Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt der heutigen Sitzung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich Ihnen über den Europäischen Rat in Venedig berichte und ehe ich auf die bevorstehenden Treffen zu sprechen komme, ein Wort zum Tag der Deutschen Einheit: Es hat in der deutschen Geschichte nicht an Versuchen gefehlt, aus wirtschaftlichen und politischen Zwängen auszubrechen, sich mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit zu verschaffen. Der große Wurf der Revolution von 1848 ist mißglückt, die deutsche Demokratie von 1919 ging nach einem guten Dutzend von Jahren verloren, aber das Aufbegehren von Menschen bleibt nie ohne Wirkung.Der 17. Juni 1953 war ein Aufstand gegen wirtschaftliche und politische Zwänge, zunächst ein Arbeitskonflikt, dann eine spontane Manifestation des Willens von Deutschen, über sich selbst entscheidende Bürger zu sein. Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland zur Erinnerung daran alljährlich den Tag der Deutschen Einheit begehen, dann, so hoffe ich, weniger im Sinne eines kalendermäßigen bezahlten Feiertages, sondern vielmehr im Sinne eines Tages zum Nachdenken. Das Streben nach Einheit, so hat Walter Scheel in einer wichtigen Rede hier vor zwei Jahren gesagt, „ist keine verstaubte, nach rückwärts gewandte Reichsromantik". Die Einheit ist vielmehr ein in die Zukunft gerichtetes Friedensziel. Wir wollen die Einheit, um „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". So steht es in unserem Grundgesetz. Aber wir können mit unserem Dienst am Frieden nicht warten, bis die deutsche Einheit vollendet ist, denn Frieden in Europa ist auch Voraussetzung dafür, daß unser Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangtWir Deutschen brauchen den Frieden, wir wollen den Frieden, und wir sind zum Frieden fähig. Wie wichtig Friedenswille und Friedensfähigkeit sind — nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Gemeinschaft der Völker insgesamt —, ist jedermann in den Krisen der letzten sechs Monate unabweisbar deutlich geworden. Darum werden wir alles tun, um als Deutsche unserer besonderen Verantwortung für den Frieden gerecht zu werden — mit ganzem Herzen und mit besonnener Umsicht.Im Dezember letzten Jahres haben Erich Honekker, der Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Republik, und ich in Berlin unabhängig voneinander mit den gleichen Worten gesagt: „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.
Dieses Bekenntnis stand schon heute vor zehn Jahren in einem der 20 Punkte von Kassel und im deutschlandpolitischen Programm der sozialliberalen Koalition, über dessen Verwirklichung ich Anfang dieses Jahres im diesjährigen Bericht zur Lage der Nation dem Bundestage Rechenschaft gegeben habe.Der 17. Juni vor 27 Jahren hat nicht nur den Willen zur Freiheit, Gerechtigkeit und Einheit sichtbar gemacht, sondern hat auch jedermann sehr deutlich die Grenzen unseres Handelns im geteilten Deutschland schmerzlich vor Augen geführt, die Grenzen für die Menschen und für die Regierungen, dort in der Deutschen Demokratischen Republik, hier in der Bundesrepublik Deutschland.Die Einsicht in die Grenzen der Handlungsfähigkeit hat uns nicht zur Resignation geführt. Wohl aber haben wir verstanden: deutsche Einheit kann nicht durch einen Aufstand gegen bestehende Machtverhältnisse erzwungen werden. Auf dieser Realität baut unsere Deutschlandpolitik auf, mit der heute der Zusammenhalt der Deutschen gewahrt, mit der heute die Härten der Teilung gemildert und die Zusammenarbeit zwischen den Deutschen auf beiden Seiten gefestigt und ausgebaut werden.An der Aufgabe, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden, wie das Grundgesetz es will, werden auch diejenigen noch zu arbeiten haben, die nach uns kommen. Auch deshalb ist es
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17944 Deutscher Bundestag - 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Bundeskanzler Schmidtwichtig, der Jugend geschichtliches Wissen zu vermitteln, das nicht an Elbe und Werra endet.Wir Deutschen haben besonderen Anlaß, Geschichte kritisch aufzuarbeiten und mit ihr ins Reine zu kommen, nicht mit gesenktem Blick, sondern mit wachen Augen für Gegenwart und Zukunft. Wir Deutschen sind hineingeboren in ein „schwieriges Vaterland", wie Gustav Heinemann gesagt hat. Den Frieden zu bewahren trotz der deutschen Schwierigkeiten, das ist unser Ernstfall.Wir erleben gegenwärtig eine ernste Phase der internationalen Beziehungen. Der 17. Europäische Rat in Venedig gab den Regierungschefs und den Außenministern der EG-Staaten Gelegenheit zu einem überaus lohnenden Gedankenaustausch über die Lage der Gemeinschaft, über die Lage ihrer Mitgliedstaaten in einer Welt schwerwiegender weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Erschütterungen. Es gelang, dem ursprünglichen Zweck des Europäischen Rates wieder näherzukommen, nämlich ohne lange Papiere und ohne den Druck von Detailentscheidungen in vertraulicher Aussprache gemeinsam zu klären, was für Europa und für die Mitgliedstaaten auf dem Spiele steht und was zu tun ist.Auch an dieser Stelle möchte ich dem italienischen Ministerpräsidenten Cossiga und dem italienischen Außenminister Colombo danken; die mit außerordentlicher Anstrengung und großer Umsicht als sogenannte Präsidentschaft die Europäische Gemeinschaft erfolgreich durch ein besonders schwieriges Halbjahr gesteuert haben.
Wir waren uns in Venedig im Ergebnis einig, daß die — ich zitiere aus der deutsch-französischen Erklärung vom Februar dieses Frühjahrs — ,,europäischen Mächte unter den derzeitigen Umständen besondere Verantwortlichkeiten zu übernehmen haben": In der Gemeinschaft geht es darum, durch unerläßliche Anpassungen der Agrarpolitik und durch eine ausgewogenere Verteilung der finanziellen Lasten die innere und äußere Handlungsfähigkeit sicherzustellen. In der Weltwirtschaft geht es darum, nach den tiefgreifenden Störungen durch die Ölpreisexplosionen und deren Folgen in gemeinsamer Anstrengung der Industrieländer — auch derjenigen des Ostens —, der Ölproduzentenländer und der nicht ölproduzierenden Entwicklungsländer ein neues weltwirtschaftliches Gleichgewicht zu finden. In der Weltpolitik geht es um den angemessenen europäischen Beitrag der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten zu einer gemeinsamen westlichen Politik der Eindämmung und der Bewältigung von Krisen, die vor allem seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan das weltpolitische Gleichgewicht und den Frieden in akuter Weise gefährden.Der Streit um die Höhe des britischen Beitrags zum europäischen Haushalt hat die Gemeinschaft in den letzten Monaten zunehmend gelähmt und ihre innere und äußere Handlungsfähigkeit bedroht. Die Beilegung dieses Streites war daher auch eine vordringliche außenpolitische, eine vordringliche sicherheitspolitische Aufgabe geworden. Die Erhaltung des europäischen Gleichgewichts und die Stärkung der Rolle Europas bei der Bewahrung des Friedens in der Welt haben einen Kompromiß zugunsten Großbritanniens notwendig gemacht. Dieser Kompromiß war auch deshalb geboten, weil von der Lösung der Haushaltsfrage die Festsetzung der Agrarpreise für das Wirtschaftsjahr 1980/81, die Sicherung des freien Handels mit Schaffleisch, die Festlegung von Leitlinien für die gemeinsame Fischereipolitik abhingen.Aus allen diesen Gründen, vor allem aber aus dem zuerst genannten Grunde: der Notwendigkeit, die äußere Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft zu wahren, der Notwendigkeit der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts, hat die Bundesregierung dem ausgehandelten Kompromißpaket zugestimmt. Ich begrüße, daß auch die Führung der Opposition, die wir ja über diese Verhandlungen im Laufe des letzten halben Jahres laufend unterrichtet haben, für diese notwendige Entscheidung Verständnis gezeigt hat, mit der wir es uns allerdings nicht leichtmachen konnten.In den Jahren 1980 und 1981 werden Großbritanniens Zahlungen an die Gemeinschaft insgesamt um 61/2 Milliarden DM verringert. Die unvermeidliche Folge ist eine stärkere Belastung der übrigen Mitgliedstaaten, wobei der deutsche Anteil sich automatisch aus dem seit neun Jahren geltenden Finanzierungssystem der Gemeinschaft ergibt. Nach gegenwärtiger Brüsseler Schätzung bedeutet dies, daß wir an dieser zusätzlichen Finanzleistung zugunsten der Entlastung des englischen Haushalts in den Jahren 1980 und 1981 mit 21/2 Milliarden DM beteiligt sind, die Franzosen mit beinahe 2 Milliarden DM, die Italiener mit beinahe 1 Milliarde DM, um nur die größten Beiträge zu nennen.Diese aus den Beschlüssen der Gemeinschaft resultierenden zusätzlichen Belastungen sind nicht vorhersehbar gewesen. Sie sind daher durch den Bundeshaushalt 1980 nicht voll und durch die mittelfristige Finanzplanung ab 1981 noch weniger gedeckt. Die Bundesregierung hat deshalb Anfang dieses Monats die notwendigen Deckungsbeschlüsse gefaßt. Für 1981 beträgt die hieraus resultierende Mehrbelastung des Bundeshaushalts aus heutiger Sicht rund 1,8 Milliarden DM, davon ½ Milliarde aus der Verschiebung von Zahlungen, die wir an Großbritannien leisten werden, aus dem Jahr 1980 in das erste Vierteljahr 1981.Diese zusätzlichen Ausgaben sind im gesamtstaatlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland ebenso notwendig und ebenso unvermeidbar wie die 1980 beschlossenen Erhöhungen der eigenen Verteidigungsausgaben um real 3 %, wie die Verteidigungshilfe für die Türkei und für Griechenland, wie die enorme Steigerung der Entwicklungshilfe. Damit setzt sich der weit überproportionale Anstieg der internationalen Aufgaben und Verpflichtungen, auch der supranationalen Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland fort. Übrigens gehören in diesen Bereich auch die Ausgaben im Rahmen der Deutschlandpolitik und insbesondere die Ausgaben der Berlin-Hilfe. Alle diese schnell stei-
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Bundeskanzler Schmidtgenden Ausgaben treffen ausschließlich den Bundeshaushalt, nicht jedoch Länder und Gemeinden. Darüber hinaus hat der Bundeshaushalt die Hauptlast der Konjunktur- und Strukturpolitik zu tragen.Diese Entwicklung ist im Jahr 1969 bei Verabschiedung der seit 1970 geltenden Finanzverfassung so nicht vorhergesehen worden. Jetzt müssen auch die Länder ihren Anteil zur soliden Finanzierung des deutschen Beitrags für die Erhaltung und die Stärkung der Handlungsfähigkeit Europas übernehmen.
Die Bundesregierung fordert deshalb die Länder auf, einer angemessenen Verteilung des Umsatzsteueraufkommens zugunsten des Bundes — ab 1. Januar 1981 — zuzustimmen
und damit endlich dem Verfassungsgebot des Art. 106 des Grundgesetzes Rechnung zu tragen.
Eine stabile Finanzwirtschaft ist ein Eckpfeiler für unsere Friedensverantwortung in Europa.
Zu einer stabilen Finanzwirtschaft gehört die Wiederherstellung des finanziellen Gleichgewichts zwischen Bund und Ländern.
Das muß von allen befürwortet werden — im Gegensatz zu den Zwischenrufern sehe ich inzwischen die einlenkenden Stellungnahmen auch einer Reihe von CDU-Ministerpräsidenten, meine Damen und Herren —, die politische Verantwortung dafür tragen,
daß die Handlungsfähigkeit des Zentralstaates gesichert bleibt.
Selbstverständlich ist dabei auch über bisherige Mischfinanzierungen und über Aufgabenteilung zu reden.Falls sich die Länder dem verweigern sollten, so wird die Bundesregierung unmittelbar nach dem Zusammentreten des neugewählten Bundestages einen Gesetzentwurf vorlegen, der durch die Erhöhung der Mineralölsteuer und der Branntweinsteuer sowie durch Umstellung der Gasölbetriebsbeihilfe für Landwirte auf nachträgliche Erstattung
die Finanzierung der aus den Brüsseler Beschlüssen resultierenden Mehrbelastungen sicherstellen wird.
Meine Damen und Herren, der Streit um den britischen Haushaltsbeitrag hat deutlich gemacht, daß die Ungleichgewichte im Haushalt der Gemeinschaft — —
— Ich verstehe die Unruhe nicht. Wenn dies ein Arbeitstag des Parlaments ist, muß ja wohl von der eigentlichen Arbeit des Parlaments geredet werden.
Ich spreche von den Aufgaben des zukünftigen Parlaments.
Ich denke, Sie sollten sich das sorgfältig anhören, damit Sie hinterher eine Antwort wissen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU.
Der Streit um den britischen Haushaltsbeitrag hat deutlich gemacht, daß die Ungleichgewichte im Haushalt der Gemeinschaft nur durch strukturelle Anpassungen korrigiert werden können. Darüber bestand Einigkeit im Europäischen Rat. Die Gemeinschaft hat mit den Brüsseler Beschlüssen Zeit gewonnen, die Ungleichgewichte dauerhaft zu beseitigen. Die Kommission in Brüssel wird bis Mitte 1981, also heute in zwölf Monaten, entsprechende Vorschläge vorlegen.
In Übereinstimmung mit dem Deutschen Bundestag hält die Bundesregierung daran fest, daß die Mehrwertsteuerabführung an die Gemeinschaft auch in Zukunft 1 % der Bemessungsgrundlage nicht übersteigen darf.
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den Anstieg der EG-Agrarausgaben einzudämmen, weil die Agrarausgaben anderenfalls binnen kurzem die Gesamtheit der eigenen Einnahmen der Gemeinschaft beanspruchen und danach sogar noch übersteigen würden.Unser Staat wird auch 1980 und 1981
der bei weitem größte Nettozahler der Gemeinschaft sein. Die deutsche Volks- und Finanzwirtschaft wird 1980 4,3 Milliarden DM mehr beisteuern, als wir herausbekommen; 1981 wird dieser Nettosaldo sogar 5 Milliarden DM betragen. Außer uns werden nur noch Großbritannien und Frankreich einen negativen Nettosaldo haben. Ich habe in Vene-
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17946 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Bundeskanzler Schmidtdig sehr deutlich gemacht, daß es Grenzen für die finanzielle Belastbarkeit der Bundesrepublik Deutschland gibt.
Andere Staaten der Gemeinschaft, die pro Kopf ein gleich hohes oder fast gleich hohes Einkommen haben wie unsere Gesellschaft, sind gegenwärtig in hohem Maße Nettoempfänger. Falls die erstrebten strukturellen Anpassungen nicht ausreichen, um das Auftreten neuer unzumutbarer Nettozahlerpositionen einzelner Mitgliedstaaten zu verhindern, wird sich die Frage stellen, ob die Errichtung einer Obergrenze für die Nettobelastung eines Mitgliedstaats verallgemeinert und ob ein ähnlicher Grundsatz auch für solche Mitgliedstaaten aufgestellt werden sollte, die Nettoempfänger sind. Für diese Haltung, die übrigens nicht nur von der Bundesregierung eingenommen wird, habe ich in Venedig durchaus Verständnis gefunden.Es ist unerläßlich, bis 1982 die Ursachen für die bestehenden Ungleichgewichte in der Gemeinschaft zu beseitigen. Dies schulden wir auch den künftigen Partnern Griechenland, Portugal und Spanien. Wir können die große politische Aufgabe der Erweiterung, die wir zur Stärkung der Demokratie in Europa übernommen haben, nur dann zum Erfolg führen — und dazu sind wir entschlossen —, wenn die Gemeinschaft selber stark und sicher ist, wenn die ohnehin schwierigen und langwierigen Anpassungsprozeße nicht mit ungelösten internen Strukturproblemen der Gemeinschaft belastet werden.
Die Bundesregierung hat jedenfalls nicht die Absicht, nach zwei Jahren nochmals einen Beschluß nach dem Muster der Brüsseler Beschlüsse mitzutragen.Der Europäische Rat bot auch Gelegenheit, über die Fragen zu sprechen, die am kommenden Wochenende auf der Tagesordnung der zufällig ebenfalls in Venedig stattfindenden Konferenz der sieben größten Industriestaaten der westlichen Welt stehen werden. Schwerpunkte unserer vorbereitenden Diskussionen waren die Inflation, das Energieproblem, die Weltwirtschaftslage insgesamt, besonders die Nord-Süd-Beziehungen.Die neun Regierungschefs halten die jüngsten Ölpreiserhöhungen für ungerechtfertigt. Jedenfalls werden sie die inflationären Tendenzen in der Welt noch verstärken.Bei den Gesprächen traten aber die weltpolitischen Themen stärker in den Vordergrund als bei früheren Tagungen des Europäischen Rates. Das wird übrigens auch am kommenden Wochenende in Venedig wiederum der Fall sein.Wir waren uns einig, daß eine besondere Gefahr darin besteht, daß die Krisen in Afghanistan, im amerikanisch-iranischen Verhältnis und zwischen Arabern und Israelis zu einem einzigen Konflikt verschmelzen könnten. Damit wächst die direkte Bedrohung auch für Europa. Unsere Bürger, unsere Freunde, unsere Verbündeten, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch dieStaaten jener Region, von der die Rede ist, auch die Sowjetunion und deren Verbündete müssen wissen, was in dieser Lage die europäischen Regierungen denken und wie sie zur Eindämmung und Bewältigung dieses gefährlichen Krisenkomplexes beitragen wollen. Deshalb hat ein Teil unserer Beratungen in Erklärungen seinen Niederschlag gefunden, in denen die gemeinsamen Positionen der europäischen Staaten auf den heutigen Stand gebracht worden sind.Zu Afghanistan hatten die EG-Staaten bereits am 19. Februar eine Initiative für ein unabhängiges, blockfreies Afghanistan und eine politische Lösung skizziert, die den Wünschen des afghanischen Volkes und den Interessen der Nachbarn Afghanistans gerecht werden soll. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Haltung sind wir jetzt auf die Beschlüsse der 11. Außenministerkonferenz der islamischen Staaten in Islamabad eingegangen und haben uns bereit erklärt, entsprechende Lösungsinitiativen zu unterstützen.Zu Nahost wird die europäische Position auf der Grundlage früherer Erklärungen fortgeschrieben, die sich sowohl auf die Sicherheitsratsentschließungen 242 und 338, welche die EG-Staaten entgegen einigen öffentlich geäußerten Vermutungen nicht abzuändern vorschlagen, wie auf die laufenden ägyptisch-israelischen Verhandlungen beziehen. Mit dem Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes unterstreichen die EG-Staaten ihre Überzeugung, daß die Lösung der Palästinenserfrage ein zentraler Faktor des Friedensprozesses im Nahen Osten ist. Die neun EG-Staaten werden ihre Position und ihren Vorschlag für einen Gewaltverzicht allen betroffenen Parteien erläutern und im Lichte dieser Kontakte und Konsultationen ihr weiteres Vorgehen bestimmen. Eine wichtige Rolle wird dabei auch der europäisch-arabische Dialog spielen.Eine persönliche Bemerkung möchte ich hier einfügen: Nach meinem Eindruck wird sich diese sehr ausgewogene Stellungnahme der Europäer hilfreich auf die komplexen Bemühungen um Frieden im Nahen Osten auswirken. Ich freue mich, daß auch die amerikanische und die ägyptische Regierung diese Bewertung geteilt haben. Den israelischen Freunden soll versichert sein: Wir verstehen ihre Sorgen und Nöte, so wie sie mir der Präsident der Knesseth und seine Delegation kurz vor Venedig geschildert haben. Wir haben sie in unsere Beratungen einbezogen.Ein wesentlicher Teil des vertraulichen Gedankenaustausches der Regierungschefs galt natürlich den Ost-West-Beziehungen. Präsident Giscard d'Estaing hat ausführlich über seine Gespräche mit dem sowjetischen Generalsekretär Breschnew berichtet. Mir ging es darum, die europäischen Freunde vor den Gesprächen zu konsultieren, die Bundesminister Genscher und ich demnächst in Moskau führen werden, demnächst — das heißt nach dem Treffen mit Präsident Jimmy Carter und Außenminister Muskie am kommenden Wochenende.
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Bundeskanzler SchmidtNatürlich werden wir mit der sowjetischen Führung nur für die Bundesrepublik Deutschland sprechen können. Wir tun dies aber auf einer Linie, die wir mit unseren Freunden und Verbündeten gründlich konsultiert und gemeinsam vertieft haben. Wir wissen, daß wir ihre Unterstützung haben. Wir werden bei unserem Arbeitsbesuch in Moskau zugleich die bilateralen Konsultationen auf hoher Ebene fortsetzen. Wir wollen nach den Begegnungen in Belgrad, in Wien und in Warschau unseren Teil dazu beitragen, daß West und Ost gerade in Krisenzeiten im Gespräch bleiben.
Wir werden klar und deutlich sprechen: über die Gefahren für den Weltfrieden, über deren Ursachen, natürlich besonders über Afghanistan, besonders über die eurostrategische Raketenrüstung der Sowjetunion.In einem guten und offenen Gespräch mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Tichonow, der kürzlich die sowjetische Delegation bei der Sitzung der deutsch-sowjetischen Wirtschaftskommission hier in Bonn leitete, waren sich beide Seiten darüber im klaren, daß auch die Chancen einer weiteren Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit davon abhängen, ob eine Entschärfung der internationalen Krisen gelingt.Es geht jetzt vor allem darum, herauszufinden, wie Wege zur Lösung dieser Krisen eröffnet werden können. Ich weiß nicht, ob dies schon bei den bevorstehenden Gesprächen möglich sein wird. Ich weiß aber, daß alle Deutschen — wie kaum ein anderes Volk in Europa — unter einer Verschärfung der internationalen Spannungen zu leiden hätten.
Deshalb bin ich sicher: Die Bundesregierung ist verpflichtet, jede Chance zu nutzen, um ihren Beitrag zur Sicherung des Friedens einzubringen.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sinn dieser heutigen Diskussion am Tag der Einheit ist eine Standortbestimmung der deutschen Politik in Deutschland. Herr Bundeskanzler, wer Ihre Regierungserklärung soeben aufmerksam gehört hat, wird festgestellt haben — ich beziffere es nach den Seiten Ihres Manuskripts —, daß von den 30 Seiten, die Sie hier vorgetragen haben, knapp sechs Seiten von der deutschen Frage handelten.
Die Art und Weise, wie Sie zu diesem Thema im Wege einer Pflichtübung gesprochen haben, macht deutlich, wie Ihre Position in dieser Frage ist.
— Herr Kollege Wehner, ich will das für den heutigen Tag mit einem Satz abmachen: Wenn es nach Ihnen ginge, würden wir hier über diese Frage überhaupt nicht mehr sprechen.
Herr Bundeskanzler, ich bin damit einverstanden, daß Sie nach den wichtigen politischen Ereignissen — im Blick auf den Gipfel und andere wichtige Fragen — hier darüber Rechenschaft geben. Aber ich frage Sie ganz direkt: Haben Sie nicht auch persönlich das Gefühl, daß Millionen unserer Landsleute in der Bundesrepublik, die heute früh Ihre Rede gehört haben, und Millionen unserer Landsleute in der DDR, die möglicherweise ebenfalls heute Ihre Rede gehört haben, doch die Frage stellen müssen: Was ist eigentlich der Stellenwert dieser deutschen Frage für die Regierung Helmut Schmidt? Darauf hätten ich und meine Freunde gerne von Ihnen eine Antwort gewußt.
Erlauben sie zunächst ein Wort zu Ihren Darlegungen zum Gipfel in Venedig: Herr Bundeskanzler, das Gipfeltreffen der europäischen Regierungschefs hat — und dies ist unübersehbar — die europäisch-amerikanischen Verstimmungen eher vergrößert und die Verständigungsbereitschaft zwischen den Partnern in der Gemeinschaft nicht eben erleichtert. Man muß leider feststellen, daß schon seit Jahren die Gipfeltreffen der europäischen Regierungschefs zu bloßen Routineangelegenheiten erstarrt sind. Fortschritte hin zu einer engeren Zusammenarbeit in Europa sind Lippenbekenntnisse gewesen. Gravierende Themen, über die man sich in den Sitzungen des Ministerrats nicht einigen kann, werden dann zum nächsten Gipfel-Termin verschoben, dort beraten und zumeist ohne inhaltliche Einigung und ohne förmlichen Beschluß an die beratenden Gremien wieder zurückgegeben. Die regelmäßig den Gipfelkonferenzen vorgelegten Dokumenten sind ein überzeugender Beweis für diese These.Meine Damen und Herren, die Krise der Europäischen Gemeinschaft ist daher nicht in erster Linie eine Krise des Agrarmarktes oder des europäischen Finanzhaushalts — das ist sie natürlich auch —, der wahre Grund für die Lähmung der Gemeinschaft liegt primär darin, daß sich die politischen Institutionen als unfähig erwiesen haben, Europa mit einem handlungsfähigen Entscheidungsmechanismus auszustatten. Das ist das Problem Europas.
Ralf Dahrendorf, einstens Staatsminister der Regierung Brandt und ganz gewiß der Koalition nahestehend, hat früher einmal unter dem Pseudonym Wieland Europa diesen Zustand beklagt. Der gleiche Ralf Dahrendorf hat jüngst geschrieben, seit
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Dr. Kohldem Haager Gipfel vom Dezember 1969 — das ist Ihre Regierungszeit, meine Damen und Herren von der SPD /FDP — seien die Institutionen und Politiken der EG eher zum Hindernis als zum Motor europäischer Kooperation geworden. Die europäischen Dinge, so sagt Dahrendorf, seien heute zunehmend verrottet; Balkanisierung drohe Europa, weil auch der Rat nicht zur institutionellen Klammer und zum Motor des Fortschritts der europäischen Sache geworden sei.Genau dies, Herr Bundeskanzler, ist das Bild, das die europäischen Regierungschefs in Venedig wiederum gegeben haben. Immer dann, wenn sie dem Europäischen Parlament stärkeres Mitspracherecht zubilligen müssen, kneifen die Regierungschefs in Europa.
Eigentlich müßte es doch eine Sache aller Fraktionen des Deutschen Bundestags sein, daß wir ein Jahr nach der Wahl des ersten frei gewählten Europäischen Parlaments gemeinsam aufstehen und die Forderung unserer Kollegen im Europäischen Parlament nach stärkerem Mitspracherecht in diesem frei gewählten Europäischen Parlament wie ein Mann unterstützen. Das müßte doch Tradition im deutschen Parlament sein.
Die seit Jahren überfällige Zusammenarbeit in den gemeinschaftlichen Zielen und Mitteln der Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Geldpolitik gipfelt wie schon so oft auch jetzt wieder in dem beschwörenden Appell, die weit auseinanderdriftende Inflation in den Ländern der Gemeinschaft zum Hauptziel des gemeinsamen Kampfes zu machen. Ich hätte es gern gesehen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie dazu jene markigen Worte gesagt hätten, die Sie einmal mehr in Ihrem Mißverständnis föderaler Staatsstruktur im Verhältnis zu den Ländern hier gefunden haben.
Eine gemeinsame Energiepolitik als Herausforderung auf die weltweite Krise schlägt sich in der großen Besorgnis nieder, die die Regierungschefs über die jüngsten Ölpreisentscheidungen der Erdöl fördernden Länder zum Ausdruck bringen, und in der Erwartung, daß darüber auf dem Weltwirtschaftsgipfel gesprochen werden müsse. Damit aber, wenn ich es recht verstehe, Herr Bundeskanzler, blieb doch auch die Chance ungenutzt, zusammen mit den besonders hart betroffenen Entwicklungsländern eine gemeinsame europäische Strategie und Politik gegenüber den OPEC-Staaten zu entwickeln.
Der gemeinsame Agrarmarkt als Klammer für die handelspolitische Zusammenarbeit und die Grundlagen der Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts soll durch eine Reform der EG-Agrarpolitik und der Finanzierung zur Debatte gestellt werden. Aber Wahrheit ist — auch das ist ja keine neue Weisheit —, daß aus wahltaktischen Gründen die Initiativen in dieser Richtung zunächst einmal unterbleiben, damit man ja nicht die Wähler mit kommenden Ereignissen erschreckt.Herr Bundeskanzler, ich stimme Ihnen zu und ich begrüße es, daß Sie nach Jahren der Untätigkeit jetzt zu der- Erkenntnis gelangt sind, daß die aufgestauten Probleme im Agrarhaushalt zu einer entsprechend entschiedenen Politik zwingen. Auch wir, die CDU/ CSU, sind davon überzeugt, daß bestehende Ungleichgewichte im Haushalt der Gemeinschaft korrigiert und strukturelle Verbesserungen am System des Agrarmarkts vorgenommen werden sollten, um das bewährte Prinzip des gemeinsamen Agrarmarkts als europäischer Integrationsklammer nicht zu untergraben und um eine einigermaßen — so schwierig dies sein wird — ausgeglichene Entwicklung zwischen den beteiligten Staaten zu gewährleisten. Wir haben in Besprechungen vor und nach dem Kompromiß Ihnen, Herr Bundeskanzler, und der Bundesregierung als Opposition signalisiert, daß wir in diesem Punkt grundsätzlich übereinstimmen und daß wir bereit sind, Mitverantwortung zu übernehmen, um die EG endlich in die Lage zu versetzen, ihren lähmenden Streit über Bündnispflichten, Solidaritätskundgebungen, EG-Agrarpreise und Haushaltsfinanzierungsprobleme überwinden zu können. Ich will auch von unserer Seite besonders den engagierten Einsatz und das Verhandlungsgeschick unseres Freundes, des amtierenden Ratspräsidenten Emilio Colombo, dankbar erwähnen.Ein kurzes Wort, Herr Bundeskanzler, zu einem zweiten Teil Ihrer Regierungserklärung, nämlich zum Thema Nahosterklärung des Europäischen Rats. Spätestens die internationale Reaktion auf die Nahosterklärung des Europäischen Rats stellt doch die Weisheit über den Zeitpunkt und den Inhalt dieser diplomatischen Initiative in Frage.
Die EG-Initiative wird von Israel entschieden und hart abgelehnt, von den arabischen Staaten als „halbherzig" bezeichnet und von den amerikanischen Verbündeten offenkundig mit Mißtrauen, ja Ablehnung verfolgt. Ich frage mich also, Herr Bundeskanzler: Worin liegt eigentlich die Weisheit dieser Erklärung?
Die neun EG-Mitgliedstaaten haben sich bereit erklärt, „sich im Rahmen einer umfassenden Lösung an einem System konkreter und bindender internationaler Garantien" — jetzt kommt der wichtige Teil — „einschließlich solcher zu Lande zu beteiligen".Herr Bundeskanzler, Sie schulden uns eine Auskunft: Was sind „Garantien zu Lande"? Sind damit deutsche Soldaten gemeint, Herr Bundeskanzler? Ihre politischen Freunde haben doch in den letzten Wochen ein billiges politisches Geschäft mit Zitatverfälschungen gemacht.
Ich stelle das Ganze als Frage. Sie sollten die Fragebeantworten, Herr Bundeskanzler, ob „einschließlich solcher zu Lande" heißen könnte, daß dem-
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Dr. Kohlnächst deutsche Truppen an der arabisch-israelischen Grenze stationiert werden.Welche Voraussetzungen bieten die EG-Staaten überhaupt, um konkrete Garantien für den Frieden im Nahen Osten geben zu können? Glaubt denn wirklich jemand bei dem jämmerlichen Zustand der Europäer in den letzten sechs Monaten, daß wir, die Europäer, so wie wir uns jetzt befinden, konkrete und glaubhafte Garantien geben können?
Meine Damen und Herren, beruht die Sicherheit Israels und heute Ägyptens nicht wirklich vor allem — vielleicht sogar ausschließlich — auf den Garantien der Vereinigten Staaten von Amerika?
In der Vergangenheit war das übrigens so. Ich glaube, das gilt auch für die Zukunft.Herr Bundeskanzler, wenn dies so ist, müßte uns Europäern doch alles daran liegen, die amerikanische Friedenspolitik im Nahen Osten zu stärken
und nicht durch eigene Initiativen zum falschen Zeitpunkt mit problematischen Versprechungen und entgegen den Warnungen; den Wünschen und dem Vortrag der amerikanischen Regierung zu schwächen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Hauptteil dessen kommen, was uns heute hier beschäftigen muß, nämlich zum Tag der deutschen Einheit, 27 Jahre nach dem 17. Juni 1953. Ich weiß, daß für viele dieser 17. Juni inzwischen ein erwünschter Feiertag auf dem Weg ins Grüne ist. Dennoch finde ich, wie immer andere darüber denken mögen: Es ist unser Auftrag, es ist unsere Pflicht, auch 27 Jahre danach diesen Tag als den Tag der deutschen Einheit zu würdigen.
Am 17. Juni 1953 rief ein Berliner Bauarbeiter seinen Arbeitskollegen in Ost-Berlin zu: „Kollegen, es geht hier nicht mehr um Normen und Preise; es geht um mehr. Hier stehen nicht allein die Bauarbeiter der Stalinallee, hier steht Berlin und die ganze Zone. Wir fordern geheime freie Wahlen!" — Das ist das erste Zeugnis des 17. Juni 1953.
Wer immer nach dem Sinn des 17. Juni fragt, hier ist die Antwort: Es ging und es geht noch immer, auch 27 Jahre danach, um den Anspruch von 17 Millionen Deutschen auf Selbstbestimmung, auf Menschenrechte, auf Freiheit.
Es ging und es geht auch immer noch darum, daßwir, die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes, die das Glück haben, auf der Sonnenseite derdeutschen Geschichte leben zu dürfen, uns der Verpflichtung bewußt bleiben, für die Freiheit und die Einheit aller Deutschen einzutreten.
Das ist und bleibt Kern jeder Deutschlandpolitik. Manchem ist das blanke Selbstverständlichkeit, manche haben es längst aus ihrem Gedächtnis verbannt.Ich erinnere aber vor allem deshalb daran, weil die Beziehungen, die sich zwischen beiden deutschen Staaten entwickelt haben, nicht von dem eigentlichen Anliegen unserer Deutschlandpolitik ablenken dürfen. Es werden Verhandlungen geführt, und ihre Ergebnisse beinhalten, so wie im letzten Fall, Verbesserungen im Bereich des Verkehrs, des Gewässerschutzes und auf anderen Feldern. Ich sage ausdrücklich: Das ist in Ordnung. Wer ist denn nicht dafür, selbst wenn die finanziellen Leistungen der Bundesrepublik immer neue Höhen erreichen? Minister beider Regierungen besuchen sich, sprechen von der „ungewöhnlich guten Phase der Beziehungen" und von dem „Interesse der DDR, die Entspannungspolitik voranzutreiben'. Geradezu euphorisch verkündete in diesen Tagen .ein. Mitglied der Bundesregierung, das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten sei „zu einem wichtigen Stützpfeiler für die Erhaltung des Friedens zwischen Ost und West geworden".Das alles vermittelt doch — das ist ja auch das Ziel solcher Äußerungen — ein Bild von Beziehungen, die eine beinahe heile Welt vorspiegeln und die doch die Wirklichkeit Deutschlands nur sehr bedingt wiedergeben; denn die Wirklichkeit mitten in Deutschland heißt doch immer noch Verweigerung der Menschenrechte in der DDR,
heißt doch immer noch Fortdauer der Perfektionierung der Grenzanlagen, der Schießanlagen, die nur noch den Tod der Flüchtenden zum Ziel haben. Meine Damen und Herren, wer das ausspricht, ist kein kalter Krieger, sondern der kommt nur der Pflicht nach, im deutschen Parlament die Wahrheit auszusprechen.
Wir haben keine Freude daran, daß wir diesen schlimmen Befund aussprechen müssen. Aber wir weigern uns, uns jenem opportunistischen Zeitgeist zu beugen, der in der Geschichte der Völker nie Gutes gebracht hat.
Ich nenne eine andere Realität: Die DDR konnte sich bis heute nicht bereitfinden, die Altersgrenze für Westreisende auch nur um drei oder fünf Jahre zu senken. Jeder von uns weiß, daß die Wunschliste noch beliebig verlängert werden könnte.Beziehungen können für uns so lange nicht als normal akzeptiert werden, so lange es keine Fortschritte für die betroffenen Menschen selbst gibt. Deshalb, Herr Bundeskanzler, sehen wir mit stei-
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17950 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Dr. Kohlgender Sorge, wie Sie Gespräche, die Sie ankündigen, immer häufiger als „Wert an sich" bezeichnen
und damit der anderen Seite, sei es Moskau oder Ost-Berlin, von vornherein signalisieren, daß Zugeständnisse gar nicht erbracht werden müssen, weil Sie ja selbst keine Zugeständnisse mehr erwarten.
Sie können doch nicht erklären oder erklären lassen — wie etwa am 24. Februar 1980 —, daß Gespräche mit der DDR auf höchster Regierungsebene substantielle Fortschritte bringen müssen, und dann, wenn der Gesprächstermin konkret wird, wissen Sie nichts mehr von dieser Voraussetzung.Der Maßstab für normale Beziehungen bleibt das Ausmaß an Erleichterungen, die für die Menschen in der DDR erreicht werden, und gar nichts anderes. Aber der heutige Tag, der Inhalt des heutigen Gedenktages reicht über diese sehr aktuelle und sehr dringliche Verpflichtung hinaus. Der 17. Juni steht für einen wichtigen Teil deutscher Geschichte.Der 17. Juni stellt uns alle vor drei zentrale Fragen: Wie steht es um den geschichtlichen Auftrag für die Zukunft unseres Landes? Haben wir die Warnungen vor dem Verlust unserer Geschichte als besondere deutsche Gefährdung wirklich begriffen? Was tun wir, um die Lebensinteressen der deutschen Nation zu verwirklichen? Die Antworten auf diese Fragen, die wir uns immer wieder geben müssen, werden um so dringlicher, je mehr Mitbürger heranwachsen, für die der 17. Juni 1953 ebenso Geschichte ist wie die Erfahrung der Hitlerdiktatur und der Zweite Weltkrieg.27 Jahre nach dem 17. Juni, 31 Jahre nach der Gründung der DDR und der Spaltung Deutschlands reicht es nicht länger aus, nur der deutschen Einheit zu gedenken und sie zu beschwören. Die uns nachfolgende Generation, aber auch viele Mitbürger aus unserer Generation erwarten eine Antwort auf die Frage: Warum halten wir, die Deutschen, an der Einheit der deutschen Nation fest? Welches Erbe bestimmen wir aus der Epoche der deutschen Einheit für unsere und für die europäische Zukunft?Das Geschichtsbewußtsein in unserer Bundesrepublik Deutschland steht bis heute im Zeichen Hitlers, dessen dunkler Schatten für viele die deutsche Geschichte vor dem dritten Reich zuzudecken scheint, es steht im Zeichen verlorener Einheit und zerbrochener Kontinuität. 35 Jahre nach Kriegsende, so meine ich, ist es höchste Zeit, die Geschichte der Deutschen weder allein aus dem Blickwinkel der Greuel des Nationalsozialismus noch der zerbrochenen Einheit zu sehenWenn wir von Vorbelastungen und vom Verlust der deutschen Einheit sprechen, so steht alles unter dem Vorbehalt, daß nur wenig so kommen mußte, wie es kam, und nichts führt an unserer Einsicht vorbei, es seien nicht zuletzt die Deutschen selbst gewesen, die die Einheit verspielt haben. Aber wenn darin Schuld liegt, so war es lange Zeit eine Schuld, die nicht wir allein tragen, sondern die dem Europa des späten 19. Jahrhunderts insgesamt innewohnte.Es ist vielleicht ein Stück Tragik der Deutschen, daß darin die verspätete Einheit der Nation enthalten ist.Ich darf hier mit dem Amerikaner Gordon Alexander Craig einen höchst unverdächtigen Zeugen für die deutsche Geschichte zitieren. Er schrieb in seiner unlängst erschienenen „Oxford History of Germany":Die kurze Geschichte des geeinten Deutschlands, die nur 75 Jahre dauerte und in den Trümmern von Berlin 1945 unterging, verdient unsere Betrachtung nicht allein um deswillen, was sie lehrt über die Rolle der Furcht und der Gier und der Dummheit in den menschlichen Dingen, über die Verführung der Macht und die Folgen politischer Verantwortungslosigkeit wie auch über die offenbar unbegrenzte Unmenschlichkeit, die der Mensch seinen Mitmenschen bereiten kann, sondern auch um deswillen, was sie zu berichten hat von Mut und Standfestigkeit, von Hingabe an die Sache der Freiheit und Widerstand gegen die Macht der Tyrannei.
Meine Damen und Herren, wenn wir, die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, deshalb unbeirrt am Gedenktag des 17. Juni 1953 festhalten, dann vor allem deshalb, weil an diesem Tag wie auch am 20. Juli 1944 an Menschen unseres Volkes erinnert wird, die sich der Freiheit und dem Widerstand gegen die Macht und die Tyrannei mit dem Einsatz ihres eigenen Lebens hingegeben haben.
Nach dem Endes des Krieges 1945 erging an uns alle die Warnung vor dem Verlust der Geschichte als eine besondere deutsche Gefährdung. Damit bin ich bei meiner zweiten Frage: Haben wir Deutsche diese Gefährdung wirklich begriffen? Meine Damen und Herren, Geschichte und Geschichtsbewußtsein sind Wesensbestandteile unserer politischen Kultur. Wer sie gefährdet, nimmt dem Bürger die Orientierung über sich wie über das Vaterland, dem er zugehört.Vor Jahren schrieb der Frankfurter Soziologe Adorno, es sei die fortschreitende bürgerliche Gesellschaft, welche Erinnerung, Zeit und Geschichte als irrationalen Rest liquidiere. Adorno hat sich auch auf diesem Feld geirrt. Er wäre heute erstaunt, könnte er feststellen, wer Geschichte systematisch erst aus den Lehrplänen gestrichen und dann durch ideologische Indoktrination ersetzt hat.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung den Willen zur Geschichte wieder einmal bekräftigt. Meine Bitte ist ganz einfach: Lassen Sie es nicht bei diesen verbalen Bekundungen,
sondern treten Sie in Ihrer eigenen Partei offen und entschieden für diese Ansicht ein, denn es waren doch Sozialdemokraten, Herr Bundeskanzler, die die Geschichte bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17951
Dr. Kohlund in den Lehrplänen zusammengestrichen haben.
Es waren doch Sozialdemokraten, die in diesen Lehrplänen der jungen Generation die Orientierung an der Geschichte des eigenen Landes versagt haben. Ich erinnere einmal mehr an die Diskussion um die berüchtigten hessischen Rahmenrichtlinien zum Thema Gesellschaftslehre.
Am Tag der Deutschen Einheit ist es an der Zeit zu fragen: Was enthält die deutsche Geschichte für Gegenwart und Zukunft an Orientierung? Meine Damen und Herren, gewiß keine bloßen Ratschläge, was heute und morgen zu tun sei. Seit Jacob Burckhardt gilt es, daß Geschichte nicht klug mache für ein andermal, sondern allenfalls weise für immer. Die deutsche Geschichte, unsere Geschichte, gilt es zu sehen in ihrer Größe und in ihrer Tragik, in ihren Bedingungen wie in ihren unerfüllten Möglichkeiten. Aber, meine Damen und Herren, es gilt auch der Satz — diesen Satz wollen wir unseren jungen Mitbürgern zurufen —: Wer die deutsche Geschichte studiert, braucht am Menschen nicht zu verzweifeln. Auch das ist eine Erfahrung unserer Geschichte.
Er mag Zweifel lernen an der Fähigkeit des Men- schen, das Gute zu wollen und zu tun. Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, möchte ich zurufen: Geschichte schafft Identität, nicht die von unreifen Kindern, die sich ein Narrenparadies erträumen, sondern die von mündigen Bürgern, die von ihrer Geschichte betroffen sind, im Guten wie im Bösen.
Wir wollen uns der deutschen Geschichte stellen; wir wollen uns der Geschichte unserer europäischen Zivilisation stellen. Es gibt zu ihr keine vernünftige Alternative, wenn unsere politische Kultur nicht ihre Bindungs- und Integrationskraft verlieren soll.Meine Damen und Herren, eine Gesellschaftslehre, die Geschichte verbannt, die allein auf den utopischen Fortschritt setzt und auf die technische Machbarkeit baut, bietet Unsicherheit statt Wertorientierung, Steine statt Brot.
Diese Ideologen, die doch vor allem bei Ihnen in der SPD angesiedelt sind, messen die Gegenwart nicht an der Vergangenheit, sondern an einer utopischen, jeder Lebenserfahrung entzogenen Zukunft, in der allein das Ziel zählt, aber nicht der Weg, allein die Reinheit der Idee, aber nicht die unmenschlichen Mittel ihrer Verwirklichung.Alle Zeiten haben ihre Utopien gehabt. Das 20. Jahrhundert zeichnet sich dadurch aus, daß seine Utopien die blutigsten waren. Gerade die Erfahrungen der NS-Zeit, der blutigen zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur, haben doch moralische Lasten auf unsere Schultern gelegt, auf unser aller Schultern, gleich, ob wir Sozialdemokraten, Freie Demokraten oder Christliche Demokraten sein mögen. Meine Damen und Herren, wir müssen und wir können diese Last gemeinsam tragen, aber über den Greueln in den Vernichtungslagern Hitlers dürfen wir niemals vergessen, daß es in unserem Volk auch das andere Deutschland gab, das leidenschaftlich Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime geleistet hat, das leidenschaftlich Widerstand gegen die totalitäre Diktatur Ulbrichts geleistet hat.
Auch das sage ich im Blick auf jenen schlimmen Verleumdungs- und Verteufelungsfeldzug, der im Vorfeld des 5. Oktober in Gang gekommen ist: Wir erinnern gerade in diesem Augenblick daran, daß die Männer und Frauen des Widerstands gegen die braune Diktatur aus allen Schichten und Kreisen unseres Volkes kamen. Es waren Studenten und Offiziere, es waren Arbeiter und Hochschullehrer, es waren Konservative und Sozialdemokraten, es waren Geistliche beider Konfessionen. Sie alle haben damals nicht nach unterschiedlichen politischen, religiösen und weltanschaulichen Standorten gefragt, weil es ihnen vor allem um eines ging: um die Gemeinsamkeit im Kampf gegen Menschenverachtung und Unrecht, gegen Haß und Gewalt.
Auch das gehört zum 17. Juni: daß gerade der Widerstand gegen die rote Diktatur der kommunistischen SED in der sowjetischen Besatzungszone und in der späteren DDR aus allen Schichten unseres Volkes kam. Es waren Männer und Frauen aus der Sozialdemokratischen Partei, aus der Liberaldemokratischen Partei und nicht zuletzt aus der Christlich Demokratischen Union. Allein in den Jahren 1948 bis 1950 wurden über 600 Mitglieder der Christlich Demokratischen Union im Gebiet der heutigen DDR wegen ihres Widerstandes gegen die kommunistische Staatsgewalt verhaftet und verschleppt. Diese Zahl, meine Damen und Herren, enthält nur die präzise bekanntgewordenen Fälle. Viele Schicksale blieben im dunkeln. Nicht wenige sind in den Gefängnissen und Konzentrationslagern in der DDR oder im Archipel GULag in der Sowjetunion verstorben.Die Männer und Frauen des Widerstands gegen die Diktatur in Deutschland vor 1945 und in einem Teil nach 1945 hinterließen uns eine große Aufgabe. Sie wollten die tiefen Gräben, die sich in unserem Volke aufgetan hatten, zuschütten und wollten Deutschland, wollten uns wieder moralische Kraft für die Zukunft geben. Sie wollten, Herr Bundeskanzler, dem inneren Frieden dienen, weil ihnen allen bewußt war, daß ein Volk nur dann dem äußeren Frieden und damit der Verantwortung vor der Geschichte entsprechen kann, wenn es auch versucht, dem inneren Frieden, dem Frieden im eigenen Lande zu dienen.Der Widerstand gegen die Nationalsozialisten, aber auch der Widerstand gegen das kommunistische Regime in der DDR, das sind bewegende Kapi-
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17952 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Dr. Kohltel deutscher Geschichte das ist ein politisches, das ist ein moralisches Vermächtnis und Erbe, das wir pfleglich behandeln müssen. Das heißt, daß wir darüber sprechen, daß wir es an die nächste Generation weitergeben und nicht aus Opportunismus totschweigen.
Aber dieses Kapitel, Herr Bundeskanzler, hat jetzt im Jahre 1980 einen sehr aktuellen Bezug. Denn es wird von Ihnen und Ihren politischen Freunden in der SPD so behandelt, als könne dieses Vermächtnis zu einer parteiischen Sache gemacht werden. Warum sonst reißen Sie mit dieser Wahlkampfalternative „Krieg oder Frieden" wieder mutwillig Gräben in unserem Volke auf? Warum sonst machen Sie die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges zu einem Wahlkampfthema?
Sie haben sich hier von dieser Art Politik in unserer letzten Aussprache distanziert, aber was nützt mir die Distanzierung des stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD Helmut Schmidt, wenn Sie draußen fortfahren, in dieser Form Polemik zu treiben?
Millionen deutscher Soldaten haben im letzten Krieg ihr Leben lassen müssen. Diese Millionen sind nicht für oder gegen die eine oder andere Partei in der Bundesrepublik gefallen, sie sind für uns alle gefallen. Dies ist doch die geschichtliche Wahrheit, die niemand bestreiten kann. Es ist bedrückend, Herr Bundeskanzler, daß Sie und Ihre Partei in diesem Wahlkampf an diese Wahrheit überhaupt erinnert werden müssen. Wenn das so fortgeht mit diesem SPD-Wahlkampfschema „Wir sind die Friedensfreunde, die anderen die Friedensfeinde" — —
— Herr Kollege Ehmke, daß Sie nicht den inneren Zugang zu dieser Problematik haben, liegt in der Natur Ihrer Persönlichkeit!
Wenn nach dem sozialdemokratischen Wahlkampfschema „Wir sind die Friedensfreunde, die anderen die Friedensfeinde" mit dem Schicksal der Soldaten des Zweiten Weltkrieges parteipolitische Geschäfte verknüpft werden, dann ist dies nichts anderes als ein Anschlag auf den inneren Frieden unseres Landes.
Innerer Friede setzt voraus, daß wir uns alle zur Last und auch zur Größe unserer Geschichte bekennen.
— Es mag sein, daß für Sie dieser Begriff der gutenKapitel deutscher Geschichte nicht mehr nachvollziehbar ist. Aber dann sind Sie arm dran! Das ist der Tatbestand, von dem wir ausgehen müssen!
Wir können und wir wollen weder die düsteren noch die großen Kapitel unserer Geschichte von uns weisen, wenn wir nicht den Boden unter unseren Füßen verlieren und als Nation unsere politische Handlungsfähigkeit einbüßen wollen. Deutschland ist ganz gewiß den Deutschen stets ein schwieriges Vaterland gewesen. Das wird so bleiben. Es kann auch angesichts des vieldeutigen geschichtlichen Erbes, in dem wir stehen, gar nicht anders sein.Meine Damen und Herren, in der DDR versucht die SED, geschichtliche Identität der Deutschen aus jener parteiischen Konstruktion zu gewinnen, die Geschichte nur in Klassenbegriffen sehen und deuten kann. Die SED hatte lange Zeit ihren Historikern den Auftrag gegeben, die, wie sie es versteht, aufsteigende Linie zu jenem Höhepunkt der Weltgeschichte darzustellen, der mit der eigenen Herrschaft, wie sie glaubt, erreicht scheint. Das war verfälschend und willkürlich. Aber wir sollten zur Kenntnis nehmen, was drüben geschieht: jenen Versuch — ich sage es einmal salopp formuliert —, von Friedrich dem Großen bis zu Honecker die Identität der deutschen Nation unter sozialistisch-kommunistischem Vorzeichen zu okkupieren.Es gibt — und es wäre nicht redlich, das hier nicht anzufügen — auch in der DDR Anzeichen für eine Rückbesinnung, die leider nicht freiwillig ist, sondern aus der Frage nach der nationalen Identität entsteht. Ihr muß sich auch die DDR-Führung stellen, weil die Menschen drüben danach verlangen, in Leipzig, in Eisenach, in Halle und in Dresden. Die SED kann sich nicht der Realität entziehen, daß der Wille der überwältigenden Mehrheit der Deutschen in der DDR zur Einheit ungebrochen ist. Wir sollten dies zur Kenntnis nehmen. Sie kann sich nicht der Realität entziehen, daß 75 % der DDR-Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren in einer Umfrage der Staatspartei sich als Deutsche und eben nicht als Staatsbürger der DDR bezeichnet haben.
Zu meinen Erfahrungen — und viele von Ihnen in allen Fraktionen haben bei Besuchen in der DDR ähnliche Beobachtungen gemacht — gehört jenes Wort, das mir vor wenigen Monaten in Ost-Berlin ein junger Mann aus Leipzig auf dem AlexanderPlatz, der mich dort ansprach, zum Schluß mitgab, als er mir zurief: „Herr Kohl, vergessen Sie nicht, wir sind auch gute Deutsche." Auch dieses Wort gehört in den 17. Juni 1980.
Am Tag der Deutschen Einheit gilt es, über unsere Geschichte Bilanz zu ziehen und uns zu fragen, wie wir mit ihr umgehen. Das Bild ist nicht gut, meine Damen und Herren. Geschichtliche Erinnerung zählt nicht viel unter denen, die vor allem in unserem Lande Meinung machen. Manchem erscheint Geschichte nur als Hemmnis beim Aufbruch in die schöne neue Welt. Das kann aber doch auf die Dauer nicht ohne schwere Folgen für die junge Generation
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17953
Dr. Kohlbleiben, der die Orientierung versagt wird und allenfalls ersetzt wird durch parteiisch ausgesuchte Vergangenheitsfragmente und Zukunftsutopien, in der die Gegenwart nicht erklärt, sondern von links her denunziert wird.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sollten darüber nachdenken — ich verdanke dieses Zitat einem Aufsatz von Peter Glotz —, wenn kürzlich ein junger Deutscher, Thomas Schmid, ein Frankfurter Sponti, folgende Sätze formuliert hat:Eine Tugend, die uns Deutschen . heute fehlt, möchte ich lernen:— so sagt er —die Fähigkeit, zusammenzuleben, sich nicht vernichten zu wollen, eine Lebensweise, die wirklich konträres Nebeneinander dulden kann. Was ich aber nicht will:— so sagt er —die Tradition der Selbstbezichtigung: Ich werde die deutschen Schrecken gewiß nicht vergessen. Aber ich will auch mein Deutschsein nicht länger vergessen, überspielen.Dieser junge Mitbürger hat den Ort unserer deutschen Gemeinsamkeiten definiert, einer Gemeinsamkeit, die uns Gegensätze ertragen läßt, die im politischen Konflikt aber den Willen zur Verteufelung des parteipolitischen Gegners ausschließt. Auch das geht an die Adresse von uns allen.Damit komme ich zu meiner dritten Eingangsfrage: Was tun wir, um die Lebensinteressen der deutschen Nation zu erkennen und zu verwirklichen? Auftrag des Politikers ist es, die Lebensinteressen der Nation zu erkennen und für ihre Verwirklichung zu arbeiten. Dazu gehören Augenmaß, Kenntnis der Weltlage, Fähigkeit zu realistischem Handeln, ein Sinn für moralische Qualitäten und den Zusammenhang zwischen der atlantisch-freiheitlichen Grundorientierung unserer Politik und den freiheitlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens und endlich, Herr Bundeskanzler, die Fähigkeit zur Führung. In jedem einzelnen Punkte sehen wir heute mit wachsender Besorgnis Unsicherheit, Taktieren, Anpassung, Betriebsamkeit und ein Handeln, das die Schwierigkeiten in der westlichen Allianz nicht bewältigt, sondern durch Zuwarten und Zweideutigkeiten, durch Schlauseinwollen und Entscheidungsschwäche vergrößert.Wie die deutschen Interessen definiert werden sollen, ist offensichtlich nicht nur im Bundeskanzleramt eine offene Frage. Vielmehr wird auch von der SPD landauf, landab in einer Weise debattiert, als stünde nicht das Godesberger Programm, sondern erneut die Atlantische Gemeinschaft, die Westintegration, die Bindung an Amerika und die Frage der Wiederbewaffnung zur Diskussion. Das ist Ihr Beitrag zu dieser Diskussion in diesen Monaten gewesen.
Herr Bundeskanzler, das ist die innenpolitisch so brüchige Basis, auf der Sie stehen. In dieser Situation reisen Sie nach Moskau. Es ist richtig — wir sagen das genauso wie Sie —, daß das Gespräch mit der Sowjetunion weitergehen muß.
Aber, meine Damen und Herren — und das ist das Wichtige, Herr Wehner —: Es kommt auf den Zeitpunkt und auf den Inhalt der Gespräche an. Denn es ist noch wichtiger als die Reise an sich, daß diese Reise unter klaren bündnispolitischen und innenpolitischen Voraussetzungen vonstatten geht.
Eine Reise als Selbstzweck oder als Einkaufsreise für staatsmännisches Profil, meine Damen und Herren, läßt sich nicht beliebig wiederholen.
An diese Reise knüpfen sich zu viele Hoffnungen. Selbst dann, wenn sie ohne jedes Ergebnis endet, hat diese Reise doch Folgen.
Ich sage es deutlich: Als Selbstzweck ist eine solche Reise für uns undenkbar.Deshalb, Herr Bundeskanzler, muß es doch erlaubt sein, daß ich Sie hier mit Ihren eigenen Worten anspreche. Ich erinnere Sie an die gemeinsame Deklaration, die Sie am 6. Mai 1978 — gemeinsam mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, dem sowjetischen Staatsoberhaupt Leonid Breschnew — in Bonn unterschrieben haben. Dort heißt es — ich zitiere —:1. In Respektierung der Unteilbarkeit des Friedens und der Sicherheit in allen Teilen der Welt werden sie— die Unterschreibenden —ihre politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten für dieses Ziel— gemeint ist die Entspannung — unilateral, bilateral und multilateral einsetzen.Meine Damen und Herren, der sowjetische Überfall auf Afghanistan steht in klarem Widerspruch zu dieser Erklärung. Die Sowjetunion spricht in Europa von Entspannung und Abrüstung und führt in Afghanistan einen heißen Krieg.Was den eigentlichen Skandal dieser Tage ausmacht, ist, daß man das schon wieder als eine beinahe gewollte Ordnung hinnimmt, daß wir über alles reden, nur nicht über die Beachtung der Menschenrechte und über die Solidarität mit einem armen Land, das gegenwärtig mit der Furie des Krieges mit äußerster Entschiedenheit durch die Sowjetunion überzogen wird.
Wer sich damit abfindet, meine Damen und Herren, macht Frieden, Entspannung und Sicherheit teilbar. Es war doch durch viele Jahre die Prämisse deutscher Politik in diesem Hause — von allen zumin-
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17954 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Dr. Kohldest verbal anerkannt —, daß Friede, Entspannung und Sicherheit unteilbar sind.In der Deklaration heißt es zum zweiten weiter — ich zitiere —:Beide Seiten betrachten es als wichtig, daß niemand militärische Überlegenheit anstrebt. Sie gehen davon aus, daß annähernde Gleichheit und Parität zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen.Die Sowjetunion hat seit dieser Erklärung, Herr Bundeskanzler, Monat für Monat neue Mittelstrekkenraketen produziert und disloziert. Sie hat damit das Gleichgewicht und die Parität in Europa ganz unstreitig zu ihren Gunsten verändert. Sie verlangt darüber hinaus in dieser Stunde — ich zitiere die „Prawda" vom 13. Juni 1980 —, daß die NATO ihre Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts, ihren „Beschluß über Produktion und Stationierung neuer USA-Kernraketensysteme aussetzt oder wenigstens die Verwirklichung aufschiebt". Die Verwirklichung des NATO-Beschlusses kann auf Grund der Produktionsdauer erst in drei Jahren erfolgen. Es ist also Zeit genug zu Verhandlungen über die Reduzierung bzw. über das Thema Verzicht auf Mittelstreckenraketen. Doch die Sowjetunion, meine Damen und Herren, rüstet nicht nur unverändert auf, sondern sie hat bis zur Stunde auch alle Verhandlungen abgelehnt. Sie, Herr Bundeskanzler — und jetzt auch der Kollege Wehner —, haben in diesem Augenblick und in dieser Situation ein Moratorium angeregt. In Ihren Reden in Essen und Hamburg haben Sie bewußt — Herr Wehner hat das jetzt in einem Interview vom 13. Juni 1980 wiederholt — keine zeitliche Begrenzung für ein solches Moratorium genannt. Sie, Herr Bundeskanzler, haben diesen Vorschlag seinerzeit doch offensichtlich ohne Abstimmung mit Ihrem Außenminister und mit den NATO-Verbündeten in der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Sie haben in einer ungewöhnlich rüden Form jeden Kritiker dieser Politik gerüffelt, wie wir es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher überhaupt noch nicht erlebt haben.
Ich fürchte, es war nicht Ihre Einsicht, sondern die Reaktion unserer westlichen Verbündeten, die Sie, zumindest verbal, zur Rückkehr zur gemeinsamen Politik der NATO zwang. Sie haben damit der Sowjetunion den Eindruck vermittelt, daß die Bundesrepublik bereit sein könnte, den NATO-Beschluß zu überprüfen. Sie haben damit — das steht für mich außer Frage — der Sicherheitspolitik des Westens Schaden zugefügt.
Wenn die Sowjetunion wirklich an Abrüstung, Gleichgewicht und Parität interessiert ist, dann muß sie zunächst und endlich ihr Nein zum Verhandlungsangebot der NATO aufgeben. Herr Wehner, der diesen Dingen besonders sensibel gegenübersteht, hat bereits „eine kleine Veränderung" — ich zitiere ihn wörtlich — in der Haltung der Sowjetunion feststellen können. Ich stelle fest: Wenn die Sowjetunion nicht bereit ist, innerhalb der nächsten drei Jahre konkrete Vereinbarungen zu treffen, erfordern es unsere Sicherheit und der Frieden in Europa, daß die amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa und auch in der Bundesrepublik Deutschland stationiert werden.
In der Deklaration heißt es zum dritten, Herr Bundeskanzler — ich zitiere —:Beide Seiten bekräftigen das Ziel der Wiener Verhandlungen, auf der Grundlage unverminderter Sicherheit der Beteiligten zu einer stabileren Lage auf niedrigerem militärischen Niveau als heute zu gelangen.Erst vor wenigen Tagen hat die Sowjetunion alle westlichen Vorschläge zum Abbau der Truppen in Mitteleuropa hart und entschieden zurückgewiesen.Herr Bundeskanzler, ich habe aus dieser Deklaration von vor zwei Jahren nur drei Beispiele vorgetragen. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie in Moskau Herrn Breschnew auf seine Unterschrift unter dieser gemeinsamen Deklaration hinweisen und daß Sie ihre Einlösung fordern. Das wäre ein Sinn Ihrer Reise nach Moskau.
Ich sage das deshalb so klar, weil Herr Wehner bereits vorgebeugt hat. Er ist ja damit einverstanden, wenn es wiederum nur zu einer Bekräftigung dieser Deklaration kommt. Meine Damen und Herren, was ist das Papier eigentlich wert, auf dem der Text steht, wenn sich die Sowjets nicht daran halten? Das muß man am Vorabend dieser Reise doch aussprechen.
Ich will ein viertes Thema für Ihre Gespräche in Moskau ansprechen, das Thema der Menschenrechte. Ich bin hier guter Dinge, daß Sie das verstehen. Als vor wenigen Tagen der argentinische Wirtschaftsminister bei uns in Bonn war, habe ich mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, daß sich alle Regierungsstellen beeilt haben, der Öffentlichkeit bekanntzugeben, daß sie den argentinischen Wirtschaftsminister auf die Frage der Menschenrechte in seinem Land angesprochen haben. Ich bin damit einverstanden, daß Sie so etwas tun, nur sollten Sie nicht nur auf dem rechten, sondern endlich auch auf dem linken Auge sehend werden.
Wenn Sie Repräsentanten südamerikanischer Regierungen auf die Menschenrechte ansprechen — Sie haben dabei unsere volle Unterstützung —, dann haben wir um der Glaubwürdigkeit Ihrer Reden willen nur den Wunsch, daß wir eine ähnlich klare Ansprache bei Gesprächen mit sowjetischen Politikern, mit Politikern aus der DDR, aus Polen, der CSSR und anderen Ländern hören. Meine Damen und Herren, im Hymnus des Herrn Hauff anläßlich seines DDR- Besuchs habe ich von so etwas nichts gehört.
Es gibt noch ein weiteres Thema, das am Tag der Deutschen Einheit in diesem Haus angesprochen
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17955
Dr. Kohlwerden muß. Herr Bundeskanzler, ich spreche von den bedrückenden Zahlen, die den Rückgang im Bereich der Familienzusammenführung von Menschen aus der Sowjetunion signalisieren. Ich finde wohl, daß Sie, wenn Sie in Moskau mit sowjetischen Führern sprechen, diese Frage nicht nur aus Gründen der Menschenrechte, sondern vor allem aus Gründen der Menschlichkeit zu einem zentralen Punkt Ihrer Gespräche machen sollten.
Ich will es zusammenfassend formulieren: Reisen — ja, aber nur dann, wenn die Bedingungen geklärt sind, wenn sozusagen das Kleingedruckte stimmt. Am sogenannten Kleingedruckten ist aber in den letzten Wochen und Monaten bis zur Unleserlichkeit herumgedeutelt worden. Herr Bundeskanzler, dabei sind die Prioritäten der deutschen Politik vielen Ihrer Parteigänger in der SPD völlig aus den Augen geraten. Es ist vor allem innenpolitisch einiges ins Rutschen gekommen. Vor lauter Entspannungshoffnung sind die Entspannungsrealität, die Realität der Überrüstung der Sowjetunion und ihre Bereitschaft, dieses Übergewicht als Druckmittel, ja, selbst als Angriffsmittel zu nutzen, weitgehend aus dem Gedächtnis geschwunden.Für die Sowjetunion besteht heute mehr als seit 30 Jahren die Chance, in den Westen einen Keil zu treiben, weil sie mit dem Zuckerbrot der Entspannung und der Peitsche ihrer Panzerdivisionen ungewöhnlich erfolgreich operiert, weil sie Handelsverträge bietet und zugleich die Hoffnung nährt, daß jemand, der gute Geschäfte macht, auch maßvoll und vernünftig handeln kann.Wer die Bündnisgrundlagen in Frage stellt, wer die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten in Frage stellt, wie es weite Kreise der deutschen Sozialdemokratie zunehmend tun,
und wer damit die Lebensinteressen unseres Landes in Frage stellt, der, Herr Bundeskanzler, bietet keine solide Basis für Ihre Reisediplomatie. Wer es für klüger hält, dem Bürger die Unannehmlichkeiten der internationalen Politik zu ersparen, um ihn beim Gang zur Wahlurne ja nicht zu erschrecken, der handelt vielleicht auf den Tag schlau, aber er handelt nicht weise im Bereich der Staatskunst, und er läßt die politische Kultur einer Demokratie zu einer Steuereinziehungs- und Wohltatenverteilungsanstalt verkommen.Der demokratische Staat ist mehr. Er fordert jeden Tag — und er muß es tun — von uns, seinen Bürgern, den Mut zur Wahrheit, auch dann, wenn sie unbequem ist. Die gegenwärtige Weltkrise — so gefährlich sie ist — enthält doch nicht nur Bedrohung der Schwäche, der Mutlosigkeit oder der schleichenden Kapitulation. Sie enthält — und das ist eine Lehre deutscher Geschichte auch für uns Heutige — auch die Chance des Mutes, des Augenmaßes und der Erkenntnis, wo unsere Lebensinteressen liegen und wie sich die Stärkung des Bündnisses in der freien Welt zur Sicherheit unserer freiheitlichen Ordnung verhält.Die Krise, in der wir leben müssen, kann in ihrem Ergebnis das herbeiführen, was John F. Kennedy einmal so beschrieben hat:eine schmerzhafte Überprüfung unserer politischen Werte, unserer Prioritäten und eine innere Stabilität unserer politischen Kultur als Teil des Westens, als Teil der freien Welt.Aber das ist nur möglich, wenn wir realistisch und illusionsfrei die Gegenwart betrachten und damit die Zukunft gewinnen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren. Der 17. Juni muß in jedem Jahr erneut für uns alle Anlaß sein, die Entwicklung im geteilten Deutschland zu beurteilen, daran unsere Politik zu messen und daraus die Konsequenzen für die künftige Politik zu ziehen. In der Tat, unsere Mitbürger in der DDR sehen wie unsere Bürger hier in der Bundesrepublik Deutschland auf diese Aussprache des Deutschen Bundestages, und sie erwarten, daß die Parteien des Deutschen Bundestages, daß die Bundesregierung ihre Vorstellungen davon darlegen, wie wir im geteilten Land zum Wohle der Bürger auf dieser und der anderen Seite handeln und etwas erreichen können.
Hier, meine Damen und Herren, müssen wir zu einer offenen Diskussion über richtige Wege und Möglichkeiten kommen.In diesem Jahr 1980, in dem stärker als in der Vergangenheit durch die Ereignisse in anderen Teilen der Welt die Sorge um den Frieden auch in unserem Kontinent für jeden Mitbürger bewußt ist, wissen wir, daß diese Sorge um den Frieden nicht haltmacht an der Trennungslinie durch Deutschland. In den Wohnungen, in den Fabriken, in den Kantinen, in den Schulen der DDR sind die Sorgen um den Frieden, die Hoffnungen, ihn zu erhalten, keine anderen als bei uns.
Deshalb erwarten unsere Mitbürger auch von dieser Debatte Auskunft darüber, was wir tun wollen, um den Frieden im geteilten Deutschland, d. h. im geteilten Europa und d. h. damit auch in der ganzen Welt, zu sichern.Der 17. Juni 1953 ist der Tag der einen deutschen Nation, die unteilbar ist. Die fortbestehende Teilung, die fortbestehende Forderung nach Selbstbestimmung und Menschenrechten für alle Deutschen und die fortbestehenden Gefahren für den Weltfrieden lassen es nicht zu, diesen Tag nur der Rückbesinnung zu widmen. Gerade in schwieriger Zeit muß alles unternommen werden, um das für den Zusammenhalt der Nation Erreichte zu bewahren und
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Bundesminister Genscherauch nachzusuchen, ob es Möglichkeiten gibt, neue Schritte für die geteilte Nation zu tun.
Meine Damen und Heren, aktives Handeln ist jetzt gefordert für die Sicherung des Friedens in Europa, der untrennbar verbunden ist mit dem Frieden in der Welt. Aktives Handeln ist gefordert für die Überwindung der Teilung, für die Stärkung der Bindungen zwischen den Deutschen in West und Ost. Jedes dieser Ziele ist, wie der Brief zur deutschen Einheit dokumentiert, eingebettet in unsere Entspannungspolitik. Deshalb kann keines dieser Ziele als gegen die Ziele der Entspannung gerichtet denunziert werden. Das gilt auch für das Gedenken an den 17. Juni 1953.Wenn es richtig ist, daß wir als Deutsche — und das ist unser gemeinsames Ziel — auf eine Zustand des Friedens in Europa hinwirken wollen, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung über seine Einheit entscheiden kann, dann ist Friedenspolitik im umfassendsten Sinne das Thema des heutigen Tages, dann war es richtig, daß der Bundeskanzler über eine wichtige Konferenz der Europäischen Gemeinschaft berichtet hat, in der neue Voraussetzungen für die politische Handlungsfähigkeit des geeinten Europa geschaffen worden sind,
dann war es notwendig, daß er eine Vorschau auf die Zusammenkunft der sieben wichtigsten Industrienationen dieser Welt gegeben hat, bei der eben nicht nur wirtschaftliche, sondern politische Probleme besprochen werden sollen, denn Friedenssicherung in der Welt ist auch ein Beitrag zur Überwindung der Probleme, die unsere Nation drücken, und dann ist über die bevorstehende Ministertagung der NATO in Ankara zu sprechen, wo wiederum Voraussetzungen unserer Sicherheit und unserer Verteidigung, der Abrüstung und der Rüstungskontrollpolitik zu erörtern sind.Keines der Ziele, die uns, der Bundesrepublik Deutschland, gestellt sind, können wir allein erreichen. Unsere Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft und zum westlichen Verteidigungsbündnis sind unverzichtbar für jede realistische Politik der Entspannung und des Ausgleichs und unverzichtbar für unsere Sicherheit. Ohne die Europäische Gemeinschaft, ohne das westliche Bündnis, ohne die deutsch-amerikanische Freundschaft gibt es in Europa weder politisch noch militärisch Gleichgewicht und ohne dieses Gleichgewicht wiederum weder Entspannung noch Sicherheit.Dabei müssen wir uns immer bewußt sein — auch das muß am 17. Juni gesagt werden —, daß alle Fortschritte im geteilten Deutschland nur mit unseren Partnern und mit unseren Verbündeten möglich waren und möglich sein werden.
Es war vor wenigen Tagen, im Mai dieses Jahres, daß wir zum 25. Mal den Jahrestag des Inkrafttretens des Deutschlandvertrags begangen haben. In diesem Vertrag identifizieren sich die drei Mächte — die Vereinigten Staaten, Frankreich und das Vereinigte Königreich — mit den Zielen unserer Deutschlandpolitik, und sie bekennen sich zu ihren Verantwortlichkeiten. Zahlreiche Dokumente des Bündnisses aus der folgenden Zeit unsterstützen genau diese Aufgabe.Wir haben im Bewußtsein dieser Einbettung unserer nationalen Ziele in die Politik unserer Partner in der Europäischen Gemeinschaft und im westlichen Bündnis zu entscheiden, welche Schritte wir in Zukunft im geteilten Land tun wollen.Wir müssen an einem solchen Tag wie dem 17. Juni die Frage beantworten, ob die Entspannungspolitik, wie sie im letzten Jahrzehnt eingeleitet wurde, eine richtige Entscheidung war. Da können wir heute mit Blick auf mehr als ein Jahrzehnt sozialliberaler Entspannungspolitik sagen: Wir bejahen diese Frage uneingeschränkt.
Die Entspannungspolitik hat einen wesentlichen Beitrag zum Abbau der Konfliktursachen in Europa, zur Eingrenzung von Konflikten und auch zur Stärkung der West-Ost-Bindungen geleistet. Die Vertragspolitik der Bundesrepublik Deutschland, das Viermächteabkommen für Berlin, die Schlußakte von Helsinki, der Grundlagenvertrag — der eigentlich heute ein zentrales Thema in seinen Möglichkeiten für unser Land sein sollte — sind sichtbare Belege dafür, daß hier Wichtiges und Tragfähiges erreicht werden konnte.
Wenn wir das sagen, wissen wir auch: Es würde nirgendwo in der Welt ein Konflikt seiner Lösung dadurch nähergebracht, daß wir von uns aus hier in Zentraleuropa mutwillig den Kalten Krieg neu in Gang setzen würden.
Wer dieser Aussage zustimmt, möge das doch hier bekunden. Ich sage doch gar nicht, daß Sie das nicht wollen.
Die Entspannungspolitik auf diesem Kontinent wird nur dann eine dauerhafte Grundlage haben, wenn sich auch in anderen Teilen der Welt der Wille zum friedlichen Interessenausgleich bewährt. Das verstehen wir unter der bedeutsamen Feststellung in der deutsch-sowjetischen Deklaration vom 6. Mai 1978, wo von der Respektierung der Unteilbarkeit des Friedens und der Sicherheit in allen Teilen der Welt gesprochen worden ist. Das ist die Einführung des Grundsatzes der Unteilbarkeit der Entspannungspolitik in das West-Ost-Verhältnis.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
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Bundesminister GenscherDiese Erklärung ist von ähnlich großem Gewicht wie die Vorstellung von der gleichen Sicherheit, davon, daß niemand militärische Überlegenheit anstreben dürfe.
Nun geht es darum, daß wir uns von diesen Grundsätzen aus darum bemühen, das, soweit wir es in Europa erreicht haben, auch für andere Teile der Welt zu verwirklichen.
Meine Damen und Herren, wenn wir den Frieden in Europa bewahren, schaffen wir auch die Voraussetzungen dafür, daß wir unsere Beiträge leisten können zur friedlichen Konfliktlösung in anderen Teilen der Welt. Dabei ist doch ganz unbestreitbar, daß bis zur Stunde die Krise, die weltweit vorhanden ist, eben nicht hier auf Zentraleuropa, auf das deutsch-deutsche Verhältnis durchgeschlagen hat. Das ist doch ein Indiz für die Tragfähigkeit der geschaffenen Vereinbarungen und spricht nicht gegen sie.
Wenn das so ist, dann ist das eine Aufforderung an die politisch Handelnden in diesem Lande, auf diesem Wege fortzufahren, neue tragfähige Vereinbarungen für neue Teilbereiche zu schaffen, damit das Netz dichter wird, das wenigstens in diesem kleinen Teil der Welt in einem geteilten Land ein Stück von Zusammenarbeit bewahren kann, auch wenn es draußen stürmisch ist.
Verträge und Vereinbarungen im Rahmen der Entspannungspolitik sind — das zeigt sich in dieser Zeit — eben nicht einseitige Vorleistungen der einen Seite an die andere, sondern sie sind ausgewogene Vertragswerke, an deren Fortbestehen auch in kritischer Zeit beide Seiten ihr Interesse haben.
Deshalb müssen wir das mit Zähnen und Klauen verteidigen, was durch die Entspannungspolitik erreicht wurde. Deshalb wollen wir alles tun, um die Voraussetzungen für weitere Fortschritte zu schaffen.Wir dürfen nie vergessen, daß kein Volk mehr unter dem Rückfall in den Kalten Krieg zu leiden hätte als das deutsche Volk. Europa, das in der Vergangenheit so oft Ausgangspunkt und Schauplatz blutiger Kriege war, dieses Europa muß durch eine Politik aktiver Friedenssicherung den Weg hier bewahren und friedliche Lösungen in anderen Teilen der Welt fördern. Den Frieden zu bewahren und zu sichern, das bedeutet für uns zunächst einmal, das zu sichern, was bis heute für den Zusammenhalt der Nation erreicht werden konnte. Das bedeutet, meine Damen und Herren, daß wir im westlichen Bündnis unsere Beiträge leisten für die Sicherheit Europas, für die Sicherheit der Mitgliedstaaten dieses Bündnisses, daß wir zusammen mit unseren Bündnispartnern, daß wir zusammen mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft alles tun, damit wir auch Konflikte in anderen Teilen der Welt überwinden können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb war diese Zusammenkunft des Europäischen Rats, die vor wenigen Tagen in Venedig zu Ende gegangen ist, von so großer Bedeutung. Dieser Europäische Rat hat sich mit dem schwerwiegenden Problem für die internationale Sicherheit und für die Entspannungspolitik befaßt, das sich aus der sowjetischen Intervention in Afghanistan ergibt. In der Erklärung des Europäischen Rats heißt es:Der Europäische Rat hat mit tiefer Beunruhigung die Verstärkung der Militäroperationen der sowjetischen Truppen in Afghanistan zur Kenntnis genommen. Diese dramatischen Ereignisse erhöhen noch die Leiden der afghanischen Bevölkerung. Sie verdeutlichen den wahrhaft nationalen Charakter des Widerstands eines ganzen Volkes. Sie drohen das Klima der internationalen Beziehungen auf die Dauer zu gefährden.Aber der Europäische Rat hat sich eben nicht darauf beschränkt, das zu statuieren, zu kritisieren, anzuklagen, sondern er hat noch einmal seine Vorstellungen unterstrichen, daß wir mitwirken wollen an einem unabhängigen, an einem blockfreien Status für Afghanistan.Was noch bedeutsamer ist: Der Europäische Rat hat sich hinter die Schlußfolgerungen der Außenministerkonferenz der islamischen Staaten gestellt, die von sich aus und in Übereinstimmung mit unseren Zielen, in Übereinstimmung mit den Zielen von 104 Staaten in den Vereinten Nationen auf einen Rückzug der sowjetischen Truppen hinwirken wollen.Die Bundesregierung hat im Deutschen Bundestag von Anfang an die Auffassung vertreten, daß wir aus der sowjetischen Intervention in Afghanistan nicht künstlich nur ein West-Ost-Problem machen dürfen, sondern daß wir den schwerwiegenden OstSüd-Charakter dieses Konflikts erkennen müssen. Hier sind blockfreie Staaten, hier sind die islamischen Staaten, die sich bemühen, diese schwerwiegende Krise durch einen aktiven Friedenssicherungsbeitrag zu überwinden. Sie verdienen unsere Unterstützung. Je größer die Unterstützung für diese Aussage im Deutschen Bundestag ist, um so größer wird auch das Gewicht der Unterstützung der Bundesregierung für diese friedliche Überwindung einer schwerwiegenden internationalen Krise sein.
Gerade weil der Europäische Rat durch eine aktive politische Entscheidung für die uns doch alle bedrückende Krise, die von Afghanistan ausgeht, seinen Beitrag leistet und auch zukünftig leisten will, finde ich, daß es nicht gerechtfertigt ist, die Europäische Gemeinschaft der Handlungsunfähigkeit zu zeihen. Meine Damen und Herren, was auf dieser Welt ist frei von Problemen? Aber über den Problemen, die wir in der Europäischen Gemeinschaft
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17958 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Bundesminister Genscherhaben, wollen wir nicht vergessen, daß diese Europäische Gemeinschaft mehr und mehr auch zu einem Instrument gemeinsamen außenpolitischen Handelns aller europäischen Partnerstaaten geworden ist.
Das ist etwas, was wir als Deutsche in besonderer Weise immer wieder feststellen müssen. Denn wie hätten wir eigentlich unsere Bemühungen um Entspannung, um Erleichterung der Lage in Deutschland durchführen wollen, wenn wir uns nicht in jeder Phase auch auf eine übereinstimmende Auffassung der europäischen Staaten über Notwendigkeit, Weg und Ziele unserer Politik der Entspannung und des Ausgleichs hätten stützen können? Deshalb mußten wir keine Schritte allein und isoliert tun, deshalb konnten wir sie tun eingebettet in die Europäische Gemeinschaft, eingebettet in das westliche Verteidigungsbündnis. Damit waren wir auch der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten von Amerika sicher.Das gleiche gilt für die Bemühungen des Europäischen Rates, einen Beitrag der Europäer für eine Lösung der schwerwiegenden Krise im Nahen Osten zu leisten. Der Nahe Osten ist für uns als Europäer keine ferne Region. Der Nahe Osten ist ein benachbartes Gebiet, und man kann mit guten Gründen feststellen, daß der Frieden im Nahen Osten auch unser Frieden ist.Für uns als Deutsche wird bei allen Diskussionen über die Lösung der Nahostfrage unser Verhältnis zu Israel immer einen besonderen Stellenwert haben. Aus unserer Verantwortung für Friedenssicherung überall in der Welt heraus haben wir zusammen mit unseren europäischen Partnern durch die Beschlußfassung des Europäischen Rates Vorschläge unterbreitet, die nach unserer Überzeugung das Recht Israels, in sicheren Grenzen zu leben, und zugleich die Erfüllung des Selbstbestimmungrechts auch des palästinensischen Volkes gewährleisten können.Herr Kollege Kohl hat an die Bundesregierung die Frage gestellt, wie der Satz von den internationalen Garantien zu verstehen sei. Er hat gefragt, ob es denn etwa Ziel der Bundesregierung sei, deutsche Soldaten zur Friedenssicherung im Nahen Osten einzusetzen. Diese Frage kann und muß uneingeschränkt mit Nein beantwortet werden. Das ist nicht unser Ziel.
— Ich möchte zunächst gern die amtliche Übersetzung des Dokuments vorlesen, Herr Kollege Kohl, weil sie etwas von dem Zitat abweicht, das Sie offensichtlich aus einer vorläufigen Übersetzung genommen haben:Die Neun erklären sich bereit, sich im Rahmen einer umfassenden Regelung an einem System konkreter und bindender internationaler Garantien einschließlich solcher an Ort und Stelle zu beteiligen.Diese internationalen Garantien sind keine Erfindung der letzten Sitzung des Europäischen Rates, sondern diese internationalen Garantien finden Sie schon in der Entschließung des Weltsicherheitsrates Nr. 242. Nun ist es ganz offenkundig, daß sich die Bundesrepublik Deutschland nicht nur hier zukünftig beteiligen will, sondern auch in der Vergangenheit an einer Fülle friedenssichernder Aktionen der Vereinten Nationen beteiligt hat, und das hat nicht bedeutet, daß dort an Ort und Stelle deutsche Soldaten eingesetzt werden, sondern daß wir z. B. mit finanziellen Mitteln in schwierigen Krisenzonen dieser Welt friedenssichernde Maßnahmen, Kontrollmaßnahmen, vertrauensbildende Maßnahmen ermöglicht haben.
Das war nicht nur unser Recht, das war unsere Pflicht, und diese Pflicht müssen wir auch im Nahen Osten erfüllen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kohl?
Bitte sehr.
Herr Bundesaußenminister, der Satz heißt: „Die Neun erklären, daß sie bereit sind, sich im Rahmen einer umfassenden Lösung an einem System konkreter und bindender internationaler Garantien, einschließlich solcher zu Lande," — Sie interpretieren jetzt statt „einschließlich solcher zu Lande" in „an Ort und Stelle" — „zu beteiligen.'' Meine erste Frage ist, ob Sie es nicht für sinnvoll gefunden hätten, wenn der Regierungschef bei dieser Regierungserklärung über diesen Sachverhalt und diesen etwas ungewöhnlichen Vorschlag gesprochen hätte. Zweitens frage ich Sie, Herr Bundesaußenminister, warum Sie sich im Rahmen der Neun bereit erklärt haben, wenn Sie sich jetzt wiederum — ich bin mit Ihrer Erklärung ansonsten sehr einverstanden — von dieser Erklärung absentieren? Das verstehe ich nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schwer zu verstehen, wie sich jemand von dieser Erklärung absentiert, wenn er die verschiedenen Möglichkeiten der Teilnahme an friedenssichernden Aktionen, in diesem Fall an internationalen Garantien, darstellt. Ich darf es noch einmal sagen: Als Mitglied der Vereinten Nationen haben wir durch unsere Finanzbeiträge und in anderer Weise zu einer Reihe von friedenssichernden Maßnahmen der Vereinten Nationen beigetragen, ohne daß deshalb je ein deutscher Soldat in einer solchen Region erscheinen mußte. Das wird auch in Zukunft so sein.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17959
Bundesminister GenscherIch kann aber nicht ausschließen, daß es einzelne Staaten der Neun gibt, die auf Grund ihrer völlig anderen internationalen Position bereit sind, sich sehr wohl auch mit Soldaten an solchen Aktionen zu beteiligen. Schon bei der ersten Debatte nach der Afghanistanintervention haben wir hier im Bundestag unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsteilung im Bündnis über die verschiedenen Möglichkeiten der Mithilfe der Staaten des westlichen Bündnisses gesprochen, und in bezug auf eine Erklärung des Europäischen Rates bedurfte es hier nun wahrlich nicht einer Erläuterung durch den Bundeskanzler. Dieser hätte es bedurft, wenn eine solche Erklärung vom westlichen Bündnis abgegeben worden wäre. Aber die Europäische Gemeinschaft ist kein Verteidigungsbündnis, kein Militärbündnis. Sie ist eine politische und wirtschaftliche Gemeinschaft, und wenn sie als Ganzes handelt, handelt sie immer nur politisch und wirtschaftlich.
Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Frage?.
Bitte sehr.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben die Sache jetzt sehr wortreich erneut umschrieben.
Wenn, Herr Bundesaußenminister, es zutrifft, daß die Neun nicht zuständig sind, wie Sie es soeben gesagt haben, warum haben Sie es dann hineingeschrieben?
Herr Kollege Kohl, ich denke, alle, die mir zugehört haben, wissen, ich habe nicht gesagt, wir seien nicht zuständig. Aber möglicherweise beruhen Ihr Mißverständnis und Ihr Irrtum darauf, daß Sie, wenn Sie über Sicherheit sprechen, überhaupt nur in militärischen Kategorien und nicht auch in politischen und ökonomischen Kategorien denken können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir unseren Beitrag zur Beseitigung der Konfliktherde in dieser Welt in dem Bewußtsein leisten wollen, daß der Frieden in Europa und in der Welt unteilbar ist und daß damit auch die Entspannungspolitik unteilbar ist, dann leisten wir damit auch einen Beitrag zur Herstellung eines Zustandes des Friedens in Europa, in dem wir hoffen eines Tages als Deutsche unser Recht auf Selbstbestimmung insgesamt ausüben zu können. Deshalb sind alle Aspekte der internationalen Politik, der Friedenssicherung ein Thema für den 17. Juni und für eine Aussprache über die Möglichkeiten deutscher Politik zur Lösung der deutschen Frage und zur Minderung der Not in der Zeit der Teilung.In eine solche Betrachtung gehört auch die Erörterung der Möglichkeit, wie wir als Deutsche über die aktuellen Krisenherde Naher Osten, Iran, Afghanistan und südliches Afrika hinaus zu einer Stabilisierung in der Dritten Welt beitragen können.Hier würde der Westen einen Fehler machen, wenn er eine sowjetische Politik, die auf Machtausdehnung gerichtet ist, mit einer spiegelbildlichen Politik beantworten würde. Nein, wir als westliche Demokratien sollten in der Dritten Welt Partner für eine Politik der Unabhängigkeit und der Selbständigkeit der Staaten der Dritten Welt sein. Wir sollten durch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu politischer Stabilität in diesen Staaten beitragen, ihnen die Möglichkeit geben, daß sie ihre eigene Identität verwirklichen können. Je mehr sie das tun können, um so mehr werden sie auch immun werden gegen Vorstellungen und politische Bemühungen, die Abhängigkeiten in neuer Form schaffen wollen. Deshalb ist unsere Politik gegenüber der Dritten Welt nicht nur eine Politik aus moralischer Verantwortung, sie ist auch weltweite Friedenspolitik, weltweite Politik der Friedenssicherung.Wir als westliche Staaten müssen dabei noch mehr die Rolle der Blockfreien-Bewegung sehen, die sich nach der Überwindung der kolonialen Phase mehr und mehr darauf besinnt,
daß die Behauptung und Sicherung ihrer Unabhängigkeit von entscheidender Bedeutung für den Weltfrieden ist. — Hier ruft jemand „Fidel Castro!". Meine Damen und Herren, ich hätte mir gewünscht, daß wir alle noch viel stärker die Rolle hervorgehoben hätten, die der verstorbene jugoslawische Präsident Tito auf der letzten Gipfelkonferenz der Blockfreien in Havanna gespielt hat, als er den unabhängigen Charakter der Bewegung der Blockfreien gegen Kräfte verteidigte, die aus der Bewegung einen natürlichen Partner der Sowjetunion machen wollen.
Aber wir können nur dann ein glaubwürdiger Partner dieser Länder sein, wenn wir nicht jeden, der sich nicht sofort lauthals zu unseren gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen bekennt, schon als einen fellow traveller der Sowjetunion und der anderen kommunistischen Länder verdächtigen.
Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir, daß wir hier im Deutschen Bundestag endlich auch hinsichtlich unserer Politik gegenüber der Dritten Welt zu einer Übereinstimmung kommen. Der Bundesregierung wird vorgeworfen, sie unterstütze pro-sowjetische terroristische Befreiungsbewegungen überall in der Welt.
Es wird kritisiert, daß der Generalsekretär des ANC, einer Befreiungsbewegung aus Südafrika, die hier natürlich als kommunistische Terrororganisation bezeichnet wird, im Auswärtigen Amt empfangen worden ist. Meine Damen und Herren, dieselben Bezeichnungen haben wir für Robert Mugabe gehört,
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17960 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Bundesminister Genscherder heute nach freien Wahlen Ministerpräsident in Zimbabwe ist
und mit dessen Land wir uns um gute, vernünftige und friedenssichernde Beziehungen bemühen!
Ich habe manchmal das Gefühl, daß Vorurteile des Westens, daß Zurückweisungen von Leuten, die eine neue Orientierung suchen, mehr dazu beitragen, daß Bewegungen in der Dritten Welt sich an die Sowjetunion anlehnen, als der ursprüngliche Wille dieser Kräfte, die für ihre nationale Unabhängigkeit kämpfen und eintreten.
So, meine Damen und Herren, ist es notwendig, daß wir in allen Bereichen unserer Politik, in der Entspannungspolitik, in der Sicherheitspolitik, in unserer Dritte-Welt-Politik, in enger Übereinstimmung mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und im westlichen Verteidigungsbündnis handeln.In dieser engen Übereinstimmung und im Bewußtsein der gemeinsam getroffenen Entscheidungen werden wir auch bei dem Besuch in Moskau in einer schwierigen internationalen Situation die Möglichkeiten, unseren Beitrag zur Sicherung des Friedens zu leisten, und damit auch die Möglichkeiten für neue konstruktive Schritte in der deutschen Frage und zwischen den beiden deutschen Staaten zu nutzen suchen.Weil diese Bundesrepublik Deutschland alle wichtigen Entscheidungen des westlichen Verteidigungsbündnisses vom Tage ihres Beitritts an bis in die jüngste Zeite hinein — ich erwähne hier nur den Doppelbeschluß über Nachrüstung und Verhandlungsangebot — mitgetragen hat, muß niemand bei uns und anderswo besorgt sein, daß der Bundeskanzler und ich nicht diese Positionen des Bündnisses mit Klarheit und Festigkeit vertreten werden. Es ist aber notwendig, im Gespräch mit der anderen Seite darauf zu dringen, daß nun endlich ohne Vorbedingungen Verhandlungen über die Mittelstrekkenwaffen aufgenommen werden, damit die Welt nicht in einen neuen Rüstungswettlauf gestürzt wird. Und da sind wir noch immer der Meinung, daß Gespräche von Mann zu Mann besser und wirkungsvoller sind als Erklärungen über Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen.
Verzeihen Sie, Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Sehr gern, natürlich.
Herr Bundesminister, heißt diese Zusicherung, daß Sie bei Ihren Gesprächen in Moskau in keiner Form — ich wiederhole: in keiner Form — auf die Vorstellungen der Sowjetunion bezüglich einer Festschreibung des
Ungleichgewichts in Europa im nuklearen und im konventionellen Bereich eingehen werden?
Ja.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Friedenssicherung in Europa und in der Welt bedeutet, daß wir uns auf der Grundlage des westlichen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft um weitere Schritte in der Entspannung, um Fortschritte bei Rüstungskontrolle und Abrüstung bemühen. Das gilt nicht nur für den Bereich der Mittelstrekkenwaffen; das gilt genauso für die Vorbereitung der KSZE-Folgekonferenz in Madrid, und das gilt für die Notwendigkeit, eine europäische Abrüstungskonferenz einzusetzen, damit wir über den Geltungsbereich der jetzt vereinbarten Maßnahmen hinaus in ganz Europa, d. h. bis zum Ural, vertrauensbildende Maßnahmen schaffen können. Denn Mißtrauen ist der Feind jeder Verständigung. Deshalb ist Vertrauensbildung, und zwar durch konkrete Maßnahmen, ein entscheidender Schritt zum Abbau des Mißtrauens.
— Herr Kollege Damm, ich habe mir in meiner Politik noch immer das Ziel gesetzt, die Vorstellungen, die wir für richtig halten, durchzusetzen. Da weiß ich auch, daß ich dazu auch die andere Seite brauche! Aber ich bin nicht bereit, schon in der Erwartung, die andere Seite werde einen Vorschlag ablehnen, in Inaktivität und Passivität zu verharren. Das ist das Ende jeder Außenpolitik.
Wir sind der Meinung, daß wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um auch in diesem Bereich Fortschritte erzielen zu können.So gehört eines zum anderen: das Bemühen um neue und weitere Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, das Bemühen um Fortsetzung des KSZE-Prozesses, das Bemühen um Rüstungskontrolle und Abrüstung, unsere Entschlossenheit, durch die notwendigen Anstrengungen das Gleichgewicht im Bereich der Verteidigung zu sichern und die Überlegenheit der anderen Seite nicht zu akzeptieren, auch der Wille, im Bewußtsein der Unteilbarkeit der Entspannungspolitik zur Überwindung von Krisenherden in anderen Teilen der Welt beizutragen. Das alles sind Beiträge für die Bewahrung und Sicherung des Friedens in Europa. Es sind Schritte hin auf einen Zustand des Friedens in Europa, von dem wir wollen, von dem wir wünschen, daß er unserem Volk die Möglichkeit gibt, in freier Selbstbestimmung über seine Einheit, d. h. über sein Schicksal als Nation zu entscheiden.Das alles steht auf der Tagesordnung und muß an einem 17. Juni auf der Tagesordnung stehen. Hier haben Regierung und Fraktionen ihre Ziele, ihre Beiträge zur Erreichung des gemeinsamen Zieles dieses Friedenszustandes in Europa darzulegen. Hier haben wir die Fragen zu beantworten, die
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17961
Bundesminister GenscherDeutsche in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR an uns stellen in bezug auf die Sicherung des Friedens, die Überwindung der Teilung und die konkreten Schritte, um die Menschen in der Zeit näherzubringen, in der die Teilung noch nicht überwunden werden kann. Wenn wir darauf konkrete Antworten geben, wenn wir in den Bürgern hier und drüben die Überzeugung bekräftigen, daß wir uns mit allen Kräften darum bemühen, diesem Ziele näherzukommen, dann erfüllen wir die Verplichtung, die uns diejenigen aufgeben, die am 17. Juni 1953 für Freiheit und für Einheit aufgestanden sind. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Bahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni ist ein Tag für die Geschichtsbücher geworden. Man muß sich bewußt machen: ein damals Zehnjähriger ist heute 37 Jahre alt, ein damals 15jähriger ist heute 42 Jahre alt. Das bedeutet, bewußt miterlebt und in der persönlichen Erinnerung gespeichert haben diesen Tag und seine Ereignisse allenfalls jene Bürger, die sich heute auf die 50 zubewegen oder älter sind. Es bedeutet auf der anderen Seite, daß der 17. Juni für mehr als die Hälfte unserer Bevölkerung, persönlich erfahren, im allgemeinen ein schul- und arbeitsfreier Tag bei hoffentlich schönem Wetter ist.Ich will nicht erneut über den richtigen Nationalfeiertag für uns diskutieren, sondern ich möchte auf das positive Mögliche dieser Bewußtseinslage hinweisen. Der Prozeß der Entspannung und die von uns beharrlich verfolgte Politik haben dazu geführt, daß anläßlich des 17. Juni besinnliche Sachlichkeit möglich geworden ist. Wir haben gelernt, daß man durch beharrliches Handeln, und das heißt in diesem Falle Verhandeln, Realitäten verändern oder sie für die Menschen erträglicher machen kann. Es gibt gute Aussichten dafür, daß diejenigen, die 1953 15 Jahre alt waren, an der Geschichte des 17. Juni und aller 17. Juni erkennen, was der Handlungsspielraum und der nationale Auftrag der Deutschen ist und unter den gegebenen Machtkonstellationen sein kann. Angesichts der deutschen Geschichte ist auch das einen Feiertag wert.Wir haben heute früh von Herrn Dr. Kohl schöne Worte über den 17. Juni 1953 gehört. Wir haben gehört, was Arbeiter erklärt haben, als sie die Arbeit niederlegten und den Streik begannen. Wir haben gehört, daß damit Kredit angesammelt worden ist — aber drüben, von denen, die es getan haben. Zur Geschichte gehört natürlich auch der Blick zurück auf das, was an diesem Tage hier in Bonn geschah. Die damalige Bundesregierung schätzte die Lage völlig falsch ein. Adenauer meinte zu dem Zug der Arbeiter, es handele sich um eine sowjetische Provokation. Am Abend des 17. Juni erklärte er, die Bundesregierung hoffe, daß sich die Menschen in der Zone nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen ließen, die ihr Leben und ihre Freiheit gefährden könnten.Im Rückblick ergibt sich heute klarer als damals: Erstens: Die nach dem Kriege entstandene Lage in Mitteleuropa ist nicht durch Aufstände und Gewaltanwendung von innen zu ändern. Zweitens: Selbst im Falle solcher Entwicklungen bleibt der Westen untätig und greift im höheren Interesse des Friedens nicht ein. Die SPD hat damals die Konsequenz daraus gezogen, daß man verhandeln müsse, daß weder Kalter Krieg noch Politik der Stärke eine Perspektive bieten.Die Konsequenzen für die Bundesrepublik zog der Deutsche Bundestag am 1. Juli 1953. Es war die letzte außenpolitische Debatte am Ende der ersten Legislaturperiode. Sie wurde von den Sozialdemokraten unter dem Gesichtspunkt geführt — ich zitiere —,daß der Aufstand der deutschen Arbeiter imOsten auch ein Appell an den Westen ... war,. die Trägheit des Herzens zu überwinden und etwas zu wagen — auch Initiativen, von denen nicht von Anfang an sicher ist, daß sie den gewünschten Erfolg bringen werden ... Denn wenn man sie nicht wagen sollte, dann fürchte ich, daß sich die Verhältnisse so verhärten werden, daß letzten Endes ... nichts anderes zuwege kommen wird als eine Versteinerung des Status quo.Diese Voraussage Carlo Schmids ist eingetroffen; wir sagen das mit Bitterkeit.Die heutigen Ausführungen, Herr Dr. Kohl, von Ihnen haben gezeigt, daß Sie seither im Prinzip nicht anders geworden sind.
Statt ernsthaft über Möglichkeiten zu beraten, flüchten Sie in große Worte und Wahlkampfknüller.
Damals gab es einen Antrag der Sozialdemokratischen Partei, sofort Viermächteverhandlungen zu fordern. Das wurde abgelehnt. Diese Verhandlungen hätten ja den Wahlkampf stören können.
Der damalige Bundeskanzler erklärte — ich zitiere —, man habe den Ruf gehört, „damit Brüder und Brüder und Schwestern und Schwestern nach Jahren der Trennung wieder zusammenkommen und das deutsche Haus gemeinsam bauen können". Viele der Brüder und Schwestern mögen ihre Zuversicht auch aus den Ausführungen des damaligen Bundeskanzlers entnommen haben, der wörtlich erklärte:Unsere Pläne für die Zeit nach der Wiedervereinigung sind fertiggestellt. Besondere Arbeitsausschüsse haben Sofortmaßnahmen für den Tag der Wiedervereinigung vorbereitet. Es sind Vorarbeiten geleistet für die Versorgung mit Lebensmitteln, Kohle, Eisen, Stahl und Energie. Ferner sind die notwendigen Maßnahmen auf den Gebieten des Arbeitsmarktes, der Währung, der sozialen Versorgung und des Verkehrs festgelegt worden.
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17962 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
BahrWie können wir in diesem entscheidenden Stadium auf den Rat und die Mitwirkung der Deutschen in Ost und West und der sowjetisch besetzten Zone verzichten? Es wäre zu begrüßen, wenn der neue Bundestag sich entschlösse, ihre berufenen Vertreter in dieses Haus aufzunehmen. Sie sollen und müssen teilnehmen an unserer Arbeit bis zu dem Tage, an dem ganz Deutschland frei eine Nationalversammlung wählt.Meine Damen und Herren, es ist schlimm, wenn man dies heute liest
— Doch! — Das Positivste, was sich über diese Politik sagen läßt, ist, daß Ihre Erwartungen und Hoffnungen total zusammengebrochen sind.
Der Kollege Wehner hat damals in derselben Debatte erklärt — ich zitiere —:Heute kann man weniger denn je mit Entschließungen, mit Bekundungen und symbolischen Gesten etwas erreichen.
Es kommt geschichtlich auf konkrete Schritte an. Diese sind uns als Verpflichtung durch den Freiheitskampf der Arbeiter auferlegt.Bekundungen, Entschließungen und symbolische Gesten — das war damals kennzeichnend für die Union; es ist es geblieben.
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. — Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Kollege Bahr, da die jetzige Bundesregierung sagt, daß Entspannungs- und Friedenspolitik nur auf der Basis unserer Einbindung in das westliche Bündnis möglich ist, frage sich Sie: Warum erwähnen Sie nicht die Tatsache, daß der gesamte Streit damals darum ging, ob wir diesem Bündnis beitreten sollten, und daß die SPD diesen Schritt damals nicht gewollt hat?
Herr Mertes, ich kann Ihnen darauf nur antworten,
daß wir heute sehen, wie unangenehm es Ihnen ist, wenn man Adenauer aus dem Jahre 1953 zitiert.
Herr Dr. Kohl, Sie haben heute morgen von der Begegnung mit einem unserer Landsleute drübenberichtet, der Ihnen gesagt hat: Auch wir sind gute Deutsche; Sie sollen das nicht vergessen.
Ich darf einen Punkt weitergehen: Wenn Sie dieses Erlebnis jetzt hatten, so heißt das doch neben allem anderen auch: Das, was Sie vor elf Jahren befürchtet haben, nämlich daß unsere Politik das nationale Bewußtsein zerstören würde, ist nicht eingetroffen.
Sie fordern die Verwirklichung der Menschenrechte — heute wie damals.
Sie erklären diese Forderung zur nationalen Pflicht. Aber heute wie damals ist das zu wenig. Es ist auch zum Schaden der Nation, wegen des Absoluten das Mögliche zu versäumen. Es gibt ein nationales Pathos, hinter dem sich nationales Versagen verbirgt.
Meine Damen und Herren, in jener Debatte vom 1. Juli 1953 ist übrigens von der SPD der Antrag eingebracht worden, den 17. Juni zum deutschen Nationalfeiertag zu machen.
Die CDU wollte sich mit einem nationalen Gedenktag begnügen. Wenn der heutige Bundeskanzler solche Überlegungen geäußert hat, dann hat die CDU ihm Mangel an Nationalbewußtsein und Würde vorgeworfen. Aber das liegt wohl nur daran, daß die Unionsparteien ihre deutschlandpolitische Haltung in den ersten Jahren der Bundesrepublik heute verdrängen. Der 17. Juni war Ihnen damals, meine Her- ren von der Opposition, als er passierte, überhaupt nicht so wichtig.
— Nicht unglaublich, Sie werden es gleich hören. — Damals, also 1953, haben CDU und CSU noch ein gemeinsames politisches Jahrbuch herausgegeben; das gab es damals noch. Der damalige Vorsitzende der CDU, Konrad Adenauer, und der damalige Vorsitzende der CSU, Dr. Erhard, haben für das Jahrbuch des Jahres 1953 Geleitworte geschrieben. Wer glaubt, daß in diesen Geleitworten der 17. Juni auch nur erwähnt wird, irrt.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17963
Bahr„Jahr der Entscheidungen hat der damalige Bundeskanzler seinen Artikel überschrieben. Aber mit diesen „Entscheidungen sind nur die Bundestagswahlen gemeint gewesen. Da ist viel die Rede von Europa, der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die später nicht zustande gekommen ist, der Politischen Gemeinschaft, die später nicht zustande gekommen ist. Aber von einer vordringlichen Aufgabe der Wiedervereinigung wird da nicht gesprochen. Lesen Sie es nach! Die Ereignisse des 16. und 17. Juni werden wie der Sturz Berijas erwähnt, als Zeichen dafür, daß die Sowjetunion ihre Absicht nicht aufgegeben hat, Europa auf dem Weg des Kalten Krieges zu beherrschen. Allein Jakob Kaiser, der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, formulierte in seinem Beitrag zwei Sätze über den 17. Juni. Je länger der 17. Juni zurückliegt, um so größer wird er für die CDU und CSU.„Irreführung und Selbsttäuschung — so, meine Damen und Herren, hat Gustav Heinemann die verfehlte Deutschlandpolitik der Union überschrieben.
Heute ist der Tag Mahnung an versäumte Möglichkeiten, aber auch Mahnung, völlig veränderte Möglichkeiten nicht abermals durch wirklichkeitsfremde Forderungen zu versäumen.
Die Politik der sozialliberalen Koalition ist von allem Anfang an darauf gerichtet gewesen, die Deutsche Demokratische Republik aus den Bemühungen, in Europa den Frieden sicherer zu machen, nicht auszuklammern. Man kann nicht gegen die Wirklichkeit handeln.Es hat sogar eine Zeit gegeben, in der die Opposition das anerkannt hat. Der erste Vertrag völkerrechtlichen Charakters ist der Verkehrsvertrag gewesen. Darin haben sich bereits beide Staaten als Staaten bezeichnet,
sogar als voneinander unabhängige Staaten. Der Vertrag ist von den Beauftragten beider Staaten unterzeichnet worden. Er hat die Zustimmung des Deutschen Bundestages gefunden, sogar mehrheitlich die Zustimmung der CDU/CSU. Er ist der einzige Vertrag geblieben, dem die Opposition zugestimmt hat, übrigens vor den Wahlen des Jahres 1972. Jedenfalls sollte es nicht vergessen werden, daß CDU und CSU einem völkerrechtlichen Vertrag mit der DDR zugestimmt haben, in dem mehrfach die Staatseigenschaft der DDR niedergelegt war, bevor der Grundlagenvertrag abgeschlossen wurde, den die Opposition so leidenschaftlich bekämpft hat.In der Zwischenzeit ist an der Ausfüllung der Verträge gearbeitet worden, und zwar mit positiven Ergebnissen, die die Opposition nicht mehr leugnet. Auch heute früh haben wir davon etwas gehört. Aber das verbindet die Opposition mit der Kritik über das, was noch nicht erreicht ist. Das ist für die Opposition natürlich angemessen und richtig.Ich halte es nicht für sinnvoll, daß wir die Debatten früherer Jahre wiederholen.
Aber ich möchte die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenken, der Beachtung verdient. Im Laufe der acht Jahre seit Abschluß des Grundlagenvertrages hat es in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ein Auf und Ab gegeben. Das war, als wir den Vertrag abschlossen, nicht anders erwartet worden. Dieses Auf und Ab entsprach den außergewöhnlichen Umständen, den tiefgreifenden Meinungsunterschieden zwischen beiden Regierungen und nicht zuletzt der Tatsache, daß man sich eben nicht, wie es im Grundlagenvertrag formuliert worden ist, über die nationale Frage verständigen konnte.Dennoch hat sich etwas entwickelt, was einen bedeutenden Beitrag zur Normalisierung in Europa darstellt, und zwar in doppelter Hinsicht.Erstens. Nichtbeziehungen oder Meinungsunterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten sind nicht mehr von einer Art, die bei unseren europäischen Nachbarn Sorgen bereiten könnten.Zweitens. In den Auffassungen zwischen Bonn und Ost-Berlin zeigen sich angesichts weltpolitischer Komplikationen und Gefährdungen das gleiche Interesse, der gleiche Wille, an den Ergebnissen der Entspannungspolitik festzuhalten, wie wir sie in Warschau oder Paris, in Budapest oder Rom, jedenfalls in wohl allen Hauptstädten Europas feststellen können. Wenn es hier noch etwas Besonderes gibt, dann allenfalls, daß die Bürger in den beiden deutschen Staaten, die durch die Entspannung am meisten gewonnen haben, auch am meisten verlieren könnten. Insgesamt verhalten sich beide deutsche Staaten heute aber europäisch oder europakonform — übrigens auch insofern vertragsgemäß, als beide dieselbe Verpflichtung haben, den Frieden zu wahren.
Noch etwas anderes ist festzustellen: Diese Entwicklung hat nicht an einen Punkt geführt, an dem die Loyalität der einzelnen europäischen Staaten zu ihrem jeweiligen Bündnis zweifelhaft geworden wäre. Das ist um so wichtiger, meine Damen und Herren, als diese Klarheit ein wichtiger Faktor der Stabilität ist, ohne die der Friede in Europa eben nicht sicherer geworden wäre.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Frage eingehen, die zwar nicht heute, aber sonst gestellt worden ist, nämlich wie es denn zusammenpasse und wie es denn miteinander zu vereinbaren wäre, daß die Koalition auf der einen Seite stolz darauf sei, daß der Friede immer sicherer geworden sei,
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17964 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Bahrwährend sie jetzt andererseits sage, daß der Weltfriede bedroht sei. Die Antwort ist einfach.
Wir haben durch unsere Politik dafür gesorgt, daß aus den Konflikten der Vergangenheit in Zukunft kein Konflikt mehr entsteht. Deshalb haben wir den Frieden in Europa sicherer gemacht.
Wer sich heute in der Welt umsieht, wird feststellen, daß es in vielen Teilen der Welt Unsicherheit und Unruhe gibt: in Hinterindien, im Mittleren Osten, im Nahen Osten, im südlichen Afrika, in Mittelamerika. Europa ist der einzige Kontinent im Spannungsfeld zwischen Ost und West, der wie eine Oase der Stabilität und des Friedens in einer unruhigen Welt wirkt.
Das ist das Ergebnis der Bündnisse und der Verträge. Das ist das Ergebnis der Entspannungspolitik.
Nicht weniger, sondern mehr Entspannungspolitik ist unsere Folgerung.
Es spricht viel dafür, daß Bindungen an den Gewaltverzicht auch in anderen Regionen ähnliche Wirkungen entfalten könnten, wie sie sie in Europa bewirkt haben. Ich messe diesem Gedanken des Gewaltverzichts in der Nahosterklärung der Europäischen Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung zu.
Wir haben immer gesagt, daß der Friede sicherer geworden sei. In dieser Formulierung schwang auch die Sorge mit, daß er noch immer gefährdet sein könnte, daß noch nicht der Punkt erreicht ist, an dem man sagen kann: Der Friede ist sicher.
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Damm?
Ich möchte nur diesen Gedanken zu Ende führen.
Es gibt genügend Faktoren — auch in anderen Regionen der Welt —, die nicht so beherrscht und kontrolliert sind wie die Angelegenheiten in Europa, die aber auf Europa wirken könnten — und dies ist unsere Sorge.
Bitte sehr!
Herr Kollege Bahr, ich greife auf, daß Sie sagten, in Europa sei der Friede sicherer geworden: Wie erklären Sie sich eigentlich, daß die Sowjets in den Jahren der Entspannung die gegen Europa gerichtete Rüstung gigantisch erhöht haben?
Herr Kollege, ich muß Ihnen darauf antworten, daß die Sowjetunion in den Zeiten der Nichtentspannung, also vorher zur Supermacht geworden ist.
Sie hat dann auch noch weiter gerüstet — das ist wahr —; zur Supermacht ist sie aber geworden, als Adenauer Bundeskanzler war, ohne daß wir ihm deshalb einen Vorwurf gemacht haben.
Meine Damen und Herren, wie sich die DDR in einer kritischen weltpolitischen Situation verhalten hätte, wenn es unsere Politik der Entspannung und der Verträge nicht gäbe, das kann ich mir jedenfalls vorstellen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihrer Einstellung zur DDR, müßten sich doch das erst recht vorstellen können. Sie müßten doch heute, im Jahre 1980, in der Lage sein, zu sagen: Bei allem, was wir kritisiert haben — so schlecht ist es nicht, daß wir die Verträge haben.
Wir haben im Grundlagenvertrag die Verpflichtung beider Staaten, die Bemühungen um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, insbesondere auf dem Gebiet der Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen, zu unterstützen, natürlich unter wirksamer internationaler Kontrolle. Sich über diese und andere Fragen zu konsultieren ist Inhalt einer Absichtserklärung gewesen, die nur sehr zögerlich praktiziert wurde. Inzwischen können wir feststellen, daß die DDR an den Verhandlungen in Wien beteiligt ist und daß der Gedankenaustausch auch über andere Fragen der Weltpolitik begonnen hat. Die Gefährdungen von draußen haben auch auf diesem Gebiet dazu geführt, daß beide Staaten ihr Interesse erkannt haben, negative Auswirkungen nach Möglichkeit zu vermeiden oder abzumildern. Und auch dies, meine Damen und Herren von der Opposition, ist etwas, was doch Ihre Zustimmung finden müßte.Daß die Begegnung des Bundeskanzlers mit Herrn Honecker in Belgrad die Möglichkeit zu einem Zusammentreffen in überschaubarer Zeit eröffnet hat, so wie das bereits Ende vergangenen Jahres vorgesehen war, wird von der Fraktion der SPD begrüßt. Ein solches Zusammentreffen wird deutlich machen, daß beide Staaten im Rahmen ihrer Bindungen ihren Beitrag dazu leisten wollen, einen bewährten Kurs fortzusetzen, der ihren Bürgern Vorteile gebracht und keinem Nachbarn geschadet hat.Im übrigen entspricht dies der beiderseitigen Überzeugung, daß beide Staaten sicherlich eine begrenzte, aber eben doch eine. unabweisbare Verantwortung für die Erhaltung des Friedens in der Mitte
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17965
BahrEuropas haben. Das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten soll nicht mehr zu einer Quelle neuer Gefahren für Europa werden. — So dienen wir den Menschen in unserer Nation.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung über die Brüsseler Beschlüsse berichtet. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unterstützt beide Konsequenzen, die die Bundesregierung daraus gezogen hat.
Wir erkennen an, daß es diesen Beschluß im Interesse des Zusammenhalts der Europäischen Gemeinschaft in einer schwierigen Lage geben mußte. Wir erkennen an, daß die Bundesregierung das Gespräch mit den Ländern sucht, um in einem grundsätzlichen Versuch zu einem fairen Ausgleich der finanziellen Belastungen zu kommen.
Es kann kein Zweifel sein, daß der Bund in den letzten Jahren außenpolitisch stärker belastet worden ist, auch im Interesse der Konjunktur, im Interesse der Arbeitsplätze Lasten auf sich genommen hat,
wofür man ihn jedenfalls nicht beschimpfen sollte.Es wäre zu begrüßen, wenn die Stimmen der Gesprächsbereitschaft aus den Ländern, natürlich auch aus Ländern der CDU/CSU, auch mit begreiflichen Wenns und Abers versehen, zu einer unvoreingenommenen Prüfung führten.Sie werden es einem Sozialdemokraten übrigens nicht übelnehmen, wenn er gerade in der heutigen Situation daran denkt, daß wir die Finanzhoheit des Bundes im Grundgesetz einem politischen Kraftakt Kurt Schumachers verdanken. Er hat die Finanzhoheit des Bundes den drei Militärgouverneuren abgetrotzt,
indem er die Zustimmung der SPD zum Grundgesetz davon abhängig gemacht hat. Es wäre schwer vorstellbar, wie z. B. der Aufbau der Bundeswehr ohne Finanzhoheit des Bundes möglich gewesen wäre — um nur ein Beispiel zu nennen, weil Sie so gerne von der Bundeswehr sprechen.Die sozialdemokratische Fraktion erkennt auch an, daß die Bundesregierung keinen Zweifel daran gelassen hat, daß sie die Verbrauchsteuern erhöhen müßte, wenn es nicht zu einer entsprechenden Vereinbarung mit den Ländern kommt.
Dies ist der Bundesregierung sicher nicht leichtgefallen.
Es ist auch der SPD nicht leichtgefallen, das zu hören. Aber es wäre dann wohl unausweichlich, und es ist jedenfalls klar.Wir möchten die Bundesregierung in ihrer Absicht bestärken, nicht nochmals einen Beschluß nach dem Muster des Brüsseler Beschlusses mitzutragen. Das System des Agrarmarkts muß reformiert werden, und zwar nicht nur, weil dieses System nicht auf Dauer finanzierbar wäre, sondern mindestens ebenso, weil es geeignet ist, insbesondere bei Arbeitnehmern und Verbrauchern, übrigens sogar bei unseren Bauern, den europäischen Gedanken zu diskreditieren.
Unsere Jugend kann schwer verstehen, daß auf der einen Seite mit viel Geld Lebensmittel auf die doppelte Preishöhe des Weltmarkts hochsubventioniert werden, um unter Umständen Vorratsberge später zu denaturieren oder verbilligt auf dem Weltmarkt abzusetzen — und das -Ganze in einer Situation, in der die Erzeuger, nämlich unsere Landwirte, nur ganz begrenzt etwas davon haben; denn ihre Einkommenssteigerungen gehen zum guten Teil auf die Steigerung ihrer Produktion zurück. Daß wir ein hohes Maß von Preisstabilität auf dem Lebensmittel- sektor haben, kann sich der einzelne Landwirt anrechnen, ohne daß der Verbraucher wirklich davon profitiert.Fleiß und Erfolge unserer Landwirtschaft laufen mit einem europäischen Agrarmarktsystem parallel, das nicht funktionieren kann und im Grunde empören muß, wenn man außerdem daran denkt, daß Menschen in anderen Teilen der Welt hungern. Hier ist eine Änderung notwendig, damit die Europäische Gemeinschaft nicht in eine Dauerkrise kommt.
Die SPD wird jedenfalls auch eigene Anstrengungen zu einer Reform ausarbeiten, wobei wir wissen, daß Ergebnisse von Überlegungen und Verhandlungen erst 1982 wirksam werden können.Herr Kollege Kohl, Sie haben im Zusammenhang mit den Beratungen der europäischen Regierungschefs davon gesprochen, diese hätten traditionell oder wieder einmal vor wirklichen Entscheidungen gekniffen.
Ich finde, daß jedenfalls wir als Sozialdemokraten die christdemokratischen Regierungschefs, die Sie dadurch mit angegriffen haben, vor solchen unqualifizierten Angriffen in Schutz nehmen sollten.
— Ich meine natürlich sogar Frau Thatcher, obwohl sie sich nicht zu den Christdemokraten zählt.
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17966 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
BahrBei der Zusammenkunft der europäischen Regierungschefs in Venedig wurde eine Resolution zu den Problemen des Nahen Ostens verabschiedet. Daß die europäische Länder sich im Nahen Osten stärker engagieren sollten, ist ein Wunsch, den wir in den zurückliegenden Jahren von allen Beteiligten wiederholt gehört haben. In dem Maße, in dem die europäischen Länder dann ihren Standpunkt formuliert haben, sind sie allerdings zunehmend der Kritik ausgesetzt.Man muß feststellen, daß' die Nahost-Erklärung der Europäischen Gemeinschaft, die in Venedig formuliert worden ist, keine besonders positive Aufnahme gefunden hat, weder bei den Israelis noch bei den Arabern also bei denen, an die sie zuallererst adressiert war.
Festzustellen ist gleichzeitig, daß sie am positivsten in Washington kommentiert worden ist, nachdem dort zuvor Sorgen formuliert worden waren.Ich denke, die Erklärung der Europäischen Gemeinschaft ist ohne Zweifel, wie aus dem Wortlaut hervorgeht, als eine Hilfe zur Lösung des NahostProblems gedacht, die leider nicht kurzfristig erreichbar erscheint. Daß sie von den Vereinigten Staaten, die zur Regelung des Nahost-Konflikts die Hauptverantwortung übernommen haben, so gesehen wird, zeigt, daß die in der europäischen Erklärung formulierten Auffassungen denen Washingtons näher sind als jenen, die heute in Jerusalem und in arabischen Hauptstädten vertreten werden. Mit anderen Worten: Die unterschiedliche Reaktion arabischer, israelischer und amerikanischer Seite zeigt, wie schwierig die Aufgabe ist und wie weit die Positionen der unmittelbar Beteiligten noch voneinander entfernt sind. Für die sozialdemokratische Fraktion hat es zu keinem Zeitpunkt einen Zweifel gegeben, daß eine Regelung ohne die garantierte sichere Existenz des Staates Israel nicht denkbar ist.
Dies mit dem Selbstbestimmungsrecht der arabischen Palästinenser zu verbinden erscheint als der einzige Weg, der zu einer Lösung führen kann.
Meine Damen und Herren, die Sozialdemokratische Partei hat auf ihrem Parteitag in Berlin dazu einen Beschluß gefaßt — übrigens einmütig —, in dem es heißt:Die SPD sieht in den Friedensvereinbarungen zwischen Israel und Ägypten einen wichtigen Schritt und erwartet, daß es zu einer umfassenden Friedensregelung kommt, der alle Beteiligten zustimmen können. Dabei müssen alle Beteiligten ebenso das Recht Israels anerkennen, in gesicherten und anerkannten Grenzen zu leben, wie die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes, deren Verwirklichung zu den Voraussetzungen einer künftigen gedeihlichen Entwicklung in dieser Region gehört ... Wo immer die SPD eine Chance sieht, den Dialog allerbeteiligten Partner zu fördern, wird sie sie wahrnehmen.Ich wiederhole: Der Grundgedanke des Gewaltverzichts, wie er auch von den Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft formuliert worden ist, wird sich, glaube ich, als unentbehrlich für eine dauerhafte Lösung erweisen.Nahost, Iran und Afghanistan, meine Damen und Herren, markieren Krisen, die nicht sicher berechenbar sind. Jede kann sich einzeln weiterentwikkeln, und jede kann die andere beeinflussen. Die Lage ist sicher nicht stabilisiert Man wünschte sagen zu können: noch nicht stabilisiert. In dieser Lage findet der Weltwirtschaftsgipfel statt, in dieser Lage wird der Bundeskanzler eine Woche später nach Moskau fahren.
Das heißt, der Bundeskanzler wird in voller Kenntnis der Überlegungen sein, die die ersten Männer der westlichen Industrienationen in dieser Lage und zu dieser Lage haben.In der Opposition, meine Damen und Herren, gibt es zu dieser Reise die widersprüchlichsten Kommentare. Das Ja und Nein war nicht nur von verschiedenen Personen derselben Partei zu hören, sondern auch von derselben Person; denn Franz Josef Strauß hat zu dieser Reise zu unterschiedlichen Zeiten sowohl ja als auch nein gesagt. Nach dem letzten Stand der Selbstkoordinierung geht es wohl eher auf ein Nein. Allerdings hat Herr Kohl heute gesagt, er sage ja zu dieser Reise, wenn.Aber die Begründungen müssen auf jeden Fall noch koordiniert werden. Das ist nicht unsere Sache. Es gibt bei Ihnen in der Opposition Befürchtungen, es könne bei dieser Reise nichts herauskommen. Es gibt Befürchtungen, die Hoffnungen seien zu hoch.
Auf der anderen Seite werden Forderungen erhoben, die unerfüllbar hoch sind. In einer Stellungnahme war die Sorge ausgedrückt, ob der Bundeskanzler wohl den Mut hätte, über Fragen der Menschenrechte und der Besetzung Afghanistans zu sprechen. Dabei müßten doch alle im Bundestag wissen, daß Helmut Schmidt sich noch nie den Mund hat verbieten lassen, oder?
Meine Damen und Herren, eine solche Reise hat nur Sinn, wenn man weder bloß Höflichkeiten austauscht noch sich in Vorwürfen ergeht,
sondern offen spricht.Herr Dr. Kohl, wenn Ihnen soviel am Klima liegt, wie Sie dies heute gesagt haben, dann muß ich fragen, warum Sie denn nicht Ihren Teil dazu beigetra-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17967
Bahrgen haben, am Tag der deutschen Einheit und vor der Reise des Bundeskanzlers das Wort von der „Moskau-Fraktion" zurückzunehmen.
Aber von der Opposition wird noch etwas anderes formuliert, nämlich der Verdacht, die SPD wolle den Beschluß der NATO aufweichen und der Bundeskanzler wolle von dem NATO-Beschluß weg. Nun, zum letzteren brauche ich nichts zu sagen. Aber für den ersten Punkt — auch heute wieder vorgebracht, Herr Dr. Kohl — gilt: Hier wiederfährt der SPD dasselbe wie unserem Land: In der Polemik der CDU ist unser Land nicht wiederzuerkennen, auch nicht die SPD.
Meine Partei hat auf dem Berliner Parteitag zum Thema der Mittelstreckenraketen einen Beschluß gefaßt — nicht einstimmig, sondern nach einer langen Diskussion, die von hohem Ernst und von großem Verantwortungsgefühl getragen wurde, mit einer klaren Mehrheit. Dieser Beschluß gilt. Für den Parteitag in Essen haben wir aus den Ortsvereinen und Bezirken unserer Organisation weit mehr als 600 Anträge gehabt. Nicht ein einziger Antrag war darauf gerichtet, den Beschluß des Berliner Parteitags in Frage zu stellen.
Wir haben in Essen wichtige Initiativanträge gehabt. Nicht ein einziger Antrag oder auch nur ein Teil von ihm war darauf gerichtet, die Beschlüsse von Berlin zu verändern oder aufzuweichen, wie Sie es formuliert haben.
Das sollten Sie bitte zur Kenntnis nehmen. Die SPD diskutiert sehr lebendig, zuweilen unbequem. Aber wenn sie entschieden hat, dann ist darauf Verlaß,
genauso wie sich der Bundeskanzler auf die Fraktion verlassen kann und genauso wie sich unsere Verbündeten auf das Wort der Bundesregierung verlassen können. Die elf Jahre, in denen die SPD in der Verantwortung ist, weisen das aus. Daran wird sich nichts ändern.
Wer im übrigen über unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten so spricht, wie das heute morgen geschehen ist, erwirbt sich keine besonderen Verdienste um unser Land.
Sie haben heute morgen gesagt, wer die Partner-schaft und das Bündnis mit den Vereinigten Staatenin Frage stelle, schaffe keine gute Voraussetzung fürdie Reise, Herr Dr. Kohl. Ja, von wem reden Sie denn eigentlich?
Es wird oft übersehen, daß es ein Ergebnis sozialliberaler Entspannungspolitik ist, wenn es den Ruf „Ami go home" nicht mehr gibt
— Aber natürlich.
— Sehen Sie einmal, so weltfremd sind Sie geworden.Daß auch die Sowjetunion in Verträgen und Vereinbarungen akzeptiert hat, daß man Sicherheitsfragen in und für Europa nicht ohne die Vereinigten Staaten lösen kann, ist doch ebenfalls ein Ergebnis der sozialliberalen Politik. Ich habe vorhin in anderem Zusammenhang davon gesprochen, daß es im Interesse der innerdeutschen Politik liegt, wenn beide deutschen Staaten in der Loyalität, mit der sie in ihrem Bündnis stehen, unbezweifelbar sind. Ich habe von der notwendigen Stabilität gesprochen, ohne die es weder in der Entspannung zwischen Ost und West noch innerdeutsch weitere Fortschritte gibt.
Niemand darf uns doch für so dumm halten, gegen das eigene Interesse zu verstoßen und die Grundlagen unserer weiteren Erfolge selbst zu zerstören.
Stabilität, Sicherheit und Frieden sind nicht ohne das Bündnis zu garantieren, d. h., es gibt keine Sicherheit für Deutschland ohne die Vereinigten Staaten. Das haben wir immer so gesagt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, es ist töricht, ja sogar verantwortungslos, wenn im Westen so diskutiert wird, als ob diese fundamentale Konstante deutscher Politik zu bezweifeln wäre.
Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Ruhe.
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17968 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
In einer Zeit, die durch Unsicherheiten und schnelle Veränderungen gekennzeichnet ist, wäre es von großem Wert, wenn die Gespräche des Bundeskanzlers in Moskau Sicherheit und Kontinuität in der Absicht beider Staaten ergäben, ihre Politik weiterhin auf der Basis des Moskauer Vertrages und der gemeinsamen Erklärung zu entwikkeln, die im Mai 1978 in Bonn abgegeben worden ist. Das wäre ein Stück Stabilität, das auch für alle unsere Nachbarn in Europa beruhigend wirken würde. Es läge übrigens auch im Interesse der Vereinigten Staaten, nicht mit einer weiteren Krise rechnen zu müssen. Wenn allein das aus dieser Reise herauskäme, die offene Konsultation, der Meinungsaustausch über die weitere Entwicklung und die Bestätigung der in den letzten zehn Jahren zwischen beiden Regierungen verfolgten Politik, dann wäre das viel.
Sie, die Opposition, haben kein Vertrauen zum Bundeskanzler.
Wir, die SPD-Fraktion, haben Vertrauen zum Bundeskanzler. In zwei Wochen, wenn er aus Moskau zurück ist, werden wir feststellen, daß das Vertrauen richtig war.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Bahr hat zu Beginn seiner Ausführungen ganz mit Recht darauf hingewiesen, wie lange der 17. Juni zurückliegt und wie klein die Zahl der Menschen in Deutschland ist, die noch eine eigene Anschauung davon haben. Daraus folgt, daß die Verantwortung für uns Politiker um so größer ist, die fortwirkende Bedeutung dieses Tages einer jüngeren Generation verständlich zu machen.
Ich möchte Sie, Herr Bahr, vor allem zum ersten Teil Ihrer Ausführungen fragen: Glauben Sie wirklich, daß diese schwere Aufgabe, die wir haben, uns Politikern dann gelingen kann, wenn wir eine Diskussion im Deutschen Bundestag zum 17. Juni in erster Linie als eine Art von Rechthabereiwettbewerb in bezug auf die letzten 30 Jahre veranstalten?
Wenn Sie Ihre Rede noch einmal überprüfen, werden Sie feststellen, daß Sie hinsichtlich Deutschlands und des 17. Juni fast gar nicht über die Substanz, sondern ständig über die Opposition gesprochen haben. Ich frage Sie, ob Sie wirklich glauben, daß wir auf diese Weise unserer Verantwortung für diesen Tag gerecht werden.
Ich möchte jedenfalls versuchen, im Schwerpunkt
meiner Ausführungen zum Stand der innerdeutschen Beziehungen zu sprechen. Ich möchte versuchen, diese zu analysieren und daraus Schlußfolgerungen sowohl für die innerdeutschen Beziehungen als auch für die deutschen Beiträge zur internationalen Politik im Ganzen zu ziehen.
Bevor ich das mache, möchte ich an zwei Stellen auf die Regierungserklärung eingehen, die der Herr Bundeskanzler abgegeben hat, den ich im Moment nicht sehe. Ich zitiere aus der Regierungserklärung: Damit setzt sich der weit überproportionale Anstieg der internationalen und der supranationalen Aufgaben und Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland fort. Dazu gehören auch die Aufgaben im Rahmen der Deutschland- und der Berlin-Hilfe. — Ich möchte den Bundeskanzler doch bitten, klarzustellen, daß Berlin-Hilfe nicht Auslandshilfe ist. Ich denke, wir sind uns darüber ja alle einig.
Das zweite: Der Bundeskanzler hat hier den bemerkenswerten Satz aufgenommen: „Eine stabile Finanzwirtschaft ist ein Eckpfeiler für unsere Friedensverantwortung in Europa."
In der Tat; wer wollte das leugnen?
Die Frage ist nur: Was ist denn der Grund für die mangelnde Stabilität dieser Finanzwirtschaft und welche Möglichkeiten gibt es, sie zu heilen?
Erst hat man die Staatsausgaben immer mehr ansteigen lassen. Dann hat man sich mehr verschuldet in der sozialliberalen Koalition. Dann sind immer neue Gesetze mit steigenden Kosten für die Länder beschlossen worden, und jetzt heißt es: Haltet den Dieb! Die bösen CDU-Länder sind daran schuld! — Ich fände es doch besser, wenn der Herr Bundeskanzler vorher nachlesen würde, was der ja nicht zur CDU gehörende Finanzminister Posser dazu gesagt hat.
Herr Posser hat zu diesem Punkt — ohne daß es bisher dementiert worden wäre — erklärt: „Natürlich hat Herr Stoltenberg recht, wenn er jetzt im Bundesrat sagt, diese Attacken seien ungezügelt und maßlos."
Meine Damen und Herren, ich möchte mich den — —
Verzeihen Sie, Herr Abgeordneter. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolfram?
Bitte sehr.
Herr Kollege von Weizsäcker, wollen Sie bitte vor diesem Haus bestätigen, daß der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, anerkannt hat,
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17969
Wolfram
daß die Länder dem Bund in dieser schwierigen Situation helfen müssen?
Herr Kollege, ich kenne diese Äußerung von Herrn Rau nicht, und ich will sie selbstverständlich gern akzeptieren. Aber vielleicht erlauben Sie mir doch eine wertende Bemerkung: Ich kenne sowohl Diether Posser wie Johannes Rau schon sehr lange, und ich traue dem finanzpolitischen Sachverstand von Diether Posser mehr zu als dem von Johannes Rau.
Aber nun möchte ich mich den innerdeutschen Beziehungen zuwenden. Ich bin davon überzeugt, daß gerade diese innerdeutschen Beziehungen von uns allen eine kritisch-differenzierte Würdigung erfordern. Es sind wichtige Verbesserungen erreicht worden; diese sind zu begrüßen. Das gilt insbesondere deshalb, weil sie sich positiv auf die Bindungen von Berlin an die übrige Bundesrepublik Deutschland auswirken und auch auf die innerdeutschen Beziehungen selbst.Dennoch: Seit einigen Jahren hat sich der Themenkatalog allzu sehr auf technische und wirtschaftliche Abmachungen verengt. Das darf so nicht bleiben. In Zukunft ist vor allem zweierlei zu beachten: Erstens: Verhandlungen und Abmachungen müssen über die Sicherheit Berlins hinaus, die selbstverständlich wichtig bleibt, in stärkerem Maße die innerdeutschen Beziehungen im Ganzen betreffen. Zweitens gilt es jetzt, die menschlichen Kontakte und Begegnungsmöglichkeiten zu erweitern, und zwar in beiden Richtungen. Hier muß der Schwerpunkt liegen.
Die Bilanz der letzten zehn Jahre zeigt: Es gibt eine erhebliche Zunahme der Reisen von West nach Ost. Jedermann spürt drüben die Wirkung dieses gesteigerten Kontaktes. Dagegen sind die Bemühungen um die Reisen von Osten nach Westen steckengeblieben. Die Zahl der Erlaubnisse zu Reisen für Deutsche aus der DDR bei dringenden Familienangelegenheiten in den Westen ist rückläufig. Gestiegen dagegen ist die Zahl derer, die in die DDR einreisen wollten und an der Grenze zurückgewiesen wurden.Auch bei der Familienzusammenführung und bei den Lebensbedingungen und Ausreisemöglichkeiten von entlassenen Häftlingen gibt es immer wieder Schwierigkeiten. Fortschritte im nichtkommerziellen Zahlungsverkehr fehlen.Es stagniert also, meine Damen und Herren, im wichtigsten, nämlich im menschlichen Bereich, jenem Bereich also, der seinerzeit vom Bundeskanzler Adenauer mit Recht an den Anfang der Beziehungen zum Osten gestellt und zu seinem Kern gemacht worden ist.Meine Damen und Herren, dies gilt schon für die Tagesordnung selbst, nach denen die Delegationen von beiden Seiten in den letzten Jahren miteinander verhandelt haben. Ein Treffen von Bundeskanzler Schmidt mit dem Staatsratsvorsitzenden Honecker steht bevor. Da wollen sie über die internationale Lage sprechen; aber ich meine, die offenen menschlichen Fragen der Deutschen im geteilten Land gehören in den Mittelpunkt.
— Herr Wehner, vor kurzem hat ein evangelischer Kirchenpräsident in der DDR öffentlich im Blick auf ein innerdeutsches Spitzentreffen die Senkung der Altersgrenze bei Reisen von Ost nach West gefordert. Für ein Treffen mit Herrn Honecker wollen wir gerne einen Bundeskanzler unterstützen, der sich diese Forderung offen zu eigen macht und der energisch dafür eintritt, daß uns endlich auch mehr jüngere Menschen aus der DDR besuchen können.
In der angespannten Weltlage der letzten Monate hat die Bundesregierung immer wieder das Argument gebraucht: Wir Deutschen sind in einer besonderen Lage. Das ist in der Welt nur zum Teil richtig verstanden worden, und auch in der eigenen Bevölkerung hat es in bezug auf die Konsequenzen zu Mißverständnissen geführt. Daher ist es klärungsbedürftig. Was bedeutet es denn?Wir Deutschen sind hüben und drüben einerseits in Bündnisse integriert, andererseits über Mauer und Draht hinweg auf besondere Weise miteinander verbunden. Für diese Lage gibt es in der Tat keine Parallele bei irgendwelchen Bündnispartnern. In beiden Teilen Deutschlands spürt dies die Bevölkerung. Wir im Westen leben in der Freiheit und in der Sicherheit des westlichen Bündnisses, und es ist eben diese Freiheit, die uns auf besondere Weise für unsere Landsleute in der DDR und in Ost-Berlin verantwortlich macht.Die Deutschen im Osten sehen ihren Staat eingebunden in die Disziplin des Warschauer Paktes, sie selbst aber fühlen sich uns und dem ganzen Deutschland näher, als ihre politischen Führer dies wahrhaben wollen.
Anders als die übrigen Staaten des Warschauer Paktes muß die DDR mit einem gebrochenen Verhältnis zur Nation leben. Zwar machen sich auf diesem Gebiet immer wieder neue und gewaltige Anstrengungen bemerkbar; zuletzt gab das 30jährige Jubiläum der Gründung der DDR Anlaß, um das „sozialistische Nationalbewußtsein" erneut zu begründen.Darüber konnte man durchaus interessante und differenzierende Betrachtungen lesen. Z. B. hieß es in der „Einheit", einer Zeitschrift für Theorie und Praxis, es gebe beides, nämlich einerseits die Nation — die Nation geprägt durch ökonomische, politische, soziale und ideologische Beziehungen mit Klassencharakter — und andererseits die Nationalität, Ausdruck der völkischen Bindungen. Die Sowjetunion, so hieß es da, sei eine Nation mit vielen
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17970 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Dr. von WeizsäckerNationalitäten, die Deutschen dagegen seien eine Nationalität, eben Deutsche, aber mit zwei Nationen, nämlich der sozialistischen und der kapitalistischen.Nach wie vor gilt es drüben als zentrale ideologische Aufgabe, das sozialistische Nationbewußtsein zu festigen. Grundlage und geistiges Profil werden aus allen Kapiteln der deutschen Geschichte abgeleitet, sofern man nur aus ihnen einen hinreichend progressiven und revolutionären Charakter glaubt ableiten zu können.In diesem Zusammenhang beschränkt sich die SED neuerdings nicht mehr auf die Bauernführer, sondern auch der erzkonservative Feldmarschall York, der barocke Bach, der Napoleon-Bewunderer Goethe und andere müssen jetzt dafür dienen.
Jetzt sind die Vorbereitungen zur Feier des 500. Geburtstages von Martin Luther angelaufen; Honecker hat ihn bereits einen der bedeutendsten Humanisten und bürgerlichen Revolutionäre genannt. Sie alle sollen die Ahnengalerie der „sozialistischen Nation" zieren.
Nun meine ich, meine Damen und Herren, wir im freien Teil Deutschlands haben keinen Grund, dies mit Überheblichkeit festzustellen.
Die innerdeutschen Beziehungen sind keineswegs immer nur ein einseitiges Lerngeschäft von Westen nach Osten; auch wir haben unseren Teil zu lernen. Damit meine ich natürlich nicht Geschichtsklitterung, die drüben versucht wird. Aber ich meine die Erkenntnis von der existentiellen Bedeutung der eigenen geschichtlichen und kulturellen Wurzeln. Das sollte einige bei uns endlich aufwecken.
Wenn das so ist, dann wollen wir uns doch auf den friedlichen Wettbewerb im Hinblick auf diese Wurzeln ruhig einlassen und getrost auf die Fortschritte in beiden deutschen Teilstaaten warten. Wer sich auf Bach beruft, wird an dessen geistig-künstlerischem Maßstab doch nur wachsen können. Dasselbe gilt für die Humanität Goethes oder für den tiefen Patriotismus von Yorck. Und Martin Luther? Ich denke, die intensive Beschäftigung mit ihm, die uns allen bevorsteht, wird niemandem schaden. Das gilt sowohl über innerdeutsche wie über kirchliche Trennungslinien hinweg. Der ökumenische Charakter der Feiern für die Confessio Augustana, die jetzt gerade in Augsburg anlaufen, scheint mir dafür ein Beweis zu sein. Am Ende wird doch niemand um die Erkenntnis herumkommen, was Luther wirklich gepredigt hat, nämlich nicht die Revolution, sondern die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade — des östlichen und des westlichen Sünders.
Trotz aller Anstrengungen haben sich die Schwierigkeiten der SED, ein sozialistisches Nationalbewußtsein zu verankern, nicht vermindert, sondern vermehrt. Auch 1980 ist mit der Lehre von der Nation in der DDR kein Staat zu machen. Es gibt nur ein Polen, eine CSSR, ein Ungarn. Kein Ostblockland muß mit einer nationalen Alternative rechnen. Anders die DDR, sie ist deutscher Teilstaat mit einer nationalen Alternative im Westen. Die sozialistische Ideologie als solche wird der Führung nicht mehr abgenommen. Die SED hat keine Möglichkeit einer nationalen Orientierung der eigenen Staatsbürger innerhalb der eigenen Grenzen. Ihr Hauptproblem ist, daß sie ihren Staat weder national noch ideologisch stabilisieren kann. Deshalb suchte die Führung einen Ausweg in einem materiellen Ersatz für ideelle Mängel.So soll nun ein besserer Lebensstandard, den die SED ihren Bürgern im Vergleich zu östlichen Nachbarn zu verschaffen und zu erhalten versucht — wiewohl wir gerade in diesen Tagen von den besonderen Versorgungsschwierigkeiten immer wieder Kunde bekommen —, die Rolle eines Bindungsgliedes zwischen Bevölkerung und Staat schaffen.Ich meine, die Kenntnis solcher Zusammenhänge gilt es für unsere Deutschlandpolitik nutzbar zu machen. Unser Schwerpunkt für die Fortentwicklung der Innerdeutschen Beziehungen sind menschenwürdige Freiheitsrechte für unsere Landsleute in der DDR. Dabei müssen wir aber innenpolitische Empfindlichkeiten der SED ebenso in Rechnung stellen, wie wir mit ihrer Empfänglichkeit für unsere materielle Leistungsbereitschaft umzugehen haben.Das heißt doch mit anderen Worten: Die Ziele, die die beiden deutschen Regierungen bei innerdeutschen Verhandlungen anstreben, liegen auf verschiedenen Ebenen: Ost-Berlin braucht vor allem harte Devisen, wir dagegen wollen mehr Öffnung und Freizügigkeit.Die Preise, die bei diesen innerdeutschen Vereinbarungen von beiden Seiten zu zahlen sind, sind daher schwer vergleichbar. Dennoch müssen diese Preise genannt und müssen natürlich auch offen diskutiert werden.
Auch ein politischer Preis ist ein Preis, der seiner öffentlich verständlichen Begründung bedarf. Von der Opposition aus prüfen wir diese Preise, wie es unsere Aufgabe ist, aber wir prüfen sie nicht mit einem eingeengten ökonomischen Maßstab, sondern im Sinne der politischen Ziele, wie wir sie sehen. Buchhalterische Erbsenzählerei hat für uns dabei keinen Platz. Das heißt zweierlei:Erstens. Es ist zu berücksichtigen und zu würdigen, daß z. B. Kosten für einen Autobahnkilometer in der Mark Brandenburg oder in Mecklenburg, der für die Autobahn von Berlin nach Hamburg anfällt, nicht einfach ökonomisch, betriebswirtschaftlich nach denjenigen Kosten berechnet werden können, die ein Autobahnkilometer im Westen erfordert.Zweitens. Den finanziellen Gesamtleistungen, die aus Westdeutschland in die DDR fließen, fällt, aufs
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17971
Dr. von WeizsäckerGanze gesehen, eine wachsende Bedeutung für die Wirtschaft und das Leben im anderen Teil Deutschlands zu. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat errechnet, daß jährlich rund 3 Milliarden DM an öffentlichen und privaten Leistungen von uns in die DDR gelangen. Über die Höhe läßt sich streiten. Aber eines steht fest: in jedem Falle ist der Gesamtbetrag hoch genug, um eine unentbehrliche Plangröße geworden zu sein, ein Faktor von qualitativ verändertem Gewicht, ich sage: ein verklammernder Faktor.
Wir sind uns der besonderen Empfindlichkeit der Deutschlandpolitik wohl bewußt. Denn in ihr gehen zwischenstaatliche Kontakte, zwischenmenschliche Beziehungen und die Berücksichtigung der inneren Entwicklung der DDR ineinander über. Auch verstehen wir natürlich das Bedürfnis von Verhandlungsführern nach Diskretion. Aber zu unserer demokratischen Überzeugung gehört die öffentliche Auseinandersetzung. Nirgends so sehr wie in diesem Feld wird die Kraft der Politik entscheidend davon bestimmt, ob sie vom öffentlichen Bewußtsein und vom Willen der Bevölkerung getragen ist oder nicht. Deswegen hängt um so mehr davon ab, daß wir als Parteien in einer Weise über diese Deutschlandpolitik miteinander reden, die der Materie nützt und nicht schadet.Damals, Herr Bahr — damals! —, wurde der Streit über die Ostverträge im Bundestag mit Leidenschaft geführt. Er gehört zu den großen Debatten dieses Parlaments. Vielleicht war er die einzige große Debatte der 70er Jahre. Sie erregte alle Deutschen. Sie wirkte tief in Freundschaften und Familien hinein. Aber wir haben alle aus dieser Debatte gelernt. Niemand ist ganz unverändert aus ihr hervorgegangen, wenn er ehrlich ist. War sie damals eine Zeitlang das wichtigste Glied der Auseinandersetzung, so eignet sie sich heute eben nicht mehr im selben Maß, um innenpolitische Platzvorteile gegeneinander zu erstreiten. Vielmehr sind wir von der Sache her dazu verpflichtet, alles zu versuchen, um die Deutschlandpolitik kritisch zu würdigen, aber in ihren Grundzügen gemeinsam zu tragen. Das ist schwer, aber möglich und nötig.
Es gibt natürlich — ich möchte sagen, auf allen Seiten des Hauses — immer wieder Schwierigkeiten. Es gibt immer wieder die Regung, davor zurückzuschrecken. Ich will jetzt gar nicht auf die Beispiele von heute früh zurückgreifen. Auch Herr Genscher, als er so von „Kalten Kriegern" zu sprechen anfing, ließ zunächst ein wenig offen, wen er damit meinte,
um es dann dankenswerterweise richtigzustellen.Deswegen möchte ich gern ein Beispiel aus der jüngsten deutschlandpolitischen Debatte des Berliner Abgeordnetenhauses bringen, immerhin eines Parlamentes, das für die Deutschland- und Berlin-Politik von sehr großer Bedeutung ist. Da zeigte sich, daß die Koalition im Grunde lieber ein deutschlandpolitisches Monopol behalten möchte. Möchten Sie das nicht auch, Herr Bahr? Ich hatte gelegentlich den Eindruck, als ich Ihnen zuhörte. Wenn dann ein Oppositionspolitiker, wie es seine Aufgabe ist, eine kritische Rückfrage stellt, dann gilt das als „Zeichen fortdauernder verstockter Unbelehrbarkeit". Würdigt aber die Opposition ein Stück Deutschlandpolitik als Fortschritt und als positive Entwicklung — was ist es dann? —: eine taktisch begründete, verdammungswürdige Kreidefresserei.
Das ist so ähnlich gesagt worden — nachzulesen im Protokoll des Berliner Abgeordnetenhauses. Haben wir das wirklich untereinander nötig? Ich meine, nein.Was wir brauchen, ist kritische Überprüfung, gegenseitige kritische Anfragen. Aber die Bemühung um Klärung und damit die Bemühung um einen Grundkonsens in der Deutschlandpolitik.Ich möchte eine solche Rückfrage stellen — an die Adresse der Sozialdemokratischen Partei —, die sich mit dem Verhältnis von Deutschland- und Friedenspolitik befaßt. Vor zwei Wochen sagte der Berliner Regierende Bürgermeister bei der „American Council in Germany" in New York, das Gleichgewicht sei entscheidende Bedingung für den Frieden, zugleich sei das Gleichgewicht wesentliche Ursache dafür, daß die deutsche Teilung fortbestehe. — Wie? Was soll das denn heißen: Gleichgewicht ist entscheidend für Frieden, Gleichgewicht ist ursächlich für Teilung? Ist denn Friedenspolitik Teilungspolitik?
— Ja, bitte, wenn es geklärt wird, dann ist es ja gut. Lieber Herr Schäfer, hören Sie doch erst einmal zu. —
Leben denn Frieden und Teilung voneinander? Setzt sich also der dem Vorwurf aus, den Frieden zu gefährden, der eine Politik zur Überwindung der trennenden Gräben und Mauern in Europa unterstützt?
Das wäre ein gefährlicher Trugschluß. Der kann schwerlich gemeint sein, und der sollte auch hier geklärt werden. Die erste Anfrage öffentlicher Art, die der Regierende Bürgermeister in Berlin hierzu bekommen hat, ist überdies nicht aus den Reihen der Opposition, sondern aus den Reihen der Koalition gekommen.Denn in der Tat: Unsere Politik zielt auf Überwindung der Trennung. Dies geschieht ausschließlich mit friedlichen Mitteln. Wir bedürfen dafür des Friedens, auch des Friedens in einem größeren, über die beiden deutschen Teilstaaten hinausweisenden Rahmen. Nicht zuletzt deshalb suchen wir als Deut-
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17972 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Dr. von Weizsäckersche Einfluß auf die internationale Lage, und zwar Einfluß im Sinne des Friedens.Mit anderen Worten: Eine Deutschlandpolitik, die der Überwindung der Gräben dient und die Ausdruck des Gefühls der Zusammengehörigkeit der Deutschen ist, ist für uns wesentlicher Motor, um eine friedensfestigende Wirkung auf die internationalen Beziehungen anzustreben. Hätten wir nicht das elementare Bedürfnis, die Teilung Schritt für Schritt zu überwinden, und wären wir ohne besondere Zusammengehörigkeit über die Blockgrenzen hinweg, so wären unser Wille und wohl auch unsere Kraft, in Richtung auf den Frieden zu wirken, in Wahrheit schwächer und nicht stärker.
Also: Gleichgewicht ist Voraussetzung für den Frieden; das stimmt. Aber Gleichgewicht und damit Frieden ist nicht Ursache dafür, daß die Teilung fortbesteht. Vielmehr brauchen wir Frieden, um die Trennung von Stadt, Land und Kontinent schrittweise zu überwinden und damit dem Frieden Stück für Stück das zu geben, was ihn ausmacht, nämlich seinen substantiellen Inhalt menschlicher Gerechtigkeit.
Vom Zusammenhang von Deutschlandpolitik und internationaler Lage nun zurück zu der Frage: Was macht — zusammengefaßt — die Besonderheit der deutschen Lage aus? Ich nenne fünf Punkte: Erstens. Wir sind in der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich für die gesicherte Lebensfähigkeit des zu uns gehörenden Berlin. Zweitens. Wir sind Anwalt für die menschlichen Freiheitsrechte überall im geteilten Deutschland. Drittens. Die politische Führung der DDR hat ein vitales Interesse daran, die bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen zu uns aufrechtzuerhalten und sie durch neue, große Projekte zu steigern. Viertens. In den Bevölkerungen beider deutscher Teilstaaten ist ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit lebendig, das sich auf die deutsche Nation als ganzer bezieht. Fünftens. Deshalb befindet sich unter allen Deutschen eine besonders tiefverwurzelte Überzeugung von der Notwendigkeit, den Frieden zu bewahren.Immer wieder haben deutsche Regierungsvertreter in diesen krisenhaften letzten Monaten — vor allem in Amerika — auf unsere besondere Lage hingewiesen. Gewiß, das ist ihre Pflicht. Auch deutsche Bündnispolitik dient der Vertretung deutscher Interessen und wirbt folglich bei den Partnern um Verständnis für unsere Gegebenheiten.Andererseits sind aber nun auch tiefgehende Mißverständnisse ausgelöst worden. Denn den einerseits in ihrer Führungsrolle und andererseits durch die Geiselnahme in Teheran besonders bedrängten Amerikanern erschien dies zuweilen als mangelnde Unterstützung für die gemeinsame Sache. Nicht nur uns gegenüber notorisch übelgesonnene Journalisten, die es, wie jeder weiß, natürlich auch in Amerika gibt, sondern der überwiegende Teil der amerikanischen politischen Öffentlichkeit wurde den Verdacht nicht los, wir beriefen uns auf eine besondere Lage, weil wir in Wahrheit Sonderinteressen verfolgten und daher die sowjetische Politik durch eine Sonderbrille betrachteten, um daraus im Bündnis für uns eine Sonderrolle in Anspruch zu nehmen.Das deutsch-amerikanische Verhältnis steht seit Monaten unter starker Belastung. Neben ständigen Versicherungen unveränderter Solidarität gibt es beunruhigende Zeichen fortdauernder Distanzierung. Klaus Harpprecht, einst enger Mitarbeiter des damaligen Bundeskanzlers Brandt, hat sie jüngst in einem großen Aufsatz in der „Zeit" zusammengefaßt. Ich teile nicht seinen Pessimismus, mit dem er endet. Aber ich meine, wir müssen sehen, daß es diese Stimmen gibt, damit wir unsere Aufgaben besser erkennen.Der Bundeskanzler und das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung pflegen mit Entrüstung auf den Verdacht zu reagieren, daß sie nicht treu zum Bündnis, zu Amerika stünden. Gewiß, der Bundeskanzler hat auch ein Recht, sich darauf zu berufen, daß bedeutsame Schritte im Bündnis wesentlich mit auf seine Initiative zurückgehen. Er war es ja vor allem als Verteidigungsminister, der eine verstärkte Abwehrkraft gegen sowjetische konventionelle Überlegenheit, d. h. gegen Panzer, gefordert hat. Dies führte schließlich zur Entwicklung der Neutronenwaffe, die freilich durch ihre Kommentierung in sozialdemokratischen Kreisen als Perversion des menschlichen Denkens
nicht gerade einen leichteren Weg hatte.
Als Bundeskanzler hat er im Herbst 1977 in seiner Londoner Rede auf die dringende Lösungsbedürftigkeit des Grauzonenproblems hingewiesen, mit Recht, wie ich meine. Nicht er hat also damit begonnen, den Doppelbeschluß der NATO zur Nachrüstung und zu Rüstungsverhandlungen zu relativieren. Nein, er hat ihn auf den Weg gebracht.Ich zweifle gar nicht daran, daß der Bundeskanzler in vielen Konferenzen und Gesprächen der Überzeugung von der unveränderten Notwendigkeit des Atlantischen Bündnisses Ausdruck verleiht. Nur ist auch ernst zu nehmen, was — wiederum in der „Zeit" — Gerd Bucerius vor drei Wochen in einem sehr nachdenklichen Artikel geschrieben hat. Er führte aus, daß wir alle von einer tiefen Friedenssehnsucht gekennzeichnet sind. Er zitierte bedeutende, international bekannte deutsche Geister, die weniger mit außenpolitischen Sachargumenten, sondern mehr mit Gefühlen an diese Friedenssehnsucht appellieren und davon sprechen, niemand bedrohe uns. Dann zog Bucerius den Schluß daraus und sagte:Wie kann man es Helmut Schmidt übelnehmen, daß er im Wahlkampf die Sehnsucht des Volkes zu erfüllen trachtet?In der Tat, der Bundeskanzler hat in Wahlversammlungen an die Friedenssehnsucht, die wir alle haben, appelliert, wie wir es alle tun. Aber da hörte ich dann einmal aus einer Fernsehnachricht über
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980 17973
Dr. von Weizsäckereine solche Sendung, wie er sagte: „Wir wollen uns da heraushalten." Auch das wird in Amerika gehört. Bei uns aber wirkt es nicht wie eine notwendige Aufklärung über die Abhängigkeiten, in die die deutsche Außenpolitik nun einmal eingebettet ist, sondern es wirkt wie eine Ablenkung.Wir können uns da nicht heraushalten! Die Lage, in der wir leben, ist in hohem Grade gefahrvoll. Um so wichtiger ist es, sich über den Charakter der Gefahren zu verständigen.Nun meine ich: So krisenhaft die Situation im Iran ist, so grausam die Kampfhandlungen in Afghanistan, so ungelöst die Probleme im Nahen Osten —, das, was uns primär bedroht, ist nicht ein unmittelbar bevorstehender neuer Weltkrieg, sondern es sind langfristige schwer terminierbare Veränderungen. Es ist eine von Jahr zu Jahr zunehmende, schleichende Verschiebung der Macht, vor allem eine Waffenentwicklung, die mehr und mehr zu einer Versuchung werden könnte, atomare Erstschläge auszulösen oder auf andere Weise außerhalb menschlicher Kontrolle zu geraten. Als Folge von beidem sind es eine wachsende Abhängigkeit, ein fortschreitender Verlust in der Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln für uns und für Länder vergleichbarer Größenordnung.
Das Atlantische Bündnis hatte ein klares Konzept auf der Basis des Harmel-Planes: Sicherheitspolitik durch gemeinsame Verteidigungsbereitschaft und durch gemeinsame Anstrengungen zum Gewaltverzicht, zur Rüstungskontrolle, zur Entspannung. Herr Bundesaußenminister, Sie wissen ja, aus welcher Phase dieser Harmel-Plan stammt und von welcher Partei der damalige Bundeskanzler kam.Mehr als eine Dekade ist seither vergangen. Die Sowjetunion hat diese Zeit genutzt. Sie hat militärisch gewaltig aufgeholt und den Westen auf wichtigen Gebieten überholt. Zugleich hat sie Machtverschiebungen auf Gebieten gesucht, von denen sie wußte, daß der Westen nicht wußte, wie er darauf reagieren sollte.In dieser Dekade sind aber nicht nur Stärken, sondern Schwächen der Sowjetunion deutlicher hervorgetreten. Die Stärke liegt, wie gesagt, im militärischen Bereich. Hier hat sie gewaltige Fortschritte gemacht. In den anderen Bereichen dagegen — und zwar nicht nur beim Nationalitätenproblem und in der Ideologie, sondern auch in der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technologie — sind die Schwächen des sowjetischen Systems nicht beseitigt worden. Sie haben sich im Gegenteil eher noch verschärft.
In dieser Lage genügt es nach meiner Überzeugung für den Westen nicht — ich spreche hier nicht von gesicherten Erkenntnissen, sondern ich stelle nur Fragen, von denen ich meine, daß sie gestellt werden müssen —, sich gegenüber der Sowjetunion um eine Wiederherstellung des Gleichgewichts zu bemühen und auf Fortschritte in der Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung zu drängen, so wichtig diese auch sind. Wenn wir alle anderen Felder in den Ost-West-Beziehungen national aufsplittern oder gemeinsam einfrieren,
wenn dadurch also die Schwierigkeiten der Sowjetunion an ihren Schwächepunkten zunehmen, wird uns Moskau gewiß nicht mit den gewünschten Abrüstungsschritten antworten. Im Gegenteil, die Sowjetunion wird immer wieder auf das Gebiet ausweichen, auf dem sie allein Erfolgserlebnisse kennt, nämlich auf das militärische.Wir brauchen also im Westen ein umfassendes Konzept. Um es zu entwickeln, brauchen wir Zeit. Diese Zeit müssen wir uns nehmen. Es wäre ganz falsch, wenn wir uns statt dessen selber unter Zeitdruck setzten, wenn wir mit der autosuggestiven Vorstellung arbeiteten, wir lebten im Juli 1914,
und das einzige, was wir dann noch tun könnten, sei, die Krise zu managen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in einer früheren Bundestagsrede diese Äußerung näher erläutert, und das war auch gut und notwendig. Natürlich ist ein Management notwendig; aber was wir vor allem brauchen, sind die Kraft und der Atem, um ein gemeinsames langfristiges Handeln zu entwickeln. Denn eines hat doch die Afghanistankrise überdeutlich gezeigt: daß ein dafür erforderliches Konzept innerhalb des Bündnisses zur Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks nicht vorhanden ist. In ein solches Konzept müßten selbstverständlich auch die Probleme der Dritten Welt in vollem Umfang einbezogen werden.Wir Deutsche, die wir ein besonderes Interesse am Frieden haben, müssen gerade deshalb mit aller Kraft an der Übereinstimmung mit den Vereinigten Staaten arbeiten. Ich plädiere dafür nicht deshalb so nachdrücklich, weil ich eine tatsächliche oder eine angebliche Reserve der amerikanischen Politik gegenüber einer Fortsetzung von Entspannung nach Europa importieren möchte. Vielmehr bin ich davon überzeugt, daß jeder Versuch der Deutschen oder der Franzosen oder anderer Europäer, eine Arbeitsteilung des Westens in der Weise herbeiführen, daß die Entspannung dezentralisiert, daß sie regionalisiert wird und daß wir als europäische Macht den Versuch machen, sie in Europa allein fortzusetzen, zum Scheitern verurteilt wäre.
Die Alternative, vor der wir stehen, lautet: entweder Entspannung unter führender Mitwirkung der Amerikaner oder aber eine europaisolierte und dann im Laufe der Zeit von der Sowjetunion dominierte politische Situation, die nicht mehr den Namen „Entspannung" verdiente. Das Atlantische Bündnis würde sie auf die Dauer nicht überleben.
Das ist es, meine Damen und Herren, was nach meiner Überzeugung unter anderem gesagt werdenmuß, wenn es um die Frage geht: Was macht die be-
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17974 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
Dr. von Weizsäckersondere Lage der Deutschen aus, und welche Auswirkungen hat sie auf die internationale Politik?Es entspricht — ich komme damit zum Schluß, Herr Präsident — unserem freien Gemeinwesen, daß es jedem deutschen Bürger und jeder Bürgerin selbst überlassen ist, wie sie den heutigen Tag begehen, ob sie dieser Debatte folgen, ob sie eine der zahlreichen Veranstaltungen besuchen, ob sie den Tag vielleicht zu einem Besuch in der DDR benutzen und damit Kontakt aufnehmen und vertiefen oder ob sie den freien Tag benutzen, um sich im Grünen der Freiheit zu erfreuen, die sie haben und die nicht alle haben. Wir aber im freien deutschen Parlament, wir, die wir registrieren, daß ringsum um uns Deutsche herum die Frage lebendig bleibt, ob eigentlich eine Überwindung der Trennung der Deutschen gefährlich, ob sie wünschenswert oder ob sie vielleicht einfach illusionär wäre, wir tragen vor allem anderen die Verantwortung dafür, daß die Zusammengehörigkeit der Deutschen lebendig bleibt, daß sie unsere Politik leitet und daß sie unser Motor ist, nicht ein Motor von Gefahren für unsere Nachbarn, sondern ein Motor für einen vertieften Frieden, einen Frieden, dessen Vorrang das Schicksal der Menschen, dessen Vorrang die Menschenwürde ist und dessen Vorrang daher auch unseren Nachbarn in der langen Frist zugute kommen würde.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gern nehme ich in dieser Debatte den Faden auf, den der Herr Kollege von Weizsäcker hier mit seinen Ausführungen geknüpft hat. Er ist, wie mir scheint, mit seinem Beitrag auch dem Anspruch gerecht geworden, den der Außenminister an die heutige Aussprache zum Tag der Deutschen Einheit gestellt hat. Meine Damen und Herren, ich kann allerdings nur hoffen, daß die Opposition selbst bereit ist, die Positionen zu akzeptieren, die Herr von Weizsäcker hier eben vorgetragen hat.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich heute an das Wort von Theodor Heuss erinnern, der einmal gesagt hat:Das Schicksal West-Berlins ist an West-Deutschland gebunden, aber das Schicksal Gesamt-Deutschlands bleibt an Berlin gebunden.So richtig Abhängigkeiten und Wechselwirkungen damit beschrieben wurden, so notwendig ist doch die Erkenntnis, daß sich Deutschlandpolitik immer nur in dem Rahmen bewegen kann, der durch die weltpolitischen Entwicklungen vorgegeben ist; denn in der Teilung unseres Landes spiegelt sich letztlich die Teilung der Welt wider. Nicht erst am17. Juni 1953 wurde uns die Aufteilung der Welt in zwei gegensätzliche Blöcke bewußt. Sie wirkt mit ihren negativen Folgen bis in unsere Tage fort.Der mühsame und gewiß nicht ganz erfolglose Versuch, aus dieser konfliktgeladenen Konfrontation herauszufinden, mündete in den großen, die politischen und gesellschaftlichen Gegensätze und Kontinente überspannenden Dialog der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa — ein Prozeß, von dem wir nach einem ermutigenden Auftakt in Helsinki und nach einem eher enttäuschenden Zwischenspiel in Belgrad gehofft hatten, daß er auch der Folgekonferenz in Madrid neue Impulse für die Beachtung der Menschenrechte, für die Forderung nach friedlicher Zusammenarbeit und für die wirksame Politik der Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle enthalten und geben würde.Die sowjetische Militäraktion in Afghanistan hat die Basis für eine solche Politik schwer erschüttert. Es ist leider nicht zu leugnen, daß die sowjetische Politik immer wieder durch Gewalt nach innen und außen gekennzeichnet wird. Nach Afghanistan und angesichts des rücksichtslosen Vorgehens gegen die Bürgerrechtler im eigenen Lande kommt einem das Wort „Entspannungspolitik" nur noch schwer über die Lippen.Und doch ist gerade jetzt nichts wichtiger als eine Politik, die zum Abbau der Konflikte führt. Der Prozeß der krisenhaften Entwicklung darf nicht eskalieren. Um ihn zu stoppen, einzudämmen und umzukehren, sind Geschlossenheit, Festigkeit, aber auch die Bereitschaft zum Widerstand wichtig. Ich glaube, das ist auf dem Boden der in den Vereinten Nationen bekundeten internationalen Solidarität möglich.An der Fähigkeit und dem Willen dazu sollten wir keinen Zweifel aufkommen lassen. Sicher, es hat Irritationen gegeben, und die Abstimmung im westlichen Bündnis vermittelt nicht gerade unbedingt den Eindruck von Geschlossenheit auf der Grundlage einer klaren Konzeption. Aber hier ist Abhilfe geschaffen worden. Das Bündnis hat besonnen und zugleich eindeutig reagiert.Es wäre jedenfalls fatal, hätte die Sowjetunion durch den Einmarsch in Afghanistan in dem die Freiheit des Westens sichernden Bündnis Erosionserscheinungen auslösen können.
Bei einem solchen Ergebnis wäre sogar der totale Ansehensverlust in der Dritten Welt für sie zu verschmerzen gewesen. Davon, so scheint mir, kann jedenfalls jetzt keine Rede mehr sein. Wir sollten uns das auch nicht einreden lassen.
Die Spannungen in den einzelnen Regionen sind so hochexplosiv und nicht nur für die unmittelbar Betroffenen so lebensbedrohend, daß wir mit sehr
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Hoppeviel Sorgfalt an die Analyse und die Beherrschung der Ursachen herangehen müssen.Nun wird die Bundesregierung von der Opposition mit einem in diese Richtung zielenden Vorwurf überzogen. Sie und ihre Partner in der Europäischen Gemeinschaft, so rügt die Opposition, hätten in ihrer Nahost-Erklärung die nationalen Interessen Israels vernachlässigt. Die Kollegin Renger hat es so ausgedrückt: Israel wurde vor den Kopf gestoßen; seine Meinung wurde nicht respektiert; den Amerikanern, denen der Friede zwischen Israel und Ägypten allein zu verdanken ist, wird nicht wirklich geholfen.Meine Damen und Herren, es wäre in der Tat schlimm, wenn die Deutschen jetzt aus ihrer Geschichte aussteigen und nicht mehr für das Leben und die Existenz Israels streiten wollten.
Wirtschaftlich begründete Egoismen dürfen unsere moralische Verpflichtung niemals auslöschen.
Dessen ist sich die Bundesregierung ja auch durchaus bewußt gewesen,
und sie hat gerade deshalb auf eine Resolution hingewirkt, die diese Verpflichtung nicht außer acht läßt.Besonders die Kritik der israelischen Regierung, so scheint mir, verdrängt die bedingungslose Unterstützung des Existenzrechts des israelischen Staates. Sie übersieht, daß die arabischen Staaten und die Palästinenser von uns aufgefordert werden, das Lebensrecht Israels in gesicherten Grenzen anzuerkennen. In einer schwierigen Zeit versucht die Europäische Gemeinschaft, auf einem schwierigen Feld den durch Präsident Sadat mutig eingeleiteten Schritt zur Aussöhnung zu fördern.Es wäre töricht, wollten sich die Europäer dabei als Konkurrenten zu den Vereinigten Staaten aufspielen, die mit den Verhandlungen in Camp David einen entscheidenden Beitrag geleistet haben. Europa kann und will nicht an die Stelle Amerikas treten. Aber, meine Damen und Herren, eine Hilfestellung scheint möglich und vielleicht notwendig. Die jüngsten Äußerungen aus der amerikanischen Regierung lassen, wie mir scheint, dann auch erkennen, daß die konstruktiven Elemente, die in einer solchen europäischen Initiative enthalten sind, als durchaus hilfreich angesehen werden.Schließlich gibt es eine Arbeitsteilung doch wohl nicht nur im militärischen Bereich. Die Europäer sollten also den Amerikanern dabei helfen, für Israel den Frieden zu erhalten und diesen durch dauerhafte Regelungen mit den arabischen Nachbarstaaten unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser zu untermauern und zu sichern.Störungen und Reibungsverluste im westlichen Konsultationsmechanismus sind nicht nur bei den Problemen Afghanistan, Iran-Sanktionen und Nahost spürbar geworden. Besonders bei der Beurteilung der Reisediplomatie sind unterschiedliche Bewertungen.offenkundig. Es ist deshalb verständlich, daß der Besuch von Bundeskanzler Schmidt und Außenminister Genscher in Moskau Anlaß geben konnte, über Sinn und Zweck, Chancen und Gefahren dieser Reise zu spekulieren. Nicht erst das Schreiben des amerikanischen Präsidenten regte dazu an, über unterschiedliche Bewertungen zu meditieren.
Bevor hier aber aus dem Kaffeesatz gelesen wird, sollte man eher aufmerksam die Äußerungen registrieren, die von amerikanischer Seite selbst dazu gemacht werden. Der amerikanische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, Walter Stoessel, hat erklärt: „über diese Reise führen wir sehr enge Gespräche, um sie sorgfältig vorzubereiten. Der Kanzler wird in Moskau als Vertreter eines Schlüssellandes der NATO sprechen."
Jetzt hat sich der amerikanische Präsident in dieser Sache selbst zu Wort gemeldet.Mir scheint, diese klaren Aussagen sollten in der innenpolitischen Diskussion nicht verunreinigt werden.
Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß die Bundesregierung fest zum Atlantischen Bündnis und zu ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft steht. Weder bei dem Nachrüstungsbeschluß der NATO noch bei einem anderen Punkt der verschiedenen abgestimmten Maßnahmen wird gewakkelt. Wie könnte auch gerade der Bundeskanzler von Entscheidungen abrücken, die im Interesse der Sicherheit und Wiederherstellung des militärischen Gleichgewichts getroffen wurden? Gerade er hält sie doch für dringend notwendig und hat sie deshalb immer wieder angemahnt.
Es ist erfreulich, daß auch der Kollege von Weizsäkker deutlich gemacht hat, daß Zweifel überhaupt nicht angebracht sind und wir uns eine solche Diskussion ersparen sollten.Wenn Bundeskanzler und Außenminister jetzt eine Einladung nach Moskau annehmen, um mit der sowjetischen Führung zu reden, dann wahrlich nicht, um Appeasement-Politik zu treiben. Verehrter Herr Kollege Kohl, eine „Einkaufsreise" findet nun ganz sicher nicht statt. Wenn es eine „Einkaufsreise" nach Moskau a la Helmut Kohl geben sollte, dann müßten wir ja den Oppositionsführer selbst dorthin schicken; denn allenfalls er hat dort einen
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17976 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1980
HoppeNachholbedarf, wo er gemeint hat, daß der Bundeskanzler einkaufen müßte.
— Verehrter Herr Kollege Kohl, Sie haben sich doch diese Peinlichkeit geleistet. Nun jammern Sie nicht, wenn das auf Sie selbst zurückfällt.
Die deutsche Position ist klar. Ohne Zweifel müssen die Sowjets ihr Verhalten in Afghanistan korrigieren, und wir müssen alles daransetzen, damit sich Afghanistan nicht an einem anderen Punkt der Erde wiederholen kann. Das erreichen wir nur, wenn das militärische Übergewicht der Sowjetunion nicht bestehenbleibt bzw. noch stärker wird. Erstrebenswert ist es, dieses Gleichgewicht durch Ab- und nicht durch Aufrüstung zu erlangen. Deshalb muß uns allen daran gelegen sein, endlich auch den Teil des Dezember-Beschlusses der NATO auf eine Verhandlungsebene zu bringen, der das Angebot zu Abrüstungsverhandlungen enthält. Das liegt wahrlich im Interesse aller Völker und besonders jener Staaten, die auf Hilfe von außen angewiesen sind.
Gerade sie müssen nämlich Wert darauf legen, daß bei den Industrienationen die Fähigkeit erhalten bleibt, diese Hilfe auch leisten zu können. Das um so mehr, als die kommunistische Welt nur ihre Ideologie und ihre Waffen für die Dritte Welt bereithält.Wenn die Bundesregierung ihren Beitrag zur Friedenssicherung leistet, hat sie sich dabei natürlich auch an dem Wohl des eigenen Landes orientiert Gerade das geteilte deutsche Volk ist auf Zusammenarbeit in einer friedlichen Welt angewiesen. Nur im Frieden wird es uns gelingen, die Folgen der Teilung für die Menschen zu lindern und erträglicher zu machen.Angesichts der gegenwärtigen Weltlage ist es bemerkenswert, daß das deutsch-deutsche Verhältnis nicht jene negativen Entwicklungen nachvollzogen hat, wie sie zwischen den Großmächten zu registrieren sind. Das ist ein Lichtblick in den ansonsten düsteren Ost-West-Beziehungen. Das ist der entscheidende Unterschied zur unversöhnlichen Konfrontation der 50er und 60er Jahre. Er kommt nicht von ungefähr. Gerade heute zeigen sich Wert und Bedeutung unserer Ostpolitik mehr denn je.Allerdings sollten wir uns keiner Selbsttäuschung hingeben. Von einer selbsttragenden Konjunktur kann im deutsch-deutschen Verhältnis noch keine Rede sein. Im übrigen dürfen wir auch nicht vergessen, daß die DDR von Moskau an der kurzen Leine geführt wird.Gerade deshalb kommt es darauf an, behutsam zu sichern, was in den vergangenen Jahren erreicht werden konnte. Wir können es nicht bei den erzielten Fortschritten bewenden lassen, für uns sind die bisher errungenen menschlichen Erleichterungen noch immer nicht zufriedenstellend. Erst wenn sich in den menschlichen Beziehungen, d. h. beim Reiseverkehr auch in Ost-West-Richtung, Entscheidendes verbessert hat, wird man von einer echten Qualitätsverbesserung im deutschen Verhältnis sprechen können.
Dennoch hat die Vertragspolitik schon jetzt bewirkt, daß sich die Menschen in Deutschland nicht weiter auseinanderleben. Denen, die aus dem Volk zwei machen wollten, sind wir mit Erfolg entgegengetreten. Unsere Deutschlandpolitik kann sich allerdings auch künftig nur in jenem Koordinatensystem bewegen, das von den europäischen und weltpolitischen Fakten bestimmt wird. Für uns ergibt sich daraus: Deutschlandpolitik muß zugleich als Friedenspolitik verstanden werden.
Die Fortsetzung der Entspannungspolitik ist deshalb für uns patriotische Pflicht.In der Bundesrepublik Deutschland glauben wir im übrigen, eingesehen zu haben, daß die Freiheit der Menschen wichtiger als irdische Güter ist. Wir werden und deshalb weiter einer Politik verpflichtet fühlen, die beharrlich der Freiheit nach innen und außen dient. So wollen wir denn auch künftig Überzeugungsarbeit leisten, damit es eines Tages auch für unsere Nachbarn in Ost und West wünschenswert erscheint, daß Deutschland seine Einheit im Interesse des Friedens wiedererlangt.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.