sich im Schatten der deutschen Vergangenheit von niemandem übertreffen läßt, wenn es darum geht, für die Wahrung der Menschenrechte und gegen die Todesstrafe international einzutreten.
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IrmerIch muß sagen: Der Bundesarbeitsminister Blüm hat in Chile etwas sehr Wichtiges getan, als er dies dem Diktator auch so ins Gesicht gesagt hat, der nämlich leugnet, daß dort überhaupt derartige Menschenrechtsverletzungen vorkommen. Meine Damen und Herren, ich habe selbst erfahren, wie die Opposition, wie die Menschen in Chile von dem Auftritt von Herrn Blüm in Santiago ermutigt worden sind. Ich möchte ihm gerade aus dieser persönlichen Erfahrung hier von dieser Stelle aus sehr herzlich dafür danken.
Meine Damen und Herren, vorhin ist hier davon die Rede gewesen, daß es auch in mit uns befreundeten Ländern mit gleichem Wertesystem die Todesstrafe gebe. Auch da lehnen wir selbstverständlich die Todesstrafe ab. Wir sollten, wenn wir mit unseren amerikanischen Freunden sprechen, keine Gelegenheit auslassen, dies auch zu sagen. Aber man muß doch auch einmal darauf hinweisen, daß ein himmelweiter Unterschied dazwischen besteht, ob ein Mensch nach einem ordnungsgemäßen rechtsstaatlichen Verfahren mit Berufungsmöglichkeiten zum Tode verurteilt wird, so bedauerlich das ist und so sehr wir dagegen sind, oder ob die Todesstrafe wie die Folter von Willkürstaaten als reines Terrorinstrument eingesetzt wird.
Insofern ist hier doch ein gewisser qualitativer Unterschied zwischen dem, was die Amerikaner tun, und dem, was beispielsweise in Chile geschieht. Folter und Todesstrafe werden von Diktaturen oft als Mittel der Unterdrückung, als Mittel zur Aufrechterhaltung des Regimes eingesetzt. Da muß man sagen: In solchen Ländern sitzen die eigentlichen Terroristen auf den Regierungsbänken.
Und das ist ein qualitativer Unterschied zu dem, was in Amerika bedauerlicherweise heute noch geschieht.
— Überhaupt, meine Damen und Herren, verehrte Kollegin: Weisen wir doch in diesem Zusammenhang auch einmal darauf hin, daß sowohl von Rechten als auch insbesondere von Linken oft ein gewaltiger Unterschied in der Verurteilung derartiger Dinge gemacht wird, je nach dem, wo diejenigen sitzen, die dafür verantwortlich sind.
Wir erleben es doch täglich.
— Ich habe nicht Sie gemeint, Frau Kollegin. Sie haben das hier nicht gesagt. Aber ich habe aus Äußerungen von Leute Ihrer Couleur das oft genug herausgelesen.
Ich erlebe doch immer wieder, daß Rechte Menschenrechtsverletzungen in rechten Diktaturen sehr nachsichtig behandeln, und ich erlebe auf der anderen Seite, daß Linke bei Menschenrechtsverletzungen durch linke Diktaturen oft nachsichtig die Augen schließen oder zumindest zukneifen.
Menschenrechte, meine Damen und Herren, sind unteilbar. Sie vertragen nicht die Behandlung nach politischer Opportunität.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will im Zusammenhang dieser Debatte auch darauf hinweisen, daß es noch andere Menschenrechtsverletzungen gibt, die genauso gravierend sind. Hunger, Krankheit und Elend in der Dritten Welt stellen peramente Menschenrechtsverletzungen dar. Nur ist denen nicht so leicht beizukommen, während wir im Bereich der institutionalisierten, der legalisierten Menschenrechtsverletzungen etwas tun können. Wir können diese Abkommen ratifizieren. Wir können uns Weltweit für die Ächtung von Folter und Todesstrafe einsetzen.Und wir sollten auch nicht vergessen, daß wir darüber hinaus noch etwas tun können, was zur praktischen Durchsetzung unserer Forderungen beitragen könnte. Meine Partei hat auf ihrem Bundesparteitag Anfang des Monats in Kiel nochmals ausdrücklich die Forderung bekräftigt, daß wir uns für einen UNOHochkommissar für die Menschenrechte und für die Errichtung eines Menschenrechtsgerichtshofs bei den Vereinten Nationen einsetzen. Ich wünsche mir, daß die Bundesregierung dieses aufgreift und sich hierfür einsetzt, hierfür Initiativen ergreift.Vielen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Hans Engelhard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ein. Sie begrüßt auch das 6. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention und mißt ihm eine hohe Bedeutung bei. Wir erwarten, daß damit ein unübersehbares Signal für die Stärkung der Menschenrechte im Sinne einer weltweiten Abschaffung der Todesstrafe gesetzt wird. Die Bundesregierung hat darum das 6. Protokoll bereits am 28. April 1983, also an dem Tag, an dem es zur Zeichnung aufgelegt wurde, im Europarat gezeichnet. Die Bundesregierung hat auch die Ratifizierung zugesagt.Die klärungsbedürftige Frage, welche Auswirkungen von dem Protokoll auf unser Ausländerrecht eventuell zu erwarten sind, hat die Ratifizierung jedoch verzögert.
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1804 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Bundesminister EngelhardDiese Prüfung ist jetzt abgeschlossen.
Ich rechne daher damit, daß das Bundeskabinett alsbald den Entwurf des Vertragsgesetzes beschließen kann.
— Herr Kollege Bindig, ich komme gleich noch in einem anderen Zusammenhang auf Ihre Bemerkung.Der von der SPD-Fraktion — so lege ich Wert zu sagen — vorgelegte Entwurf eines Vertragsgesetzes unterstreicht, daß wir in der Sache völlig einig sind. Ich will deswegen auch nicht die Frage vertiefen, ob ein solcher Gesetzentwurf aus der Mitte des Hauses die Handlungsfreiheit antastet, die das Grundgesetz der Bundesregierung im Bereich der völkerrechtlichen Vertragsbeziehungen zuweist. Das ist in diesem Zusammenhang hier an dieser Stelle zu erörtern nicht notwendig.Eines allerdings ist ganz klar: Die Bundesregierung hat es nicht verdient, der Unglaubwürdigkeit bezichtigt zu werden, wie es in der Begründung zu Ihrem Antrag sehr deutlich angesprochen wird. Jedermann weiß, daß die Bundesregierung, an der Spitze der Bundesaußenminister bei all seinen internationalen Kontakten, immer und überall für die weltweite Ächtung der Todesstrafe über die Jahre hin eingetreten ist und weiter eintreten wird.
Die Bundesregierung nutzt daher auch jede sich bietende Gelegenheit, jede Gelegenheit des internationalen Kontakts, aber auch jede Möglichkeit völkerrechtlich verbindlicher Vereinbarungen, andere Staaten zu einer möglichst vorbehaltlosen Abschaffung der Todesstrafe zu bewegen.
— Dies gilt in Richtung aller Staaten. Natürlich wird die Gelegenheit genutzt, gegenüber den uns befreundeten USA auch diese Frage nicht auszuklammern, sondern in der gebotenen Art und Weise anzusprechen, aber erst recht natürlich auch gegenüber Staaten wie Chile und vielen, vielen anderen auf dieser Welt.
Meine Damen und Herren, der heute von den GRÜNEN vorgelegte Antrag würde Vereinbarungen nicht fördern, sondern gerade verhindern. Eine Streichung von Art. 2 des Protokolls würde den mühsam erzielten Kompromiß zerstören und die Chance für die Annahme des Protokolls durch mehrere Staaten vereiteln. Ein einseitiger Verzicht auf Übernahme des Art. 2 ist rechtlich überhaupt nicht möglich. Für das Recht der Bundesrepublik Deutschland ist im Art. 102 des Grundgesetzes in nur vier Worten alles abschließend gesagt: „Die Todesstrafe ist abgeschafft." Das heißt: in jeder Situation, in Friedens-, in Kriegszeiten, im Spannungszustand. Soll derartiges etwa von denGRÜNEN mit ihrer etwas merkwürdigen Antragsbegründung in Zweifel gezogen werden?
Ich finde, daß der Antrag der GRÜNEN erneut zeigt, welches Maß an Realitätsferne diese Fraktion mittlerweile gewonnen hat.
Das Wort hat der Staatsminister Schäfer.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein Satz von mir zu sagen, der in diesem Hause selten gesagt wird: Die Bundesregierung begrüßt den Antrag des Abgeordneten Klein und der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/459. Die Abschaffung der Todesstrafe, die für die Bundesrepublik Deutschland bereits durch Art. 102 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich festgelegt wurde, weltweit zu erreichen gehört zu den großen menschenrechtlichen Zielen unserer Außenpolitik. Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland im Herbst 1980 zusammen mit einigen anderen Staaten in der 35. Generalversammlung der Vereinten Nationen den Entwurf eines Übereinkommens zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe eingebracht. Der Entwurf hat die Form eines zweiten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte.Ziel unserer Initiative ist es, langfristig ein völkerrechtliches Instrument zu schaffen, das zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe beiträgt. Durch das Fakultativprotokoll werden nur die Staaten, die ihm beitreten, verpflichtet, wie Sie wissen, die Todesstrafe abzuschaffen und nicht wieder einzuführen. Der Fakultativcharakter des Protokolls unterstreicht, daß kein Eingriff in die innerstaatlichen Rechte der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen beabsichtigt ist. Damit wird auf unterschiedliche Rechts- und Kulturkreise Rücksicht genommen, von denen hier schon die Rede war.Unser Nahziel ist es, mit der Initiative der internationalen Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe neue Impulse zu geben und Tendenzen zu ihrer Wiedereinführung entgegenzutreten. Angesichts der Tatsache, daß die Mehrheit der Staaten eine generelle Abschaffung der Todesstrafe auch in absehbarer Zeit noch nicht wünscht, muß unsere Initiative unter einer längerfristigen Perspektive als Teil der allgemeinen Menschenrechtsproblematik gesehen und behutsam vorangetrieben werden.Nach mehrfacher Befassung mit unserer Initiative hat die 39. Generalversammlung der Vereinten Nationen 1984 den UN-Generalsekretär gebeten, einen Bericht über die weiteren Vorarbeiten in der Menschenrechtskommission und in der mit unabhängigen Experten besetzten Unterkommission für Diskriminierungsverhütung und Minderheitenschutz vorzulegen. Die Unterkommission beauftragte den belgischen
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Staatsminister SchäferVölkerrechtler Professor Bossuyt von der Universität Antwerpen mit der Abfassung eines zusammenfassenden Berichts zu der mit unserer Initiative aufgeworfenen politischen und rechtlichen Problematik. Die Unterkommission der Menschenrechtskommission hat sich Ende August 1987 in Genf mit diesem Bericht befaßt. Der Bericht stellt eine wachsende Tendenz zur Einschränkung der Todesstrafe fest. Er unterstützt inhaltlich unsere Initiative, läßt aber als Ausnahme die Todesstrafe in Kriegszeiten zu. Die Mehrzahl der Experten der Unterkommission begrüßte die Arbeit als eine gründliche und ausgewogene Bestandsaufnahme. Wir haben in unserer Stellungnahme deutlich gemacht, daß wir das Recht auf Leben als ein fundamentales und unteilbares Menschenrecht ansehen, das auch in Kriegszeiten Beachtung finden muß.
Die Unterkommission konnte ihre Beratungen über den Bericht aus technischen und organisatorischen Gründen in diesem Jahr noch nicht abschließen. Sie wird sich daher auf ihrer kommenden Tagung im nächsten Jahr erneut mit dem Bericht befassen.
— Sie sind manchmal zu schnell mit Ihren Äußerungen, liebe, gnädige Frau, sage ich jetzt mal ausnahmsweise, aber ich glaube, das gefällt Ihnen.
— Sie hätten eigentlich klatschen müssen, liebe Frau Unruh, aber schon wieder rufen Sie mir Böses zu, und ich finde, ich habe das in diesem Zusammenhang wirklich gar nicht verdient.Die Bundesregierung wird auf den nächsten Sitzungen der UN-Generalversammlung und der Menschenrechtskommission durch entsprechende Resolutionen unsere Initiative fördern. Ich weise aber noch einmal darauf hin, daß wir angesichts der Mehrheitsverhältnisse behutsam vorgehen und uns unsere weiteren Schritte sorgfältig überlegen müssen.Nach dem Bossuyt-Bericht haben nur 52, mit der DDR jetzt 53, von 159 UN-Mitgliedstaaten die Todesstrafe gesetzlich oder de facto ganz oder in Friedenszeiten abgeschafft oder in den letzten zehn Jahren nicht angewendet. Die Bundesrepublik Deutschland hat beide Menschenrechtspakte am 9. Oktober 1968 unterzeichnet und am 17. Dezember 1973 ratifiziert. Wie in den Jahren zuvor forderten die 41. Generalversammlung und die 43. Menschenrechtskommission in Resolutionen, die die Bundesrepublik Deutschland aktiv unterstützt hat, alle Staaten nachdrücklich zum Beitritt zu beiden Pakten auf. Diese Aufforderung wird auch bilateral, gerade gegenüber den Regierungsvertretern der mit uns befreundeten Staaten, wiederholt. Der Beitritt zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte würde allerdings in unserem Bestreben zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe nur begrenzt helfen. Art. 6 des Paktes sieht zwar Einschränkungen in der Anwendung derTodesstrafe vor, schließt ihre Verhängung aber nicht aus.Meine Damen und Herren, der Weg zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe ist lang und hindernisreich. Wir werden viel Geduld brauchen. Die bisherige Behandlung unserer Initiative in den UN bestärkt allerdings die Bundesregierung in ihrer Zuversicht, daß langfristig und Schritt für Schritt dieses wichtige menschenrechtliche Ziel erreichbar ist.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich innerhalb der mir zustehenden Redezeit noch einmal zu Wort gemeldet. Ich tue das eigentlich aus verschiedenen Gründen: Zum einen wollte ich mich bei Ihnen, Herr Bundesjustizminister, und auch bei Ihnen, Herr Staatsminister, durchaus bedanken — das darf man ja einmal in diesem Hause — , daß Sie hier sehr klar erklärt haben, die Ratifizierung des sechsten Zusatzprotokolls wirklich jetzt ernsthaft vorantreiben zu wollen, und für die Zusage, daß dieses alsbald geschieht. Ich habe ein bißchen vermißt, daß Sie nicht auf den Punkt eingegangen sind, Herr Bundesjustizminister, auf den wir Wert legen, daß dieses Protokoll die Folge hat, daß niemand abgeschoben werden darf, dem in seinem Heimatland die Todesstrafe droht.Meine Bitte und auch meine Ermutigung an Sie ist, diese Folgerung nicht durch Vorbehalte oder irgendwelche Interpretationserklärungen zu verdunkeln. Davon wird abhängen, ob wir unsere Befürchtung, daß einerseits Worte gemacht werden und andererseits keine Taten folgen, aufrechterhalten werden.
Herr Bundesjustizminister, ich habe ebenfalls mit großer Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß Sie auch unseren Freunden gegenüber in Gesprächen und bei Verhandlungen unsere Erwartungen zur Ächtung der Todesstrafe und zur Achtung der Menschenrechte vortragen. Ich finde das gut. Ich halte das für einen Justizminister und selbstverständlich auch für einen Staatsminister einer demokratischen Regierung für selbstverständlich. Wie gesagt, es gehört eben zum Mindestbestand unserer Rechtskultur.Ich habe aber noch eine Bitte. So wie wir Sie von der FDP mit Ihren Erklärungen die Bundesregierung voll unterstützen, bitte ich Sie dann auch als FDP um Unterstützung, wenn ich klare Anfragen stelle, ob diese Gespräche auch gegenüber anderen Ländern geführt werden. Wenn Sie hier erklären, selbstverständlich sei dies gegenüber Chile der Fall, auch dann wenn es um Wirtschaftsbeziehungen oder um finanzielle Vergünstigungen geht, so — Herr Bundesjustizminister, das können Sie vielleicht nicht wissen — hat gestern die Bundesregierung auf meine Frage genau dies abgelehnt, und zwar anläßlich des Abschlusses der Umschuldungsverhandlungen zwischen Chile und dem Pariser Club, der jetzt am 27. August in Chile erfolgte. Da hätte die Gelegenheit zu solchen Gesprächen be-
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Frau Dr. Däubler-Gmelinstanden. Die Bundesregierung hat dies abgelehnt, und sie hat dies in sehr apodiktischer Form getan. Ich darf das hier noch einmal feststellen und damit die Hoffnung verbinden, daß sich dies in der Zukunft ändert.Ich werde die entsprechenden Anfragen zum gegebenen Zeitpunkt wiederum an die Bundesregierung richten.Herzlichen Dank.
Der Bundesminister der Justiz hat noch einmal um das Wort gebeten. Herr Minister, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich meinerseits und auch im Namen von Herrn Staatsminister Schäfer für Ihre freundlichen Anmerkungen, Frau Kollegin, bedanken, weil ich es gerade in einer so zentralen Frage für wichtig halte, wenn wir von beiden Seiten — und für uns gilt dies selbstverständlich in gleicher Weise — an demselben Strick in derselben Richtung ziehend, hier im Hause sehr, sehr fair miteinander umgehen.
Ich lege nur Wert darauf, daß ich, was die Verhandlungen mit Chile angeht, hier nichts Unzutreffendes gesagt habe. Es entzieht sich naturgemäß meiner Kenntnis, was bei den vielfältigen internationalen Kontakten seitens sehr vieler Personen für die Bundesrepublik Deutschland jeweils im einzelnen, noch dazu vielleicht unter vier Augen, gesprochen wird. Aber ich sagte: Jede sich bietende Gelegenheit in jeder Richtung gegenüber jedem Staat wird benutzt, um zur Ächtung der Todesstrafe etwas beizutragen. Nur ist es die Frage, ob auch jeder internationale Kontakt immer geeignet ist, diese wichtige Frage in jedem Falle und zu jeder Minute erneut anzusprechen. Das allerdings wird man demjenigen, der für die Bundesrepublik Deutschland diese Kontakte hat und Gespräche führt, überlassen müssen. Wir dürfen aber sicher sein, daß das Maß unserer Bemühungen für die Bundesregierung und damit für unser Land ein sehr hohes Maß der Bemühungen ist.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich kann die Aussprache schließen.
Es wird vorgeschlagen, die Vorlagen zur Abschaffung der Todesstrafe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Andere Vorschläge aus dem Haus werden nicht gemacht. Ich darf dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Punkt 17 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Schutz der Topographien von mikroelektronischen Halbleitererzeugnissen
— Drucksachen 11/454, 11/497 — a) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 11/754 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Sauter Stiegler
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 11/811 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Diller von Schmude
Frau Vennegerts
Der Ältestenrat hat eine Beratung mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion vorgesehen. — Widerspruch gegen diese vorgeschlagene Regelung erhebt sich nicht. Dies ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Sauter . Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Halbleitererzeugnisse erlangen in einer Vielzahl von Industriezweigen ständig wachsende Bedeutung. Die Halbleitertechnologie ist heute unzweifelhaft von entscheidender Bedeutung für die industrielle Entwicklung.Die dreidimensionale Struktur von Mikrochips, die sogenannte Topographie, bestimmt im wesentlichen die Funktion der Halbleitererzeugnisse. Für die Entwicklung dieser Topographien müssen umfangreiche geistige, technische und finanzielle Ressourcen eingesetzt werden. Mit einem minimalen Teil der für die eigenständige Entwicklung notwendigen Kosten lassen sich solche Topographien kopieren.Weder das deutsche Recht noch das Recht fast aller Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bieten derzeit einen ausreichenden Schutz gegen diese ständig zunehmende Form der Produktpiraterie.Das heute zu verabschiedende Gesetz über den Schutz der Topographien von mikroelektronischen Halbleitererzeugnissen setzt eine Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 16. Dezember 1986 um, nach der die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bis zum 7. November 1987 einen ausreichenden Rechtsschutz der Topographien von Mikrochips zu schaffen. Mit diesem Datum endet in den Vereinigten Staaten von Amerika ein den Angehörigen und Gebietsansässigen der EG-Mitgliedstaaten einstweilen gewährter Schutz für ihre Halbleitererzeugnisse.Die Einführung eines neuen gewerblichen Schutzrechtes sui generis ist aus rechtsdogmatischen Gründen zu begrüßen. Der Schutzgegenstand der Norm, aber auch die enge internationale wirtschaftliche Verflechtung auf dem Gebiet der Mikrochip-Erzeugung, die eigentlicher Antrieb der Kodifikation ist, lassen eine zweifelsfreie Einordnung in das Urheberrecht oder die einzelnen Formen des gewerblichen
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Sauter
Rechtsschutzes nicht zu. Eine gesonderte Regelung in Anlehnung an das Gebrauchsmusterrecht erscheint daher als die zweckmäßige Lösung.Die CDU/CSU-Fraktion hat sich nachhaltig dafür eingesetzt, daß der bei einer zentralen Registrierung nicht auszuschließenden Gefahr begegnet wird, den Weg der Akteneinsicht nur deshalb zu wählen, um insbesondere durch Kopieren eingereichter Unterlagen eine Topographie nachzuahmen. Aus diesem Grund kann lediglich eine unmittelbare Einsichtnahme in die Unterlagen zulässig sein.Das Halbleiterschutzgesetz soll das Halbleitererzeugnis als fertiges Produkt schützen. Die nach dem Halbleiterschutzgesetz zu hinterlegenden Unterlagen stellen zum großen Teil Kopien der zu schützenden Topographie dar, d. h. Konstruktionsunterlagen des fertigen Produkts. Eine Kopierfreiheit im Akteneinsichtsverfahren würde bedeuten, daß sich jeder ohne weiteres in den Besitz dieser Konstruktionsunterlagen setzen könnte, soweit es sich nicht um solche Topographien handelt, die als Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis gekennzeichnet sind. Die letztere Kennzeichnung wird im Regelfall nur für Halbleitererzeugnisse möglich sein, die sich noch nicht im Handel befinden. Aus diesen Gründen ist es notwendig, die in § 4 Abs. 3 geregelte Akteneinsicht — außer im Fall eines Löschungsverfahrens oder eines Rechtsstreits — auf die unmittelbare Inaugenscheinnahme der hinterlegten Unterlagen zu beschränken und die Anfertigung von Vervielfältigungsstücken dieser Unterlagen nicht zuzulassen. Andernfalls könnten sich bei Akteneinsicht Interessenten durch Überlassung von Vervielfältigungsstücken in einfacher Weise Unterlagen verschaffen, die ihnen sonst ohne Analyse des entsprechenden Halbleitererzeugnisses kaum zugänglich wären. Besonders schwerwiegend wäre dies bei Topographien, die vom Schutzinhaber noch nicht geschäftlich verwertet wurden. So gewonnene Unterlagen könnten schließlich auch in Ländern verwendet werden, die noch keinen entsprechenden Schutz gewähren. Der angestrebte Schutz gegen Kopien könnte dadurch leicht ins Gegenteil verkehrt werden.Wir werden dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Oberthema dieses Gesetzes lautet: Wie kann man die Ausbeutung fremder Leistung verhindern, wie kann man der Produktpiraterie Einhalt gebieten? Oder auf deutsch gesagt: Wie kann man verhindern, daß Umsätze und Erträge mit den Leistungen und den Investitionen anderer gemacht werden? Hier gibt es gefährliche Entwicklungen, insbesondere bei einem sich verschärfenden internationalen Wettbewerb. Daraus resultieren Gefahren sowohl für die Unternehmen, für die in ihnen beschäftigten Arbeitnehmer als auch für die Kapitalgeber.Mit diesem Halbleiterschutzgesetz füllen wir eine Lücke im gewerblichen Rechtsschutz. Wir haben zwar das Patentrecht, das Gebrauchsmusterrecht, das Geschmacksmusterrecht oder das Urheberrecht. Gleichwohl ist aber bei der neuen technischen Entwicklung, bei der Chip-Entwicklung eine erhebliche Schutzlücke entstanden, und diese Lücke wird durch das neue Schutzrecht bei Wahrung — darauf lege ich besonderen Wert — der Rechte der Arbeitnehmer, also des Arbeitnehmererfindungsrechts, gefüllt. Ich will niemanden mit den Details dieses Gesetzes belasten. Wer sich mit diesen Details befassen möchte, den verweise ich auf den schriftlichen Bericht.Ich möchte aber aus Anlaß dieser Verabschiedung auf ein paar Probleme zu sprechen kommen, die wir uns hier vor Augen führen sollten.Dieses Gesetz ist keine Aktion, sondern eine Reaktion des deutschen Bundesgesetzgebers. Wir haben uns dem US-amerikanischen Druck beugen müssen und nicht etwa aus eigener Initiative gehandelt. Wir haben auch nicht etwa aus eigener Initiative in der Bundesrepublik gehandelt, sondern setzen eine europäische Richtlinie um — zwei Vorgänge, die vorher nicht Gegenstand parlamentarischer Beratung waren. Ich weise darauf hin, daß wir uns seit geraumer Zeit bemühen, eben die EG-Vorlagen, diese Entwicklungen stärker unter Kontrolle zu bekommen. Ich sage hier ausdrücklich: kein Vorwurf an das BMJ. Die Mannschaft um Herrn Krieger herum hat schnell reagiert und hervorragend gearbeitet. Wer aber meiner Meinung nach etwas geschlafen hat, ist der Bundeswirtschaftsminister, weil der die Entwicklung nicht rechtzeitig erkannt hat, so daß also auch nicht rechtzeitig Vorkehrungen getroffen worden sind.
— Ja, ich sage das bewußt, auch wenn Herr Riedl nicht Bundeswirtschaftsminister ist. Aber er soll sich ruhig mitbetroffen fühlen und hier, in die Zukunft schauend, wenigstens wacher sein,
damit wir hier der Entwicklung nicht immer hinterherlaufen müssen.Ich sage ganz deutlich: Die Beratungen haben unter dem unerträglichen Zeitdruck gelitten.
Wir als Sozialdemokraten haben ausnahmsweise mitgemacht, weil wir Vertrauen in die Krieger-Mannschaft haben, aber auch deshalb, weil auf Grund des Termindrucks Schaden für deutsche Unternehmen droht. Darum haben wir hier mitgemacht und Beratungszeiten hingenommen, die normalerweise nicht hinzunehmen sind.Meine Damen und Herren, wir müssen uns klarmachen, daß neue technische Entwicklungen nicht nur gesetzlich flankiert und kontrolliert werden müssen, so etwa bei der Gentechnologie, sondern daß sie auch bei den klassischen Schutzrechten Antworten von uns verlangen. Es ist eine Aufgabe für die Rechtstatsachenforschung, Herr Minister, hier solche Entwicklungen mehr zu betrachten.Ich habe viele Reden des Justizministers zur Bekämpfung der Produktpiraterie gelesen. Ich nehme an, daß wir heute wieder ein Bekenntnis zur Bekämp-
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1808 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Stieglerhing der Produktpiraterie bekommen werden. Das ist ja in der Tat ein Problem. Man hört, daß es selbst deutsche Unternehmen geben soll, die sich in Fernost unter Verletzung gewerblicher Schutzrechte Produkte bestellen. Wir sind uns einig, daß hier etwas unternommen werden muß. Es ist Zeit, den Reden endlich Taten folgen zu lassen, Herr Minister, und zwar mit einer gewissen Geschwindigkeit, nicht so, wie man es Ihnen immer nachsagt, lento di molto, sondern sozusagen andante con moto.
Das wäre das mindeste, was wir in dem Bereich erwarten.Wir hoffen, daß dieses Halbleiterschutzgesetz jetzt nicht hier zum Anlaß genommen wird, zu sagen, man hätte jetzt das Notwendigste getan, und wir hoffen, daß die ganze Vorlage zur Bekämpfung der Produktpiraterie — sei es im Rahmen der Berichterstattung zur Urheberrechtsnovelle oder sei es aus eigenem Antrieb — beschleunigt auf den Tisch des Hauses kommt.Wir jedenfalls haben bewiesen, daß wir kooperationsbereit sind im Interesse der betroffenen Unternehmen und der in ihnen beschäftigten Arbeitnehmer.Ich möchte noch einmal den Beamten des Justizministeriums herzlich dafür danken, daß sie hier unter Druck die Sache so kreativ hinbekommen haben, daß sie sozusagen das Vertrauen, das wir in sie setzen, wieder einmal gerechtfertigt haben.Vielen Dank.
Das Wort hat Herr Staatssekretär Riedl, der versprochen hat, nur mit einem Satz zu erwidern. Sonst hätte ich Bedenken gehabt, die Fraktionsrunde zu unterbrechen.
Danke schön, Herr Präsident, ich werde es einmal versuchen.
Herr Kollege Stiegler, das Bundeswirtschaftsministerium schläft natürlich nicht; wir haben alle diese Initiativen des von Ihnen so sehr gelobten Bundesjustizministeriums in vollem Einvernehmen mitgebilligt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als festzustellen, daß der Herr Staatssekretär sein Versprechen eingehalten hat.
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden dem Gesetz über den Schutz der Topographien von mikroelektronischen Halbleitererzeugnissen zustimmen.Wir sind allerdings befremdet über die Verfahrensweise — dies hat der Herr Kollege Stiegler eben deutlich gemacht — , durch die wir hier von den Amerikanern, aber auch von der Europäischen Gemeinschaft unter Zeitdruck gesetzt worden sind; denn wir mußten vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes in Amerika vor drei Jahren und der Kenntnisnahme der Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft innerhalb eines Jahres diesen Gesetzentwurf miteinander beraten. Aber dies sollte nicht der zukünftige Stil sein, in dem wir weltweit unsere gewerblichen Rechte untereinander schützen. Vielmehr sollten unsere gewerblichen Rechte durch weltweite Abkommen geschützt werden. Es ist auch daran gedacht — wie in der Vorlage dargelegt — , daß auf internationaler Ebene die Weltorganisation für Geistiges Eigentum in Genf die Arbeiten vorantreibt, um den gewerblichen Rechtsschutz auch für den Halbleiterschutz besser umsetzen zu können. Denn solche Dinge können wir nicht mehr national miteinander regeln, sondern so etwas kann nur noch supranational geregelt wérden. Die Amerikaner sind uns mit ihren zweifellos auch wirtschaftlich protektionistischen Anliegen etwas voraus, oder besser gesagt: Sie versuchen, uns damit unter Druck zu setzen.Wir können uns natürlich fragen: Warum hat der deutsche Gesetzgeber nicht vorher reagiert und das Urhebergesetz oder den gewerblichen Rechtsschutz nicht insoweit erweitert? Auch die §§ 823 ff. hätten in irgendeiner Weise erweitert werden können. Vielleicht liegt es schlicht daran, daß zumindest in dieser frühen Phase des Halbleiterschutzes noch kein Regelungsbedarf bestand; denn diese Produkte haben sich mit einer Schnelligkeit entwickelt, daß ein Hinterlegen beim Patentamt unter Umständen keinen Sinn gemacht hätte. Vielleicht hätte es sogar dazu geführt, daß die hinterlegten Halbleiterprodukte in irgendeiner Weise kopiert worden wären, vielleicht nicht mit einer 100%igen Identität, aber doch so, daß die Wirtschaft keinen hinreichenden Schutz gehabt hätte.Lassen Sie mich noch sagen, was mich gelegentlich bei den Gesetzentwürfen sehr stört: Unter dem Punkt D: Kosten wird ausgeführt, daß dieses Gesetz dem Staat praktisch keine Kosten macht. Das ist alles richtig und auch sehr fein errechnet worden. Aber tatsächlich ist es doch so, daß die Kosten natürlich der Wirtschaft entstehen. Ich würde in den Beratungen in Zukunft doch auch ganz gerne erfahren, welche Belastungen auf die gewerbliche Wirtschaft zukommen, wenn sie gezwungen ist, zum Schutze ihrer Produkte das Deutsche Patentamt in Anspruch zu nehmen, und ob es unter Umständen nicht einfachere und billigere Methoden gibt, um die gewerbliche Wirtschaft zu schützen.
Bei der Gesetzesflut, die uns ja doch wieder ins Haus steht — beim nächsten Tagesordnungspunkt haben wir wieder ein Beispiel eines unnützen Gesetzes — , werden wir doch verstärkt darauf achten müssen, welche Kosten nicht nur dem Staat entstehen, sondern auch der gewerblichen Wirtschaft. Diese Kosten wirken sich über die Körperschaftsteuer nachteilig für den Staat aus, und wir sollten darauf achten, daß die Wirtschaft nicht unnötig mit Kosten belastet wird.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1809
Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß es sich hier um eine gesetzliche Regelung handelt, die industrielle Interessen, vor allem Interessen der sogenannten zukunftsweisenden Industrien betrifft, haben wir, glaube ich, schon daran gesehen, daß hier zwei Vertreter aus dem südlichen Raum Deutschlands gesprochen haben.
Es ist auch schon gesagt worden, daß dies keine originäre Gesetzesinitiative der Bundesregierung war, sondern daß dieser Entwurf als Reaktion auf eine Vorgabe der Amerikaner entstanden ist. Es ist so, daß die Amerikaner am 8. November 1984 einen urheberrechtsähnlichen Schutz erstens gegen die unerlaubte Nachbildung der in Halbleiterchips enthaltenen sogenannten Topographien und zweitens gegen die Verbreitung von Chips, die solche Nachbildungen enthalten eingeführt hat. Die Amerikaner haben eine Übergangsfrist von drei Jahren ab Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen. Für diese Zeit sollte dieser Schutz für Ausländer auf dem amerikanischen Markt gelten, wenn deren Heimatstaaten echte Anstrengungen unternehmen würden, die zum Erlaß entsprechender innerstaatlicher Rechtsvorschriften führen würden. Diese Frist läuft in diesem Jahr ab, und zwar am 8. November 1987.
Nach einer Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 16. Dezember 1986 über den Rechtsschutz der Topographien von Halbleitererzeugnissen sind die Mitgliedstaaten daher verpflichtet, die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften bis spätestens zum 7. November 1987 zu erlassen. Der vorliegende Gesetzentwurf soll der Umsetzung dieser Richtlinien dienen.
Es soll also ein neues gewerbliches Schutzrecht geschaffen werden, das eine Rechtslücke zwischen Urheberrecht, Gebrauchsmusterschutz und Patentrecht schließen soll, die auf Grund der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung entstanden ist. Es ist nämlich so — ich muß hier jetzt einige technische Erläuterungen geben, damit man das ein bißchen verstehen kann — , daß auf den sogenannten Mikrochips eine Unmenge von integrierten elektronischen Schaltungen angeordnet werden können. Mit diesen Schaltelementen werden die Steuerungs- und Speicherfunktionen eines Mikroprozessors, also das Gehirn eines Mirkocomputers, realisiert. Sehr aufwendig bei der Entwicklung solcher Chips ist es, geeignete Anordnungen für die Schaltelemente, also die Schaltschemata, zu entwerfen. Von der Anordnung hängt aber vor allem auch ab, wie viele Schaltelemente auf wie engem Raum untergebracht werden können und damit auch — das ist, glaube ich, entscheidend — , wie hoch die Leistungsfähigkeit der Chips ist.
Wenn man solch eine Anordnung, solch eine Topographie, erst einmal entworfen hat, so ist die Nachbildung, also die Kopie, sehr einfach zu machen. Wer diese Kopien dann vermarktet, der kann sie auch wesentlich billiger vertreiben als die mit Entwicklungskosten belasteten Originalchips. Dadurch werden die Absatzmöglichkeiten der Originalhersteller beschränkt und ihre Chancen gemindert, ihre Innovations- und Investitionsleistung belohnt zu sehen. Den Originalherstellern entstehen so Verluste in Millionenhöhe.
Ich denke, es ist daher nicht an den Haaren herbeigezogen, den vorliegenden Gesetzentwurf als eine Lex Halbleiter bzw. Computerindustrie zu bezeichnen. Das wird auch schon deutlich in der Begründung zum Gesetzentwurf. Dort heißt es z. B. — ich zitiere —:
Die Industrie, die Halbleitererzeugnisse entwikkelt und produziert, ist ein Industriezweig mit außergewöhnlich zahlreichen und kostenträchtigen Innovationen; sie steht national und international in scharfem Wettbewerb.
Es ist also ein Sondergesetz zugunsten der Industrie. Dies wird daran deutlich, daß der mit dem Gesetzentwurf beabsichtigte Schutz der Topographien von Halbleitererzeugnissen in keiner Weise auf Grundsätze des Patent-, Gebrauchsmusterschutz- oder Urheberrechts Rückgriff nehmen kann. So wird in vielen Fällen der für den Patent- und Gebrauchsmusterschutz notwendige Abstand von vorbekannten Chips, d. h. die erforderliche Neuheit, fehlen. Auch beim Urheberrecht ist die Voraussetzung für den Schutz im Einzelfall, daß es sich um eine persönliche geistige Schöpfung handelt. Da insoweit eine gewisse Gestaltungshöhe, Originalität und Individualität gefordert werden, bleiben diejenigen Halbleitererzeugnisse, die diese Anforderungen nicht erfüllen, vom Urheberrechtsschutz ausgeschlossen.
Die Aufweichung und Erweiterung des Patent-, Gebrauchsmusterschutz- und Urheberrechts auf im vorgenannten Sinne gar nicht schützenswerte Erzeugnisse können wir nicht unterstützen. Eine solche Erweiterung einzig unter dem Gesichtspunkt der Sicherung von Profiten für bestimmte Industriezweige sowie Absatzmärkte halten wir zumindest für bedenklich. Nach seinem Charakter müßte der Gesetzentwurf einen Platz im Subventionsbericht erhalten.
Der Gesetzentwurf steht in der Tradition der heutigen Bewertungskriterien für die Entscheidung zur Patentvergabe, und das sind ausschließlich wirtschaftliche Gesichtspunkte. Uns fehlen hier die Prüfung der Umweltverträglichkeit und soziale Kriterien, die mit einbezogen werden müßten. Wir arbeiten daran, daß im Patentrecht entsprechende Veränderungen vorgesehen werden. Wir halten aber den hier vorliegenden Gesetzentwurf nicht für einen Aufhänger für solche Überlegungen, und wir werden uns aus den genannten Gründen bei diesem Gesetzentwurf der Stimme enthalten.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Justiz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Stiegler hat richtig vermutet: Ich stelle an den Anfang meiner sehr kurzen Ausführungen die Aussage, daß die konsequente Bekämpfung der Produkt-
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Bundesminister Engelhardpiraterie für die Bundesregierung eine vorrangige Aufgabe ist.
Ich erinnere daran, daß die Bundesregierung bereits in der letzten Legislaturperiode bei der Novellierung des Urheberrechts, beim Gebrauchsmusterrecht und beim Geschmacksmusterrecht erste wirkungsvolle Maßnahmen zur Eindämmung der Produktpiraterie veranlaßt hat.
Mit dem Halbleiterschutzgesetz werden wir nun der Produktpiraterie auf dem speziellen Gebiet der mikroelektronischen Hochtechnologie einen Riegel vorschieben. Aber — hier komme ich auf Ihre Ausführungen zurück, Herr Kollege Stiegler — ein umfassender Entwurf zur Bekämpfung der Produktpiraterie steht noch aus und ist dringend veranlaßt. Ich sage an dieser Stelle, daß bis Ende des Jahres ein Referentenentwurf vorliegen wird.Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf setzt die EG-Richtlinie vom 16. Dezember 1986 um. Hiernach müssen die erforderlichen Rechtsvorschriften bis spätestens zum 7. November 1987 in Kraft treten. Daher standen die Ausarbeitung des Gesetzentwurfes und die Beratung in den Ausschüssen unter einem enormen Zeitdruck; ich sehe dies wohl. Ich freue mich deshalb ganz besonders darüber, daß der Gesetzentwurf in den Ausschüssen des Deutschen) Bundestages nachhaltige Unterstützung gefunden hat und daß es uns gemeinsam gelungen ist, den vorgesehenen Zeitplan einzuhalten. Ich danke den Mitgliedem der Ausschüsse, insbesondere ihren Vorsitzenden und den Berichterstattern des Rechtsausschusses, den Herren Sauter und Stiegler, für die tatkräftige Unterstützung.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung in zweiter Lesung. Ich rufe die §§ 1 bis 28, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Danke. Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist das Gesetz in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke. Gegenprobe! — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist der Gesetzentwurf mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Tagungsordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Haftpflichtgesetzes
— Drucksache 11/432 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Sportausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sauter .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Spätsommerliche Temperaturen in unseren Breitengraden erschweren es, sich in dieser Debatte im wahrsten Sinne des Wortes mit Schnee und Eis zu befassen. Wir sollten trotzdem, wie ich meine, in unseren gemeinsamen Bemühungen um eine Verbesserung des Schutzes der Verbraucher die berechtigten Interessen der Skiläufer nicht außer acht lassen. Es gibt in diesem Bereich eine Gesetzeslücke, an deren Beseitigung uns allen gelegen sein sollte und von der ich nicht glaube, daß sie damit abgetan werden kann, daß gerade hier, wenn ich an die letzte Debatte, die wir in diesem Parlament hierzu geführt haben, denke, vor der Gesetzesflut gewarnt wird, die jetzt angeblich wieder über uns hereinbrechen könnte.Jährlich werden in der Bundesrepublik Deutschland allein durch Schlepplifte 84 Millionen Personen befördert. Das sind mehr als dreimal so viel wie durch alle anderen Bergbahnen. Schlepplifte sind — skifahrende Kolleginnen und Kollegen unter uns können dies möglicherweise leidgeprüft bestätigen — keinesfalls ungefährlicher als Schwebèbahnen. Im Gegenteil, nach Angaben des Deutschen Skiverbandes ereignen sich ca. 90 % aller im Zusammenhang mit Aufstiegshilfen bekannten Unfälle an Schleppliften. Hiervon wiederum sind 42 % auf technisches Versagen zurückzuführen. Die jährlich etwa 3 000 Unfälle, bei denen Schleppliftbenutzer schwere Verletzungen erleiden, werden in erster Linie durch die von der Anlage selbst ausgehenden Gefahren verursacht. Die Hauptgefahrenquelle liegt im technischen Bereich. Zu nennen sind hier insbesondere gerissene Zugseile, defekte Schleppbügel, losschnellende Bügelseile und anderes.Die derzeitige Rechtslage ist mehr als unbefriedigend. Verletzte Skiläufer sind gezwungen, den Nachweis zu erbringen, daß ein Verschulden des Betriebsunternehmers für den Schadensfall ursächlich gewesen ist. Im Gegensatz hierzu gilt bei Beförderung mit Sesselliften die sogenannte Gefährdungshaftung. Rechtsdogmatisch wie rechtssystematisch ist es aus meiner Sicht nicht zu rechtfertigen, daß für die Beförderung von Skiläufern mit Schleppliften eine andere Schadensersatzregelung gelten soll als für die Beförderung mit Sesselliften.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1811
Sauter
Gelegentlich wird behauptet, daß sowieso alle Schäden, die bei dem Betrieb von Schleppliften und damit einhergehenden Verletzungen entstehen, durch die Versicherungen abgedeckt würden. Das stimmt nicht. Hat der verletzte Skifahrer beispielsweise keine Unfallversicherung abgeschlossen, so erleidet er vielfach erhebliche finanzielle Nachteile. Die Krankenkassen übernehmen lediglich die Kosten für die Heilung. Schmerzensgeld wird nicht gezahlt; bei Invalidität oder geringfügigeren Dauerschäden können Ersatzansprüche nicht durchgesetzt werden. Das ist für den Geschädigten schlechthin unzumutbar.Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates, der auf Grund einer bayerischen Initiative entstanden ist, zieht die richtigen Konsequenzen aus der derzeitigen Situation. Er sieht vor, Schlepplifte in die nach dem Haftpflichtgesetz vorgesehene verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung einzubeziehen und sie damit den Schwebebahnen weitgehend gleichzustellen. Der Entwurf berücksichtigt aber auch, daß bei einem Schlepplift eine weitgehende Mitwirkung des Fahrgastes erforderlich ist und daß der Betrieb an eine Schleppspur gebunden ist, die im besonderen Maße äußeren Einflüssen unterliegt. Der Entwurf enthält somit eine Lösung, die die Interessen der Liftunternehmer und der Skifahrer in ausgewogener Weise berücksichtigt. Sämtliche Interessenverbände haben dieser Lösung im Prinzip zugestimmt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Herr Kollege Kleinert, der Sie dieses Thema mehr oder weniger zum Lieblingsthema im Parlament gemacht haben und es immer wieder verstehen, durch durchaus humorvolle Reden hier zu glänzen, die leider bisher einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, daß das Gesetz nicht mit der, wie ich meine, erforderlichen Geschwindigkeit verabschiedet werden konnte — ich allerdings meine, daß wir es nicht wiederum eine weitere Legislaturperiode verschieben sollten, wie es beim letzten Mal der Fall gewesen ist —, geben auch Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie im Interesse unserer Mitbürger für den Gesetzentwurf des Bundesrats. Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Kollege Kleinert, Hals- und Beinbruch bei diesem Vorhaben.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Klein .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Sportfreunde! Uns begegnet mit diesem Gesetzentwurf ein alter Bekannter aus früherer Zeit. Wir wissen, daß der Freistaat Bayern im 9. und 10. Bundestag dieses Thema der Änderung des Haftungsrechts bei Schleppliftunfällen aufgegriffen hat. Wir haben es hier anberaten. Es ging an die Ausschüsse. Es ist nichts daraus geworden.Wir unternehmen heute einen neuen Anlauf. Ich habe von einigen sachkundigen Kollegen in diesen Tagen gehört, daß eine Reise in der ersten Klasse der chinesischen Staatsbahn vermutlich komfortabler sei als das Hochliften auf einen Skiberg im Allgäu. Aber, meine Damen und Herren, das ist nicht das Thema dieser Stunde.Mit diesem neu eingebrachten Antrag soll versucht werden, die bisherige Verschuldenshaftung auf eine generelle Gefährdungshaftung umzustellen. Das bedeutet, daß Schäden, die bisher nicht entgolten werden konnten, in Zukunft besser gehandhabt werden können.Nur muß man folgendes bemerken: Eine Änderung des Haftungsrechts bedeutet nicht, daß auch die Zahl der Unfälle zurückgehen wird. Wir müssen festhalten, daß die zu hohe Zahl. von Unfällen auf den Skipisten und beim Transport auf den Berg — der Deutsche Skiverband spricht von 3 000 pro Jahr, das Justizministerium spricht von 120; das ist eine deutliche Differenz — nur gesenkt werden kann, wenn sich die Skifahrer besser verhalten und nicht glauben, daß die Änderung des Haftungsrechts sie vor Schäden bewahren kann. Es werden lediglich Kosten verlagert, nichts anderes.Meine Damen und Herren, es kann eigentlich niemand etwas dagegen haben, wenn der Versicherungsschutz für Sportler, für Freizeitsportler, für Erholungssuchende in der Winterzeit verbéssert wird. Wir sind auch dann dafür, wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist.Es vermag auch niemand so recht einzusehen, daß die Schwebebahnen bisher schon in die Gefährdungshaftung einbezogen sind, dies hingegen für Schlepplifte nicht gilt. Mein Vorredner hat dies hier deutlich dargestellt.Aber es gibt Vorbehalte in der Sache. Es ist keineswegs so klar, Herr Kollege Sauter, wie von Ihnen dargestellt wurde, daß die geplante Rechtsregelung die Unsicherheit beseitigt. Ich finde sogar, daß die vorgesehenen Gesetzesänderungen nach wie vor diffus und widersprüchlich sind.
— Das werden wir in den Ausschußberatungen tun. Wenn beispielsweise erkennbar wird, daß die Schleppspur nicht Teil der Anlage ist, in bestimmten Situationen dennoch Teil der Anlage wird, d. h. die Fahrrinne, in welcher der Skifahrer nach oben kommt, dann weiß man nicht, wie das im konkreten Fall auszudeuten ist. Ich kann nur darauf hinweisen, daß es in bestimmten Fällen sehr schwer sein wird, eine Beweissicherung darüber herbeizuführen, ob die Schleppspur Teil der Anlage war oder nicht.In Ihrem Gesetzentwurf heißt es, daß dies in gewissen Situationen kein Schienenstrang ist, sondern daß sich der Skiliftbetreiber von der Haftung entlasten kann.Auch die Frage der Eigenverantwortung des Benutzers, die bereits angesprochen wurde, ist unklar gehalten. Was ist eigentlich „Eigenverantwortung"? Ich weiß, daß es bei Prozessen sehr schwer sein wird, dies alles abzugrenzen.Ich finde, daß die Nachbarländer des deutschen Alpenraums dies sehr viel deutlicher als wir gesehen haben. Sie haben bessere Lösungen gefunden als diejenigen, die heute hier propagiert werden. Ich bin der Auffassung, daß wir uns in den Ausschußberatungen
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Klein
an Lösungen anlehnen sollten, die anderswo praktiziert werden.Ich will nicht verhehlen, daß das ganze Unbehagen an der neuen gesetzlichen Regelung sehr deutlich in einem Redebeitrag des Kollegen Detlef Kleinert zum Ausdruck kam, der vorhin schon angesprochen wurde. Kollege Kleinert hat im Rechtsausschuß gesagt: Will eigentlich der Gesetzgeber den Bürger vor allem Gemach schützen, auch vor solchem, in das er sich selbst verwickelt hat?Mit dem Besteigen eines Schleppliftes werden vom Benutzer oftmals auch gleichzeitig die Ursachen für die künftigen Gefahren geschaffen. Kleinert sagte weiter: Will der Gesetzgeber eigentlich einen gefährlichen Sport dem Benutzer sicherer erscheinen lassen als das, was er eben durch sein eigenes Tun selbst herbeiführt? Will er eigentlich andere für das zahlen lassen, was er selbst verschuldet hat? Orginialton Kleinert weiter: Wer Wintersport betreibt, hat ein zusätzliches Vergnügen. Wer sich dabei ein Bein bricht, hat dafür einen zusätzlichen Schmerz. Das hebt sich gegenseitig auf.Ich glaube, damit sind die Probleme ein bißchen beschrieben. Ich bin gespannt, wie sich die FDP, die ja im 9. und 10. Bundestag — einmal in der sozialliberalen Koalition, dann in der neuen Koalition — durch ihr Verhalten verhindert hat, daß das, was begehrt wird, Gesetz wird, heute verhält. Bleibt sie bei ihrer alten Linie, Herr Kollege Kleinert? Dann sind Sie der Schelte des „Bayernkuriers", des Wadenbeißers dort, sicher.Wir Sozialdemokraten sind dafür, daß wir mehr Rechtssicherheit schaffen.
Wissen Sie, was das rote Lämpchen bedeutet?
Ja. Ich sehe es unentwegt, Herr Präsident.
Wir Sozialdemokraten sind dafür, daß wir mehr Rechtssicherheit bei Unfällen schaffen, die auf der Skipiste entstehen können. Wir haben Zahlen vom Deutschen Skiverband, wir haben Stellungnahmen des Verbandes der Skiliftbetreiber. Ich glaube, daß die Gegenpositionen, die dort bezogen worden sind, von uns in der Ausschußberatung sehr ernsthaft bedacht werden sollten, daß wir auch die beiden Verbände und vielleicht auch andere Verbände anhören und zu Lösungen kommen sollten, die der Sache gemäß sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kleinert .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Redner sind alle schon hochgradig mit dem Gegenstand befaßt gewesen und sind jetzt auch Experten. Das wird man hier im Hause ja durch andere Taten noch viel schneller: einfach, indem man zu irgend etwas spricht. Aber wir sind jetzt schon mehrfach geprüfte Experten in dieser Frage.Dabei ist es mir — um das am Anfang einmal zu sagen — noch nie darum gegangen, ob nun die Schlepplifte den sonstigen Seilbahnen, die bereits unter eine Haftpflichtversicherungsregelung fallen, gleichgestellt werden oder nicht. Tatsächlich würde durch diese gesetzgeberische Großtat so herum oder so herum kein Schaden entstehen. Vielmehr waren wir, als wir das vor einer Reihe von Jahren zum erstenmal aufgegriffen haben, der Meinung: Es ist ein typisches, weil geeignetes Beispiel dafür, daß wir uns anderer Leute Kopf zerbrechen, auch wenn damit lediglich unnütze Kosten in die Welt kommen. Außerdem bekommt der Bürger schließlich ein immer falscheres Bild von der Welt, in der er sich bewegt; das Bild nämlich, das Herr Klein liebenswürdigerweise gerade eben noch einmal aus einer früheren Rede von mir gebracht hat: Das wäre alles ganz ungefährlich, und wenn ihm doch irgendwann einmal etwa zustößt, dann wird schon jemand da sein, der dafür eintritt.Der eine, der dafür eintritt, ist im Zweifel immer er selbst. Auf vielfältigen Umwegen und nur mit einer Reihe von Verwaltungs- und Umschichtungskosten zusätzlich belastet zahlt er zum Schluß in diesem System selbst. Das sollte man mindestens im Bereich der Freizeit so plastisch erkennen, daß man es unterläßt, die bisher von Krankenversicherern gezahlten Kosten auf Haftpflichtversicherer zu übertragen. Weiter geschieht hier im wesentlichen nichts.Liebenswürdigerweise haben Sie, Herr Sauter, den interessanten Gesichtspunkt des Schmerzensgeldes hinzugefügt. Das kann doch gar nicht wahr sein. Es interessiert viel weniger das Verhältnis der Unfälle an Schleppliften und an Seilbahnen — man nimmt ja auch an, daß Seilbahnen nicht so häufig herunterfallen, wie jemand am Schlepplift aus eigener Dusseligkeit aus der Spur gerät; das wäre ja noch schlimmer —, sondern es interessiert das Verhältnis von Unfällen am Hang — der mit Hilfe der sogenannten Steighilfe aufgesucht wird — und am Lift. Dieses Verhältnis ist allerdings so grotesk, daß am Lift praktisch nichts mehr übrigbleibt.Was machen wir nun mit den armen Leuten, die sich gesundheitlich stählen, um ihre Arbeitskraft dem Volke zur Verfügung stellen zu können — ab Montag wieder, wenn der Sonntagabend nicht zu lange gedauert hat? Wir müssen doch schleunigst dafür sorgen, daß auch denen Schmerzensgeld gezahlt wird, und wenn sie im Zweifel wegen eines gewissen Fehlverhaltens — das sagen jedenfalls die Skilehrer — am Hang stürzen. Das ist doch die logische Konsequenz. Nur auf diese Eigentümlichkeit in dem Zusammenhang zwischen den unzähligen Unfällen am Hang und den wenigen am Lift — beides frei gewählte Beförderungsmittel — wollte ich hinweisen, als ich gesagt habe: Das muß nun nicht auch noch geregelt sein.In all den Jahren ist niemand in der Lage gewesen, eine anständige Zahl zu beschaffen, niemand ist in der Lage gewesen, die Verhältnisse richtig offenzulegen, um uns zu beweisen, warum es so sein muß. Obwohl dieser Gegenstand wegen einer gewissen, ihm Gott sei Dank innewohnenden Heiterkeit in der Presse nicht unwesentlich besprochen worden ist — jedenfalls weit über Gebühr — , habe ich noch nie ein Pro-
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Kleinert
testschreiben eines Verletzten bekommen. Es finden sich überhaupt keine Verletzten.
Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau, das dürfte dann allerdings nicht angerechnet werden. Bitte schön.
Herr Kollege Kleinert, halten Sie es für denkbar, daß sich die Zahl der Unfälle bei der Abfahrt verringern ließe, wenn man die Leute wie froher zu Fuß hinaufsteigen ließe, was zusätzlich den Effekt hätte, daß im Alpenraum die Natur etwas geschont würde?
Ich bin völlig ihrer Ansicht, glaube aber, daß Sie mit diesem Vorschlag noch viel weniger Chancen haben durchzudringen als ich mit meiner harmlosen Idee, den Leuten am Schlepplift das eigene Risiko genauso zu belassen wie denen am Hang.
Zahlen haben wir also nicht. Das einzige, was mir vorliegt, ist allerdings die Stellungnahme eines Verbandes von Schleppliftbetreibern, der sagt, wir sollten uns hier um andere Dinge kümmern — diese Stellungnahme liegt sämtlichen Mitgliedern des Rechtsausschusses seit Jahren vor — und sollten uns nicht ausgerechnet um dieses weiterhin kümmern und zusätzliche Bürokratie in die Welt setzen. Dabei handelt es sich normalerweise um Bauern, die im Winter einen Nebenverdienst mit mehr oder weniger schlichten Schleppliften erzielen. Denen müssen wir nicht noch zusätzlich das bißchen Nebenverdienst vermiesen. Das ist das einzige Sachliche, was mir dazu je vor Augen gekommen ist.
Das Verfahrensmäßige, das ein Vorgriff auf die Debatte von morgen früh ist, ist folgendes: Der zuständige Mann im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, den es so grämt, daß diese Gesetzeslücke weiterhin offen klafft, hat ausnahmsweise einmal das Pech, daß sich jemand mit niedersächsischer Beharrlichkeit immer am gleichen Platz, im gleichen Ausschuß aufhält und auch in der nächsten und übernächsten Legislaturperiode versucht, den Kollegen das Ding noch einmal klarzumachen, während normalerweise die Ministerialbürokratie bereits beim zweiten Anlauf auf so viele neue Gesichter trifft, daß sie hoffen kann, mal mit alten Argumenten neu durchzukommen.
Das wollen wir aber auch diesmal verhindern und auf neuer Basis mit ganz neuen, von Ihnen, Herr Sauter, sicherlich beizubringenden Tatsachen offen diskutieren.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Häfner.
Eingangs darf ich eine Einladung aussprechen: Ich bin auf dem Weg zum Podium gefragt worden, ob ich Skifahrer bin. Ich komme aus dem Allgäu, aus den Bergen. Ich lade Sie sehr herzlich ein, gemeinsam ein bißchen Ski zu fahren, wobei ich dann auch vorschlage, daß wir mit Fellen aufsteigen. Das halte ich für umweltschonender als mit Schleppliften.Vielleicht ist es sinnvoll, an dieser Stelle noch einmal zu erklären, worum es bei diesem Gesetzentwurf zur Gefährdungshaftung bei Schleppliften geht.Was ist ein Schlepplift?
Ich sage das auch mit Blick auf einige Abgeordnete unserer Fraktion — ich möchte niemanden ärgern — : Ein Schlepplift
ist dasjenige, was Bundestagsabgeordnete und Politiker überhaupt eigentlich ständig suchen, nämlich eine Aufstiegshilfe,
wobei der Aufstieg, ähnlich wie die Arbeit hier im Parlament und ganz besonders die Gesetzgebung, schleppend vor sich geht. Das also ist das Thema, zu dem hier zu sprechen ist. Ich will es aber durchaus ernst behandeln.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Gefährdungshaftung auf die Schlepplifte ausgeweitet werden, da — so die Begründung — „eine bloße Verschuldenshaftung bei Unfällen durch Schlepplifte angesichts der bei diesen Anlagen bestehenden Betriebsgefahren sowie der zunehmenden Verbreitung von Skischleppliften für den Schutz der Benutzer nicht ausreichen". Diesem Argument ist zuzustimmen.Vielleicht ist es sinnvoll, für diejenigen, die sich mit entsprechenden Themen nicht ständig beschäftigen bzw. beschäftigen müssen, wenigstens kurz auf den Unterschied zwischen einer Verschuldenshaftung und einer Gefährdungshaftung hinzuweisen. Der Unterschied ist, daß im Fall der Gefährdungshaftung der geschädigte Bürger nicht seinerseits ein Verschulden des Betreibers der Anlage nachweisen muß, sondern daß umgekehrt davon ausgegangen werden kann, daß mit entsprechenden Anlagen Gefährdungen und Risiken verbunden sind, für die der Betreiber haftet und gegen die er versichert sein muß.In diesem Punkt stimmen wir dem Gesetzentwurf in seiner Intention also voll zu. Ob allerdings alle Ausnahmeregelungen, die in dem Entwurf vorgesehen sind, sinnvoll sind, müßte in der Ausschußberatung noch einmal diskutiert werden.Der Gesetzentwurf ist im Grundsatz zu begrüßen, weil er eine deutliche Verbesserung der rechtlichen Situation des Geschädigten bietet. Wir sind allerdings der Meinung, daß derjenige Teil der Begründung — und das ist ja der zentrale Teil — , der darauf abzielt, daß damit der Tourismus insbesondere in den Bayerischen Alpen gefördert werde, einfach deshalb, weil sich die Bürger dann in bayerischen Liften sicherer fühlten und deshalb in größerer Zahl in Bayern Lift führen, grundsätzlich überdacht werden müßte; denn die Ereignisse in Italien, im Veltlin, in der Schweiz, in
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HäfnerÖsterreich, im Allgäu — Riedbergpaß, Rubihorn usw. — haben gezeigt, daß mit der Übererschließung der Alpen durch ständig neue Lifttrassen usw. auch ganz ungeheure Gefahren für die Bürger verbunden sind und daß das Phänomen des Massentourismus in den Alpen grundsätzlich neu überdacht werden muß.
Vor allem aber wünschen wir uns, daß die Bundesregierung diesen Ansatz der Gefährdungshaftung, der ihr bei Schleppliften mit dem Argument der Förderung des Tourismus so leicht fällt, auch in all den anderen Bereichen, in denen das viel zwingender geboten wäre, schleunigst durchsetzte. Ich nenne zum Beispiel den gesamten Bereich der Chemieproduktion und der Gefahren, die von Chemiebetrieben ausgehen.
Ich nenne die Situation von Holzschutzmittelgeschädigten,
die unter erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden müssen und in Ermangelung einer entsprechenden Gefährdungshaftung in der Regel Schwierigkeiten haben, ihre Ansprüche einzuklagen, was sage ich: abgewiesen werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert ?
Gerne. Vizepräsident Stücklen: Bitte sehr.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß nicht nur hinsichtlich der Thematik, sondern auch hinsichtlich des Adressaten hier ein Irrtum insofern vorliegt, als nicht die Bundesregierung, sondern der Bundesrat diesen Gesetzentwurf eingebracht hat?
Ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, fordere aber nichtsdestotrotz bzw. gerade deshalb die Bundesregierung dazu auf — denn die ist, Herr Kollege Kleinert, für das, was ich eben gesagt habe, selbstverständlich der zuständige Adressat —, in den von mir genannten Bereichen endlich gesetzgeberisch tätig zu werden.
Man hat hier eine Stellungnahme des Bundesverbandes der Deutschen Industrie angefordert und vorliegen, in der dieser erklärt, daß eine entsprechende Gefährdungshaftung in umweltrelevanten Bereichen nicht empfehlenswert sei, und die das damit begründet, daß die Schäden an Luft, Boden und Wasser ohnehin nicht versichert werden könnten, da sie in der Regel irreparabel seien. Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, ganz abgesehen davon, daß wir beispielsweise bei der Lebensversicherung durchaus für irreparable Schäden — der Tod ist doch in der Tat ein jedenfalls auf dem physischen Plan nicht reversibles Ereignis — Versicherungen vorsehen. Wir fordern also dringlich dazu auf, in diesem Bereich, wo es um viel, viel größere Gefahrenpotentiale geht, entsprechende Regelungen vorzusehen. Wo das mit der
Begründung abgelehnt wird, die Schäden seien ohnehin irreparabel und deshalb nicht zu versichern, muß auf eine derart unverantwortliche Produktion ganz verzichtet werden.
Ich beantrage die Überweisung an den Ausschuß.
Damit bin ich am Ende der Redezeit und danke für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf zur Änderung des Haftpflichtgesetzes an die in der gedruckten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Es ist die Überweisung somit beschlossen.
Ich rufe den Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes als Grundrecht und als Staatsziel
— Drucksache 11/663 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keine Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Häfner.
Ich werde das aufnehmen und mir hier eine Couch sichern, damit ich immer rechtzeitig da bin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen an diesem späten Nachmittag! Ich bitte, sich einem durchaus ernsten Ereignis und Thema zuzuwenden. Die Umweltsituation in der Bundesrepublik Deutschland verschlechtert sich von Tag zu Tag. Das Wald-und das Bergwaldsterben schreiten weiter voran. Immer mehr Tier- und Pflanzenarten sterben aus oder sind vom Aussterben bedroht. Täglich werden riesige Areale des Bodens in der Bundesrepublik weiter versiegelt und zubetoniert. Flüsse wie der Rhein schleppen unvorstellbare Giftmengen mit sich. Atomkraftwerke, Atommülldeponien usw. bedrohen unser aller Leben und Zukunft. Gesundbeten hilft hier nicht weiter.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1815
HäfnerIn der Verantwortung vor den Menschen und vor der belebten und unbelebten Natur ist die Politik der Phrase, der Beschönigungen und der Scheinlösungen, wie sie diese Bundesregierung charakterisiert, unangebracht, verantwortungs- und gewissenlos. In einem koalitionsinternen Kuhhandel scheinen Sie sich auf die Verankerung eines vollständig zahn- und wirkungslosen Staatsziels Umweltschutz verständigt zu haben. Das entspricht Ihrer Politik. Denn Sie wissen genau, daß das Staatsziel in der von Ihnen vorgeschlagenen Form nichts als eine umweltpolitische Seif en-blase wäre,
nach außen glänzend, schön anzusehen.
— Ich habe mich weiß Gott mit der Materie befaßt, Herr Kollege Baum. Wir hatten schon einmal das Vergnügen, zu diskutieren. Ich fordere Sie auf, auch diesen Punkt zu diskutieren und nicht durch niveaulose Zwischenrufe zu stören.
— Bitte lassen Sie mich fortfahren. Fünf Minuten sind nicht lange.Es ist eine Seifenblase: nach außen glänzend, schön anzusehen, aber eben eine Seifenblase, die zerplatzt, sobald irgend jemand versucht, sie konkret anzufassen. Sie ersetzen Politik durch das Wort zum Sonntag. Werktags wird gehandelt wie immer, aber sonntags und in der Verfassung, da findet man hohe Worte. Das hat unser Grundgesetz nicht verdient.Wollen Sie wirklich etwas für die Umwelt und die Menschen tun, wollen Sie ernsthaft den Umweltschutz wirkungsvoll in der Verfassung verankern und nicht bloß leere Versprechen abgeben, so folgen Sie unserem Antrag. Das wird Ihnen um so leichter fallen, als er auch Ihr Staatsziel enthält, allerdings mit der genau entgegengesetzten Zielrichtung. Während nämlich Sie den Schutz der Umwelt in der Praxis grundsätzlich gegen wirtschaftliche, politische und militärische Interessen aufwiegen und dann in aller Regel als zu leicht befinden wollen, wollen wir eine Abwägungsdirektive, die „im Konflikt zwischen ökologischen Belangen und ökonomischen Interessen den ökologischen Belangen den Vorrang einräumt, wenn andernfalls eine erhebliche Beeinträchtigung der natürlichen Lebensgrundlagen droht".Noch wichtiger ist das Umweltgrundrecht. Sie wissen, daß heute den Bürgern auch bei katastrophalen Schädigungen der Umwelt meistens die Hände gebunden sind. Klagen kann nur, wer einen ganz persönlichen materiellen Schaden nachweisen kann. Das ist beispielsweise bei Atomkraftwerken, bei Luft- und Gewässerverschmutzung usw. schon dann nicht der Fall, wenn sich die Klagen gegen Umweltschäden richten, die alle Menschen in annähernd gleicher Weise treffen. Nur ein Umweltgrundrecht kann den Bürgern in eindeutigen Fällen massiver Umweltzerstörung ein einklagbares Menschenrecht gewähren. Und es i s t ein Menschenrecht, ein absolut unveräußerliches Menschenrecht noch dazu. Es ist ebenso wichtig und ebenso unveräußerlich wie das Recht auf Leben, das im Art. 2 des Grundgesetzes geschützt wird. Dieses Recht muß heute durch ein Recht auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und den Schutz vor erheblichen Beeinträchtigungen unserer natürlichen Umwelt ergänzt werden. Denn diese Umwelt ist nichts anderes als der erweiterte Leib des Menschen. Die Luft, die ich atme, das Wasser, das ich trinke, aus all diesem bildet und erhält sich mein Leib. Sind Luft, Wasser und Nahrungsmittel vergiftet, kann man getrost aufhören, noch von einem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu sprechen.Dies ist uns in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer stärker bewußt geworden. Wir stehen heute vor der großen und historischen Verantwortung, dies, nachdem es zur Zeit der Verabschiedung des Grundgesetzes noch nicht im allgemeinen Bewußtsein lag, heute an zentraler Stelle ins Grundgesetz einzugliedern. Ich bin sicher: Hätte Umweltschutz schon damals dieselbe dramatische Bedeutung gehabt wie heute, die Eltern des Grundgesetzes hätten dies längst getan.Auch wenn es Sie ärgert: Die GRÜNEN sind so ein bißchen das schlechte Gewissen der anderen Parteien. Wir beantragen also heute mit unserem Vorschlag nichts anderes als das, was die Bundesregierung schon 1971 gefordert hat, was sie 1973 in der Regierungserklärung angekündigt hat, was auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen wollte und was seitdem immer wieder sonn- und feiertags wiederholt wird. Kläglich allerdings ist, was dabei bisher herausgekommen ist. Das Umweltgrundrecht, das wir beantragen, ist unerläßlich und heute dringender denn je. Ich bitte Sie, diesem zum gegebenen Zeitpunkt zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eylmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Anfang April dieses Jahres der SPD-Antrag zum Umweltschutz hier im Parlament diskutiert wurde, sagte die Kollegin Garbe von den GRÜNEN, ein Staatsziel reiche den GRÜNEN nicht, sie wollten vielmehr eine großes verfassungstragendes Grundrecht, wie z. B. das Sozialstaatsprinzip eines sei. Nun ist, wie wir wissen, das Sozialstaatsprinzip gerade kein Grundrecht, sondern eines der wenigen Staatsziele, die in unserer Verfassung stehen. Inzwischen haben die GRÜNEN das offenbar bemerkt. Aber das ist natürlich auch keine Frage für Sie, ein Grundrecht muß her. Man weiß zwar nicht recht, welche Folgen das hat, aber flugs ist man bei der Hand, an diesem härtesten und wertvollsten Kern unserer Verfassung herumzufingern.Da soll nun also in Art. 2 jedem nicht nur das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, sondern auch das Recht auf Erhaltung seiner natürlichen Lebensgrundlagen garantiert werden. Das ist im Grunde ein geradezu abenteuerliches Unterfangen, wenn man die Folgen bedenkt. Die Verwirklichung dieses Vorschlages würde nämlich bedeuten, daß damit je-
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1816 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Eylmannder Bürger ein subjektives Recht gegen den Staat hat und im Zuge der Drittwirkung der Grundrechte auch gegen den privaten Bürger hätte, bestimmte schädigende Eingriffe in die Umwelt zu unterlassen oder bestimmte umweltschützende oder -erhaltende Maßnahmen zu ergreifen. Mit anderen Worten, meine Damen und Herren, wir hätten dann die schrankenlose Popularklage. Jeder könnte gegen jede staatliche und private Maßnahme klagen, die auch nur entfernt Auswirkungen auf die Umwelt hat, und man wird nur wenige ohne Umweltbezug finden. Natürlich wäre auch der Schleppliftunternehmer ein möglicher Adressat.
Jedesmal — ich garantiere Ihnen das — , wenn sich in unseren Parlamenten und Massenmedien die Proklamation des Schadstoffs der Woche vollzogen hätte, würde ein Sturm auf die Gerichte einsetzen.Es liegt auf der Hand, daß die Rechtsprechung versuchen müßte, dieses neue Grundrecht in Abwägung mit anderen Gemeinwohl- und Individualrechten zu relativieren. Diesen Abwägungsprozeß der Rechtsprechung zu überlassen würde aber der Legislative die Lösung des jeweiligen Zielkonflikts, der z. B. zwischen der Vollbeschäftigung einerseits und der Umwelt andererseits bestehen könnte, aus der Hand nehmen und auf die Gerichte übertragen, was letztlich auf eine Abdankung des Parlaments in diesem Bereich hinausliefe.Will man diesen Machtzuwachs der Legislative nicht, käme man nicht daran vorbei, auf der Grundlage eines weitgehenden Gesetzesvorbehalts das Umweltschutzrecht gesetzgeberisch zu konkretisieren; denn wir, das Parlament, haben in erster Linie die Pflicht, diese Abwägung, diese Lösung der in der Realität fortlaufend auftretenden Zielkonflikte in die Hand zu nehmen.Versehen wir aber das Grundrecht mit einem Gesetzesvorbehalt, entwerten wir es. Es ist bezeichnend, daß die Staatsrechtslehre von sogeannten uneigentlichen sozialen Grundrechten spricht, wo dem Brüger als Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips zureichende Lebensbedingungen staatlich gewährleistet werden sollen. Aus guten Gründen wird weithin die Grundrechtsqualität solcher gutgemeinter Kreationen des Verfassungsgesetzgebers bezweifelt, wobei — um Karl Kraus zu zitieren — das Gegenteil von gut ja nicht schlecht, sondern gutgemeint ist.Sind also solche uneigentlichen sozialen Grundrechte in Wahrheit verkappte Staatsziele, sollte man sie aus dem Grundrechtskatalog heraushalten. Es besteht sonst die Gefahr, daß auch die klassischen Grundrechte relativiert und in Frage gestellt werden.Zu bedenken, meine Damen und Herren, ist schließlich auch noch dies: Wer den Katalog der individuellen Freiheitsrechte um sogenannte soziale Grundrechte erweitern will, setzt den Staat Ansprüchen seiner Bürger aus, die zu erfüllen er sich nur um den Preis der Einschränkung eben dieser klassischen Freiheitsrechte bemühen kann. Das in unserer Verfassung fein austarierte Gleichgewicht zwischen Individualrechten und Rechten der Gesellschaft käme aus dem Gleichgewicht. Jedes Mehr an sozialen Grundrechten bedeutet notwendigerweise auch ein Mehr an Verstaatlichung von Bürgerfreiheiten.Wir wollen das nicht. Es ist statt dessen unsere Absicht, mit der Einfügung eines auf die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen gerichteten Staatsziels in die Verfassung vor allem uns als Gesetzgeber in die Pflicht zu nehmen, bei unserer legislativen Tätigkeit dem Umweltschutz den Rang einzuräumen, der ihm zukommt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem wir bereits im Februar dieses Jahres unseren Antrag auf Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel im Grundgesetz wieder in den Bundestag eingebracht hatten, hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 18. März angekündigt, daß auch die Koalitionsparteien bereit seien, den Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen.Noch ein Jahr zuvor, im Januar 1986, hat ein entsprechender Antrag unserer Fraktion im Bundestag nicht die notwendige Mehrheit erhalten. Die Koalitionsparteien, sprich: vorwiegend die Union, haben dagegen gestimmt.Trotz der Ankündigung in der Regierungserklärung haben wir beträchtliche Zweifel, die sich in den zurückliegenden Monaten eher noch verstärkt haben, ob diese Regierungskoalition bereit und in der Lage ist, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen als verbindliches Staatsziel ohne Wenn und Aber im Grundgesetz festzuschreiben. Da haben z. B. am 10. Juli dieses Jahres die unionsregierten Länder im Bundesrat eine Formulierung durchgesetzt, die für uns völlig inakzeptabel ist. Ein Staatsziel, das erst durch einfache Gesetze des Bundes und der Länder definiert und ausgestaltet wird, das unter dem Vorbehalt einer zusätzlich aufgenommenen Abwägungsklausel steht, ist noch nicht einmal ein Staatsziel zweiter Klasse. Denn es wird letztlich ohne jedwede Verbindlichkeit bleiben.Wir sind nicht bereit, eine solche Staatszielbestimmung zu akzeptieren, die dann wirklich nichts wäre als eine Seifenblase; auf diesen Fall trifft das zu. Mit uns jedenfalls wird es derart unverbindliche und bis zur Unkenntlichkeit verwässerte Formulierungen nicht geben.
Bestätigt werden die Vermutungen, die Koalition habe mit der Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz nicht allzuviel im Sinn, noch durch jüngste Presseberichte, daß Dinge, die nun wahrlich gar nichts miteinander zu tun haben, wie das strafbewehrte Vermummungsverbot und das Staatsziel Umweltschutz Bestandteile eines neuerlichen Koalitionskuhhandels werden sollen. Dies geht nun wirklich
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1817
Bachmaiernicht. Da merkt man schon die Absicht, daß man hier nicht nur dilatorisch handeln will, sondern daß man tatsächlich im Schilde führt, entweder ein Nichts in die Verfassung aufzunehmen oder wirklich nichts zu tun.
— Das hat wirklich nichts miteinander zu tun.Anlaß der heutigen Kurzdebatte ist der neueste Gesetzentwurf der GRÜNEN vom 4. August 1987, durch den ihr eigener, noch nicht einmal einen Monat alter Gesetzentwurf vom 8. Juli 1987 abgelöst worden ist. In diesem neuesten Gesetzentwurf, schlagen Sie nunmehr, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, u. a. ebenfalls eine Staatszielbestimmung Umweltschutz vor. Wie Ihre kurz aufeinanderfolgenden Gesetzentwürfe zeigen, scheint der WillensbildungsprozeB bei Ihnen wohl noch nicht ganz abgeschlossen zu sein.
Wir meinen, daß den Belangen des Umweltschutzes durch ein solches Umweltgrundrecht nicht gedient ist, das ja auch nur auf den Schutz der heute lebenden Menschen begrenzt ist und die kommenden Generationen nicht in den Schutz mit aufnimmt und das die über den Schutzbereich des Menschen hinausgehenden Lebensgrundlagen nicht miteinbezieht. Hier werden Illusionen geweckt, die so nicht gehalten und in der Realität nicht eingelöst werden können.
Auch Sie, Herr Häfner und meine Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN, müssen wissen, daß auch in ein Umweltgrundrecht jederzeit durch Gesetz eingegriffen werden kann, wie es in Art. 2 des Grundgesetzes zu lesen ist. Also besteht auch hier die Gefahr, daß der Schutz in erheblichem Umfang leerläuft.Ganz offensichtlich u. a. aus diesen Gründen haben Sie in Ihrem neuesten Antrag das Staatsziel Umweltschutz aufgenommen.Auch die Diskussionen in den zurückliegenden Monaten und Jahren haben uns in unserer Überzeugung bestärkt, daß von dem von uns geforderten Staatsziel „Umweltschutz" eine erhebliche Dynamik auf das gesamte staatliche Geschehen ausgehen wird. Dies können wir — wie Sie feststellen, wenn Sie sich mit der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik beschäftigen — sehr lehrreich am Staatsziel „Sozialstaat" ablesen. Aber mit solchen Kleinigkeiten setzt man sich ja wohl nicht auseinander. Gesetzgeber, Verwaltungen auf staatlicher und kommunaler Ebene und Gerichte wären verfassungsrechtlich verpflichtet, bei allen Entscheidungen den Belangen des Umweltschutzes den ihm gebührenden Stellenwert zukommen zu lassen. Das wäre die ureigenste Dynamik, die von einem Staatsziel ausgeht. Das Sozialstaatsprinzip in der Bundesrepublik hat auch in kritischen Situationen gezeigt, daß hier die Rechtsprechung und alle die staatliche Gewalt tragenden Institutionen in der Pflicht derVerfassung stehen. Und dies wollen wir auch beim Umweltschutz.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir setzen uns seit 1971 für eine Ergänzung des Grundgesetzes ein. Dies war in der früheren Koalition nicht erreichbar. Immerhin haben wir eine Sachverständigengruppe aus Professoren eingesetzt, die ein Gutachten vorgelegt hat. Wir sind der Meinung, daß die Zeit reif ist, das Grundgesetz zu ergänzen. Ich teile die Meinung: Wenn wir das Grundgesetz heute neu formulieren, würde ein solcher Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Grundgesetz stehen.Allerdings wenden wir uns gegen die Aufnahme eines Umweltgrundrechts, und zwar aus den Gründen, die hier schon genannt worden sind. Wir wollen nicht, daß Einzelansprüche geltend gemacht werden können, sondern letztlich muß dieses Parlament entscheiden können. Der Rahmen der Umweltgesetzgebung wird hier gesetzt und, Herr Kollege Häfner, er ist ja auch gesetzt worden. Wir waren ja nicht untätig. In den letzten Jahrzehnten ist eine Menge in Sachen Umweltschutz geschehen, unabhängig davon, ob die Verfassung ergänzt worden ist oder nicht.
Allerdings sind wir der Meinung, daß durch eine Ergänzung der Verfassung der Umweltschutz stärker werden würde. Wir wünschen das. Der Umweltschutz muß stärker werden. Er muß eine relative — nicht eine absolute — Priorität bekommen, wie die Sachverständigen gesagt haben, und zwar, Herr Kollege Eylmann, nicht nur im Bereich der Gesetzgebung, also nach unserer Meinung nicht nur im Sinne eines Appells an den Gesetzgeber, sondern auch im Sinne eines Appells an Verwaltung und Rechtsprechung.Wir haben uns auf unserem Parteitag vor einigen Tagen noch einmal mit der Sache befaßt und zum Ausdruck gebracht, daß wir den Vorschlag des Bundesrats nicht als verabschiedungsreif ansehen. Wir wollen darüber mit allen Parteien hier im Haus reden; denn wir brauchen ja eine Zweidrittelmehrheit. Wir müssen auch mit den Ländern reden. Der Vertreter des Bundeslandes Hessens beispielsweise hat im Bundesrat zum Ausdruck gebracht, daß das Land Hessen für neue Überlegungen offen sei.Wir streben eine Formulierung an, die zum Ausdruck bringt: Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Wir nähern uns hier sehr der Bayerischen Verfassung, die in Art. 3 zum Ausdruck bringt: Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen ... — Hier könnte man den Freistaat Bayern also durchaus zum Vorbild nehmen. Wir hätten nichts dagegen.
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1818 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
BaumWir wollen keine Abwägungen, die dieses Staatsziel aushöhlen. Wir wollen uns nicht der Kritik aussetzen, daß wir wirklich nur weiße Salbe produziert haben. Ein Staatsziel, wie wir es vorschlagen, entfaltet eine Wirkung. Diese Wirkung ist gewollt. Der Umweltschutz soll stärker werden. Was mit dem Sozialstaatsprinzip gelungen ist, sollte meines Erachtens auch hier gelingen.Wir sind offen für Gespräche. Wir haben ja am 14. Oktober eine Anhörung. Wir wollen diese Gespräche konstruktiv führen. Wir erwarten, daß alle bereit sind, an Formulierungen mitzuwirken, damit wir nun endlich für diese Verfassungsergänzung eine Zweidrittelmehrheit bekommen.Vielen Dank
Ich erteile dem Herrn Bundesminister der Justiz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die überragende Bedeutung des Umweltschutzes ist Teil unserer gemeinsamen Überzeugung. Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages treten für die Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz ein. Aber als Liberaler sage ich mit besonderer Freude, daß dies ja nicht zu allen Zeiten, nicht immer so war. Um so höher ist es zu schätzen, daß diese Überzeugung uns heute allen gemeinsam ist.
Allerdings sind nicht alle Wege geeignet, uns dem gemeinsamen Ziel auch näherzubringen. Der Weg, den die GRÜNEN in ihrem heute vorliegenden Gesetzentwurf beschreiten wollen, ist ein Irrweg, wie leider auch sonst so viele Wege ihres politischen Spektrums. Denn die Aufnahme eines Umweltgrundrechts in das Grundgesetz hat bereits der 10. Deutsche Bundestag am 16. Januar 1986 aus guten Gründen mit überwältigender Mehrheit abgelehnt.
Für diese Ablehnung waren und sind verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Erwägungen maßgebend. Beim Umweltschutz geht es — das ist bereits betont worden — nicht um Individualansprüche, sondern um ein Gemeinschaftsanliegen. Ein Umweltgrundrecht ohne umfassenden Gesetzesvorbehalt würde dazu führen, daß die in den unterschiedlichen Bereichen zu treffenden Umweltmaßnahmen der Entscheidung des Parlaments entzogen und weitgehend auf die Gerichte verlagert würden. Das wäre ein Verlust an parlamentarischer Demokratie. Andererseits aber würde ein allumfassender Gesetzesvorbehalt das Umweltgrundrecht entwerten und überdies nachteilige Auswirkungen auf den effektiven Schutz anderer Grundrechte haben können, etwa auch des Grundrechts auf Leben und Gesundheit.
Mir scheint, auch den GRÜNEN müßte langsam bewußt werden, daß die Einführung eines Umweltgrundrechts nicht der richtige Weg für die Verankerung des Umweltschutzes in unserer Verfassung sein kann.
Die GRÜNEN haben im 10. Deutschen Bundestag einen neuen Art. 2 Abs. 3, dann im Juli dieses Jahres einen anders formulierten, neuen Art. 2 a und nunmehr einen wiederum anders formulierten Art. 2 Abs. 2 für die Verankerung des Grundrechts vorgeschlagen.
— So kann man es sagen; man kann — aber nun wirklich im Klartext — auch sagen, daß dies beweist, daß die Vorschläge der GRÜNEN eher der Selbstbeschäftigung dienende Gesetzesbastelei als durchdachte Entwürfe zur Änderung unserer Verfassung sind.
Deswegen treten Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen — im übrigen auch, wie wir hörten, die Fraktion der Sozialdemokraten — nicht für ein Grundrecht, sondern für ein Staatsziel „Umweltschutz" ein. Die Ausformulierung dieses Staatsziels bedarf allerdings noch eingehender Erörterungen. Ich habe in meinem Beitrag im Bundesrat kürzlich Marge-macht, daß die dortige Initiative nicht unbedingt dem gerecht wird, was wir wünschen und was das Endergebnis dieser Arbeiten sein muß. Ich begrüße es, daß der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 14. Oktober eine Sachverständigenanhörung durchführen wird.
Ich erinnere daran: Der Vorschlag der GRÜNEN, das Staatsziel „Umweltschutz" quasi allen anderen Staatszielen überzuordnen, ist mit Sicherheit zu kurz gedacht. Denn der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist eine zentrale Aufgabe unserer Zeit, deren Verwirklichung sich in die verfassungsmäßige Ausgewogenheit unserer Staatsstruktur und unserer Staatsziele insgesamt einfügen muß.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Umweltschutzes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Westphal, Amling, Dr. Ahrens, Antretter, Bachmaier, Frau Blunck, Dr. Böhme , Frau Becker-Inglau, Börnsen (Ritterhude), Catenhusen, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Dreßler, Frau Faße, Frau Fuchs (Verl), Großmann, Gansel, Graf, Gilges, Frau Dr. Götte, Hasenfratz, Hiller (Lübeck), Haar, Heyenn, Heistermann, Frau Hämmerle, Dr. Holtz, Jahn (Marburg), Jaunich,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1819
Vizepräsident StücklenDr. Jens, Jungmann, Kastning, Kirschner, Kretkowski, Kuhlwein, Koschnick, Kißlinger, Dr. Klejdzinski, Klein , Lohmann (Witten), Dr. Mertens (Bottrop), Frau Matthäus-Maier, Frau Dr. Martiny, Müller (Pleisweiler), Müller (Schweinfurt), Müller (Düsseldorf), Müntefering, Menzel, Nagel, Dr. Nöbel, Niggemeier, Oostergetelo, Dr. Pick, Poß, Purps, Peter (Kassel), Pfuhl, Reuter, Reschke, Rixe, Roth, Seidenthal, Frau Seuster, Frau Simonis, Singer, Dr. Spöri, Schäfer (Offenburg), Dr. Schmude, Frau Schmidt (Nürnberg), Schmidt (München), Schmidt (Salzgitter), Schanz, Schröer (Mülheim), Schütz, Schluckebier, Stahl (Kempen), Stiegler, Frau Terborg, Toetemeyer, Urbaniak, Vosen, Weiermann, Frau Weiler, Frau Weyel, Weisskirchen (Wiesloch), Wiefelspütz, von der Wiesche, Dr. de With, Wittich, Frau WieczorekZeul, Zeitler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPDEindämmung der Spielhallenflut — Drucksache 11/586 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Wirtschaft
InnenausschußRechtsausschußAusschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauMeine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist somit beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Westphal.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Spielen ist ein feine Sache.
Ich freue mich über den Beifall. — Spielen bereitet Kindern und auch Erwachsenen Freude.Spielen mit und um Geld war immer problematisch. Schon die Weltliteratur hat sich damit beschäftigt. Es ist nicht meine Absicht, hier darüber zu philosophieren, zumal wir alle kürzlich Gelegenheit hatten, leicht zu erkennen, wie so etwas schiefgehen kann: Im Mai dieses Jahres hatte uns die Informationsgemeinschaft Münzspiel zu einer Abendrunde in ihr neues Bonner Kommunikationszentrum eingeladen. Um uns Abgeordneten mögliche moralische Zweifel zu nehmen, tröstete uns der Verband mit einem Wort von Schiller — nicht Karl Schiller, sondern Friedrich von Schiller. In seinen Betrachtungen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen" hat dieser einmal geschrieben:Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.Friedrich von Schillers Betrachtung über das Spielen in einen Zusammenhang mit einer möglicherweise am Anfang reizvollen, aber doch recht bald stupiden Betätigung von mechanischen Geldspielautomaten zu bringen ist eine Mißinterpretation, der wohlalle diejenigen mit mir gemeinsam widersprechen, die nicht als Kulturbanausen bezeichnet werden wollen.
Daß die Gesellschaft mit verschiedenen Betätigungen, die auch unter dem Begriff Spielen eingeordnet werden, schon seit längerem ihre Schwierigkeiten hat, wird daraus deutlich, daß der Gesetzgeber Jugendschutzbestimmungen beschlossen hat. Aber auch dies ist nicht mein Ansatz, jedenfalls nicht mein vorrangiger Ansatz, Sie alle für eine Initiative des Deutschen Bundestags zur Eindämmung der Spielhallenflut gewinnen zu wollen, unter der insbesondere unsere Städte, aber auch schon unsere kleineren Gemeinden zu leiden haben.Wir Sozialdemokraten haben Ihnen dazu einen Antrag vorgelegt, dessen Besonderheit schon daraus zu erkennen ist, daß bei der Nennung des Antragstellers vor der abschließenden Formel „Dr. Vogel und der Fraktion der SPD" nicht weniger als 90 Namen von Mitgliedern unserer Fraktion stehen. Ich bitte noch nachträglich die Verwaltung des Hauses um Entschuldigung. Der Grund ist schnell erzählt: Ich hatte bei meinen Kollegen in einem Rundschreiben nachgefragt, ob jemand daran interessiert sei, mit zu unterschreiben. Ich erlebte dann eine Welle von dringenden Wünschen, zu den Unterzeichnern zu gehören. Dieses Problem steht vor uns allen in all unseren Städten und Orten.Ich bin sicher, daß es auch unter den Abgeordneten der anderen Fraktionen, die einen engen Kontakt zu der Bevölkerung in den Städten ihrer Walhkreise haben, viele Kollegen geben wird, die meiner Initiative ihre Zustimmung geben. Es handelt sich nicht etwa — auch das kann man aus der Liste der Namen der Antragsteller entnehmen — um ein Problem von Nordrhein-Westfalen und Hamburg, wie es unzutreffenderweise der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, der aus Bayern kommt, in einer Fernsehsendung gesagt hat.Es ist ein Thema, das überall die Kommunalpolitiker auf Grund des Drängens der Bevölkerung bewegt. Die Bürgermeister und die Verwaltungen stehen nach vielen eigenen Bemühungen vor der Tatsache, sich gegen eine Überflutung durch die Errichtung von Spielhallen nicht mehr wehren zu können.Spielhallen nehmen überall im Kernbereich von Groß- und Kleinstädten in der Bundesrepublik überhand. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren ständig angestiegen und wächst weiter. So gab es z. B. im Regierungsbezirk Darmstadt 1981 104 Spielhallen; 1986 waren es bereits 538. Im mehr ländlichen Regierungsbezirk Gießen gab es 1981 31 Spielhallen; 1985 waren es 57, also nahezu das Doppelte. In vielen Teilen unseres Landes gibt es ähnliche Zahlen. Presse und Fernsehen haben darüber berichtet.Bis zum Herbst 1984 konnten sich die Gemeinden gegen die Errichtung der Spielhallen mit Hilfe von § 33i der Gewerbeordnung wehren. Nach dieser Vorschrift sind Spielhallen unter anderem unzulässig, wenn sie den Tatbestand der übermäßigen Ausnutzung des Spieltriebs befürchten lassen. Einige örtliche Gerichte sahen diese Voraussetzung immer dann als
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1820 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Westphalerfüllt an, wenn mehrere Spielhallen in einem Gebäude oder in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander eingerichtet werden sollten. Diese Rechtsauffassung hat jedoch das Bundesverwaltungsgericht nicht bestätigt. Die Reaktion auf dieses Urteil war eine Flut von Spielhallenanträgen. Dann mußte sich der Bundesminister für Wirtschaft mit dem Thema befassen. Er ist verantwortlich für die Spielverordnung. Er hat sie mit Datum vom 11. Dezember 1985 geändert.
Nach meinem Eindruck geschah dies ziemlich halbherzig und ohne Vorausschau auf die zu erwartenden Konsequenzen,
denn einerseits enthält diese neue Verordnung eine Bestandsschutzklausel für die bestehenden Betriebe bis zum 31. Dezember 1995, also über zehn lange Jahre;
andererseits soll bei neu eingerichteten Betrieben eine Begrenzung eingeführt werden, so daß nur ein Geldspielgerät auf 15m2 Fläche gestellt werden darf und nicht mehr als zehn solcher Geräte je Spielhalle erlaubt sind. Diese Regelung hat sich inzwischen nicht nur als wirkungslos zur Eindämmung der Spielhallenflut erwiesen, sondern — im Gegenteil — bewirkt, daß die Zahl der Anträge auf Einrichtung neuer Spielhallen neben den vorhandenen sprunghaft angestiegen ist. Die Regelung ist also ein echter Flop. So wurden z. B. in Duisburg seit Änderung der Spielverordnung zusätzlich zu dem Bestand von 194 Spielhallen innerhalb kürzester Zeit 101 neue Antragsverfahren in Gang gesetzt. Aus allen Ecken unserer Republik ließen sich leider ähnlich problematische Zahlen nennen.
Nun könnte der Wirtschaftsminister kommen — ich fürchte, er wird es tun — und behaupten, daß dieser Vorstoß gegen die Spielhallenflut, wenn er denn schon nicht vorrangig mit dem Argument des Jugendschutzes begründet wird, ein Verstoß gegen die Gewerbefreiheit sein würde. Nein, meine Damen und Herren, eigentlich könnte man sagen: Im Gegenteil, wir wollen die Freiheit des alteingesessenen Gewerbes in den Zentren unserer Städte schützen.
Die rapide Ausbreitung von Spielhallen und auch der von uns mit genannten Sexshops verdrängt die dort vorhandenen Geschäfte des Einzelhandels, die nicht in der Lage sind, die hohen Mieten zu bezahlen, die die Betreiber der Spielhallen den Vermietern ohne weiteres zu bieten in der Lage sind.Selbst wenn die Betreiber von Spielhallen heute die Absicht haben, ihre Etablissements „aufzumotzen" und benutzerfreundlich zu gestalten, bleibt die Bewertung durch die Bürger unserer Gemeinden, daß die überhandnehmende Zahl solcher Einrichtungen das Niveau der Innenstädte und Ortskerne senkt. Sowohl die dortige Wohnqualität als auch die Funktion als Versorgungsbereich für den gehobenen und spezialisierten Bedarf werden negativ verändert.Im übrigen war ja die Spielverordnung schon immer als eine von der Gesellschaft als notwendig angesehene Korrektur der Gewerbefreiheit anzusehen, um die Freiheit anderer zu schützen. Nichts anderes, aber eben etwas Wirkungsvolleres, verlangen wir mit unserem Antrag von der Bundesregierung auf dem Gebiet des Gewerberechts und der Spielverordnung.Die Gemeinden haben inzwischen alles versucht, um mit den sich ihnen stellenden Problemen fertig zu werden. Es ging bis hin zu der Abwehr von Niederlassungsanträgen der Betreiber von Spielhallen mit dem Argument, daß diese Betriebe dort, wo sie sich etablieren wollen, nicht die genügende Anzahl von Stellplätzen für parkende Fahrzeuge nachweisen können. Wir brauchen also auch verbesserte planungsrechtliche Möglichkeiten für die Kommunen, und wir brauchen einen wirksamen Mieterschutz für die kleinen und mittleren Betriebe in Einzelhandel, Handwerk und anderen Gewerben. Mein Kollege Reschke wird hierzu nähere Ausführungen machen.Ich will Ihnen am Schluß dieses Beitrages noch erzählen, was hinter unserem Vorschlag steckt, die Bundesregierung zu bewegen in ihrem eigenen Einflußbereich, also z. B. dort, wo es um Bundesbahngrundstücke geht, auf die Ansiedlung von Spielhallen zu verzichten. Auf die Frage, die mein Fraktionskollege Eckart Kuhlwein kürzlich in der Fragestunde vorbrachte, ob die Bundesregierung die Auffassung der Bundesbahndirektion Hamburg teile, daß Spielhallen mit Geldspielautomaten zu einem modernen Serviceangebot der Deutschen Bundesbahn zur Überbrükkung von Wartezeiten ihrer Reisenden gehörten und deshalb auch in Bahnhöfen eingerichtet werden sollten, hat die Bundesregierung zwar mit gewundenen und schönen Worten, aber im Grunde mit Ja geantwortet.
Mit anderen Maßstäben mißt der Bundesverkehrsminister offensichtlich in München. Nachdem der Bayerische Ministerpräsident den Verkehrsminister darauf hingewiesen hatte, daß u. a. das Erzbischöfliche Vikariat der Meinung ist,
der Hauptbahnhof von München müsse wegen der zu befürchtenden negativen Auswirkungen von der Errichtung eines Spielhallenkomplexes ausgenommen werden, hat der zur gleichen Partei gehörende Bundesverkehrsminster — es war der vorige — ziemlich schnell, nämlich umgehend mitgeteilt, die Deutsche Bundesbahn werde sich darum bemühen, die Grundstücksflächen im Münchener Hauptbahnhof einer anderen Nutzungsmöglichkeit zuzuführen.
Ich habe also den Eindruck, daß die Bundesbahn uns im Norden, nördlich der Mainlinie, im Hinblick auf die Gefahren der Spielsucht eher zutraut, daß wir sie abzuwehren in der Lage sind, als denen dort im Süden. Insofern meine ich, es wäre mit Spannung zu verfolgen, ob sich z. B. der Mainzer Regierungschef, Herr
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1821
WestphalBernhard Vogel, der sich auch über die Spielhalle im Mainzer Hauptbahnhof beschwert hat, durchsetzt oder nicht. Besser wäre es, wenn wir überall gleiches Recht gelten ließen und wenn die Bundesbahn überhaupt keine solchen Spielhallen einrichten würde.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Börnsen .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns über die vermeintlichen Widersprüche, die eben aufgedeckt worden sind, weiterhin amüsieren wollen, möchte ich dazu gern beitragen. Ich denke, daß die hier von Ihnen, Herr Westphal, vorgetragenen sachlichen — und vertretbaren — Argumente von Ihren eigenen Kollegen in der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen anders gesehen werden. Sie wissen sicher darum, daß Ihre Kollegen in Nordrhein-Westfalen auf eine Anfrage des Abgeordneten Dr. Pohl vom 21. Juni 1987 gesagt haben, sie seien nicht der Ansicht, daß Automaten süchtig machen; sie seien der Ansicht, daß es keine nennenswerten Verstöße gegen den Jugendschutz gebe und daß eine Existenzgefährdung durch Spielhallen generell nicht vorliege.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung sagt auch, daß mögliche Versagungsgründe — die Sie eben auch angesprochen haben — wie übermäßige Ausnutzung des Spieltriebes, Gefährdung der Jugend und schädliche Umwelteinflüsse von Spielhallen von ihr in sachlicher und rechtlicher Hinsicht nicht gesehen werden.
Ich denke, daß ich darauf und vielleicht auf einen zweiten Sachverhalt aufmerksam machen sollte:Hätte man nicht in diesem Hause 1976, angeregt auch von Ihnen, die Spielhallenverordnung auf ein neues Fundament gestellt, wäre es vermutlich gar nicht zu einer solchen lukrativen gewerblichen Ausnutzung der Lage durch Spielhallen gekommen. Ich denke, wer den Sündenfall zu verantworten hat, sollte auch fair, konsequent und konstruktiv zur Schadensbegrenzung beitragen.Wer sich hemdsärmlig und rigoros in den Innenstädten unseres Landes breitmacht, wie die Spielhallen es tun, muß mit Reaktionen rechnen.
Die zunehmende Konzentration von Spielhallen
bringt — das ist ganz klar — Bürger von Flensburg bis Passau auf die Barrikaden, und das wohl auch mit Recht.
Besorgte Eltern sehen in den Automatenhallen eine gefährliche neue Freizeitverlockung für die junge Generation. Erzieher warnen vor Verarmung von Gespräch und Gestaltungsvielfalt durch die moderne Spieltechnologie. Verantwortliche Stadtväter befürchten, wie wir laufend lesen können, eine Verödung ihrer Stadtkerne, eine Beeinträchtigung des Stadtbildes und den Qualitätsverlust der Daseinsvorsorge. Spielstätten, die in manchen Städten wie Pilze aus dem Boden schießen, werden mit Lärm und Last in Verbindung gebracht, weniger mit Vergnügen, Freude oder gar Frohsinn. Seit alters her hängt diesen Tempeln des scheinbaren Glücks die Sündhaftigkeit an; so manche Spielgeräte sind vom Teufel inspirierte Wunderwerke. Dies sind Urteile, die sich verfestigt haben, Meinungen, die die Gemüter erhitzen.Man muß deutlich machen, daß Gefühle die Diskussion begleiten, und es gibt wegen der Menge der Geldspielautomaten auch Ängste, und die sollten wir ernst nehmen.
Zieht der Automat nicht so manchen unwiderruflich in seine Arme? Wird nicht zur Abhängigkeit angehalten? Wird nicht aus der Spielfreiheit oft ein Spielzwang? Das ist die eine Seite, und die ist ernst zu nehmen. Deshalb teilen wir auch in weiten Bereichen die Lagebeurteilung des hier vorliegenden Antrags.Nur, verketzern wollen wir Vergnügungsstätten nicht. Hunderttausende finden hier Ablenkung und Abwechslung, Reiz und Risiko, erfahren Hoffnung und Hochstimmung, doch auch Verlust und Verärgerung, Spannung und Entspannung. Für sie ist der Automat ein selbstverständliches Freizeitmedium, eine Freizeitfaszination, die durch die ganze Gesellschaft geht. Automaten haben nicht nur einen für viele von uns sicher fragwürdigen Unterhaltungswert, sie dienen auch manchem zur Abreaktion seines Alltagsärgers.
Besser, der Frustrierte schlägt hier die Faust auf die Frontscheibe. Spiele erfüllen die Aufgabe der Wunschbefriedigung, dienen dem Konfliktabbau, lassen Spaß und Spontaneität und individuelle Freiheit erleben. Das gilt zu einem Teil auch für Glücks- und Geschicklichkeitsspiele.Doch wenn der Eindruck entsteht, daß Vergnügungsstätten mehr ausnutzen und weniger nützen, Atmosphäre und Charakter traditionsreicher Kommunen verändern, Belastung für den Bürger bringen, ist der Gesetzgeber zur Korrektur aufgefordert. Die Novellierung der Spielhallenverordnung vor knapp zwei Jahren geschah mit der Absicht, Fehlentwicklungen zu verändern. Die Anzahl von Geldautomaten wurde auf zehn begrenzt, die Quadratmeterlösung eingeführt, Sonderspiele wurden beschnitten, bestehende Hallen, die teilweise Bestandsschutz haben, wurden auf eine zehnjährige Anpassungsfrist gesetzt. Mit diesen Maßnahmen soll eine Reduzierung der Geldspielgeräte um mehr als ein Drittel erreicht werden. Statt einer Verringerung — das muß man deutlich sehen — hat es zu einer Vermehrung der Spielhallen geführt. Tausende von Anträgen nach altem Recht kurz vor der
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1822 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Börnsen
Novellierung haben die Änderung der Spielverordnung ebenso fragwürdig werden lassen wie die Umwandlung alter Hallen nach neuem Recht. Die Novellierung ist unterlaufen worden. Die Gewinnerwartung dieser Branche, die mehr als 6 Milliarden DM umsetzt, ist ungebrochen geblieben.Da es sich um ein Gewerbe handelt, unterliegen auch die Spielhallen der Gewerbefreiheit. Sie speziell auszugrenzen, was manche Ordnungsämter gewünscht haben, hat das Bundesverfassungsgericht untersagt.
— Ich komme gleich darauf.Wer den Boom bremsen will, sollte vor einer möglichen Gesetzesverschärfung, vor Verbot die Branche zur Selbstbeschränkung auffordern. Rita Süssmuth hat das in aller Klarheit getan. Betreiber und Hersteller müssen wissen, es ist für sie fünf vor zwölf. Wer den Boom bremsen will, sollte das vorhandene rechtliche Instrumentarium überprüfen, bevor die Regelungsdichte verstärkt wird.
Auch für Spielhallenbetreiber gilt Art. 12 des Grundgesetzes, die Berufsfreiheit. Man muß wissen, auf die Einhaltung der gewerberechtlichen Vorschriften besteht ein Rechtsanspruch, und auch der Spielhallenbetreiber hat ihn.
Diese Einschätzung wird auch von seiten des Landes Nordrhein-Westfalen unterstrichen.
Auch in der Mitteilung vom 21. Juni 1987 wird ganz deutlich
dieser Rechts- und sachliche Anspruch unterstrichen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Ich habe nur noch wenig Zeit und möchte gerne im Zusammenhang vortragen.
Es hätte der Glaubwürdigkeit des Anliegens gedient, wenn man auch deutlich gemacht hätte, daß der Gesetzgeber inzwischen gehandelt hat und daß zur Eindämmung der Spielhallenexpansion eine ganze Reihe von neuen Instrumenten hinzugekommen ist. Ich denke, daß der Hinweis von Herrn Zöpel aus Nordrhein-Westfalen, daß vorerst die baurechtlichen Möglichkeiten eine Chance geben, hier eine Eindämmung vorzunehmen, zutrifft. Das Bauplanungsrecht gibt Eingreifmöglichkeiten vom Bebauungsplan bis hin zur Veränderungssperre.
Das Baugesetzbuch trägt zur Lösung der Spielhallenproblematik nachweislich bei.
Das werden auch die Kommunen bei der Umsetzung des Baugesetzbuchs vollziehen können. Das ist noch nicht ausreichend, aber ein erster wichtiger Schritt.
Vielleicht haben Sie die Ankündigung von Herrn Wohnungsbauminister Schneider gelesen, bei der bevorstehenden Gesamtnovellierung der Baunutzungsverordnung auch die Vergnügungsstätten mit einzubeziehen, damit die Gemeinden eine weitere Möglichkeit haben zu handeln.
Es wird gehandelt, und es ist auch gehandelt worden.
Die Eindämmung der Massierung von Vergnügungsstätten muß das Ziel sein. Ich denke auch, daß hier die Länder eine Reihe von Möglichkeiten haben, über die Vergnügungssteuer, über die Stellplätze und über die Sperrzeitregelung ihre Maßnahmen zu treffen.
Ich denke aber auch, daß der Bund weitere Möglichkeiten überlegen muß. Er muß wissen, daß die Lage und die Einrichtung von Spielhallen noch weiter verdeutlicht werden müssen. Standorte von Spielhallen in der Nähe von Schulen, Jugendzentren und Kindergärten sind nicht tragbar. Es ist auch nicht tragbar, daß Geschicklichkeitsspiele zu Glücksspielen umgesetzt werden können. Da gibt es eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten.
Eine Gemeinsamkeit im Vorgehen ist notwendig. Ein Schwarzer-Peter-Spiel von den Kommunen zum Land und dann zum Bund ist überhaupt nicht tragbar. Wer gemeinsam vorgeht, kann einen Damm gegen eine Expansion weiterer Spielhallen bauen. Er kann dazu beitragen, sie auf einen vernünftigen Rangplatz zurückzuführen. Damit kann er eine Gefährdung der Qualität der Städte vermeiden.
Doch das Schwert — damit komme ich zum Ende — muß immer wieder neu geschärft werden, um dem Fehlwuchs zu begegnen. Deshalb ist es notwendig, daß wir diese Aufgabe in den Ausschüssen zügig angehen: unterhaltsame Spiele sichern, aber Auswüchse verhindern.
Danke schön.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Teubner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist beabsichtigt, den vorliegenden Antrag federführend im Ausschuß für Wirtschaft zu beraten. Die Begründung ist so verkehrt eigentlich nicht. In der Tat handelt es sich hier um eine Problematik, die letztlich auf einem tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandel — in diesem Fall im Einzelhandel — beruht. Es wäre allerdings zu fragen, warum dann der Wirtschaftsausschuß nicht grundsätzlich federführend für mindestens 90 % aller hier
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Frau Teubnereingebrachten Anträge ist. Schließlich lassen sich die allermeisten Entwicklungen unserer Gesellschaft auf wirtschaftliche Ursachen zurückführen.Wir beantragen dennoch, für den vorliegenden Antrag die Federführung dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu geben. Nicht zu Unrecht haben z. B. im Zusammenhang mit der Beratung des Raumordnungsberichts alle Fraktionen übereinstimmend erklärt, Fragen der Raumordnung und der Stadtentwicklung müßten ein sehr viel größeres Gewicht in den Debatten dieses Plenums einnehmen als bisher.Wir GRÜNEN beurteilen den vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion genau in diesem Sinne. Es kann unseres Erachtens nicht angehen, hier vordergründig ein Problem von Gewerberecht und Spielverordnung zu sehen. Der eigentliche Grund für die sogenannte Spielhallenflut ist nämlich unseres Erachtens in dem tiefgreifenden Funktionswandel zu sehen, dem vor allem die Innenstädte und damit das dort ansässige Gewerbe in den letzten Jahren unterworfen waren.
Unseres Erachtens verdrängen nicht die Spielhallen den Einzelhandel, sondern sie profitieren lediglich von der Krise des Einzelhandels, von der Krise der einfachen Händler, die von großen Warenhäusern und den Ladenketten, Fotoketten, Schuhketten, Textil- und Drogeriemärkten und anderen verdrängt werden. Wir werden zu diesem Komplex der Entwicklung von Handel und Gewerbe in den Innenstädten in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen.Nun zum SPD-Entwurf von heute. Er greift, wie es scheint — Herr Westphal hat das ja auch deutlich gesagt — , eine Sorge auf, die unzählige Kommunalpolitiker bedrückt. Er wird nicht nur mit der Krise im Einzelhandel begründet.Ich will jetzt etwas genauer auf das von Ihnen genannte zweite Motiv eingehen: Was stört eigentlich so sehr an den Vergnügungsstätten? Zur Verdeutlichung ein Zitat aus einer Bebauungsplanbegründung, die dieser Tage dem Kölner Ausschuß für Stadtentwicklung vorgelegt wurde. Da heißt es u. a.:Die Festsetzung Kerngebiet entspricht den bereits vorhandenen Nutzungen, die typisch für das Hauptgeschäftszentrum eines Oberzentrums sind wie z. B. Kauf- und Warenhäuser, eine Vielfalt von Einzelhandelsgeschäften usw. mit hochwertigem Angebot, Restaurants der oberen Klasse ... Die Ansiedlung von Vergnügungsstätten ... bedroht die Angebotsvielfalt . . ., da sie .. . auch andere schädliche Anlagen anziehen können. Diese Arten von Anlagen sind geeignet, unerwünschte Spannungen z. B. zwischen Einzelhandel des gehobenen Bedarfs und den Vergnügungsstätten auszulösen. Als Folge ist die Gefahr des Umkippens des Gebietscharakters vom Geschäftsviertel zum Vergnügungsviertel mit minderwertigen Konsumangeboten nicht auszuschließen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn das nicht auf die Redezeit angerechnet wird, ja.
Vor welchen Anlagen hat die Stadt Köln dann Sorge?
Eben vor diesen Vergnügungsstätten, wozu Spielhallen, Sexshops und andere gehören.Man sieht also den „gehobenen Bedarf" der „oberen Klasse " bedroht von sogenannten „schädlichen" Anlagen und „minderwertigen" Angeboten. Von „Niveausenkung" ist die Rede. Ich werde den Verdacht nicht los, daß es hier vor allen Dingen um Imagepflege, aber auch um Unterdrückung unerwünschter Kultur geht, um Unterdrückung dessen, was man eben mit dem „gehobenen Bedarf" nicht vereinbaren kann oder möchte.Natürlich sind wir nicht so naiv, die Probleme zu verdrängen, die sich aus sogenanntem unkontrollierten Spielverhalten ergeben. Natürlich kritisieren wir die hemmungslose Vermarktung des menschlichen Spielbedürfnisses durch die Spielothekenbesitzer. Aber wir müssen auch fragen: Warum finden die Menschen in den Städten oft kaum noch eine andere, eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung?
Und wir fragen auch, ob es dann nicht auch konsequent wäre, Anträge einzubringen zur Eindämmung der „Kneipenflut", zur Eindämmung der „Warenhausflut" usw.; denn auch da wird den Leuten das Geld aus der Tasche gezogen, auch da wird Abhängigkeit produziert und ausgebeutet.Das vorhin zitierte Beispiel aus Köln zeigt ja: Es ist bereits jetzt möglich — da stimme ich sowohl Herrn Schneider als auch Herrn Zöpel zu — , mit dem vorhandenen planungsrechtlichen Instrumentarium das Überhandnehmen unerwünschter Vergnügungsstätten zu verhindern. Allerdings reicht dieses Instrumentarium nicht aus, um dem Strukturwandel im Einzelhandel zu begegnen, in dem wir die eigentliche Ursache des Spielhallenproblems sehen.Richtig ist ja die Forderung nach verbessertem Mieter- und Kündigungsschutz für Gewerbetreibende im Einzelhandel und Handwerk. Richtig wäre die Forderung nach der Novellierung der Baunutzungsverordnung. Richtig und notwendig wären auch Programme zur Existenzgründung und Existenzsicherung von versorgungswichtigen Betrieben des Einzelhandels. Richtig wäre, die Kommunen bei der Schaffung ausreichender attraktiver Alternativen in der Freizeit-und Lebensgestaltung ihrer Bürgerinnen zu unterstützen.
Man denke nur daran, daß z. B. viele Großsiedlungen heute noch nicht mit einem befriedigenden Angebot an sozialer Infrastruktur ausgestattet sind. Planung in den Gemeinden muß doch vor allem Angebotsplanung und nicht Abwehrplanung sein.Statt dessen aber — wir haben es erst in der Haushaltsdebatte deutlich vorgeführt bekommen — werden den Gemeinden die Hauptlasten der Wirtschafts-
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Frau Teubnerkrise aufgebürdet. Da muß es übrigens sehr absurd erscheinen, wenn ausgerechnet der SPD-Oberbürgermeister von Dortmund — mit Reichtümern ja nicht besonders gesegnet — die Eröffnung einer Spielbank mit den Worten bejubelt, diese werde „das beste Flöz der Stadt" werden. Dabei hat man bei Spielbanken heute eben nicht mehr allein an die Roulettische zu denken, sondern auch an die dutzendweise aufgestellten Spielmaschinen, die übrigens pro Stunde um 200mal soviel Geld schlucken wie die Geräte in den Spielsalons. Ich frage also hier, ob es diesen Geldquellen von Ländern und Gemeinden denn auch an den Kragen gehen soll. 90 % der Vergnügungsteuer kommen schon aus diesen Vergnügungsstätten.Man sollte sich nicht über die Spielsucht aufregen und dabei vergessen, wie diese politisch gefördert und wirtschaftlich ausgebeutet wird. Ich werde den Verdacht nicht los, daß hier viele Krokodilstränen geweint werden. Setzen Sie sich konsequent für die Förderung auch und vor allem nichtkommerzieller Freizeiteinrichtungen in den Innenstädten und Ortskernen ein! Dann lasse ich mich gerne eines Besseren belehren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Grünbeck.
Grünbeck: : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich ist die heutige Debatte eine Fortsetzung der Diskussion um das Baugesetzbuch, bei dem alles schon einmal da war. Die Vorschläge, die die SPD-Fraktion zur tatsächlichen Eindämmung der Spielhallenflut gemacht hat, werden eigentlich von der Landesregierung NordrheinWestfalens beantwortet: Sie lehnt alle ihre Vorschläge ab.
Es wäre wünschenswert, daß die Kommunikation zwischen der SPD hier im Bundestag und ihren Landesvertretungen etwas besser wird; denn das beweist, daß sie überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihren Landesverbänden hat.Ich muß sagen, die Sorge um die Jugend ist ein Problem, auf das ich eine Antwort gebe. Das ist aber natürlich ein Problem, das Sie hier mit einer gewissen Unseriosität vortragen, die ich belegen kann.Meine Damen und Herren, die pauschale Behauptung, daß sich die Zahl der Spielhallen drastisch vermehrt habe, ist unzutreffend. Die Entwicklung ist tatsächlich regional völlig unterschiedlich. Nach den Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums hat sich für das Jahr 1986 eine Zuwachsrate bundesweit von 9,9 % gegenüber 1985 ergeben. Dabei sind jedoch die Neugenehmigungen, die lediglich auf Grund der Rechtsumstellung für bestehende Spielhallen erteilt wurden, mit eingerechnet. Der tatsächliche Anstieg liegt daher deutlich niedriger. Der Zuwachs resultiert auch aus dem Antragsstau, der sich 1984 und der Novellierung der Spielverordnung im Dezember 1985ergeben hat. Dieser Stau ist inzwischen im wesentlichen abgebaut.Die Spielverordnung wird Wirkung zeigen. Sie verhindert die Auswüchse bei der Aufstellung von Unterhaltungsspielgeräten mit Geldgewinnmöglichkeiten, wie sie früher vorgekommen sind. Wenn ich heute höre, daß die Verordnung angeblich halbherzig ist, dann muß ich Ihnen sagen, daß sie weltweit eher zur Nachahmung empfohlen wird. Wer die Gefahren von Spielsucht heraufbeschwört, der muß sich im klaren sein, daß nahezu alle Bundesländer zur Verbesserung ihrer Einnahmen Automatensäle der staatlichen Spielbanken — das wurde hier von meiner Vorrednerin schon dargelegt — eingerichtet haben. Von diesen Spielbanken geht eine viel größere Gefahr aus. Dort sind nämlich Einsätze bis zu 30 DM pro Fünf -Sekunden-Spiel möglich, wogegen in den sogenannten Groschengeräten der Spielhallen der Einsatz seit 1977 unverändert auf 30 Pf pro Spiel bei 15 Sekunden Mindestlaufzeit und 60 % Mindestauszahlung beschränkt ist.Ich muß auch noch einmal die Frage stellen, was hier der Hinweis auf den Jugendschutz soll. Meine Damen und Herren, darf ich einmal daran erinnern, daß unter einer SPD-Regierung der Jugendschutz so ausgestaltet war, daß Kinder und Jugendliche freien Zutritt zu Spielhallen haben sollten. Lediglich in Spielhallen mit Geräten mit Gewinnmöglichkeiten sollten nur Jugendliche ab 14 Jahren Zutritt haben. Dagegen hat die jetzige Bundesregierung die Grenze des Eintrittsalters für Spielstätten 1985 generell auf 18 Jahre festgelegt, egal welche Spielinhalte geboten werden. Nach Auskunft der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen gibt es im Jugendschutz kaum Übertretungen in Spielhallen. Das heißt, daß die Grenze von 18 Jahren eingehalten wird. Wenn hier also jemand vom Jugendschutz redet, dann redet er an der Sache vorbei.Im Juni dieses Jahres hat die SPD-Landesregierung in Nordrhein-Westfalen eine Kleine Anfrage des Landtagsabgeordneten Jentsch von der SPD zur Spielhallenproblematik beantwortet. Ich darf sie Ihnen nachher überreichen, da Sie diese offensichtlich nicht kennen.Es wäre sicher gut gewesen, wenn die Bundestagsfraktion diesbezüglich etwas mehr Informationen bei ihren Kollegen in Düsseldorf gesucht hätte. Dort führt die SPD-Regierung aus — ich darf diese Ausführungen übernehmen, weil sie nahezu wörtlich von meinen Ausführungen bei der Beratung des Baugesetzbuches übernommen worden sind — :Spielhallenbetreiber sind grundsätzlich durch Art. 12 des Grundgesetzes— nämlich die Berufsfreiheit — geschützt.Weiter heißt es:Die Versagungsgründe nach der Gewerbeordnung rechtfertigen zumeist nicht die Versagung der Erlaubnis einer Spielhalle. Schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes liegen in der Regel nicht vor.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1825
GrünbeckEine übermäßige Ausnutzung des Spielbetriebes— so die Landesregierung in Düsseldorf —ist angesichts der begrenzten Gewinn- und Verlustmöglichkeiten an Geldspielgeräten bei Spielhallen nicht der Fall. Nennenswerte Verstöße von Spielhallenbetrieben gegen das Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit sind nicht festzustellen.Eine Änderung der baurechtlichen Vorschriften, die in die Länderkompetenz fällt, lehnt die SPD-Regierung in ihrer Antwort ab,
offenbar, weil sie die geltenden Regelungen für ausreichend erachtet. Die entscheidenden und nach Meinung der SPD-Landesregierung wirkungsvollen Möglichkeiten der Gemeinden zur Verhinderung einer unerwünschten Ausbreitung von Spielhallen bilden die bauplanungsrechtlichen Instrumente. Durch die Aufstellung oder Änderung von Bebauungsplänen in Kombination mit dem Erlaß einer Veränderungssperre hat die Gemeinde erhebliche Einflußmöglichkeiten.Daß diese Einflußmöglichkeiten, Herr Kollege Westphal, genutzt werden, zeigen im übrigen auch die unterschiedlichen Daten in Nordrhein-Westfalen. Ich darf Ihnen einmal vorlesen: In Oberhausen sind es 834 Einwohner je Spielhalle, in Hamm sind es 1 100, in Gelsenkirchen sind es 1 100, dagegen sind es in Düsseldorf 7 500, in Krefeld 9 400, in Mülheim 10 000. In Bayern sind es 12 000, in Baden-Württemberg sind es 15 000 Einwohner pro Spielhalle. Das heißt, daß damit lückenlos der Beleg geliefert worden ist, daß verschiedene Kommunen die vorhandenen Instrumente nutzen und damit eine Steuerung möglich ist.Im übrigen verweist auch die SPD-Regierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage auf die Gefahr, die ein pauschales Verbot von Spielhallen etwa in den Kernbereichen mit sich brächte. Da die Spielhallen nicht in allen Baugebietstypen verboten werden können, würden die Spielhallen durch eine solche Regelung möglicherweise in Wohngebiete abgedrängt werden — bei Gott für uns alle keine wünschenswerte Entwicklung.Dennoch fordert die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag, im Rahmen des Gewerberechts — das muß man sich einmal überlegen — , der Spielverordnung und des Planungsrechtes umgehend Regelungen zu treffen — welche, haben Sie sich erspart zu beantragen — , um den Betrieb von Spielhallen wirkungsvoll einzuschränken. Eigentlich warte ich noch auf einen Antrag aus der SPD-Fraktion, in dem es heißt: Die Gewerbefreiheit in Deutschland ist aufzuheben. — Das wäre dann das Ende Ihrer Veranstaltungen.Meine Damen und Herren, die Vorträge hier über den Mieterschutz rühren mich zu Tränen. Es ist erstaunlich: Wenn wir mit Ihnen über Liberalisierung von Mietrecht reden wollen, schlagen Sie die Bücher zu und sagen: mit uns nicht. — Aber nun verlangen Sie sofort eine Regelung für den Schutz der armenEinzelhändler, die möglicherweise die Mietpreise in den Innenstädten nicht mehr zahlen können, und betrachten das als eine Art Mieterschutz für den Einzelhandel. Das wäre ein abenteuerlicher Eingriff, wenn wir ihn zuließen, in das Mieterschutzgesetz.
Meine Damen und Herren, wir werden uns nicht dazu hergeben, immer mehr Staat in die wirtschaftlichen Abläufe einzuschalten und immer mehr staatlichen Dirigismus an die Stelle eigenverantwortlichen Handelns zu setzen.
Die FDP-Fraktion wird sich stärker als je zuvor zu marktwirtschaftlichen Lösungen mit hoher sozialer Verantwortlichkeit bekennen und lehnt auch aus diesem Grunde den Antrag der SPD-Fraktion ab.Im übrigen sollten wir uns alle zu Herzen nehmen, daß 1966 10 % der Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst beschäftigt waren, 1986 aber über 20 %. Wenn wir immer neue staatliche Instrumente erfinden, müssen Sie mir mal sagen, wie der öffentliche Dienst bei einer rückläufigen Bevölkerungsentwicklung noch finanzierbar bleiben soll.
Auch aus diesem Grunde lehnen wir diesen Antrag ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reschke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der Bemühungen, hier eine schiefe Debattenlage zu entwickeln, muß festgehalten werden: Hier geht es um einen ganz speziellen Punkt, der trotz aller Beteuerungen des Bundesbauministers Auswirkungen vor Ort hat. Das Problem ist, daß den Gemeinden vom Bundesgesetzgeber kein ausreichendes Instrumentarium an die Hand gegeben worden ist, um mit den neuen, nach innen gerichteten Leitbildern der Stadtentwicklung fertig zu werden.Hätten Sie sich, lieber Kollege von der FDP, die Vorlage der Landesregierung, des Wohnungsbauministers Zöpel, vom 3. Juli 1987 angesehen, hätten Sie die Position der Landesregierung zur Verhinderung von Spielhallen, Sexshops und des ständigen Anstiegs der Zahl von Spielgeräten zur Kenntnis nehmen können.Zwei Gründe haben wesentlich dazu beigetragen, daß unsere Städte Schwierigkeiten haben.Erster Grund: die Eilnovelle der Regierung zur Spielverordnung von 1985. Das Ziel war, den Expansionsdrang des Spielhallengewerbes zu stoppen. Das Gegenteil ist dabei herausgekommen. Von 1985 bis heute hat die Zahl der Konzessionen sprunghaft zugenommen — ich komme gleich darauf — , um über 1 000. Man muß das mal feststellen.
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Reschke— 9 % ist eine gute Zahl. Aber „über 1 000" in den Ballungsgebieten ist für die Bürger faßbar.
Zweitens hat sich die Anzahl der Geldspielgeräte drastisch erhöht.Bei der Beratung — und das ist der zweite Grund, daß die Entwicklung so dramatisch ist — des neuen Baugesetzbuchs hat sich die Regierungskoalition mehr als halbherzig verhalten. Trotz aller Warnungen und Ermahnungen von Wissenschaftlern, Instituten und Gemeindeverbänden hat die Regierung die Vorschläge der SPD zurückgewiesen.
Die SPD hat schon 1986 vorgeschlagen, im Baugesetzbuch vorzusehen — das ist nicht verfassungswidrig, sondern haben Wissenschaftler uns empfohlen — , daß die Gemeinde einzelne Nutzungen oder Anlagen aus besonderen städtebaulichen Gründen ausschließen kann. Zur Stärkung der Instrumente der Bauleitplanung war es nach unserer Auffassung erforderlich, für bestimmte Nutzungen oder Anlagen Ausschlußmöglichkeiten zu schaffen. Es sollte möglich sein, im Außenbereich bestimmte Nutzungen aus Gründen des Umweltschutzes und im Innenbereich aus Gründen städtebaulich erwünschter oder unerwünschter Entwicklungen auszuschließen oder zuzulassen.Ich kann heute nur sagen: eine 1986 im Rahmen der Beratungen über das Baugesetzbuch verpaßte Chance. Die Chance ist insofern verpaßt, als mit diesen Ausschließungsmöglichkeiten tatsächlich die Weh- und Klagegeschreie unserer Städte und Gemeinden zum Thema Spielhallen nicht hätten zu entstehen brauchen.Für die SPD-Bundestagsfraktion geht es mit diesem Antrag — das darf ich klarstellen — um ein Instrument für Städte und Gemeinde gegen unerwünschte Entwicklungen in Stadtteilen, in Nebenzentren, in unseren Innenstädten, ja sogar in Straßenzügen. Es geht nicht um den Betreiber einer Spielhalle. Es geht nicht um das Aufstellen von Sportgeräten oder Geldspielgeräten in Gaststätten. Es geht um die ureigenste Hoheit der Gemeinden, nach einem Prozeß des Abwägens den sozialen Ausgleich zwischen den Interessengruppen in unseren Städten herbeizuführen.
Das können wir als Gesetzgeber zumindest als Grundvoraussetzung für die Planungsentscheidung nehmen.
Innenstädte und Nebenzentren sind unentbehrlich für die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt. Die Innenstädte und Nebenzentren waren und sind Zentrum für Kommunikation, Handel, Kultur und Politik einer Gemeinde vor Ort. Gemeinden und Städte müssen immer mehr beobachten, daß insbesondere Spielhallen, jedoch auch Sex-Shops, Sex-Kinos zusammen mit Fast-food-Restaurants, Billigläden oder anderen Einzelhandelsgeschäfte verdrängen. Sogar Kleinhandwerker, meine Kollegen der FDP, vor Ort werden verdrängt, wie der Schneider, wie das Frisörgeschäft.Diese Lagen werden von denjenigen herausgekauft, die finanzkräftig sind.Städtebaulich umfaßt der hier angesprochene Problembereich deshalb nicht nur die Frage der Spielhallenflut. Darauf werden sich unsere Vorschläge richten. Hinsichtlich der bauplanerischen Zulässigkeit muß man nüchtern und sachlich feststellen, daß wir zwei Planungsbereiche im Innenbereich haben, in denen es schon früher Möglichkeiten gab: überplante Bereiche und Bereiche, die dem § 34 unterliegen.Die Rechtslage nach dem alten Bundesbaugesetz und die Rechtslage neuer Art seit 1. Juli mit dem neuen Baugesetzbuch unterscheiden sich nur in einem Punkt — nämlich daß nach § 34 Abs. 2 des neuen Baugesetzbuches nunmehr der einfache Bebauungsplan ausdrücklich gesetzlich zugelassen ist, ausdrücklich gesetzlich erwähnt ist. Mit diesem sogenannten einfachen neuen Textbebauungsplan kann nach dem neuen Recht auch unerwünschte Nutzung wie z. B. die Zunahme von Spielhallen verhindert werden — in keinem anderen einzelnen Punkt mehr.Es muß allerdings ernsthaft die Frage gestellt werden, ob ein Textbebauungsplan in jedem Straßenzug für jeden Stadtteil die richtige Lösung ist, die richtige Lösung für praktische Kommunalpolitik vor Ort. Die personelle Situation in den Städten und Gemeinden macht den Hinweis auf diese Möglichkeit geradezu absurd. Ohne Bebauungsplan sind die Praxis und die Rechtsprechung nach § 34 und auch nach § 15 der Baunutzungsverordnung, daß die Eröffnung von Spielhallen planungsrechtlich so gut wie ständig zulässig ist. Die Gemeinden haben keine Instrumente, baurechtlich etwas zu verhindern.
— Da müssen Sie einen Bebauungsplan machen. Machen Sie einmal laufend Textbebauungspläne! Erzählen sie doch nicht so einen Unsinn! Durch Wiederholung von Unsinn wird dieses doch nicht sinnvoller, lieber Kollege.
Unser Vorschlag ist, über die Bauleitplanung in Verbindung mit der zukünftigen Baunutzungsverordnung den Ausschluß einzelner Nutzungen oder Anlagen aus besonderen städtebaulichen Gründen zuzulassen.Aber nicht nur die städtebaulichen Instrumentarien sind in unserem Antrag angesprochen, es geht auch um die sofortige Novellierung der Spielordnung. Die Eilnovellierung von 1985 hatte einen Spielhallenboom eingeläutet. Ich sprach schon von den 1 000 Konzessionen in eineinhalb Jahren, nicht etwa in zehn Jahren. Nach der Massierung in den Innenstädten ist seit einem Jahr zu verzeichnen, daß die Spielhallenkonzessionäre auf dem Weg in unsere Nebenzentren und Stadtteile schon mit sichtbaren Ergebnissen darauf aus sind, Regionen und Wohnbereiche kaputtzumachen. Die Folgen der Spielordnung von 1985 sind: Mittlerweise 160 000 Geldspielgeräte und 240 000 Sportspielgeräte. Wir haben 5 000 Automatenaufstel-
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Reschkeler in der Bundesrepublik. 1 000 davon betreiben Spielhallen, wir haben 4 000 Hallen in den Stadtteilen der Bundesrepublik und in Innenstädten. Das Ergebnis: rund 4 Hallen je Betreiber bei rund 12 000 Einzelkonzessionen. Wer hier noch sagt, die Gewerbefreiheit wird eingeschränkt durch restriktive Entscheidungsmöglichkeiten der Gemeinden, der soll sich in den Zahlen und nicht nur in den Broschüren der Verbände umsehen.Die Konsequenzen der SPD-Bundestagsfraktion, bezogen auf die sofortige Novellierung der Spielordnung, sind: Die Übergangsfrist für Spielgeräte pro Quadratmeter alter Art sollten als Sofortmaßnahme gestrichen werden. Jede Halle darf nur noch ein Drittel Geld- und muß zwei Drittel Sportgeräte enthalten. Die drastische Begrenzung der Spielgeräte pro Quadratmeter: Statt 10 Geräte auf 15 Quadratmetern — man muß sich das mal vorstellen: Auf der Größe eines Spiel-, eines Kinderzimmers stehen heute teilweise 10 Geräte — , sollte es nur noch sechs Spielgeräte pro Halle geben, und für jeden Vergnügungsapparat sollte eine Stellfläche von 20 Quadratmetern vorhanden sein. Das ist übrigens nicht unser eigener Vorschlag, sondern dies schlägt auch der Städtetag vor.
Darüber hinaus ist für die neue Spielordnung über folgendes nachzudenken und festzulegen: Öffnungszeiten für diese Hallen, höherer Gewinnauswurf je Gerät — derzeit sind 60 % gesetzlich vorgeschrieben; wir sollten auf 80 bis 90 % kommen — , Zählgeräte zur umsatzsteuerlichen Erfassung für Geldspielautomaten. Hier muß ich ganz deutlich sagen: Es schlägt doch dem Faß den Boden aus, daß wir bei Geldspielautomaten alle möglichen Schikanen mit modernster Technologie, aber noch nicht mal die Möglichkeit haben, daß der Einwurf gezählt wird, die Markstücke, Groschen oder Fünfer, die da hineingehen. Hier gibt es einen Graubereich der Subvention in der Marktverzerrung gegenüber den 240 000 Sportgeräten, die aufgestellt sind, wo jede Mark, jeder Einwurf gezählt werden. Ich glaube, man kann feststellen, daß der Finanzminister diesen Punkt in die Liste der zu streichenden Subventionen mit aufnehmen sollte. Wir schlagen als Sofortmaßnahme vor, den Vervielfältiger auf diese Steuerbemessungsgrundlage nach Selbsteinschätzung und Selbstauszählung, der zur Zeit bei 1,5 liegt, auf 3 bis 4 heraufzusetzen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben noch einige Vorschläge, die die Steuerinstrumente betreffen, und wir werden diese Vorschläge und auch die Vorschläge im Bereich der Mietpreisbindung und des Mietrechts im Fachausschuß einbringen. Das sind nicht nur unsere eigenen Vorschläge, sondern auch Vorschläge, die aus dem Bereich des Einzelhandels kommen und die z. B. Fragen des Mieterschutzes im Gewerbe betreffen.Ich komme damit zum Schluß. Der Antrag der SPDBundestagsfraktion hat zum Ziel — das sage ich ganz besonders zum Kollegen Börnsen von der CDU — : Die Baurechtsfragen sind kurzfristig zu lösen und im Parlament zur Entscheidung zu bringen. Die Wettbewerbsverzerrungen über Steuerfragen sind abzubauen, das Gemeindesteuererhebungsrecht für die Vergnügungssteuer ist besser zu qualifizieren, dieSpielverordnung ist mit restriktiven Maßnahmemöglichkeiten für die Gemeinden schnellstens zu novellieren, und es sind Überlegungen anzustellen, wie ganz besonders dem Kleinhandel, dem Handwerk und dem Einzelhandel geholfen werden kann. Wir alle bedauern, daß der Markt ein unerwünschtes Geschäft mit großen sozialen und kulturellen Auswirkungen, bis hin zu städtebaulicher Verslumung ganzer Straßenzüge, zuläßt.
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, die Redezeit einzuhalten.
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.
Lassen Sie doch nicht zu, daß wir im Bedauern von irgendwelchen Leuten übertroffen werden, denn wir sind der Gesetzgeber, und der ist aufgerufen, zu handhabbaren, überschaubaren Lösungen für unsere Städte und Gemeinden zu kommen.
Stimmen Sie bitte der Überweisung in den Fachausschuß, in den Wirtschaftsausschuß zu, wie es der Ältestenrat vereinbart hat.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Kollegen aus der SPD-Fraktion verfolgt das Ziel, Mißstände im Spielhallenbereich zu beseitigen. Ich glaube, Herr Kollege Westphal, es gibt überhaupt keinen Zweifel, daß es hier im Deutschen Bundestag eine große Mehrheit für vernünftige Vorschläge jedweder Art geben kann und geben wird, wenn es darum geht, die Spielhallenflut zu bekämpfen.
Sie haben in Ihrem Antrag eine Reihe von Maßnahmen im Bereich des Gewerbe-, des Bau- und des Mieterschutzrechtes gefordert, mit denen einer Vermehrung und einer weiteren Konzentration von Spielhallen in Stadtzentren begegnet werden soll. Aber genau da beginnt jetzt die Diskussion. Wir begrüßen deshalb seitens der Bundesregierung — ich habe die Debatte hier genau verfolgt — diesen Antrag auch deshalb, weil Gelegenheit gegeben wird — der Kollege Grünbeck hat das ja schon gesagt — , die anstehenden Fragen, die auch vor zwei Jahren da waren, sorgfältig und gründlich in den Ausschüssen zu beraten. Die Bundesregierung ist bereit, sich mit allen Argumenten auseinanderzusetzen.Der Teufel liegt allerdings im Detail, und ich möchte einmal versuchen, zu den drei Schwerpunkten Ihres Antrags Stellung zu nehmen.Zunächst zum Bereich des Gewerberechts: Es trifft zu, daß sich die Zahl der Spielhallen in letzter Zeit vermehrt hat. Ich kann es Ihnen, Herr Kollege Westphal, leider nicht ersparen, Ihre Beurteilung einer Äußerung von mir in einem Fernsehinterview als falsch bezeichnen zu müssen, denn die Statistik, die mir vor-
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1828 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Parl. Staatssekretär Dr. Riedlliegt — ich habe mir erlaubt, Ihnen ein Exemplar mitzubringen; ich darf es Ihnen dann übergeben — , bestätigt diese Zahlen, und ich habe mich auch nur auf die Statistik bezogen. Betroffen von dieser zunehmenden Zahl von Spielhallen sind insbesondere die Länder Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen. Tatsache ist, daß bundesweit die Entwicklung in den letzten zwei Jahren sehr unterschiedlich verlaufen ist und in weiten Bereichen eben nicht dramatisch ist. Aber es gibt Schwerpunktbereiche, in denen sie außerordentlich dramatisch ist; das gebe ich Ihnen zu.Aber die neue Spielverordnung von 1985 — ich werde dies gleich sagen — ist daran mit Sicherheit nicht schuld. Nach einer Erhebung der Wirtschaftsminister der Länder aus diesem Jahr hat sich die Zahl der Spielhallen seit Inkrafttreten der Verordnung im Dezember 1985 von 11 000 um 1 000 auf 12 000 erhöht. Es gab also 1 000 Spielhallen mehr in diesem Zeitraum. Mehr als die Hälfte der Neuzulassungen — es tut mir leid, wenn ich das sagen muß — entfällt auf Nordrhein-Westfalen. Dies ist überwiegend Folge eines bis zum Inkrafttreten der Verordnung dort entstandenen Antragstaus und ferner die Folge von Strukturveränderungen im Gewerbe.Die Änderung der Spielordnung hatte dagegen nicht den in Ihrem Antrag unterstellten Zweck, die Einrichtung neuer Spielhallen schlechthin zu unterbinden. Es sollten in erster Linie Auswüchse, die nach dem alten Recht zu einer Massierung von Geldspielgeräten in Spielhallen auf kleinstem Raum geführt hatten, beseitigt werden. Ich darf Ihnen hier nur das Stichwort „Zellteilung von Spielhallen" entgegensetzen. Dem wirkt der neue § 3 der Verordnung entgegen.Der Kollege, der vorher gesprochen hat, hat offensichtlich etwas verwechselt. Denn nach dem neuen § 3 der Verordnung ist in Spielhallen auf 15 qm Grundfläche nur noch ein Geldspielgerät möglich. Es darf höchstens zehn Geräte pro Spielhalle geben — damit es da kein Mißverständnis gibt.Direkte positive Auswirkungen hat diese Regelung auf neu errichtete Spielhallen, in denen im Vergleich zu früheren durchschnittlichen Regelungen nur noch etwa halb so viele Spielgeräte stehen dürfen. Darüber hinaus müssen Altunternehmen ihren Gerätebestand stufenweise im Rahmen einer angemessenen Übergangsregelung an die neue Rechtslage anpassen, was letztlich zu einer Reduzierung der Geräte um 30 bis 40 % führen wird. Als Nebeneffekt wird dies die Rentabilität von Kleinstspielhallen mit hohem Gerätebestand in Frage stellen und zu Geschäftsaufgaben führen.Das Gewerberecht — ich stelle das hier ganz nüchtern und ohne Emotion fest — bietet keine Handhaben, die Errichtung weiterer Spielhallen zu unterbinden. Dies wäre auch nicht mit dem unsere Wirtschaft tragenden Grundsatz der Gewerbefreiheit zu vereinbaren. Auch das Spielhallengewerbe hat als ein vom Gesetzgeber legal anerkanntes Gewerbe seine Existenzberechtigung. So wollen denn auch die Gegner der Spielhallen keine Zulassungssperre, sondern lediglich eine weitere Anhäufung von Spielhallen in besonders anfälligen Stadtzentren verhindern.Sonstige, in der Öffentlichkeit besonders von den Kommunen unterbreitete gewerberechtliche Vorschläge könnten — das haben wir im Ministerium sorgfältig geprüft — das Problem nicht unmittelbar lösen, vielleicht mittelbar entschärfen. Aber das müßte von Fall zu Fall noch einmal näher geprüft werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte jetzt etwas sagen, ohne irgendeinen der Antragsteller persönlich anzusprechen; ich möchte vielleicht an uns alle appellieren. Ich muß mich in der Tat fragen, ob sich die Befürworter weitergehender Maßnahmen gegen die Spielhallen nicht eine doppelte Moral vorhalten lassen müssen.
Herr Kollege Westphal, schauen Sie sich doch einmal die Statistik an. Bei uns in Bayern ist das kein Problem. Sie haben mich vorhin freundlicherweise von meiner Herkunft her angesprochen. Im Freistaat Bayern ist dies kein Problem, nicht einmal in der Großstadt München.Ich muß leider noch einmal auf Nordrhein-Westfalen zu sprechen kommen. Die ständig wachsende Zahl staatlich konzessionierter Spielbanken im Bundesgebiet mit ihren enormen Besucher- und Umsatzzahlen muß doch in der Tat zu denken geben. In Nordrhein-Westfalen gibt es bislang drei konzessionierte Spielbanken. Eine vierte ist in Planung. Sie werden es nicht glauben: Vierzig Städte aus Nordrhein-Westfalen haben sich um eine Lizenz für diese vierte Spielbank beworben.
— Ich kann mir gut vorstellen, daß das stimmt, weil es lukrativ ist, Frau Kollegin. Und das meine ich mit doppelter Moral. Ich halte es nicht für gut, wenn man diesen Gesichtspunkt außer acht läßt.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja; gern.
Herr Staatssekretär, haben Sie irgend etwas in meinem Redebeitrag gehört, was dafür sprechen könnte, daß ich für die Ausdehnung von Spielbanken eingetreten bin?
Nein. Herr Kollege Westphal, das habe ich nicht gehört.
Ich habe ja ausdrücklich gesagt, daß ich den Antragsteller damit gar nicht gemeint habe.Aber entschieden wird über die Anträge, eine solche Lizenz zu erreichen, doch von Politikern in den Kommunen. Ich habe nicht den Eindruck, daß es unter den vierzig Städten in Nordrhein-Westfalen, die sich beworben haben, auch nur eine gibt, in der die SPD nicht vertreten ist. Sie haben doch in Nordrhein-Westfalen eine durchwachsene Mehrheitsstruktur in den
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1829
Parl. Staatssekretär Dr. RiedlI Städten, Herr Kollege Westphal. Ich muß das hier doch einmal sagen, weil es gar keinen Sinn hat, wenn wir uns hier mit Anträgen befassen, die vor Ort besser geregelt werden können.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Abgesehen von der Tatsache, daß alles versucht worden ist, um abzuwehren, frage ich Sie, Herr Staatssekretär, ob Ihnen bekannt ist, daß z. B. der Oberbürgermeister der Stadt München sich intensivst bemüht hat, zu verhindern, daß es eine Ausdehnung dieser Spielhallenflut bis in den Münchener Hauptbahnhof hinein gibt. Er hat das zusammen mit dem dortigen Erzbischöflichen Ordinariat getan. Ich will Ihnen nur deutlich machen, daß die Struktur unserer Länder tatsächlich unterschiedlich ist. Bei uns in Nordrhein-Westfalen ist eine Stadt neben der anderen. Bei Ihnen sind es Dörfer nebeneinander. Da genügt eine Spielhalle, um den Charakter der Dorfmitte zu verschlechtern.
Herr Kollege Westphal, da sind doch die Kommunen gefragt. Auch ich habe zu den Abgeordneten in München gehört, die beim Vorstand der Deutschen Bundesbahn herzlich gebeten haben, keine Spielhalle im Münchener Hauptbahnhof einrichten zu lassen. Da hat mir der Vorstandvorsitzer erklärt: Herr Riedl, auf der anderen Seite macht ihr im Haushaltsausschuß der Deutschen Bundesbahn Vorschriften, sie solle ihre Anlagen möglichst wirtschaftlich vermieten.
Es gibt nun einmal bei einer Verpachtung für Spielhallen enorm hohe Mieterträge zu erzielen, die die Bundesbahn braucht, wenn sie nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit arbeiten soll. Ich will nur noch einmal sagen, wie schwierig die Probleme im Detail sind.
— Herr Kollege Pfeffermann, ich möchte dieses Rednerpult nicht mit einer Kanzel verwechseln. Aber ich bin gern bereit, hinterher bei einem Glas Bier mit Ihnen über dieses Thema zu reden.Trotz der von mir dargelegten geringen gewerberechtlichen Handlungsspielräume ist die Bundesregierung gern bereit, die Realisierungsmöglichkeiten solcher Vorschläge und anderer, wie sie heute gemacht worden sind, nochmals — ich habe es schon gesagt — eingehend zu prüfen, auch mit Ihnen in den zuständigen Ausschüssen. In erster Linie käme wohl die schon erwähnte Reduzierung der Spielanreize der Geräte durch Reduzierung der Sonder- und Risikospiele — der Kollege Grünbeck hat das bereits erwähnt — in Betracht. Darüber kann man sich unterhalten.
Ein Zweites zum Baurecht — und das scheint mir der wesentlichste Punkt zu sein — : Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß das Städtebaurecht den erforderlichen Beitrag zur Lösung der durch die Zunahme von Spielhallen entstandenen Probleme leistet. Dabei ist allerdings grundsätzlich zu berücksichtigen, daß Aufgabe des Städtebaurechts nur sein kann, sicherzustellen, daß aus Gründen einer geordneten städtebaulichen Entwicklung Vergnügungsstätten, z. B. Spielhallen, an den dafür geeigneten Standorten errichtet werden und eine nachteilige Umstrukturierung eines Gebiets verhindert wird.Das bisher geltende, durch das am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Baugesetzbuch übernommene und verbesserte Städtebaurecht enthält weitgehende Regelungen zur Verhinderung städtebaulich unerwünschter Spielhallen. Ich würde Ihnen wirklich empfehlen, Ihre zuständigen Kommunalpolitiker zur Beratung zu uns zu schicken. Sie können sich gern an die Experten im Bundeswirtschaftsministerium oder im Wohnungsbauministerium wenden. Die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung bestätigte Rechtslage ermöglicht, Vergnüngungsstätten, z. B. Spielhallen, in Gebieten mit Bebauungsplänen und in den nichtbeplanten Innenbereichen nur in beschränktem Maße zuzulassen.
Vor allem gehören Spielhallen in größerem Einzugsbereich grundsätzlich nur in die Kerngebiete der Städte und sind auch dort nur zulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der vorhandenen Eigenart des Gebietes nicht widersprechen.Auch die im Entschließungsantrag von Ihnen geforderte Möglichkeit der Gemeinden, bestimmte Nutzungen oder Anlagen zu beschränken oder zu verhindern, ist bereits im geltenden Städtebaurecht enthalten. Die Kommunen brauchen es ja nur anzuwenden. Nach Maßgabe des § 1 Abs. 5 und 9 der Baunutzungsverordnung können in Bebauungsplänen mit der Festsetzung von Baugebieten auch Spielhallen ausgeschlossen werden. Dies ist erst vor kurzem durch zwei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, nämlich vom 22. Mai 1987, ausdrücklich bestätigt worden.
Beide Entscheidungen verdeutlichen die planungsrechtlichen Möglichkeiten zur Einschränkung von Spielhallen und stellen damit eine echte Hilfe für die gemeindliche Planungspraxis dar. Man muß den Justitiar der Gemeinde nur mit sinnvollen Aufgaben beschäftigen; dann kommt er schon dahinter. Das Baurecht ist schwierig — ich rede als Betriebswirt und Nichtjurist relativ leicht darüber —,
aber es lohnt sich, es zu studieren. — Aber es ist gut, Herr Abgeordneter, da gebe ich Ihnen recht. Es ist ja auch von uns mit Mehrheit verabschiedet worden.
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1830 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Parl. Staatssekretär Dr. RiedlDas am 1. Juli 1987 in Kraft getretene Baugesetzbuch enthält für die Bauleitplanung eine zusätzliche Regelung von erheblicher praktischer Bedeutung. Ich darf Ihnen das hier kurz erläutern: Schon während des Verfahrens zur Aufstellung oder Änderung von Bebauungsplänen können die künftigen Plangebiete gegen die Einrichtung von Vergnügungsstätten, auch soweit damit die Nutzungsänderung eines Ladenlokals in eine Spielhalle ohne bauliche Maßnahme verbunden ist, durch eine Veränderungssperre gemäß § 14 Baugesetzbuch vorläufig gesichert werden. Das ist eine ganz klare Vorschrift. Das Städtebaurecht ermöglicht daher den Gemeinden, die aus städtebaulichen Gründen erforderlichen Planungen zur Verhinderung oder Beschränkung von Spielhallen vorzunehmen. Es kommt nun darauf an, daß die Gemeinden die vorhandenen Möglichkeiten auch ausschöpfen und dort, wo es nötig ist, Bebauungspläne aufstellen oder ergänzen.Weitergehende und im Entschließungsantrag geforderte Regelungen im Baugesetzbuch sind aus Anlaß der Beratungen des Deutschen Bundestages zum Baugesetzbuch — der Kollege Grünbeck hat es gesagt — eingehend geprüft, aber nicht aufgegriffen worden, insbesondere weil die Regelung nicht auf die eigentlichen Problemfälle, z. B. Spielhallen, hätte beschränkt werden können. Auf den Bericht des federführenden Ausschusses vom 15. Oktober 1986 nehme ich Bezug.Ergänzend weise ich darauf hin, daß die Baunutzungsverordnung in dieser Legislaturperiode von diesem Bundestag novelliert werden soll. Sie bildet die Grundlage für die Bauleitplanung der Gemeinden und regelt die Zulässigkeit von Vorhaben in den Baugebieten. In die inzwischen vom Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau eingeleitete Gesamtüberprüfung dieser Verordnung ist auch die Spielhallenproblematik einbezogen. Über die bereits vorhandenen Regelungen hinaus wird außerdem die Einführung einer gesonderten Regelung über die Zulässigkeit bestimmter Vergnügungsstätten, wie z. B. Spielhallen, in den Baugebieten geprüft, die aber ebenfalls auf die städtebaulichen Erfordernisse beschränkt bleiben muß. Allerdings bedarf eine solche zusätzliche Regelung noch der Erörterung mit den Beteiligten; es ist noch nicht soweit.Darf ich abschließend ganz kurz zu dem dritten Punkt einige wenige Bemerkungen machen. Zur Frage einer Verstärkung des Mieterschutzes für kleine und mittlere Gewerbetreibende hat die Bundesregierung bereits in ihrer Antwort vom 21. Juli 1986 auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion zur Lage mittelständischer Gewerbebetriebe, insbesondere kleiner Einzelhandelsgeschäfte in den Stadtzentren ausführlich Stellung genommen. Ich darf aus Zeitgründen darauf verweisen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, bei etwas gutem Willen, vor allen Dingen mit der gebotenen Sachlichkeit und mit dem Appell, Scheinheiligkeit möglichst zu vermeiden, wird es gelingen, die einzelnen Vorschläge in den Ausschüssen, in die wir den Antrag jetzt zu überweisen haben, zu überprüfen. Sie können davon ausgehen, daß die Bundesregierung bei vernünftigen Vorschlägen ausdem Parlament gerne zur Verwirklichung solcher Vorschläge bereit ist.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat entgegen der Vereinbarung im Ältestenrat beantragt, den Antrag zur Eindämmung der Spielhallenflut federführend nicht an den Ausschuß für Wirtschaft, sondern an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Wer stimmt diesem Antrag der GRÜNEN zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist dieser Antrag abgelehnt.
Wir stimmen nunmehr über den Überweisungsvorschlag des Ältestenrates ab. Wer stimmt diesem Vorschlag zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Bei gemischtem Abstimmungsverhalten der GRÜNEN ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 und 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes
— Drucksache 11/498 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts
— Drucksache 11/642 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß I 96 GO
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß eine gemeinsame Beratung über diesen Tagesordnungspunkt stattfindet und die Fraktionen jeweils einen Beitrag von fünf Minuten leisten. — Widerspruch dagegen — so sehe ich — erhebt sich nicht. Dann ist dies beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Weiß aus Kaiserslautern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist uns gelungen, dieses wichtige Gesetz noch vor dem Rangierbahnhof in München zu beraten. Ich halte es für ein bedeutungsvolles Gesetz. Es ist hier zum zweitenmal von der Bundesregierung eingebracht worden. Die erste Einbringung war im 10. Deutschen Bundestag; heute haben wir den Gesetzentwurf wieder vor uns liegen.Man kann es bedauern, daß es dem Parlament in der 10. Legislaturperiode nicht gelungen ist, das Gesetz zu beraten und zu verabschieden. Ich sehe dies andererseits aber nicht als einen Nachteil an, da in der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1831
Weiß
Zwischenzeit interne Absprachen möglich waren, damit dieses Gesetz nun zügig verabschiedet werden kann.Ich kann mich bei meinen Anmerkungen zu diesem Gesetz auf das beziehen, was ich in der 143. Sitzung der 10. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ausgeführt habe. Das Gesetz dient der Sicherung und Nutzung von Archivgut des Bundes. Erstens soll sichergestellt werden, daß die bei den Verfassungsorganen und Dienststellen des Bundes anfallenden historisch bedeutsamen Unterlagen vor Zersplitterung und unkontrollierter Vernichtung bewahrt werden. Zweitens soll der Begriff des Archivguts verbindlich definiert werden, und drittens soll sichergestellt werden, daß die Benutzung des Archivguts unter Beachtung der persönlichkeits- und datenschutzrechtlichen Erfordernisse eindeutig und rechtsverbindlich geregelt wird.Das Gesetz ist notwendig. Der Kabinettsbeschluß vom März 1950 über die Errichtung des Bundesarchivs ist keine geeignete Rechtsgrundlage mehr zur Regelung der Sachverhalte. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang auch, daß der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in mehreren Tätigkeitsberichten ebenfalls ein Bundesarchivgesetz gefordert hat.Auch die Länder stehen vor der Notwendigkeit, Archivgesetze zu erlassen. Sie werden sich in der Zielrichtung an den Grundsätzen des Bundesarchivgesetzes orientieren wollen. Unserem Gesetz kommt deshalb eine Pilotfunktion zu.Aber auch die wissenschaftliche Forschung erwartet, daß die Bedingungen, unter denen die Unterlagen des Bundes und der Länder benutzt werden, rechtsverbindlich umschrieben werden. Die vielfältigen persönlichkeitsschutz- und datenschutzrechtlichen Probleme lassen nicht zu, daß das Archivwesen wie bisher lediglich durch Verwaltungsvorschriften geregelt wird. Im Hinblick auf die bestehenden strengen datenschutzrechtlichen Vorschriften wird durch das Gesetz eine datenöffnende bereichsspezifische Regelung getroffen, die wissenschaftliche und archivfachliche Belange sowie das Nutzungsrecht des Bürgers angemessen berücksichtigt, ohne die schutzwürdigen Interessen des Bürgers und des Staates zu verletzen. Hierbei sind auch Probleme zu lösen, die sich aus dem Steuergeheimnis nach der Abgabenordnung und dem Sozialgeheimnis aus dem Sozialgesetzbuch, dem Bank- und Arztgeheimnis sowie anderen den Persönlichkeitsschutz sichernden oder Vertrauensschutz gewährenden gesetzlichen oder gesetzlich verankerten Vorschriften ergeben.Eine gewisse Rolle wird in den Ausschußberatungen auch die Anonymisierung bestehender Unterlagen vor der Übergabe an das Bundesarchiv spielen. Hier werden wir sicher zu einer Einigung kommen. Aber es sollte der Grundsatz gelten, daß Urkunde Urkunde bleibt. Dies würde dann nur für die Kopien zutreffen.Ich möchte zum Schluß feststellen, daß der Gesetzentwurf mit zwölf Paragraphen von erfreulicher Kürze ist. Die Bundesregierung ist der Aufforderung des Innenausschusses aus dem Jahre 1981 nachgekommen, die Gesetze zu straffen. Eine zweite Bemerkung: Der Gesetzentwurf ist sehr klar und deutlich. Kürze und Klarheit sind bemerkenswerte Merkmale dieses Entwurfs. Allen, die an diesem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, verdienen, daß wir ihnen ein Lob aussprechen.Wir stimmen dem Überweisungsvorschlag zu. Ebenfalls stimmen wir dem Überweisungsvorschlag zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts zu.Ich bedanke mich sehr.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hämmerle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weiß hat schon darauf hingewiesen, daß dieses Gesetz schon einmal in diesem Hause beraten worden ist. Damals, am 13. Juni 1985, waren sich die Redner aller Fraktionen darüber einig, daß dieses Gesetz wichtig, nützlich und schon lange überfällig sei, sollen hier doch die technischen und administrativen Regeln für „die Speicherung des Gedächtnisses unseres Volkes" organisiert und auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Diese Auffassung unterstreicht die SPD auch heute.Die Absicht des Gesetzes, die bei den Verfassungsorganen und Dienststellen des Bundes anfallenden historisch bedeutsamen Unterlagen vor der Zersplitterung, der Veruntreuung oder gar dem Reißwolf zu bewahren, ist bei allen anerkannt. Es kam dennoch nicht zur Verabschiedung, weil sich die Koalition — so das Protokoll des Innenausschusses vom März 1986 — über wichtige Punkte, z. B. über die Frage der Anonymisierung, nicht einig war. Wir werden sehen, ob sich das bis heute geändert hat.Die SPD-Fraktion und der Innenausschuß haben zur Klärung der strittigen Fragen bereits in der letzten Wahlperiode eine Anhörung mit Historikern, Archivaren und Datenschützern durchgeführt, die zur Meinungsbildung außerordentlich hilfreich war. Es kann heute in der Kürze der Zeit von fünf Minuten also nur darum gehen, unsere Meinung zu den strittigen Punkten zu verdeutlichen.Zur Anonymisierung: Geschichtsforschung ist von Personen nicht zu trennen. Deswegen würde eine Anonymisierung in den meisten Fällen eine Geschichtsverfälschung darstellen.
Anonymisierte Unterlagen sind für die Forschung wertlos. Eine grundsätzliche Anonymisierung ist also abzulehnen. Sie soll allenfalls in einer dem Benutzer des Archivgutes überlassenen Kopie vorübergehend möglich sein. Allerdings muß Personen, die davon betroffen sind, die Möglichkeit einer Gegendarstellung gegeben werden.Zum Datenschutz bereits verstorbener Personen hält die SPD die bisher ins Auge gefaßten Sperrfristen für zu lang. Es ist im Entwurf vorgesehen, daß sie 30 Jahre nach dem Tod bzw., wenn das Todesdatum
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1832 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Hämmerlenicht festgestellt werden kann, 120 Jahre nach der Geburt des Betroffenen betragen sollen. So lange Fristen könnten z. B. dazu führen, daß die Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus, die von Personen nicht zu trennen ist, um Jahrzehnte verschoben werden müßte.
Dafür ein Beispiel: Personen, auf die dies zutrifft, müßten vor dem Jahr 1867 geboren sein, damit heute das Archivgut verwendet werden kann.
Wir halten es deshalb für notwendig, daß diese Sperrfristen noch einmal in die Diskussion des Ausschusses kommen. Wir halten zehn Jahre nach dem Tod und 90 Jahre nach der Geburt für eine Diskussionsgrundlage.
Wir hoffen, daß nach diesem erneuten Anlauf nun eine zügige Verabschiedung dieses wichtigen Gesetzes erfolgt. Ich möchte in aller Kürze noch darlegen, daß wir auch nichts gegen eine zentrale Archivierung der Akten des Archivguts aus dem Kriegsfolgenrecht haben. Es liegt uns allerdings ein massiver Einspruch des Bundesverbandes der kommunalen Spitzenverbände vor, und wir sind der Auffassung, daß solche Einsprüche in die Diskussionen der Ausschüsse mit einbezogen werden müssen. Wir wollen allerdings nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun, sondern hier und heute und auch im Ausschuß dafür sorgen, daß das Bundesarchivgesetz nun endlich zügig verabschiedet werden kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu meinen verehrten Vorrednern bin ich nicht der Überzeugung, daß die Welt und die Archive des Bundes und der Länder zusammenbrechen würden, wenn wir diese Gesetze — es sind ja 12, ein Bundesgesetz und elf Landesgesetze — nicht machen würden. Aber angesichts der langen Vorarbeiten, die in der Tat geleistet worden sind und von denen ich sicher bin, daß sie zu einem guten und vernünftigen Abschluß führen, sowie angesichts des in der Tat bestehenden Gegensatzes der Interessen — nämlich auf der einen Seite Vorgänge von zeitgeschichtlicher oder längerdauernder Bedeutung aufzubewahren und jedermann zugänglich zu machen und auf der anderen Seite das Privatleben der Menschen vor öffentlicher Neugier und Ausschlachtung zu schützen — ist natürlich ein Gesetz ganz sinnvoll.Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Ein lückenlos geführtes Archiv hätte die in den letzten Tagen in diesem Hause mehrfach erörterte Frage zweifelsfrei gelöst, welche Mitglieder dieses Hauses eine Nacht in der chinesischen Staatsbahn erster Klasse verbracht haben.
Aber man wird allseitiges Einverständnis dahin erzielen können, daß diese Frage nicht von zeithistorischem Interesse ist.Man muß also beides voneinander abschichten, und das soll nicht auf dem Wege der Schwärzung von Akten geschehen, sondern dadurch, daß wir die — teilweise sehr beachtliche — Neugier von Zeithistorikern auf geeignetem technischen Wege beschränken. Wir haben ja bei der Anhörung, die erwähnt worden ist, erfahren, daß manche Zeithistoriker die Vorstellung haben: Datenschutz ist eine feine Sache; nur darf er uns nicht beeinträchtigen. Das ist natürlich eine Position, die man auf Dauer nicht einnehmen kann.Ich möchte ich zwei auch etwas skeptische Bemerkungen machen. Man hat gelegentlich die Archive als das Gedächtnis der Nation bezeichnet. Ich finde, das ist eine beachtliche Überhöhung. Wenn zum Gedächtnis einer Nation nur das gehörte, was in Tinte und Druckerschwärze geronnen auf Papier gelangt, ist, dann wäre das eine sehr einseitige Veranstaltung.
Ich meine, daß zum Gedächtnis der Nation die Erinnerung der Menschen ebenso gehört wie Bilder, Denkmäler, Lieder. Alles das ist Gedächtnis der Nation, nicht nur das, was in einem Archiv ist. Die Archivare sind im Grunde genommen eine höhere Art von Nachlaßpflegern. Sie erfassen aber nur einen Teilausschnitt des Lebens, sicherlich einen interessanten.Meine zweite Bemerkung: Im 15. Jahrhundert hat man versucht, das erste Reichsarchiv zu bilden. Seit damals ist der Gebrauch von Papier in ungeheurem Maße angeschwollen.
Ich frage mich, ob es den Zeithistorikern so geht wie uns hier im Hause. Das heißt, wenn man alles liest, was einem vorgelegt wird, kommt man nicht mehr dazu, über das nachzudenken, was man liest. Mein Kollege Kleinert würde sagen: Allzu große Nähe zum Detail erschwert den Überblick.
Wenn spätere Historiker die ungeheure gesammelte Papierflut, die nach diesem Gesetz möglicherweise in ein Archiv gebracht wird, lesen und sich da durchfressen sollten, wäre das das Ende jeder geregelten Geschichtsschreibung. Niemand hätte mehr die Chance, über irgendwelche historischen Vorgänge nachzudenken, wenn er alles lesen müßte, was seit Karl dem Großen und insbesondere im Laufe dieses Jahrhunderts zu Papier gebracht worden ist.
Darum, Herr Kollege Duve — ich weiß nicht, was Sie fragen wollen, aber ich will Ihnen die Antwort geben — ,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1833
Dr. Hirschist es notwendig, daß die Archivare ihrer Verantwortung gerecht werden, d. h. das Gesetz nicht ausschöpfen, d. h. von der lückenlosen Ablieferungspflicht nur einen ganz zurückhaltenden Gebrauch machen und sich wirklich darauf beschränken, nur das in ihre Archive zu nehmen, was wirklich von großer, von größerer Bedeutung ist.
Sie gestatten eine Zwischenfrage, obwohl das bei den Kurzdebatten und 5-Minuten-Beiträgen nicht üblich, im Grunde genommen sogar geschäftsordnungswidrig ist?
Wer kann dem Kollegen Duve ernsthaft eine Frage zu diesem Thema verweigern?
Herr Präsident, wenn Sie es dem Kollegen Hirsch nicht anrechnen, will ich meine Frage doch stellen.
Ist Ihnen bekannt, daß Ihre Darstellung des Zeithistorikers ganz und gar falsch war? Der frißt sich natürlich nicht durch, sondern er versucht, selbst zu entscheiden, was er braucht und was er nicht braucht. Dieses Selbstentscheiden ist das entscheidende Merkmal, weder der Archivar noch die Regierung.
Verehrter Herr Kollege, das ist mir natürlich nicht bekannt, sonst hätte ich nicht dargestellt, was ich gesagt habe. Ich bin einfach anderer Meinung als Sie. Wir haben eine Anhörung gemacht, und ich habe dabei, nicht von allen — das muß ich sagen — , aber doch von einigen Zeithistorikern ein totales Unverständnis für den Schutz der Privatsphäre von Menschen gefunden. Wenn die totale Ablieferungspflicht, die das Gesetz vorsieht, ausgeschöpft würde und die Zeithistoriker wirklich alles lesen würden und könnten, was irgendein Beamter im Laufe seines segensreichen Lebens auf Papier bringt, dann wäre auch nach meiner Überzeugung wirklich jede zeitgeschichtliche, jede historische Forschung am Ende.
Deswegen sage ich noch einmal, wir werden uns bemühen, dieses Gesetz zu machen. Das wird mit der nötigen Beschleunigung und, wie ich ganz sicher bin nach all den Gesprächen, die ich geführt habe, mit vernünftigen Ergebnissen zu Ende gebracht werden.
— Die chinesische Staatsbahn hat sicherlich ein eigenes Archiv.
Das Wichtige ist eigentlich, daß alle Beteiligten begreifen, daß sie dann, wenn sie den gesetzlichen Rahmen ausschöpfen, ihre eigene Tätigkeit zum Erliegen bringen.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott.
Herr Hirsch, Ihr Wort, daß nun alles schneller geht, in Gottes Ohr. Ich habefestgestellt, daß der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung — Drucksache 11/498 — völlig identisch ist mit dem Gesetzentwurf der letzten Legislaturperiode auf Drucksache 10/3074 ist.Ich muß sagen: Ich finde es schon ein ziemliches Armutszeugnis, daß nach zwei Jahren Debatte und nach zwei Anhörungen — eine innerhalb der SPDFraktion, eine innerhalb des Innenausschusses; alles schon im Jahre 1985 — nicht ein einziger Änderungs-und Verbesserungsvorschlag in das Gesetz aufgenommen worden ist. Wenn ich das sehe, habe ich wenig Hoffnung, daß Sie hier schnell zu Potte kommen. Aber gründliche Diskussionen sind vielleicht gerade bei diesem Thema sehr angemessen.
Der vorherrschende Gedanke bei diesem Gesetzentwurf ist ein bürokratisch verwaltend-autoritärer; denn die Nutzung der Archive ist ausschließlich für Gerichte, Behörden und Wissenschaftler gedacht, nicht jedoch für Bürger und Bürgerinnen, über die die meisten Daten in diesen Archiven enthalten sind.
— Nun hören Sie mal noch zu Ende zu.Gemäß § 5 soll das Nutzungsrecht an dem Archivgut des Bundes zwar jedermann, jederfrau auf Antrag zustehen
— nein, ich habe es gelesen — , allerdings nur zu amtlichen, wissenschaftlichen oder publizistischen Zwecken oder zur Wahrung berechtigter persönlicher Belange — und dieses auch nur, soweit durch Rechtsvorschrift nichts anderes bestimmt ist.Die blöde kurze Redezeit verhindert es, daß ich Ihnen heute hier ein Beispiel bringe, bei dem ich erlebt habe, wie schwierig es war. Ich werde es bei der abschließenden Debatte hoffentlich noch ausführlicher schildern können. Freimut Duve wird sich ja auch erinnern, wie schwierig es für Roma und Sinti in Hamburg war, an die Akten zu kommen, mit welchen dummen und wirklich auch gemeinen Unterstellungen das verhindert wurde.In diesem Zusammenhang zitiere ich Herrn Professor Podlech, der in seiner Stellungnahme zum Bundesarchivgesetz ausgeführt hat, daß jedenfalls gegenwärtig die Funktionsfähigkeit der Archive — ich lasse ein bißchen aus — weniger durch aktuell in Anspruch genommene Persönlichkeitsrechte privater Personen, sondern durch Ängste vor nonkonformistischen Analysen mit Hilfe des Inhalts von Archiven beeinträchtigt ist. Er meinte: „Datenschutz ist sehr häufig ein Vorwand, um unerwünschte Veröffentlichungen zu verhindern. " Dem kann ich nach allen Erfahrungen, die ich gemacht habe, nur zustimmen.
Wir ziehen das Fazit: Wir wollen kein Bundesarchiv ausschließlich für Gerichte, für Behörden und für Wissenschaftler, sondern für jeden nach denselben Be-
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1834 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Frau Schmidt-Bottdingungen. Wir wollen keine Unterscheidung. Datenschutz ist nicht dadurch gewährleistet, daß pauschal Bürgerinnen und Bürger von der Nutzung solcher Archive ausgeschlossen sind.Der zweite wesentliche Kritikpunkt sind aus unserer Sicht die durch den Gesetzentwurf möglichen Verfälschungen und Manipulationen. Zunächst kritisieren wir in diesem Zusammenhang, daß die gesetzgebenden Körperschaften in eigener Zuständigkeit entscheiden sollen, ob sie Unterlagen anbieten und übergeben. Hierzu Professor Holdfordt — Zitat — :Es lassen sich sehr gut Situationen denken, in denen die Behörde auch ein Interesse daran hat, Dinge untergehen zu lassen.Auch dem kann ich aus meiner Erfahrung nur zustimmen. Es kann nach unserer Auffassung nicht im Ermessen der abgebenden Stelle allein liegen, was sie weitergibt und was nicht. Da messen wir bei allen Vorbehalten, die ich auch persönlich habe, der Kompetenz der Archivare schon sehr viel mehr Gewicht bei.Zu den Möglichkeiten der Manipulation und Verfälschung gehören auch die vorgeschlagenen Regelungen der Anonymisierung. Da kann ich im wesentlichen den Ausführungen von Frau Hämmerle von der SPD zustimmen. Es ist zum ersten an keiner Stelle definiert, was eigentlich die Anonymisierung bedeuten soll: etwa die Vernichtung von Originalunterlagen, die Schwärzung von Originalunterlagen, was völlig gegen archivarische Grundsätze verstoßen würde?Der zweite, für mich persönlich fast noch wichtigere Gesichtspunkt ist folgender. Eine Anonymisierung von Unterlagen soll möglich sein beim Bestreiten des Inhalts durch die Betoffenen. Das ist ja wohl unhaltbar. Ich hoffe, die Regierung und die Koalition sehen das inzwischen auch so. Als Beispiel und Stichwort möchte ich nur sagen: Damit hätten Herr Globke, Herr Filbinger und weitere jederzeit die Möglichkeit gehabt, ihre Beteiligung an der Nazi-Vergangenheit zu löschen bzw. sperren zu lassen.
Ich konzentriere mich jetzt kurz noch auf ein paar Punkte, die diesen Gesetzentwurf ebenfalls kennzeichnen. Ich wende mich dem zu, was fehlt, was dort nicht steht. Es fehlt eine Bestimmung, wonach Belange von Amtsträgern, die in Ausübung ihres Amts in Archivakten genannt sind, ausdrücklich von den schutzwürdigen Belangen ausgeschlossen sind.Es fehlt eine Regelung — das ist uns besonders wichtig — über die Archive privater Wirtschaftsunternehmen. Der Hinweis, hier würden Grundrechte — Eigentum — unzulässig berührt, schlägt fehlt, da Eigentum verpflichtet, wie ja allgemein bekannt ist, und eine große Anzahl dieser Unternehmen auch Subventionen aus dem Steuertopf erhält.Was auch fehlt — das jetzt nur als Stichwort, denn es leuchtet schon das rote Lämpchen; das gilt dann auch für den Gesetzentwurf über die Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts —, ist eine Regelung des Zugangs von regionalen, von örtlichen Archiven, welche Rechte sie eigentlich haben, auf die Daten, die sie dorthin geliefert haben, bei Bedarf zurückzugreifen. Das fehlt sowohl im Bundesarchivgesetz als auch in dem Gesetz über die Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts.
Frau Abgeordnete, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Großzügigkeit des Präsidenten nicht überstrapazieren würden.
Da Sie so sehr geduldig waren, höre ich jetzt auch sofort auf.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Spranger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der neu eingebrachte Entwurf des Bundesarchivgesetzes trifft nicht nur Regelungen für den engeren Bereich des Archivwesens und der historischen Forschung, er begründet auch erstmals in der deutschen Geschichte ein Recht jedes Bürgers auf die Nutzung von Archiven durch Gesetz. Insofern entspricht natürlich die Interpretation von Frau Schmidt-Bott absolut nicht dem vorliegenden Gesetzentwurf.Der moderne demokratische Kulturstaat kann ohne Archive seinen politischen Bildungsauftrag nicht erfüllen. Deshalb fördert der Gesetzentwurf die Informations- und Wissenschaftsfreiheit und umschreibt sie für die Nutzung von Archiven rechtsverbindlich. Das Bundesarchivgesetz trifft vor allem in Ergänzung der bestehenden Datenschutzvorschriften eine die Nutzung von Daten öffnende bereichsspezifische Regelung. Diese Regelung berücksichtigt die wissenschaftlichen und archivfachlichen Belange sowie das Nutzungsrecht des Bürgers angemessen, ohne die schutzwürdigen Interessen der Betroffenen und des Staates zu beeinträchtigen.Zum näheren Inhalt haben die Vorredner, insbesondere der Abgeordnete Weiß, einzelnes schon zutreffend dargestellt. Ich nehme darauf Bezug und weise nur noch auf die besonders bedeutsame Regelung hin, daß das Gesetz die Benutzung von Archiven unter Beachtung der persönlichkeitsschutz- und datenschutzrechtlichen Erfordernisse eindeutig und rechtsverbindlich regelt. Die Rechtsgüterabwägung zwischen Informations- und Wissenschaftsfreiheit einerseits und Persönlichkeitsschutz- und Datenschutzrechten andererseits eröffnet vielfach rechtliches Neuland. Auch aus diesem Grund sollte der Bundesgesetzgeber für seinen Bereich zu einer gesetzlichen Fundierung des Archivwesens beitragen.Manche der Bestimmungen dieses Entwurfes wirken sich auch auf die Archive der Länder aus. Der Entwurf ist daher auch mit den Fachverwaltungen der Länder abgestimmt worden.Aus den Änderungsanträgen des Bundesrates ist ersichtlich, daß die Länder den Entwurf der Bundesregierung im Grundsatz mittragen. Auch die Bundesregierung hält den vom Bundesrat neu eingeführten
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1835
Parl. Staatssekretär Spranger§ 10a für notwendig. Allerdings sollte der Schutz der Betroffenen entsprechend den Schutzvorschriften des Bundesarchivgesetzes ausgestaltet werden, damit er in Bund und Ländern gleichermaßen gewährleistet ist.Der Entwurf wird zur Rationalisierung der Arbeit des Bundesarchivs beitragen. Er fördert eine der Wahrheit verpflichtete Information des Bürgers durch Wissenschaft und Medien durch den ungehinderten Zugang zu den Quellen der Informationen. Daher müssen Datenschutzgesetze durch Datenöffnungsgesetze ergänzt werden.Ich hoffe, daß es gelingen wird, diesen für das Archivwesen wichtigen Gesetzentwurf in dieser Legislaturperiode zu verabschieden, und darf um Zustimmung bitten.Im engen Zusammenhang mit diesem Entwurf steht der Entwurf eines Gesetzes über die zentrale Archivierung von Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgenrechts. Am 1. September 1952 ist das Lastenausgleichsgesetz in Kraft getreten. 35 Jahre sind seither vergangen. Der Lastenausgleich befindet sich in seiner Spätphase. In dieser Situation ist es notwendig, Vorsorge zu treffen dafür, daß die mit dem Lastenausgleich erbrachten beispiellosen Leistungen nationaler Solidarität nicht in Vergessenheit geraten. Der archivwürdige Teil des im Lastenausgleich angefallenen gewaltigen Aktenmaterials muß daher künftig so erhalten bleiben, daß er nicht nur als Beleg dieser Leistungen der Entschädigung und Eingliederung im Lastenausgleich seit 1949, sondern insbesondere auch der Dokumentation des im Lastenausgleich erfaßten Gesamtschadens sowie des Vertreibungs- und Aussiedlerschicksals dienen kann.Infolge des Zusammenhangs und der Tatsache, daß für die Verwaltung, Sicherung und Benutzung der Unterlagen das Bundesarchivgesetz gilt, ist es zu begrüßen, daß beide Gesetze zeitgleich beraten und hoffentlich auch entsprechend verabschiedet werden.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir können daher die Aussprache schließen.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weitere Vorschläge werden aus dem Hause nicht gemacht. So ist dies beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes
— Drucksache 11/496 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß
Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Das Haus ist damit offensichtlich einverstanden.
Ich kann also die Aussprache eröffnen. Zunächst hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Frau Hürland-Büning.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen liegt der Entwurf der Bundesregierung des Siebten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes vor. Hauptziel dieses Gesetzentwurfes ist es, durch das Unterhaltssicherungsgesetz den gestiegenen Lebenshaltungskosten der Soldaten und ihrer Familien Rechnung zu tragen. Vorgesehen sind angepaßte Geldleistungen für Grundwehrdienstleistende und Wehrübende, verbesserte Leistungen für Familienangehörige und hier besonders erheblich verbesserte Leistungen für die Ehefrauen mit Kindern. Sie sehen, meine Damen und Herren, die Familienpolitik dieser Bundesregierung macht nicht Halt vor dem Kasernentor.
Das Unterhaltssicherungsgesetz kommt auch für die Zivildienstleistenden entsprechend zur Anwendung.Im einzelnen ist folgendes vorgesehen: Die seit 1979 geltenden Unterhaltsleistungen für die Familienangehörigen der Soldaten sind in den Mindest- und Höchstbeträgen erheblich anzuheben; denn das Gesetz muß einen angemessenen Unterhalt der Familien sichern. Die Ehefrau mit zwei Kindern z. B. erhielt bisher als Mindestbetrag 587 DM, künftig erhält sie 1 350 DM. Der bisherige Höchstbetrag lag bei 1 680 DM, künftig wird er 2 622 DM betragen.Die bisherigen festen Tabellensätze führen leicht zu Benachteiligungen, da ihre Anhebung nach der zur Zeit gültigen gesetzlichen Regelung nur durch Gesetzesänderungen erfolgen kann. Das ist nur nachträglich möglich. Erhöhte Lebenshaltungskosten führen dann schnell zur Minderung des Unterhalts. Das geht zu Lasten der Familien. Angelehnt an Unterhaltsbestimmungen im Versorgungs- und Sozialversicherungsrecht sollen die Ehefrauen künftig 60 % und jedes Kind 12 % des bisherigen Einkommens des Wehrpflichtigen erhalten. Mindestleistungen stellen sicher, daß auch Familien ohne Einkommen oder mit zu geringem Einkommen den notwendigen Lebensunterhalt decken können.Steigende Einkommen führen in Zukunft automatisch zu höheren Unterhaltssicherungsleistungen. Gesetzliche Anpassungen sind nur noch hinsichtlich der Höhe der Mindest- und Höchstbeträge erforderlich. Diese neuen Regelungen sind nicht nur familienfreundlicher als die bisherigen, sie sind auch ein Stück größere Wehrgerechtigkeit.Mit dem Gesetzentwurf soll aber noch mehr erreicht werden: Es sollen für alleinstehende Wehrpflichtige, die eine Wohnung haben und diese natürlich behalten wollen, die Höchstbeträge der Mietbeihilfe angehoben und durch die Einführung einer besonderen Höchstgrenze der Anspruch auf diese Mietbeihilfe erweitert werden. Dies trägt vor allem den berechtigten Interessen der älteren Grundwehrdienstleistenden Rechnung, die in der Regel vor der Einberufung bereits höhere Einkünfte haben. Wir befinden uns hier in vollem Einklang mit dem Anliegen des Wehrbeauf-
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Parl. Staatssekretär Frau Hürland-Büningfragten des Deutschen Bundestages und des Deutschen Bundeswehrverbandes, denen ich für ihre Unterstützung sehr herzlich danke.Schließlich sollen auch für die Wehrübenden die Höchstgrenzen der Verdienstausfallentschädigung angepaßt werden.Die Bundesregierung hat dem Wunsch des Bundestages nach rascher Hilfe dadurch Rechnung getragen, daß bereits ab Juli 1987 auf Grund des Gesetzentwurfes Abschlagszahlungen geleistet werden. Diese Zahlungen stehen selbstverständlich unter dem Vorbehalt der endgültigen Entscheidung dieses Hohen Hauses. Seinem Beschluß, Ihrem Beschluß, sollte damit nicht vorgegriffen werden.Dieses Gesetz ist ein neuer Beweis dafür, daß der Bundesminister der Verteidigung seine Verantwortung für die Soldaten und deren Familien ernst nimmt und entsprechend handelt. Auch bei knapper Kasse werden wir unserer Fürsorgepflicht gerecht. So fügt sich dieses Gesetz nahtlos in eine Fülle von sozialen Verbesserungen für die Soldaten und ihre Familien ein.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Heistermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Staatssekretär, ich darf Ihnen die Freude machen, hier zu erklären, daß wir Ihrem Entwurf zustimmen werden.
Vielleicht liegt das auch an den klimatischen Verhältnissen in den Büroräumen, die die Abgeordneten im Moment sehr belasten, Herr Präsident. Es sollte auch einmal darüber nachgedacht werden, wie bei diesen Temperaturen für ein angemessenes Arbeitsklima gesorgt werden kann. Ich glaube, hier wird einiges überzogen.
Aber nun zum Gesetzentwurf: Die Vorlage des Entwurfs zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes war überfällig. Schon seit Jahren drängen die betroffenen Wehrpflichtigen und Wehrübenden darauf, ihre tatsächlichen Aufwendungen erstattet zu bekommen. Bundeswehrverband und ÖTV haben in den letzten Jahren gemahnt, eine Neuregelung einzuleiten. Die Mängel im bisherigen System des Familienunterhalts und bei den Höchstgrenzen der Mietbeihilfen waren nicht mehr zu übersehen. Zu Recht, Frau Staatssekretärin, haben Sie auf die Eingaben beim Wehrbeauftragten hingewiesen; denn hier konnte man nachlesen, zu welchen finanziellen Schwierigkeiten es im Einzelfall gekommen ist. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb die Vorlage dieses Gesetzentwurfs, weil er ihren langfristigen Vorstellungen entspricht.
Lassen Sie mich zu einigen Anmerkungen kommen: Wir begrüßen in diesem Zusammenhang besonders die Neuregelung, daß künftig der Unterhalt von verheirateten Grundwehrdienstleistenden nicht mehr nach Tabellensätzen gewährt wird, sondern das Netto-Einkommen vor der Einberufung zur Grundlage der Berechnung gemacht wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Neuerung, daß der Anstieg der allgemeinen Lebenshaltungskosten im neuen System Berücksichtigung findet. Ob die im Unterhaltssicherungsgesetz vorgesehenen Erhöhungen dem tatsächlichen Bedarf entsprechen, darüber werden wir im Ausschuß noch zu reden haben. Ich kündige jedenfalls schon einige Fragen an.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat immer darauf hingewiesen, daß die bisherigen Leistungen nicht ausreichten, den notwendigen Lebensunterhalt zu sichern und die tatsächlichen Mietkosten abzudecken. Frau Staatssekretärin, aus einer von mir veranlaßten Erhebung über die Leistungen nach § 7 a Unterhaltssicherungsgesetz ging hervor, daß sich — Stand: November 1984 — die Zahl der Mietbeihilfeempfänger zwar nicht wesentlich erhöht hatte, aber immerhin 12 v. H. mit der Höchstleistung von 420 DM nicht auskamen. Durchschnittlich lagen ihre Mieten um 70 DM über dieser Höchstgrenze. Umgerechnet auf die Gesamtzahl der Grundwehrdienstleistenden waren das damals nur 0,5 v. H., aber in den Städten mit über 100 000 Einwohnern kamen 13,6 v. H. mit der Mietbeihilfe nicht aus — im Durchschnitt lagdie Miete hier um 77 DM über der Höchstgrenze — , in den Landkreisen 10 v. H. — hier lag die Miete im Durchschnitt um 74 DM über der Höchstgrenze. Lassen Sie mich zwei weitere Zahlen anführen. Im Großraum München lagen 24 v. H. der Mietbeihilfeempfänger über den Höchstgrenzen. Im Großraum Hamburg waren es 15 v. H. Für Nordrhein-Westfalen kamen ähnliche Prozentzahlen zustande. Diese Zahlen belegen, wie dringend notwendig dieser Gesetzentwurf war und ist.
Deshalb stimmen wir der Überweisung zu. Wir bitten Sie, die von mir genannten Fälle im Ausschuß noch einmal darzustellen und zu überlegen, was Sie zur tatsächlichen Abdeckung beitragen können.
Herr Präsident, wir stimmen dem Überweisungsvorschlag zu.
Das Wort hat der Abgeordnete Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Darstellungen des Kollegen Heistermann, insbesondere im letzten Teil, was die Frage der Mietbeihilfen angeht, sind mit Sicherheit zutreffend gewesen. Wenn man weiß, daß die heute zu beratende 7. Novelle auf die letzte Änderung im Jahre 1979 folgt und wir seitdem eine Steigerung der Lebenshaltungskosten von etwa 30 % gehabt haben, dann zeigt sich, wie dringend notwendig es war, zu einer Veränderung zu kommen.Wenn der Deutsche Bundestag bei der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 1987 im November des letzten Jahres gesagt hat: Wir wollen, daß in der neuen Legislaturperiode direkt am Anfang etwas geschieht, dann hat er damit zum Ausdruck gebracht, daß er dieses Thema sehr ernst genommen hat. Das war die gemeinsame Haltung, wie wir sie vorher auch im Verteidigungsausschuß gehabt haben.
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BreuerIn diesem Zusammenhang halte ich es — das will ich klar sagen — für etwas bedauerlich, daß wir ein rückwirkendes Inkrafttreten erst zum 1. Juli dieses Jahres zustande bringen. Der 1. Januar wäre sicher besser gewesen. Es wäre eine bessere Signalgebung gewesen, ein Signal dahin gehend, daß wir die Probleme der Soldaten und ihrer Familien ernst nehmen. Es ist Zielsetzung dieser Koalition, den Menschen, den Soldaten und seine Familie, im Mittelpunkt stehen zu lassen.Ich will sagen, daß ich an sich mit der Arbeit des Ministeriums zufrieden bin. Aber in der Frage, wie schnell Dinge, die wir im Verteidigungsausschuß verlangen — hierfür gibt es auch andere Beispiele — , tatsächlich auf unseren Tisch gelangen, gibt es einige Wünsche — das will ich zumindest für mich feststellen — , die offengeblieben sind, wo eine Erledigung schneller erfolgen könnte.
Ich bin hier kein Oppositionsredner.
— Noch nicht, nein. Das wird auch nicht so kommen.— Ich glaube, wir sollten den Wert dieser Fragestellungen nicht zu gering einschätzen. Die Frage der sozialen Lage der Soldaten und ihrer Familien ist eine zentrale Frage der Verteidigungsbereitschaft und der Verteidigungsfähigkeit der Soldaten der Bundeswehr. Deswegen kommt dem auch in der Signalgebung nach draußen hohe Bedeutung zu.Die Regelungen im Hinblick auf die zukünftige Automatik der Anpassung, die Frau Staatssekretärin Hürland hier verdeutlicht hat, sind sehr zu begrüßen. Sie sind sicher das entscheidende Element in diesem Gesetzentwurf. Denn sie beugen dahin gehend vor, daß in Zukunft lange Abstände von acht Jahren, wie hier eben beschrieben, nicht mehr entstehen. Es wird nun eine laufende Anpassung geben.Ich will, nachdem ich Positives dargestellt habe, einen kleinen Kritikpunkt anfügen. Ich persönlich hätte mir gewünscht, daß in der Frage der Gleichbehandlung der Reservisten, die aus der privaten Wirtschaft kommen, gegenüber denjenigen aus dem öffentlichen Dienst, sowohl was die Versorgung der Familien als auch was die Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung angeht, in dieser Novelle ein vernünftiger Ansatz gefunden worden wäre, wie wir ihn im Verteidigungsausschuß schon beschlossen haben. Da ich weiß, daß im Verteidigungsministerium entsprechende Prüfungen stattfinden, hoffe ich, daß wir auch da sehr schnell zu einer vernünftigen Lösung kommen.
Insgesamt will ich sagen: Wir als CDU/CSU-Fraktion begrüßen die Vorlage der siebten Novelle des Unterhaltssicherungsgesetzes und stimmen ihrer Überweisung zu.Danke sehr.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Nolting.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß die Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes für Wehrpflichtige, Wehrübende und nach § 78 Abs. 1 Nr. 2 des Zivildienstgesetzes auch für Zivildienstleistende Geltung hat. Die vorgesehene Anhebung der Bezüge, sowohl der Leistungen als auch der Sonderleistungen, und Dienstausfallentschädigung ist aus der Sicht der FDP dringend erforderlich; denn— meine Vorredner haben darauf hingewiesen — seit der letzten Anhebung sind über acht Jahre vergangen, und — der Kollege Breuer hat darauf hingewiesen — die Lebenshaltungskosten sind inzwischen um rund 30 % gestiegen. Ich meine, daß unsere Wehrpflichtigen hier einen großen Nachholbedarf haben. Wir alle wollen — ich glaube, das hat sich auch hier gezeigt — den Unterhalt schnellstmöglich auf eine neue Berechnungsgrundlage stellen. Dabei — Herr Kollege Breuer, da gebe ich Ihnen recht — ist nicht zu vergessen, daß sonst auch die Reserveübungen ihre oft nicht große Attraktivität fast gänzlich einbüßen könnten. Wir sollten uns hierüber später noch einmal unterhalten.Eine wichtige Änderung sollte jedoch am Regierungsentwurf vorgenommen werden. Der Kollege Breuer hat bereits darauf hingewiesen, und ich höre, daß auch die SPD dem zustimmen könnte. Ich meine das Datum des Inkrafttretens der Mehrleistungen, und dabei wissen wir uns mit dem Herrn Wehrbeauftragten dieses Hauses voll und ganz auf einer Seite. Auch der Herr Wehrbeauftragte hat das vorgesehene Inkrafttreten erst zum 1. Juli 1987 bedauert, zumal dieser Zeitunkt ja wohl den Beratungsergebnissen im Haushaltsausschuß und auch im Verteidigungsausschuß widerspricht. Auch der Herr Bundesverteidigungsminister hat den Anspruchsinhabern Hoffnung gemacht; ich verweise auf die Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums XXIV/9 vom 7. April dieses Jahres. Auch hier war von der späten Inkraftsetzung zum 1. Juli keine Rede, und dadurch wurde natürlich der Eindruck erzeugt, eine Rückwirkung zum Jahresbeginn sei beabsichtigt. Auch hierauf hat der Wehrbeauftragte aufmerksam gemacht.Ich denke, daß hier geprüft werden sollte, ob eine Vorverlegung auf den 1. Januar 1987 vorgenommen werden kann. Wir haben so etwas auch schon in anderen Bereichen praktiziert. Ich erinnere nur an das Soldatenversorgungsgesetz, mit dem wir uns hier vor der Sommerpause beschäftigt haben, wo wir auch mit Erfolg eine Vorziehung auf den 1. Januar 1987 vorgenommen haben. Frau Staatssekretärin, Herr Breuer, Herr Heistermann, ich denke, daß wir auch beim USG gemeinsam zu einem Erfolg kommen sollten.
— Ich bedanke mich schon jetzt für die Zustimmung.Meine Damen und Herren, wenn schon ein Reservist, wie im Gesetz erwähnt — Kollege Breuer hat darauf hingewiesen — , keine Entschädigung erhält, wenn z. B. sein kleiner Landwirtschafts- oder Handwerksbetrieb ohne ihn weitergeführt wird, dann sind es eben diese Nachteile, die durch seine Wehrübung dem Betrieb insgesamt entstehen und die beseitigt
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Noltingwerden müssen. Ich gebe hier dem Kollegen Breuer recht: Der öffentliche Dienst ist auch in dieser Frage bevorzugt; wir brauchen auch hier eine Anpassung für die anderen Bereiche. Ich denke, daß wir in den kommenden Beratungen auch hier zu weiteren Erfolgen kommen sollten. Wir sollten also hier einmal darangehen, die grundlegenden Mängel in diesem Bereich zu beseitigen; denn sonst sehe ich für die weitere Reservistenarbeit keine guten Vorzeichen. Ich denke, daß wir insgesamt mehr tun müssen, um auch die Dienste an unserem Staat zu unterstützen, die, wie der Wehrdienst, nicht freiwillig sind.Meine Damen und Herren, wir beraten heute diesen Gesetzentwurf in erster Lesung, und dieser ist aus der Sicht der FDP grundsätzlich zu begrüßen, weil endlich ein Ausgleich finanzieller und sozialer Nachteile erreicht werden kann. Wir werden unsere aufgezeigten Forderungen bei den weiteren Beratungen einbringen. Ich freue mich, daß auch die SPD diesem Gesetzentwurf zustimmen wird.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freunde und Freundinnen! Wer erwartet es anders? Wir stimmen nicht zu. Uns liegt heute ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, der nicht nur sieben Jahre zu spät kommt — was ja auch schon bemängelt wurde — , sondern auch ein klarer Beweis für die Diskriminierung der Menschen ist, die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen ablehnen.Es ist nicht nur aus politischen, sondern auch aus sozialen Gründen skandalös, daß die letzte Anpassung der Unterhaltssicherung für Kriegsdienstleistende und Kriegsdienstverweigerer im Jahre 1979 erfolgte.Auf der anderen Seite war diese Bundesregierung allerdings in der Lage, für die Beschaffung, Erforschung und Entwicklung neuer und gefährlicher Waffen ca. 70 Milliarden DM auszugeben. Dagegen hätte eine Anpassung der Unterhaltssicherung an den Ansatz des Haushaltsentwurfs 1988 pro Jahr den Minimalbetrag von nur 26 Millionen DM erfordert.Profite für die Rüstungsindustrie sind Ihnen wichtiger als die soziale Absicherung der an diesem gefährlichen Kriegsspiel Beteiligten, bei denen sich Herr Wörner bei jeder öffentlichen Gelegenheit in wärmsten Worten für ihren Dienst zum Wohle des Vaterlandes bedankt.Profite für die Rüstungsindustrie sind Ihnen auch wichtiger als der Unterhalt der Kriegsdienstverweigerer, die der Verteidigungsminister unter diesem Namen gar nicht kennt und die zwar in Krankenhäusern, Altentagesstätten und Jugendheimen für den Frieden arbeiten wollen, in Wirklichkeit jedoch in die militärische Planung der Zivilverteidigung einbezogen werden.Selbst um die höchstrichterliche Selbstsprechung scherten sich die damalige und die heutige Bundesregierung wenig. So forderte das Bundesverwaltungsgericht schon im Jahre 1969 in seiner Entscheidung VIII Ziff. C/92/69 — ich zitiere — ,daß es zu den Konsequenzen des sozialen Rechtsstaates ... gehört, daß den durch das Wehrpflichtgesetz den Wehrpflichtigen auferlegten besonderen Leistungspflichten— ich ergänze hier: und den durch das Zivildienstgesetz den Kriegsdienstverweigerern auferlegten besonderen Leistungspflichten —von allen Trägern öffentlicher Gewalt ... Rechnung getragen wird.
Die Bundesregierung hat dies auf ihre eigene unsoziale Weise getan. Wenn sie sich nun endlich bequemt, die Unterhaltssicherung für Wehrpflichtige und Kriegsdienstverweigerer um ca. 30 % anzuheben, dann steht nicht nur der öffentliche Druck dahinter, sondern auch der Pillenknick und die Jugendarbeitslosigkeit.Wenn Sie gar geglaubt haben sollten, zur Absicherung der geplanten Personalstärke der Bundeswehr zusätzliche Werbemaßnahmen — ich will hier nicht von Bestechungsgeldern reden — zu brauchen, dann haben Sie sich verrechnet. Um dies zu erreichen, hätten Sie etwas großzügiger sein müssen.Die GRÜNEN hingegen werden in den weiteren Beratungen zum vorliegenden Gesetzentwurf in enger Abstimmung mit der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden und anderen Gruppen im Interesse der Wehrpflichtigen und der Kriegsdienstverweigerer mit Nachdruck deutlich machen, was angebracht wäre.An einigen Punkten will ich die Unzulänglichkeiten hier ansprechen, weil sie deutlich machen, daß der Gesetzentwurf nicht einmal zur Sicherung eines angemessenen Lebensstandards reicht.Erstens. Die Anhebung der Unterhaltssicherung erfolgt erst rückwirkend — das haben wir bereits gehört — zum 1. Juli statt zum Anfang des Jahres.Zweitens. Die Gleichstellung von Kriegsübenden aus der Privatwirtschaft und dem öffentlichen Dienst wurde nicht vollzogen.Drittens. Die mit dem Zweiten Haushaltsstrukturgesetz gestrichene Sparpauschale von 50 DM pro Monat wird nicht wieder eingeführt.Viertens. Die zeitliche Voraussetzung für den Anspruch auf den Höchstbetrag der Mietbeihilfe ist zu lang. Unserer Meinung nach sollte er mindestens nach drei Monaten, wenn nicht gleich sofort einsetzen.Wie Sie wissen, halten wir von der Bundeswehr als Institution nichts, überhaupt nichts. Die konkrete Militärpolitik der Bundesregierung ist alles andere als ein Beitrag zur Friedenssicherung. Das alles bedeutet aber noch nicht, daß wir den Mißbrauch und eine soziale Vernachlässigung der Wehrpflichtigen und Kriegsdienstverweigerer durch die Bundesregierung hinnehmen würden.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1839
Frau BeerDer größte Skandal aber wird von Ihnen totgeschwiegen, nämlich die Tatsache, daß Totalverweigerer ihrer Unterhaltssicherung in Form von Knast erhalten.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich kann also die Aussprache schließen.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Entwurf des Siebten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. — Weitere Vorschläge aus dem Haus werden nicht gemacht. So ist das beschlossen.
Ich rufe den Punkt 22 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schöfberger, Schmidt , Vahlberg, Dr. Glotz, Lutz, Büchler (Hof), Frau Dr. Martiny, Porzner, Wimmer (Neuötting), Dr. Haack, Dr. de With, Kolbow, Leidinger, Sieler (Amberg), Stiegler, Dr. Wernitz, Müller (Schweinfurt), Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Frau Schmidt (Nürnberg), Amling, Büchner (Speyer), Frau Odendahl, Reimann, Schäfer (Offenburg), Bachmaier, Dr. Emmerlich, Ewen, Lambinus, Sielaff, Frau Dr. Hamm-Brücher, Irmer, Weiss (München), Frau Dr. Vollmer, Kreuzeder, Frau Teubner, Frau Saibold, Kleinert (Marburg), Sellin, Hüser, Frau Krieger, Schily, Hoss, Frau Vennegerts, Frau Flinner, Dr. Knabe, Frau Unruh, Volmer, Dr. Mechtersheimer, Frau Oesterle-Schwerin, Frau Brahmst-Rock, Häfner, Frau Hillerich
Rangierbahnhof München — Drucksache 11/570 —
Der Ältestenrat hat Ihnen auch hierzu eine Redezeit von fünf Minuten je Fraktion vorgeschlagen.
Es beginnt Herr Dr. Schöfberger. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handelt sich bei diesem Antrag nur scheinbar um ein rein kommunales Problem, um eine reine Frage Münchens. In Wirklichkeit hat das Problem überregionale Bedeutung.Die Deutsche Bundesbahn plant in München die Errichtung eines Rangierbahnhofs München-Nord.Die Planungen gehen auf ein Projekt der Deutschen Reichsbahn aus dem Jahr 1938 zurück, das umständehalber nicht mehr verwirklicht werden konnte. Damals wäre der geplante Rangierbahnhof weit vor der Stadt zu liegen gekommen. Das ist heute auf Grund der Entwicklung Münchens gänzlich anders. Was damals möglicherweise richtig war, ist heute eine städtebaupolitische und ökologische Todsünde ersten Ranges, wie es zumindest in Bayern keine zweite gibt.Damit kein Mißverständnis aufkommt: Wir Antragsteller, alle Antragsteller, sind Freunde der Deutschen Bundesbahn. Alle Antragsteller wollen, daß der Güterschwer- und -fernverkehr zunehmend von der Straße auf die Schiene verlagert wird.
Das setzt eine leistungsstarke Bundesbahn voraus.Wir erkennen mit Einschränkungen die Notwendigkeit eines leistungsfähigen Rangierbahnhofs im Südosten der Bundesrepulik, auch wenn die für die Planung vorgelegten Bedarfsprognosen längst überholt sind und es eine Rangierbahnhoftechnik mit Etagenverkehr gibt, die den Planungsstand technisch weit hinter sich gelassen hat. Dennoch gehen wir von der Notwendigkeit eines solchen Bahnhofs aus.Genau in diesem Sinn haben die Stadt München, die Regierung von Oberbayern, die Bayerische Staatsregierung und die beteiligten Planungsverbände der Deutschen Bundesbahn fünf qualifizierte Standorte in der Region vorgeschlagen und nachgewiesen, Standorte, die zum Teil den betroffenen Gemeinden sogar willkommen wären; ich denke an die Standorte Kissing und Haspelmoor.Demgegenüber hat die Deutsche Bundesbahn mit einer nicht zu überbietenden Sturheit und durch alle Gerichtsinstanzen — bis zum Bundesverwaltungsgericht — an der Planung von 1938 festgehalten.Was ich namens der Antragsteller gegen diese Planung vortrage, gründet auf dem einstimmigen Willen und Beschluß des Stadtrats der Landeshauptstadt München, des früheren Oberbürgermeisters Kiesl sowie des jetzigen Oberbürgermeisters Kronawitter (SPD). Alle Parteien im Münchener Stadtrat teilen also diese Auffassung. Es ist ein gemeinsamer Hilferuf Münchens an den Deutschen Bundestag. Auch die CSU ist in München mannhaft gegen den Bau dieses Rangierbahnhofs. Sie nimmt an den entsprechenden Bürgerinitiativen teil. Ihre Vertreter halten auf dem Münchener Marienplatz vor Tausenden von Zuhörern mutige Reden und engagieren sich gegen den Bau. Wir sind deshalb sehr gespannt auf die Haltung der CSU in diesem Haus und freuen uns jetzt schon auf ihre tatkräftige Mithilfe. Da auch Abgeordnete der FDP zu den Antragstellern gehören, kann der Antrag ja gar nicht mehr scheitern, wenn es in diesem Haus mit rechten Dingen zugeht.
Ich trage die Argumente kurz vor.Der Rangierbahnhof München-Nord würde als 4 km langer und 1 1/2 km breiter Sperriegel zwei Münchener Stadtteile — Allach und Mosach — total voneinander abriegeln und jede städtebauliche Entwicklung auf den dazwischen liegenden Freiflächen unmöglich machen.Weiter: Im Umkreis von einem Kilometer um den neuen Rangierbahnhof wohnen in dichtbesiedelten Gebieten mehr als 40 000 Menschen. Diese würden beim Betrieb des Rangierbahnhofes Tag und Nacht von einer unerträglichen Lärmpest überzogen werden. Stellen Sie sich vor, man würde vom Bonner Münsterplatz bis nach Bad Godesberg einen 4 km lan-
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1840 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Dr. Schöfbergergen und 1,5 km breiten Rangierbahnhof bauen. Die Bonner und alle die, die den zweiten Wohnsitz hier haben, wissen, was schon eine heruntergelassene Bahnschranke in dieser Stadt an Trennungsfunktion bedeutet.Rangierbahnhöfe ziehen dann auch einen Schwerlastverkehr nach sich, weil ja auch be- und entladen werden muß. Die Straßen sind gar nicht vorhanden, auf denen er stattfinden soll.Schließlich geht ein wertvolles Naherholungsgebiet mit wertvollen Biotopen in München verloren.Insgesamt stellt dieser Rangierbahnhof im Falle seiner Verwirklichung einen gänzlich unverantwortlichen und durch keine verkehrspolitische Entscheidung, durch keinen Bedarf zu rechtfertigenden Eingriff in die Münchener Stadtstruktur und damit in die Lebensqualität Münchens dar.Wir wollen diesen Eingriff gemeinsam verhindern. Wir bitten Sie alle — in allen Fraktionen — um Unterstützung. Wir hoffen, daß es uns im Verkehrsausschuß gelingt, diese Planungstodsünde ersten Ranges im letzten Augenblick abzuwehren.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Rangierbahnhof München Nord ist älter als 50 Jahre. Aber dieses Thema ist nicht nur alt, sondern es ist auch politisch interessant.Diese Geschichte hat u. a. einen Münchener Teil: Da wurde im Jahre 1963 ein Flächennutzungsplan erstellt, in dem gerade dieser Rangierbahnhof mit dem Stichwort „Eisenbahngebiet" vorgesehen wurde. Der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München war damals der heutige Vorsitzende der SPD und der SPD-Fraktion in diesem Hause, Dr. Jochen Vogel.
Unter dem SPD-Oberbürgermeister Kronawitter wurde dann 1973, zehn Jahre später, ein Beschluß gefaßt, daß eine Änderung des Flächennutzungsplans im Bereich des Rangierbahnhofs vorzubereiten sei. Geschehen ist auch damals, unter Kronawitter, nichts. Das heißt: Die planerischen Grundlagen für den Rangierbahnhof wurden in der Nachkriegszeit unter SPDOberbürgermeistern und mit SPD-Mehrheiten geschaffen.
Daneben gibt es eine Bonner Seite der Geschichte: Von 1966 bis 1982, also 16 Jahre lang, stellte die SPD den Bundesverkehrsminister.
Alle diese SPD-Bundesverkehrsminister haben mit unterschiedlicher Entschiedenheit, aber immer mit dem gleichen Ergebnis am Rangierbahnhof im Münchener Norden festgehalten. Keiner hat die Proteste,die in den 70er Jahren immer vehementer wurden, in irgendeiner Weise gehört.
Auch die Münchener CSU-Abgeordneten sind hier im Deutschen Bundestag abgeblitzt. Auf Antrag der Münchener CSU-Abgeordneten — Kraus, Wittmann und Riedl sitzen ja hier — wurde die Bundesregierung aufgefordert, die Baupläne zu überprüfen und über das Ergebnis der Prüfung zu berichten. Der Bericht der Bundesregierung wurde in der 61. Sitzung des Verkehrsausschusses am 7. November 1979 diskutiert. Damals stellte — gegen den Protest der CSUAbgeordneten im Ausschuß — der SPD-Abgeordnete Haar fest — ich zitiere nur einen kurzen Ausschnitt —, daß die SPD-Fraktion die Planungen voll unterstütze. Es komme jetzt darauf an, allen Bestrebungen auf örtlicher Ebene, durch die die Deutsche Bundesbahn unnötig und unvertretbar belastet werde, einheitlich von allen Fraktionen entgegenzutreten.
Ich kann die Zitate den ganzen Abend verlängern, wenn es erheitern sollte. Nur, daß dies so war, daß dies so ist — in München und in Bonn — , wissen die Antragsteller ganz genau, Schöfberger, Schmidt und Genossen.
Wenn Sie heute, in der zweiten Hälfte des Jahres 1987, trotzdem einen entsprechenden Antrag stellen, dann ist das nach meiner Auffassung ein unglaublicher Akt politischer Scheinheiligkeit und Irreführung der Öffentlichkeit.
Herr Kollege Schöfberger, Sie sind bekannt, allerdings weniger als SPD-Landesvorsitzender als vielmehr als Bauerntheater-Darsteller. Das, was Sie hier mit Ihrem Antrag betreffend Rangierbahnhof machen, ist aber weniger ordentliches Bauerntheater als vielmehr ein ganz mieses Schmierentheater; Schuldzuweisung um jeden Preis.
— Nein, keine Zwischenfrage, Herr Kollege. — Die Situation hat sich nämlich für die heutige Bundesregierung im Vergleich zu damals qualitativ wesentlich geändert.Erstens. Die rechtlichen Verfahren sind abgeschlossen. Wir sind rechtlich am Ende der Fahnenstange. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 24. August 1987 die Nichtzulassungsbeschwerde der Landeshauptstadt München in einem 55seitigen Urteil zurückgewiesen. Das bedeutet: Dieser Rangierbahnhof ist rechtlich ausgereizt. Daran kann auch die Verfassungsbeschwerde der Landeshauptstadt München nichts mehr andern.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1841
Dr. FaltlhauserIch frage: Sollten wir, der Gesetzgeber, nach 50jähriger Planung und Vorarbeit und nach 5jährigem Streit vor Verwaltungsgerichten in dieser Situation den Anschein in der Öffentlichkeit erwecken, als könnten wir das Projekt noch stoppen?
Sollten wir durch einen Schuß aus der Hüfte — gewissermaßen durch einen Schöfberger-Schuß — komplizierte Abwägungen und langjährige Verfahren einfach vom Tisch wischen? Ich glaube, dadurch würde der Gesetzgeber der Rechtssicherheit in diesem Lande nicht dienen.Ein zweiter Umstand ist wichtig. Wir haben heute ein anderes Bundesbahngesetz. Ihre Minister hätten damals noch etwas machen können, die heutigen können auf Grund des § 36 nichts mehr machen. Deshalb sollten wir konstruktiv nach vorne sehen.Die Landeshauptstadt München hat es unter Oberbürgermeister Kronawitter versäumt, detaillierte Alternativplanungen für das Rangierbahnhofsgelände und für die freiwerdenden Flächen in München-Laim, Berg am Laim und Ostbahnhof zu schaffen.
Dazu mußte die CSU-Fraktion jetzt erst im August entsprechende Anträge stellen.Man sollte in diesen Bereichen endlich das Verkehrskonzept vorantreiben, Bahnübergänge, städteplanerische Wettbewerbe ausschreiben, sich um eine Gartenbauausstellung bemühen usw. Das hilft mehr als derartige Scheinanträge in diesem Haus.Herr Schöfberger, ein Letztes — wenn ich das noch darf, Herr Präsident — : Sie haben hier wieder Ihre subkutanen polemischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Deshalb gebe ich Ihnen ein Schreiben aus dem Jahre 1976 zur Kenntnis. Damals hatte mein verehrter Kollege Dr. Fritz Wittmann den damaligen Justizminister Vogel gebeten, endlich etwas gegen dieses Rangierbahnhofprojekt in München zu tun. Vogel beantwortete das Schreiben am 3. Februar 1976 wie folgt — ich zitiere wörtlich — :Ich darf meine Auffassung bekräftigen, daß die politischen Parteien das Thema Rangierbahnhof nicht zum Gegenstand vordergründiger Polemik machen, sondern gemeinsam auf eine vernünftige Lösung hinwirken sollten.Ich glaube, Herr Kollege Schöfberger, Sie sollten öfter auf Ihren neugewählten SPD-Vorsitzenden hören.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiss .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Faltlhauser, ich wünsche mir sehr oft, daß Sie und Ihre CSU-Kollegen das, was Sie im Wahlkampf in München verbreiten, und das, was gerade auch gerade der Kollege Wittmann, der sich in München als einer der entschiedensten Gegner des Projektes Rangierbahnhof geriert, immer wieder verbreitet, einmal klarmachen und hier auch durchsetzen.
Sie tun genau zweierlei: In München reden Sie; Sie lassen den Stadtrat Bletschacher auf dem Marienplatz auftreten und lassen ihn Reden gegen den Rangierbahnhof schwingen, und hier lassen Sie es durchziehen.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag entspricht doch genau der Beschlußlage des Münchener Stadtrats. Alle Fraktionen haben einstimmig den Bundesverkehrsminister aufgefordert, von diesem Projekt Abstand zu nehmen.Dabei muß man sagen: Es geht uns nicht darum, irgendwie die Bahn zu behindern. Wir sagen „ja" zu modernen Anlagen für den Güterverkehr. Es ist wichtig, den Verkehr endlich von der Straße auf die Schiene zu verlagern.
Dazu ist es notwendig, daß die Bahn moderne wirtschaftliche Anlagen bekommt. Aber wir sind nicht bereit, im gleichen Atemzug die Augen zu verschließen vor dem, was unter den Schienen begraben wird, was unter den Schienen zugeschüttet wird. Da stellt sich schon die Frage, ob man in dem Münchener Bereich Allacher Forst und Allacher Steppe sich jetzt noch eine Bebauung leisten kann.Man muß sich einmal klarmachen: Wenn heute die Planung käme, wäre der Rangierbahnhof gar nicht zulässig, denn das Gelände stünde nach dem Art. 6 d des Bayerischen Naturschutzgesetzes unter Naturschutz. Nur weil die Planungen der Bundesbahn älter sind als die letzte Novelle des Bayerischen Naturschutzgesetzes, ist das zulässig. Wir können nicht einfach die Augen davor verschließen. Das gilt auch für die städtebaulichen Gründe. Man kann nicht einfach vergessen, daß ein ganzer Stadtteil durch Riegelwirkung von den Naherholungsgebieten abgeriegelt wird. Deshalb sind wir auch dafür, daß der Antrag — anders als in der Tagesordnung ausgedruckt — nicht nur an den Verkehrsausschuß überwiesen wird, denn es sprechen auch städtebauliche und ökologische Gründe gegen die Verwirklichung des Projekts speziell an diesem Standort. Deswegen sind wir auch dafür, daß dieser Antrag wenigstens zur Mitberatung an den Umweltausschuß und an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen wird.
Meine Damen und Herren, es gibt Alternativen zu diesem Rangierbahnhof, die von der Bundesbahn bislang einfach nicht geprüft worden sind. Der Kollege Schöfberger hat schon aufgeführt, daß es andere Standorte gibt.Die Firma MBB hat am 27. Januar ein Patent vom Patentamt erhalten. Sie hat sich ein Verfahren patentieren lassen, wie man Rangieranlagen in Hallen
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1842 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Weiss
mehrstöckig übereinander anordnen kann. Es wäre also auch möglich, die bestehenden Anlagen München-Laim oder München-Ost so auszubauen, daß ein Neubau nicht notwendig wäre. Dazu gibt es bislang keine belastbaren Prüfunterlagen. Ich fordere Sie auf: Legen Sie entsprechende Unterlagen vor! Dann kann man das prüfen. Aber das geschieht ja nicht.
Man kann ja einmal versuchen, die wirklichen Gründe dafür herauszufinden. Die liegen aber ganz woanders. Es geht nicht um verkehrspolitische Probleme, sondern für die Bahn geht es schlicht und einfach darum, die Gelände in München-Laim und München-Ost freizubekommen und solch große innenstadtnahen Flächen als Gewerbegrund zu verkaufen. Das sagen einem auch Mitarbeiter der Bundesbahndirektion am Biertisch, aber nicht offiziell. Sie sagen: Wenn wir diese Gelände freikriegen und verscherbeln, kriegen wir dafür mehr als 2 Milliarden DM. Das ist mehr, als wir für den Neubau des Rangierbahnhofs da draußen ausgeben müssen. — Das sind nämlich die wahren Gründe, warum eigentlich die Bahn an dem Gelände da draußen festhält; denn das Gelände im Allacher Forst stammt noch aus den Enteignungen der Nazi-Zeit und ist der Bahn übergeben worden. Wenn die Bahn darauf verzichten würde, würde die Zweckbindung der Enteignung wegfallen, und die Gelände müßten zurückgegeben werden. Genauso ist es. Die Bahn kann somit nichts anderes damit anfangen und will die Fläche in der Innenstadt allein aus spekulativen Gründen freikriegen und dadurch 2 Milliarden DM einnehmen.Ich verüble das der Bahn nicht. Es liegt in unserer Verkehrspolitik insgesamt begründet, daß wir die notwendige finanzielle Ausstattung der Bahn nicht vorgenommen haben. Aber es geht nicht an, die Bahn zu solchen Spekulationsgeschäften zu zwingen, bei denen wichtige ökologische Flächen vernichtet und städtebauliche Todsünden begangen werden.Danke.
Herr Abgeordneter Weiss, zur Klärung der Geschäftslage: Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, den Antrag an den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie außerdem die Überweisung des Antrags an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau beantragen? Dann lasse ich über diesen Antrag gesondert abstimmen.
— Tragen das alle Fraktionen mit?
— Über alle drei?
— Ist das richtig?
— Okay.
Dann hat der Abgeordnete Grünbeck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn der Herr Schöfberger sagt, der Rangierbahnhof München habe eine überregionale Bedeutung, dann ist das der einzige Punkt, in dem wir übereinstimmen. Die FDP-Fraktion— mit Ausnahme zweier Münchener Kollegen, deren Standpunkt wir tolerieren — hat mich beauftragt, den Standpunkt vorzutragen, der hier notwendig ist.Ich wundere mich bei den Antragstellern über eines: Da fehlen für mich zwei Namen, die mir wichtig gewesen wären. Herr Dr. Vogel hat nicht mit unterschrieben, und Herr Haar hat nicht mit unterschrieben. Beides hat seine Gründe.
— Das ist bekannt, Frau Kollegin. — In dem Antrag steht nämlich — das ist sehr pluralistisch — : Der Bundestag wolle beschließen, daß der Rangierbahnhof nicht gebaut wird. Wenn der Antrag wenigstens sagen würde, wo er gebaut werden soll, wäre es eine Alternative, aber Sie haben einfach gesagt: nicht gebaut, Schluß, aus.
Meine Damen und Herren, 1936 hat Berlin die Olympischen Spiele bekommen, und in München begann die Planung des Rangierbahnhofs. Weit über 50 Jahre streiten wir jetzt um den Standort des Rangierbahnhofs, und ich darf dazu zunächst eines sagen: Die dringende Notwendigkeit dieser Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht unterstrichen. Wir alle, aber auch wirklich alle, predigen jeden Tag, daß der Güterfernverkehr oder überhaupt der Güterverkehr von der Straße auf die Schiene soll,
aber wenn dann tatsächlich ein Schritt in diese Richtung getan werden soll, sind Sie einfach dagegen.
Was ist denn das für eine Politik?
In München gibt es jetzt schon eine katastrophale Situation.
Ich darf nur einmal die Verzögerungen nennen: Verzögerungen im Nord-Süd-Verkehr von bis zu 20 Stunden und im Verkehr vom Südwesten in die Balkan-
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GrünbeckStaaten von bis zu zwei Tagen. Das ist, wenn ich überhaupt an eine Weiterentwicklung des Umschlagplatzes München denke, eine unerträgliche Mehrbelastung.Was mir eigentlich am meisten Sorgen macht, ist ein Punkt, über den bisher überhaupt noch nicht geredet wurde. Meine Damen und Herren, wir haben — und deshalb vermisse ich den Herrn Haar, den Vorsitzenden der Eisenbahnergewerkschaft, die darauf drängt — —
— Nicht „Ach Gott"! Diesen Zwischenruf finde ich geschmacklos. Wenn Sie mich einmal ausreden lassen würden: Wir haben eine Unzahl von verletzten Eisenbahnern, ja, nicht nur von Schwerverletzten, sondern leider Gottes auch von toten Eisenbahnern, und zwar wegen mangelnder Sicherheit. Dieser altmodische Güterbahnhof, wirklich einer der ältesten in Europa, gefährdet immer wieder die Sicherheit der Eisenbahner, aber davon nehmen Sie offensichtlich überhaupt nicht Kenntnis.Wir haben in jüngster Zeit Untersuchungen über einen modernen Güterbahnhof, über den in Meschede, angestellt. Dort liegt die Unfallzahl pro 10 000 Waggons bei 0,3. In München liegt sie bei 2,1.
— Sie dürfen glauben, daß mir Ihre Rede nicht gefallen hat, und Ihre Zwischenrufe stören mich auch nicht.
Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Eisenbahnern, die dort tätig sind.
Es stört mich schon sehr, daß Sie diesen Punkt völlig ignorieren.
Wir haben natürlich auch Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.
Dort werden auch gefährliche Stoffe in Güterwagen über München hinaus transportiert, die jedes Jahr mehrere Male den Einsatz der Feuerwehr und anderer Sicherheitskräfte erforderlich machen. Der neue Güterbahnhof wird durch eine besondere Gleisführung und auch durch besondere Sicherheitsvorkehrungen unter dem Aspekt der Sicherheit eine neue Perspektive bieten.Wir sind natürlich der Meinung, daß Naturschutz und Lärmschutz berücksichtigt werden müssen. Hat denn jemand von den Antragstellern jemals den Landschaftsbegleitplan zu diesem Rangierbahnhof gesehen?
Das sind ganze Berge von Leitz-Ordnern, die als verpflichtender Begleitplan aus dem Planfeststellungsverfahren verordnet wurden und die besagen, daß wir diesen Güterbahnhof nicht ohne Auflagen bauen dürfen, sondern Lärmschutz, Naturschutz und Landschaftsschutz berücksichtigen müssen.
Nun kommt noch die Frage nach alternativen Standorten. Herr Schöfberger, es stimmt nicht, daß es sechs Alternativen gab. Es sind mehr als ein Dutzend Alternativen untersucht worden: Olching, Dachauer Moos, Geiselbullach, Speichersee bei Ismaning und andere Standorte, aber alle sind im Raumordnungsverfahren nicht berücksichtigt worden, und das war doch keine Entscheidung der Bundesbahn; es war eine Entscheidung der Gerichte, und das ging durch bis zum Bundesverwaltungsgericht.Nun hat das Bundesverwaltungsgericht am 24. August entschieden. Die Bauarbeiten haben bereits begonnen. Die Aufbereitung des Baubodens, die Einbringung der Kiesgrundfläche, findet bereits statt.
Und nun kommen Sie mit diesem Antrag!Ich darf Ihnen sagen, daß sich die FDP-Fraktion ihrer Verantwortung gegenüber der Bahn, aber auch gegenüber den Eisenbahnern bewußt ist und diesen Antrag ablehnen wird.
Meine Damen und Herren, entsprechend einer interfraktionellen Vereinbarung wird der Antrag also an den Ausschuß für Verkehr zur Federführung sowie an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur Mitberatung überwiesen. — Weitere Vorschläge ergeben sich nicht. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Punkt 24 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in München gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
— Drucksachen 11/190, 11/430 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Simonis Roth
Zywietz
Auch hier ist eine Redezeit von bis zu — ich unterstreiche das Wort „bis" — fünf Minuten pro Fraktion vereinbart worden. — Das Haus ist damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Roth .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bleiben in München. Der Deutsche Bundestag soll dem Verkauf
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1844 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Roth
des bundeseigenen Grundstücks in München, Baaderstraße 11, 13 und 15 an die München-SachrangerWohnbau GmbH zustimmen. Der Haushaltsausschuß hat am 3. Juni 1987 mehrheitlich so votiert, nachdem er die Entbehrlichkeit für Bundeszwecke und die Angemessenheit des Kaufpreises geprüft hatte.Was soll mit dieser Veräußerung erreicht werden? Natürlich die Begrenzung des Eigentums auf den für die Aufgabenerfüllung des Bundes notwendigen Umfang, außerdem die Entlastung der Verwaltung von sachfremden Aufgaben.Während der Ausschußberatungen zum Bundeshaushalt 1987, genau am 15. Oktober 1986, hat selbst die SPD den Finanzminister gebeten, darauf hinzuwirken, daß die vom Haushaltsausschuß gewollte Veräußerung des Wohnungsbestandes des Bundes in der Durchführung beschleunigt wird, damit die Erwerber die gegenwärtig günstigen Zinssätze ausnutzen könnten.Natürlich müssen bei einer solchen Veräußerung von Bundesvermögen die Vorschriften der Bundeshaushaltsordnung, hier insbesondere die §§. 63 und 64, Beachtung finden. Eine der Voraussetzungen dafür ist die sogenannte Entbehrlichkeitsprüfung. Es steht fest, daß die Liegenschaft für Zwecke des Bundes nicht benötigt wird. Sie war Anfang der 70er Jahre vom Bund für den Betrag von 3,7 Millionen DM erworben worden, um die Gebäude abreißen zu lassen und dort Parkflächen für das Europäische Patentamt zu schaffen. Nachdem für das Patentamt eine andere Lösung gefunden wurde, hatte der Bund die auf dem Grundstück vorhandenen 39 Wohnungen zunächst im Bestand belassen.Nun aber steht der Verkauf an. Entsprechend der einschlägigen Rechtslage hat der Bund das Grundstück zunächst den Mietern angeboten, dann selbstverständlich der Stadt München, auch den städtischen Grundstücksgesellschaften. Alle Angesprochenen haben von diesem Angebot keinen Gebrauch gemacht, sie haben abgelehnt.Als letzte Möglichkeit hatte der Bund dann die Liegenschaft öffentlich ausgeschrieben und in diese Ausschreibung erneut die Stadt München einbezogen, die sich abermals, diesmal auf ausdrücklichen Parlamentsbeschluß, nicht am Ankauf dieses Hauses interessiert gezeigt hat. Das Grundstück ist schließlich gegen ein Höchstgebot von 5,3 Millionen DM — das geht aus der Vorlage hervor — von der MünchenSachranger-Wohnbau GmbH unter dem Vorbehalt der Einwilligung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates erworben worden. Der Kaufpreis ist angemessen und entspricht dem vollen Wert im Sinne des § 63 der Bundeshaushaltsordnung.Was die bereits angesprochene Entbehrlichkeitsprüfung angeht, so besteht auch deshalb kein Interesse des Bundes am Fortbestand des Eigentums, weil für den Bauunterhalt allein in den Jahren 1977 bis 1982 nicht weniger als eine Million DM ausgegeben werden mußte.Meine Damen und Herren, selbstverständlich ist bei dieser Veräußerung auch den berechtigten Erfordernissen des Mieterschutzes Rechnung getragen worden, indem in dem Kaufvertrag eine Kündigung aufdie Dauer von sechs Jahren ausgeschlossen worden ist. Während dieser Zeit von sechs Jahren dürfen selbst Modernisierungsarbeiten nur zur Einsparung von Energiekosten und nur zur Herstellung allgemein üblicher baulicher Verhältnisse durchgeführt werden. Darüber sind die Mieter am 6. April schriftlich vom Bundesvermögensamt informiert worden. Darüber hinaus dürfen Maßnahmen nur mit Zustimmung der Mieter vorgenommen werden. Mieterhöhungen sind nur nach Maßgabe des Miethöhengesetzes überhaupt möglich.Es ist nun der politische Vorwurf erhoben worden, die Mieter seien mit rüden Methoden aus ihren Wohnungen verdrängt oder herausgekündigt worden. Dieser Vorhalt ist unzutreffend. Er ist in der Sache widerlegt worden und sollte in dieser Debatte nicht neu aufgetischt werden. Der Käufer ist zur Kündigung der Wohnung schon deshalb nicht berechtigt, weil er noch gar kein Eigentum im rechtlichen Sinne erworben hat. Es hat lediglich in Einzelfällen gegen Erstattung von Abstandszahlungen und der Umzugskosten eine freiwillige Räumung von Mietwohnungen gegeben. Den Erwerbern sind Ersatzwohnungen angeboten worden.Wer also bei dieser eindeutigen Sachlage glaubt, ideologische oder kommunalpolitische Debatten hier inszenieren zu können, ist im falschen Forum. Er sollte das an anderer Stelle, aber nicht hier beim parlamentarischen Zustimmungsverfahren versuchen.Ich schließe damit, daß ich im Namen meiner Fraktion beantrage, dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in München entsprechend der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/430 zuzustimmen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zuerst einen herzlichen Dank an die CDU/CSU-Fraktion, daß sie für diesen „München-Abend" einen besonders ortskundigen Sprecher aufgeboten hat, wie man schon an der Sprache feststellen konnte.Ich bin eigentlich ganz froh, daß wir einmal die Verkaufspraxis des Bundes bei Bundesgrundstücken hier im Bundestag diskutieren, auch wenn das nicht immer üblich ist. Noch exemplarischer als an den heute zur Debatte stehenden Häusern Baaderstraße 11, 13 und 15 hätte man das Ganze am Beispiel des Columbia-Hotels darstellen können. Dieser Punkt mußte heute von der Bundesregierung abgesetzt werden, weil die Bundesregierung einen derartig windigen Käufer gefunden hatte, der zwar ein Drittel mehr geboten hat als die Landeshauptstadt München, sich aber kein einziges Mal bei der Stadt München erkundigt hat, was auf diesem Gelände planungsrechtlich überhaupt möglich ist, so daß in der Stadt München alle erwartet haben, daß er abspringen wird. So ist es auch passiert.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987 1845
Schmidt
Aber mit diesem windigen Angebot wurde die solide Offerte der Landeshauptstadt München — beschlossen mit den Stimmen aller Fraktionen, auch mit den Stimmen Ihrer Fraktion — niedergemacht.
Die Landeshauptstadt München wurde aus dem Feld geschlagen.Ich hoffe, daß so schlechte Erfahrungen, wie sie das Bundesfinanzministerium mit windigen Käufern gemacht hat, dazu führen, daß die Stadt München das Gelände doch noch bekommt.Im übrigen, Herr Weiss, war Ihre Fraktion im Münchener Stadtrat etwas voreilig, als sie uns aufforderte, 21 Millionen DM auszugeben, was ja nur ein Schaufensterangebot war. Wir wollen nicht dazu beitragen, daß die Grundstücksspekulation in München auf diese Art und Weise noch angeheizt wird.
Aber jetzt komme ich zur Baaderstraße.
— Ich weiß schon: Dinge, die für Sie nicht angenehm sind, hören Sie nicht gern. Aber die Baaderstraße ist genauso unangenehm für Sie.Während Kommunen und Länder, auch solche von der CDU und der CSU regierte, sehr große Anstrengungen machen — das muß ich einmal deutlich dazu sagen — , um Mietern preisgünstigen Wohnraum zu erhalten, ist der Bund offensichtlich der Auffassung, daß er überhaupt keine Verpflichtungen gegenüber den Mietern hat. Ich muß darauf hinweisen, daß die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ja nicht nur für Privatleute, sondern auch für den Bund gilt.
Die Bundesminister, die hier sitzen, leisten immer einen Eid auf die Verfassung, aber die Sozialpflichtigkeit vergessen sie völlig.In diesen Häusern in der Baaderstraße wohnen weiß Gott keine reichen Leute. Es ist eine Struktur von relativ einfachen Leuten. Zum größten Teil sind es ältere Leute, die auf keinen Fall zum Kauf in der Lage sind. Für diese Leute muß es geradezu wie ein Hohn wirken, wenn der Bund hergeht und ihnen die Wohnungen zum Kauf anbietet. Das ist genauso, wie wenn ich jemanden, der sein Hotelzimmer nicht bezahlen kann, als Alternative das ganze Hotel zum Kauf anbiete. Genauso verhält sich hier der Bund.Darüber hinaus produziert der Bund durch seine Sozial- und Wirtschaftspolitik ständig neue Obdachlosigkeit. Er läßt die Kommunen mit den Folgen dieser Obdachlosigkeit allein. In München müssen wir ständig mehr Obdachlose in Pensionen unterbringen, und zwar zu einem Quadratmeterpreis von 25 DM.In diesem Bereich ist es wieder ganz genauso, daß irgendein Haus an irgend jemand verkauft wird, der spekulativ damit umgehen will.Zur Haushaltsordnung, Herr Kollege, sage ich Ihnen folgendes. Das Projekt ist mehr als 5 MillionenDM wert. Sie können es ohne vorherige Zustimmung des Plenums des Bundestages nur verkaufen, wenn zwingende Gründe vorliegen. Als zwingender Grund wurde wieder etwas ganz Windiges genannt, nämlich daß der Käufer sein Angebot nur eine begrenzte Zeit aufrechterhalte.
Jeder hier weiß, wie viele Spekulanten sich in München tummeln. Vor diesem Hintergrund ist dieses Argument geradezu lächerlich. Ich meine also, daß das auch rein rechtlich nicht in Ordnung ist, wenn Sie hier zwingende Gründe unterstellen.Nach alldem möchte ich Ihnen folgendes sagen. Sie können nicht erwarten, daß wir uns an diesen unseriösen Geschäften beteiligen.
— Die Abgeordneten der CSU, die dazwischenrufen, sollten vielleicht einmal versuchen, sich in Kongruenz zu bringen mit dem, was Ihre Parteifreunde im Münchener Stadtrat vertreten. Andernfalls müssen wir nach außen die Auffassung vertreten, daß Sie mit zweierlei Zungen sprechen: in München zugunsten der Mieter und hier zugunsten der Spekulanten. Ich glaube, es ist notwendig, daß wir das einmal deutlich machen.Wir jedenfalls lehnen die Zustimmung zum Verkauf der Grundstücke in der Baaderstraße ab.
Das Wort hat der Abgeordnete Zywietz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann für mich nicht in Anspruch nehmen, in München so gut ortskundig zu sein. Ich bin der Sprache auch nicht mächtig, obwohl ich Ihre Rede verstanden habe, Herr Kollege. Ich habe sie als reichlich polemisch empfunden; das möchte ich gleich dazusagen.
Dieses Objekt eignet sich — nach dem Kenntnisstand, den wir aus den Beratungen im Haushaltsausschuß mitbringen — nicht zum Beweis sozialer Unverantwortlichkeit oder sozialer Kälte. Dafür ist es in der Tat untauglich. So gut es sein mag, in dieses Haus als Mandatsträger auch kommunale Erfahrung einzubringen, sollten wir nicht im falschen Parlamentsgebäude nichtthemengerechte Schlachten schlagen. Ich möchte also nicht so sehr auf das Kommunal- und Raumordnungspolitische in München eingehen, sondern mich auf den bundespolitischen Bezug beschränken.Aus Sicht der FDP ist der Fall vollkommen korrekt und sachgerecht abgewickelt worden. Es handelt sich darum, daß ein Grundstück, für das es auf absehbare Zeit keine vernünftige Verwendung gibt und das im Besitz des Bundes ist, veräußert wird. Das ist ein normaler Vorgang; denn der Bund ist kein Wirtschaftsunternehmen zum Erwerb von Immobilien, die er nicht braucht, also kein offener oder geschlossener Immobi-
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Zywietzlienfonds. Wir brauchen vielmehr nur die Grundstücke und die Gebäude, die für unsere hoheitlichen und politisch gemeinten Aufgaben vonnöten sind. In diese Kategorie gehört dieses Grundstück nach alledem, was im Haushaltsausschuß sachlich erörtert worden ist, nicht.Wenn man die Sachlage noch einmal aufblättert, stellt man fest, daß hier einmal Anfang der 70er Jahre ein Grundstück erworben worden ist, als die Pläne für den Bau eines Europäischen Patentamtes offensichtlich groß — vielleicht muß man aus der Rückschau sagen: zu groß und zu üppig — gewesen sind. Es hat Einschränkungen, Umplanungen, Planungsänderungen gegeben, die schließlich dazu geführt haben, daß für diesen Zweck — Errichtung eines Europäischen Patentamtes; genauer: Nebenzweck Parkplätze, so die Unterlagen — diese Grundstücksgröße nicht vonnöten ist. Aus der Sicht des Bundes gibt es also keine Veranlassung, ein solches Grundstück zu behalten und nicht zu veräußern.Die Vorschrift besagt, daß die Entbehrlichkeit geprüft und festgestellt wird, ob es in einem geordneten Verfahren zu einem fairen und vernünftigen Preis veräußert wird. Diese Sachlage ist vollkommen klar. Es ist einmal für 3,9 Millionen DM erworben worden, und es ist für 5,3 Millionen DM veräußert worden. Angesichts der Entwicklung von Immobilienpreisen, aber auch angesichts des korrekten Verfahrens ist dagegen aus unserer Sicht überhaupt gar kein Einwand zu erheben.Auch wenn ich das Münchener Lokalkolorit trotz gelegentlicher Besuche in dieser schönen Stadt nicht so gut kenne, muß ich doch sagen: Ich würde mich zurückhalten, von windigen Käufern zu sprechen und solche diskriminierende Begriffe für einen Eigentümer in den Mund zu nehmen. Vielleicht sollten wir froh sein, daß wir es haben verkaufen können, und es mit dieser objektiven Feststellung bewenden lassen; denn es ist den Mietern, der Stadt und einer stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft, also drei möglichen Käufern angeboten worden. Wenn sich dann immer noch kein Käufer findet, bleibt schlußendlich das öffentliche Angebot. Das ist auch vollzogen worden, und dem Interessenten ist der Zuschlag erteilt worden. Ich kann darin aus haushaltspolitischer, aber auch aus wirtschaftlicher Sicht überhaupt keinen Nachteil, keine Unkorrektheit sehen. Vielmehr meine ich, daß die ganze Abwicklung bestens in Ordnung ist.Wenn hinsichtlich der Mieter Bedenken erhoben werden, muß ich sagen: Hätte man beim Verkauf der Neuen Heimat in ähnlich rücksichtsvoller Weise kommunale, raumordnerische und Mieterinteressen wahrgenommen, hätte man sehr viel Gutes getan.
Dieses Projekt eignet sich zu polemischer Kritik von großen Worten wie Obdachlosen und Verwendungsrichtungen in der Kommune.
— Also, ich spreche für die FDP-Fraktion und habe unsere Haltung dargelegt.Ich kann feststellen, daß wir diesem Verkauf zustimmen.Die Belange des Mieterschutzes sind gewahrt. Sie sind gesetzlich gegeben. Darüber hinaus gibt es vertragliche Vereinbarungen. Nicht nur der Mieter hat Interessen. Auch der Eigentümer hat Rechte, sozial gebundene Rechte. Die aber hat er durch dieses faire Angebotsverfahren vollkommen zum Ausdruck gebracht. Er muß ja letztendlich über eine Sache verfügen dürfen, für die er keine eigene Verwendung hat. Das ist im Kernpunkt geschehen.Deswegen stimmen wir dieser Veräußerung zu. Ich meine, daß Ihre etwas krampfhaften Bemühungen, uns hier in eine Ecke der sozialen Kälte und unzureichender Rücksichtnahme auf kommunale Dinge zu drängen, ins Leere gehen muß.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiss .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was hier bisher gesagt worden ist, war wenig von Sachkunde geprägt. Ich kann Ihnen nur sagen: Wären Sie einmal in die Häuser gegangen! Ich habe erst am letzten Wochenende noch mit den Mietern zusammengesessen. Wenn Sie wüßten, was da läuft, dann könnten Sie nicht mehr davon reden, daß der Mieterschutz gewährleistet ist.Ich möchte aber einen Satz vorwegschicken: Es ist schon befremdlich, daß wir heute, Mitte September, über einen Antrag entscheiden, obwohl bereits in dem Gebäude seit 1. Mai gebaut und umgebaut wird, sogar Wohnungen verkauft sind und einiges mehr.
Das ist halt der Stil dieser Regierung, so mit dem Parlament umzugehen, daß quasi Fakten geschaffen werden, die eigentlich die Mitwirkung des Parlaments fast überflüssig machen.
Dadurch aber, daß diese München-SachrangerWohnbau GmbH nun schon fünf Monate in diesem Gebäude aktiv ist, haben wir auch Beispiele, wie sehr dieser Mieterschutz nicht gewährleistet wird.Mir liegen die Vorgänge mit Schreiben auf dem Tisch. Richtig ist, daß die Mieter unterrichtet worden sind, daß sechs Jahre lang Kündigungsschutz besteht. Es läuft aber auf andere Art und Weise. Mir sind Fälle bekannt: Eine Firma hat angefangen zu sanieren. Putz, Kies, alles liegt in den Gängen herum. Dann haben dementsprechend Mieter gesagt: Das ist kein zumutbarer Zustand; wir mindern die Miete. Was hat die München-Sachranger-Wohnbau GmbH gemacht? Sie hat gewartet, bis zwei Monate Mietrückstand beieinander waren, und hat dann die fristlose Kündigung ausgesprochen.
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Weiss
Auf diesen Kündigungsschreiben ist der Stempel — ich habe die Originale bei mir im Büro — : Genehmigt, Bundesvermögensamt München. Das ist Ihre Mieterschutzpolitik.
Man kann nicht davon ausgehen, daß der Mieterschutz gewährleistet ist; denn der Käufer hat doch nur ein Interesse. Das ist, bei allem, was er tut, bisher überall deutlich geworden, nämlich die Mieter möglichst schnell hinauszubringen, die Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umzuwandeln, weil eine Neuvermietung deutlich mehr Mieteinnahmen bringt und damit auch zu einem höheren Verkaufspreis führt, als wenn die Wohnungen belegt wären.Dann müssen Sie sich einmal anschauen, wie die Wohnstruktur in diesen Wohnungen ist. Die Mieter sind Leute, die können sich nicht mehr leisten. Ich gebe allerdings zu, der Mietpreis ist mit 6 DM pro Quadratmeter für München relativ günstig.Dann dürfen Sie die Gewerbebetriebe nicht vergessen; denn in dem Gebäude sind ja auch Kleingewerbe untergebracht: Kramerladen, eine kleine Druckerei, Kneipen. Für die besteht überhaupt kein Kündigungsschutz. Die Kündigungen für die Gewerbebetriebe sind zum großen Teil bereits ausgesprochen. Das verändert Stadtbaustruktur. Das ist ein typisches Zeichen für Ihre Baupolitik. Die Reden, die hier von den Koalitionsfraktionen gehalten worden sind,
kann man eigentlich in einem Satz zusammenfassen: Hauptsache, die Kohle stimmt, Hauptsache, die Kasse ist in Ordnung.
Was mit den Mietern passiert, ist dieser Bundesregierung egal.
Noch eines: Man kann nicht hergehen und sagen: Wir verkaufen jetzt, und was der Käufer macht, ist seine Sache. Sie müssen sich nur einmal anschauen, wo diese München-Sachranger-Wohnbau GmbH in München vorher aktiv geworden ist. Es gibt Beispiele. Es gibt das Haus Orleansstraße 51, es gibt das Haus Thalkirchner Straße 188, wo die München-Sachranger-Wohnbau GmbH genauso versucht hat, auf irgendeine Art und Weise die Mieter herauszukriegen, teure Eigentumswohnungen zu schaffen und dabei groß abzusahnen.
Da machen Sie sich zum Komplizen. Danke.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Voss.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegen Roth und Zywietz haben den Werdegang der Wohnliegenschaft Baaderstraße eingehend geschildert. Ich will dies nicht wiederholen. Ich will nur noch einmal festhalten, daß diese Wohnliegenschaft für Zwecke des Bundes entbehrlich ist. Wenn das so ist, sind wir nach der Bundeshaushaltsordnung — und das ist geltendes Recht, Herr Kollege Schmidt — zur Veräußerung verpflichtet. Dann kann man nicht sagen, daß damit unseriöse Geschäfte betrieben würden.
Es ist zutreffend, daß alle gefragt worden sind.
Nun will ich Ihnen gerne zugeben, daß die Mieter hier vielleicht am wenigsten zum Erwerb in der Lage waren. Aber auch die Stadt München ist gefragt worden. Auch die Wohnungseigentumsgesellschaften der Stadt München sind gefragt worden.
Wenn es so gewesen wäre, daß hier ein Interesse bestanden hätte, wäre diesem Interesse auch Rechnung getragen worden.Meine Damen und Herren, was den sozialen Schutz der Mieter anbetrifft, so geht er in diesem Fall weit über das soziale Mietrecht hinaus. Sie wissen doch auch, daß Luxusmodernisierungen hier für 6 Jahre ausgeschlossen sind.
Über diese Sozialklausel haben wir im Haushaltsausschuß lange debattiert. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß es unter den vorliegenden Umständen durchaus vertretbar ist, sich von dieser Wohnliegenschaft zu trennen.Gegenstand des parlamentarischen Zustimmungsverfahrens sind aber, meine Damen und Herren, im wesentlichen nur die Angemessenheit der Gegenleistung und die Entbehrlichkeit für Bundeszwecke. Das ist jahrzehntelang bewährte Praxis. Ich glaube, wir sollten aus guten Gründen davon nicht abweichen.
Ich halte es deshalb für nicht vertretbar, das Zustimmungsverfahren betreffend Grundstücksveräußerung in eine Wohnungs- und städtepolitische Debatte umzufunktionieren.
Es geht nicht an, wohnungs- und kommunalpolitischeProbleme der Stadt München im Bundestag zu diskutieren. Diese Erörterung gehört in den Stadtrat der
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1848 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 27. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. September 1987
Parl. Staatssekretär Dr. VossLandeshauptstadt München. Dort ist sie im übrigen auch geführt worden.
Angesichts dieser Sach- und Rechtslage bitte ich Sie, in die Veräußerung einzuwilligen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich komme zur Abstimmung über Punkt 24 a der Tagesordnung. Der Ausschuß empfiehlt, der Veräußerung des Grundstücks zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? Wer stimmt dagegen? Damit ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung für morgen, Freitag, den 18. September, 8.30 Uhr ein.
Bevor ich die Sitzung schließe, wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.