Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, für den verstorbenen Abgeordneten Graaff hat mit Wirkung vom 15. Dezember 1975 der Herr Abgeordnete Dr. Kreibaum die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich und wünsche ihm eine erfolgreiche Mitarbeit in unserem Hause.
Meine Damen und Herren, es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die gemäß § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:
Betr.: Tagung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 1. bis 9. Oktober 1975 in Straßburg
— Drucksache 7/4319 —
zuständig: Auswärtiger Ausschuß
Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Auswirkungen einer europäischen Außenpolitik auf Verteidigungsfragen
— Drucksache 7/4520
zuständig: Auswärtiger Ausschuß , Verteidigungsausschuß
Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Verordnung über die Schaffung eines Finanzmechanismus
— Drucksache 7/4521 —
zuständig: Haushaltsausschuß
Betr.: Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit der Studentenwohnraumförderung nach den Richtlinien des Bundes und der Länder
Bezug: Beschluß des Deutschen Bundestages vom 11. Juni 1974
— Drucksache 7/4536 —
zuständig: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft , Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Es erhebt sich kein Widerspruch; so beschlossen.
Für den aus dem Vermittlungsausschuß ausscheidenden Abgeordneten Pfeifer hat die Fraktion der CDU/CSU als Vertreter des Abgeordneten Russe den Abgeordneten Müller benannt. Auch damit ist das Haus einverstanden; so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Wörner,
Biehle, Damm, Ernestie, Gierenstein, Handlos,
Dr. Kraske, Löher, Rommerskirchen, de Terra,
Frau Tübler, Stahlberg, Dr. Marx und der Fraktion der CDU/CSU
betr. Verteidigungspolitik
— Drucksachen 7/3874, 7/4072 —
In der gemeinsamen Debatte rufe ich ferner Punkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wörner, Handlos, Stahlberg, Ernesti, de Terra, Biehle, Frau Tübler, Dr. Kraske, Gierenstein, Dr. Kunz , Rommerskirchen, Dr. Jobst, Löher, Geisenhofer, Kiechle, Sick, Eigen, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim und Genossen
betr. Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten für Unteroffiziere in den Kampf- und Kampfunterstützungstruppen des Heeres
— Drucksache 7/4433
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wörner als Antragsteller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU hat diese Große Anfrage zur Verteidigungspolitik eingebracht, weil wir über den Zustand und das Schicksal der Atlantischen Allianz besorgt sind, weil nach unserer Auffassung die Verteidigungsanstrengungen und vor allen Dingen auch der Zusammenhalt im Bündnis nicht ausreichen, um den Frieden auch in der Zukunft zu sichern, und weil wir angesichts der weiteren Verschiebung der Kräfteverhältnisse zuungunsten des Westens für die Freiheit in Westeuropa und in unserem Lande fürchten.Die drohenden Gefahren offen anzusprechen und Wege aufzuzeigen, wie sie gemeistert werden können, das ist nach unserer Auffassung der Sinn dieser Debatte. Denn wir können von den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland, wir können von den Bürgern des Westens Einsicht und Bereitschaft zu Opfern nur dann erwarten, wenn wir ihnen deutlich machen, wie bedrohlich die gegenwärtige Lage ist
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14598 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Dr. Wörnerund daß nicht weniger auf dem Spiel steht als ihre ganz persönliche Sicherheit und Freiheit.
Es genügt nicht, wenn der Herr Bundesaußenminister dem außen- und verteidigungspolitischen Ausschuß in geheimer Sitzung, also hinter verschlossenen Türen, seine Ansicht über den ganzen Ernst der Lage und über die wirklichen Ziele der Sowjetunion darstellt. Das ist einfach nicht genug. Unser Volk ist reif genug dafür, die Wahrheit auch in aller Öffentlichkeit zu hören.
Es hat Anspruch darauf, zu erfahren, wie die Dinge auch nach Meinung einiger Regierungsmitglieder wirklich stehen.
Man kann es auch nicht dem Verteidigungsminister Leber allein überlassen, im Ausland wie im Inland zu warnen. Es ist ja auch kein Wunder, daß er langsam zu einer Art — im wahrsten Sinne des Wortes — schwarzen Schafes in dieser Regierung wird.
Unser Volk wird erst dann aufhorchen, wenn alle in dieser Regierungskoalition so reden wie der Verteidigungsminister. Solange da noch mit gespaltener Zunge geredet wird, solange noch mit verteilten Rollen gespielt wird, etwa nach dem Motto: Leber für die Realisten, für die kalten Krieger und für die Rechten und Brandt für die Träumer, für die Friedfertigen und für die Linken, solange die Herren Hansen und Mattick den Weggang Schlesingers mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, weil damit ein Hindernis für die Entspannung aus dem Wege geräumt sei, und solange beim Besuch des Kollegen Wehner in Warschau der alte gefährliche sozialdemokratische Neutralismus fröhliche Urständ feiert,
so lange werden wir nicht wirklich eine Umkehr erzwingen.
Diese Umkehr brauchen wir, wenn wir die Freiheit in diesem Lande aufrechterhalten wollen. Die Lage ist leider wesentlich kritischer — niemand freut sich darüber —, als die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zu erkennen gibt, die doch alles in allem unter dem Motto steht: Lieb Vaterland, magst ruhig sein.Dem Westen droht eine dreifache Gefahr: ein immer gefährlicher werdendes militärisches Ungleichgewicht, der Verlust der politischen Initiative und der Mangel an geistiger Dynamik. Die Sowjetunion ist auf dem Wege zur stärksten Militärmacht der Welt. Die Antwort der Bundesregierung läßt die ungewöhnliche Dynamik sowjetischer Rüstungsanstrengungen und läßt auch das Tempo sowjetischer Aufrüstung nicht einmal ahnen, geschweige denn erkennen. Man gewinnt, wenn man diese Antwort liest, den Eindruck, als habe sich in den letztenJahren oder gar im letzten Jahr nichts oder nur sehr wenig geändert. Die Wirklichkeit sieht leider ganz anders aus:Erstens. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß sich die Sowjets auf strategisch-nuklearem Gebiet eben nicht mit der Parität abfinden, sondern die Überlegenheit anstreben.
Zweitens. Auch das Arsenal taktisch-nuklearer Waffen des Warschauer Pakts in Mitteleuropa wird verstärkt und wird modernisiert, übrigens zum gleichen Zeitpunkt, in dem wir anbieten, unsere taktisch-nuklearen Waffen zu reduzieren.Drittens. Die konventionellen Streitkräfte werden in allen Bereichen verbessert. Eine neue Generation taktischer Kampfflugzeuge wird eingeführt. Dabei ist charakteristisch, daß sich der Schwerpunkt von der Luftverteidigung zugunsten weitreichender offensiver Luftkriegführung geändert hat.Viertens. Besonders augenfällig ist das geradezu atemberaubende Tempo der sowjetischen Seerüstung. Ihre moderne Flotte, ihre erhöhte Lufttransportfähigkeit und die Errichtung von Versorgungsstützpunkten an fremden Küsten rund um den Globus erlauben es der Sowjetunion heute, militärische Macht rund um die Welt einzusetzen.Eines steht als Motto über diesen ganzen Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion. Allen diesen Verbesserungen von Waffen, Ausrüstungen und Ausbildung ist eines gemeinsam: die wachsende Fähigkeit zur Offensive. Noch nie — und ich weiß nicht, ob sich unser Volk darüber Rechenschaft ablegt — in der Menschheitsgeschichte hat es in Friedenszeiten einen so gewaltigen Ausbau militärischer Stärke gegeben wie gegenwärtig in der Sowjetunion.
Man muß sich doch fragen: Was steckt dahinter? Welche Motive bewegen die sowjetrussischen Führer, dem russischen Volk gerade in einer Zeit, in der sie von Entspannung reden, von Koexistenz reden, so harte Opfer, so viele Entbehrungen im Konsum aufzuerlegen? Und auch auf diese, wie ich meine, Herr Leber, entscheidende Frage gibt Ihre Antwort, gibt die Antwort der Bundesregierung nichts her. Sie bleiben uns hier die Antwort schuldig. Warum eigentlich? Warum sprechen Sie nicht aus, was auch Sie darüber wissen? In den Ausschußsitzungen hören wir es. Sagen Sie es doch endlich einmal draußen in diesem Volk!
Ist es denn etwa ein übersteigertes Sicherheitsbedürfnis der Russen? Das ist ja eine These, die gelegentlich aufgestellt wird. Der Herr Kollege Ahlers hat sie in einem Artikel unlängst herausgestellt. Oder ist es etwas anderes, was man darüber hört: Ist es der Automatismus des militärisch-industriellen Apparats in der Sowjetunion? Einen Hinweis für die Antwort auf diese entscheidende Frage gibt uns die Feststellung, die Admiral Hill-Norton auf der letzten Tagung der NATO in Brüssel getroffen hat. Er sagte: „Die Ostblockstaaten haben Streitkräfte auf-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14599
Dr. Wörnergebaut, die nach Größe und Aufbau nur zum Angriff gedacht sein können. Sie können nicht als Kräfte der Verteidigung angesehen werden, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war."Im übrigen: Wenn ich immer wieder höre, die Sowjetunion hätte Angst vor der NATO oder vor der Bundeswehr oder vor den Amerikanern, so kann ich nur sagen: Die Sowjets wissen sehr genau, daß die NATO in Europa nach Ausrüstung, Dislozierung und Ausbildung überhaupt nicht in der Lage ist, den Warschauer Pakt anzugreifen, selbst wenn wir das wollten. Daß wir das nicht wollen, daß die NATO einen solchen Plan und eine solche Absicht nicht hat, müssen die Sowjets durch ihre zahllosen Spione wissen, spätestens seit Herrn Guillaume, der nun wirklich Einblick in die geheimsten Pläne der NATO hatte und daraus entnehmen konnte, daß eine Angriffsabsicht der NATO mit aller Sicherheit nicht bestand.
Nein, die Sowjetunion braucht diese forcierte Aufrüstung nicht zur Befriedigung ihres Sicherheitsbedürfnisses.Wenn die Sowjets ihren militärischen Machtapparat ausbauen, so deshalb, weil sie ihn brauchen, um ihrer politisch expansiven und offensiven Strategie gegenüber dem Westen zum Erfolg zu verhelfen. Das Merkwürdige, das Frappierende ist: Sie sagen uns selbst, warum sie diese militärische Macht aufbauen. Sie sagen es uns sogar hier im Westen und hier in der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Absicht ist — ich zitiere — die weltweite Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten des Sozialismus. Ihr Ziel ist — ich zitiere, was ein sowjetischer Politiker und Wissenschaftler erst vor kurzem hier in der Bundesrepublik Deutschland gesagt hat —
der Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab. Koexistenz ist nach ihrer Auffassung — ich zitiere wieder — der direkte Weg zum Sieg dieses Sozialismus. Etwas, was wir alle viel zu wenig ins Auge fassen, ist dies: Die Außenpolitik der Sowjetunion ist im Unterschied zu der des Westens vom Bewußtsein einer historischen Perspektive erfüllt. Das verleiht ihr eine so ungeheure Dynamik. Daher kann nicht nachdrücklich genug davor gewarnt werden, die ideologische Komponente der russischen Politik zu unterschätzen. Schon bei Hitler hat der Westen den Fehler begangen, einem Diktator nicht zu glauben, der seine Ziele offen dargestellt hat. Machen wir doch nicht wieder den gleichen Fehler, und unterschätzen wir nicht, was uns die Russen selbst über ihre Absichten hier im Westen sagen.
Im übrigen ist es gleichgültig, ob die sowjetische Machtpolitik der kommunistischen Ideologie folgt oder ob die Ideologie der Untermauerung dieser Machtpolitik dient. Entscheidend ist, daß Praxis und Theorie sowjetischer Politik sich nahtlos decken. Eine entscheidende Rolle in dieser Politik spielt nach wie vor die militärische Macht. Wenn die UdSSR mit aller Kraft versucht, in Mitteleuropa, in denRandmeeren, ja, weltweit militärische Überlegenheit zu erringen, dann nicht notwendigerweise, um einen Krieg zu führen. Sie weiß eines, was viele im Westen vergessen haben, nämlich daß militärisches Übergewicht die Handlungsfähigkeit und das Durchsetzungsvermögen des Unterlegenen einschränkt, daß sie ihn krisenanfällig macht, ihn erpreßbar macht und daß sie letztlich zur politischen Dominanz des militärisch Überlegenen führt.
Wenn die Bevölkerung und wenn die Regierung eines Landes wissen, daß sie dieses Land im Ernstfall nicht mit Aussicht auf Erfolg verteidigen können, dann werden sie in kritischen Situationen ganz einfach nicht das Stehvermögen haben, das nötig ist, sondern sie werden sich dem Druck beugen.
Wer schwächer ist — das ist eine alte Regel —, muß in kritischen Situationen nachgeben.
Der Westen hat dieser Rolle der militärischen Macht bisher viel zuwenig Beachtung geschenkt. Dabei stellt der indirekte Gebrauch militärischer Macht zumindest in Mitteleuropa heutzutage die gefährlichste Spielart und die bedrohlichste Spielart des Gebrauchs von militärischer Macht dar. Es ist ein ganz charakteristischer Unterschied, den man einfach bedenken muß: Während wir im Westen immer noch dazu neigen, Streitkräfte fast ausschließlich als Instrumente der Kriegführung zu sehen, sieht der Osten sie in erster Linie und in klarer Fortsetzung Clausewitzschen strategischen Denkens als Instrumente, den Frieden für sich zu entscheiden.Meine Damen und Herren, muß es uns nicht unter diesen Aspekten alarmieren, wenn die Sowjetunion jetzt mit über 4 Millionen Mann doppelt soviel Soldaten wie die USA unter Waffen hält, viermal soviel Unterseeboote und Kriegsschiffe produziert, 70 % mehr taktische Flugzeuge produziert, wenn ihre Rüstungskapazität — Herr Leber hat in Brüssel darauf aufmerksam gemacht — die der USA im Verhältnis 5 : 1 übersteigt? Gibt es einen besseren Beweis für das offensive, für das weltweit expansive Konzept der Sowjetunion als den systematischen Ausbau eines militärischen Stützpunktsystems in Afrika? Denken Sie an Guinea, an Somalia, denken Sie an die unverhüllte militärische Inter-tention in Angola!Wann begreifen wir hier in Mitteleuropa endlich, welchen tiefgreifenden Wandel in der strategischpolitischen Landschaft, in der strategisch-politischen Lage unseres Landes es bedeutet, wenn im Dreieck zwischen Kapverden, Guinea-Bissao und Conakry ein sowjetischer Flottenverband mit Luftunterstützung jederzeit in der Lage wäre, all jene Schiffahrtslinien um das Kap abzuschneiden oder wenigstens ernsthaft zu bedrohen, die 60 % des Erdölbedarfs und 50 % aller Rohstoffe, welche die Länder der Europäischen Gemeinschaft brauchen, heranschaffen? Bedenken wir eigentlich, daß hier die Sicher-
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14600 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Dr. Wörnerheit auch unseres Landes, auch Europas auf dem Spiele steht? Heute kann man Sicherheit nicht mehr regional sehen, Sicherheit ist heute nur noch global zu sehen und auch nur global durch entsprechende Anstrengungen zu erreichen.
Wann endlich reagieren wir angemessen auf diese immer stärker werdende maritime Bedrohung an unseren Flanken?Auch im Zentralbereich, hier in Mitteleuropa, wo das gegenwärtige Kräfteverhältnis gerade noch ausreicht, um abzuschrecken — ich sage: gerade noch —, droht doch in Kürze ernsthafte Gefahr für unsere Widerstandsfähigkeit, und zwar dann, wenn der militärisch gegenläufige Trend in Ost und West anhält. Das sichtbar zu machen und Konsequenzen daraus zu ziehen, ist der Sinn dieser unserer Großen Anfrage.Wie reagiert die NATO, wie reagiert Westeuropa auf die sowjetische Doppelstrategie, nämlich einerseits die militärische Überlegenheit auszubauen und andererseits die Abwehrkräfte des Westens durch Entspannungsbeteuerungen zu lähmen? Die gefährlichste Folge einer unkritisch betriebenen Entspannungspolitik ist es, daß sie auf den Selbstbehauptungswillen des Westens einschläfernd gewirkt hat; anders kann man das nicht ausdrücken.
Man fühlt sich einfach nicht mehr bedroht, und daher ist man nicht mehr bereit, für seine Verteidigung Opfer zu bringen.Hinzu kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, welche die Neigung begünstigen, auf Kosten der Verteidigung zu sparen. Hier betreibt der Westen nichts anderes als einen mehr oder weniger systematischen Abbau der Friedensvorsorge. London trägt sich mit der Absicht, noch einmal kräftige Abstriche im Verteidigungshaushalt vorzunehmen; Belgien kürzt erneut seine Wehrdienstzeit; Italien hat seine Streitkräfte drastisch reduziert; die Niederlande und Dänemark sind auf diesem Wege vorangegangen. Leider macht auch die Bundesrepuplik Deutschland keine oder nur eine sehr begrenzte Ausnahme. Sicher steht die Bundesrepublik Herr Leber, besser da als die meisten europäischen Verbündeten. Aber all ihre Beteuerungen helfen über eine beweisbare, glasklare Tatsache nicht hinweg, daß nämlich auch bei uns in der Bundesrepublik schon im zweiten Jahr hintereinander die realen Aufwendungen für die Sicherheit und für die Verteidigung zurückgehen und nicht im Steigen begriffen sind, obwohl da drüben die Aufrüstung in diesem Tempo weitergeht.Sie können es drehen und wenden wie Sie wollen, 4,5 % Steigerungsrate reichen noch nicht einmal aus, um den Inflationsverlust abzudecken.
Dazu kommt eine bedenkliche Schwäche — ichspreche das ganz bewußt an, weil so wenig darübergeredet wird — der Bundesrepublik Deutschland imBereich der Gesamtverteidigung. Die Zivilverteidigung existiert kaum noch. Die zivil-militärische Zusammenarbeit liegt im argen. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland leistet sich wahrscheinlich als einzige Regierung aller Industriestaaten nicht nur des Westens, sondern der Welt den Luxus, die Nahrungsmittelreserve für die zivile Bevölkerung aufzulösen.
Welche Widerstandskraft erwarten Sie eigentlich von einer Bevölkerung, die weiß, daß für ihre Ernährung noch nicht einmal in Kriegs-, sondern in Krisen- und Notzeiten nicht ausreichend Vorsorge geleistet ist?
Und was signalisieren Sie damit der anderen Seite? Es geht doch hier immer um die Abschreckung. Es geht doch darum, den Konflikt gar nicht erst ausbrechen zu lassen. Das kann man nur, indem man der anderen Seite zeigt, daß man vorbereitet ist, daß keine Aussicht besteht, den Westen zu übertöpeln, den Westen militärisch zu besiegen. Darum geht's doch. Das ist die beste Garantie für Frieden in Mitteleuropa und auf dieser Welt, noch immer, leider.
Noch deutlicher wird der verhängnisvolle Trend, wenn man die Wachstumsraten der Verteidigungsausgaben vergleicht. Während die UdSSR konstant ihre Rüstungsaufwendungen jährlich um real 4 bis 6% gesteigert hat, gehen die Aufwendungen in den meisten NATO-Staaten real zurück. Der sowjetische Militärhaushalt beansprucht 15 % des sowjetischen Bruttosozialprodukts, der amerikaninsche 6%, die übrigen NATO-Staaten im Schnitt zwischen 3 und 4 %. In absoluten Zahlen ausgedrückt übersteigt die sowjetische militärische Anstrengung die der USA um 45 %. Die Aufwendungen für Forschung und Entwicklung — das ist für die Zukunft, das ist für den Trend wesentlich — in der UdSSR sind um über die Hälfte größer als die in den USA.Ich sage Ihnen: wenn dieser Trend nicht gebrochen wird, dann wird die Überlegenheit der UdSSR erdrückend werden, und Westeuropa wird mit seiner Verteidigungsfähigkeit auch seine Sicherheit und seine Freiheit verspielen.
Wer diesen Preis nicht zahlen will, der muß auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten den Aufgaben der Verteidigung höchsten Rang zumessen.Das, was ich vorgetragen habe, ist alles andere als apokalyptische Schwarzmalerei, das ist auch nicht Zweckpessimismus der Opposition, wie das gelegentlich gesagt wird, sondern das ist das Ergebnis nüchterner Analyse. Schlesinger hat nicht ohne Grund Churchill zitiert und seinen Zeitgenossen zugerufen, den Wahnsinn in der Sicherheitspolitik nicht zu wiederholen, der uns schon einmal beinahe das Leben gekostet hat. Selbst ein so besonnener und zurückhaltender Journalist wie Fred Luchsinger schreibt in der „Neuen Zürcher Zeitung" : „Die Machtbalance, auf der die Sicherheit beruht, hat sich deutlich zuungunsten des Westens
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14601
Dr. Wörnerverschoben." Nur die Bundesregierung kommt in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zu dem Schluß, daß sich aus der gegenwärtigen Situation keine unmittelbaren militärischen und politischen Gefahren ergeben.
Meine Damen und Herren, das ist schon kein Optimismus mehr, das ist unverantwortliche Beschönigung. Was muß eigentlich noch alles in dieser Welt passieren, bevor diese Regierung die Gefahren sieht und unserem Volk auch mitteilt?
Gefährlicher noch als der militärisch ungünstige Trend ist der Verlust der politischen Initiative, den der Westen erlitten hat. Das Gesetz des Handelns ist ihm entglitten. Der Streit zwischen Griechenland und der Türkei lähmt die überragend wichtige Südost-Flanke. Mit dem Fischereistreit zwischen Großbritannien und Island steht der strategische Riegel der NATO am Rande des Nordmeers auf dem Spiel.
— Herr Horn, Sie sollten bei Ihren Zwischenrufen ein bißchen mehr Überlegung anwenden. Hier geht es doch nicht darum, Schuld oder Unschuld zu verteilen. Hier geht es darum, die Lage des Westens— das ist auch Ihre Lage — ungeschönt darzustellen, damit unser Volk begreift, worum es geht, und damit dieses Volk in der Lage und bereit ist, das zu tun, was angesichts des Ernstes dieser Lage notwendig ist. Da geht es nicht um Polemik.
Eine andere, strategisch bedeutsame und nahezu unersetzliche Bastion des Bündnisses, nämlich die Azoren, ist durch die Entwicklung in Portugal in Gefahr. Auch politisch ist doch der Kommunismus in Europa auf dem Vormarsch. In Portugal hat er schon einen Fuß in der Tür. In Italien hoffen wir alle noch, daß es gelingen wird, den Kommunismus draußen vor der Tür zu halten. Aber auch da sind wir doch nicht mehr sicher. Auch die französischen Kommunisten, obwohl in ihrer Absicht der Regierungsbeteiligung gescheitert, üben doch einen beträchtlichen Einfluß auf die französische Sicherheits-und Innenpolitik aus. Die europäische Einigung kommt nicht voran. Ist es da ein Wunder, wenn nicht nur wir uns Sorge machen, sondern wenn sich die sowjetischen Führer in ihrer historischen Perspektive bestärkt fühlen, wenn sie triumphierend von der Krise des Kapitalismus reden und mit ihr rechnen? Die sowjetische Führung ist heute nach zehn Jahren Entspannungspolitk ihren Zielen in Westeuropa näher als nach zwanzig Jahren des kalten Krieges. Das muß ausgesprochen werden.
Die NATO hat es nicht geschafft, ihr Doppelkonzept der Verteidigung und der Entspannung konzeptionell zu verarbeiten und politisch durchzuhalten.
Ein typisches Beispiel dafür ist die letzte NATO-Konferenz in Brüssel. Einerseits war man nicht imstande, auch nur den Beschluß zu fassen, im Westen nicht weiter zu reduzieren; andererseits macht man ein neuerliches Angebot an den Russen. Dann finden wir im Kommuniqué noch die reizende Passage, daß die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses seit einigen Monaten ermutigende Merkmale aufweist. Ja, wen wundert es denn noch, mein Damen und Herren, wenn die Sowjets in ihrer unnachgiebigen Haltung beharren? Sie haben zwei Jahre lang nein gesagt, sie haben nicht das mindeste Signal der Kompromißbereitschaft gezeigt — und der Westen zerbricht sich den Kopf, wie er ihnen entgegenkommen kann, anstatt darüber nachzudenken, wie er seine eigene Abwehrkraft aufrechterhalten kann. Müssen denn die sowjetischen Führer nicht zu dem Schluß kommen, daß weitere Jahre sowjetischen Njets und weiteres Zuwarten zu weiteren Zugeständnissen des Westens führen. Die geradezu rührende Beteuerung der Allianz, dieses Angebot sei einmalig und unwiederholbar, muß doch nach den Erfahrungen der letzten Jahre bei den Sowjets allenfalls erheiternd wirken. Sehen Sie, wir machen durch unsere Politik die Zeit zum besten Verbündeten der UdSSR. Warum können nicht auch einmal wir im Westen drei, vier oder, wenn es die andere Seite nicht anders haben will, auch einmal fünf Jahre in unseren Positionen festbleiben, damit die andere Seite sieht, daß keine Aussicht besteht, uns zu übervorteilen, und damit sie dann wirklich zu Kompromissen bereit ist?
Wenn wir diese Geduld und diese Kraft nicht aufbringen, werden wir in der historischen Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Unfreiheit den kürzeren ziehen. Sehen Sie, da kommt der Herr Solschenizyn nach Europa, da hält er in Amerika eine Rede, die man immer und immer wieder nachlesen sollte, und dann zeigt er uns, daß Festigkeit das einzige ist, was zu einem wirklichen Wandel der Politik führen kann — und wir, was tun wir? Ich meine, die Freiheit hätte ganz gewiß den längeren Atem, wenn nur die Führer der freien Welt nicht so kurzsichtig und so ungeschichtlich dächten und handelten. Sie müssen die Kraft aufbringen, in längeren historischen Perspektiven zu denken, und die Kraft aufbringen, in ihren Positionen fest zu bleiben, wenn sie in diesem Ringen bestehen wollen. Mäßigung und Zurückhaltung hat die Sowjetunion immer nur dort bewiesen, wo sie auf eine feste und unnachgiebige Haltung des Westens stieß, sei es im Nahen Osten, sei es in Kuba. Und hier liegt der Schlüssel für Erfolg oder Mißerfolg westlicher Entspannungspolitik.Geschichtliche Erfahrung lehrt, daß expansive Systeme nicht dadurch geändert werden, daß man ihrem Schwung Raum gibt, sondern dadurch, daß man ihnen Erfolg und Ausbreitung verwehrt.
Und gegen dieses Gesetz hat der Westen verstoßen.Er hat dem dynamischen Koexistenzkonzept desOstens ein statisches Konzept gegenübergestellt.
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14602 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Dr. WörnerEr hat auf die politische Offensive defensiv reagiert, und auf die ideologische Aggressivität des Ostens hat er mit ideologischer Enthaltsamkeit geantwortet. Daher ist es kein Zufall, sondern historische Gesetzmäßigkeit, daß der seitherige Entspannungsprozeß einseitig zum Nachteil des Westens verlaufen ist.Dabei haben wir langfristig alle Trümpfe in der Hand. Die Idee der Freiheit, der Menschenwürde ist attraktiver als die der Tyrannei und der Unterdrükkung.
Das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem des Westens ist schöpferischer und produktiver, die technologische Überlegenheit des Westens wächst.
Es gibt auch kein historisches Gesetz, wonach die Demokratien, der Westen, zum Untergang verurteilt seien und der Kommunismus die Welt beherrschen werde. Die Schwächen des sowjetischen Systems liegen offen zutage: das veraltete, das verkrustete bürokratisch-zentralisierte Herrschaftssystem, der technologische Nachholbedarf der sowjetischen Wirtschaft, die Unterdrückung elementarer Freiheitsbedürfnisse, das Nationalitätenproblem, der Konflikt mit China. Diese Schwächen werden langfristig eher wachsen als sich verringern, und die Sowjets wissen das. Darum setzen sie alles daran, in den nächsten zehn bis 15 Jahren die Entscheidung in Europa zu ihren Gunsten herbeizuführen. Auch wir sollten das wissen und das Nötige tun. Zum Pessimismus jedenfalls gibt es keinen Anlaß. Keiner im Westen kann sich damit herausreden, daß wir die Fähigkeiten nicht hätten. Es kann nur am Willen liegen, wenn wir nicht die nötige Widerstandskraft aufbringen.
Was muß geschehen? Der Westen muß die politische Initiative zurückgewinnen. Der Westen muß militärisch stark genug bleiben und die geistige Herausforderung annehmen, die in der ideologischen Kampfansage der UdSSR liegt. Um diese politische Initiative zurückzugewinnen, bedarf es erstens einer Revision des westlichen Entspannungskonzepts — nicht in den Zielen, wohl aber in der Methode -, zweitens einer Neubelebung der atlantischen Solidarität und drittens einer Beschleunigung und Ausweitung des europäischen Einigungsprozesses.Entspannung bleibt ein wichtiges Ziel westlicher und gerade auch deutscher Politik. Ihr Kernstück ist die Aufgabe, den Krieg zu verhindern. Aber der Westen darf der Herausforderung auf allen Ebenen — der politischen, wirtschaftlichen, ideologischen — nicht länger ausweichen, sondern er muß eben so aktiv und dynamisch für Freiheit und Menschenwürde eintreten wie die UdSSR für ihre Ziele. Er muß der offensiven Strategie der UdSSR eine ebenso offensive Strategie der Freiheit entgegensetzen, nicht militärisch offensiv, wohl aber politisch und vor allem geistig.
Darum ist es geradezu selbstmörderisch, die Aufrüstung der UdSSR und des Warschauer Pakts durchden Westen und auch durch die BundesrepublikDeutschland technologisch und finanziell zu fördern, meine Damen und Herren.
Wir müssen die Sowjets an ihrem Verhalten und nicht an ihren Worten messen. Das bedeutet vor allen Dingen auch Schluß mit der Politik der ideologischen Enthaltsamkeit. Der Westen muß die Herausforderung zum ideologischen Kampf annehmen, indem er die Forderung nach Freiheit, nach Menschenrecht, nach Menschenwürde aktiv vertritt. Deswegen ist es unverantwortlich, wenn wir beispielsweise Rundfunkanstalten wie die Deutsche Welle, Radio Free Europe, Radio Liberty mundtot oder steril machen, während die UdSSR mit allen Mitteln die Auseinandersetzung in unsere Länder trägt.
Wir wollen nicht zurück zur Politik des „Roll back" und wollen auch kein westliches Kreuzzugsdenken. Aber wir wollen die Entschlossenheit, die Konfrontation dort aufzunehmen und durchzustehen, wo sie uns von der anderen Seite aufgezwungen wird. Wir wollen nicht das Ende von Verhandlungen, aber wir wollen Verhandlungen auf der Basis gesicherter gleicher Stärke. Wir wollen der Sowjetunion die Kooperation anbieten, aber wir wollen ihr deutlich machen, daß wir auch die Kraft haben, die Konfrontation durchzustehen, solange sie sie haben will. Sie hat es in der Hand, diese Konfrontation, was immer sie will, zu beenden; wir wollen die Entspannung.
Deswegen braucht die atlantische Allianz die Solidarität, vor allen Dingen die politische Solidarität, dringender denn je. Eine gemeinsame atlantische Politik auf all den wesentlichen Gebieten der Sicherheit — also nicht nur der militärischen Sicherheit — ist existentiell für das Überleben der freien Welt. Darum muß sich nach unserer Auffassung die atlantische Allianz über ein reines Verteidigungsbündnis hinaus zu einer Schicksals- und Sicherheitsgemeinschaft der freien Welt entwickeln.Besondere Dringlichkeit in der atlantischen Politik muß die Sicherung der europäischen Südflanke haben. Dazu bedarf es erstens einmal politischer Vermittlungen und wirtschaftlicher Hilfe im ZypernKonflikt. Unsere Politik muß dabei der Tatsache Rechnung tragen, daß sowohl Griechenland wie die Türkei unentbehrliche Bündnispartner der atlantischen Allianz sind.Spanien, meine Damen und Herren, muß der Weg zur Mitgliedschaft in der NATO geebnet werden. Spaniens Platz ist an der Seite des Westens. Wir sollten nicht warten, bis dort die „portugiesische Misere" eingetreten ist, sondern wir sollten jetzt den demokratischen Kräften Auftrieb geben, indem wir die NATO und dann auch die Europäische Gemeinschaft für Spanien öffnen.
Wir von der CDU/CSU jedenfalls machen die Heuchelei nicht mit, den Spaniern gegenüber Entrüstung
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14603
Dr. Wörnerzu zeigen und zur gleichen Zeit die Diktatoren des Ostens zu hofieren und zu finanzieren.
Außerdem ist es einfach schäbig, den Amerikanern die Aufgabe zu überlassen, Stützpunktabkommen abzuschließen, weil man ja weiß: man braucht die Spanier strategisch. Es gibt nicht nur eine finanzielle Lastenteilung — das muß man den Sozialisten in Europa einmal sagen —, es gibt auch eine moralische Lastenteilung in dieser atlantischen Allianz.
Wir wissen doch, wie dringend unsere Verbündeten jeden Pfennig brauchen, und darum sollten wir lieber unseren Freunden als unseren Gegnern helfen. Deshalb sollten wir, statt Milliarden in den Osten zu geben, dort investieren, wo die Freiheit gesichert werden kann.
Nie zuvor war die Einigung Europas auch im verteidigungspolitischen Bereich so notwendig. Nie zuvor waren aber auch die Europäer so weit von der Einigung entfernt. Wo sind die Hoffnungen geblieben, die wir alle an Europa geknüpft haben, als drei mutige Staatsmänner den Durchbruch wagten und Europa auf den Weg brachten? Heute wäre ein solcher Durchbruch so notwendig wie damals. Aber wo sind sie, diese Staatsmänner? Europa wird heute verwaltet, aber nicht geführt.Herr Bundeskanzler Schmidt, Sie rühmen sich ja inzwischen der Nachfolge Adenauers.
Hier wäre eine Chance, ihm nachzueifern. Nicht durch verbale Erbschleicherei, sondern durch Tat und historische Perspektive würden Sie dem Vermächtnis dieses Mannes gerecht.
Und zwei Dinge können Sie von ihm lernen: Das eine ist der geschichtliche Atem und ist die Kraft, durchzuhalten, und das zweite ist, wie man mit den Sowjets verhandelt.
Bei dieser Gelegenheit: Sie haben diese schöne Broschüre gemacht: „Sicherheit und Risiko". Der Pfeil der SPD nach oben ist Bündnispolitik, der Pfeil nach unten ist Isolierung; das sind offensichtlich wir. Wo wären wir denn heute, wenn wir Ihnen gefolgt wären? Wer hat dieses Land in die Sicherheit des westlichen Bündnisses geführt? Sie haben dagegen Widerstand geleistet! Tun Sie doch nicht so, als ob Sie die Schöpfer der Atlantischen Allianz waren! Wir haben sie gemacht, und wir stehen treu zu dieser Atlantischen Allianz. Unser Volk hat das nicht vergessen.
Auf militärischem Gebiet müssen wir unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, die wachsende Lücke zu stopfen, die zwischen der Verteidigungsdoktrin der Atlantischen Allianz und dem Potential der NATO in Europa klafft. Nicht die Doktrin ist falsch. Unsere Schwierigkeit rührt daher, daß dieStaaten Europas nicht das Erforderliche tun. DieSchwäche der NATO liegt im konventionellen Be-reich. Dort können und müssen wir sie ausgleichen.Diesen Mangel an Verteidigungssubstanz können wir auch nicht durch irgendwelche Tricks, auch nicht durch neue Ideen, auch nicht durch neue strategische Konzepte hinwegoperieren. Da gibt es nur eines: Wir müssen etwas tun.Solange sich Europa auf der konventionellen Ebene nicht nur mit konventionellen Mitteln verteidigen kann, so lange bleibt es auf alle drei Ebenen angewiesen: die konventionelle, die taktischnukleare und die strategisch-nukleare Ebene. Das ist wegen des nuklearen Gleichgewichts der beiden Supermächte ohne jeden Zweifel schwieriger geworden. Aber es ist immer noch möglich. Gerade die Doktrin der „flexible respons” verknüpft die drei Ebenen der konventionellen, der taktisch-nuklearen und der strategisch-nuklearen Waffen und macht durch die Ungewißheit des Übergangs das Risiko für den Gegner unkalkuliebar. Zu dieser Strategie gibt es heute und für absehbare Zeit keine Alternative. Eine Rückkehr zur massiven atomaren Vergeltung ist ebenso unmöglich wie eine reine Konventionalisierung der europäischen Verteidigung unter Verzicht auf Eskalationsdrohung im nuklearen Bereich.Das folgende sage ich dem Kollegen Wehner. Ich sage es nicht aus polemischen Gründen. Ich sage es auch dem Kollegen Ahlers. Wer mit dem Gedanken an atomwaffenfreie Zonen in Europa spielt, wer die alten Rapacki-Pläne wiederauferstehen lassen will, rührt an den Lebensnerv der Sicherheit Westeuropas, der arbeitet, auch wenn er es nicht will, den Sowjets und ihrer Politik direkt in die Arme.
Wenn wir die taktisch-nuklearen Waffen aus Europa abziehen lassen, dann können wir nicht mehr abschrecken und nicht mehr verteidigen. Wir brauchen die Nuklearwaffen doch nicht, um einen Krieg zu führen. Wir brauchen sie, um einen Krieg zu verhindern, und zwar einen konventionellen wie einen nuklearen Krieg.Das sind glasklare Dinge. Herr Wehner, überlegen Sie sich einmal, was Sie nicht nur der deutschen Politik, sondern auch Ihrer Partei antun, wenn Sie sie zu den Irrtümern zurückführen wollen, die wir in der Sozialdemokratischen Partei überholt glaubten.
Für die Verstärkung der konventionellen Komponente sehen wir zwei Schwerpunkte. Erstens ist es die schnellere Herstellung der Einsatzbereitschaft, vor allem im Blick auf ein wirksames Krisenmanagement. Rechtzeitige und wohldosierte militärische Signale können sehr wohl deeskalierend wirken. Wer allerdings wie die Fregattenstudie der SPDHerr Reiser war so liebenswürdig, sie neuerlich wieder aufzuwärmen — die Rolle militärischer Macht beim Krisenmanagement trotz allem, was sich in dieser Welt tut, leugnet, dem können wir nur sagen: Wer das einzige Instrument des Krisenmanagements in Verhandlungen sieht, der wird am
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14604 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Dr. WörnerSchluß allenfalls noch über die Modalitäten des Rückzugs verhandeln können.
Der zweite Schwerpunkt ist folgender. Struktur, Ausrüstung und Logistik der NATO-Truppen müssen besser auf die sowjetische Strategie eines massiven, überraschenden Durchbruchs, also auf diese sogenannte Blitzkriegstrategie zugeschnitten werden. Wichtig, vorrangig ist, dem Warschauer Pakt Anfangserfolge und Durchbrüche zu verwehren. Dazu gehören Verbesserung der Führungssysteme, Verbesserung und Beschleunigung der Mobilisierung, schnelle Zuführung der vorhandenen strategischen Reserven im Bündnis, Erschließung zusätzlicher Reserven, Stärkung der Kampfverbände, bessere Vorbereitung des Raums zur Verteidigung, höhere Qualität der Ausbildung, Standardisierung und gemeinsame Organisation der Logistik, Ausbau der Gesamtverteidigung und Entwicklung neuer Waffentechnologien. Dies sind die militärischen Maßnahmen.Die Politik ist wichtig. Wichtiger als alles andere aber ist der Wille. Ob der Westen in dieser schicksalhaften Auseinandersetzung bestehen wird, hängt letztlich von seinem Willen zur Selbstbehauptung ab. Diesen Willen gilt es zu aktivieren; das ist unsere Aufgabe. „Die Krise des Willens", so hat einmal ein Journalist geschrieben, „ist die gefährlichste Krise des Westens", und Konsumdenken und Gleichgültigkeit und Vernachlässigung der Sicherheit sind die schlimmsten Feinde der Freiheit, die wir haben. Nicht bei den anderen in erster Linie, sondern bei uns müssen wir die Hauptschwäche suchen. Darum und aus keinem anderen Grund ist es so wichtig, daß wir das Bewußtsein vom Wert der Freiheit und von der Überlegenheit demokratischer Ordnung wachhalten, besonders in der jungen Generation. Das ist die recht verstandene erste Aufgabe von Führung in einer Demokratie. Aus diesem Bewußtsein des Wertes der Freiheit, der Überlegenheit der demokratischen Ordnung wächst der Wille zur Verteidigung ebenso wie die Bereitschaft, sich einzusetzen. Freiheit aber ist ohne Einsatz nicht zu haben.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Leber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, daß die Opposition durch ihre Große Anfrage Gelegenheit geschaffen hat, die sicherheitspolitischen und die verteidigungspolitischen Fragen zu; diskutieren.Ich bedaure allerdings auch, daß die Fragen, die Sie gestellt haben, zum Teil eine so abwertende Tendenz haben und so wenig abgewogen sind. Die Rede, die der Kollege Wörner eben hier gehalten hat, ebenso wie die gestellten Fragen sind so formuliert, daß ein Unkundiger den Eindruck gewinnen kann,1. unser Land betreibe eine Verteidigungspolitik, die den Gefahren, die es gibt, nicht gerecht werde,2. das Ost-West-Kräfteverhältnis in Mitteleuropa sei bereits zu unserem Nachteil aus der Balance geraten
— ich komme darauf zurück! —,
— warten Sie nur ab, meine Herren, Sie kommen auf Ihre Rechnung, seien Sie dessen sicher! 3. die Bevölkerung wisse von den verteidigungspolitischen Problemen nichts und die Regierung habe auch nichts getan, um das Verständnis dafür zu wecken, wie es in der Anfrage wörtlich heißt.Meine Damen und Herren, dies ist Schwarzmalerei, die Sie auch heute vormittag hier getrieben haben.
Ich habe aufmerksam zugehört: abgesehen von schönen Worten und Überschriften haben Sie keinen einzigen konstruktiven Beitrag heute vormittag hier geleistet.
Sie haben negative Bilder aufgezeigt, die die ganze Welt betreffen; Sie haben die ganze Welt schwarz gemalt. Sie ist nicht schwarz, meine Damen und Herren, überhaupt nicht!
Sie haben negative Bilder aufgezeigt und nicht eine positive Variante eingeblendet — die es auch gibt —, um den Eindruck der Objektivität herzustellen.
Dann hätte Ihre Große Anfrage mehr Wert gehabt. Wer so handelt, meine Damen und Herren, erzeugt nicht nur ein falsches Bild, sondern sät Pessismismus aus im Lande, und dies ist sehr gefährlich in Fragen der Sicherheit unseres Landes.
Sie sind hübsch im Allgemeinen geblieben: Wir brauchen eine gemeinsame atlantische Politik, wir brauchen die Initiative des Westens und was der schönen Worte mehr sind. Ich denke, es hätte der Opposition bei einer solchen Gelegenheit gar nicht schlecht angestanden — es hätte ihr auch nicht geschadet — und es hätte den Interessen unseres Landes sicher genutzt, wenn die Opposition zugegeben hätte, daß unsere Sicherheitspolitik den Sicherheitsinteressen unseres Landes dient und entspricht, wenn sie eingestanden hätte, daß diese Sicherheits-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14605
Bundesminister Leberpolitik auch glaubwürdig ist; wenn sie bestätigt hätte, daß diese Sicherheitspolitik ein wesentliches Element der Friedenserhaltung ist und so gesehen werden muß; wenn sie ausdrücklich auch gesagt hätte, daß die Sicherheitspolitik nur diesem Ziel gewidmet ist, nämlich die Sicherung unseres Friedens in angemessener Weise zu erfüllen. Das wird durch unsere Politik gewährleistet.
— Lesen Sie noch einmal nach, was gesagt worden ist; das ergibt sich daraus nicht. Statt dessen wird von der Schwäche des Westens geschrieben und gesprochen.Zu diesem objektiven Urteil hat sich die Opposition weder in der schriftlichen Anfrage noch in der heutigen Rede ihres verteidigungspolitischen Sprechers durchringen können. Die Opposition muß sich deshalb fragen lassen, ob es wirklich gut ist, wenn sie mehr an sich als Partei als an unser Land denkt; ob es wirklich gut ist, gerade diesen wichtigen Sektor nur mit so kurzatmiger Kritik um erhoffter parteilicher Vorteile willen zu bedenken.
Was heule morgen gezeigt worden ist, war eine Unbalance, wie ich sie noch nie gehört habe.
Das müssen Sie auch bedenken, meine Damen und Herren: Eine Opposition sollte sich nicht nur äußern, wenn sie etwas Kritisches zu sagen hat,
sondern sie sollte sich besonders dann äußern, wenn sie eine bessere Idee hat. Die vermisse ich hier.
Eine solche Alternative haben Sie heute vormittag überhaupt nicht aufgezeigt. Deshalb sind Sie auch keine Alternative für diese Bundesregierung.
Sie haben weder in Ihrer Anfrage eine solche Alternative geboten noch in Ihrem Vortrag heute etwas Konzeptionelles aufgezeigt.Es gibt einen bedeutenden Philosophen, Herr Kollege Dr. Wörner, der einmal gesagt hat: „Das ist mir fürwahr ein weiser Mann, der nichts Besseres weiß und trotzdem schweigen kann." Sie haben heute morgen geredet.
— Ich komme gerade zu dem Punkt, Herr Kollege von Hassel. Statt eine Alternative aufzuzeigen,
behaupten Sie einfach: Der Leber macht die Verteidigungspolitik der CDU/CSU. So etwas Ähnliches haben Sie heute auch wieder ausgeführt.
Außerdem haben Sie hinzugefügt, der Leber sei das schwarze Schaf. Meine Damen und Herren, ich bin weder schwarz, noch bin ich ein Schaf. Da können Sie ganz sicher sein.
Ich halte das auch nicht für eine Beleidigung. Aber der Klarheit wegen möchte ich dazu ein paar Bemerkungen machen; denn das sagen Sie ja nicht nur heute, sondern das verkünden Sie ja im Lande. Weil Sie keine bessere Idee haben, sagen Sie: Der macht unsere Politik.
Die Verteidigungspolitik der Bundesregierung wird von der ganzen Bundesregierung und von der Koalition getragen, und von niemand anderem.
Als Verteidigungsminister habe ich darüber hinaus das besondere und seltene Glück, einen Bundeskanzler zu haben, der in hervorragendem Maße selber Fachmann ist und mit dem ich so zusammenarbeite, wie ein Verteidigungsminister der CDU/CSU mit seinem Kanzler nie zusammenarbeiten konnte.
— Denken Sie einmal zurück! — Das ist wichtig für unsere Arbeit, und das ist wichtig für den Erfolg ,unserer Politik.
— Es gibt keinen Spalt, in den Sie hineinsäen können. — Darauf, auf den Kanzler, die Regierung, die Koalition und die Fraktionen, gründet sich die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland, und auf nichts anderes.
— Auch und gerade auf Herrn Wehner, meine Damen und Herren! Ohne ihn wäre so etwas überhaupt nicht denkbar!
Ja, das gefällt Ihnen nicht! Meine Damen und Herren, können Sie sich vorstellen, daß der Verteidigungsminister Verteidigungspolitik machen und sich dabei auf den Fraktionsvorsitzenden nicht fest verlassen kann?
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14606 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Bundesminister LeberMeine Damen und Herren, weil Sie „Wehner" sagen: Sie hätten sich doch vor zehn Jahren überhaupt nicht denken können — und vor 20 Jahren wäre das für viele unmöglich gewesen —, daß unter dem Vorsitz von Herrn Wehner in der SPD-Fraktion eine zwölfstündige Debatte über die schwierigste Beschaffungsaufgabe dieses Jahrhunderts, nämlich über MRCA, geführt wird und daß sich in geheimer Abstimmung 86 % dieser Fraktion für dieses Waffensystem bekennen.
An solchen Punkten entscheiden sich doch die Dinge!
Ich will Ihnen ja zugestehen, daß ich mich darüber freue, daß auch die CDU dieser Politik zustimmt. Das freut mich, denn das ist wohl doch auch ein Zeichen der Qualität; etwas Schlechtem würden Sie ja nicht so einfach zustimmen. Sie wollen ja etwas davon haben.Die CDU bestätigt damit auch, was Willy Brandt auf dem Parteitag der SPD — —
— Ja, ja!
— Meine Damen und Herren, hören Sie sich das bitte an. Ich komme auch noch auf Herrn Kohl; Sie kommen ganz ausgewogen auf Ihre Kosten.
Die CDU bestätigt damit auch, was Willy Brandt auf dem Parteitag der SPD in Mannheim meinte, als er — ich zitiere — sagte:
Wer sich an die Situation von vor 20 Jahren erinnert, wird erkennen, daß die Selbstverständlichkeit der Leistung, mit der zwei sozialdemokratische Verteidigungsminister ihre Aufgabe als Oberfehlshaber der Bundeswehr erstmalig in der deutschen Geschichte erfüllen und erfüllt haben, das beliebteste Vorurteil der Rechten zerbrochen hat, man könne den Sozialdemokraten nicht die Sicherheit dieses Staates anvertrauen.
Sie müssen sich einmal schön zu Gemüte führen, was das bedeutet, und müssen einmal 20 Jahre zurückdenken an das, was aus Ihren eigenen Reihen gesagt worden ist und was es ausgelöst hat, daß der Parteivorsitzende der SPD das auf dem Parteitag so feststellen konnte.
Darüber, daß das so ist, sollten wir uns alle — auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition — ein wenig freuen, denn davon hängt die Sicherheit unseres Landes ab.Ich verstehe, daß es Ihnen nicht so leicht fällt, das einzugestehen, weil das zugleich auch einer der Steine ist, die auf dem Weg zur Regierungsverantwortung liegen. Und daß wir das so gut machen, versperrt Ihnen den Weg dorthin. Das kann ich verstehen.
Die überparteiliche Zeitung „Die Welt"
hat sich dieses Themas auch angenommen und hat am 3. April 1975 geschrieben — ich zitiere das mit dem Ausdruck besonderer persönlicher BescheidenheitDie deutsche Bundeswehr unter Minister Leber hat ihren höchsten Leistungsstand erreicht und bildet heute zusammen mit den 300 000 US-Soldaten das Rückgrat der NATO.Meine Damen und Herren, wenn die „Welt" das bescheinigt, ist das sehr wohl überlegt; das kommt von dort nicht leichtfertig. Dann könnte die Opposition im Bundestag das hier eigentlich auch zugestehen; es wäre nämlich für die Bevölkerung unseres Landes wichtig, zu wissen, was die Bundeswehr darstellt.
Aber ich verstehe das: Ihr Problem ist es, daß eine Opposition eine solche Wahrheit nicht gut aussprechen kann.Meine Damen und Herren, die Verteidigungspolitik der Bundesregierung orientiert sich an der erkannten Bedrohung, nicht aber an dem Rätselraten über vermeintliche Absichten des Warschauer Paktes. Ich kann Ihnen versichern, daß unsere Fähigkeit zu erkennen, was uns bedroht, besser geworden ist und noch nie so gut war, wie sie es gegenwärtig ist, viel besser, als sie es in der Zeit war, als Sie regierten.
— Das können Sie nicht wissen, Herr Wörner, und das können Sie nicht wissen, Herr Dr. Dregger. Ich sage nur: das ist so.
— Um etwas Neues zu erfahren, fahren Sie, höre ich, von Zeit zu Zeit nach Brüssel. Wenn Sie einmal zu mir kämen, worüber ich mich freuen würde, würden Sie noch mehr erfahren, als man Ihnen in Brüssel sagt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14607
Bundesminister LeberDie wirklich vorhandene und die erkannte Bedrohung allein ist es, wogegen wir uns sichern und wappnen müssen. Das tun wir.
Das Lesen im Kaffeesatz des Warschauer Paktes überlassen wir denen, die das tun wollen, oder denen, die sonst nichts zu lesen haben.
Ihr Parteivorsitzender, Herr Kohl,
hat das am vergangenen Montag getan. Ich habe ihm das nicht übelgenommen. Für jemanden, der auf einer Landesbühne steht, ist es gar nicht so leicht,
alles schnell zu verstehen, was gerade auf diesem Feld in der Weltpolitik vor sich geht.
— Hören Sie mal, das ist ein hohes Lob für Obergefreite, was Sie da aussprechen; ich bin stolz darauf, daß wir solche haben.
Die Gefahr, die wir erkennen, besteht in einer militärischen Offensivkraft des Warschauer Paktes, die nach unserer Meinung die natürlichen und legitimen, wirklichen Verteidigungsbedürfnisse der Länder des Warschauer Paktes übersteigt.Was die sowjetische Rüstung angeht, möchte ich drei Dinge besonders erwähnen:— die wachsende Zahl moderner sowjetischer Waffensysteme,— die enorme Kapazität der Produktion von Rüstungsgütern,- die besonderen Anstrengungen zur weiträumigen offensiven Fähigkeit in der Welt.Das sind die Elemente, die alle verantwortlichen Politiker im Bündnis im Auge haben müssen und auch im Auge haben. Das sind die Fragen, mit denen wir uns tagelang im Bündnis befassen und die uns alle zur Wachsamkeit mahnen. Das Kommuniqué der Dezember-Sitzung, aus dem auch der Herr Kollege Wörner zitiert hat, bringt das deswegen auch klar zum Ausdruck.Es kann bei den für die verstärkte sowjetische Rüstung Verantwortlichen kein Zweifel darüber bestehen, daß die in der NATO zum Zwecke ihrer Verteidigung zusammengeschlossenen westlichen Demokratien auf keinen Fall einen Rüstungswettlauf wollen, obwohl die Staaten der westlichen Verteidigungsgemeinschaft, gemessen an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und an ihrer technischen Fähigkeit, sehr wohl dazu imstande wären. Im Osten, da, wo die Entscheidungen fallen, weiß man ganz sicher, daß in den westlichen Demokratien bei dem großen Einfluß der Völker unmittelbar auf die Verteilung der Sozialprodukte, die vor den Augen der Völker geschieht, eine demokratische Regierung ihrem Volk einen Rüstungsaufwand auch gar nicht erklären könnte, der über das hinausginge, was zur Sicherung des eigenen Friedens erforderlich wäre, und der zur offensiven Bedrohung eines anderen fähig machen würde.Wir wollen und werden deshalb nicht Schrittmacher in einem solchen Wettbewerb um militärische Stärke sein. Aber niemand in der Welt darf auch unsere Entschlußkraft und unsere Fähigkeit zum Schritthalten, gemessen an dem, was wir an Bedrohung erkennen, falsch einschätzen. Dazu sind wir ebenso ernst entschlossen, wie wir das andere nicht wollen. Wir wollen selber keine Offensivkraft besitzen, aber wir begegnen der Offensivkraft des Warschauer Paktes mit einer konsequenten Politik der angemessenen und starken Fähigkeit zur Verteidigung, auf die sich unser fester Wille und unsere Bereitschaft zur Entspannungspolitik gründen. Dies ist eine Voraussetzung dazu.
Ich habe in Brüssel auf diese Frage in östliche Mikrophone gesagt, warum das so ist. Dies wird dort verstanden. Ich bin der Überzeugung, daß der Osten mit Schwächlingen im Westen nicht ernsthaft verhandelt.
Dies ist eine Voraussetzung für die Entspannungspolitik.
— Er hat behauptet, wir seien zu schwach. Darum geht es. Ich komme darauf zurück.
Das entspricht dem Auftrag unseres Grundgesetzes.Wer in diesem Land nach dem Willen unserer Verfassung als Soldat Dienst leistet, der bedroht niemanden, sondern will unser Land vor Bedrohung schützen.Wer in unserer Bundeswehr Dienst leistet, wird nicht zum Haß gegen andere Völker und gegen jemand ausgebildet und erzogen,
sondern zum Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht anderer Völker und für den Schutz des eigenen Landes und für nichts anderes.
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14608 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Bundesminister LeberWer in diesem Lande als Soldat Dienst tut, der dient ausschließlich der Bewahrung unseres Friedens und nichts anderem.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang dankbar die Bekundungen der gemeinsamen Synode der katholischen Bistümer in der Bundesrepublik, die in dem Dokument „Entwicklung und Frieden" zum Wehrdienst folgendes ausgeführt hat:Im Rahmen der Gewaltverzichts- und Friedenspolitik, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an trotz vorhandener Meinungsverschiedenheiten von allen demokratischen Kräften bejaht und getragen wird,
kommt dem Dienst der Soldaten eine zwar begrenzte und immer neu zu überprüfende, aber real wirksame Funktion für den Frieden zu. Diejenigen, die sich verantwortlich für diesen Dienst entscheiden und damit ihren Auftrag zur Sicherung des Friedens, insbesondere zur Kriegsverhinderung, erfüllen wollen, haben Anspruch auf Achtung und Solidarität.Dafür sind wir dankbar, daß das so deutlich ausgesprochen worden ist.In gleicher Weise hat sich Papst Paul VI. im November bei der internationalen Soldatenwallfahrt ausgedrückt, als er sagte:Eure Waffen sollen nicht dem Angriff dienen, sondern immer und überall ausschließlich der Verteidigung, einer Verteidigung, die, so Gott will, niemals den Waffengebrauch praktisch notwendig machen dürfte, sondern sich einzig und allein um die Stärkung der Gerechtigkeit und des Friedens bemüht.
— Das hat der Papst vor einigen Wochen gesagt, Herr Kollege Damm, und ich habe ihm persönlich in einem langen Gespräch sehr herzlich dafür gedankt; denn er hat damit etwas ausgedrückt, was diese Bundesregierung an Verteidigungspolitik praktisch betreibt und was das Bündnis im ganzen unternimmt und nichts anderes.
Das ist ganz klar; um so mehr bedauere ich, daß in dem Papier der CDU — mit dem Sie ja nicht viel produziert haben, nur an einigen Stellen ein paar Dummheiten —
ein Halbsatz steht, der zu dem, was ich eben gesagt habe und was auch die Kirche und der Papst gesagt haben, in einem sehr harten Widerspruch steht und wovon sich die Bundesregierung mit allem Nachdruck absetzen muß. Was dort steht, istzumindest fahrlässig formuliert und stammt vermutlich, da Sie nichts Neues zu bieten haben, aus einer alten Mottenkiste, in der ein pensionierter Ehemaliger beim Zusammensuchen von Redetexten gesucht haben mag. Dieser Halbsatz lautet: „Die Armee ist ihrem Wesen nach für den Kampf geschaffen."
Dieser Halbsatz ist irreführend.
— Hören Sie mich bis zum Schluß an. Der Halbsatz steht darin, das können Sie nicht leugnen.
Ich sage, es ist ein Halbsatz, der auch durch das, was dann kommt, nicht verändert wird.
— Sie können ihn ja korrigieren.
Ich sage das ja hier, damit Sie das zurechtrücken.
Dieser Halbsatz lautet: „Die Armee ist ihrem Wesen nach für den Kampf geschaffen."
Dieser Halbsatz ist irreführend. Sie können ja selbst erklären, wie es gemeint ist.
Dieser Halbsatz liefert Stoff für die Propagandamühlen des Ostens, meine Damen und Herren.
Mit diesem Halbsatz werden Herr Gretschko und seine Kollegen bei Haushaltsberatungen mit der Forderung nach mehr Waffen auftreten und mehr Geld verlangen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14609
Sie können sich wieder setzen, Herr Kollege Wörner; ich beantworte jetzt keine Frage.
— Ich sage das, damit Sie Gelegenheit bekommen, hier zurechtzurücken, wie das zu verstehen war.
Solche Worte bringen hier im Lande junge Leute, die ein feines Gehör haben, in Gewissenskonflikte mit sich selber.
Solche Worte, die mißverständlich sind, stiften Verwirrung in der Bevölkerung im Lande.
Meine Damen und Herren, solche Worte säen und nähren wieder Zweifel, nachdem wir mit viel Mühe die Zweifel beseitigt und damit jungen Menschen den Auftrag und die Reputation der Bundeswehr in der Brust und im Kopf klargemacht haben.
Ich sage Ihnen: Diese Bundesregierung und ich als Verteidigungsminister tun alles, was wir können, um mit der Bundeswehr unseren maximalen Beitrag ausschließlich zur Verhinderung eines Krieges und zur Sicherung des Friedens zu leisten.
Das Wesen der Bundeswehr ist nicht der Kampf, sondern die Verhinderung des Krieges und die Sicherung unseres Friedens.
Hier muß man sehr fein differenzieren.
Gerade an diesem Punkt muß man sehr aufpassen, denn hier liegen die Probleme in diesem Lande.
Hier entzünden sich Mißverständnisse, die dann zur Kriegsdienstverweigerung oder zum Zweifel am Ganzen führen.
Wir haben hier eine Geschichte zu überwinden. Das dürfen Sie nicht vergessen. Die Jugend ist Gott sei Dank hellhörig genug und hört genau hin, besonders wenn Herr Dregger oder andere so etwas sagen.
Wir lassen die Klarheit, die wir gerade bei jungen Menschen geschaffen haben, nicht durch fahrlässige Halbsätze aus der Mottenkiste der CDU/CSU wieder in Gefahr bringen.
Wir lassen bei niemandem einen Zweifel daran aufkommen, daß die Verteidigungspolitik der Bundesregierung im Konkreten und im Detail ausschließlich einem defensiven Auftrag dient.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, möchte ich dazu ein zusätzliches klärendes Wort sagen. Fähigkeit zur Defensive heißt nicht ein bißchen schwächer sein als der andere. Es heißt auch nicht das Ganze ein wenig billiger machen. Fähigkeit zur Defensive ist nicht das, was man mit dem Wörtchen „weniger" beschreiben könnte. Fähigkeit zur Defensive ist etwas anderes als die Fähigkeit zur Offensive. Es ist der Verzicht darauf, andere bedrohen zu können. Es ist die Vorsorge gegen die beweisbare und erkannte Bedrohung durch andere. Unsere neue Wehrstruktur ist dafür ebenso sichtbarer Ausdruck wie die zahlreichen Entscheidungen zur Modernisierung und Verbesserung der Rüstung und der Ausrüstung der Bundeswehr.Herr Kollege Wörner, Sie haben vorhin den Vorwurf erhoben, das alles sei schlecht, wir täten nicht einmal etwas für die Zivilverteidigung. Als besonderen Merkposten haben Sie dabei hervorgehoben, die Nahrungsmittelreserve sei reduziert und aufgehoben worden. Dies können Sie — das wissen Sie selbst — viel unmittelbarer haben. Die Bundeswehr hat gegenwärtig keine großen Nahrungsmittelbestände, Mob-Bestände. Die Bundeswehr hat jedes Jahr für 10 bis 15 Millionen DM Butter eingekauft und sie nach einem Jahr wieder verkauft. Ich habe das gestrichen, weil ich dies für Verschwendung halte. Wir leben in Europa auf einem Butterberg, der größer ist als die gesamte Schweizer Bevölkerung zusammengenommen,
— dem Gewicht nach. Wir brauchen nicht jedes Jahr soundso viel Millionen DM für Butterreserven der Bundeswehr auszugeben. Dieses Geld hat der Finanzminister aber nicht zurückbekommen, sondern mit den 15 Millionen DM, die wir für diesen Zweck nicht mehr ausgeben, kaufen wir modernere Waffen für die Bundeswehr, damit sie ihren Auftrag erfüllen kann.
Das sind 36 MILAN mit Abschußgestellen pro Jahr.
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14610 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Bundesminister LeberMeine Damen und Herren, Sie haben vom Westen und von der Welt gesprochen. Ich rede von dem viel kleineren Bereich, nämlich von uns; das ist der Unterschied.
Unsere Bundeswehr ist in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht stärker geworden. Die Panzerabwehrkraft der Bundeswehr ist um ein Mehrfaches gesteigert worden; die Flugabwehr und die Luftverteidigung sind erheblich verbessert worden;
der Schutz unserer Küsten ist besser geworden.Ich will das Palament hier nicht mit einer langen Liste von beschafften neuen Verteidigungswaffen aufhalten. Eine Zahl mag Ihnen genügen: Von 1971 bis heute, d. h. einschließlich des Voranschlags für den Haushalt 1976, sind die Mittel zur Materialbeschaffung für die Bundeswehr um 74 % gestiegen. Sie wissen alle, daß das der wirklich politische Posten im Verteidigungshaushalt ist, nämlich die Mittel, die für Modernisierungsinvestitionen der Armee zur Verfügung stehen. Es waren 74 °/o in den wenigen Jahren, seit denen Sozialdemokraten an der Spitze der Bundeswehr stehen.Ich frage Sie, meine Herren von der Oposition: Was gibt Ihnen eigentlich angesichts dieser Zahlen, bei dieser Aufwandssteigerung, das Recht, an der Verteidigungspolitik der Bundesregierung für dieses Land herumzunörgeln? Was hat Herrn Wörner eigentlich veranlaßt, in der „Welt am Sonntag", die ebenso „überparteilich" ist wie die „Welt" und deshalb wohl auch die Parteizugehörigkeit des Abgeordneten Wörner verschwiegen hat — es hat also dort wohl der „Journalist" Wörner geschrieben —, zu schreiben „Die Bundesrepublik Deutschland steht zwar besser da als die anderen europäischen Bündnispartner, aber eher als ein Einäugiger unter Blinden"?
Meine Damen und Herren, als ich das las, habe ich mir etwas gedacht, was ich jetzt lieber nicht sagen möchte. Wenn ich jetzt bei Ihnen nach einem Charakteristikum dafür auf der Vorderseite des menschlichen Körpers suchte, fände ich keines; ich müßte mich höchstens auf die Rückseite begeben.
Haben Sie, meine Herren und Ihre verschiedenen Verteidigungsexperten, vergessen, daß z. B. 1968 der christlich-soziale Finanzminister Franz Josef Strauß, der selbst einmal Verteidigungsminister war, dem christdemokratischen Verteidigungsminister Dr. Gerhard Schröder den Haushalt gegenüber dem Vorjahr 1967 absolut um 7 % kürzte?
Er kürzte die Investitionsmittel um 13 % und dieMittel für die Materialbeschaffung um sage undschreibe 25 °/o, und das in einem Jahr — 1968 —, in dem es wieder aufwärtsging.
— Ich war in der Regierung.
— Hören Sie mal, soll ich denn in einen Hausstreit der CDU eingreifen, wenn der Finanzminister dem eigenen Verteidigungsminister, der neben ihm sitzt, die Mittel streitig macht und das begründet? Ich denke doch nicht daran.
Sie haben das zu verantworten. Sie haben den Kanzler bestimmt, Sie hatten den Finanzminister, Sie hatten den Verteidigungsminister. Wir haben das noch nie gemacht. Sogar im Jahre 1976, in dem wir finanziell mit Sicherheit nicht besser dastehen als 1968, haben wir die Aufwendungen für die innere und äußere Sicherheit nicht gekürzt, sondern dort ist aufgestockt worden.
Schauen Sie sich bitte Ihre Verteidigungshaushalte an, die Sie gemacht haben, als Sie regierten. Dann werden Sie aufhören, zu verkünden — darauf kommt es mir an —, Sie wollten künftig, wenn Sie wieder regieren würden, mehr Geld für die Verteidigung ausgeben. Meine Damen und Herren, warum erst dann? Das dauert noch lange. Das können Sie doch jetzt schon machen. Sie brauchen eigentlich doch nur Vorschläge zu machen, wieviel Geld für die Verteidigung zusätzlich ausgegeben werden soll — ich bin dankbarer Adressat —, und Sie müsen hinzufügen, wo an anderer Stelle weniger ausgegeben werden soll. Das wird dieses Parlament gern zur Kenntnis nehmen.
Dazu haben Sie keinen Muckser gesagt, weder in Ihrem Programm, das Sie schriftlich ausgearbeitet haben, noch heute. Keinen Pfennig haben Sie mir angeboten, sondern nur gesagt: „Wir müssen mehr haben!" Mit solchen Allgemeinheiten kann ich mir nicht eine Schraube kaufen, die verlorengegangen ist.
Machen Sie Vorschläge, was Sie wirklich wollen; das können Sie jetzt schon tun.Meine Damen und Herren, wir denken nicht daran, in Frage zu stellen, was Sie — die CDU — geleistet haben. Wir denken nicht daran, in Frage zu stellen, was Sie geleistet haben, als Sie für die Bun-
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Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14611
Bundesminister Leberdeswehr verantwortlich waren, ich könnte hier Namen nennen.
— Ich sage Ihnen, wir denken nicht daran, in Zweifel zu ziehen, was Sie in dieser Zeit, als die Bundeswehr unter Ihrer Führung stand, geleistet worden ist. Wir lassen uns aber auch von dem, was wir geleistet haben, seit wir sie übernommen haben, von Ihnen keinen Millimeter streitig machen, meine Damen und Herren!
Dies ist unsere Leistung, und diese Leistung läßt sich sehen, nicht nur hier im Lande, sondern in der ganzen Welt.Ich will Ihnen ein paar Eckpunkte — an denen können Sie sich reiben — nennen, um die es geht, die wie Maßstäbe geeignet sind, zu messen, was hier geschehen ist. Die Fragen lauten:Erstens. Ist der Umfang der Bundeswehr in den letzten sechs Jahren kleiner oder größer geworden?
Er ist größer geworden, größer als er jemals war, Herr Hassel, als Sie regierten.Zweite Bemerkung: Ist es so, daß die Zahl der Brigaden des Heeres vermehrt und damit erstmals auf die vom Bündnis vorgesehene Zahl von 36 gebracht wird oder ist das nicht so?Drittens. Wann war eine deutsche Armee jemals in Freiheit besser in Staat und Gesellschaft eingebettet? Wann war sie jemals so wie die Bundeswehr ein so natürlicher Teil des Ganzen und von allen Schichten der Bevölkerung getragen wie in unserer Gegenwart?
Ist es nicht ungeheuer viel, daß es gelungen ist, daß gute Disziplin und menschliche Würde in einem solchen Maße sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern als sich miteinander vereinbarende Elemente in unserer Bundeswehr anzutreffen sind? Dies ist ein ungeheurer Vorgang!
Wie viele Länder gibt es in der Welt, die eine Armee haben, die nicht nur für die militärische, sondern auch für die fachliche Bildung und Ausbildung etwas Vergleichbares leistet wie die deutsche Bundeswehr mit allem, was in den letzten Jahren auf diesem Gebiet eingerichtet worden ist? Hier liegt eine echte Quelle der Attraktivität.Wann war die Bundeswehr und ihre Leistungsfähigkeit im Bündnis je mehr anerkannt als in unserer Gegenwart? Wann war die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik auf der einen Seite und ihren Bündnispartnern, besonders mit dem Hauptverbündeten, den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch mit den anderen Verbündeten,besser und vertrauensvoller ,als in unserer Gegenwart? Sie haben immer an den Knöpfen gezählt: Lieben uns die Amerikaner noch oder lieben sie uns nicht mehr,
gehen sie zurück oder gehen sie nicht zurück? Sie haben alle acht Tage dort angefragt, bis es denen zum Halse heraushing.
Die Amerikaner sind nicht zurückgegangen, und wir haben nicht gefragt. Die Amerikaner sind heute stärker in der Bundesrepublik und für Europa engagiert denn jemals, als Sie regiert haben.
Das hängt mit der vertrauensvollen Zusammenarbeit zusammen.
— Ich kann mir vorstellen, Herr Carstens, daß Ihnen das nicht gut in den Ohren klingt, Sie waren ja damals mit dabei.Wann war die innere Einstellung der Soldaten zu ihrem Dienst besser als jetzt? Es war ein großartiger Beweis für die Haltung unserer Soldaten, den sie in den letzten Wochen erbracht haben, als die Flut über die norddeutsche Küste hereinbrach. Von 10 000 Soldaten in küstennahen Standorten, die am 3. Januar ab 18.30 Uhr über den Rundfunk aufgefordert wurden, in ihre Kasernen zu kommen, waren 7 000 Soldaten drei Stunden, nachdem der Aufruf im Rundfunk erfolgte, schon bei ihren Einheiten.
Der große Teil dieser 7 000 Soldaten war schon auf dem Weg zu den Einheiten; sonst hätten sie gar nicht da sein können, als der Rundfunkaufruf überhaupt noch nicht ausgegeben worden war. Was gibt es dann noch an besserem Beweis für die innere Haltung unserer Soldaten, meine Damen und Herren!
Darauf können wir stolz sein. Nicht weil sie ihren Dienst tun, sondern weil sie ihn mit dieser Haltung und mit dieser Gesinnung tun, für etwas einzutreten, was dieses Land schützt, wenn etwas auf uns zukommt. Darauf sollten wir stolz sein, und dafür sollten wir ihnen dankbar sein.
Sie können mitklatschen, meine Damen und Herren, das ist auch Ihre Bundeswehr.
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14612 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Bundesminister LeberSie brauchen nicht so böse zu gucken, wenn ich das hier sage.
Das, was diese jungen Männer damit gezeigt haben, ist symbolisch für das, um was es im ganzen geht.
Das ist dies: Unser Leben und unsere Freiheit zu schützen, wenn sie von außen bedroht werden. Mehr wollen wir nicht. Mehr wollen wir nicht können, aber auch nicht ein Weniges weniger: Wenn eine Flut über uns hereinbricht, dann kommen, dann da sein, um die Flut zu bekämpfen, selber aber nicht Flut sein, die über andere ergossen wird. Das bestimmt nicht.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich ein Wort zur Diskussion über die allgemeine Wehrpflicht sagen. Sie haben die Große Anfrage eingeführt. Sie müssen wissen, daß jetzt über das gesprochen werden muß, was ansteht.
Lassen Sie mich ein offenes Wort zu diesem Thema sagen. Von Ihrer Seite ist wiederholt in der Öffentlichkeit behauptet worden, die Koalitionsparteien wollten die allgemeine Wehrpflicht abschaffen. Das stimmt doch?
— Worin besteht denn der Unterschied zwischen faktisch und abschaffen?
— Ich kann nicht sagen, ob das im Schwäbischen eine besondere Rolle spielt.Dieser Vorwuf ist absurd. Er wird aus der beabsichtigten Neuregelung des Verfahrens zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerer abgeleitet. Dazu möchte ich gern folgendes sagen. Die beabsichtigte Neuregelung ist der erste realistische Versuch, die beiden Verfassungsbestimmungen, nämlich das Recht zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe und die Pflicht zur Wahrung der äußeren Sicherheit, spannungsfreier zu gestalten, als das in der Vergangenheit war und gegenwärtig noch ist.
Wir wissen alle, daß nicht nur die jungen Menschenin den Mühlen dieser Prozedur gelitten haben, sondern daß es sogar nicht mehr möglich war, Menschenfür diese Prüfungen zu finden, weil sie das ganz einfach nicht verantworten konnten.
Die vorgesehene Neuregelung ist auch Ausdruck des gewachsenen Vertrauens in die Bereitschaft der jungen Generation, Freiheit nicht nur als Freisein von etwas, sondern als Pflicht für etwas zu begreifen, und dies aus eigener Einsicht in das richtige Verhältnis zueinander zu bringen. Es ist das Verdienst der sozialliberalen Koalition, daß trotz einer Krise des Wehrpflichtgedankens in ganz Europa die allgemeine Wehrpflicht in der Bundesrepublik bis heute bewahrt und unbestritten ist.
Sie sollten bitte einmal sorgsam überdenken, was es bedeutet, daß diese Koalition das geleistet hat. Daß das auch künftig notwendig bleibt, wird bei allen Umfragen deutlich. Die Mehrheit der männlichen Jugend erklärt im Falle der Einberufung, Wehrdienst leisten zu wollen. Daß sie rechtzeitig kommen, wenn es notwendig ist, haben wir in der vergangenen Woche gesehen. Das war keineswegs immer so.
— Auch die! Ich kann Ihnen nur sagen, gucken Sie sich das einmal ein bißchen aus der Nähe an, was sich auch da entwickelt hat; davor können Sie dann ein bißchen Respekt haben.
Dies war keineswegs immer so. Die Bundesregierung freut sich darüber. Sie begegnet diesem gewachsenen Vertrauen in der Jugend ihrerseits mit Vertrauen und wird diesen positiven Trend in unserem Lande auch weiterhin stützen und fördern.
Die Sozialdemokratische Partei — um für sie zu sprechen — benötigt von der heutigen Opposition überhaupt keine Belehrung über das Thema allgemeine Wehrpflicht.
Die Sozialdemokratische Partei, meine Damen und Herren, hat sich für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Abschaffung stehender Heere schon eingesetzt, als die Damen und Herren, die heute die CDU bilden, allesamt überhaupt noch nicht lebten. So früh haben wir damit schon begonnen. So lange liegt das zurück.
Wir wissen, daß das ein Grundelement unseres Konzeptes ist. Wir werden, wenn die Umstände nichtvöllig anders werden, davon auch nicht abgehen.Meine Damen und Herren, das Kräfteverhältnis in Europa ist so, wie es die schriftliche Antwort dar-
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Bundesminister Leberstellt und in den Weißbüchern der Bundesregierung dargestellt worden ist. Die Ausgewogenheit der Kräfte zwischen Ost und West ist ein tragendes Element unserer Sicherheit. Unsere Anstrengungen sind auf die Wahrung dieser Ausgewogenheit konzentriert. Die Opposition in Bonn und unsere östlichen Verhandlungspartner bei MBFR in Wien —ich nenne sie hier in einem Atemzug — unterliegen gemeinsam einem bedeutsamen Irrtum in der Bewertung dieses Sachverhaltes.
Die einen, nämlich die Opposition in Bonn, sagen, das militärische Gleichgewicht sei so ungleich, daß von einem Gleichgewicht — das haben wir hier heute morgen noch einmal gehört — nicht mehr gesprochen werden könne.
Die anderen, nämlich die östlichen Verhandlungspartner in Wien, sagen, das militärische Kräfteverhältnis, so wie es sei, sei das, was man Balance nennt. Deshalb sei eine beiderseitige Verminderung nur unter Fixierung des numerischen Übergewichts des Ostens möglich. Beide Behauptungen sind falsch.Richtig ist: Das konventionelle Kräfteverhältnis ist numerisch unausgeglichen.
— Aber Sie ziehen einen anderen Schluß daraus als wir; meiner lautet: Das Kräfteverhältnis ist zwar numerisch unausgeglichen, es ist aber nicht so unausgeglichen, daß wir uns nicht ausreichend verteidigen können. Es hat bisher ausgereicht, Krieg und Konflikt zu verhindern und die Suche nach Entspannung zu ermöglichen. Das wird es auch künftig tun. Worauf wir achten müssen, ist, daß das so bleibt.
Aber es ist nicht zu übersehen: Der konfliktverhindernden Funktion einer solchen Balance fehlt etwas, was in friedengestaltender Weise nach vorne zeigt, besonders solange auf der anderen Seite immer wieder nach offensiver Fähigkeit gesucht wird.Mit dem Abbau numerischer Unebenheiten — so nenne ich sie — und dem Verzicht, offensive Überlegenheit zu produzieren, wäre eine Ausgangslage geschaffen, von der aus eine konstruktive Ausgestaltung des Friedens möglich wäre.
- Kommandieren kann man das nicht, aber ich sage das ja hier, damit gehört wird, daß wir das so sehen. —
Anders ausgedrückt: Das militärische Kräfteverhältnis ist in Zentraleuropa ausgewogen genug, um den militärischen Konflikt zu verhindern. Die numerischen Ungleichgewichte erzeugen aber genügend Mißtrauen, so daß der Zugang zu einer politischenFriedensordnung für die Zukunft immer wieder gestört oder gar verhindert wird.Für die Bundesregierung ergibt sich aus dieser Beurteilung eine Sorge, eine Verpflichtung und eine Hoffnung: die Sorge um die wachsenden Anstrengungen im Warschauer Pakt, wie es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 17. Mai 1974 formuliert hat
— ist ja gut, wenn wir übereinstimmen —, die Verpflichtung, die Verhandlungsfähigkeit des Westens dadurch zu wahren, daß keine einseitige Minderung der Verteidigungsanstrengungen erfolgt, und die Hoffnung, daß die Schwierigkeiten mit dem Gleichgewichtsbegriff bei den Wiener Verhandlungen über eine ausgewogene, beiderseitige Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa gelöst werden können.Die westlichen Bündnispartner haben dem Osten in Wien ein konstruktives Angebot gemacht. Es ist Sache der Staaten des Warschauer Paktes, ihren Willen zur Fortsetzung der Entspannungspolitik auf diesem Felde durch ernsthaftes Verhandeln und durch ernsthafte Antworten auf diese erneuten Vorschläge des Westens jetzt zu dokumentieren.
Wir wollen im Reduktionsgebiet einen ungefähren Gleichstand der Landstreitkräfte in der Form einer übereinstimmenden kollektiven Gesamthöchststärke für den Personalbestand der Landstreitkräfte auf beiden Seiten. Das Eingehen auf dieses Verhandlungsangebot wäre nur eine logische Befolgung der allseitig akzeptierten Grundsätze des Gewaltverzichts. Es dürfte keinen Zweifel darüber geben können, daß es in Wien zu einem Ergebnis kommen müßte, wenn die vereinbarte Bilanzierung der Erfahrungen mit zwei Jahren Helsinki Sinn haben sollte.
Hier füge ich hinzu: Die Verteidigungsminister wissen — vielleicht besser noch als andere — um die dringende Notwendigkeit wirklicher Entspannung, weil ihnen die Fähigkeit zur Vernichtung und die Größenordnungen der Zerstörung bekannter sind, als sie anderen bekannt sein können. Das Amt des Verteidigungsministers bringt es mit sich, daß er bis in alle Einzelheiten über die Gefahren Bescheid weiß, die von der angesammelten Truppen-und Rüstungsmasse ausgehen. Wir müssen deshalb alle Anstrengungen unternehmen, um durch vereinbarten Rüstungsstopp und Rüstungskontrolle das Wettrüsten und Weiterrüsten zu stoppen, um den Wahnsinn eines neuen Rüstungswettlaufs zu unterbinden.Die Bemühungen der USA und der Sowjetunion um die Begrenzung nuklearstrategischer Waffensysteme und unsere Verhandlungen in Wien um eine ausgewogene Verminderung von Rüstungen und Truppen in Europa müssen von beiden Seiten so geführt werden, daß der Wille zum Erfolg von niemandem angezweifelt werden kann. Wenn diese
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Bundesminister LeberBemühungen in Wien und in Genf scheitern sollten, müssen der Weltöffentlichkeit die Gründe dafür in schonungsloser Offenheit dargestellt werden, damit sichtbar wird, warum es nicht zu einer Lösung gekommen ist.
Alle Verhandlungspartner in Ost und West müssen aber auch wissen: Entspannungspolitik verlangt, nicht nur an die eigene Sicherheit zu denken, sondern auch ein Gefühl für das Sicherheitsinteresse des anderen zu haben. Wer statt dessen nach eigener Überlegenheit strebt, tötet am Ende die Chance zum Ausgleich, weil die dafür notwendige Basis nicht zustande kommt. Aus diesem Grunde ist es nicht gut, wenn, wie es kürzlich geschehen ist, im theoretischen Organ der sowjetischen Streitkräfte, der Zeitschrift „Kommunist", geschrieben wird, daß eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Sowjetunion der Entspannung diene und die NATO unter den Bedingungen der Entspannung einer Erosion unterliege.
— Ich habe zwar auch über andere Dinge gesprochen, aber ich sage auch das, was auf diesem Gebiete zu sagen ist.
— Wir versuchen, ausgewogen zu sein. Es ist keine gute Spekulation, nur gegen die Russen zu reden. Das ist kein konstruktiver Beitrag zur Entspannung, Herr Kollege Wörner, und dient auch dem Lande nicht.
Man muß den Mut haben, auch der Sowjetunion zu sagen, was notwendig ist.Was dort gemacht wird, ist keine gute Ausgangsposition. Die Sowjetunion will ihren Erfolg auf erhoffte Fahrlässigkeit des westlichen Verhandlungspartners gründen. Wer Entspannung sagt, aber militärische Überlegenheit meint, sät Mißtrauen und erntet irgendwann als Reaktion darauf vermutlich wieder Spannung.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß das Kräfteverhältnis bereits, wie die Opposition meint und wie Herr Kohl am Dienstag gesagt hat, zum Nachteil des Westens aus der Balance geraten sei. Diese Bundesregierung wird nicht fahrlässig Stichworte liefern, mit denen Unruhe erzeugt oder auf Grund deren Wettrüsten entfacht werden könnte. Sie hält sich aber an das, was das Leitmotiv der NATO ist: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Die Bundesregierung ist wachsam.
Dies gilt auch für Europas Sicherheit.
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Natürlich sind die politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe in den einzelnen Ländern zu verschieden, als daß sie in ein Patentrezept eingefaßt werden könnten. Unsere ernste Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß das Bündnis in Mitteleuropa abwehrfähig bleibt, so abwehrfähig, daß auch an den Flanken niemand einer militärischen Bedrohung nachgeben muß.Mit dem Blick auf diese Situation im Bündnis wird noch eines immer klarer; und das ist wichtig, meine Damen und Herren, weil ich das Gefühl habe, daß es bei Ihnen falsch eingeschätzt wird. Es ist die große Aufgabe der Staaten, die sich zur gemeinsamen Verteidigung bekennen, in jedem Land neben dem, was man Verteidigung nennt, auch Lebensumstände zu schaffen, die von den Bürgern als menschenwürdig und deshalb auch als verteidigungswert empfunden werden.
Schauen Sie sich einmal an, was in den Ländern, in denen die Sozialdemokraten nicht regieren, alles im argen liegt!
Es ist wohl auch kein Zufall, daß in unserem Land die Bereitschaft zur Verteidigung in dem Maße besser geworden ist, wie innere Reformen in diesem Land lebenswertere Lebensbedingungen geschaffen haben.
Das ist synchronisiert, Hand in Hand miteinander gegangen.
Notwendige und fällige Reformen im Innern sind auch die Voraussetzungen für die Sicherheit nach draußen. Wo diese Voraussetzungen nicht geschaffen werden, ist auch die Verteidigungsfähigkeit nicht intakt.
Das paßt gut für einen Vortrag in einer internationalen Veranstaltung christlicher Parteien. — Herr von Hassel ist gerade nicht da; ich hätte ihm das vielleicht gern einmal als Thema mitgegeben.Es ist nicht auszuschließen, daß einmal ein Land in Bedrängnis gerät und mit seinem Bündnisbeitrag etwas kurzertreten muß. Sinkende Verteidigungskraft eines einzelnen Bündnismitglieds bleibt aber nur dann ohne dauerhaften Schaden für alle, wenn der Wille erkennbar bleibt, wieder genug zu leisten, sobald es die ökonomischen Umstände erlauben. Wir müssen dabei sehr deutlich machen, daß es nicht die Aufgabe unseres Landes sein kann, Verminderungen des Beitrags anderer Länder in Europa durch vermehrte deutsche Leistungen auszugleichen. Wir haben unsere Freunde vor einer solchen Entwicklung deutlich genug gewarnt.
Das würde am Ende zu einem sehr problematischen Übergewicht der Bundeswehr führen, das wir nicht wollen.Aus ähnlichem Grund kann auch niemand erwarten, daß die Vereinigten Staaten von Amerika nuklear oder konventionell Lücken ausfüllen könnten, die von europäischen Partnern aufgerissen würden. Wohl aber müssen wir erwarten und davon ausgehen können, daß die typischen Weltmachtanstrengungen der Sowjetunion von der Supermacht USA ausbalanciert werden. Konkret heißt das: Die nuklearstrategische Rüstung der Sowjetunion kann nur durch nuklearstrategische Fähigkeit der Vereinigten Staaten und durch nichts anderes ausgewogen werden. Alle anderen Spekulationen sollten wir fallenlassen, meine Damen und Herren.
Die Bundesrepublik ist keine Supermacht. Sie will keine Supermacht sein. Wir wollen nie wieder militärische Großmacht sein. Unsere Aufgabe kann es auch nicht sein, das Gegengewicht gegen die Sowjetunion zu bilden; dies ist Sache der Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich sage das deswegen, weil ich hier auch heute morgen wieder mehrmals den Hinweis auf die maritimen Anstrengungen der Sowjetunion und die Forderung gehört habe, wir müßten das ausgleichen. Das ist nicht Sache der Bundesrepublik, sondern Sache der Vereinigten Staaten von Amerika.
Entweder Sie halten die Amerikaner für blind, daß sie das nicht sehen, oder Sie muten uns Kommandogewalt über die Amerikaner zu. Die sehen das selber!
Meine Damen und Herren, wenn Sie hier von weitreichenden Flugzeugen reden, dann sage ich: es ist nicht die Aufgabe der Bundesrepublik, sich weitreichende Flugzeuge anzuschaffen. Wir wollen kein
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Bundesminister LeberFlugzeug, mit dem wir von hier aus Moskau bombardieren können.
— Dann müssen Sie das an die richtige Adresse sagen, damit das klar ist!
Der Westen braucht solche Flugzeuge, und es ist wichtig, daß die Vereinigten Staaten weitreichende Flugzeuge haben, wenn die Sowjetunion weitreichende Flugzeuge hat. Das gehört alles in die richtigen Kästen und darf nicht vermischt werden.
Sie dürfen sich nicht anmaßen, daß wir hier der Dompteur des Bündnisses sein könnten. Dies sind unabhängige Nationen, die auch sehr darauf achten, wie die Deutschen mit ihren Bündnispartnern umgehen, und am deutschen Verteidigungswesen wird dieses Bündnis nicht genesen, wenn es krank sein sollte.
Aus der Verpflichtung der europäischen Verbündeten, das Notwendige zu tun, und der Bereitschaft der Vereinigten Staaten, das nukleare und konventionelle Engagement in und für Europa einzuhalten, ergibt sich auch künftig ein glaubwürdiges Verteidigungskonzept der NATO-Partner. Nur dieses Zusammenwirken aller Kräfte und Elemente verleiht dem Bündnis die kriegsverhindernde Kraft, die wir wollen. Diese Kombination führt zu einer vereinbarten Strategie der flexiblen Reaktion. Diese Strategie gilt auch gerade im Zeichen der nuklearen Parität. Ich begrüße ausdrücklich, daß Opposition und Regierung in diesem Punkte einer Meinung sind. Es ist nicht unsere Aufgabe, heute über neue Strategien oder Bündnisideologien nachzudenken.
Unsere Pflicht ist es vielmehr, in täglicher Kleinarbeit das Bündnis und die gültige Strategie so funktionsfähig zu halten, daß wir ruhig schlafen können, und nichts anderes!
Unsere Aufgabe lautet immer, die jeweils bestehenden Mängel zu beseitigen. Einige will ich hier nennen.Erstens. Abschreckung ist häufig nur nuklear begriffen worden. Langsam beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß die konventionelle Komponente in der Abschreckung einen wachsenden Rang erhält, besonders angesichts der deklarierten nuklearen Parität zwischen den beiden Supermächten. Daran müssen sich alle erinnern, die zu der politischen Schlußfolgerung neigen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme könnten mitHilfe von Einsparungen bei der konventionellen Verteidigung gelöst werden.Zweitens. Die wirklich vorhandene Kampfkraft der NATO-Truppen entspricht nicht der Kaufkraft aus der Summe aller Verteidigungshaushalte der Bündnispartner. Auch wenn man um den Rang des Themas weiß: mit Ungeduld und auf ein Kommando lassen sich die damit verbundenen sehr schwierigen Fragen nicht lösen. Hier liegt eine zweifellos wichtige Aufgabe der Eurogroup. Wir sind in der letzten Sitzung der Eurogroup zum Thema Rüstungszusammenarbeit meiner Auffassung nach einen beachtlichen Schritt nach vorn gekommen, das erstemal überhaupt. Es hat den Anschein, als ob der Druck auf die nationalen Haushalte der Forderung nach Rationalisierung und Standardisierung im Bündnis Nachdruck verleiht.Herr Wörner, Sie haben kürzlich den Vorwurf erhoben — ich zitiere —:Auf dem Felde der europäischen Einigung haben die sozialliberale Regierung und auch der Verteidigungsminister Leber durch eine bemerkenswerte Inaktivität geglänzt. Hier liegen schwere Versäumnisse vor.Ich habe diesen Satz, weil das ein Satz eines wichtigen Mannes ist,
in einer bewegten Sitzung in Brüssel meinen Kollegen vorgelesen. Wenn es üblich wäre, dann würde dort im Protokoll stehen: „Große Heiterkeit", als ich ihn vorgelesen hatte.
Meine Damen und Herren, es scheint nicht allen klar zu sein — das gilt nicht nur für Herrn Dr. Wörner —, daß für so ungemein schwierige Felder der Politik wie diese nicht jede öffentlich gehaltene Rede mit scheinbar schönen Vorschlägen auch eine politisch sinnvolle Initiative ist und daß nicht jede politisch sinnvolle Initiative auch in einer öffentlichen Rede verbreitet werden muß. Wer das tut, erreicht in der Regel nichts.
— Das ist eine ganze Menge, was ich zu berichten hatte, wenn Sie genau hinsehen.
Wenn ich zu diesem Punkt Bilanz ziehe, dann komme ich mit dem früheren amerikanischen Oberbefehlshaber Andrew Goodpaster zu folgendem Schluß:Obwohl die NATO ihre internen Schwierigkeiten und Mängel hat, besitzt sie alles in allem die Fähigkeit zu kraftvollen koordinierten Verteidigungsleistungen.So hat es der Mann gesagt, der es eigentlich, weil es sein Werkzeug war, am ehesten wissen müßte.
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Bundesminister LeberNun zu meinem letzten Punkt. Er betrifft das Verständnis der Bevölkerung für unsere Verteidigungspolitik. Bei der Lektüre Ihrer Frage 14 — Sie haben so viele Fragen gestellt; deshalb muß ich auch soviel antworten —
hatte ich — bei allem Respekt vor den Antragstellern, die sie formuliert haben — den Eindruck, sie sei von jemandem gestellt worden, der gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht ist, den er 1969 begonnen und 1975 beendet hat.
— Das ist nicht humorvoll, das ist traurig! —
Man muß sich den Text Ihrer Frage einmal auf derZunge zergehen lassen. Sie lautet nämlich wörtlich:Was will die Bundesregierung tun, um das Verständnis für verteidigungspolitische Zusammenhänge in der Bevölkerung zu wecken und den Selbstbehauptungswillen sowie die Verteidigungsbereitschaft bei den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland wachzuhalten?Vielleicht kann mir einer von Ihnen erklären, wen Sie wecken und wen Sie wachhalten wollen.
Ich kann nur vermuten,
daß derjenige, der das geschrieben hat, sich in seiner eigenen Umgebung umgeschaut und bei der Marine eine Anleihe gemacht hat. Dort gibt es den bekannten Weckruf: „Ein jeder weckt den Nebenmann, der letzte stößt sich selber an!"
Ich vermute, die Fragenformulierer haben den Eindruck, als sei alles noch so wie vor 1969, als der letzte CDU-Minister von der Hardthöhe herabgestiegen ist. Damals war auf diesem Gebiet freilich noch manches im argen.Ihnen kann doch im Ernst nicht entgangen sein, daß das Verständnis für die Landesverteidigung heute ein völlig anderes geworden ist, als es das bis 1969 war. Wenn Sie das uns nicht glauben, glauben Sie vielleicht der „Rheinischen Post". Von der weiß ich, daß sie — nicht von sich behauptet, sie sei unabhängig; das ist sie vielleicht — Ihnen sehr nahesteht. Die „Rheinische Post" schreibt:Die rund 500 000 Mann starke Streitmacht, voll eingebettet in das Atlantische Bündnis, kann darauf bauen, daß noch keine deutsche Armee von der Zustimmung der Bürger so getragen worden ist wie unsere Bundeswehr.
Seit den Freiheitskriegen gibt es keine deutsche Armee, die von den Bürgern so getragen worden ist, wie das bei der Bundeswehr in den letzten Jahren der Fall ist.
Wer das der eigenen „Rheinischen Post" nicht glaubt, der glaubt es vielleicht der französischen Zeitung „Le Figaro" ; vielleicht Herr Dregger.Die Bundeswehr ist— schreibt „Le Figaro" —in den Augen der westdeutschen Bevölkerung als eine nützliche Abschreckungsstreitmacht innerhalb des NATO-Bündnisses notwendig.Das ist sehr viel.Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung benötigt keine Aufforderungen, wie sie in Ihren Fragen mit den Wörtern „wecken" und „wachhalten" enthalten sind. Unsere Sicherheitspolitik stützt sich auf Verständnis in breitesten Kreisen der Bevölkerung. Sie hat die Jahre der Gleichgültigkeit und der Mißverständnisse überwunden. Unsere Verteidigungspolitik ist eine der natürlichen und selbstverständlichen Dinge. Unsere Bundeswehr ist eine der natürlichen und selbstverständlichen Einrichtungen in unserem Lande geworden, die in Staat und Gesellschaft in so natürlicher Weise zur Kenntnis genommen und von ihnen getragen wird wie jede andere staatliche Einrichtung auch. Unser Friede ist in den letzten Jahren besser geworden.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bitte um Nachsicht, daß ich länger als vorgesehen gesprochen habe. Aber wer einmal in vier Jahren zu diesem Thema spricht, darf vielleicht auch ein paar Minuten länger reden.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Möllemann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit ihrer Großen Anfrage hat die Fraktion der CDU/CSU einige sicherheits- und verteidigungspolitische Probleme aufgezeigt, mehr jedenfalls, als der Kollege Wörner in seiner Rede nachträglich noch eingebracht hat. Wir hätten es allerdings für sinnvoller gehalten, die Anfrage und die darauf erteilte Antwort der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Weißbuch 1975/76 zu diskutieren. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wissen wie wir, daß dieses Weißbuch in der nächsten Woche vorgelegt werden wird. Die Einbeziehung der von ihm zu erwartenden Darstellung von Daten, Fakten und Zusammenhängen wäre nicht nur dieser Debatte, sondern sicherlich auch dem Interesse und dem Verständnis nützlich gewesen, das dieses Thema in der Öffentlichkeit finden soll.
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14618 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
MöllemannNun hatten Sie leider schon andere terminliche Festlegungen getroffen; die Aktion „Der Kanzlerkandidat und die scheibchenweise Enthüllung seiner Kabinettsaspiranten" läuft nun einmal, und wir haben damit zu leben. Herr Kollege Wörner, ich darf Ihnen trotz Ihrer für mich gehaltlosen Rede von vorhin zu dem vorläufigen Punktsieg über den Kollegen Dregger herzlich gratulieren.
Ich wünsche Ihnen überdies Geduld und Kraft für die lange Wartezeit von vielen Jahren, die Sie in den nächsten Jahren eben als Kabinettsaspirant werden verbringen müssen.
Da Sie — ebenso wie ich — noch ziemlich jung sind, wird es Ihnen ja nichts weiter ausmachen, daß das eine lange Zeit sein wird, und Sie werden auch die enttäuschenden Folgen Ihrer nächsten Wahlniederlage insoweit überstehen können.
— Herr Kollege Klein, ich warte ohnehin darauf, daß Sie hier einen konstruktiven Beitrag bringen. Hier vorn ist ein Mikrofon; halten Sie sich gar nicht zurück, bringen Sie etwas.
— Es gibt auch das lebenslange Lernen, Herr Stücklen; das merkt man an Ihnen. Vielen Dank!Im übrigen, Herr Kollege Wörner, wurde ja Ihre Beförderung theoretisch bemäntelt, indem Sie angeblich neue Leitlinien zur Sicherheitspolitik vorgestellt haben. Dieses bedeutsame Konzept hat ebenso wie der begleitende Personalakt bei vielen Ratlosigkeit hervorgerufen, selbst bei solchen, die Ihnen nicht fernstehen. So schreibt die „FAZ" — ich darf dies mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, zitieren —:Denn wenn eine Partei von Leitlinien spricht, erwartet man Ideen. Äußern sich zudem der Parteivorsitzende und ein von ihm für ein hohes Amt auserwählter Politiker, sollte ihr Auftreten wie ein politisches Manifest wirken. Von all dem war nichts zu spüren ... Wir haben es mit einem wohlmeinenden Kompendium militärpolitischer Selbstverständlichkeiten zu tun.In den Richtlinien findet man alles, nur keine politische Dynamik.Wir alle in der FDP-Fraktion stimmen dieser Behauptung und Feststellung der „FAZ" vollkommen zu.Soweit nun mit der Anfrage der Opposition das Ziel verfolgt wurde, der Bundesregierung erneut Gelegenheit zu geben, insbesondere auch zur Unterrichtung der breiten Öffentlichkeit ihre Auffassung zu diesen Fragen und die von ihr eingeleiteten und geplanten Schritte oder Maßnahmen noch einmal zusammengefaßt darzustellen, wäre dies ja durchaus zu begrüßen. Bereits die Formulierung der Fragen aber — unabhängig von der Begründung — zeigt, daß die Opposition mit der Anfrage vor allem beabsichtigt, in der interessierten Öffentlichkeit den Eindruck oder zumindest ein Gefühl dafür zu erwecken, daß diese sozialliberale Bundesregierung den aktuellen sicherheitspolitischen Herausforderungen und militärischen Notwendigkeiten nicht in ausreichendem Maße Rechnung trägt
und daß diese Bundesregierung die Bürger unseres Landes nicht umfassend, vollständig, nüchtern und ehrlich über die sicherheitspolitische Lage unseres Staates unterrichtet. Wie denn sonst soll die letzte Frage zu verstehen sein, was die Bundesregierung tun wolle, um das Verständnis für diese Zusammenhänge zu wecken? Der Herr Bundesminister für Verteidigung hat bereits ausführlich dargelegt, wie diese Ihre Frage zu bewerten ist.
Dieser Frage und ihrem Tenor entspricht auch der kaum noch unterschwellig, sondern meist ganz offen erhobene Vorwurf — mit dem mancher von Ihnen draußen hausieren geht —, diese Koalition betreibe eine verderbliche Außenpolitik und vernachlässige die Sicherheitspolitik ganz sträflich. Auch Sie, Herr Wörner, haben dies im Tenor gesagt. Wir weisen das hier ganz entschieden zurück. Für uns sind die von Hans-Dietrich Genscher verantwortete Außen-und Entspannungspolitik und die Verteidigungspolitik, die Minister Leber vertritt, zwei wesentliche Faktoren einer schlüssigen, vernünftigen Gesamtkonzeption. Weil dies so ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, werden wir auch künftig den allmählich schon peinlich wirkenden Versuch, den auch Sie, Herr Wörner, heute morgen wieder unternommen haben, zurückweisen, den Verteidigungsminister sozusagen zum Aushängeschild Ihrer Politik zu machen. Diesen Etikettenschwindel werden wir Ihnen nicht weiterhin gestatten. Die Minister dieser Regierung machen die Politik dieser sozialliberalen Koalition, nicht die Ihre. Wenn Sie sich aber — wie auch in anderen Bereichen — an den Wagen unserer Politik anhängen wollen, um wenigstens ein bißchen selbst in Fahrt zu kommen, bitte sehr, dann tun Sie das. Das kann uns nur recht sein.Ich halte es also für erforderlich, einleitend eindeutig festzustellen, daß die Bundesregierung der sozialliberalen Koalition wie keine Bundesregierung zuvor seit 1970 regelmäßig in umfangreichen Weißbüchern zur Sicherheitspolitik und zur Entwicklung der Bundeswehr sowie in zahlreichen weiteren Publikationen alle, aber auch wirklich alle von der Opposition aufgeworfenen Fragen ausführlich und auch in einer für den Bürger verständlichen Form und Sprache klar und ungeschminkt beantwortet hat. Auch der Opposition hätte es eigentlich nicht verborgen bleiben dürfen, daß trotz der von der sozialliberalen Koalition im Rahmen und mit tat-
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Möllemannkräftiger Unterstützung des Atlantischen Bündnisses eingeleiteten Entspannungspolitik dem Osten gegenüber und trotz der in Helsinki zum Abschluß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterzeichneten Absichtserklärungen fast drei Viertel unserer Bevölkerung heute die Bundeswehr für sehr wichtig oder wichtig halten. Dieser Prozentsatz — dies wurde festgestellt — ist höher als je zuvor in unserem Lande.Diese Einschätzung schlägt sich auch darin nieder, daß wie nie zuvor unsere jungen wehrpflichtigen Bürger bereit sind, freiwillig Dienst in den Streitkräften zu leisten. So ist im Jahre 1975 die Zahl der Freiwilligen, die sich für eine Dienstzeit von drei Jahren und mehr als Soldat auf Zeit verpflichtet haben, also der für die Bundeswehr besonders wertvollen und wichtigen Längerdienenden, um rund 15 % angestiegen. Dies kann, wie die Erfahrungen in anderen westeuropäischen Staaten beweisen, nicht allein auf die wirtschaftliche Lage zurückgeführt werden. Dies sind vielmehr auch Indizien dafür, daß unsere Öffentlichkeit durch eine gute Informationsarbeit der Bundesregierung, aber auch des Bundesministeriums der Verteidigung, über die reale Weltsituation hervorragend unterrichtet worden ist. Es zeigt, daß die Entspannungspolitik in der Öffentlichkeit weder mißverstanden worden ist noch falsche oder gefährlich Illusionen geweckt hat. Sie wird in der von uns betriebenen Art als vernünftiger, gesicherter Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur Politik der Europäischen Gemeinschaft und der NATO verstanden, ein Beitrag, zu dem — dies zeigen alle, aber auch wirklich alle Debatten — Sie einfach keine Alternative haben!Dennoch — und dies ist ein Problem, das man in diesem Zusammenhang ansprechen muß — zeigen uns neuere Umfrageergebnisse vom Herbst vergangenen Jahres, daß über Verteidigungsfragen z. B. an den höheren Schulen unseres Landes nach wie vor noch qualitativ unzureichend unterrichtet wird. Nur ein Drittel dieser Einrichtungen genügt derzeit der Forderung, die heranwachsenden jungen Menschen auch über Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, über Wehrdienst und Wehrdienstverweigerung zu informieren. Befürchtungen und Proteste gegenüber der Behandlung wehrkundlicher Fragen in der Schule, die von verschiedenen Seiten geäußert werden, erweisen sich vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse als psychlogisch zwar manchmal verständlicher, in der Sache aber wenig konstruktiver Beitrag zur Lösung dieses Problems. Ähnliches gilt im übrigen für viele Schulbücher.Verantwortlich für die unzureichende Unterrichtung in Sicherheits- und Verteidigungsfragen und die damit zusammenhängenden Sachkomplexe ist in erster Linie die Schulpolitik der Länder, und da, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sieht es in allen Bundesländern ziemlich gleich aus. Die Situation ist hier im einzelnen genauso unbefriedigend wie die Lage insgesamt. Wenn Sie also die Bundesregierung fragen, was sie zur sicherheitspolitischen Information der Bürger tut, dann fragen Sie bitte auch die von Ihnen gestellten Landesregierungen, was diese in Zukunft für einebessere Unterrichtung über Sicherheitsfragen an den Schulen zu tun gedenken.
— Ich habe mir die unterschiedlichen Informationen über die Curricula in diesem Bereich aus den verschiedenen Bundesländern angesehen, Herr Kollege, und ich kann beim besten Willen nicht feststellen, daß es dort einen qualitativen Unterschied gibt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich über das Gegenteil informieren könnten.
Ich fürchte, dies wird Ihnen an Hand der Fakten nicht gelingen.Die Einstellung unserer jungen wehrpflichtigen Bürger zur Sicherheitspolitik und ihre Einsicht in die Notwendigkeit, auch weiterhin eine ausreichende militärische Verteidigung aufrechtzuerhalten, zeigt sich auch darin, daß sich die seit 1968 stark angestiegenen Zahlen der Wehrdienstverweigerer nicht mehr erhöhen, sondern sogar rückläufige Tendenz haben. Diese Tatsache rechtfertigt es — auch unter militärischen Gesichtspunkten; von den übrigen ganz zu schweigen —, daß wir jetzt zügig an den Abschluß der Beratungen der gesetzlichen Bestimmungen zur Wehrdienstverweigerung herangehen. Hinsichtlich dieser Probleme sind — das hat die gestrige Debatte im Verteidigungsausschuß deutlich gezeigt — die Fronten klar abgesteckt. Es bedarf daher nicht der Darlegung aller Einzelheiten. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß es verfassungsrechtlich geboten ist, ein Grundrecht so umfassend und so ungehindert zu gewähren, wie es irgend möglich ist, d. h. wie es in Anbetracht anderer Rechte gleichen Ranges möglich ist. Aus diesem Grunde war das Verfahren daraufhin zu überprüfen, ob es wirklich noch in allen Fällen der Entscheidung durch den Prüfungsausschuß bedarf. Das ist allein schon wegen der für ein Jahrzehnt steigenden Jahrgangsstärken nicht der Fall. Die Bundeswehr hat ein genügend starkes Personalpolster, um bei einem Ansteigen der Zahlen der Wehrdienstverweigerer dennoch den Personalbedarf der Truppe an Wehrpflichtigen decken und damit den Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes erfüllen zu können.Auch deshalb wie aus grundsätzlichen Erwägungen treten wir dafür ein, das Verfahren für alle ungedienten Wehrpflichtigen, die noch nicht ihren Einberufungsbescheid erhalten haben, zu suspendieren und die bloße Erklärung genügen zu lassen, um sie statt des Wehrdienstes den Zivildienst leisten zu lassen. Dadurch entfallen nach unseren Schätzungen ca. 90 % aller zur Zeit notwendigen Verfahren. Das bedeutet nicht ein Wahlrecht des Wehrpflichtigen, erst recht nicht eine Aushöhlung oder Abschaffung der Wehrpflicht. Wer den Wehrdienst verweigern will, muß nach wie vor alle Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes erfüllen. Der Unterschied besteht eben nur darin, daß die Erklärung, solange das Verfahren suspendiert ist, nicht mehr überprüft, sondern als Grundlage für die Wehrdienstverweigerung hingenommen wird. Sollte diese Suspendierung des Verfahrens zu einer zahlen-
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14620 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Möllemannmäßigen Ausuferung der Berufung auf die Kriegsdienstverweigerung führen und dabei der Eindruck entstehen, daß dies z. B. auf gezielte politische Agitation zurückzuführen ist — ganz besonders dann! —, müßte das suspendierte Verfahren in neuer Form wieder eingeführt werden. In Anbetracht des Wandels der Einstellung unserer Jugend zu den Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes braucht damit aber nach unserer Überzeugung nicht gerechnet zu werden.Ich gebe im übrigen zu, daß sowohl Sie, Herr Kollege Kraske, der Sie gestern Ihre Position im Ausschuß verdeutlicht haben, als auch wir zu einem gewissen Teil auf Spekulationen basieren. Aber ich denke, gerade die jetzige Situation ist dafür geeignet, das Risiko einzugehen, diesen Versuch zu unternehmen. Nur dann, wenn unsere Prognose nicht zutreffen sollte, müßte durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung im Zusammenwirken mit dem Parlament ein dann allerdings verändertes Verfahren wieder eingeführt werden.Mit dieser Änderung im Recht der Wehrdienstverweigerung ist sowohl den Wehrpflichtigen geholfen, die sich dann nicht mehr einem allzu oft peinlichen und nicht unproblematischen Verfahren zu unterwerfen brauchen, als auch — und das scheint mir genauso wichtig zu sein — der Truppe, die weitgehend frei sein wird von den Problemen, die dann auftreten, wenn bei ihr wehrdienstverweigernde Soldaten Dienst tun. Nur diejenigen, die erst als Soldaten ihre Gewissensentscheidung treffen, müssen noch das veränderte, wir meinen: verbesserte Verfahren durchlaufen. Andernfalls wäre eine Gefährdung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte nicht auszuschließen. Die vorgesehenen Regelungen entsprechen dem verfassungsrechtlich gebotenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ich hoffe, daß die Änderungen des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes, die diese Verfahrensänderungen anstreben, recht bald Gesetzeskraft erlangen werden.Gestatten Sir mir, daß ich mich einem anderen Problem, das Sie in Ihren Fragen angeschnitten haben, zuwende. Die FDP geht davon aus, daß die Bundesregierung im Weißbuch 1975/76, das in der nächsten Woche vorgelegt wird, erneut eindeutig das militärische Kräfteverhältnis, aber auch das Kräfteverhältnis im allgemeinen zwischen Ost und West beschreiben und gewissenhaft und nüchtern bewerten wird. Die FDP erwartet, wie in den früheren Jahren praktiziert, vom neuen Weißbuch auch Prognosen der Bundesregierung über die künftige Entwicklung des Kräfteverhältnisses und Aussagen der Bundesregierung über die vorgesehenen Maßnahmen und geplanten Schritte im Bündnis und in der Bundeswehr. Wir würden es begrüßen, wenn man sich darüber hinaus zur Weiterentwicklung der inneren Führung, zur Stellung des Soldaten in unserer Gesellschaft und zur künftigen Behandlung der Wehrdienstverweigerer ausführlich äußern würde.Meine Damen und Herren, unsere sicherheitspolitische Lage, die sowjetische Aufrüstung und der Flottenausbau, das Entstehen neuer Konfliktursachen und Konfliktformen in der Welt sowie dieBewältigung von Schwierigkeiten und Problemen im NATO-Bündnis erfordern nach Auffassung der FDP eine aktive Mitarbeit aller politischen Kräfte unseres Landes bei der Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten. Wir meinen, es sei notwendig, durch Geschlossenheit die Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung zu unterstützen. Es ist notwendig, durch Gemeinsamkeit dazu beizutragen, daß die sich hieraus ergebenden Notwendigkeiten, Pflichten und auch Opfer für unsere Bürger einsichtig werden und Verständnis finden, daß es so bleibt, wie es im Moment ist. Es war bisher eine Stärke der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland, daß sie im großen und ganzen — von Details abgesehen — über parteipolitische Grenzen hinweg von allen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien getragen wurde und nicht zuletzt dadurch die weitgehende Zustimmung bei der überwiegenden Mehrheit unserer Bevölkerung gefunden hat. Das sollte auch zukünftig und im Wahljahr 1976 so bleiben. Es sollte unserer Bevölkerung nicht suggeriert werden, daß ihre Sicherung vor äußerer Gefahr bereits jetzt nicht mehr gewährleistet sei. Eine solche Behauptung, Herr Kollege Wörner, so wie Sie sie mindestens unterschwellig haben durchklingen lassen, ist nicht nur unrichtig, sondern darüber hinaus schädlich, ja, gefährlich; denn sie könnte zu einem die Verteidigungsbereitschaft und damit die Verteidigungsfähigkeit lähmenden Fatalismus führen.Es besteht auch kein Anlaß, die Potenz des Warschauer Paktes ständig ohne Augenmaß überzubewerten und damit eigene Minderwertigkeitsgefühle zu züchten. Bei einer realistischen Analyse werden nicht nur gewaltige Rüstungszahlen des Warschauer Paktes und insbesondere der Sowjetunion deutlich. Es wird auch deutlich, daß es natürlich auch dort Schwächen und Probleme gibt, die die Stärke relativieren. Ob man nun den unübersehbaren Nationalitätenkonflikt oder die ökonomischen Probleme, die sich in nicht erreichten Plänen und Mißernten manifestieren, ob man die Dynamik der Grundgedanken der KSZE, der sich — das haben wir von vornherein gesagt auch die Sowjetunion und der Warschauer Pakt nicht entziehen können, als Beispiel nimmt — der relativierende Effekt dieser Schwachstellen muß berücksichtigt werden. Auch der strategische und technologische Vergleich weist für uns durchaus Pluspunkte auf.Im übrigen kann man militärische Faktoren nicht isoliert sehen. Wenn es zutrifft — und wir gehen davon aus —, daß die Stärke eines Staates nicht nur durch seine Armee, sondern ebenso durch seine Außenpolitik bestimmt wird, die Freunde schafft, wenn darüber hinaus angenommen werden darf, daß es einen unlösbaren Zusammenhang zwischen der Verteidigungswürdigkeit und der Verteidigungsfähigkeit eines Staates gibt,
dann werden gewisse bedrohliche Einzeldaten doch stark relativiert.Gestatten Sie mir einige ausführlichere Bemerkungen zu den politischen, wirtschaftlichen und mili-
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Möllemanntärischen Schwächen unseres Gegenüber, da die Stärken hier schon sehr deutlich und, wie ich meine, in überzogenen Farben geschildert worden sind.Die sowjetische Wirtschaftskraft ist nur etwa halb so groß wie die der USA. Von einem noch unter Chruschtschow lautstark propagierten Ein- und Überholen der USA ist heute keine Rede mehr. Die Konsumgüterproduktion wird im neuen Fünfjahresplan weiterhin erheblich unter den Erwartungen der sowjetischen Bevölkerung und den noch vor Jahresfrist gemachten Versprechungen der Parteiführung bleiben. Das Wirtschaftswachstum der Sowjetunion ist 1975 auf die Hälfte des ursprünglichen Plansolls zurückgefallen.Dazu hat wesentlich beigetragen, daß die Getreideernte weit unter dem Minimalsoll zurückgeblieben ist. Das Defizit soll 80 Millionen t betragen. Die Sowjetunion, früher ein Getreideexporteur, kann sich jetzt nicht selbst ernähren, obwohl jeder fünfte erwerbstätige Sowjetbürger in der Landwirtschaft arbeitet. Die Sowjetunion muß die fehlenden Kornmengen in den USA einkaufen und verbraucht dafür Devisen in Milliardenhöhe, die dann für Investitionen in der Industrie und für den Einkauf von technischem Know-how aus dem Westen nicht mehr zur Verfügung stehen.Die sowjetische Technologie ist außerordentlich unterschiedlich entwickelt. Im Bau und Einsatz von elektronischen Großcomputern hängt sie z. B. mindestens zehn Jahre hinter dem Westen zurück. Der Abstand vergrößert sich weiter, nicht zuletzt wegen der fehlenden Devisen.Insgesamt ist es der Sowjetunion nicht gelungen, die sogenannte technologische Lücke zu schließen, obwohl dazu große Anstrengungen unternommen worden sind. Sie setzt ihre Rüstungsindustrie ganz bewußt als technologischen Schrittmacher ein, weil sie wegen der Qualitätsansprüche und Qualitätskontrollen der Militärs in der Tat die effektivste Branche der sowjetischen Wirtschaft ist.Der ideologische Führungsanspruch der Sowjetunion gegenüber den westlichen KP-Organisationen besteht praktisch nur noch auf dem Papier. Moskau ist nicht mehr die unbestrittene Zentrale des Weltkommunismus. Diese Machteinbuße hat es besonders empfindlich getroffen. Das mit Eifer betriebene große Kommunistenkonzil, das zwischen KSZE-Schlußkonferenz und dem 25. Parteitag ,der KPdSU geplant war und Stärke und Geschlossenheit des internationalen Kommunismus demonstrieren sollte, kam nicht zustande.Der politische Herrschaftsbereich der Sowjetunion hat sich unter Breschnew seit 1964 nicht vergrößert. Er zeigt im Gegenteil Erosionserscheinungen. Die Entwicklung zum demokratischen Sozialismus mußte 1968 in der Tschechoslowakei mit Gewalt gestoppt werden. Rumänien konnte sich größere politische Bewegungsfreiheit sichern. In den kaukasischen und transkaukasischen Republiken gibt es starke Autonomiebestrebungen, die nur mit Mühe unter Kontrolle gehalten werden können. Der Konflikt mit der Volksrepublik China hat sich zeitweilig bis an den Rand einer bewaffneten Auseinandersetzung verschärft.In der Außenpolitik der Sowjetunion gab es schwere Rückschläge in Chile, in Portugal und im Nahen Osten — konkret: in Ägypten —. Die Sowjetunion befindet sich darüber hinaus nach Helsinki — für sie offenbar unerwartet — in der politischen Defensive. Sie hat sich nun nach langem Zögern bereit finden müssen, beabsichtigte Manöver anzukündigen.Innenpolitisch haben die Sowjets große Schwierigkeiten, mit der wachsenden Zahl sogenannter Disidenten angesichts einer nach Helsinki viel stärker sensibilisierten Weltmeinung fertig zu werden.Die finanzielle Entwicklungshilfe der Sowjetunion an die Staaten der Dritten Welt ist mehr als bescheiden. Allein die Bundesrepublik Deutschland zahlte 1974 mehr als die Staaten des Warschauer Paktes zusammengenommen. Die Staaten der Dritten Welt wissen, daß in Moskau und den anderen Staaten dieses Paktes für sie wenig zu holen ist, daß sie sich an den Westen halten müssen. Das erklärt die geringen Erfolge der mit viel Eifer betriebenen sowjetischen Politik, sich beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent festzusetzen. Die Sowjetunion macht keine Lebensmittelschenkungen, gibt keine Hilfe in Form direkter Zuwendungen oder zinsloser Anleihen, sondern bindet ihre Hilfe eng an die Lieferung eigener, oft überteuerter Güter. Das ist die sogenannte gebundene Hilfe. 1973 waren die Rückzahlungen der Empfängerländer fast so hoch wie der von der UdSSR und den Warschauer-Pakt-Staaten tatsächlich gezahlte Hilfsbetrag.Die Geographie und die mangelhafte Infrastruktur begrenzen und behindern die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung. Nur 10 % der riesigen Landmasse des größten Landes der Erde ist landwirtschaftlich nutzbar, dazu noch wegen des ausgeprägten Kontinentalklimas durch Wettereinflüsse besonders gefährdet. Der Großteil der Bodenschätze befindet sich im Permafrostbereich. Die Ausbeutung erfordert ungeheure finanzielle Investitionen. 80 % der Energiequellen liegen im östlichen Teil der Sowjetunion, die Verbraucher konzentrieren sich dagegen im Westen. Zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil gibt es als Verkehrsweg nur die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn; eine Straßenverbindung und eine weitere Eisenbahnlinie sind erst im Bau.Die militärische Stärke der Sowjetunion, meine Damen und Herren, wird durch häufig mangelhaftes technisches Verständnis ihrer Soldaten erheblich beeinträchtigt; ein Umstand, aus dem sich auch die lange Wehrdienstdauer erklärt. Bei schlechtem Wetter gibt es für sie kaum fliegerischen Ausbildungsbetrieb. Die Zahl der Flugzeugabstürze ist im Warschauer Pakt etwa doppelt so hoch wie im europäischen NATO-Bereich. Ein Großteil der Streitkräfte muß als innenpolitisch stabilisierender Faktor eingeschätzt werden, der im Konfliktfall nicht voll verfügbar ist. Die unterschiedliche Zuverlässigkeit der Warschauer-Pakt-Truppen wird von der Sowjet-
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Möllemannunion bei der strategischen Planung ganz offenkundig selbst in Rechnung gestellt. Weiteres Hemmnis ist die jede Initiative unterdrückende Befehlstaktik, die im Unterschied zur westlichen Auftragstaktik nach dem Leninschen Motto: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" nach wie vor praktiziert wird, und zwar nicht nur in den Streitkräften, sondern in praktisch allen Bereichen einschließlich der Staatsbürokratie.Die militärische Macht des Warschauer Paktes, die unter Verzicht auf Konsum für die Bevölkerung erkauft wird, kann meines Erachtens auch in dieser Hinsicht nicht Vorbild unserer eigenen militärischen Verteidigungsanstrengungen sein. Konsequenterweise müßte sonst nämlich auch von unserer Bevölkerung ein weitgehender Verzicht auf den heutigen Lebensstandard und das Netz sozialer Sicherungen gefordert und eine Angleichung an den Lebensstandard im Ostblock gebilligt werden. Dies wollen wir jedenfalls nicht; ich nehme an, Herr Kollege Wörner, auch Sie nicht. Nur, wenn das so ist, sollten Sie hier nicht so nebulös Mehrausgaben fordern, ohne konkret zu sagen, wo denn die Mittel dafür hergenommen werden sollen, wem diese weggenommen werden können.
Denn wie soll bewerkstelligt werden, was Sie in Ihren sogenannten Leitlinien fordern, nämlich eine deutliche Steigerung der Verteidigungsausgaben? Ich empfinde angesichts der Zahlen im Entwurf des Bundeshaushalts für dieses Jahr eine solche Forderung als sehr problematisch.Bei einem Haushaltsvolumen von insgesamt 168,1 Milliarden DM weist der Verteidigungshaushalt im Einzelplan 14 31,8 Milliarden DM aus. Rechnet man aber — und ich meine, dies sollte man auch einmal ganz klar hier tun — alle zum Gebiet der Verteidigung gehörenden Kosten aus allen anderen Einzelplänen hinzu, berechnet man also die Verteidigungsausgaben nach NATO-Kriterien, dann kommt man auf 47,5 Milliarden DM oder 28,3 % des Bundeshaushalts. Wenn man diese Beträge, 47 Milliarden DM von 168, etwa mit den Ausgaben für die Bildung oder für die Entwicklungspolitik vergleicht, wenn man weiß, daß in der NATO nur die USA absolut und relativ mehr für die Verteidigung ausgeben, dann muß man Ihre Forderungen nach spürbar mehr Geld für die Verteidigung doch wohl sehr skeptisch betrachten.Der Verteidigungshaushalt steigt auch 1976. Die Steigerungsrate von 2,6 % gegenüber 1975 kommt den Investitionen zugute; das ist wichtig. Ein bloßer Zuwachs, der von den Betriebskosten aufgefressen würde, würde nicht viel helfen. Alle Armeen der NATO-Staaten — das gilt im übrigen auch für die Warschauer-Pakt-Staaten — sehen sich bei der Festlegung ihrer Verteidigungshaushalte einem überproportional wachsenden Anstieg der Betriebsausgaben gegenüber. Das geht zu Lasten des Investitionsanteils, also auf Kosten einer modernen Ausrüstung. Es kommt also darauf an, nicht nur vertretbare Zuwachsraten zu erzielen, sondern eineausgewogene, günstige Relation von Betriebskosten und Investitionsanteil zu erreichen. Auf diesen Sachverhalt hat bereits die Wehrstrukturkommission der Bundesregierung in ihrem zweiten Bericht aus dem Jahre 1972 ausführlich hingewiesen. Die Bundesregierung hat sich an die dort ausgesprochenen Empfehlungen gehalten. Unser Verteidigungshaushalt weist in dieser Hinsicht eine seit Jahren bedeutend günstigere Zusammensetzung auf als der anderer Länder. Der Anteil der Betriebsausgaben konnte erheblich reduziert werden. Im Verteidigungshaushalt 1976 steht ein Betriebskostenanteil von 67,5 % einem Investitionsanteil von 32,5 % gegenüber. Darin sind die Baumaßnahmen eingeschlossen, die im Rahmen des Konjunkturprogramms der Bundesregierung für die Bundeswehr wirksam werden. Mit der günstigen Struktur des Verteidigungshaushaltes 1976 ist sichergestellt, daß die Bundeswehr auch künftig eine modern ausgerüstete, schlagkräftige Armee sein wird.Ihre hervorragende und schnelle Einsatzbereitschaft hat die Bundeswehr, wie bereits angesprochen, bei der Sturmflut an unserer Nord- und Ostseeküste vor kurzem erneut eindeutig und für jeden sichtbar unter Beweis gestellt. In kürzester Zeit waren die zur Hilfeleistung vorgesehenen Verbände personell aufgefüllt. Sie waren unverzüglich an ihren Einsatzorten. Den an den Einsätzen Beteiligten möchte ich hier im Namen der Fraktion der Freien Demokraten für ihren Einsatz ausdrücklich und herzlich danken.
Der erfolgreiche Ablauf dieses Einsatzes läßt im übrigen den Schluß zu, daß vor allem auch die neue Form der Verfügungsbereitschaft ein Mittel ist, die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte noch weiter zu verbessern.Meine Damen und Herren, die FDP ist der Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig einen in jeder Hinsicht angemessenen Beitrag zum NATO-Bündnis als Garanten unserer äußeren Sicherheit leistet. Es nützt auch nichts, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ständig auf Krisen und Probleme in einigen Staaten unseres Bündnisses hinzuweisen, die zu ändern nicht in der Macht der Bundesrepublik Deutschland steht und stehen kann. In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Wörner, fand ich Ihre Gegenüberstellung eines möglichen Engagements hinsichtlich Spaniens und der osteuropäischen Staaten für außerordentlich fragwürdig. Zunächst einmal meine ich, daß wir die Entwicklung in Spanien sicherlich noch abwarten müssen und Spanien dafür noch Zeit geben sollten. Vorschnelle Entscheidungen können auf eine Art und Weise auf die Entwicklung dort Einfluß nehmen, die Sie sicherlich auch nicht wollen.
Zum anderen aber hier zu sagen — ich zitiereSie —, wir hofierten und finanzierten die roten Dik-tatoren, und damit auf die Rentenzahlungen abzu-
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Möllemannzielen, halte ich nun wirklich für geschmacklos bis zum Geht-nicht-mehr.
— Herr Wörner, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mit mir in der nächsten Zeit einmal beispielsweise das Grenzdurchgangslager in Unna besuchten.
— Vielen Dank, Herr Windelen. Sie sind da sehr sachkundig. Das weiß ich. Aber auch nur da, und auch das läßt nach!
Herr Windelen, erregen Sie sich doch nicht so. Sie haben ja recht, die Terminologie war nicht richtig. Ich wollte den Kollegen Wörner bitten, mit Menschen, die dort betroffen sind, darüber zu sprechen, ob ihnen diese Bezeichnung solcher humanitärer Bemühungen mit dem von Ihnen genannten Attribut recht ist. Ich fürchte, Sie werden dort eine sehr eindeutige Antwort bekommen.
— Natürlich! Aber dadurch, daß wir permanent — das ist schon sehr nachdrücklich hier gesagt worden — die Forderung aufstellen: entweder alle auf einen Schlag oder keiner, helfen wir überhaupt niemandem. Wir können bestimmte, nun sicherlich bedeutsame Leistungen eben auch nur in Schritten vollbringen. Aber mir sind kleine Schritte in dieser Richtung immer noch lieber als große, tönende Worte, denen keine einzige praktische Tat folgen kann.
Stabilität in der Allianz setzt im übrigen Solidarität zwischen den Bündnispartnern voraus. Dies erfordert auch Vertrauen untereinander und Verständnis für nationale Probleme. Sie wird ganz sicherlich nicht gefördert durch die Großmannssucht, mit der Sie hier als Lehrmeister für die EG und die NATO auftreten wollen.
Es muß von uns vermieden werden, Mißtrauen einzelnen Bündnispartnern gegenüber zu säen, wie es leider ein Teil Ihrer Fragen nicht vermeidet. Wir wissen — auch die Opposition weiß es aus den Unterrichtungen im Ausschuß und an anderer Stelle doch genau —, daß die Bundesregierung — neben dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auch der Bundesverteidigungsminister — in den politischen und militärischen Gremien der NATO eine sehr offene und deutliche Sprache spricht, wenn dies notwendig ist.Von unseren Bündnispartnern wird diese Sprache auch durchaus verstanden und akzeptiert.Eine deutliche Sprache und viel Geduld werden wir sicherlich auch brauchen, wenn wir ein anderes Ziel erreichen wollen. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer Absicht, in der Frage der Rüstungsexporte weiterhin eine restriktive Haltung einzunehmen. Diese Haltung kann aber nur dann zu dem. gewünschten Erfolg führen und letztlich auch nur dann sinnvoll sein, wenn auf den verschiedenen internationalen Ebenen auch die übrigen Staaten zu der gleichen Einstellung bewogen werden können. Gerade eine auf Friedenssicherung gerichtete Außenpolitik muß sich dieses Problems besonders annehmen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sollte auch in Zukunft alle Bemühungen fördern, die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses sicherzustellen. Sie sollte unter diesem Gesichtspunkt wirtschaftlich schwächeren Staaten im Bündnis auch materielle Hilfestellung leisten, soweit sie dies vermag und darum gebeten wird. Eine Partnerschaft verlangt aber auch die Teilung der Lasten. Jeder Mitgliedstaat des Bündnisses muß seinen eigenen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leisten, damit die NATO funktionsfähig bleibt. Es kann nicht unser Ziel sein, durch Übernahme der Aufgaben anderer Bündnispartner diese aus ihrer Mitverantwortung für die Sicherheit des Bündnisgebietes zu entlassen. Damit würde nämlich ein Kernstück unserer Verteidigungskonzeption, nämlich die integrierte Struktur der NATO-Verbände, in Frage gestellt werden. Hierdurch würde die gemeinsame NATO-Strategie aufgeweicht werden können. Ein Mehr an Kooperation vielmehr, ein Mehr an Standardisierung muß erreicht werden — nicht nur aus militärpolitischen, sondern auch aus ökonomischen Gründen. Nur so können alle europäischen NATO-Staaten auch in Zukunft durch starke konventionelle Kräfte dauerhaft sicherstellen, daß auch die Vereinigten Staaten von Amerika ihr strategisches Potential zum Schutze Europas weiterhin zur Verfügung stellen. Denn kein noch so starkes konventionelles Potential — auf das wir nicht verzichten können — kann die gegenüber einer Nuklearmacht erforderliche nukleare Abschreckungsfunktion ersetzen.Für die Bundeswehr selbst ist die volle Verwirklichung einer neuen Wehrstruktur zügig fortzusetzen. Die Zielsetzung, eine kostenwirksamere Wahrnehmung bundeswehrgemeinsamer Aufgaben zu erreichen, wollen wir intensiv weiterverfolgt sehen. Den Planungen und Untersuchungen sollten bald Entscheidungen folgen. Die Erprobungen neuer Verbandsstrukturen des Heeres sind konsequent auf eine Mann-Waffen-effektivere Struktur auszurichten. Ich darf dabei daran erinnern, daß frühere Vorschläge der FDP, durch Auflösung von Kommandobehörden Personal einzusparen, um damit die Kampfkraft unserer Einsatzverbände zu erhöhen, bisher vor allem auch durch Einwendungen und Bedenken gerade der Opposition verhindert worden sind. Die Freien Demokraten werden deshalb noch in diesem Jahr ihre Vorstellungen über eine kosten-
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Möllemannwirksame Struktur unserer Streitkräfte vorlegen, umder neuen Wehrstruktur weitere Impulse zu geben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Debatte wird nach unserer Überzeugung erneut deutlich machen, daß die sozialliberale Koalition eine konstruktive, vernünftige Verteidigungspolitik betreibt.
Die FDP trägt diese Verteidigungspolitik gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner. Auch bei der weiteren Arbeit an diesem politischen Aufgabenbereich kann die Bundesregierung, insbesondere der Verteidigungsminister, der Unterstützung der Fraktion der Freien Demokraten sicher sein.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Damm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man den Verteidigungsminister da so sitzen sieht, hat man nicht den Eindruck und kann man sich gar nicht vorstellen, daß er vorhin diese Rede gehalten hat, die wir von ihm gehört haben. Er sitzt da, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Dabei hat er eine Rede gehalten, von der ich nur den Eindruck gewinnen konnte, Sie wollten nachweisen, daß Sie immer noch zur SPD gehören, in deren Mitte Sie einmal, wie Sie gesagt haben, gestanden haben. Ich mußte den Eindruck gewinnen, Sie wollten sich auf diese Weise wenigstens Ihren Listenplatz in Hessen sichern.
Ich finde wirklich, daß diese Rede des Verteidigungsministers ein trübes Kapitel in der Geschichte der deutschen Verteidigungspolitik ist.
Da spricht dieser Minister über den Einsatz der Bundeswehr jüngst bei der Flut, und mit Recht findet er Worte des Dankes und des Lobes; mit Recht gibt die Opposition ihm an dieser Stelle Beifall. Trotzdem, wahrscheinlich weil es in dem Manuskript gestanden hat, sagt er zu uns: „Sie können an dieser Stelle gern klatschen, denn das ist auch Ihre Bundeswehr." Ich fand das einen ganz unerhörten Vorgang, Herr Leber.
Im Grunde haben Sie hier den Eindruck erweckt, als ob diese Leistung der Bundeswehr, so schnell da zu sein, der Erfolg Ihrer und der sozialdemokratischen Verteidigungspolitik gewesen sei.
Herr Leber, ich kann Ihnen aus eigener, familiärer Erfahrung sagen, wie es in der Praxis gelaufen ist. Nachdem unser erster Sohn seinen Wehrdienst abgeleistet hat, ist unser zweiter im Augenblick ausgerechnet in dem Gebiet, wo am meisten zerstört wurde, nämlich in der Nähe der Haseldorfer Marsch,Soldat, und ich weiß, wie es funktioniert hat: daß sie in der selbstverständlichen Überzeugung gekommen sind, daß das ihre Pflicht ist.Sie haben gefragt, was die Frage 14 eigentlich bedeuten soll, und gesagt: Wie wollt ihr denn den Verteidigungswillen wachhalten? Was wollt ihr denn tun? — Seien Sie sicher, Herr Leber: Unsere Kinder wären, wenn sie allein dem Einfluß der linken Lehrer und solcher Leute wie Hansen, Horn, Schlaga und Reiser ausgesetzt gewesen wären, überhaupt erst gar nicht zur Bundeswehr gegangen.
Ihnen brauche ich doch nicht zu sagen, was in den Umfrageergebnissen steht, die Sie selber veranlaßt haben. In jüngsten Umfragen des Verteidigungsministeriums, durchgeführt von „infas", ist zu lesen, daß sich von den jungen Abiturienten 35 °/o für die Ableistung des Wehrdienstes aussprechen, aber 37 % für die Ableistung des Zivildienstes und 16 °/o gegen jeglichen Dienst für die Gemeinschaft.
Meine Damen und Herren, die Frage 14 war so berechtigt wie andere Fragen auch.Ich möchte nun einen anderen Punkt aufgreifen, den der Verteidigungsminister in seiner vorbereiteten Rede hier polemisch vorgetragen hat. Er hat hier den Oppositionssprecher, Manfred Wörner, und die Union in einer üblen Weise verleumdet und das Schlimmste gemacht, was er im Grunde machen kann. Er hat aus den „Leitlinien" der CDU/CSU, die wir gerade der Öffentlichkeit übergeben haben, einen halben Satz herausgenommen und dann, als der Protest kam, als Herr Wörner klarstellen wollte, daß der Minister hier polemisch zitierte, sich geweigert, ihn überhaupt eine Frage stellen zu lassen.
Deswegen, Herr Leber, zwingen Sie mich, Ihnen hier vorzulesen, was wirklich in den „Leitlinien" steht. Sie wissen das natürlich ganz genau und haben trotzdem das Gegenteil hier gesagt.
Der erste Satz unserer „Leitlinien" lautet:Ziel unserer Sicherheitspolitik ist es, denFrieden zu erhalten.Und dann heißt es weiter zu Auftrag und Aufgaben der Bundeswehr:Die Bundeswehr hat den Auftrag des Grundgesetzes, die Bundesrepublik Deutschland militärisch zu schützen.Wir sprechen über die Sicherung des Friedens durch ein System glaubwürdiger Abschreckung, das zu gewährleisten ist. Erst später, auf Seite 4 unter Punkt 23, kommt folgender Satz, den Sie eben nur halb zitiert haben
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Damm— Ich darf ihn ganz vorlesen —:Die Armee ist ihrem Wesen nach für den Kampf geschaffen und dazu bestimmt, jedem Angriff auf unser Land entgegenzutreten und ,dem Angreifer den erhofften Erfolg zu verwehren.
Indem Sie nur den ersten Teil zitiert haben, haben Sie hier den Eindruck erweckt, als ob uns nichts lieber wäre, als daß die Bundeswehr morgen anfangen könnte zu kämpfen. Das ist unerhört, Herr Leber!
Dabei hat die Christlich-Demokratische Union dieses Landes mit diesem Satz, den wir in unsere Leitlinien geschrieben haben und den ich hier zitiert habe, nichts anderes getan — das sollten Sie sich einmal genau anhören und durch Ihre Leute nachprüfen lassen —, als den Satz ,aus dem jüngsten Weißbuch der schweizerischen Regierung über die Aufgaben ihrer Armee zu zitieren, der genauso heißt, wie ich es eben vorgelesen habe.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reiser?
Herr Damm, wollen Sie denn abstreiten, daß Ihr militärpolitischer Sprecher Wörner in einem Interview folgendes gesagt hat:
Zivilberufliche Erfordernisse werden häufig größer geschrieben als Einsatzfähigkeit und Schlagkraft der Truppe. Dies und die vielfach mangelnde Ausrichtung auf .den Ernstfall ist symptomatisch für eine Friedensarmee.
Was soll das denn heißen?
Das gibt mir eine gute Gelegenheit, auf die Frage des Kollegen Reiser zu sagen, daß selbst die eigenen Kollegen im Verteidigungsausschuß nicht verstehen, was Kollege Reiser ab und zu sagt. Ich verstehe überhaupt nicht, was Sie mich hiermit gefragt haben.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wörner?
Herr Kollege Damm, ist Ihnen bekannt, daß der vormalige Verteidigungsminister und heutige Bundeskanzler den Satz ausgesprochen hat, die beste Garantie dafür, daß eine Armee niemals kämpfen müsse, sei die Tatsache, daß sie sehr gut kämpfen könne?
Mir ist bekannt, daß Herr Schmidt immer so gedacht hat. Ich erinnere mich lebhaft daran, daß der jetzige Bundeskanzler für sich die Autorenschaft an einem Satz in Anspruch genommen hat, der in dem ersten Weißbuch dieser Regie-
rung gestanden hat. Da wird nämlich der damalige Bundespräsident Heinemann mit diesen Worten zitiert: Es sei die Aufgabe der Armee, einen Krieg überhaupt zu verhindern zu helfen. Wenn er aber nicht verhindern sei, dann müsse diese Armee eben auch richtig kämpfen können. Das ist immer die vernünftige Auffassung derer gewesen, die Verteidigung überhaupt gewollt haben.
— So ist es richtig.
Meine Damen und Herren, noch schlimmer als die polemische Verdrehung eines Satzes in unseren Leitlinien durch den Verteidigungsminister ist, daß sich Herr Leber nun hier hinstellt und Herrn Wörner vorwirft, er liefere mit einem solchen Satz in den Leitlinien Propagandastoff — doch wohl für die Sowjetunion. Muß ich Sie denn daran erinnern, daß Sie oftmals Propagandastoff für die Sowjets geliefert haben und auch liefern müssen, wenn Sie nicht etwas Falsches sagen wollen? Kann das bei Ihnen ein Argument sein? Wenn Herr Wehner das gesagt hätte, hätte ich mich nicht gewundert. Aber wenn Sie uns vorwerfen, wir lieferten Stoff für die sowjetische Propaganda, finde ich: Das ist Ihrer nicht würdig, Herr Leber.
Ein weiteres Beispiel für die polemische Art, in der sich der Verteidigungsminister mit der Opposition auseinandergesetzt hat! Er hat die Ausführungen des Oppositionssprechers, Wörners, hier so dargestellt, als ob dieser der Meinung wäre, wir müßten mit unserer Bundesmarine der Seebedrohung im Südatlantik entgegentreten. Sie wissen ganz genau, daß Ihnen die Opposition in diesem Parlament Hilfestellung leistet, um der Bundesmarine überhaupt das notwendige Seekriegsmaterial zu geben, damit sie in der Nordsee ihre Aufgabe erfüllen kann. Und Sie wissen doch, daß es in Ihrem Verein die heftigsten Widerstände dagegen gibt, daß Sie die Fregatten kriegen.
Wir haben nicht ein einzigesmal davon geredet, daß wir in den Südatlantik gehen wollen. Dennoch stellen Sie sich hier hin und erwecken den Eindruck, als ob diese Opposition nichts anderes im Sinne hätte als deutsche Truppen über die ganze Welt zu verstreuen und die ganze Welt an deutschem Wesen genesen zu lassen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Carstens ?
Darf ich Sie, Herr Kollege Damm, damit Sie die vorübergehende Unruhe im Hause richtig deuten, davon unterrichten, daß unser Freund Albrecht soeben zum Ministerpräsident in Niedersachsen gewählt worden ist?
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14626 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Herr Professor Carstens, das stärkt meine Hoffnung, daß wir im Herbst dieses Jahres Schluß machen mit der zwiespältigen Politik auch auf diesem Gebiete.
Herr Abgeordneter Damm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Wehner!
Darf ich Sie, sehr verehrter Herr Kollege, fragen, ob Sie das Ablenken auf diese Frage als einen Beitrag zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik ansehen?
Dann geht es Ihnen nicht um Sicherheit und Verteidigung, sondern um innerpolitischen Kampf bis aufs Messer.
Meine Damen und Herren, um auf den Kollegen Wehner zu antworten: Es kann gar keine Frage sein, daß innere politische Stabilität natürlich auch dazugehört, Stabilität in der Sicherheit nach außen zu gewährleisten.
Ich füge hinzu: Durch das Ergebnis von Niedersachsen ist nun mit einer gewissen Zeitverzögerung deutlich geworden, daß das Manöver von Herrn Wehner, Herrn Brandt rechtzeitig vor der Niedersachsenwahl von der politischen Bühne wegzuziehen, sich doch nicht ausgezahlt hat.
Meine Damen und Herren, der Verteidigungsminister hat hier eine vorbereitete Rede gehalten. Dabei ist nur ganz selten der Sachverstand der Hardthöhe durchgeschimmert, und in erster Linie war das natürlich massiv das, was ihm die SPD-Baracke aufgeschrieben hatte.
Man muß wissen, meine Damen und Herren, was die Zuhörer nicht wissen und, da die große Anfrage schon ein Dreivierteljahr zurückliegt, im Grunde auch nicht jeder Abgeordnete mehr in Erinnerung haben kann: daß unsere Fragen sehr sorgfältig und sachlich abgewogen gestellt worden sind.
Das hindert den Minister nicht, hier herzugehen und zu sagen, es handle sich um polemisch gestellte Fragen, um Schwarzmalerei und um „keinen konstruktiven Beitrag".Nun werde ich Ihnen, Herr Leber, an einigen Beispielen — mehr ist ja gar nicht drin — deutlich machen, daß Sie auch hier Unrecht haben.Beispiel Nummer 1. Die Frage 5 unserer Großen Anfrage lautet:Wie haben sicha) die Verteidigungsausgaben insgesamt,b) die Ausgaben für Personal,c) die Ausgaben für Material, Beschaffung und Erhaltung undd) die Ausgaben für Forschung und Entwicklung der Länder der NATO und des Warschauer Pakts seit 1968 nominell und real entwickelt?Eine sachliche Frage. Die Antwort der Bundesregierung darauf ist null. Sie schweigen sich dazu aus. Dabei haben Ihnen Ihre Referenten zu diesem Komplex vorher genügend Material geliefert, aber Sie haben sich gescheut, die Wahrheit hier zu antworten. Denn, meine Damen und Herren, es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß im Zeitraum 1968 bis 1974 die Verteidigungsausgaben des Warschauer Pakts um 54 %, aber die der NATO nur um 24 % gestiegen sind.Herr Leber, Sie haben gesagt, Wörner könne lediglich herumnörgeln und stelle die Bundeswehr als schlecht dar, und dabei habe sich der Wert der Bundeswehr, seitdem Herr Schmidt und Sie sie in der Hand haben, von Jahr zu Jahr gesteigert. Herr Bundesverteidigungsminister, diese Ihre Aussage, die Bundeswehr habe ihre Verteidigungsfähigkeit jedes Jahre real gesteigert, ist leider nicht richtig.
Ich nenne Ihnen dafür zwei Beispiele. Nur zwei; ich könnte viel mehr nennen.Sie wissen, wie jeder, der Mitglied des Verteidigungsausschusses ist: Wir haben z. B. seit Jahren unsere Flugzeuge, die wir durch neue Muster ersetzen mußten, nicht 1 : 1 ersetzen können. So haben wir anstelle von 110 Aufklärungsflugzeugen nur 88 anschaffen können. Diese 88 sind größer — das ist richtig —, sie sind leistungsfähiger. Jedes neue System ist leistungsfähiger als das vorhergehende. Aber wenn eines dieser Flugzeuge abgeschossen wird, ist es genauso weg wie eines von der vorhergehenden Serie. Ihre Fachleute haben Ihnen schon mehr als einmal in Ihre Manuskripte geschrieben, daß Quantität nicht beliebig durch Qualität ersetzt werden kann.Zweites Beispiel. Sie wissen wie wir auch, daß wir unsere Bundeswehr noch immer — und auch noch einige Jahre lang — z. B. mit dem inzwischen sehr alt gewordenen Panzer M 48 in einer Stückzahl von mehr als 1 300 ausstatten müssen. Sie wissen, daß die Panzerwaffe drüben dem M 48 überlegen geworden bzw. gemacht worden ist.Zwei Beispiele dafür, Herr Minister, daß man eben nicht so leichtfertig hergehen und sagen darf: Unsere Bundeswehr ist jedes Jahr sehr viel besser geworden.Ein anderes Beispiel für die Fahrlässigkeit, mit der Sie unsere Große Anfrage kritisiert haben, ist das, was Sie auf das Problem der europäischen Standardisierung antworten. Ihnen kann nicht entgangen sein, Herr Minister, daß der Schwerpunkt
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14627
Dammim politisch-operativen Teil unserer Anfrage die Fragen nach der europäischen Zusammenarbeit im Bündnis betreffen. Die Antworten der Bundesregierung auf diesen Komplex sind leider reichlich summarisch und bleiben im Allgemeinen stecken. Da ist die Rede von der Intensivierung der laufenden Bemühungen, die die Bundesregierung unterstützt habe. Die Bundesregierung bescheinigt sich, daß sie alles in besonderer Weise gefördert habe. Dann kommt der folgende Satz:Diese Art der Zusammenarbeit reicht in der Zukunft jedoch nicht aus.Das ist im Rahmen der Antwort der Bundesregierung der mutigste und präziseste Satz. Aber auch er ist nur die halbe Wahrheit; denn die volle Wahrheit ist: Diese Art von Zusammenarbeit reicht schon jetzt nicht aus.Wie ist denn der gegenwärtige Zustand? Stimmt es denn nicht — wonach wir in unserer Großen Anfrage gefragt haben --, daß wir es innerhalb der Allianz mit jährlichen Verlusten in Milliardenhöhe zu tun haben? Warum scheut sich Ihre Regierung, Herr Minister, das zu bestätigen? Warum sagen Sie nicht, daß das US-Verteidigungsministerium die jährlichen Fehlausgaben im Bündnis auf etwa 15 Milliarden DM geschätzt hat? Warum steht nicht in Ihrer Antwort, daß wir es mit einer wachsenden Destandardisierung zu tun haben? — Sie schütteln den Kopf. Sie sollten einmal die Fachleute in Ihrem eigenen Hause fragen; denn die haben das sogar schriftlich formuliert.Das Bündnis hat es mit einer doppelten Negativwirkung zu tun: Es verschleudert Milliarden, und trotzdem tritt eine erhebliche Kampfkrafteinbuße ein. So kommt es trotz hoher und — ich füge hinzu — drückender Rüstungsaufwendungen im Bündnis zu einer zunehmenden Verschlechterung des Kräftegleichgewichts. Und drüben auf der anderen Seite ist die gegenteilige Entwicklung festzustellen. Dieser Zustand ist erschreckend. Ich hatte immer gedacht, er würde den Verteidigungsminister alarmieren und der Verteidigungsminister hätte diese Gelegenheit der Antwort auf unsere Große Anfrage genutzt, das nun auch wirklich so offen darzustellen, wie es dargestellt werden müßte.Ich bin allerdings auch der Meinung: Dieser Zustand der Destandardisierung im Bündnis muß auch die Parlamente, muß vor allen Dingen dieses Parlament so alarmieren, damit wir uns vielmehr als bisher um diese Aufgabe kümmern.Meine Damen und Herren, ich weiß natürlich, daß es in jüngster Zeit auf diesem Sektor einige Aktivitäten innerhalb der NATO und der Eurogroup gegeben hat. Drei Punkte sind interessant und müssen hier erwähnt werden.Erstens. Es soll, so haben die Minister grundsätzlich beschlossen, ein europäisches Sekretariat für Rüstungsbeschaffungsfragen eingerichtet werden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es ist eben erst ein Grundsatzbeschluß.Zweitens. Es soll eine gleichmäßigere Verteilung zwischen Rüstungsbeschaffungen in Europa und inNordamerika stattfinden. Das ist ebenfalls eine richtige Zielsetzung, und nachdem in Amerika von der „Zwei-Bahn-Straße", von der „Two-Way-Street" die Rede ist, kann man sogar hoffen, daß hier gewisse Erfolge zu erzielen sein werden.Drittens haben die Minister vereinbart, einen Adhoc-Ausschuß zu bilden, der es — was richtig ist — den Franzosen ermöglichen soll, hier mitzuwirken.Aber warum sagen Sie das alles hier nicht? Sie konnten es vielleicht nicht in Ihre Antwort hineinschreiben, weil die schon am 29. September veröffentlicht worden ist. Aber warum haben Sie die Gelegenheit nicht benutzt, das hier auszuführen? Denn danach hatten wir gefragt. Statt dessen haben Sie von vorne bis hinten polemisiert.
Meine Damen und Herren, in der Rüstungszusammenarbeit muß es uns doch darum gehen, daß wir endlich aus einer Milliarde Mark die Verteidigungsfähigkeit herausholen, die auch wirklich gleich einer Milliarde Mark ist. Denn die Sowjets sind der NATO heute bedrohlich überlegen. Wenn Sie mir das nicht glauben, fragen Sie Herrn Ahlers, der sich darüber jüngst ausführlich ausgelassen hat.Nehmen wir Mitteleuropa: Hier müssen die Verbände der Verbündeten so eng miteinander operieren, daß es z. B. ohne rasche und sichere Verständigung nicht gesichert ist, daß die militärischen Aktionen erfolgreich sein können. Und das gleiche gilt z. B. für die fehlerfreie Unterscheidung zwischen eigenen und feindlichen Flugzeugen in der Luftabwehr. Können Sie, Herr Minister, bestreiten, daß es auf beiden Gebieten ganz gefährliche Mängel gibt? Sie können es nicht. Und die blühendste Phantasie reicht doch nicht aus, sich das Durcheinander im Ernstfall vorzustellen, das dadurch eintritt, daß der Nachschub der nationalen Verbände national betrieben werden muß.Worum es ferner geht, meine Damen und Herren, ist, die Leistungssteigerung unserer Streitkräfte dadurch sicherzustellen, daß wir eine technologisch breit gefächerte Rüstungsindustrie erhalten und für die Entwicklung einer gesunden europäischen Rüstungsindustrie Sorge tragen. Meine Damen und Herren, ohne eine leistungsfähige europäische Rüstungsindustrie ist z. B. eine europäisch-amerikanische Zwei-Bahn-Straße gar nicht möglich.
Ich will jetzt sieben Schritte nennen, die nach unserer Auffassung für Fortschritte in der europäischen Standardisierung notwendig sind.Erstens. Wichtige vorhandene Waffen und Geräte, die noch über einen längeren Zeitraum im Dienst gehalten werden müssen, sollten daraufhin untersucht werden, ob durch vertretbare Änderungen die Fähigkeit, wirkungsvoll zusammenzuarbeiten, oder wenigstens die Arbeitsfähigkeit der verschiedenen Systeme, ohne daß diese sich gegenseitig behindern, hergestellt werden kann. Ich nenne ein Beispiel für den mit diesem komplizierten Satz — ich kann nichts dafür, daß das kompliziert ist — beschriebenen Tatbestand: Das System der Luftwaffen, zu erkennen,
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14628 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Dammob es sich um ein feindliches oder um ein eigenes Flugzeug handelt, ist — ich habe das vorhin schon erwähnt —, wie Sie wissen, unter den europäischen NATO-Partnern leider nicht völlig übereinstimmend. Mit anderen Worten, es kann dazu führen, daß Flugzeuge einer bestimmten Nation möglicherweise von eigenen Luftabwehrraketen abgeschossen werden, weil das System unzureichend ist. Hier muß schnell ein besserer Zustand herbeigeführt werden.Zweitens. Laufende Rüstungsprogramme müssen daraufhin überprüft werden, ob nicht doch noch Gemeinsamkeiten gefunden werden können. Wir freuen uns darüber, daß das Flugabwehrsystem „Roland" von amerikanischen, französischen, deutschen und später wahrscheinlich auch norwegischen Verbänden eingesetzt werden wird und daß dabei wenigstens die Rakete austauschbar sein wird. Das ist sicher gut. Aber wir wissen, daß zur selben Zeit holländische, englische und wahrscheinlich auch noch andere Verbände mit dem Rapier-System ausgestattet werden, und wir wissen, daß diese Raketen untereinander leider nicht austauschbar sind. Das ist sehr schlimm.Drittens. Laufende parallele Entwicklungsprojekte müssen daraufhin untersucht werden, ob es nicht doch noch möglich ist, sie zu koordinieren, oder ob es nicht sinnvoller wäre, das eine oder das andere einzustellen oder weitere gar nicht erst zu beginnen. Die englische Entwicklung einer Anti-Raketen-Rakete für Schiffe sollte uns veranlassen, ernsthaft darüber nachzudenken, daß wir sie ebenfalls nehmen und auch die Amerikaner bewegen sollten, sie zu nehmen, anstatt daß wir, was im Augenblick geschieht, das Umgekehrte tun, nämlich die Amerikaner animieren, ihrerseits eine solche Entwicklung zu betreiben.Viertens. Vor der Entscheidung stehende Beschaffungen sollten mit dem Grundsatz Ernst machen, lieber das zweitbeste Waffensystem zu nutzen und dadurch eine NATO-Waffe zu bekommen. Ich deute nur an, was ich meine. Es besteht die Gefahr, daß wir künftig bei den modernen Panzern drei verschiedene Kanonenkaliber haben werden. Das wäre eine schreckliche Entwicklung. Sie würde weit von dem wegführen, was wir heute auf diesem Gebiet haben.Fünftens. Künftige Entwicklungen müssen endlich auf militärischen Forderungen der NATO basieren. Darum ist es dringend erforderlich, daß sich auch unsere Regierung bemüht, die NATO zu einer Autorität zu machen, die entsprechende militärische Forderungen an alle richten kann.Sechstens. Die amerikanisch-europäische „Zweibahnstraße" wird nach meiner Meinung am besten gesichert, wenn von vornherein die Waffenentwicklung über den Atlantik hinweg gemeinsam betrieben wird. Wenn sich nämlich auch künftig in einem Wettbewerb ein europäisches und ein amerikanisches Waffensystem gegenüberstehen, ist wieder Prestige im Spiel.Siebentens. Es stehen in Kürze amerikanische und europäische Großprojekte zur Entscheidung an. Die Europäer interessieren sich, wie die Minister be-schlossen haben, für ein amerikanisches luftgestütztes Frühwarn- und Kontrollsystem, das Airborne Warning and Control! System, ein Milliarden-Projekt. Die Amerikaner und die Deutschen planen je einen Panzer für die 80er Jahre, ebenfalls ein Milliarden-Projekt. Hier bietet sich eine echte Chance für eine amerikanisch- europäische „Zweibahnstraße". Oder anders ausgedrückt: Wenn wir in Europa dieses AWACS, dieses Luftwarn- und Kontrollsystem, das Milliarden kostet, anschaffen sollen, dann ist nach meiner Meinung nichts anderes möglich, als daß die Amerikaner ihren Panzer in Europa kaufen.Meine Damen und Herren, ich komme zu einem anderen Bereich, bei dem der Minister vorhin gesagt hat, ohne den Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion, Herrn Wehner, wäre die Verteidigungspolitik, die diese Regierung treibe, gar nicht möglich. Ich hatte den Eindruck, daß jemand, der schon mehrfach von diesem Mann, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, verbal geprügelt worden ist, jetzt hinterher auch noch seinem Zuchtmeister die Hände küßt. Denn ich kann überhaupt nicht verstehen, Herr Bundesverteidigungsminister, wie Sie diese Aussage in den Mittelpunkt Ihrer Rede stellen konnten.Herr Wehner hat — so haben übereinstimmend zahlreiche Journalisten aus Warschau berichtet — „mehr als einmal mit Nachdruck an mehrfache ,ernstgemeinte Vorschläge der Volksrepublik Polen, aus Europa eine Zone der Entspannung zu machen', erinnert, die" — so heißt es z. B. im Bericht der „FAZ" aus Warschau vom 10. Januar — „in der Bundesrepublik hochmütig überhört oder durch Unterstellungen unbrauchbar gemacht worden seien. Damit war" — so schreibt Erik Bader aus Warschau — „wohl in erster Linie der Rapacki-Plan einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa gemeint."
: Cui
bono?)Um zunächst die Wehnersche Behauptung aufzugreifen, diese polnischen Vorschläge seien „durch Unterstellungen unbrauchbar gemacht worden" : Meine Damen und Herren, für das Thema „RapackiPlan" gibt es einen Zeugen, der selbst von Ihnen, Herr Wehner, wie ich denke, nicht öffentlich bezichtigt werden wird, er habe diesen Plänen etwas unterstellt, um sie unbrauchbar zu machen. Ich meine Ihren Vorgänger in Ihrem Amt, den jetzigen Bundeskanzler. Helmut Schmidt stellt in seinem Buch „Strategie des Gleichgewichts" folgendes fest:Die alten polnischen Vorschläge enthielten drei Prinzipien, die verdienen, festgehalten zu werden:1. sie forderten keinen amerikanischen Abzug aus Deutschland;2. sie verlangten keine Neutralisierung der betroffenen Teilnehmer, sondern unterstellten die Fortdauer ihrer Bündnisbindungen und der Beistandsgarantien durch die USA und die Sowjetunion;
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Damm3. sie betrachteten die Territorien Polens, der CSSR und der DDR nur in ihrer Gesamtheit als Äquivalent für das Territorium der Bundesrepublik.Auf der anderen Seite enthielten die polnischen Vorschläge jedoch auch erhebliche Mängel: Sie beschränkten sich im wesentlichen auf nukleare Waffen, schenkten den konventionellen Streitkräften keine ausreichende Aufmerksamkeit und schlossen damit eine Gefährdung des Gesamtgleichgewichts in Mitteleuropa keineswegs aus.
Da die polnischen Vorschläge auf westlicher Seite nur die Bundesrepublik betrafen, tendierten sie zu einem besonderen Status für die Bundesrepublik, der ihr unter ihren europäischen Bündnispartnern eine isolierte Stellung geben mußte und wohl auch sollte.
Diese Argumente Helmut Schmidts beschreiben deutlich, warum die Vorschläge des polnischen Außenministers Rapacki für den Westen und insbesondere für uns nicht akzeptabel waren, ganz zu schweigen von den harten Zeiten damals, dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows und dem Bau der Mauer 1961.Das alles wußte und weiß natürlich Herbert Wehner. Trotzdem hat er „mehr als einmal", wie die Zeitungen berichten, gegenüber seinen polnischen Gesprächspartnern an diese für uns gefährlichen Ideen erinnert.
— Das ist die Frage, auf die im Grunde nur er allein eine Antwort geben kann.Inzwischen will Herr Wehner uns nun glauben machen, er habe seine Erwähnungen der polnischen Entspannungspläne nur historisch gemeint, eigentlich mehr als freundliche Geste gegenüber seinen Gastgebern.
Aber der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende hält in seinem heutigen „Vorwärts"-Interview noch eine weitere Erklärung bereit: Er habe sich „erlaubt, die Rede zu zitieren, die Willy Brandt . . . am 3. September 1968 in Genf auf der Konferenz der nichtnuklearen Länder gehalten hat, in der er" — er meint Brandt — „diese polnischen Vorschläge eingehend würdigte". Meine Damen und Herren, das klingt nachdenkenswert. Wenn man aber die Brandt-Rede vom 3. September 1968 nachliest, stellt man fest, daß von einer eingehenden Würdigung der polnischen Vorschläge, Herr Wehner, beim besten Willen nicht gesprochen werden kann.
Ich zitiere Brandt wörtlich nach dem Bulletin vom 4. September 1968. Dort hat er gesagt:Wir befürworten daher weiterhin einen ausgewogenen, gegenseitigen Abbau der Truppenkontingente, mit dem auch eine angemessene Regelung des Problems der in dieser Region stationierten Kernwaffen verbunden werden könnte.Und nun folgt der einzige Satz, wo Brandt etwas über die polnischen Vorschläge sagt, und der lautet:Dabei gibt es übrigens einige Berührungspunkte mit den bekannten polnischen Vorschlägen.
Meine Damen und Herren, das ist alles. Wehner spricht von einer eingehenden Würdigung Brandts, und dann kommt dieser eine Satz. Ich lasse unerörtert, ob diese Erwähnung der „bekannten polnischen Vorschläge" in einem einzigen Satz, der fast ein Nebensatz geworden wäre, meine Damen und Herren, nicht unter Wehners Verdikt des „hochmütig überhört" fällt.
Es bleiben Wehners Berufungen im „Vorwärts" auf den polnischen ZK-Sekretär Frelek, der vor der Gefahr gewarnt habe, „durch eine militärische Aufrüstung erstickt zu werden". Damit kann doch der ZK-Sekretär nur die sowjetische Aufrüstung der letzten Jahre gemeint haben, von der Conrad Ahlers z. B. in der „Welt" schreibt, „daß sich seit 1969" — wobei man sich in Erinnerung rufen sollte: das ist der Beginn der neuen Ostpolitik und der eigentlichen Entspannungspolitik — „die Zahl der Panzer in den in der DDR stationierten Divisionen der Roten Armee um rund 25 Prozent auf 7 700 und ihre Personalstärke um 65 000 Mann erhöht hat".Herr Wehner, ich gehe doch sicher recht in der Annahme, daß Sie die irrsinnigen Steigerungsraten der sowjetischen Rüstung ihren Gesprächspartnern von der polnischen Regierungspartei in dem Zusammenhang des Ersticktwerdens durch Rüstung dargestellt haben.
Vielleicht haben Sie sich, Herr Wehner, dabei eines eindrucksvollen Satzes des letzten Friedensnobelpreisträgers, Andrej Sacharow, erinnert. Er hat wörtlich folgendes geschrieben:Es steht einwandfrei fest, daß der Militäretat unsere— die sowjetische —Wirtschaft außerordentlich belastet und daß es im Interesse der Mehrheit unseres Volkes läge, Millionen von Rubeln friedlichen Zwecken zukommen zu lassen. Man darf auch nicht übersehen, daß dank der anhaltenden Übermilitarisierung in der UdSSR der Rüstungsapparat in der ganzen Welt dauernd anwächst.
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14630 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
DammWenn Herr Wehner mit der polnischen Regierungspartei wirklich über diese Probleme gesprochen hätte, wenn er die Gelegenheit genutzt hätte, das, was Herr Sacharow sagt, wirklich zu zitieren, wären die Männer drüben, die Leute von der Regierungspartei — Herr Wehner, Sie reden so, als ob es in Polen noch andere Parteien gäbe, vielleicht sogar eine Opposition —
vielleicht auf die Idee gekommen, daß es durchaus berechtigt ist, wenn wir angesichts dessen, was im Osten geschieht, Sorge haben.
Nun steht im „Vorwärts" weiter, daß Herr Wehner auf die Frage des Interviewers „Worum geht es also?" geantwortet habe: „Bestimmt nicht darum, sogenannte atomwaffenfreie Zonen oder ähnliches zu bilden."Herr Wehner, ich lese Ihr Dementi, aber ich glaube Ihnen nicht.
Als Sie vor mehr als zwei Jahren von Moskau und Leningrad aus den damaligen Kanzler Brandt nicht nur beschimpften, sondern auch kritisiert und getadelt haben, er wolle auf das Berlin-Abkommen zu viel „draufsatteln", haben Sie hinterher die Journalisten beschimpft, die dies berichtet hatten, und außerdem dementiert. Ich glaube Ihnen deshalb Ihr Dementi nicht. Ich glaube Ihnen vielmehr Ihre Sympathie für den Rapacki-Plan. Herr Wehner, Sie und ich — um hier nur von mir zu sprechen —, wir unterscheiden uns sicher in sehr vielem, aber in einem unterscheiden wir uns ganz fundamental, nämlich in der Bewertung der kommunistischen Ziele und Methoden, kurzum, in der Beurteilung der kommunistischen Gefahr. Ihre Politik läßt den Schluß zu, daß Sie kaum ernste Gefahren aus Moskau sehen.Nur so ist es zu erklären, daß Sie dem deutschen Verteidigungsminister, der Sie jetzt so lobt, binnen 14 Tagen widersprachen, als Leber Ende 1973 in einer Rede davor gewarnt hatte, daß wir die gewaltige Lücke, die die Sowjets mit ihrer Aufrüstung in ihr Sozialprodukt reißen, mit unseren Krediten stopfen. Seine Warnung ist ungehört verhallt. Sie haben sich durchgesetzt. Ihre Antwort erfolgte übrigens witzigerweise in einer sowjetischen Zeitschrift.
Meine Damen und Herren, seit Jahren geschieht, was Lenin 1920 oder 1921 — genau ist das nicht mehr festzustellen — sagte.
— Ich kann Ihnen nur zustimmen: die Geschlossenheit der Sozialdemokratie in der Abwehr der kommunistischen Gefahr. Ich will jetzt darauf zurückkommen. Seit Jahren geschieht, was Lenin 1920 oder 1921 in einem Memorandum, das er nach aller Wahrscheinlichkeit Tschitscherin, dem damaligen Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, diktierte — ich zitiere wörtlich; dies ist nur ein Ausschnitt aus Lenins Memorandum :Die Wahrheit zu sagen, ist ein kleinbürgerliches Vorurteil. Eine Lüge hingegen wird nicht selten durch den Erfolg gerechtfertigt. Die Kapitalisten der ganzen Welt und ihre Regierungen werden ihre Augen vor den Aktivitäten auf unserer Seite ... verschließen und sie werden so nicht allein taubstumm, sondern auch blind werden. Sie werden uns Kredite eröffnen, die uns helfen werden, die kommunistischen Parteien in ihren Ländern zu unterstützen. Sie werden uns mit Waren und Technologie, die uns fehlen, versorgen und unsere Rüstungsindustrie wieder aufbauen, die wir— hören Sie gut zu, Herr Wehner; ich meine, Sie müßten dies eigentlich kennen —für unsere künftigen siegreichen Angriffe auf unsere Versorger benötigen. Mit anderen Worten: Sie werden hart arbeiten, um ihren eigenen Selbstmord vorzubereiten.
Meine Damen und Herren, kann wirklich jemand bestreiten, daß der Westen seit Jahren dabei ist, diese Prophezeiung von Lenin zu erfüllen? Können wir wirklich bestreiten, daß die Bundesrepublik Deutschland einen großen Anteil an der Erfüllung dieser Prophezeiung Lenins hat? — Leider nicht.
Die letzte Frage, um die es wirklich ,geht, lautet: Was wollen die kommunistischen Führer wirklich? Was bezwecken sie mit ihrer irrsinnigen Aufrüstung? Ich könnte darauf eine eigene Antwort geben, Herr Wehner, aber Sie glauben mir ja schon aus Prinzip nicht. Dieser Verteidigungsminister, der Sie jetzt so lobt,
der sich jetzt hier hinstellt, daß man den Eindruck gewinnen muß, er küßt seinem Zuchtmeister jetzt die Hände,
hat am 5. April vergangenen Jahres auf die Frage „Was wollen die Kommunisten wirklich? wörtlich gesagt:Wenn es ohne Risiko möglich ist und für opportun gehalten wird, wird nicht gezögert und wird auch künftig nicht gezögert werden, der Ausbreitung der Ideologie auch mit Schwert und Feuer den Weg zu bereiten.Gemeint war damit die kommunistische Ideologie.
Leber fügte hinzu:Das erleben wir heute in Vietnam und in Kambodscha, und wir werden es vermutlich schon bald anderswo in der Welt erleben, wenn Vietnam und Kambodscha zu Ende sind.
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DammWenige Monate später hat ihn der „Spiegel" nach dieser seiner Äußerung gefragt. Er hat geantwortet „Schauen Sie sich doch Angola an!". — Sie hatten völlig recht, Herr Leber.
Ich habe hier schon einmal diesen Satz zitiert und die damals daran geknüpften, im „Stern" vermerkten sehr bissigen Bemerkungen Ihres Fraktionsvorsitzenden in einer Fraktionssitzung. Er sagte zu Ihnen beispielsweise „Du bist wie ein Luther in Bronze". Das hat damals in der Sitzung vom 15. Mai Herr Wehner nicht auf seinem Sitz gelassen. Er ist hierhergekommen und hat die ganze Rede, die er damals auf — oder soll ich besser sagen: gegen? — den Genossen Leber in der SPD-Fraktion gehalten hat, hier von A bis Z vorgelesen. Nun kann es ja wohl, Herr Wehner, keine Mißverständnisse mehr geben. Ich zitiere aus Ihrer eigenen Rede:Es tut mir eben leid, daß du der Versuchung nicht entgangen bist, das dann zu einer verallgemeinernden Belehrung dann all dessen, was man so gerne verallgemeinernd „Kommunismus" nennt, zu bringen. Da liegt die schwache Stelle. Aber wir brauchen nicht zu streiten über „Kommunismus".
Im Protokoll des Deutschen Bundestages setzt Herr Wehner das Wort „Kommunismus", das ja in dieser kurzen Passage zweimal vorkommt, in Anführungsstriche. Nimmt man dieses Wort ohne Anführungsstriche, wie Leber es tut, wenn er es darf, muß man eben damit rechnen, meine Damen und Herren — das läßt sich doch tausendfach belegen —, daß Moskau, wenn es ohne Risiko möglich ist und für opportun gehalten wird, seine Ideologie — das heißt doch: seine Herrschaft — auch mit Schwert und Feuer, d. h. nichts anderes als: mit Krieg, verbreiten wird. Darum geht es.Dieses Risiko für die Sowjetunion aufrechtzuerhalten, daß sie mit uns eben nicht machen kann, was sie nach Ihrer Meinung in Vietnam, in Kambodscha und jetzt in Angola macht oder gemacht hat, ist das Ziel dieser unserer — ich hoffe noch immer: gemeinsamen — Verteidigungspolitik. Wir werden dieses Ziel nicht erreichen, wenn Sie in der polemischen Art wie heute morgen das, was doch als Unterstützung für Ihre Politik gedacht war und ist, hier heruntermachen,
sondern nur dann, wenn wir — was ja doch ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der Zeit ist, als Sie die Opposition in diesem Hause gestellt haben — diese Politik wirklich gemeinsam tragen und wenn es uns gelingt Herr Leber, ich hoffe, wir beide stimmen darin, wenn Sie es auch nicht zugeben können, überein , Kräfte, wie ich sie eben zitiert habe und wie sie sich in Herrn Wehner personifizieren, möglichst bald von der eigentlichen Macht wegzubringen.
Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, muß ich noch einmal auf den ersten Teil der Rede des Abgeordneten Damm zurückkommen. Mir liegt inzwischen ein Teil der stenographischen Niederschrift vor; da heißt es wie folgt:
Erst später, auf Seite 4 unter Punkt 23, kommt folgender Satz, den Sie eben nur halb zitiert haben
Wegen dieses Ausdrucks, Herr Abgeordneter Wörner, rufe ich Sie zur Ordnung.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sollen hier einige Klarstellungen zu dem erfolgen, was wir seit unserer Rückkehr aus Warschau erlebt haben. Es ist notwendig, daß vor dem Forum des Deutschen Bundestages klargestellt wird, was der Fraktionsvorsitzende der SPD in Warschau erklärt hat. Vor allem auch deshalb, weil es natürlich im Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu Polen auch eine wichtige Frage ist, ob Europa eine Zone der Spannung, des Konflikts oder, wie 35 Staaten in Helsinki es unterzeichnet haben, eine Zone der Entspannung werden soll.
Der Fraktionsvorsitzende der SPD ist in Warschau gefragt worden: „Welchen Rang geben Sie den polnisch-deutschen Beziehungen?" Er hat geantwortet: „Einen hohen Rang, weil es deutsche Panzer waren, die am 1. September über die Grenze rollten."
Es gab damals eine Strategie für eine Armee,
von der Herr Seeckt — ich kann es nicht wörtlich zitieren, aber dem Sinn nach ist es korrekt — sagte, daß der höchste Sinn einer Armee der Krieg ist. Deswegen hat sich Georg Leber heute gegen das Wort „Kampf" gewehrt. Da gibt es ja auch einen Zusammenhang.
Das zweite ist, daß Herbert Wehner sagte: „Was wir wollen, ist, in der Aussöhnung mit Polen Erbfeindschaft zu überwinden."
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FriedrichDas dritte ist: er hat das Wort „Rapacki-Plan" nicht in den Mund genommen.
Ich weiß, daß Sie dies immer und immer wiederholen werden, weil es ja nicht in Ihr Modell paßt. Sie orientieren sich in Ihrer internationalen Politik ja nicht an der Wirklichkeit, sondern an dem, was Sie aus innenpolitischen Gründen einfach notwendig haben. Das ist doch die Problematik der Diskussion hier.
Ich möchte klar aussprechen, warum wir von antipolnischem Chauvinismus sprechen müssen; denn wer in Polen erlebt hat — und ich war mehrmals in Auschwitz, ich kenne die vielen Steintafeln, da 100 erschossen, da 300 — —
[CDU/CSU] : Die
kennen wir auch!)— Herr Mertes, wir ziehen nur unterschiedliche Konsequenzen aus dieser Sicht.Wir wollen dieAussöhnung mit diesem Volk, weil dies für den Frieden in Europa notwendig ist, und da halten wir es für unerträglich, daß die rechte Hand des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Herr Reddemann, das, was wir nun versuchen, nämlich daß 125 000 Deutsche ausreisen, mit dem Lastwagengeschäft Himmlers vergleicht, d. h. mit Menschen, die in Polen, in Auschwitz vergast werden sollten. Man kann auch nicht den ersten Mann des polnischen Staates mit Hitler vergleichen. Wir haben dazu Stellung zu nehmen. Die Sozialdemokratische Fraktion ist nicht bereit, im Ausland die Unfähigkeit der Union zur Aussöhnung abzudecken. Davon werden Sie künftig ausgehen müssen.
Wir haben ja in dieser Woche eine Delegation aus der Sowjetunion hier. Nach dem, was wir im Auswärtigen Ausschuß erlebt und was Sie ja auch in einer Presseerklärung öffentlich bekanntgegeben haben, kann ich es hier ruhig sagen: Die Union sollte doch einmal erklären, ob sie künftig nicht mehr mit Politikern sprechen will, die Kommunisten sind; denn nach unserer Rückkehr spricht sie von unseren Gesprächspartnern nur noch als von Kommunisten. Herr Kollege Marx, Sie sollen es gewesen sein, der gerade für die Union den Vorsitz in einer polnisch-deutschen Parlamentariergruppe angestrebt hat. Hier ist doch ein großer Unterschied. Das, was Sie tun, ist doppelzüngig und unglaubwürdig in der tiefsten Substanz.
Hier muß ich meinem Vorredner noch sagen, daß er es sich sehr leicht macht. Sie sollten sich doch ein wenig, wenn Sie vom Bündnis sprechen, daran orientieren, was in der Weltpolitik die Wirklichkeit ist. Ich habe den Text eines Interviews des französischen Außenministers Sauvagnargues vom 7. Dezember 1975 vorliegen. Da wird nach den Prioritäten der französischen Politik gefragt. Er sagt: „Diese Prioritäten haben Sie gerade erwähnt, indem Sie die letzten internationalen Bemühungen zitiert haben." Sauvagnargues meint weiter, die französischen Prioritäten seien immer als erstes die Entspannungspolitik, also Frieden in Europa und in der Welt, gewesen, und dann käme die Europakonstruktion.Wir Deutsche sollten uns als erste dagegen wehren, in der Welt den Eindruck zu erwecken, als ob wir die Rüstungsspirale andrehen wollten. Dies stünde uns nicht zu. Es ist nicht gut, wenn Tageszeitungen in Hauptüberschriften es so darstellen, als ob wir es wären, und wenn sie darstellen, daß CDU-Papiere dies fordern; denn Ihr Papier ist ja doch so etwas wie Ihr Regierungsprogramm. Wer nach der Realität in der Welt fragt und das mit dem vergleicht, was Herr Wörner gesagt hat, wird Unterschiede feststellen. Auch der amerikanische Außenminister Kissinger reist in diesen Tagen nicht nach Moskau, um die Programme der CDU zu verwirklichen, sondern um bei allen Schwierigkeiten, die in der Welt bestehen, einen Beitrag zu suchen, damit eben weniger gerüstet werden muß.
Herr Wörner — das habe ich mir aufgeschrieben — sagte am Anfang, die Sowjetunion sei nach zehn Jahren Entspannung ihrem Ziel näher als nach zwanzig Jahre kaltem Krieg. Ich will gar nicht die Frage aufwerfen, ob Sie Sehnsucht nach dem kalten Krieg haben. Aber wo ist denn Europa gefährdet? Doch nicht dort, wo die Bundeswehr den Abschnitt in der NATO verteidigt, sondern dort, wo Ihre Parteifreunde seit 30 Jahren in Europa regieren. In Italien haben wir in der NATO die größten Sorgen. Es sind die wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Hier haben wir über Europa, Herr Wörner, unseren entscheidenden Beitrag zu leisten.
Nur wenn Europa wirtschaftlich und sozial stabil ist, werden wir unserer Aufgabe gerecht.
Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Damm?
Herr Damm, die Art und Weise, wie Sie zum Schluß argumentiert haben — das möchte ich Ihnen sagen —, ist in keiner Weise angebracht. Einen Mann, der von Anfang an in diesem Parlament dabei war, den Sie in der Großen Koalition als Minister akzeptiert haben, mit einem Lenin-Zitat zu identifizieren, indem Sie es hier persönlich
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Friedrichgesprochen haben, war diffamierend — nicht für diesen Mann,
sondern dies war disqualifizierend für Sie als Parlamentarier.
Mir ist es unmöglich — ich nehme ansonsten von jedem eine Frage an —, heute von Ihnen eine Frage anzunehmen.Im übrigen muß ich Ihnen sagen: Sie haben gedacht, Sie könnten heute einen ganz großen Auftritt haben,
indem Sie in Frage stellen, was diese sozialliberale Koalition seit 1969 erreicht hat.
Es war Willy Brandt, der damals am 3. September 1968, 14 Tage nach dem Einmarsch in Prag, als Außenminister der Großen Koalition — er hat also mit Zustimmung Ihres Kanzlers auch für Sie gesprochen — in seiner Rede in Genf sagte, daß wir dennoch eine Situation anstreben müßten, in der man über die Reduzierung der Kernwaffen in Europa spreche. Lesen Sie einmal nach, was Ihr Außenminister 1968 gesagt hat. Hier wird doch deutlich, wie weit Sie zurückgefallen sind und wie weit sich die Realität der Welt von der Union heute entfernt hat.
Während Willy Brandt dann 1971 in den USA einmal sagte: So wie die Veränderungen in der Welt sind, geht es eigentlich nur um die Stabilisierung des Friedens für den Augenblick, darf ich hier jetzt darauf verweisen, daß wir im Sommer des vergangenen Jahres in Helsinki mehr erreicht haben.
— Sie, Herr Marx, waren gestern dabei, als der Vertreter des Roten Kreuzes im Auswärtigen Ausschuß sagte, was seit Helsinki besser geworden ist, nämlich ein Stück Menschlichkeit ist mehr erreicht worden.
Das kleinste Stück Menschlichkeit rechtfertigt diese Anstrengungen. Sie werden uns daran nicht hindern. Ich bin sicher: International glaubwürdig werden Sie erst,
wenn Sie einmal die Stunde durchstehen, in der Sie einsehen, daß ein Land in unserer geographischen Lage
nicht gegen das angehen kann, was die Welt will, daß wir uns nicht gegen unsere Verbündeten, sondern mit unseren Verbündeten bemühen müssen, den Frieden in Europa sicherer zu machen. Dem dient auch eine Debatte über die Fragen der Sicherheit und der Verteidigung.
Wir fahren in der Aussprache fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Krall.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Eingangsintervention des Kollegen Damm mit ihren polemischen Angriffen gegen den Verteidigungsminister Leber hat erneut deutlich gemacht, daß es der Opposition nicht darum geht, hier und heute sachlich über Sicherheitspolitik zu diskutieren, sondern daß es darum geht, Herrn Wörner als Ministerkandidaten hoffähig zu machen.
Ich bedaure für meine Fraktion, daß Sie so hartnäckig auf der heutigen Debatte bestanden haben, obwohl Sie genau wissen, daß die Bundesregierung Anfang nächster Woche das neue Weißbuch 1975/76 veröffentlichen wird. Ich darf voraussetzen, daß darin alle Ihre Fragen noch ausführlicher angesprochen werden. Ich wiederhole daher, auch wenn es Ihnen nicht paßt, meine Damen und Herren: Es geht Ihnen nicht um Sachfragen, es geht um Personalpolitik, es geht um den Kandidaten Dr. Wörner. Den will Herr Kohl heute mit möglichst viel Effekt herausstellen und in seiner Führungsmannschaft etablieren. Ich muß schon sagen: Es ist ein starkes Stück, den Deutschen Bundestag für die Profilbemühungen des Kandidaten Wörner einzusetzen, bloß damit Herr Strauß nachher nichts mehr daran drehen kann.
Nun ein Wort zu Ihren „Leitlinien", meine Damen und Herren. Sie haben hier schon .einiges zur Diskussion beigetragen und sind so dekorativ um diese „Personalpolitik" herumgewunden worden. Was Sie da produziert haben, ist ein Kompendium größtenteils unumstrittener Selbstverständlichkeiten. Das gebe ich gern zu. Wo es allerdings interessant werden könnte, flüchten Sie sich in Allgemeinplätze.Das gilt etwa für die aktuelle schwierige Frage der Wehrstruktur. Was Sie da anzubieten haben, ist mehr als dünn, auch wenn Sie Ihr Papier bescheiden als „Grundsatzprogramm" und nicht als „Aktionsprogramm" bezeichnen; das ist doch letzten Endes Wortklauberei. Wir hätten dem Major der Reserve Wörner etwas mehr zugetraut als die Ver-14634 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. .Januar 1976Krallsicherung — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —:Wir treten für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Bundeswehr ein und werden unsere Anstrengungen darauf richten, den soldatischen Leistungsstand in allen Bereichen zu verbessern.
Wie schön, kann ich nur sagen. Bloß, was darunter zu verstehen ist und wie Sie das machen wollen, darüber schweigen Sie sich wie üblich aus.
— Ich habe alles gelesen, Herr Dr. Wörner.
Ich kann darauf verzichten, auf die einzelnen Punkte der Anfrage einzugehen. Lassen Sie mich zur Großen Anfrage der Opposition grundsätzlich folgendes feststellen.Erstens.
Die Auffassung der Bundesregierung, die auch der der Freien Demokratischen Partei entspricht, hat Bundesaußenminister Genscher bei den NATO-Tagungen im Dezember 1975 klargemacht, und er hat sie zu Beginn dieses Jahres mehrfach wiederholt, daß die Entspannungspolitik und der Abschluß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa keineswegs dazu führen darf und wird, die wachsende Militärmacht der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zu unterschätzen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf Ihre Anfrage ein nüchternes Bild der Lage gegeben. Sie hat weder Schönfärberei betrieben noch schwarzgemalt, wie Sie, Herr Dr. Wörner, und Sie, Herr Kollege Damm, das heute hier versucht haben.Zweitens. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland kann nach Auffassung der Freien Demokraten durch die Fortsetzung einer Entspannungspolitik ohne Illusionen bei gleichzeitiger fester Verankerung im NATO-Bündnis am besten gewährleistet werden.Drittens. Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit ungeschmälert aufrechterhalten. Das bedeutet in der heutigen Situation, daß die Finanzmittel für Verteidigungszwecke noch effektiver in Kampfkraft umgesetzt werden müssen. Deshalb hat sich die FDP so stark bei den Arbeiten für eine neue Wehrstruktur engagiert. Wir werden dazu, wie der Kollege Möllemann heute morgen schon angedeutet hat, weitere Beiträge leisten. Im Bündnis muß der Nachdruck auf der gemeinsamen Rüstungsforschung, auf der Erprobung und Produktion von Waffensystemen liegen. Das haben heute bereits alle Sprecher der Fraktionen hier deutlich zum Aus-druck gebracht. Die Standardisierung muß vorangetrieben werden. Nur so können wir mehr Kampfkraft erzielen, ohne daß die Kosten ins Uferlose wachsen. Aber auch dazu haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, bis heute nichts gesagt. Die Dezember-Tagungen der NATO haben in diesem Bereich hoffnungsvolle Ansätze erkennen lassen; Verteidigungsminister Leber hat soeben deutlich darauf hingewiesen. Wir fordern die Bundesregierung und den Verteidigungsminister auf, weiterhin energisch in dieser Richtung zu marschieren.In diesem Zusammenhang darf ich für meine Fraktion insbesondere die Haltung und die Bereitschaft Frankreichs hervorheben, in einer Arbeitsgruppe außerhalb der Eurogroup künftig mitzuwirken, um das oben angesprochene Ziel zu erreichen.
Viertens. Sicherheit ist ein komplexes Problem. Viele Faktoren spielen da hinein: politische, ideologische, wirtschafts- und energiepolitische, selbstverständlich auch militärische. Aber es sind eben nicht nur militärische Fragen, wie das bei der Opposition anscheinend gesehen wird.
Sie starren gebannt, wie ein Kaninchen auf die Schlange, auf die sowjetische Militärmacht und rechnen Panzer mit Panzer und Flugzeug mit Flugzeug auf. Wenn Sie eine exakte zahlenmäßige Parität haben wollen — das sage ich hier in aller Deutlichkeit, meine Damen und Herren —, dann müssen Sie sich auch darüber im klaren sein, daß dies eine erhebliche Senkung unseres Lebensstandards, und zwar für breite Bevölkerungskreise, bedeuten würde. Das kann nicht Sinn unserer Verteidigungsanstrengungen sein.Im übrigen geben Sie selber Anlaß, an der Sinnhaftigkeit Ihrer Beiträge zu zweifeln. Auf der einen Seite fordern Sie mehr Geld für die Verteidigung. Das ist hier auch in Ihren Leitlinien deutlich geworden. Auf der anderen Seite sind Sie genauso fix bei der Hand und weisen entrüstet Steuererhöhungen von sich. Wie Sie das zusammenbringen wollen, müssen Sie zunächst einmal unter sich selbst ausmachen.Fünftens. Weil Sicherheit zuallererst ein politischer Begriff ist und eine vorrangig politische Dimension hat und erst danach eine militärische — Sie sehen das in der Regel umgekehrt —, müssen wir sie auch auf politischem Wege weiter ausbauen und festigen. Mit Panzern und Kanonen geht das nicht. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, werden gegenüber der Großmacht Sowjetunion immer gefährdet bleiben und würden es auch dann, wenn wir den Verteidigungshaushalt verdreifachten.
Deshalb ist Ihr Lamentieren über das ungleich-gewichtige Kräfteverhältnis im Grunde genommen
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14635
Krallvöllig sinnlos. Viel wichtiger ist, politisch mehr Potenz zu gewinnen.Das geht nur über den Zusammenschluß zu einer europäischen Union mit einer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik. Die Nationalstaaterei erweist sich in jeder Hinsicht als unfähig, das heutige politische und wirtschaftliche Geschehen wirksam zu steuern, etwa den energiepolitischen Problemen zu begegnen und damit eine umfassende Sicherheit für die Bürger zu garantieren.
Ich bin damit bei einem Sachverhalt, der mir für diese Debatte wirklich wichtig erscheint, wenn sie außer für die Personalpolitik überhaupt auch noch einen anderen Sinn haben soll. Herr Dr. Wörner, Sie haben hier und heute ein düsteres Bild der europäischen Verteidigungsbereitschaft gezeichnet. Das schadet, meine Damen und Herren, dem Einigungswerk Europas ganz erheblich. Das zeugt aber auch davon, daß Sie Bemühungen und Absichten der europäischen Institutionen und der verantwortlichen europäischen Staatsmänner nicht zur Kenntnis genommen haben, z. B. den Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments zur europäischen Union des Kollegen Bertrand vom Juli 1975, in dem u. a. steht — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten —:Die Befugnisse und Zuständigkeiten der Union sind daher unter Achtung der wesentlichen Interessen der Mitgliedstaaten schrittweise auszudehnen, insbesondere auf dem Gebiet der Außenpolitik und dem Gebiet der Sicherheitspolitik.Es folgen dann die anderen Politiken.Sie haben auch noch nicht den Bericht über die europäische Union zur Kenntnis genommen, den der belgische Ministerpräsident Leo Tindemans vor wenigen Tagen vorgelegt hat; ich muß jedenfalls davon ausgehen.
: Wie
bitte?)— Ja, das ist hier nicht angesprochen worden.
— Gut. Aber ich werde darauf eingehen, Herr Kollege Dr. Mertes; Sie werden das gleich von mir hören. — Schon in dem Anschreiben zu dem Bericht hat er die Bemühungen um eine gemeinsame Haltung zu den großen weltpolitischen Problemen und die Konzentrierung in Fragen unserer Sicherheit als Voraussetzung einer Politik der Wahrung unserer Identität und als unerläßliche Grundlagen für die Schaffung einer besseren Welt bezeichnet.In seinem Bericht hat er zu der europäischen Sicherheitspolitik u. a. festgestellt — ich bitte auch hier aus dem Bericht zitieren zu dürfen :Die Mitgliedstaaten müssen daher mit fort-schreitendem Aufbau der Europäischen Uniondie Probleme lösen, die sich im Zusammenhang mit der Wahrung ihrer äußeren Sicherheit ergeben.Sehen Sie, Herr Mertes, jetzt hören Sie nicht zu, wenn ich expressis verbis das zitiere, was Herr Tindemans zur Sicherheit sagt. Ich wiederhole deshalb, damit Sie genau zuhören können:Die Mitgliedstaaten müssen daher mit fortschreitendem Aufbau der Europäischen Union die Probleme lösen, die sich im Zusammenhang mit der Wahrung ihrer äußeren Sicherheit ergeben. Die Europäische Union bleibt so lange unvollständig, wie sie keine gemeinsame Verteidigungspolitik besitzt.
— Das hätten Sie ja heute hier einmal anbringen können, aber darüber gehen Sie hinweg.
— Na gut! Sie können das ja bei anderer Gelegenheit tun; heute haben Sie es jedenfalls nicht getan.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten van Delden?
Ja, bitte schön!
Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage: das ist exakt das, was Herr Kollege Dr. Dregger einmal als Denkmodell in den Raum gestellt hat?
Darüber werden wir uns zu gegebener Zeit noch unterhalten, wie diese gemeinsame Verteidigungspolitik darzustellen ist.
Meine Damen und Herren, diese Wertung von Herrn Tindemans und die Entschließung des Europäischen Parlaments decken sich hundertprozentig mit den Auffassungen der Liberalen über künftige europäische Verteidigung.
Diese Position vertreten wir im Europäischen Parlament seit langem. Ich verweise dazu auf den Bericht des britischen Liberalen Lord Gladwin, in dem er für eine gemeinsame europäische Rüstungspolitik eintritt. Wir waren seit jeher der festen Überzeugung, daß sich eine echte Europäische Union ohne eine enge Zusammenarbeit in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht verwirklichen läßt.
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14636 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
KrallLeo Tindemans hat das nun erneut bestätigt und gerade auf diese Zusammenarbeit besonderen Nachdruck gelegt.
Seine Überlegungen stehen im übrigen auch im Einklang mit den Leitlinien liberaler Europapolitik, die der Bundesparteitag der Freien Demokratischen Partei im vergangenen Oktober in Mainz verabschiedet hat.Eine Europäische Union wird den Einzelstaaten auch sicherheitspolitisch eine neue Qualität verschaffen. Ein Europa, das mit einer Stimme spricht und einvernehmlich zu handeln vermag, hat in der Weltpolitik einen ganz anderen Stellenwert. Das gilt für die Beziehungen Europas zu den Supermächten, zu der ölproduzierenden arabischen Staatenwelt, zu den Entwicklungsländern und zu den regionalen Anliegern. Europa hat viele Freunde in der Welt, die dringend darauf warten, daß wir unsere Einheit endlich schaffen.
Eins ist auch klar: erst eine handlungsfähige Europäische Union mit einer integrierten Verteidigung kann den politischen und militärischen Druck mildern, der heute vom Warschauer Pakt auf die Einzelstaaten ausgeübt wird,
und das in enger Partnerschaft mit unseren Verbündeten, nämlich mit unseren Partnern in den Vereinigten Staaten.
— Das sage ich hier für die Freie Demokratische Partei und für meine Fraktion.
Vereint können wir viel wirksamer und erfolgreicher standhalten, als wenn sich jeder einzelne noch eine Panzerdivision zusätzlich anschafft.Namens der Fraktion der Freien Demokraten richte ich deshalb den dringenden Appell an die Bundesregierung, den Tindemans-Bericht in der allgemeinen Papierflut nicht untergehen zu lassen. Sie sollten ihn zum Anlaß nehmen, neuen Schwung in das europäische Einigungsunternehmen zu bringen, auch wenn wir uns jetzt in einem Wahljahr befinden und das Thema „Europäische Union und europäische Sicherheitspolitik" möglicherweise vielen nicht publikumswirksam erscheinen mag. Wir stehen hierzu und werden unseren Beitrag dazu leisten.
Das Wort hat der Abgeordnete Handlos.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich mich mit dem eigentlichen Thema, nämlich der Sicherheitspolitik, beschäftige, darf ich eingangs noch zu ein paar Bemerkungen von Bundesverteidigungsminister Leber von heute vormittag Stellung nehmen.Herr Minister, Sie haben hier den Eindruck zu erwecken versucht, als sei plötzlich die SPD/FDP allein dafür verantwortlich, daß die Bundeswehr in der Bevölkerung verankert ist und daß nicht seit Jahren und Jahrzehnten die CDU/CSU einen entschiedenen Beitrag dafür geleistet hat, daß heute die Bundeswehr so da ist, wie sie tatsächlich steht. Das wollen wir hier einmal feststellen.
Offensichtlich haben Sie vergessen, daß beim Aufbau der Bundeswehr nicht wir dagegen waren, sondern ausgerechnet Ihre Fraktion, und daß wir auch in der Opposition über Jahre hinweg Ihrem Verteidigungshaushalt zugestimmt haben. Das nehmen Sie heute bitte erneut zur Kenntnis.
Wenn ich das in dieser Deutlichkeit sage, dann nur deshalb, weil wir gedacht haben, es gäbe zwischen uns allen ein gemeinsames Band in der Verteidigungspolitik. Aber wenn Sie, Herr Minister, auf diese Art und Weise weitermachen, wie Sie das heute vormittag mit Ihrer Rede getan haben, kann ich Ihnen nur sagen, gefährden Sie die Gemeinsamkeiten zwischen Regierung und Opposition, zwischen Koalition und Opposition.
Es ist z. B. eine üble Verdrehung, wenn uns der Minister sinngemäß unterstellt — ich habe, soweit das ging, mitgeschrieben —, wir wollten Flugzeuge, die vielleicht Moskau bombardieren sollten. So ist es doch in Ihrer Rede, Herr Minister, herausgekommen.
Ich frage Sie, wer hat denn für MRCA gestimmt? Sie haben doch gleichzeitig gesagt, 86 °/o Ihrer Fraktion habe für MRCA gestimmt. Wie weit reicht denn MRCA? Fragen Sie bitte Ihre Spezialisten. Sie wollten den Eindruck erwecken,
wir seien plötzlich kriegerisch, wir wollten den Kampf und ähnliches mehr. Das war für Sie heute lediglich eine Rechtfertigungsrede dafür — davon gehen wir aus —, daß Sie auf der Landesliste wieder Ihren sicheren Platz bekommen. Als eine solche Rede fassen wir sie auf, als eine solche Rede bewerten wir sie auch nur und als nichts anderes.
Ich glaube, das mußte zur Einleitung noch einmal ganz deutlich aus unserer Sicht gesagt werden.
Nun darf ich einiges zu Fragen der internationalen Sicherheitspolitik ausführen. Als der amerikanische Verteidigungsminister Schlesinger am 28. September 1975 in Bonn war, gab er auf die Frage nach der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14637
Handlos1 Beurteilung unserer äußeren Sicherheit folgendes Urteil — wörtlich —:Die Bevölkerung Europas hat 30 Jahre in Sicherheit gelebt, und manche fangen an, sich der Illusion hinzugeben, Sicherheit sei etwas Selbstverständliches und nicht das Ergebnis unablässiger Bemühungen und Opfer.Genau darin, Herr Minister, liegt der entscheidende Grund für die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.In unserer Begründung haben wir festgestellt, daß die Entwicklung der internationalen Lage und drei Jahrzehnte Nichtkrieg Europa unter den beteiligten Nationen neue Interessenlagen geschaffen haben. Art und Ausmaß der Bedrohung, das militärische Kräfteverhältnis, die Strategie, der Entwicklungsstand der Waffentechnik, die wirtschaftliche Lage und internationale Handelsbeziehungen haben sich grundsätzlich geändert. Gegenstand dieser Debatte sollte daher sein, die Konsequenzen dieser Entwicklung für unsere Sicherheitslage zu bedenken und auch die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen, und sonst nichts anderes.
Herr Minister, die Bundesregierung hätte die Gelegenheit der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU nutzen können, um die Probleme unserer Verteidigungspolitik im Bündnis umfassender darzustellen. Statt dessen stellen Sie sich heute ans Rednerpult und machen in Polemik. Das ist nicht die Art, die wir erwartet haben.
Sie haben diesen Stil auch in Ihrer Antwort auf die Große Anfrage praktiziert. Sie sind nicht im Detail auf die Dinge eingegangen. Sie haben jeweils nur eine kurze und verallgemeinernde Antwort gegeben. Sie haben es nicht einmal für nötig befunden, einige Fragen überhaupt zu beantworten, z. B. hinsichtlich des Ausbaus der Offensivkapazität des Warschauer Paktes im Detail, der Angriffsfähigkeit aus dem Stand, der Einbeziehung Spaniens in die europäische Verteidigung — auch danach haben wir gefragt —, der Frage der Pluton-Raketen usw.Während der Bericht des amerikanischen Verteidigungsministers vom 5. Februar 1975 detaillierte Angaben zur Verstärkung der Landstreitkräfte in den osteuropäischen Staaten macht und feststellt, daß diese inzwischen — wörtlich — „eine taktische Doktrin rascher Panzervorstöße befolgen, die eine starke Ähnlichkeit mit dem hat, was wir Blitzkrieg zu nennen pflegen", schweigt sich die Bundesregierung in ihrer Antwort dazu aus.Der meßbare Teil der Bedrohung durch die Streitkräfte des Warschauer Paktes spiegelt sich am deutlichsten im Kräftevergleich wider. Es wäre wünschenswert gewesen, die Bundesregierung hätte die gewachsene Bedrohung an Hand einiger Zahlen auch gegenüber der Öffentlichkeit noch einmal verdeutlicht
Sie hat sich wiederum nur darauf beschränkt, die von der CDU/CSU in Frageform dargestellten Entwicklungen zu bestätigen und verschwommen erklärt — ich darf zitieren—:In Europa haben Veränderungen bei den konventionellen Streitkräften das bisherige relative konventionelle Gleichgewicht nicht grundsätzlich verschoben.Ich darf deshalb noch einmal in aller Öffentlichkeit in Erinnerung bringen, was jenseits des Eisernen Vorhanges im Bereich des Warschauer Paktes nur an Soldaten und Kampfpanzern zur Verfügung steht. Im Bereich des durch MBFR in Wien abgegrenzten Reduzierungsgebiets stehen beim Warschauer Pakt 925 000 Soldaten und 18 000 Kampfpanzer. Man muß, meine Damen und Herren, in die- sem Zusammenhang auf jeden Fall auch noch die drei westlichen Militärbezirke der Sowjetunion hinzurechnen, wo weitere 340 000 sowjetische Soldaten und 6 800 Kampfpanzer zu finden sind. Insgesamt ergibt sich also eine Zahl von 24 800 Kampfpanzern. Und was steht auf unserer Seite? Im gleichen Reduzierungsraum stehen auf seiten der NATO nur 77 000 Soldaten und 6 000 Kampfpanzer. Und da will hier noch jemand sagen, daß die Lage nicht bedrohlich ist, wenn man diese Zahlen einander gegenüberstellt?
Ähnlich — mein Kollege Wörner hat es heute vormittag schon gesagt — drücken sich die Zahlenverhältnisse bei der Luftwaffe und auch bei der Marine aus. Sie selbst erklären in Ihrer Antwort auf die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Mobilisierung wörtlich folgendes:Durch Mobilisierung und Zuführung von Verstärkungen können die NATO und der Warschauer Pakt die Zahl ihrer präsenten Divisionen erhöhen, wobei die deutliche Überlegenheit des Warschauer Paktes erhalten bleibt.Erhalten bleibt! Und wie sieht der tatsächliche Stand der Dinge aus? Wenn man berücksichtigt, daß die NATO ihre 27 Divisionen innerhalb von 30 Tagen um 6 Divisionen auf 33 verstärken kann, der Warschauer Pakt jedoch innerhalb von zehn Tagen seine 60 Divisionen auf 90, dann ist die Formulierung „erhalten bleibt" wiederum eine Verharmlosung. Richtiger müßte es heißen: „noch erhöht wird."Zu einem entscheidenden Bedrohungsfaktor in Europa wurde, wie wir auf Grund der letzten Seemanöver wissen, die sowjetische Marine. Es ist doch ganz offensichtlich, daß die Kriegsschiffe der östlichen Seite ihre Aufgabe im Atlantik darin sehen, erstens einmal die europäische Nordflanke zu isolieren und zweitens die Seeverbindungen zwischen den USA und Europa zu unterbrechen, und ihre Mittel dazu sind heute schon ausreichend.
In dieser Situation muß, meine Damen und Herren, sitzen sich NATO und Warschauer Pakt bei den Abrüstungsgesprächen in Wien an einem Tisch gegenüber, und es hat, Herr Minister, den Anschein,
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Handlosals seien die Sowjets weniger denn je geneigt, in Wien irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
Ich darf mich hier für die CDU/CSU-Fraktion ausführlich mit der Abrüstungskonferenz in Wien befassen und eine Art Zwischenbilanz der MBFR-Verhandlungen ziehen. Seit dem 30. Oktober 1973 wird nunmehr in Wien zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt verhandelt, und dies bisher ohne jeden Erfolg, obwohl nunmehr — Ende letzten Jahres — der Westen im Rahmen der Option 3 sein Verhandlungsangebot um den Rückzug von 1 000 Nuklearwaffen und Trägermitteln erweitert hat, um die Verhandlungen zu beleben.
Erinnern wir uns an die Ausgangslage: Der Westen drängte in Wien seit Beginn auf eine Parität der Landstreitkräfte, während der Osten nach wie vor nur disparitätisch abrüsten will. Der Westen war dafür, die Zahlen zu beschränken — 700 000 zu 700 000 —, mit der Maßgabe, daß die Sowjetunion eine Panzerarmee mit 1 700 Panzern und 68 000 Mann abzieht. Die Sowjetunion dagegen wollte von Beginn an im Rahmen der Disparität, daß auch die Luftwaffe und die Nuklearsprengmittel in die Abrüstungsgespräche mit einbezogen werden.Nachdem sich über 18 Monate in Wien keinerlei Entgegenkommen der Sowjetunion gezeigt hat, hat nunmehr Ende letzten Jahres die NATO dieses Angebot, von dem ich vorher gesprochen habe, auf den Tisch gelegt. Und was ist geschehen? Auch dieses Angebot des Westens hat die östliche Seite keineswegs aus ihrer Reserve gelockt. Im Gegenteil, der Warschauer Pakt zeigte daraufhin in Wien überdeutlich sein Desinteresse an diesen westlichen Vorschlägen. So zeigte die östliche Seite — ich muß das betonen -- keinerlei Interesse, den eingebrachten westlichen Vorschlag am 16. Dezember 1975 im Rahmen einer Plenardebatte zu diskutieren, und das besagt doch immerhin etwas. Wie man aus Konferenzkreisen weiß, tat die östliche Seite in dieser Phase gerade so viel, daß die Verhandlungen geschäftsmäßig über die Runden gebracht werden konnten.Uns fällt jedoch auf, meine Damen und Herren, daß bei allem Desinteresse des Warschauer Paktes in Wien das einzige Interesse im Augenblick offensichtlich an der deutschen Bundeswehr einschließlich der Territorialverteidigung besteht, die in den östlichen Gesprächen immer wieder Vorrang hat. Und wir wissen auch, warum. Wir sagen es nur noch nicht alle miteinander, aber wir wissen genau, was die Sowjetunion in Wien in letzter Konsequenz will.
Andererseits reagiert die östliche Seite im Hinblick auf das Verhandlungsklima immer verärgert, wenn die westliche Seite z. B. Darlegungen über die Erhöhung der Streitkräftezahlen im Osten am Verhandlungstisch vorbringt.Ich darf für die CDU/CSU-Fraktion eine Zwischenbilanz der MBFR-Verhandlungen in Wien zum gegenwärtigen Zeitpunkt ziehen. Sie sieht folgendermaßen aus.Erstens. Die Substanz der östlichen Vorschläge hat sich praktisch seit der ersten Verhandlungsphase vom Oktober 1973 absolut nicht geändert.Zweitens. Man sollte nicht vergessen, daß sich der Warschauer Pakt in Wien nach wie vor weigert, in eine ernsthafte Streitkräftedaten-Diskussion einzutreten.
Das ist überhaupt die Voraussetzung für jegliche ernsthaften Verhandlungen.
Auch das muß man einmal sagen.
Der dritte entscheidende Punkt, meine Damen und Herren: Es war für die westliche Position bei den Wiener Truppenabrüstungsgesprächen absolut nicht förderlich, daß der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt voreilig in London die Option 3 in einer Rede empfohlen hat. Auch das muß hier festgestellt werden.
Punkt 4: Die Position der Warschauer-Pakt-Staaten wird in Wien nach wie vor von den Prinzipien der Asymmetrie, der Einbeziehung aller direkten Teilnehmer in erste Reduzierungsvereinbarungen und der Einbeziehung der Rüstung bestimmt.Deswegen darf ich — fünftens — für die CDU/ CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag feststellen, daß das, was wir in Wien angeboten haben, das letzte Angebot sein muß und daß nunmehr definitiv die Sowjetunion am Zuge ist, Kompromißbereitschaft in Wien zu zeigen.
Selbst wenn es auf der Basis der westlichen Vorschläge nunmehr zu einer Einigung in groben Umrissen in Wien käme, sind weitere Detailfragen völlig ungeklärt, so z. B. von der geographischen Lage her gesehen. Die Sowjetunion zieht ihre Truppen womöglich 650 km zurück, die Amerikaner über den Atlantik.Ein zweiter entscheidender Punkt berührt die Marine. Die Marine ist ja nicht in der Abrüstungskonzeption enthalten. Man hört heute bereits, daß die Sowjetunion angeblich dabei ist, ein Marine-infanteriekorps aufzubauen, um womöglich auf diese Art und Weise die Abrüstungskonferenz in Wien zu umgehen. Es wäre sehr interessant, von der Bundesregierung zu hören, ob sie in diesem Fall Erkenntnisse hat.Von höchster Bedeutung ist für uns und gerade für die westliche Position jedoch die Frage: Was passiert mit Ungarn? Ist Ungarn nunmehr in der Reduktionszone, ja oder nein? Der Westen stellt sich auf den Standpunkt: Jawohl. Die Sowjetunion sagt in gleicher Deutlichkeit in Wien: Nein, Ungarn ist nicht in der Reduktionszone und bleibt draußen. Was ist denn nun die logische Konsequenz aus
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Handlosdieser Entwicklung? Selbst wenn die 1 700 Panzer und 68 000 Mann abgezogen werden, haben wir nichts davon, wenn diese Streitkräfte in die ungarische Tiefebene verlegt werden, weil damit eine Aufmarschplattform gegenüber Jugoslawien nach einem möglichen Ausscheiden von Tito aus der aktiven Politik und zugleich eine aktive Bedrohung Österreichs, der Schweiz und Süddeutschlands entsteht. Wenn das so kommen sollte, müßten wir in der militärstrategischen Konzeption der NATO gründlich umdenken, denn dann ist das ganze Prinzip über den Haufen geworfen.
Auch das sollte man in diesem Zusammenhang einmal feststellen.Meine Damen und Herren, wir sollten auch nicht vergessen, daß, während man sich in Wien noch über Reduzierungsgebiet und Streitkräftedaten streitet, die Großmächte intensiv bereits an einer neuen Superwaffe arbeiten, nämlich Laser. Gerade diese waffentechnologische Entwicklung der Zukunft müssen die Bundesrepublik Deutschland und die anderen europäischen Nationen im Auge behalten. Mittlerweile ist klar, daß derjenige, der zuerst die todbringende Laserwaffe entwickelt, auch zuerst das militärische Gleichgewicht von Grund auf verändern kann. Dies geht z. B. aus dem neuesten Band des Standardwerkes „Janes Waffensysteme 1976" hervor, das in diesen Tagen in London veröffentlicht wurde. Der Herausgeber des Handbuchs erklärt in seinem Vorwort, die Supermächte befänden sich allem Anschein nach in einem kostspieligen superwissenschaftlichen Kampf, als erster eine praktische Laserwaffe herzustellen, die imstande sei, ein militärisches Ziel zu zerstören, und dies allein durch die Energie, die das Laser produzieren und auf das Ziel übertragen kann. Eine ähnliche Auffassung vertritt auch bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Direktor für Verteidigungsforschung und -technik der Vereinigten Staaten.Ich darf mich nunmehr noch einigen anderen Punkten widmen, von denen ich glaube, daß sie für uns von Bedeutung sind. Unsere Sicherheit, meine Damen und Herren, ist auf Dauer nur gewährleistet, wenn unsere Gesamtverteidigung funktioniert. Unter Gesamtverteidigung verstehen wir wiederum die militärische Verteidigung und die Zivilverteidigung. Das muß hier einmal ganz klar herausgestellt werden. Gerade auf dem Gebiet der Zivilverteidigung ist es auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland alles andere als gut bestellt, im Gegenteil, es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die Zivilverteidigung die schlechteste Situation seit dem Jahre 1949.
Hier muß ich die Bundesregierung, obwohl das Sache des Innenausschusses ist, auch als Mitglied des Verteidigungsausschusses einmal ganz klar fragen: Was hat die Bundesregierung veranlaßt, die über tausend Selbstschutzzüge aufzulösen, obwohl Hunderttausende von ehrenamtlichen Helfern zur Verfügung standen, so daß garantiert nicht die Frage der Finanzen entscheidend ist? Dies ist meine erste Frage.Meine zweite Frage: Warum hat die Bundesregierung die restlichen Mittel für den Schutzraumbau gestrichen, obwohl sie im letzten Jahr noch gesagt hat, man müsse der Bauindustrie helfen? Auch das ist eine Ungereimtheit.Schließlich komme ich zum dritten und letzten Punkt, den mein Kollege Wörner heute vormittag ebenfalls angeschnitten hat, zur Frage nach der nationalen Nahrungsmittelreserve und der Krisenbevorratung der Bevölkerung. Dazu muß ich sagen: was sich die Bundesregierung hier erlaubt hat, ist ein Skandal ersten Ranges.
Warum? Sie können nicht sagen, Herr Minister, wie Sie das heute vormittag getan haben, die Bundeswehr habe sowieso so viel Lebensmittel, daß man für das Geld lieber Waffen gekauft habe. Weiß denn irgend jemand in der Bundesrepublik Deutschland heute, wenn eine Krise kommt, wo er hingehen soll, um Lebensmittel zu bekommen? Herr Staatssekretär Logemann hat in der Fragestunde erklärt: Wir schaffen das ab, weil wir auf die EG-Nahrungsmittelreserven zurückgreifen können.
Ich darf den Gedankengang einmal kurz entwikkeln. Das muß uns im Parlament allen am Herzen liegen. Bisher war es so, daß jede Bundesregierung 60 Millionen DM pro Jahr dafür eingeplant hat, daß in Krisenfällen und in Krisenzeiten 14 Tage hindurch jeder in der Bundesrepublik Deutschland eine warme Mahlzeit bekommen konnte. Nun wurden diese 60 Millionen DM auf Grund der Haushaltslage gestrichen. Die Ausrede der Bundesregierung war: Wir können auf die EG-Nahrungsmittel zurückgreifen. Das Ganze, meine lieben Freunde, ist rein hypothetischer Natur. Erstens sind soundso viele EG-Nahrungsmittellager im Ausland, so daß es keinen nationalen Zugriff gibt,
und zweitens, Herr Minister Leber: Was nützt uns denn ab und zu mal ein Butterberg oder ein Rindfleischberg, wenn die Bevölkerung nichts anderes zu essen hat? Das ist doch das Entscheidende.
Ich glaube, wir müssen uns in diesem Hause alle darin einig sein, daß möglichst ab sofort die nationale Nahrungsmittelreserve wieder eingeführt wird, denn darüber sind wir uns in diesem Hause alle einig, daß in Krisenzeiten jeder etwas zu essen braucht. Ich bitte die Bundesregierung heute um eine Detailauskunft, ob sie das will oder ob sie diese nationale Nahrungsmittelreserve tatsächlich ein für allemal abschaffen will. — Das zu diesem entscheidenden Punkt.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige andere Punkte nennen. Weil die Zeit schon sehr weit fortgeschritten ist, darf ich mich nurmehr mit einem Kapitel im Rahmen der Bundeswehr befassen, das sind die sogenannten streitkräftegemeinsamen Aufgaben. Weil wir schon bei der Gesamtverteidigung sind, darf ich noch kurz etwas zur
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14640 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
HandlosReform der Wehrstruktur sagen. Herr Kollege Krall, Sie haben vorhin erklärt, wir hätten in der Wehrstruktur nichts Besonderes zu bieten. Ich kann Ihnen nur sagen, Gott sei Dank haben wir manchen Unsinn verhindert, den die Regierung bei der Wehrstrukturreform machen wollte.
Gott sei Dank konnten wir das Ganze über den Bundesrat abblocken, der heute, wie ich gehört habe, wieder stärker geworden ist. Das ist für uns ein entscheidendes Argument.
Herr Minister, Sie haben in Drucksache 7/4072 unter Punkt 5 erklärt:Die Bundesregierung erhält und verbessert die Kampfkraft der Bundeswehr durch Umstrukturierung und Modernisierung.Unter Umstrukturierung ist doch wohl auch das zu verstehen, was bei der Reform der Wehrstruktur immer ganz groß angekündigt wurde, nämlich die streitkräftegemeinsamen Aufgaben, von denen, wie ich glaube, heute schon der Kollege Möllemann gesprochen hat. Gerade auf diesem Sektor, Herr Minister, gäbe es mittelfristig erhebliche Einsparungsmöglichkeiten, wenn nicht wie bisher von allen Beteiligten nach allen Regeln der Kunst abgeblockt würde. Auch das muß man ja einmal sagen. Es hat keinen Sinn, Herr Minister, wenn sich die drei Teilstreitkräfte darauf einigen sollten, etwa die Ausbildung der Feuerwerker oder Feldköche bundeswehreinheitlich zu regeln oder andere praktisch nicht in das Gewicht fallende Rationalisierungsvorschläge zu unterbreiten. Wir von der CDU/CSU-Fraktion drängen nunmehr energisch darauf, daß das Ministerium in absehbarer Zeit Ergebnisse mit wesentlichen Inhalten über diese streitkräftegemeinsamen Aufgaben vorlegt, denn hier kann man einsparen, ohne die Schlagkraft der Truppe zu gefährden. Hier eröffnet sich eine echte Einsparungsmöglichkeit.
Lassen Sie mich zum Abschluß noch etwas zur Strategie der UdSSR sagen, da wir hier ja eine Sicherheitsdebatte unter internationalem Aspekt führen. Die Frage der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und Europas ist zugleich eine Frage nach der Strategie der UdSSR. Die Politik der UdSSR wird von keinen Zufällen bestimmt. Im Gegenteil! Die Doppelstrategie gilt nach wie vor: zum einen die Drohung mit einem militärischen Eingreifen, zumal ja „gerechte" Kriege aus der Sicht der Kommunisten nach wie vor erlaubt sind, und zum anderen die subversive Kampfführung, getarnt in allen möglichen Formen, einschließlich der friedlichen Koexistenz. Ich glaube, daß das Zitat von Lenin — Gesammelte Werke, Band 25 — nach wie vor Gültigkeit hat, das lautet — ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten —:Die Wahrheit sagen ist ein bourgeoises Vorurteil. Eine Lüge wird durch das zu verfolgendeZiel gerechtfertigt. Die Kapitalisten und ihre Regierungen werden gegenüber unseren Aktivitäten die Augen verschließen. Auf diese Weise werden sie nicht nur taubstumm, sondern auch noch blind werden.Die taubstummen kapitalistischen Hamsterer und ihre Regierungen werden uns Kredite eröffnen, welche die Kassen der kommunistischen Organisationen in ihren Ländern füllen und werden mit der Lieferung von Waren aller Art unsere Kriegsproduktion vergrößern und verbessern, die wir für künftige siegreiche Angriffe gegen unsere Lieferanten benötigen. Mit anderen Worten, sie werden sich anstrengen, um ihren eigenen Untergang vorzubereiten.Das sagte Lenin.Wer das nicht glauben will — man könnte ja sagen: Das war im Jahre 1921! —, den bitte ich, sich das zu Herzen zu nehmen, was Alexander Solschenizyn am 30. Juni 1975 in Washington vor dem amerikanischen Gewerkschaftsverband feststellte. Er sagte dort wörtlich:Die kommunistische Ideologie läuft darauf hinaus, Ihre Gesellschaft zu zerstören. Dies ist seit 125 Jahren ihr Ziel. Es hat sich nie geändert. Nur die Methoden haben sich etwas gewandelt. Wenn Entspannung herrscht, friedliche Koexistenz, Handel getrieben wird, dann werden die Kommunisten immer noch darauf beharren: Der ideologische Kampf geht weiter! Und was ist dieser ideologische Krieg? Es ist Haß, die fortgesetzte Wiederholung des Schwures, die westliche Welt zu zerstören. Es ist so wie einst im römischen Senat, als ein berühmter Redner, Cato, jede Anprache mit der Feststellung schloß: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam" — Und im übrigen bin ich der Ansicht, daß Karthago vernichtet werden muß.Der gleiche Solschenizyn erklärte an anderer Stelle auf dem gleichen Kongreß in Washington — natürlich hören Sie das zum Teil vielleicht nicht gern —:Es gab einmal eine Zeit, da war die Stärke der Sowjetunion mit der Ihrigen nicht zu vergleichen. Dann wurde ein Gleichstand erreicht, und nun wird die UdSSR Ihnen überlegen, wie jeder erkennen kann. Bald wird das Verhältnis 2 : 1 betragen, dann 3 : 1, schließlich 5 : 1. Mit einer solchen nuklearen Überlegenheit wird es möglich sein, den Einsatz Ihrer Waffen abzublocken, und an einem unseligen Morgen werden sie— die Sowjets —erklären: Achtung! Wir lassen unsere Truppen nach Europa marschieren, und wenn ihr auch nur eine Bewegung macht, dann werden wir euch vernichten.Ich glaube, daß diesen Worten von Solschenizyn nichts hinzugefügt werden muß.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14641
Jawohl.
Herr Kollege Handlos, ist Ihnen bekannt, daß in dem gestern veröffentlichten Entwurf der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zu ihrem neuen Parteiprogramm gerade zu dem von Ihnen Zitierten ein interessanter Kommentar steht? Er lautet:
Die Erkenntnisse und Voraussagen von Marx, Engels und Lenin
— wohl auch die, die Sie zitiert haben —
werden durch die geschichtliche Entwicklung, durch den siegreichen Vormarsch des Sozialismus ebenso wie durch den Prozeß des Untergangs des Kapitalismus bestätigt.
Vielen Dank, Herr Kollege! Das bestätigt nur das, was Solschenizyn in New York sagte.
Ich möchte abschließend folgendes feststellen. In den heutigen Reden wurde sehr viel von der Diagnose des Bündnisses gesprochen. Ein entscheidender Punkt ist aber auch die Therapie. Die Antwort kann hierbei nur lauten: ein vereinigtes Europa mit einer gemeinsamen Außen-, Verteidigungs- und Rüstungspolitik, wie das auch von dem Ministerpräsidenten Tindemans in den letzten Wochen befürwortet wurde. Das ist der einzige Weg, der uns mittel- und langfristig das Überleben zwischen den verschiedenen Blöcken sichert.
Abschließend darf ich sagen: Nur wenn es eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik in Verbindung mit einer Verteidigungszusammenarbeit gibt, besteht die Chance, mit einer weiteren Rückendeckung Amerikas politisch, militärisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zu überleben. Stärker noch als bisher muß für alle hier in diesem Parlament miteinander der Wahlspruch der NATO gelten: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit.
Meine Damen und Herren, ich unterbreche die Aussprache zu den Punkten 2 und 3 der Tagesordnung. Sie wird nach der Fragestunde, also gegen 15.30 Uhr, fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr zur Fragestunde.
Die Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 7/4555 —
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung zunächst Frau Parlamentarischer Staatssekretär Schlei.
Ich rufe die Frage 88 des Abgeordneten Milz auf:
Trifft es zu, daß der Bundeskanzler die konsequente Haltung des Ministerpräsidenten Goppel und der Bayerischen Staatsregierung im Zusammenhang mit dem Besuch des Vertreters der DDR nicht voll billigt, zumal er Presseberichten zufolge lieber eine andere Reaktion gesehen hätte?
Bitte schön!
Herr Kollege Milz, der Bundeskanzler hat auf die Frage eines Journalisten, ob er die Behandlung des DDR-Ministers Dr. Kohl in Bayern für angemessen halte, folgendes geantwortet: „Ich glaube nicht, daß sie etwas geschadet hat. Ob sie angemessen war, kann man bezweifeln."
Zu der Frage, die Sie stellen, ob der Bundeskanzler eine andere Reaktion des bayerischen Ministerpräsidenten lieber gesehen hätte, gibt es keine Äußerung des Bundeskanzlers.
Eine Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Staatssekretärin, sind Sie angesichts der Tatsache, daß sich heute die Zahl der CDU/CSU-Ministerpräsidenten so erfreulich vergrößert hat, nicht mit mir der Meinung, daß dies zum Anlaß genommen werden sollte, dem Bundeskanzler zu empfehlen, mit den Ministerpräsidenten nicht nach dem Motto: „Stillgestanden! Die Augen links!" umzugehen?
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Sie stellen hier einen Zusammenhang zwischen einem aktuellen Anlaß und einem längst verjährten Anlaß her; denn das, was Sie erfragen, hat sich im vorigen Jahr abgespielt. Aber, lieber Herr Kollege, wenn Ihnen diese Demonstration so viel wert ist, kann ich nur sagen, um unseren Bundeskanzler brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.
Herr Kollege, eine zweite Frage. Aber ich bitte Sie, sie sachlich zu stellen, ohne Bewertung.
Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, daß die konsequente Haltung des bayerischen Ministerpräsidenten und seiner politischen Freunde mit dazu beigetragen hat, die DDR von ihrer unmenschlichen, ja verbrecherischen Haltung abzubringen?Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist eine politische Interpretation, die Sie geben. Ich teile sie nicht unbedingt, habe aber hier nicht die Aufgabe, zu bewerten, was der Ministerpräsident eines Landes für seine politische Gegebenheit ansieht. In der Politik kommt es nicht nur auf die Folgerichtigkeit des Verhaltens an, auf sogenanntes
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14642 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Parl. Staatssekretär Frau Schleikonsequentes Verhalten also, sondern auch darauf, die Konsequenzen des Verhaltens zu bedenken.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Frau Staatssekretärin, gibt es der Bundesregierung nicht zu denken, daß die konsequente Haltung des bayerischen Ministerpräsidenten dazu geführt hat,
daß sich auch der sozialdemokratische Oberbürgermeister von München zu einer gleichen konsequenten Haltung entschlossen hat?
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Die gesamtbayerische Szene ist mir bekannt, und wir haben durchaus Verständnis für das Verhalten der einzelnen Politiker gezeigt, wie Sie aus unseren Äußerungen wissen.
Keine weitere Frage.
Ich rufe die Frage 89 des Herrn Abgeordneten Reddemann auf:
Wollte der Bundeskanzler das Land Berlin, das laut Grundgesetz und laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ein Land der Bundesrepublik Deutschland ist, nicht als Bundesland betrachten, als er in seinem Interview mit der „Hamburger Morgenpost" vom 19. Dezember 1975 nur von zehn Landeshauptstädten sprach?
— 89! Sie haben zwei Fragen gestellt, Herr Kollege.
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, zunächst zur Frage 89, die Sie gestellt haben.
Es bedarf keiner Betonung, daß die Bundesregierung von dem Rechtsstatus Berlins ausgeht, wie er im Grundgesetz, aber auch in den Vorbehalten der Drei Mächte und im Viermächteabkommen festgelegt ist. Der Zusammenhang, in dem der Bundeskanzler die von Ihnen aufgegriffene Äußerung getan hat, zeigt, daß er gar keine Aussage über den Status Berlins machen wollte. Es ging ihm vielmehr darum, anschaulich und beispielhaft auf eine mögliche Problematik hinzuweisen; denn Landesregierungen entscheiden in eigener Verantwortung über die protokollarische Behandlung von Vertretern anderer Staaten bei Besuchen in ihren Ländern. Dadurch könnten die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten durchaus — auch positiv, selbstverständlich — beeinflußt werden.
Eine Zusatzfrage!
Frau Präsidentin, ich bitte um Verständnis, ich habe offenbar eine falsche Liste, auf der eine Frage 90 und eine Frage 91 steht, nicht 89 oder 90. Ich weiß, nachdem ich die Ausführungen der Frau Kollegin Schlei gehört habe, leider nicht, auf welche Frage sie geantwortet hat. Darf ich
darum bitten, mir kurz zu sagen, welche Frage beantwortet wurde?
Wenn Sie vergleichen wollen: Die Frage 89 beginnt mit: „Wollte der Bundeskanzler das Land Berlin ..."
Möchten Sie gern, daß Frau Staatssekretär das wiederholt?
Nein! Dann darf ich dazu fragen: Frau Staatssekretärin, wie kam dann der Bundeskanzler dazu, die Zahl der Bundesländer falsch anzugeben? Mußte man bei ihm nicht erwarten, daß er durchaus weiß, wie viele Bundesländer die Bundesrepublik Deutschland hat?
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Herr Reddemann, Sie sind intelligent genug, um zu wissen, was der Kanzler weiß, und auch zu wissen, daß er das weiß. Er hätte also ebensogut von vier oder fünf oder zehn Hauptstädten sprechen können. Er hat nämlich nicht gesagt: „von den zehn Hauptstädten", sondern er hat eine Zahl gegriffen. Er hat also die Bundesländer nicht aufzählen wollen, sondern er hat lediglich auf die Problematik hinweisen wollen, daß Außenbeziehungen des Staates Bundesrepublik durch das Verhalten von Landesregierungen beeinflußt werden könnten.
Zweite Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, da er aber ausdrücklich von zehn Landeshauptstädten gesprochen hat, frage ich Sie: Muß ich davon ausgehen, daß er möglicherweise einer elften Landeshauptstadt eine andere Möglichkeit zubilligt?
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Herr Reddemann, davon dürfen Sie nicht ausgehen, wenn Sie unterstellen, daß hier keine Statusaussagen und keine Aussagen über bestimmte Hauptstädte gemacht werden sollten.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Arndt.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, daß die Freie und Hansestadt Hamburg noch nie für sich in Anspruch genommen hat, eine Landeshauptstadt zu sein und daß der in Hamburg gewählte Abgeordnete des Wahlkreises Bergedorf weiß, daß sich die Freie und Hansestadt Hamburg als Freie und Hansestadt und nicht als Hauptstadt fühlt, so daß zehn übrig bleiben?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14643
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, Sie bestätigen, was ich eingangs ausgeführt habe, daß die Zahlen etwas willkürlich gegriffen worden sind. Ich glaube, auch die Bremer würden ähnlich reagieren.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Frau Staatssekretärin, teilen Sie meine Auffassung, daß die Sicht, die der Kollege Arndt den Dingen jetzt gibt, den sprachlichen Fehlgriff des Bundeskanzlers nur vergrößern würde, weil wir dann auch die Städte Bremen und Berlin, da sie Stadtstaaten sind, ebenfalls nicht einbeziehen dürften und wir deswegen überhaupt nur acht Landeshauptstädte hätten?
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auf Ihre Gedankengänge bin ich schon selbst gekommen, wie Sie vorhin gemerkt haben müßten.
Keine Zusatzfrage.
Herr Kollege Reddemann, die Diskrepanz zwischen den Nummern der Fragen in unseren Vorlagen liegt darin begründet, daß Sie den Korrekturabzug genommen haben; nachträglich hat sich die Reihenfolge der Fragen noch geändert.
Ich rufe jetzt die Frage 90 des Abgeordneten Reddemann auf:
Wieso bezeichnete der Bundeskanzler die Ausladung des Ständigen Vertreters der DDR-Regierung, Michael Kohl, durch den Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Alfons Goppel, als eine außenpolitische Entscheidung, obwohl Bundesregierung, Bundesrat, Bundestag und Bundesverfassungsgericht festgestellt haben, daß die DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland sein kann?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin!
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Ich hatte natürlich die große Freude, Herr Kollege, Ihnen hier ein bißchen christlich aushelfen zu dürfen, was vielleicht für den Parlamentarismus auch ganz hübsch ist.
Nun zur Sache: Der Bundeskanzler hat die Entscheidung des bayerischen Ministerpräsidenten nicht als eine außenpolitische Entscheidung bezeichnet. Wie bereits ausgeführt wurde, ging es dem Bundeskanzler ganz allgemein darum, auf den Aspekt hinzuweisen, daß sich Entscheidungen der Landesregierungen über die protokollarische Behandlungen von Vertretern anderer Staaten über den Bereich des Landes hinaus auf die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten auswirken könnten.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, da. der Bundeskanzler aber nicht von Beziehungen zu anderen Staaten, sondern ausdrücklich von „Außenpolitik" gesprochen hat, frage ich Sie: Würden Sie nicht unter diesen Umständen die Antwort, die Sie mir soeben gegeben haben, noch einmal überdenken?
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Nein, Herr Kollege! Wenn man den Gesamtzusammenhang sieht, ist ganz klar zu erkennen, daß auch hier beispielhaft argumentiert wurde und nicht statusbezogen.
Zweite Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, können Sie uns dann erklären, warum der Bundeskanzler offenbar während seines Gesprächs immer dort, wo konkrete Aussagen notwendig gewesen wären, mehr in Gleichnissen redete?
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Nein, bei dieser ganzen Gesprächssituation halte ich diese Gesprächsführung durchaus für gegeben.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Frau Staatssekretärin, das Verhalten von Herrn Ministerpräsident Goppel innerhalb des innerdeutschen Verhältnisses kann doch keinen Einfluß auf unser Verhältnis zu anderen auswärtigen Staaten haben.
Frau Schlei, Parl. Staatssekretär: Wir haben bei dieser Beispielgebung in der Argumentation immer von „könnte" gesprochen. Bei diesem „könnte" wird unterstellt, daß einzelnes Verhalten in Ländern auch einen positiven Einfluß haben könnte auf das, was dann die Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Staaten angehen könnte.
— Das müssen Sie dann selbst beantworten. Ich dachte, Sie hätten die Antwort schon gegeben.
Keine weitere Zusatzfrage? — Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretär.
Ich rufe nunmehr die letzte Frage aus diesem Geschäftsbereich, die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Rollmann, auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Ausweisung des ,,Spiegel"-Korrespondenten Jörg Mettke die Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR verletzt, und — wenn ja — was hat die Bundesregierung gegen diese Verletzung der Vereinbarungen unternommen?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär Bölling.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Rollmann, die Bundesregierung ist der Auffassung — Sie werden gesehen haben, daß der
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14644 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Staatssekretär BöllingBundeskanzler in eigener Person kurz vor Weihnachten in der „Tagesschau" dieses über jeden Zweifel deutlich gemacht hat —, daß die Ausweisung des „Spiegel"-Korrespondenten Jörg Mettke aus Ost-Berlin die Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR verletzt, und zwar die Verpflichtungen, die beide deutsche Staaten mit dem Briefwechsel über die Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten vom 8. November 1972 eingegangen sind. Dort ist niedergelegt, daß beide Seiten den Journalisten des jeweils anderen deutschen Staates und deren, wie es dort heißt, Hilfspersonen das Recht zur Ausübung der beruflichen Tätigkeit und der freien Information und Berichterstattung zusichern.Ich darf, in Parenthese gesagt, Herr Abgeordneter, um Verständnis dafür bitten, daß meine Antwort auf Ihre Doppelfrage etwas ausführlicher ist, als die Antworten in der Fragestunde in aller Regel sind.Der in diesem Briefwechsel enthaltene Bezug auf die jeweils geltende Rechtsordnung kann nach unserer Auffassung im Fall Mettke von der DDR nicht ins Feld geführt werden, da der „Spiegel"-Korrespondent nach unserer Einschätzung nicht gegen die „Verordnung der DDR über die Tätigkeit von Publikationsorganen anderer Staaten und deren Korrespondenten" verstoßen hat. Da Herr Mettke den „Spiegel"-Artikel, den die Behörden der DDR für die Ausweisung des Korrenspondenten herangezogen haben, weder geschrieben noch dafür recherchiert hat, hat er sich weder einer Verleumdung noch einer Diffamierung der DDR oder einer böswilligen Verfälschung von Tatsachen schuldig machen können.Diese meine Bewertung steht in Übereinstimmung mit der Erklärung der Delegation der DDR in Bonn vom 21. März 1973, daß die genannte Verordnung die Vereinbarungen aus dem Briefwechsel nicht einschränkt und daß ein Korrespondent nicht gleichsam in Sippenhaft für Artikel seines Blattes genommen werden kann, die er nicht zu verantworten hat.Zum zweiten Teil Ihrer Frage, was die Bundesregierung gegen diese Verletzung unternommen hat, darf ich folgendes ausführen: Am 16. Dezember des vergangenen Jahres wurden Herrn Mettke im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in der DDR die Aufhebung seiner Akkreditierung und seine Ausweisung innerhalb von 48 Stunden eröffnet. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik hat sich daraufhin sofort um einen Termin bemüht, um die konkrete Begründung für die Ausweisung zu erfahren. Am 17. Dezember hat Staatssekretär Gaus mit dem amtierenden Leiter der zuständigen Abteilung des Ministeriums gesprochen. Nach vergeblichen Bemühungen, die Ausweisungsfrist zum Zwecke der Klärung der Angelegenheit zu verlängern, hat Staatssekretär Gaus mit großem Nachdruck gegen die Ausweisung Mettkes protestiert und sich weitere Schritte vorbehalten.Am 5. Januar dieses Jahres hat Herr Gaus den Stellvertretenden Außenminister der DDR, Nier, aufgesucht und ihm eine Note der Bundesregierung überreicht. Darin wiederholt die Bundesregierung ihren Protest, legt ihre Rechtsauffassung dar, wie ich sie vorhin skizziert habe, und verlangt, daß die Regierung der DDR ihre Entscheidung überprüft. Eine Antwort der DDR steht bis zu diesem Augenblick aus.Für uns, Herr Abgeordneter, für die Bundesregierung ist dieser Fall damit nicht erledigt. Auch wenn es bisher keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß die Regierung der DDR sich zu korrigieren bereit ist, wird die Bundesregierung dieses Thema weiter verfolgen. Zwei Gesichtspunkte müssen dabei allerdings beachtet werden.. Erstens. Wir haben keine Möglichkeit, die Verantwortlichen in Ost-Berlin zu einer Revision dieser von uns als unbegründet angesehenen Entscheidung zu zwingen. Wir können nur versuchen, sie zu überzeugen. Zweitens. Wir wollen keine Repressalien ergreifen, weil das unserem Verständnis vom Grundgesetz zuwiderliefe und wir uns unser Handeln nicht von den Aktionen der anderen Seite vorschreiben lassen sollen.Trotz der Schlußakte von Helsinki und trotz unserer bilateralen Vereinbarungen mit der DDR über die Arbeit der Korrespondenten mußte jedem klar sein, daß Journalisten in der DDR unter anderen Bedingungen arbeiten als bei uns. Man hat in der DDR — ich sage Ihnen damit nichts Neues — ein sehr anderes Verständnis von den Notwendigkeiten einer freien und kritischen Presse. Wir können nur Mal um Mal hartnäckig argumentieren, daß es auch im wohlverstandenen Interesse der DDR liegen sollte, sich nach dem friderizianischen Wort zu richten, daß die Zeitungen nicht geniert werden sollen. Ausweisungen von Journalisten, die es auch früher und anderswo im kommunistischen Bereich gegeben hat, sind fast immer das Eingeständnis von Unsicherheit oder Schwäche.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es nicht eine angemessene, die DDR zur Einsicht bringende Antwort der Bundesregierung gewesen, einen DDR-Journalisten aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen?
Bölling, Staatssekretär: Zu dieser Frage, Herr Abgeordneter Rollmann, haben wir damals, als diese Anregung von dem einen oder anderen — Sie werden sich erinnern: von sehr wenigen — gekommen ist, ganz klar Stellung genommen. Wir — das habe ich soeben in dem letzten Satz ausdrücklich gesagt — lassen uns unser Handeln in einem freien, rechtlich organisierten Staat nicht von den Entscheidungen vorschreiben, die drüben für richtig gehalten werden.
Eine weitere Zusatzfrage.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14645
Herr Staatssekretär, hat Staatssekretär Gaus bei seinen Gesprächen mit der Regierung der DDR Garantien verlangt und erhalten, daß sich solche Vorfälle nicht wieder ereignen?
Bölling, Staatssekretär: Sie werden sich vielleicht erinnern, Herr Abgeordneter, daß Herr Staatssekretär Gaus — Sie wissen, daß er hier als ehemaliger Journalist auch ein persönliches Interesse nimmt —den Verantwortlichen in der DDR mit allem Nachdruck gesagt hat, daß solche Entscheidungen nicht ohne Wirkungen auf die allgemeinen Beziehungen zwischen uns und der DDR bleiben könnten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatssekretär, war die Reaktion der DDR auf die Vorsprache des Staatssekretärs Gaus nicht zu erwarten als Reaktion auf die überaus schwächliche Haltung der Bundesregierung, die darin lag, daß sie trotz der Ausweisung des Herrn Mettke anderntags die Erhöhung der Transitpauschale von 243 auf 400 Millionen DM durch unseren Unterhändler unterschreiben ließ, ohne damit die Forderung zu verbinden, .daß die DDR zum Recht und zu den Vereinbarungen zurückkehrt?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Jäger, den Eindruck der Schwächlichkeit kann keiner gehabt haben, der diesen Sachverhalt nicht polemisch sehen will. Zwischen diesen beiden Vorgängen mögen Sie einen Zusammenhang herstellen; wir haben die Verkehrsvereinbarungen im Interesse der Berliner und der Bürger der Bundesrepublik abgeschlossen, haben in hartnäckigen Verhandlungen einen fairen Kompromiß ausgehandelt. Schwächlich kann die Reaktion, kann der Protest mit Sicherheit nicht gewirkt haben; denn der Bundeskanzler selber hat in aller Öffentlichkeit deutlich gemacht, daß dieser Vorgang für ihn einen prinzipiellen politischen Charakter hat und daß der Fall Mettke für ihn als Regierungschef nicht ausgestanden ist. Ich weiß nicht, wie einer darauf kommen kann, hierin eine schwächliche Reaktion zu sehen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Da der Schritt von Herrn Staatssekretär Gaus schon wieder genau zehn Tage zurückliegt, frage ich: Sieht die Bundesregierung überhaupt eine Chance, daß die Ausweisung von Herrn Mettke seitens der Ostberliner Regierung zurückgenommen wird?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter Hupka, meine Bemerkung, daß die Angelegenheit Mettke für die Bundesregierung nicht erledigt sei, war keine rhetorische Floskel. Aber Sie werden mir vielleicht konzedieren, daß es sehr unzweckmäßig wäre, in diesem Augenblick öffentlich darüber nachzudenken, wie wir unseren Protest gegen die Ausweisung von Mettke gegebenenfalls verdeutlichen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Berger.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie uns vorgetragen haben, daß sich Herr Staatssekretär Gaus am 17. Dezember ausdrücklich weitere Schritte vorbehalten hat, und nachdem für mich nach Ihren Ausführungen vieles im unklaren geblieben ist, möchte ich Sie fragen: Wie sehen denn nun eigentlich ganz konkret die Schritte aus, die die Bundesregierung gegen die auch von ihr empfundene Verletzung von Vereinbarungen unternehmen wird?
Bölling, Staatssekretär: Meine Antwort auf diese Frage, Frau Abgeordnete, habe ich eben dem Herrn Abgeordneten Hupka gegeben. Unsere Rechtsauffassung stand im Mittelpunkt der beiden Proteste. Alles andere, was wir in dieser Sache unternehmen, öffentlich zu annoncieren, wäre sicher auch nach Ihrer Meinung politisch verfehlt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Tietjen.
Herr Staatssekretär, in Ihrer sehr ausführlichen Antwort, die Sie vorhin dem Fragesteller gegeben haben, haben Sie erklärt, daß die Bundesregierung eine Sippenhaftung für das, was mit dem Spiegel-Journalisten geschehen ist, ablehne und dies der Regierung der DDR deutlich gemacht habe. Ich möchte Sie fragen, ob die erste Zusatzfrage des Abgeordneten Rollmann, den ich hier zur Zeit nicht mehr im Saal sehe, nicht auch eine Sippenhaftung und einen Rückfall in die Phase des kalten Krieges bedeutet. Ich meine damit die Ausweisung eines Journalisten der DDR-Presse.
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, eine solche Repressalie würde mit Sicherheit gegen Sinn und Geist der Schlußakte von Helsinki verstoßen, an die wir uns halten und auch halten werden, wenn andere sie nicht ernst zu nehmen bereit sind.
Im übrigen darf ich daran erinnern, daß auch die DDR-Korrespondenten, die in Bonn arbeiten, nach unserer Auffassung — darüber gibt es zwischen den Fraktionen in diesem Hohen Haus wohl keinen Streit — nach Art. 116 GG Deutsche sind.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Braun.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß solche Vereinbarungen mit der DDR in Zukunft klarer gefaßt werden, damit sich solche Vorfälle nicht wiederholen können?Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, wenn Sie darauf anspielen wollen, daß die Ausweisung
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14646 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Staatssekretär Böllingvon Herrn Mettke womöglich dadurch motiviert ist, daß die Verabredungen unklar seien, so bin ich gern bereit, Ihnen zu dokumentieren, daß die Verabredungen sonnenklar waren.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Nordlohne.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß sich im Zusammenhang mit dem Thema Sippenhaftung als erstes ein Mitglied der SPD-Fraktion, nämlich Kollege Ahlers, öffentlich dazu geäußert hat?
Bölling, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich glaube, die Äußerung des Abgeordneten Ahlers ist auch dem Fragesteller nicht verborgen geblieben. Aber es ist ja sein gutes Recht, eine andere Meinung zu haben als sein Fraktionskollege Ahlers.
Keine Zusatzfrage mehr. Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts beantwortet. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Moersch zur Verfügung.
Ich rufe die Fragen 92 und 93 des Abgeordneten Dr. Becher auf:
Wie viele Deutsche sind auf Grund des Briefwechsels über humanitäre Fragen vom 11. Dezember 1973 in den Jahren 1974 und 1975 aus der CSSR in die Bundesrepublik Deutschland gekommen?
Auf welche Weise will die Bundesregierung erreichen, daß die tschechoslowakische Regierung, ohne zusätzliche Leistungen wirtschaftlicher oder sonstiger Art zu verlangen, ihren im Prager Vertrag vom 11. Dezember 1973 sowie in seinen Begleitbriefen gemachten Zusagen und übernommenen Verpflichtungen nachkommt?
Herr Abgeordneter, nach den Unterlagen des Deutschen Roten Kreuzes sind 1974 387 und 1975 518, in den beiden Jahren nach Unterzeichnung des deutsch-tschechoslowakischen Vertrags somit insgesamt 905 Deutsche aus der CSSR in die Bundesrepublik Deutschland umgesiedelt.
Die Bundesregierung hat in deutschtschechoslowakischen Gesprächen seit Inkrafttreten des deutsch-tschechoslowakischen Vertrags vom 11. Dezember 1973 wiederholt auf die unbefriedigende Entwicklung der Umsiedlung hingewiesen. Die tschechoslowakische Seite hat daraufhin in Aussicht gestellt, daß die zur Durchführung des humanitären Briefwechsels erforderlichen Maßnahmen, insbesondere entsprechende Anweisungen an die zuständigen Behörden, eingeleitet würden. Die Durchführung hat sich offenbar länger hingezogen, als wir insbesondere auf Grund der von Minister Genscher im
vergangenen Jahr in Prag geführten Gespräche erwartet haben. Auf Grund eines Gesprächs, das Botschafter Ritzel Ende vergangenen Jahres mit Präsident Husak geführt hat, gehen wir davon aus, daß nunmehr die administrativen Voraussetzungen gegeben sind.
In diesem Sinne hat auch das Tschechoslowakische Rote Kreuz das Deutsche Rote Kreuz bei den Gesprächen am 25./26. November in Hamburg unterrichtet. Bereits 1975 ist ein weiterer Anstieg der Umsiedlerzahlen zu verzeichnen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß sich die von der tschechoslowakischen Regierung getroffenen Maßnahmen für 1976 voll auswirken werden.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, daß die von Ihnen genannten an und für sich schon niedrigen Zahlen sich nur zu zwei Dritteln aus deutschen Aussiedlern zusammensetzen, die auf Grund des Briefwechsels über humanitäre Fragen ausgesiedelt wurden, während sich ein weiteres Drittel im Zuge normaler Besuchsreisen absetzte und registrieren ließ?
Moersch, Staatsminister: Die Bundesregierung hat selbstverständlich die Zahlen über die von ihr erteilten Sichtvermerke, und daraus geht hervor, daß die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1974 179 und im Jahre 1975 338 Sichtvermerke erteilt hat. Die von mir genannte Zahl war die Gesamtzahl.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, teilt die Bundesregierung den in der Öffentlichkeit entstandenen zwingenden Eindruck, daß die tschechoslowakische Regierung die Aussiedlerzahlen vertragswidrigerweise nur deshalb in der Nähe des Nullpunktes gehalten hat, um sie angesichts eines Zahlungsbilanzdefizits von nahezu einer Milliarde DM als Hebel für weitere politische und finanzielle Zugeständnisse zu gebrauchen?
Moersch, Staatsminister: Die Bundesregierung, Herr Abgeordneter, hat keinen Anhaltspunkt für eine derartige Interpretation. Ich habe auf die jüngsten Gespräche und auf die administrativen Voraussetzungen hingewiesen. Die Bundesregierung hat ihre Meinung auch bestätigt gefunden durch die Gespräche, die das Deutsche Rote Kreuz geführt hat. Ich darf ausdrücklich darauf verweisen, daß die tschechoslowakische Regierung die Umsiedlerfrage in keinerlei Zusammenhang mit finanziellen Forderungen gebracht hat. Es liegt eine eindeutige tschechoslowakische Äußerung vor, die unter Bezugnahme auf entsprechende Behauptungen in Presseorganen in unserem Land jeden Gedanken an eine Verquickung der Umsiedlung mit finanziellen Forderungen nachdrücklich zurückweist.
Weitere Frage.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14647
Herr Staatsminister, kann die Bundesregierung unter der Voraussetzung, daß das, was Sie eben sagten, zutrifft, nicht durchsetzen, daß man die vom Deutschen Roten Kreuz — soviel ich weiß — zunächst 4 000 bis 5 000 aktualisierten Aussiedlungsgesuche schnell und ohne Schikanen erledigt, indem man sie mit der Aufforderung zur wohlwollenden Behandlung vom tschechoslowakischen Innenministerium direkt an die unteren Behörden weitergibt, statt sie wie bisher im Instanzenweg von unten nach oben abzudrosseln?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wir haben das Thema der Komplikation der Verwaltungswege nachdrücklich in diesen Gesprächen angeschnitten und haben dazu Auskünfte bekommen, von denen ich gesagt habe, daß sie uns zu der Hoffnung Anlaß geben, daß sich im Jahre 1976 positive Auswirkungen zeigen werden. Ich möchte jetzt in dieser öffentlichen Debatte über diese Aussage nicht hinausgehen.
Noch eine Frage.
Herr Staatsminister, kann sich die Bundesregierung angesichts der Tatsache, daß — aus welchen Gründen auch immer — offenbar sehr wenig Deutsche aussiedeln können und viele drüben bleiben müssen, nicht dafür einsetzen, daß der großen Zahl der in ihrer angestammten Heimat verbliebenen Deutschen die selbstverständlichen Voraussetzungen eines Minderheiten- und Volksgruppenlebens, nämlich eigene deutsche Schulen und die Möglichkeit freien Informationsaustausches mit den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland, ermöglicht werden?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich bin bereit, über all diese Fragen im einzelnen im Auswärtigen Ausschuß detaillierter Auskunft zu geben. Ich will hier nur soviel sagen, daß es in der letzten Zeit bedauerliche Fehlinterpretationen der Zahlen gegeben hat, die hier in Frage kommen. Inzwischen ist aufgeklärt, daß z. B. Besucherzahlen von Veranstaltungen verwechselt worden sind mit der Zahl der Deutschen, die in der Tschechoslowakei leben und daß die von Ihnen selbst genannte Zahl der aktualisierten Fälle von Aussiedlungswilligen erheblich abweicht von all dem, was früher vermutet worden ist.
Darüber, daß wir uns, wo immer es in politischen Gesprächen und Verhandlungen möglich ist, bemühen wollen, Personen deutscher Volkszugehörigkeit, ganz besonders aber solchen, die die deutsche Staatsangehörigkeit beanspruchen können, ein möglichst hohes Maß an kultureller Befähigungsmöglichkeit zu verschaffen, kann es keinerlei Differenzen geben. In solche Gespräche einzutreten ist jedoch überhaupt erst möglich, seit wir entgegen dem Ratschlag vieler in diesem Hause diplomatische Beziehungen mit Staaten aufgenommen haben, mit denen es solche Gesprächsthemen gibt.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Ey.
Herr Staatsminister, wie vereinbart die Bundesregierung die Regelung über humanitäre Fragen mit der CSSR mit der Tatsache, daß auf dem Flugplatz Prag gerade kürzlich zu Weihnachten erneut Bürger der Bundesrepublik wegen angeblicher Hilfe zur Flucht aus der DDR festgenommen und bisher nicht wieder freigelassen wurden?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich glaube, der Tatbestand, den Sie in der Frage anschneiden, steht mit der ursprünglich von Herrn Dr. Becher gestellten Frage in keinem Zusammenhang.. Ich müßte von Ihnen eine konkretisierte Frage haben; dann könnte ich Ihnen die erbetene Antwort geben.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Friedrich.
Herr Staatsminister, nachdem Sie in Ihrer vorletzten Antwort bereits einen Teil meiner vorgesehenen Frage beantwortet haben: Können Sie bestätigen, daß der stellvertretende Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, Dr. Schilling, gestern im Auswärtigen Ausschuß ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß die zu verifizierenden Zahlen in der CSSR weit niedriger sind, als sie bisher genannt worden sind?
— Ich habe die Zahlen nicht genannt.
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich habe versucht, das eben anzudeuten. Ich bin sicher, daß auch der Kollege Dr. Becher, der in einer Zusatzfrage eine Zahl genannt hat, das damit zum Ausdruck bringen wollte, auch wenn diese Absicht vielleicht nicht ganz deutlich geworden war.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Herr Staatsminister, Sie haben soeben die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Prag lobend herausgestellt. Wie erklären Sie sich dann, daß vor Aufnahme diplomatischer Beziehungen weit mehr Deutsche haben aussiedeln können als nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen, im Jahre 1970 4 200, im Jahre 1971 2 300 und sogar vor dem „Prager Frühlung" 5 900, während es jetzt nur 516 gewesen sind?Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, Sie haben durch die Nennung von Jahreszahlen schon
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14648 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Staatsminister Moerschindirekt darauf hingewiesen, daß sich die politischen Verhältnisse in der Tschechoslowakei geändert haben.Aber ich möchte Sie darauf hinweisen, daß ich die Zahlen, die Herr Dr. Becher genannt hat hinsichtlich derjenigen, deren Aussiedlungswünsche aktualisiert worden sind, im einzelnen nicht nennen kann. Sie würden dann sicherlich verstehen, daß die Realität dessen, was im Augenblick an Aussiedlungswünschen tatsächlich vorliegt, und dessen, was von Ihnen und von uns auf Grund früherer Aussiedlungswünsche an Zahlen ursprünglich zugrunde gelegt wurde, ganz offensichtlich erheblich — und zwar um ein Mehrfaches — auseinanderklafft. Daraus kann natürlich geschlossen werden, daß sich die tatsächliche Zahl der Aussiedlungswilligen in den vergangenen Jahren nach unten verändert hat. Daraus folgt dann auch die Antwort auf Ihre Frage.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Herr Staatsminister, weil Sie sagen, daß sich die Zahl verändert haben könne: Ist das nicht vielleicht darauf zurückzuführen, daß eben der Druck der Machthaber auf diejenigen, die aussiedeln wollen, größer geworden ist?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, es kann doch gar kein Zweifel bestehen, daß es Jahre gab, in denen diejenigen, die als Deutsche noch in der Tschechoslowakei verblieben waren und in die Bundesrepublik kommen wollten, Gelegenheit hatten, ohne weitere Komplikationen in die Bundesrepublik auszureisen. Das erklärt, weshalb es heute sehr viel weniger sind als 'aus anderen Ländern, wo diese Möglichkeit nicht bestand.
— Weit nach 1967.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatsminister, können Sie uns in Ergänzung der Darlegung der Schwierigkeiten, die Sie jetzt selbst aufgezeigt haben, sagen, daß wenigstens jetzt in allen Kreisbehörden die Anträge Deutscher auf Ausreise entgegengenommen und tatsächlich behandelt werden oder ob die Entgegennahme weiterhin wie vor dem Besuch von Herrn Genscher verweigert wird?
Moersch, Staatsminister: Ich habe dem Kollegen Dr. Becher auf diese Frage, die er implizite gestellt hat, bereits eine Antwort gegeben. Ich darf Sie darauf verweisen. Ich hoffe, sie war umfassend und klar genug.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Da Sie aber vorher nicht gesagt haben, Herr Staatsminister, ob diese Anträge jetzt entgegengenommen werden, sondern nur, daß Herr Genscher darüber gesprochen und verhandelt hat, frage ich Sie noch einmal: Was zeigen die Erfahrungen der deutschen Botschaft in Prag? Werden diese Anträge entgegengenommen, oder können Sie uns das Gegenteil sagen?
Moersch, Staatsminister: Ich habe vorhin gesagt — und ich wiederhole das —, daß ich bereit bin, dem Auswärtigen Ausschuß über die jetzt nach den letzten Gesprächen praktizierten Einzelheiten Auskunft zu geben, wenn ich die entsprechenden Unterlagen vor mir habe.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Fragen 94 und 95 werden auf Wunsch der Fragestellerin schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 96 der Abgeordneten Frau Berger auf:
Sieht die Bundesregierung in der Forderung der Sowjetunion, zu den Weltmeisterschaften der Eissprinter am 6. und 7. März 1976 in Berlin eine gesonderte Einladung des Berliner Senats zu erhalten, einen Verstoß gegen das Viermächteabkommen?
Moersch, Staatsminister: Auch hier, Frau Abgeordnete, habe ich die Bitte, beide Fragen zusammen beantworten zu dürfen.
Die Fragestellerin ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 97 der Abgeordneten Frau Berger auf:Hat die Bundesregierung Kontakte mit dem Berliner Senat aufgenommen, um eine einheitliche Haltung sicherzustellen und die Forderung der Sowjetunion zurückzuweisen?Moersch, Staatsminister: Das Viermächteabkommen vom 3. September 1971 sieht in seiner Anlage IV A/B Ziffer 2 d hinsichtlich der Modalitäten der Einladung zu internationalen Veranstaltungen in Berlin folgende Regelung vor—ich zitiere—:Einladungen werden vom Senat oder gemeinsam von der Bundesrepublik Deutschland und dem Senat ausgesprochen.Die Bundesregierung hat diese Regelung und ihre praktische Anwendung, die bei den deutsch-sowjetischen Expertengesprächen im Oktober 1973 besprochen wurde, bei Einladungen zu Veranstaltungen im staatlichen Bereich eingehalten und wird dies auch weiterhin tun. Die Bundesregierung empfiehlt bei Veranstaltungen im nicht staatlichen Bereich eine entsprechende Anwendung dieser Regelung, d. h. eine Einladung durch die jeweilige Dachorganisation im Bundesgebiet und eine zweite Einladung durch die entsprechende Berliner Organisation.Zweitens. Zu den Einladungsmodalitäten bei den Sprintweltmeisterschaften im Eisschnellaufen ist folgendes auszuführen. Die Formel, mit der zu dieser
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14649
Staatsminister MoerschWeltmeisterschaft eingeladen worden ist, lautet — ich zitiere —:Die Deutsche Eisschnellaufgemeinschaft und der Berliner Eissportverband haben die Ehre und Freude, im Auftrag des Deutschen Eissportverbandes Ihnen hiermit die Einladungen zur Teilnahme an den Sprintweltmeisterschaften im Eisschnellaufen für Damen und Herren 1976 auf der Kunsteisbahn in Berlin-Wilmersdorf am 6. und 7. März 1976 zu überreichen.Die zuständigen Sportverbände waren der Meinung, daß der besonderen Lage Berlins dadurch Rechnung getragen worden sei, daß als Einladender nicht nur die Deutsche Eisschnellaufgemeinschaft, sondern auch der Berliner Eissportverband auftreten.Die Entscheidung über die zu verwendende Einladungsformel erfolgte, Frau Abgeordnete, in eigener Zuständigkeit der betroffenen Verbände. Die Bundesregierung steht in dieser Angelegenheit mit dem Deutschen Sportbund in Verbindung. Sie respektiert jedoch die Unabhängigkeit und eigene Entscheidungsbefugnis des Deutschen Sportbundes. Ebenso steht die Bundesregierung in ständigem Kontakt mit dem Berliner Senat.Der Berliner Senat hat am 6. Januar 1976 entschieden, daß eine zusätzliche Einladung durch ihn nicht vorgesehen werden könne, da es sich nicht um eine Veranstaltung staatlichen Charakters handelt. Mit dieser Entscheidung wurde allerdings die Frage, ob sich der Berliner Eissportverband gegenüber dem sowjetischen Partner noch einmal zu Wort melden soll, nicht berührt. Diese Frage zu entscheiden liegt allein beim Deutschen Sportbund und den ihm angeschlossenen Verbänden.Zu Frage 97: Die Bundesregierung hat in dieser Angelegenheit in engem Kontakt mit dem Senat von Berlin gestanden, wie aus meinen vorhergehenden Ausführungen schon hervorgeht.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wie lautet die Formel vom Herbst 1973, die laut Staatssekretär Grünewald zur Anwendung empfohlen worden ist und die, wie auch von Ihnen erwähnt, für alle nichtstaatlichen und wohl auch für alle nichtparlamentarischen Veranstaltungen, also auch für den Sprinterverband, gelten soll?
Moersch, Staatsminister: Frau Abgeordnete, mir ist eine besondere Formel außer der für staatliche Veranstaltungen, die ich vorgetragen habe, im Augenblick nicht gegenwärtig, und ich hatte darauf hingewiesen, daß wir uns analoge Formeln vorstellen und daß dies auch bisher so praktiziert worden sei.
— Ich müßte mir dann den Text dessen, was Herr
Grünewald gesagt hat, eben noch einmal ansehen.
Ich habe das nur im Auszug hier und bitte um Verständnis.
Der Regierungssprecher hat meiner Ansicht nach exakt das gesagt, was ich hier vorgetragen habe, wenn ich das hier in den Unterlagen recht sehe. Ich fürchte, es ist ein Mißverständnis entstanden, weil nicht allen klar war, daß er von staatlichen und von nichtstaatlichen Organisationen gesprochen hat. Das hat er ausdrücklich getan. Ob das die Agenturen auch immer genauso gemeldet haben, ist mir nicht klar; ich sehe, daß eine dieser Meldungen offensichtlich zurückgezogen worden ist.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wäre es nicht Sache der drei Westmächte, Lücken im Viermächteabkommen — in diesem Falle also an der von Ihnen zitierten Stelle — durch Interpretationen und Formeln auszufüllen, und läuft die Bundesregierung nicht Gefahr, das von ihr eingeführte Formeln auch zu Fehlinterpretationen des Abkommens führen könnten?
Moersch, Staatsminister: Das glaube ich nicht, Frau Abgeordnete. Ich glaube, daß die Formulierungen im Viermächteabkommen für die staatlichen Instanzen — und die haben ihre Verantwortung — völlig klar sind. Wenn autonome Organisationen wie Sportorganisationen einladen, stehen sie dabei sicher in Kontakt mit den staatlichen Instanzen; aber ich habe ausdrücklich gesagt, es liegt in ihrer eigenen Zuständigkeit, eine Formel zu verwenden und zu entscheiden, welches ihrer Ansicht nach die notwendige Form ist. Wenn der Partner anderer Meinung ist, bleibt das eine Sache der nichtstaatlichen Organisationen.
Wir stehen in dieser Frage selbstverständlich — wie in allen Fragen, die den Status von Berlin und das Viermächteabkommen betreffen — in engem Kontakt mit denen, die das Viermächteabkommen zu verantworten haben, d. h. mit denen, die die Unterschrift geleistet haben, die Signatarmächte sind, hier insbesondere mit den drei Westmächten. Was ich vortrage, geschieht selbstverständlich — dessen bin ich sicher — in Übereinstimmung mit der Haltung der Drei Mächte, die mit uns in der Vierergruppe auf diesem Gebiet zusammenarbeiten.
Noch eine Zusatzfrage? — Bitte!
Herr Staatsminister, nachdem Sie das Stichwort Erklärung des Senats am 6. Januar gegeben haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie die Auffassung teilen, daß die vor diesem Zeitpunkt öffentlich gemachten und recht widersprüchlichen Äußerungen des Berliner Senats bei Verbänden zu Überlegungen führen könnten, bei der Vergabe von Veranstaltungen nach Berlin vorsichtiger zu sein, um möglichen Ärger zu vermeiden.
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14650 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Moersch, Staatsminister: Frau Abgeordnete, ich glaube nicht, daß man hier Schlußfolgerungen dieser Art ziehen sollte. Manches ist kompliziert und deswegen verwirrend; aber es ist nicht ohne weiteres widersprüchlich. Dies ist ein Unterschied. Ich möchte noch einmal versuchen, die Sachlage zu klären. Sie geben mir dazu willkommene Gelegenheit.Die Bundesregierung ist der Meinung, daß im Bereich der staatlichen Einladungen nach Berlin im Prinzip eine zweite, getrennte Einladung durch den Senat von Berlin gemäß der oben von mir genannten Regelung im Viermächteabkommen erforderlich ist. Im nichtstaatlichen Bereich hält die Bundesregierung eine analoge Anwendung der einschlägigen Bestimmung des Viermächteabkommens für zweckdienlich. Sie geht davon aus, daß eine Regelung, die im staatlichen Bereich die Zustimmung der Alliierten und der Bundesregierung gefunden hat, auch im nichtstaatlichen Bereich praktikabel ist. Das ist die Meinung der Bundesregierung. Dadurch kann die Einbeziehung Berlins in das internationale Leben auf zahlreichen bisher nicht ausschöpfbaren Gebieten sichergestellt werden. Ich glaube, in diesem Ziel sind wir sicher einig.
Noch eine Frage? — Die letzte.
Herr Staatsminister, nachdem sich gezeigt hat, daß die Situation ganz offensichtlich höchst kompliziert ist, möchte ich Sie fragen: Hat die Bundesregierung auf Grund dieser Erfahrungen mit den Spitzenverbänden des Sports und auch mit den Ländern Gespräche geführt oder wird sie solche Gespräche führen, um bei künftigen Anlässen eine einheitliche Haltung sicherzustellen?
Moersch, Staatsminister: Frau Abgeordnete, ich muß auf die Verantwortung der Verbände hinweisen. Die Bundesregierung hat sich niemals einem Gespräch dieser Art entzogen. Sie ist jederzeit auch zur Fortsetzung der Gespräche bereit. Wir haben in dieser Materie selbstverständlich einen Gesprächskontakt; ich habe das schon erwähnt. Ich bin sicher, daß Ihre beiden Fragen in dieser Fragestunde den Herren, die hier eine Verantwortung in eigener Zuständigkeit besitzen, in ausreichendem Maße zur Kenntnis gebracht werden können.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Müller.
Herr Staatsminister, ist diese Form der Einladungen, sei es auf staatlichem oder nichtstaatlichem Gebiet, wie Sie sie soeben vorgetragen haben, nach Auffassung der Bundesregierung dem Viermächteabkommen gemäß, oder will sich die Bundesregierung nur keine größeren Schwierigkeiten bereiten?
Moersch, Staatsminister: Nein, Herr Abgeordneter, das habe ich sehr genau beantwortet. Ich kann
nur noch einmal den Wortlaut zitieren. Im Abkommen steht — ich will die Ziffer jetzt nicht wiederholen; ich habe sie vorhin genannt — wörtlich — und das ist verbindlich —:
Einladungen werden vom Senat oder gemeinsam von der Bundesrepublik Deutschland und dem Senat ausgesprochen.
Wir haben nichtstaatlichen Organisationen die Empfehlung zu geben, eine analoge Praxis anzuwenden. Es liegt im Ermessen dieser Organisationen, ob sie das tun wollen. Ich glaube, hier ist überhaupt kein Zweifel möglich. Ich muß in diesem Fall zwischen der staatlichen Verantwortung und dem nichtstaatlichen Bereich unterscheiden, wie dieser Fall zeigt.
Eine weitere Frage des Herrn Abgeordneten Müller.
Herr Staatsminister, findet diese Form der Einladung ausschließlich gegenüber der Sowjetunion und deren Bereich oder auch gegenüber anderen Staaten Anwendung?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, das Viermächteabkommen ist nicht an einen bestimmten Staat gerichtet, sondern hat internationale Geltung. Es gibt im nichtstaatlichen Bereich die Möglichkeit, daß jemand in Berlin telefoniert und sagt: „Kommen Sie einmal her" und der Betreffende kommt, während ein anderer nicht kommt. Es gibt doch nicht die Möglichkeit, solches in Staatsverträgen oder in internationalen Abkommen zu regeln. Ich kann nur für Veranstaltungen staatlichen Charakters reden und kann anderen sagen: Wenn es sich um Verbände handelt, empfiehlt sich eine analoge Anwendung. Kein Abkommen enthält irgendeinen bestimmten Adressaten. Ich glaube, hier besteht ein grundsätzliches Mißverständnis über das Wesen des Viermächteabkommens.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, können Sie uns darüber Auskunft geben, weshalb es die Bundesregierung bisher nicht oder erst jetzt an Hand dieses Falles für notwendig erachtet hat, diesen Fragenkomplex und insbesondere die hier bestehenden Formeln oder Absprachen im Innerdeutschen Ausschuß zur Sprache zu bringen, wo der richtige Platz dafür wäre?Moersch, Staatsminister: Herr Jäger, bei der Frage bin ich überfordert. Ich weiß, daß im Innerdeutschen Ausschuß und anderswo das Viermächteabkommen gründlich behandelt worden ist.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Ihrem Scharfsinn entgangen sein kann, daß hier irgendwann einmal ein solcher Fall auftreten könnte.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14651
Staatsminister MoerschDer Fall, der jetzt aufgetreten ist, hat es so bisher noch nicht gegeben, daß nämlich jemand glaubt, er habe die richtige Form gewählt, wenn er sagt: „Ich lade für mich und für den und den ein" und dafür nur einen Briefkopf verwendet. Das ist doch das Faktum, um das es hier geht und an dem sich die Debatte entzündet hat. Ich bin sicher, daß eine Darstellung im Ausschuß für Sie in diesem Zusammenhang nicht den geringsten Neuigkeitswert hätte.
Noch eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, wenn ich davon ausgehen darf, daß der deutschen Öffentlichkeit und dein Parlament diese sogenannte Formel bislang völlig unbekannt war, teilen Sie dann nicht meine Auffassung, daß eine rechtzeitige Beratung mit den zuständigen parlamentarischen Gremien erforderlich gewesen wäre, ehe man es zu solchen Konflikten kommen ließ?
Moersch, Staatsminister: Das hätte wohl kaum genützt, wenn das alle gemerkt hätten; denn der Deutsche Sportbund ist im Innerdeutschen Ausschuß nicht vertreten und die Eislaufgemeinschaft, soweit ich weiß, auch nicht.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 98 des Abgeordneten Sauer und die Frage 99 des Abgeordneten Roser sollen auf Bitten der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 100 des Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Welche Erklärung kann die Bundesregierung dafür abgeben, daß in der Nürnberger Durchgangsstelle 1975 35 Prozent Aussiedler — vor allem aus Rumänien — weniger registriert worden sind als 1974?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, Zahlen einer Durchgangsstelle sind nur von geringem Aussagewert für die Gesamtentwicklung der Umsiedlungen. Eine Betrachtung ausschließlich in Prozentzahlen ist angesichts der unterschiedlichen Ausreiseentwicklungen aus den einzelnen Ländern sicherlich problematisch. Es trifft aber zu, daß im Jahre 1975 mit Ausnahme der Umsiedler aus der CSSR insgesamt ein Rückgang der Zahlen zu verzeichnen ist. Eine Erklärung, die diese Entwicklung auf einen eindeutigen Trend zurückführt, ist nicht möglich. Die Zahlen sind sowohl nach Ländern als auch nach Monaten sehr unterschiedlich. Anhaltspunkte für eine generell restriktive Genehmigungspraxis liegen für keines der in Frage kommenden Länder vor. Auch in der Vergangenheit waren die Umsiedlerzahlen zum Teil starken Schwankungen unterworfen, ohne daß daraus auf eine grundsätzliche politische Entscheidung in den jeweiligen Staaten hätte geschlossen werden können.
Die rumänische Regierung — Sie erwähnen dieses Land in Ihrer Frage besonders — hat sich zwar gegen eine Auswanderungsbewegung gewandt und ,an die Ausreisewilligen appelliert, im Land zu bleiben. Sie hat aber, was die Familienzusammenführung betrifft, beim Besuch des Bundesministers des Auswärtigen in Bukarest erklärt, auch weiterhin Ausreisegenehmigungen zum Zwecke der Familienzusammenführung zu erteilen. Es ist daher anzunehmen, daß die Zahlen der Ausreisen aus Rumänien in diesem Jahr wieder ansteigen werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, zunächst muß ich eine Korrektur an meiner eigenen Frage vornehmen. Es sind nicht 35 °/o, sondern 40 °/o, die aus Rumänien weniger gekommen sind.
Nun die Frage: Wie erklärt die Bundesregierung, daß trotz ständiger Gespräche zwischen offiziellen Vertretern der Bundesrepublik Deutschland und offiziellen Vertretern Rumäniens die Zahl der Aussiedler aus Rumänien in so erschreckender Weise rückläufig ist?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat in früheren Fragestunden darauf hingewiesen, daß es sich hier um eine Problematik handelt, die offensichtlich auch von den Betroffenen sehr verschiedenartig gesehen wird. Ich verweise auch auf Erklärungen der zuständigen Landsmannschaften, die keineswegs etwa der Meinung waren, man sollte eine Umsiedlung aus Siebenbürgen, aus dem Banat verstärken. Ich kann die Entwicklung ich habe das schon in der ersten Antwort gesagt — im einzelnen nicht auf eine bestimmte Ursache zurückführen. Wir haben einfach die Tatsache registriert und haben sie in den Gesprächen in Bukarest am Ende des Jahres aufgenommen. Wir haben Erklärungen bekommen, auf Grund deren ich annehmen darf, wie ich gesagt habe, daß die Ausreisezahlen wieder steigen werden. Sie alle kennen sicher auch die Rede, die der rumänische Staatschef zu dieser Frage gehalten hat. Sie ist im „Neuen Weg" abgedruckt. Ich bedaure, daß der Kollege Roser seine Frage schriftlich beantwortet haben wollte. Ich hätte das sonst vorher hier vorgetragen. Dann würde es etwas leichter sein, das im einzelnen darzulegen. Ich verweise aber auf diese Antwort, die im Protokoll erscheinen wird.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, zunächst, damit kein Mißverständnis aufkommt: Niemand erhebt hier die Forderung, daß sich die Siebenbürger Sachsen oder die Banater Schwaben aussiedeln lassen sollen. Nur, wer den Wunsch äußert, sich aussiedeln zu lassen, muß ja immerhin damit rechnen dürfen, daß wir hier für ihn eintreten.Nun die Frage: Wäre nicht gerade im Hinblick auf die Schlußakte von Helsinki auch durch Gespräche zwischen Bonn und Bukarest eine Beschleunigung in der Billigung der Ausreise zu erreichen?
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14652 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Bundesregierung, die der Schlußakte von Helsinki im Gegensatz zu vielen Mitgliedern dieses Hauses ausdrücklich zugestimmt hat, hat sich gerade in den Gesprächen, die ich erwähnt habe, auf diese Schlußakte berufen.Ich möchte aber hier, um ein weiteres Mißverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen — Ihre Frage gibt dazu zwar keinen Anlaß, aber die Öffentlichkeit hat ja manchmal Schwierigkeiten, das alles genau zu verstehen, wie wir vorhin gesehen haben —, doch darauf hinweisen, daß es sich hier um Volksgruppen handelt, die zum Teil viele hundert Jahre in diesem Gebiet leben, um Menschen, deren Vorfahren schon vor bis zu 800 Jahren dort ansässig waren. Es geht nur in höchst seltenen Fällen um deutsche Staatsbürger, sondern um Menschen deutscher Volkszugehörigkeit, für die wir — wie andere Staaten auch — auf Grund ihrer kulturellen Verbundenheit sozusagen ein Wort einzulegen in der Lage sind. Dies haben wir bisher getan.Herr Abgeordneter Hupka, ich möchte hier hinzufügen:Es könnte sein, daß, wenn es in der Vergangenheit relativ unkompliziert möglich war, bestimmte Härtefälle zu lösen, dies auch darauf zurückzuführen war, daß dieses Thema nicht besonderer Gegenstand von Fragen und Antworten im Deutschen Bundestag und einer öffentlichen Behandlung gewesen ist.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Czaja.
Herr Staatsminister, nachdem wir uns hier in den Fragestunden regelmäßig auch mit der menschenrechtlichen Situation Deutscher in diesen Gebieten befaßt haben, frage ich Sie, ob der Bundesregierung bekannt ist, daß in der letzten Zeit auch andere Schikanen eingetreten sind, beispielsweise die monatelange Nichtzustellung von Päckchensendungen an Deutsche in Überschwemmungsgebieten, die Verweigerung der Entlassung aus der rumänischen Staatsangehörigkeit und anderes.
Herr Kollege, ich kann diese Frage nicht zulassen. Sie steht mit der ursprünglich gestellten Frage nicht im Zusammenhang.
Es tut mir leid. Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Dann rufe ich die Frage 101 der Abgeordneten Frau Pack auf:Beabsichtigt die Bundesregierung, sich durch den deutschen Botschafter in Belgrad ebenso direkt über das Todesurteil gegen Miljenko Hrkac informieren zu lassen wie kürzlich bei den Todesurteilen im spanischen Polizistenmord-Prozeß?Moersch, Staatsminister: Frau Abgeordnete, die Antwort lautet nein. Die in der Frage angesprochenen Fälle sind weder rechtlich noch politischvergleichbare Fälle. Im Falle Spaniens mußte das summarische, die Beweisaufnahme und die Rechte der Verteidiger einschränkende Gerichtsverfahren die Sorge begründen, elementare rechtsstaatliche Normen würden verletzt. Demgegenüber ist zu dem Gerichtsverfahren Miljenko Hrkac darauf hinzuweisen, daß die bisher vom Gericht der ersten Instanz ausgesprochenen Todesurteile bereits zweimal durch höhere Instanzen wieder aufgehoben worden sind. Auch das jetzt ergangene Todesurteil ist nach Kenntnis der Bundesregierung noch nicht rechtskräftig.Die Vorstellungen, die gegenüber der damaligen spanischen Regierung erhoben worden sind, waren — dies ist ein ganz wichtiges und entscheidendes politisches Element — vor allem auch aus dem Dialog heraus zu verstehen, den Spanien selbst mit Europa im Sinne einer möglichen Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft gesucht hat. Ich habe diesen Aspekt in einer Antwort an den Kollegen Höcherl am 22. Oktober 1975 ausführlich dargestellt. Da es eine schriftlich erteilte Antwort war, möchte ich sie noch einmal in die Erinnerung zurückrufen. Frau Abgeordnete, ich habe unter anderem gesagt:Seit Jahren ist es Politik der Bundesregierung, Spanien an das europäische Einigungswerk heranzuführen. Fragen der Europapolitik waren ein Schwerpunkt der Gespräche mit der spanischen Regierung.Dies war mit dem Blick auf die damalige spanische Regierung gesagt; für die neue spanische Regierung gilt dies sowieso.Dabei war — und ist — klar, daß diese Politik nur dann Erfolg haben kann, wenn demokratische und rechtsstaatliche Strukturen in allen am Aufbau eines wirtschaftlichen und politisch geeinten Europas interessierten Staaten entstehen.Das heißt, wenn darüber geredet wird, ob sich ein Staat den Grundsätzen anschließen will, die für die Europäische Gemeinschaft und übrigens auch für den Europarat in diesem Sinne gelten, ist es klar, daß im Blick auf solche Verfahren, die ja auch vom Rechtsstaatlichen her doch mindestens höchst umstritten gewesen sind — ich will mich sehr vorsichtig ausdrücken —, trotz der allgemein gültigen Formel, daß eine Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten nicht stattfinden soll, darauf hingewiesen werden kann, daß eine Behandlung, wie sie damals in Spanien stattgefunden hat, ein ernsthaftes Hindernis für den offensichtlich gemeinsamen Willen zur Zusammenarbeit darstellt. Ich möchte ausdrücklich darauf verweisen, daß die Frage, ob Todesurteile ausgesprochen und vollstreckt werden, nicht Gesprächsgegenstand in der einen oder anderen Form sein kann; denn die Todesstrafe einzuführen, abzuschaffen, beizubehalten oder zu vollstrecken liegt in der souveränen Entscheidung des jeweiligen Staates. Es ging hier nicht um das Strafmaß, um die Strafe selbst, sondern es ging um das Verfahren.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14653
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, glauben Sie nicht, daß dann, wenn Sie sich hier nicht informieren, der Eindruck entstehen könnte. daß Sie politische Phänomene in Ost und West nach unterschiedlichen moralischen Kriterien messen, oder glauben Sie, daß die Bundesregierung diesen Eindruck erwecken will?
Moersch, Staatsminister: Dieser Eindruck kann gar nicht entstehen, wenn das berücksichtigt wird, was ich hier vorgetragen habe. Es geht lediglich darum, daß bei der Respektierung der inneren Angelegenheiten anderer Staaten in Gesprächen mit Staaten, die sich ihrerseits bestimmten Gemeinschaftskriterien anschließen wollen, die für uns gelten — und diese sind sehr klar definiert —, sich diese Staaten natürlich von uns schon fragen lassen müssen, ob sie denn nicht mit einer Maßnahme, wie sie damals in Spanien getroffen wurde, ein Hindernis für die gemeinsamen Wünsche zur Zusammenarbeit aufbauen. Dies ist der Ansatzpunkt für ein solches Gespräch.
Das kann nicht für Staaten gelten, die erklärtermaßen weder von unserer noch von ihrer Seite aus die Absicht haben, sich einer solchen gemeinschaftlichen Verpflichtung zu unterwerfen. Wir können dennoch bedauern, was dort geschieht; diese Frage stellt sich jedem freien Bürger, wenn nach seiner Meinung nicht rechtsstaatlich verfahren wird. Aber das ist keine Frage, in der Regierungen tätig werden können.
Das habe ich schon Kollegen, die in ähnlichem Zusammenhang Fragen gestellt haben, deutlich zu machen versucht. Insofern sage ich noch einmal, daß man Ungleiches und ungleiche Voraussetzungen eben nicht politisch vergleichen kann.
Keine Zusatzfrage, Dann rufe ich die Frage 102 des Herrn Abgeordneten Niegel auf:
Trifft es zu, daß kubanische Truppentransportflugzeuge zur Unterstützung der sowjetkommunistischen Bürgerkriegspartei in Angola auf den Azoren zwischenlandeten, und was hat die Bundesregierung — bejahendenfalls — getan, um Portugal als Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses von einem derartigen, den Interessen des Bündnisses entgegengesetzten Verhalten abzubringen?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, der Bundesregierung liegen zu diesen Meldungen keine eigenen Erkenntnisse vor. Ein Sprecher des portugiesischen Außenministeriums hat erklärt, daß die Azoren nicht für Flüge nach Angola benützt würden.
In der portugiesischen Verfassunggebenden Nationalversammlung hat der Abgeordnete der Sozialistischen Partei Jaime Gama eine Anfrage an den Premierminister gerichtet, ob der Flughafen auf der Insel Santa Maria von der kubanischen Luftflotte als Stützpunkt für eine Luftbrücke nach Angola benutzt wird. Eine Antwort auf diese Anfrage steht noch aus.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist Ihnen dann die Meldung vom 10. Januar 1976 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bekannt, wonach ein Sprecher des Außenministeriums in Lissabon erklärt hat, daß kubanische Flugzeuge, die nach Guinea-Bissau fliegen, auf Santa Maria zwischenlanden? Sind Sie dieser Meldung nachgegangen?
Moersch, Staatsminister: Ich bin der Frage nachgegangen, die Sie gestellt haben, und habe von portugiesischer Seite die Auskunft bekommen, daß dies nicht so sei, wie dies in der von Ihnen zitierten Meldung offensichtlich unterstellt wurde. Es war von Angola die Rede. Wir pflegen bei unseren Partnern genau das zu fragen, was Sie gefragt haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, daß diese Meldung nach meiner Fragestellung bekannt wurde, hindert Sie ja nicht daran, diesen Gesamtkomplex in Augenschein zu nehmen. Was werden wahrscheinlich kubanische Flugzeuge und Soldaten in Guinea-Bissau tun? Sie werden sicher weitergeleitet werden nach Angola.
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich habe hier keine Vermutungen zu reproduzieren. Ich habe Ihnen gesagt, daß in der portugiesischen Verfassunggebenden Versammlung eine Frage gestellt wurde, die noch nicht beantwortet wurde. Die werden Sie sicherlich ebenso wie ich zur Kenntnis nehmen.
Ich habe noch ganz andere Zeitungsmeldungen gelesen von Zwischenlandungen von Flugzeugen anderer Nationalitäten. Ich bin nicht in der Lage, sozusagen als nachträglicher Verifikateur von Meldungen aufzutreten. Wenn das speziell von Ihnen gefragt wird, werden Sie darauf auch eine Antwort bekommen. Ich habe mich genau an Ihren Text gehalten. Ich bitte um Verständnis; dies ist die Aufgabe unseres Amtes.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, muß die Bundesregierung eigentlich auf die Fragen von Abgeordneten warten, wenn es um Probleme der atlantischen und damit unserer eigenen Sicherheit geht, die dadurch begründet werden, daß ganz offensichtlich ein kommunistisch beherrschter Staat Lande- oder Flugplätze eines NATO-Mitgliedstaates zu Zwecken benutzt, die ganz offensichtlich unseren Sicherheitsinteressen massiv zuwiderlaufen?Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, unter zivilisierten Staaten — vor allen Dingen dann, wenn sie Bündnispartner sind — ist es üblich, daß man nicht Patrouillen des Bundestages oder der Bundesregierung zu eigenen Recherchen ausschickt,
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14654 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Staatsminister Moerschsondern daß man sich an die Stellen hält, die in diesen Staaten dafür zuständig sind.
Dies haben wir auf Grund der Anfrage getan. Unsere Botschaft hat beim portugiesischen Außenministerium, bei dem sie solche Dinge erfahren kann, angefragt, und der Sprecher hat gesagt, daß die Azoren nicht für die Flüge nach Angola benützt würden.So war die Frage auch gestellt. Wir haben sie auf dem Dienstweg weitergereicht. Wir halten uns an den Dienstweg. Einzelunternehmen partisanentechnischer Art können wir nicht ausführen.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 103 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Trifft es zu, daß eine deutsche Staatsangehörige, die nach dem im internationalen Bereich praktizierten und seitens anderer deutscher Botschaften auch gegenüber Nichtdeutschen angewandten Verfahren „einstweilige Zuflucht" in der deutschen Botschaft in Warschau wegen der Bedrängung durch polnische Be-horden gesucht hatte, am Fußboden des Warteraums schlafen mußte und am Wochenende ohne Verpflegung blieb?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, der in Ihrer Frage behauptete Sachverhalt trifft nicht zu. Richtig ist, daß in dem von Ihnen angesprochenen Fall seitens der Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Warschau alles Erdenkliche getan wurde, um der Familie in ihrer Situation zu helfen und ihr die Lage soweit wie möglich erträglich zu machen. Dies gilt sowohl für die Zeit, in der die Familie sich in der Konsularabteilung der Botschaft aufgehalten hat — hier mußten u. a. Schlaf- und Aufenthaltsmöglichkeiten geschaffen werden, was angesichts der begrenzten räumlichen Verhältnisse der Botschaft nicht leicht war —, als auch für die Zeit danach. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß z. B. eine Mitarbeiterin der Botschaft der Familie bis zur Erteilung der Ausreisegenehmigung ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hat und selber für diese Zeit ins Hotel gezogen ist.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, abgesehen von der selbstverständlichen und vom Bundesverfassungsgericht allen diplomatischen Vertretungen ausdrücklich auferlegten Amtspflicht, Deutschen bei der freien Ausreise zu helfen, frage ich Sie, ob Sie zum Schutz des Ansehens einzelner Beamter der deutschen Vertretung in Warschau auch die betroffene deutsche Frau zu dem Umstand gehört haben, daß erst der polnische Vertrauensarzt ihre menschenwürdige Behandlung durchsetzte, und ob sie 23 Stunden ohne Essen war.
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, eine Fülle von Behauptungen hat sich in diesem Zusammenhang als total falsch ausgewiesen. Ich muß alle Beamten der deutschen Botschaft ausdrücklich
gegen solche unqualifizierten Angriffe in Schutz nehmen.
Unter anderem ist der leitende Arzt des Auswärtigen Amtes zur Betreuung der erkrankten Frau nach Warschau geschickt worden.
Ich möchte nur hinzufügen, daß z. B. die Behauptung, die Sie in der Frage aufgegriffen haben — nämlich es habe jemand auf dem Boden schlafen müssen —, schon dadurch widerlegt wird, daß die Familie, als sie in die Botschaft kam, Bettzeug mitgebracht hatte, sich also offensichtlich schon auf die Situation vorbereitet hatte. Die Frage, warum eigentlich die polnischen Behörden sich hier so restriktiv verhalten haben, wurde damit begründet, es handle sich um zivilrechtliche Forderungen. Ich bedauere außerordentlich, Ihnen sagen zu müssen, daß uns erst nach der Abreise aus Warschau bekannt wurde, daß diese zivilrechtlichen Forderungen in dem einen Fall eines Familienmitglieds begründet waren durch die Geldstrafe für eine Schlägerei und im anderen durch die Geldforderung der Schwester der Betroffenen, die noch nicht eingelöst war. Die deutsche Botschaft hat diese Mittel vorgestreckt, damit die Familie ausreisen konnte. Wenn dann hinterher die deutsche Botschaft für diese Hilfeleistung noch in dieser unqualifizierbaren Weise öffentlich beschimpft wird, bedauere ich das im Blick auf alle unsere Beamten.
Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage.
Nachdem Sie, Herr Staatsminister, die Frage, die ich gestellt habe, ob die Frau zu der Sache, die die einzelnen Angehörigen des Amtes belastet, gehört worden ist, nicht beantwortet haben, frage ich Sie weiterhin: Wird die deutsche Botschaft in Warschau in jedem Einzelfall deutschen Staatsangehörigen „einstweilige Zuflucht" in der deutschen Botschaft bei Bedrängung durch polnische Behörden gewähren, nachdem dieses Instrument international anerkannt, von deutschen Vertretungen ständig geübt und in Chile auch gegenüber zahlreichen Nichtdeutschen angewendet worden ist?Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, ich verweise zu der Rechtslage auf die Antworten, die ich zum Falle Chile in diesem Hause gegeben habe, auf die völkerrechtliche Situation. Ich glaube, Sie werden Ihre Frage unter diesem Aspekt anders stellen müssen. Ich möchte mich hier nicht näher äußern; ich glaube, das würde den Betroffenen nicht dienen.Ich möchte aber, um jeden Zweifel auszuschließen, was die Botschaft getan hat, der Öffentlichkeit mitteilen, daß der Abgeordnete Dr. Czaja mehrere Briefe an das Auswärtige Amt geschrieben hat und ausführliche Antworten zur Aufklärung des Falles erhalten hat
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14655
Staatsminister Moersch- das ist meine Wertung, ich kann den Brief vor-lesen,
dann kann sich der Bundestag von Ihrer Wertung überzeugen —, und zwar von Staatssekretär im Auswärtigen Amt Dr. Hermes am 12. September, in einem Brief vom 22. Oktober 1975, von Ministerialdirektor van Well unterschrieben, und in einem Brief vom 24. November 1975, ebenfalls von Herrn Ministerialdirektor van Well unterschrieben; ein weiterer Brief vom 5. Dezember ist vom Staatssekretär des Auswärtigen Amts an den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Professor Dr. Carstens, gegangen.
Um so mehr bedauere ich, wenn in Frageform hier erneut ein falscher Eindruck erweckt wird auf Kosten der Beamten der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau.
Eine Frage des Abgeordneten Dr. Arndt.
Herr Staatsminister, obwohl Sie es eben schon angedeutet haben: Können Sie bestätigen, daß es in Südamerika ein regionales Völkerrecht auf Asyl in diplomatischen Vertretungen gibt, welches nur in Südamerika gilt, so daß eine Verallgemeinerung auf die ganze Welt nach unbestrittener Völkerrechtslehre nicht statthaft ist?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, selbst dies ist ein Fall, den man differenziert darstellen muß. Ich glaube, im Interesse aller Betroffenen und derer, die betroffen gewesen sind, ist es gut, wenn ich jetzt zu der Frage des Abgeordneten Czaja keine völkerrechtlichen Darlegungen mache.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Hupka.
Herr Staatsminister, da auch die Frau Präsidentin in schriftlicher Form in ähnlichem Sinne wie mein Kollege Czaja eine Frage an die Bundesregierung gerichtet hat, frage ich Sie, warum Sie erst dieser Fragen bedürfen, um unsere Angestellten und Beamten der Botschaft zu rehabilitieren, falls in der deutschen Öffentlichkeit falsche Darstellungen gegeben worden sind.
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Öffentlichkeit hat reagiert, als diese Vorwürfe veröffentlicht wurden. Wir haben die Briefe, die wir bekommen haben, korrekt beantwortet. Wenn daraufhin diejenigen, die die aufklärenden Briefe bekommen haben, dennoch falsche öffentliche Äußerungen aufgreifen, ist es unsere Pflicht, zu handeln. Ich glaube, daß es im Interesse der Betroffenen
— und das sage ich jetzt in Kenntnis dessen, was ich vorher zum Persönlichen mitteilen mußte — doch angemessen war, daß wir nicht von uns aus öffentlich reagiert haben. Sonst wäre uns doch der Vorwurf gemacht worden, wir würden Familienangelegenheiten in die Öffentlichkeit bringen. Sie haben mich dazu gezwungen, mich auf diese Weise schützend vor die Beamten zu stellen. Ich bedauere, daß es überhaupt zu dieser Auseinandersetzung kam. Wir haben wohl genügend Telefongespräche geführt und Briefe gewechselt.
— Diese Meldungen der „Süddeutschen Zeitung" und der „Welt" sind vom Sprecher des Auswärtigen Amtes in der Bundespressekonferenz entsprechend zurechtgerückt worden. Die Frau Abgeordnete Funcke hat daraufhin noch einmal eine Frage gestellt. Ich bedauere, wenn Sie offenbar die Zeitungen nicht gelesen haben, die diese Erklärung des Sprechers des Auswärtigen Amtes aufgenommen haben. Ich kann das gern nachprüfen. Ich habe selbst veranlaßt, daß dazu Antworten gegeben wurden. Vielleicht ist das in den Weihnachtsfeiertagen von Ihnen übersehen worden.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister. angesichts der lauten Entrüstung, die Sie hier zur Schau tragen, möchte ich Sie fragen: Ist denn nun die betroffene Frau, von der diese Angaben kommen, vom Ministerium angehört worden, und hat man ihre Angaben auf Grund einer solchen Anhörung überprüft? Die Frage des Kollegen Czaja haben Sie nicht beantwortet.
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, die Beamten in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau sind auf ihren Amtseid verpflichtet. Wenn ein solcher Fall von den Beamten, die dort selbst anwesend gewesen sind, schriftlich so dargestellt wird, wie das hier geschehen ist, dann glaube ich in jedem Fall diesen dienstlichen Erklärungen der Beamten. Die Staatssekretäre im Auswärtigen Amt haben das ebenfalls getan. Wenn Sie irgendeinen Zweifel an dieser Darstellung, die die Beamten des Auswärtigen Amtes hier geben, haben, dann haben Sie die Möglichkeit, das entsprechend zur Sprache zu bringen. Dann werden wir das gerne durch eine Gegenüberstellung prüfen.
Keine weitere Zusatzfrage.Ich rufe die Frage 104 des Herrn Abgeordneten Czaja auf:Trifft es zu, daß auf Grund polnischer Nationalisierungsvorschriften aus den Oder-Neiße-Gebieten ausreisende deutsche Staatsangehörige weiterhin völkerrechtswidrig und unter Verstoß gegen elementare Rechtsgrundsätze zum Verzicht auf dingliches Eigentum gezwungen sind, und welche völkerrechtskonformen
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14656 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Vizepräsident Frau FunckeMittel wendet die Bundesregierung zum wirksamen Schutz der Ansprüche deutscher Staatsangehöriger auf dingliches Eigentum an, da solche Ansprüche „vermögenswerte Rechtspositionen darstellen, die unter den Schutzbereich des Artikels 14 GG fallen" ?Moersch, Staatsminister: Wie ich bereits in der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 10./11. Dezember 1975 auf die Frage des Herrn Abgeordneten Ey betont habe, kann von einem entschädigungslosen Verzicht auf Grundeigentum deutscher Staatsangehöriger vor ihrer Aussiedlung aus der Volksrepublik Polen nicht die Rede sein.Umsiedler dürfen grundsätzlich ihr Mobiliareigentum bei Aussiedlung mitnehmen. Hinsichtlich des Immobiliareigentums verlangen die polnischen Behörden von den Umsiedlern vor ihrer Ausreise eine „Regelung" ihres Grundbesitzes. Nach der geforderten „Regelung der Vermögensverhältnisse" vor der Ausreise sind die im Eigentum der Umsiedler stehenden Grundstücke zu übertragen, d. h. sie können verkauft oder schenkungsweise an in Polen lebende Verwandte oder Bekannte übertragen oder dem Staat übereignet werden. Es trifft nach Berichten unserer Botschaft zu, daß sich im konkreten Fall öfters keine Kaufinteressenten finden. Auch besteht keine Möglichkeit, den Verkaufserlös ins Ausland zu transferieren. Die Umsiedler können aber von dem Erlös bewegliches Vermögen erwerben und dieses im Zuge der Übersiedlung in das Bundesgebiet ausführen. Die Gelder können auch auf einem Sperrkonto angelegt und innerhalb Polens im Rahmen der geltenden Bestimmungen verwendet werden. Von einem Verlangen nach entschädigungslosem Verzicht auf Grundbesitz vor der Ausreise kann somit nicht gesprochen werden.Wenn, wie bisher in zwei bekanntgewordenen Fällen geschehen, Verzichtserklärungen seitens der polnischen Behörden im Zusammenhang mit der Umsiedlung von Umsiedlern gefordert wurden, sind bzw. werden diese Einzelfälle von deutscher Seite in Kontakten mit der polnischen Regierung aufgenommen.Dabei darf ich Sie jedoch darauf hinweisen, daß auch nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts kein Zweifel daran besteht, daß die Grundrechte deutscher Staatsangehöriger, also auch Art. 14 des Grundgesetzes, nur im Geltungsbereich des Grundgesetzes wirksam und durchsetzbar sind.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, warum sagen Sie nicht der deutschen Öffentlichkeit, daß, während wir Milliarden an die Volksrepublik Polen zahlen, verborgen in Art. 39 der polnischen Gesetze vom 14. Juli 1961 und vom 25. April 1969 über — den sonderbaren Titel möchte ich unterstreichen — die „Bewirtschaftung von Flächen in Städten und Siedlungen", nur die Deutschen bei einer Ausreise das Verfügungsrecht über dingliches Eigentum verlieren, weil nur sie bei der Ausreise einen Personalausweis abliefern müssen und dadurch das Verfügungsrecht einbüßen?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wenn diese Frage gestellt worden wäre, hätte ich sie auch beantwortet. Ich habe eine Frage beantwortet, die Sie gestellt haben.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, verstanden Sie unter der Bereinigung der vermögensrechtlichen Angelegenheiten in ihrer Antwort vom 11. Dezember 1975 auch, daß dingliches Eigentum und darauf richtete sich meine Frage — schuldenfrei dem polnischen Staat verbleiben muß, wenn seine Veräußerung nicht erfolgen kann, und muß nicht die Bundesregierung ziviles Eigentum von Deutschen von Verfassung und Völkerrecht wegen mit allen rechtlichen Mitteln vor fremder Willkür seitens Polens schützen?
Moersch, Staatsminister: Eben, mit allen ihr möglichen Mitteln. Und das habe ich soeben dargelegt: daß sich auch das Verfassungsgericht hierzu, über den Geltungs- und Anwendungsbereich des Grundgesetzes, geäußert hat.
Eine Frage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Herr Staatsminister, hätte die Bundesregierung bei den im Herbst geführten Verhandlungen mit der Volksrepublik Polen, in denen sich die Bundesregierung ja zu erheblichen und massiven Zahlungen bereitgefunden hat, nicht eine Möglichkeit gehabt, auch diesen für die Deutschen dort gravierenden Tatbestand mit einzubringen und darauf hinzuwirken, daß im Rahmen der Gespräche diese Deutsche diskriminierenden Gesetzesbestimmungen von Polen aufgehoben oder jedenfalls nicht mehr in der Form wie bisher angewendet werden?
Moersch, Staatsminister: Herr Abgeordneter, wenn es diese von Ihnen angedeutete Möglichkeit gäbe, dann würde ich mich fragen, weshalb frühere Bundesregierungen, wenn das seit 1961 so Gesetz ist, nicht ebenfalls eine solche Möglichkeit wahrgenommen hätten.
Keine Fragen mehr? — Dann sind damit die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes beantwortet. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatsminister Moersch.Ich komme nun zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Haehser zur Verfügung.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14657
Vizepräsident Frau FunckeDie Fragen 38 und 39 werden auf Wunsch der Fragesteller, der Abgeordneten Hauser und Lampersbach, schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 40 des Herrn Abgeordneten Eigen auf:Ist die Bundesregierung bereit, dafür Sorge zu tragen, daß den durch die Sturmflut betroffenen Bürgern für die ihnen entstandenen Schäden ein finanzieller Härteausgleich gewährt wird?Bitte schön!
Herr Kollege Eigen, die Bundesregierung ist bereit, sich gemeinsam mit den Küstenländern an der Beseitigung privater Schäden zu beteiligen, die durch die Flutkatastrophe entstanden sind. Als erste Maßnahme hat sich der Bundesminister der Finanzen damit einverstanden erklärt, daß die obersten Finanzbehörden der Länder besondere Anweisungen für Billigkeitsmaßnahmen auf steuerlichem Gebiet geben.
Das Bundeskabinett hat am 14. Januar 1976, also gestern, den Bundesminister der Finanzen gebeten, mit den zuständigen Bundesressorts und den Regierungen der betroffenen Länder den Umfang der Schäden zu prüfen und entsprechend den Regelungen bei der Flutkatastrophe 1962 die erforderlichen Richtlinien und Vereinbarungen für eine Beteiligung des Bundes an Hilfsmaßnahmen der Länder vorzubereiten.
Ich nutze gerne die Gelegenheit, Ihnen, Herr Kollege, und der deutschen Öffentlichkeit mitzuteilen, in welcher Weise sich der Bund in den letzten Jahren auf dem Gebiete des Küstenschutzes finanziell engagiert hat. Bis 1961 betrugen die jährlichen Aufwendungen des Bundes rund 30 Millionen DM. Nach der Sturmflut 1962 sind die Aufwendungen zunächst auf 100 Millionen DM, 146 Millionen DM usw. gestiegen. Die beiden höchsten Zahlungen erfolgten 1967 mit 160,35 Millionen DM und im soeben abgelaufenen Jahr mit 157 Millionen DM. Insgesamt sind seit 1949 2,3 Milliarden DM ausgegeben worden; davon seit der Sturmflut 1962 mehr als 1,8 Milliarden DM.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich habe natürlich Verständnis dafür, daß Sie der deutschen Öffentlichkeit die Leistungen des Bundes für den Küstenschutz anläßlich einer Frage darstellen möchten, die das aber gar nicht beinhaltete. Das hat Ihr Kollege, Herr Staatssekretär Logemann, gestern schon getan. Ich möchte gern zwei Zusatzfragen zu diesem Problem, das hier angesprochen worden ist, stellen, nämlich zu dem Problem der Entschädigung derjenigen, die als Privatpersonen oder als Betriebe große Schäden hinnehmen müssen.
Erste Zusatzfrage: Wie wird in diesem Jahr in der Frage des privaten Haushalts entschieden? Wenn ich mich recht entsinne, ist 1962 in diesem Bereich nicht oder nur sehr wenig entschädigt worden.
Haehser, Parl. Staatssekretär: Nachdem ich Ihnen gedankt habe, daß Sie Verständnis dafür gezeigt haben, daß ich die Leistungen des Bundes vor der deutschen Öffentlichkeit darstellen konnte
— noch einmal; Leistungen soll man recht oft herausstellen, weil sie von der Opposition meist verschwiegen werden —,
will ich Ihnen sagen, daß die Bundesregierung natürlich weiß — zusammen mit Ihnen und anderen, Herr Kollege —, daß neben Deichschäden auch Schäden im privaten Bereich entstanden sind. Das Bundeskabinett hat gestern den Bundesfinanzminister gebeten, mit den zuständigen Bundesressorts und den Regierungen der betroffenen Länder den Umfang der Schäden zu prüfen und, entsprechend den Regelungen bei der Flutkatastrophe 1962, die erforderlichen Richtlinien und Vereinbarungen zu treffen. — Ich entnehme Ihrer Bemerkung, daß Ihre Sorge auch dem privaten Hausrat gilt. Wir werden dies in unseren Prüfungsauftrag einbeziehen.
Zweite Zusatzfrage.
Wird insbesondere geprüft, inwieweit durch die Sturm- und Flutkatastrophe Arbeitsplätze gefährdet sind, und werden alle Möglichkeiten — auch in Verbindung mit der Bundesanstalt für Arbeit — eingesetzt, um so schnell wie möglich die gewerblichen Betriebe wieder in den Stand zu setzen, Arbeitnehmer zu beschäftigen?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Auch dies wird ganz gewiß in die Prüfung einbezogen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann.
Herr Staatssekretär, plant die Bundesregierung in Abstimmung mit der Freien und Hansestadt Hamburg auch Maßnahmen zu einer Verbesserung des Küstenschutzes im Vordeichgelände des Hamburger Hafens? Hier handelt es sich ja bekanntlich um ein Gebiet, das gar nicht eingedeicht werden kann.
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß an der Spitze der Bundesregierung Herr Bundeskanzler Helmut Schmidt steht, der selber Hamburger ist und sich bei der Bewältigung der seinerzeitigen Flutkatastrophe hohe Verdienste erworben hat. Sie wissen, daß in der Bundesregierung als Bundesminister der Finanzen Herr Dr. Hans Apel vertreten ist, der ebenfalls Hamburger ist. Sie können also davon ausgehen, daß die Interessen der Freien und Hansestadt Hamburg und Ihrer Mitbürger in besten Händen sind.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Ey.
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14658 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, grundsätzlich dafür einzutreten, daß die für die Beseitigung der Sturmflutschäden notwendigen Finanzmittel nicht durch Kürzungen der Titel für andere wasserwirtschaftliche, insbesondere binnenwasserwirtschaftliche, Maßnahmen aufgebracht werden, sondern aus allgemeinen oder besonderen Deckungsmitteln?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das Bundeskabinett hat gestern drei Komplexe behandelt. Der erste Komplex betrifft die Küstenschutzanlagen des Bundes. Die Schäden werden dort zur Zeit auf etwa 10 Millionen DM beziffert. Der Bundesfinanzminister hat im Bundeskabinett gesagt, daß er zu einer überplanmäßigen Ausgabe bereit ist und dafür die Zustimmung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages einholen will. Der zweite Komplex betrifft die Küstenschutzanlagen der Länder und der Kommunen. Dort werden die Schäden zur Zeit auf 70 Millionen DM beziffert. Als Beteiligung des Bundes an der Beseitigung dieser Schäden soll eine überplanmäßige Ausgabe in Höhe von 55 Millionen DM bewilligt werden. Auch dafür werde ich die Zustimmung des Haushaltsausschusses einholen. Aus dieser Antwort geht hervor, daß es sich in beiden Bereichen um überplanmäßige Ausgaben handelt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Schröder.
Herr Staatssekretär, darf ich, da Sie glaubten, die Opposition daran erinnern zu müssen, daß sie die Leistungen des Bundes anerkennt, Sie meinerseits daran erinnern, daß die höchste Rate, wie Sie selber gesagt haben, im Jahre 1967 zu verzeichnen war, daß zu der Zeit die heutige Opposition in der Regierungsverantwortung stand und daß die gute Rate des vorigen Jahres deswegen außergewöhnlich war, weil im vorigen Jahr die zusätzlichen Reparaturen nach der Sturmflut von 1973 durchgeführt wurden?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn Sie mich daran erinnern, daß die heutige Opposition, die damals regiert hat, in einem Jahr 3 Millionen DM mehr ausgegeben hat, als im letzten Jahr ausgegeben worden sind, dann darf ich Sie daran erinnern, daß die weitaus größte Summe ausgegeben worden ist, seit die sozialliberale Koalition regiert.
Aber das ist zweitrangig. Entscheidend ist, Herr Kollege — und darin stimmen wir, die wir uns ja gut kennen, sicher überein —, daß das Geld aufgebracht wird, das benötigt wird, und daß im Rahmen der vorhandenen Kapazitäten die noch fehlenden Maßnahmen so schnell wie möglich durchgeführt werden. Gestern hat mein Kollege Logemann erklärt, daß die Maßnahmen schneller als ursprünglich zwischen Bund und Ländern geplant abgewickelt werden sollen. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Hauptinteresse.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lagershausen.
Herr Kollege Haehser, können Sie mir sagen, ob die Bundesregierung auch bereit ist, in den Kreis der betroffenen Privaten die schwer geschädigten Werften mit ihren Arbeitsplätzen einzubeziehen, und welche Maßnahmen für die Werften vorgesehen sind?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Ich habe dazu — so meine ich mich richtig erinnern zu können — vor wenigen Minuten Stellung genommen. In den Prüfungsauftrag und die Bereitschaft des Bundes, sich zu beteiligen, gehören selbstverständlich auch solche Schäden, die Sie angesprochen haben.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dreyer.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, dafür Sorge zu tragen, daß im Rahmen der Bundesregierung und auch in Zusammenarbeit mit den Ländern nicht allzulange geprüft wird, sondern klare Entscheidungen getroffen werden und daß die Entscheidungen und Richtlinien der Vielzahl der Betroffenen auch bekanntwerden, die aus diesen Entscheidungen in unser aller Interesse letztlich den Mut für den Wiederaufbau schöpfen sollen und müssen?
Haehser, Parl. Staatssekretär: Nun, ich hatte Ihnen vorhin sagen dürfen — wir haben das auch in einer Pressemitteilung gesagt —, ,daß niemand schneller handeln konnte, als sich der Bundesfinanzminister zu steuerlichen Erleichterungen bereitgefunden hat; denn das ist sofort geschehen. Auch die Prüfungen geschehen sofort. Das Bundeskabinett hat gestern seinen Beschluß gefaßt, nachdem es eine Woche vorher erste Sichtungen ,der vorhandenen Meldungen hat vornehmen können. Nur liegt es selbstverständlich auch im Interesse des Bundestages, ,daß Zahlungen erst auf gesicherter Basis erfolgen. Die Sicherung dieser Basis muß schnell geschehen. Ich stimme mit Ihnen überein, daß das durch die Bundesländer geschehen muß. Wir können gemeinsam — Sie und ich — an die uns nahestehenden Regierungen appellieren.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Bremer.
Zurückkommend auf die Frage des Kollegen Eigen und Ihre Antwort darauf, frage ich, Herr Staatssekretär: Bin ich richtig informiert, daß ,die Schadensregelung 1962, auf der ja die Mitteilung des Bundeskabinetts fußt, nicht die Entschädigung vom Hausrat mit umfaßt, sondern daß von daher eine Ergänzung der Regelung im Hinblick darauf notwendig wäre, daß dieser Schaden einen. besonders großen Umfang hat?Haehser, Parl. Staatssekretär: Ich weiß nicht, Herr Kollege Bremer, ob Sie richtig unterrichtet sind.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14659
Parl. Staatssekretär HaehserDenn ich kann Ihnen nicht bestätigen, daß der Hausrat nicht mit erfaßt worden ist. Was ich Ihnen aber bestätigen kann, ist, daß wir das, nachdem eine entsprechende Anregung gegeben worden ist, jetzt auch prüfen werden. Dabei muß natürlich eine naß gewordene Kaffeemaschine nicht unbedingt entschädigt werden.
Keine Zusatzfrage mehr.
Die Fragen 43 des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann, 44 und 45 des Abgeordneten Wimmer und 46 des Abgeordneten Dr. Jobst werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich, Herr Staatssekretär Haehser. Ich bedanke mich bei Ihnen.
Wir kommen zu den Fragen aus ,dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Grüner zur Verfügung.
Die Frage 37 des Abgeordneten Lattmann wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 47 ,des Abgeordneten Dr. Fuchs auf:
Trifft es zu, daß damit zu rechnen ist, daß die Kraftfahrzeugversicherungsgesellschaften ihre Absichten nicht mehr weiterverfolgen, die für bestimmte Gebiete, z. B. insbesondere Niederbayern und Oberpfalz, zu erheblichen Erhöhungen der Kraftfahrzeughaftpflichtprämien führen würden?
Die Frage, Herr Kollege, ist mit Nein zu beantworten. Die Versicherungsunternehmen verfolgen weiter die Absicht, eine neue Regionalstruktur einzuführen. Zur Begründung verweisen sie auf statistische Untersuchungen ,des Schadensbedarfs in den einzelnen Regionen, die sie über vier Jahre erstreckt haben.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 48 des Abgeordneten Dr. Fuchs auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung andernfalls, um zu verhindern, daß die Verwirklichung dieser Pläne die Verkehrsteilnehmer Niederbayerns und der Oberpfalz, die ohnehin unter dem noch fehlenden Anschluß an das Autobahnnetz und dem unbefriedigenden Ausbau des Fernstraßennetzes leiden und die höchsten Kraftstoffpreise zu zahlen haben, zusätzlich belastet?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die von den Versicherungsunternehmen beabsichtigte neue Regionalstruktur setzt eine Änderung der Verordnung über die Tarife in der Kraftfahrtversicherung voraus.
Das Bundesministerium für Wirtschaft hat zunächst für den 20. Januar 1976 zu einem Anhörungsverfahren eingeladen, in dem die beteiligten Wirtschaftskreise zu der neuen Regionalstruktur gehört werden sollen. Auch der Wirtschafts- und der Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages haben eine Einladung hierzu erhalten. Erst nach der Anhörung soll über eine entsprechende Verordnungsänderung beraten werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß die möglicherweise höheren Unfallzahlen in den von mir angesprochenen Gebieten zu einem Teil auf den unvollkommenen Verkehrswegeausbau, auf die infolge der fehlenden Arbeitsplätze sehr zahlreichen Tages- und Wochenpendler und auch auf den gerade im Bayerischen Wald sehr erheblichen Fremdenverkehr zurückzuführen sind?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Ich halte eine Vielzahl von Ursachen für denkbar. Jedoch werden Sie verstehen, daß ich mich dazu einfach mangels vertieften Einblicks in die Ursachen nicht im einzelnen auslassen kann. Aber ich bin sicher, daß bei der vorgesehenen Anhörung Gelegenheit sein wird, gerade auch diesen Fragen nachzugehen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, bei dem Anhörungsverfahren und den Gesprächen, die mit der Versicherungswirtschaft zu führen sind, darauf hinzuwirken, daß Gesichtspunkte, die dann auftreten, ihre Berücksichtigung finden, damit die Bevölkerung des wirtschaftlich ohnehin schwachen Gebiets nicht zusätzliche Belastungen hinnehmen muß?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Es ist das Ziel dieser Anhörung, alle Gesichtspunkte zu prüfen, und die Bundesregierung hat die Absicht, bei ihrer Entscheidung die Gewichtigkeit der einzelnen Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen.
Keine Zusatzfrage.Dann rufe ich die Frage 49 des Herrn Abgeordneten Schwabe auf. — Der Herr Abgeordnete ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe die Frage 50 des Herrn Abgeordneten Wolfram auf:Welche Mittel wird die Bundesregierung einsetzen, um sicherzustellen, daß die mittelfristig notwendigen Steinkohlenkraftwerkskapazitäten gebaut werden, und stimmt es, daß ein namhaftes deutsches Energieversorgungsunternehmen knapp jenseits der deutschen Grenze in Dänemark ein Kohlekraftwerk baut, das Strom in die Bundesrepublik Deutschland liefern soll, um auf diese Weise bestimmte deutsche energiepolitische Entscheidungen zu unterlaufen?Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat mit dem Genehmigungsvorbehalt des Dritten Verstromungsgesetzes für Kraftwerksneubauten auf Basis der Konkurrenzenergien Öl und Gas ein geeignetes Instrument, um sicherzustellen, daß auch weiterhin Steinkohlenkraftwerke gebaut werden, So sind derzeit rund 3 000 Megawatt Leistung auf Basis deutscher Steinkohle im Bau bzw. verbindlich beschlossen. Nach wiederholter Erklärung der Elektrizitätswirtschaft sind weitere Bauentscheidungen zu erwarten, sobald wieder Leistungsbedarf im Mittellastbereich besteht. Die Bundesregierung prüft der-
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14660 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Parl. Staatssekretär Grünerzeit, ob es zweckmäßig ist, durch Anhebung oder Umgestaltung des Investitionskostenzuschusses von 150 DM pro Kilowatt einen verstärkten Anreiz zum Vorziehen von Bauentscheidungen zu geben. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß zumindest ein Teil der in Frage kommenden Investitionen bereits auf Grund der Konjunkturbelebungsmaßnahmen der vergangenen Jahre zeitlich vorgezogen worden ist.Es ist richtig, daß ein großes deutsches Elektrizitätsversorgungsunternehmen gemeinsam mit einem dänischen Partner ein 600-Megawatt-Kohlekraftwerk in Dänemark errichtet. Eine derartige Zusammenarbeit über die Grenzen hinaus ist in der Elektrizitätserzeugung seit jeher üblich. So gibt es deutsche Partnerschaften bei Wasserkraftwerken in den Alpen oder bei Kernkraftwerksneubauten in der Schweiz und Frankreich. Aus der Tatsache einer Beteiligung an einem ausländischen Kohlekraftwerk allein kann daher noch nicht auf die Absicht geschlossen werden, auf diese Weise bestimmte energiepolitische Entscheidungen der Bundesregierung zu unterlaufen.
Eine Zusatzfrage.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, war die Bundesregierung von dieser Investitions- oder Beteiligungsabsicht des deutschen Energieversorgungsunternehmens rechtzeitig vorher unterrichtet?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Frage der Rechtzeitigkeit möchte ich hier nicht beanworten. Es ist auch keine Unterrichtungsverpflichtung gegeben, so daß ich mich hier einer Wertung enthalten möchte.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 51 des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer auf:
Wie haben sich die Handelsbeziehungen zwischen der Volksrepublik China und der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1975 entwickelt, und wie beurteilt die Bundesregierung die weiteren Möglichkeiten auf diesem Gebiet?
Grüner, Parl. Staatssekretär: Die Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern haben sich im vergangenen Jahr günstig entwickelt. Während unser Gesamtexport vom Januar bis November 1975 um 4,5 % abnahm, stiegen die Ausfuhren nach China um 20,1% auf rund 1,6 Milliarden DM. Deutsche Firmen wirken an einigen Großprojekten in China mit, vor allem am Aufbau des Kaltwalzwerks mit Stranggußanlage bei Wuhan; deutscher Lieferwert 651 Millionen DM. Auch der Zuwachs der Einfuhren aus China, die sich im angegebenen Zeitraum auf 498 Millionen DM beliefen, lag mit 10,4 % erheblich über dem Wachstum des Gesamtimports. Der deutsche Aktivsaldo im Warenverkehr mit China betrug 665,9 Millionen DM.
Die Technische Ausstellung der Bundesrepublik Deutschland — TECHNOGERMA — vom 5. bis 18. September 1975 in Peking, an der 330 Firmen teilgenommen haben, und die Nationalausstellung der Volksrepublik China in Köln dürften für die
weitere Entwicklung des Warenaustausches wichtige Impulse gegeben haben, so daß auch im laufenden Jahr mit einem weiteren Zuwachs in beiden Richtungen gerechnet werden kann.
Während des Besuchs des Herrn Bundeskanzlers in der Volksrepublik China vom 29. Oktober bis 2. November 1975 wurde in einem Briefwechsel die Gründung einer Gemischten Regierungskommission für die Förderung der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen vereinbart. Die Kommission wird voraussichtlich noch in diesem Jahr unter Beteiligung von Vertretern der deutschen Wirtschaft in Peking erstmals zusammentreten und sich u. a. mit Möglichkeiten zur Steigerung der Ausfuhren der Volksrepublik China in die Bundesrepublik Deutschland befassen. Zahlreiche deutsche Unternehmen haben ihr Interesse am Bezug von Rohstoffen aus der Volksrepublik China bekundet,
Keine Zusatzfrage.
Damit sind wir — leider, Herr Kollege Schweitzer, Ihre zweite Frage kommt nicht mehr dran — am Ende der Fragestunde. Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner.
Die Fragen 65 des Abgeordneten Horstmeier sowie 70 und 71 des Abgeordneten Schlaga sind zurückgezogen worden. Alle übrigen nicht beantworteten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Meine Damen und Herren, wir kehren damit zu der Aussprache über Punkt 2 der Tagesordnung — Verteidigungspolitik — zurück. Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Jahren sind Verteidigungsdebatten im Deutschen Bundestag relativ selten geworden. Mir scheint, dies ist an sich ein Zeichen dafür, daß es auf dem Felde der äußeren Sicherheit insgesamt keine tiefer greifenden Meinungsverschiedenheiten gibt; denn ansonsten müßte die Opposition ja häufiger die Gelegenheit zur Auseinandersetzung herbeiführen. Wer das aber nun so deutet, die gegenwärtige Bundesregierung oder der gegenwärtige Verteidigungsminister setze die Sicherheitspolitik der CDU/CSU fort und deshalb finde er weniger Kritik als vielmehr Verständnis bei der Opposition, der, glaube ich, irrt sich doch ein bißchen, wenn ich nicht sagen sollte: er versucht sogar, die öffentliche Meinung irrezuführen.Verteidigungspolitik und Bundeswehr sind wichtige Bestandteile unseres staatlichen und politischen Lebens seit etwa 20 Jahren. Das letzte Drittel dieser langen, langen Zeit werden sie von der sozialliberalen Koalition gestaltet und werden von sozialdemokratischen Verteidigungsministern verantwortet. Es gibt in diesem letzten Drittel dieser langen Zeit, dieser zwei Jahrzehnte, manches, das sich günstiger und besser entwickelt hat, als es in den 50er oder 60er Jahren noch zu erkennen gewesen ist.Ich verzichte auf viele Beispiele. Aber ich weise z. B. auf die Nachwuchslage bei der Bundeswehr
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14661
Bundeskanzler Schmidthin, ob es sich um Unteroffiziere, um Feldwebel oder um den Offiziersnachwuchs handelt. Ich kann mich erinnern: Vor sechs Jahren, als ich in dem Amt war, in dem Minister Leber heute ist, und wir eine große Anstrengung machten, um mit vielerlei gleichzeitig in Gang gesetzten Neuerungen die Bundeswehr für junge Männer noch attraktiver zu gestalten — z. B. anfingen, die Bundeswehrhochschulen zu konzipieren, die inzwischen ja eine allseits anerkannte Arbeit leisten —, war es keineswegs so, daß etwa damals die verteidigungspolitischen Sprecher der Opposition das alles uneingeschränkt begrüßt hätten,
sondern es hat einige Zeit des Angewöhnens gedauert.
Aber ich kritisiere das nicht, sondern ich freue mich im Grunde darüber,
daß die weitgehende Übereinstimmung so relativ wenige verteidigungspolitische Debatten in den letzten sechs Jahren notwendig gemacht hat.Auf der anderen Seite, Herr Kollege Wörner: Sie haben sehr viel Durchblick, Sie haben auch durchaus Urteilsvermögen, sowohl was die Bundeswehr im engeren Sinne als auch was die Sicherheitspolitik insgesamt angeht. Deswegen denke ich, daß Sie mir nicht nur innerlich zustimmen, sondern auch gleich durch Kopfnicken bekunden werden, daß wir einer Meinung sind, wenn ich feststelle: Die Bundeswehr heute ist eine der besten Armeen in Europa.
Das bezieht sich nicht nur auf die Zahl der dort dienenden Soldaten und der dort mithelfenden Arbeiter und Beamten. Es bezieht sich auch auf die Verankerung der Armee im gesellschaftlichen Bewußtsein. Besonders darauf, daß dies — dieser letztere Punkt — heute so sehr viel besser ist als in den 50er oder 60er Jahren, sind nun manche von uns innerhalb der Koalition ein bißchen stolz, denn dies glauben wir herbeigeführt zu haben. Das war Ihnen — und auch das werden Sie nicht bestreiten — damals gewiß nicht gelungen.
Wir sind in diesem Haus offensichtlich darin einig, daß die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland das Ziel verfolgt, den Frieden zu wahren, die Unversehrtheit unseres Landes zu sichern, die Freiheit der Bürger zu schützen und den politischen Handlungsspielraum dieses Staates zu erhalten. Das Fundament des Friedens und unserer Sicherheit ist das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West. Deswegen ist unsere Sicherheitspolitik vor allem anderen Bündnispolitik. Und nur auf diesem Fundament ist Entspannung, Entspannungspolitik möglich.Weil das so ist, fördert die Bundesregierung alle Bemühungen, die Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses als eines ganzen sicherzustellen, und sie trägt ihren Teil dazu bei, den wirtschaftlich oder finanziell schwächeren Staaten im Bündnis ihre Lasten der Verteidigung zu erleichtern. Sie erwartet dabei allerdings von ihren Partnern — und auch hier stimmen wir überein —, daß auch sie in ihren Anstrengungen nicht nachlassen.An diesem Punkte hat Herr Kollege Wörner, ohne im einzelnen die gemeinten Verbündeten mit Namen zu nennen — mit Recht hat er das nicht getan —, Sorgen geäußert und Kritik am Gesamtverhalten oder an der Gesamtdarstellung oder am Gesamtzustand des Bündnisses geübt. Darauf will ich eingehen.Herr Wörner, Sie haben an jener Stelle und mehrfach — nein, ich müßte sagen: viele Male — Ihre Aussage in die Formel „Der Westen" gekleidet: Der Westen muß, der Westen soll, der Westen darf nicht ... — Ich habe das nicht zu beanstanden.Ich denke, daß Sie in zweifacher Hinsicht Recht gehabt haben. Zum einen: Ob wir nun auf die einzelnen Abschnitte des Mittelmeers schauen, ob wir auf den Atlantik schauen, z. B. auf die Fischgründe Islands, ob wir nach Angola schauen oder in den Nahen Osten oder ob wir auf die Verteidigungsanstrengungen mancher unserer europäischen Bündnispartner schauen, es gibt in der Tat im einzelnen manche Situation, die Anlaß für Sorge sein muß, übrigens eben auch Anlaß zum Handeln für die betroffenen Regierungen, auch für unsere, die ja, wenn es sich um das Handeln zwischen verbündeten Regierungen in solchen Punkten, die Sorge machen, handelt, nicht in der Lage ist, das hier offen auszubreiten.Sie haben zum anderen wohl auch darin recht gehabt, daß auch Sie bei Ihrer Kritik keinen einzelnen Staat unter diesen unseren Bündnispartnern hier beim Namen adressiert haben.
— Vielleicht habe ich an einer Stelle nicht ganz aufgepaßt, aber ich meine, er habe sich Mühe gegeben, im einzelnen zurückhaltend zu sein. Das würde ich innerhalb eines Bündnisses jedenfalls angemessen und notwendig finden.Allerdings haben Sie an einer Stelle — und das hat mich sehr berührt, denn Sie haben mich dabei auch persönlich angesprochen — beklagt, Europa werde nicht geführt. So haben Sie es gesagt, wenn ich es richtig mitgeschrieben habe. Ich bin nicht ganz sicher, wie das gemeint war, Herr Wörner. Aber eines will ich — wie auch immer Sie es gemeint hatten — klarstellen: Ein deutscher Bundeskanzler darf nicht den Vorsatz fassen, sich zum Führer — ich meine das Wort „Führer" genauso wie Sie — —
— Ich meine das Wort „Führer" genauso, wie es Herr Wörner gemeint hat: im richtigen, vernünftigen Verständnis des Wortes, und nicht in seiner nationalsozialistischen Pervertierung. — Ich fange den
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14662 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Bundeskanzler SchmidtSatz noch einmal an: Ein deutscher Bundeskanzler darf nicht den Vorsatz fassen, sich zum Führer Europas aufzuschwingen.
Wie auch immer Sie den Satz gemeint haben mögen —
— Vielleicht können wir uns hier einander nähern. Deshalb will ich dazu meine Gedanken etwas näher ausbreiten.Sie haben in diesem Zusammenhang an Konrad Adenauer erinnert, und er war gewiß ein politischer Führer von Graden. Aber was die Führung Europas angeht, so war er doch ganz gewiß einer von mehreren Führungspersonen, die zugleich, vom Vertrauen der Wähler in ihren Ländern getragen, von verschiedenen europäischen Hauptstädten aus gemeinsam für die Schaffung Europas eintraten und die über gewisse Strecken dieser Entwicklung auch gemeinsam geführt haben. Dabei hat seit den Tagen Konrad Adenauers natürlich das deutsch-französische Verhältnis eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Sie haben mir soeben zugerufen, sie hätten nicht nur mich gemeint, sondern mich im Rahmen einer Personenmehrheit gemeint; ich nehme an, Sie meinten auch Personen aus anderen Ländern. Dazu muß ich Ihnen nun allerdings sagen: Das deutsch-französische Verhältnis war weder zu Zeiten Adenauers noch zu Zeiten Erhards oder Kiesingers so gut wie gegenwärtig und wie schon seit einiger Zeit.
Das nehmen wir, der Bundesaußenminister, der heute nicht in Bonn sein kann, ich und die ganze sozialliberale Koalition für uns z. B. als einen der positiven Punkte in der Bewertungsbilanz in Anspruch.
— Sie bestreiten es ja offensichtlich in Ihrem Zwischenruf nicht, sondern Sie versuchen nur abzulenken. Das ist Ihr gutes Recht, aber es hat kein Gewicht.
— Es ist Ihr gutes Recht, aber es hat kein Gewicht, meine Herren Kollegen!
Ich will einen anderen Gesichtspunkt hinzufügen, wenn nach Führung gefragt wird. Die sozialliberale Koalition hier in Bonn seit 1969, zunächst unter Brandt und Scheel
und dann durch Herrn Genscher, mich selbst und andere, hat ganz erhebliche, möglicherweise ausschlaggebende Beiträge dazu geleistet, daß England und Irland und Dänemark in die Europäische Gemeinschaft hereingeholt werden konnten und auch dringeblieben sind, obwohl das Leben für sie dort zunächst sehr schwierig zu sein schien. Ich bin nicht ganz sicher, ob das vorher, z. B. zu Zeiten des von Ihnen zitierten ersten deutschen Bundeskanzlers, auch von ihm gewollt gewesen ist.Nun will ich an dieser Stelle gerne einräumen, daß für manchen unserer Bündnispartner und manchen unserer EG-Partner die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf ihre nationale volkswirtschaftliche Lage, ihre nationale Beschäftigungslage, ihre Produktivitätsentwicklung natürlich nicht gerade die Phase des Übergangs aus der Mitgliedschaft in einer relativ lose geknüpften Freihandelszone in eine durch einen erheblichen Integrationsgrad ausgezeichnete Gemeinschaft erleichtert hat. Wir haben es infolgedessen notwendig gefunden, unsererseits auch durch Opfer, die wir unserer eigenen deutschen Gesellschaft zugemutet haben — jedes finanzielle Opfer zugunsten des Bündnisses und jedes finanzielle Opfer des Bundeshaushalts zugunsten der Europäischen Gemeinschaft sind doch zugleich Opfer zu Lasten der Reformpolitik, die wir sonst mit diesen Beiträgen im eigenen Lande finanzieren könnten , diesen unseren Partnerstaaten den Übergang von dem früheren in den jetzigen Status engerer Zusammenarbeit zu erleichtern.Nun ist es nicht die Aufgabe des Kollegen Wörner, auch die Positivbilanz aufzumachen, und ich nehme es ihm auch nicht übel, daß er es nicht getan hat.
So wie die Opposition sich versteht, hat sie offenbar nur die Aufgabe, mit einem Auge auf die Welt zu sehen.
Der Herr Kollege Wörner hat aber gesagt — und ich meine, ich hätte mir das richtig aufgeschrieben —: Zum Pessimismus gibt es keinen Anlaß. Sehr richtig, Herr Kollege Wörner. Bitte, sprechen Sie dann auch dieser Einsicht gemäß: Zum Pessimismus gibt es keinen Anlaß!
Deswegen möchte ich Sie bitten, über den berechtigten Sorgen — manche davon sind sicher solche, die wir teilen, und ich nehme an, daß das nicht nur für Herrn Kollegen Wörner gilt, sondern auch für andere innerhalb der Oppositionsfraktion — die positiven, ermutigenden, aussichtverheißenden Punkte in der Bewertungsbilanz nicht zu verschweigen, damit wir uns nicht ein falsches Bild von der Welt machen, in der wir leben.Zu den positiven Posten in dieser Bewertung, Herr Kollege Wörner, gehört doch auch, was Sie selbst bei Ihren Besuchen in Amerika oder in den
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Bundeskanzler SchmidtNATO-Hauptquartieren oder in Brüssel, in Paris oder bei unseren eigenen Truppen oder bei den Truppen unserer Verbündeten erlebt haben. Sie haben dort nämlich keine wesentliche Kritik an der deutschen Bundeswehr und an der deutschen Sicherheitspolitik gehört. Sie haben positive Urteile gehört, und es wäre redlich, wenn Sie dies zum Ausdruck brächten, es wäre redlich, wenn Sie es nicht verschwiegen.Es hat hier heute vormittag einen Streit über einen Halbsatz gegeben und über den Kontext, innerhalb dessen dieser Halbsatz gelesen werden solle. Ich will mich da nicht noch anhängen, sondern will von mir aus nur zu dem sachlichen Gehalt dieser Meinungsverschiedenheit etwas beitragen. Ich habe früher in Diskussionen bei der Truppe und auch mit den Offizieren, Kommandeuren und Generälen, das, was Sie meinen, immer so formuliert, daß ich gesagt habe: Für uns, für die Bundeswehr gilt: Kämpfen zu können ist die notwendige Voraussetzung dafür, nicht eines Tages kämpfen zu müssen.
— Schönen Dank! Dieser Satz, der ganz gewiß nicht aus dem Repertoire des Herrn Kollegen Schröder oder des Herrn Kollegen von Hassel oder des Herrn Kollegen Theo Blank oder des Herrn Kollegen Strauß stammt, kommt aus unseren Federn, wie ja manches an geistiger Rationalisierung der Sicherheitspolitik und des Auftrags der Bundeswehr in diesem Jahrzehnt von uns geleistet worden ist.
Ich bin dankbar, daß Sie auch an diesem Punkte Übereinstimmung andeuten.Ich möchte hier deutlich sagen, und ich glaube, im Grunde stimmen Sie zu: Die Bundeswehr ist eine gute Armee, sie ist gut ausgebildet und ausgerüstet, sie ist von einem guten Dienstwillen erfüllt, von einem stärkeren Vertrauen der Gesamtgesellschaft getragen als noch in den 60er oder 50er Jahren, und dies gilt nicht nur für die Truppe, es gilt ebenso für die Stäbe und für die Kommandeure, und es gilt ebenso für den Minister, der nach den Vorschriften des Grundgesetzes die Befehls-und Kommandogewalt ausübt.
Die Bundeswehr trägt innerlich, in ihrem Bewußtsein auch die Entspannungspolitik. Sie weiß, daß sie selbst dafür einen wichtigen Teil der Basis, des Fundaments liefert. Rüstungsbegrenzung und Abrüstung gehören zu den Grundanliegen unserer Politik, denn Friedens- und Entspannungspolitik kann doch auf die Dauer nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, den Rüstungswettlauf zu dämpfen und zu stoppen. Kaum ein anderes Land in Europa ist daran auf Grund seiner Geschichte, seiner geographischen Lage, seiner außenwirtschaftlichen Verflechtung stärker interessiert als Deutschland. Kaum eine andere Nation ist daran stärker interessiert als die deutsche Nation.Nun hat es auch zu diesem Thema in den letzten Tagen einiges öffentliches Geplänkel gegeben. Z. B. haben zum Stichwort „Rapacki-Plan" einige Vertreter der Opposition in jüngster Zeit Ansichten geäußert, die mich — ich gestehe es freimütig — an Zeiten erinnerten, von denen ich hoffte, sie seien vorbei, an Zeiten, in denen es grundsätzlich für fehlerhaft erklärt wurde, etwas auch nur ernsthaft und objektiv prüfen zu wollen, wenn es aus dem Osten gekommen war.
Ich glaube, das, was Herr Wehner in Warschau angedeutet hat, ist leider wahr, nämlich daß die damaligen polnischen Vorschläge, die sich mit dem Namen des polnischen Außenministers in der zweiten Hälfte der 50er Jahre verbinden, vom Westen — ich spreche genauso umfassend und nenne niemanden einzeln, wie es auch Herr Kollege Wörner mit Recht getan hat — nicht zur Anknüpfung des Gesprächs benutzt worden sind. Ein Gespräch hätte ja nicht bedeutet, daß man diese Vorschläge zu akzeptieren hatte. Die Anknüpfung des Gespräches zur Entspannung hat statt dessen erst fünf Jahre später stattgefunden. Es hat der beiden Weltkrisen, der Krise um den Mauerbau in Berlin im Jahre 1961 und der Raketenkrise um Kuba im Jahre 1962 bedurft, um dann doch endlich in Washington und in Moskau den Willen auszulösen, von beiden Seiten her auszuloten, ob Entspannung möglich sei.
Es fing vor gut einem Dutzend Jahren mit dem Atomteststoppvertrag an. Darauf hat sich alles andere aufgebaut, bis hin zu SALT 1 und KSZE und hoffentlich eines Tages auch SALT 2 und MBFR. Die Bundesregierung ist bereit, alle Initiativen auf dem Felde der Abrüstung sorgfältig zu prüfen und zu unterstützen, wenn es sich um Vorschläge handelt, die der Sicherheit aller dienen — und das heißt eben auch: um Vorschläge, die das Gleichgewicht in Europa nicht verschieben.Meine Damen und Herren, am Schluß möchte ich, wenn die Frau Präsidentin es erlaubt, kurz auf ein politisches Ereignis in Niedersachsen eingehen, das Herr Professor Carstens heute vor dem Mittagessen in die Debatte eingeführt hat. Es ist ein wichtiges landespolitisches Ereignis, wobei ich über die Methode seiner Auslösung im Augenblick keinerlei Worte verlieren will.
Es kann noch wichtigere bundespolitische Auswirkungen haben, wie Sie ja hoffen, den es bringt für die Oposition für den Bundestagswahlkampf dieses Jahres erstmalig eine deutliche Verbesserung ihrer Chancen mit sich, und wir unterschätzen dies keineswegs.Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition aus Freien Demokraten und Sozialdemokraten fügen dem eine einzige Feststellung hinzu, nämlich diese: Die Tatsache, daß in zwei deutschen Land-
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Bundeskanzler Schmidttagen nur allerknappste Mehrheiten gegeben sind und in einem deutschen Landtag überhaupt keine Regierungsmehrheit gegeben ist,
wird uns den Blick für die Notwendigkeiten der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bürger nicht verstellen. Unser Gemeinwesen hat es nötig, daß wir die äußere Sicherheit, daß wir die innere Sicherheit, daß wir die Außenpolitik, daß wir die Deutschlandpolitik mit sicherer Hand führen, daß wir die Gesetze geben, deren unser Land bedarf — von der Mitbestimmung bis zur Familienrechtsreform —, daß wir sie in Kraft setzen.Mit einem Wort — dies sage ich zugleich auch für Herrn Genscher, und ich sage es zugleich auch für die Fraktion der Freien Demokraten und Herrn Mischnick sowie für die sozialdemokratische Fraktion und Herrn Wehner —: Wir werden wie bisher gemeinsam diesen Notwendigkeiten unseres Landes gerecht werden, und wir werden gemeinsam darum kämpfen, daß wir darin nicht mutwillig behindert werden können.
Ich füge einen letzten persönlichen Satz hinzu.
— Ganz soviel Zuversicht, wie ich eigentlich bei Ihnen erwartet hatte, meine Damen und Herren, macht dieses Geschrei nicht deutlich.
Ich füge einen Satz hinzu, Herr Professor Carstens. Ich warne vor Triumph; denn dieses Ereignis wirft uns nicht aus dem Gleis — im Gegenteil, wir werden gemeinsam kämpfen um die Erneuerung unseres Auftrags, und wir werden unsere Pflicht tun.
Ich bin ganz sicher, daß es genau dies ist, was die Bürgerinnen und die Bürger dieses Landes von uns erwarten: daß wir unsere Pflicht tun.
Das Wort hat der Abgeordnete Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist sicherlich noch zu früh, die Bedeutung der Wahl in Hannover für die deutsche Politik zu würdigen. Aber ich glaube, eines hat dieses Ereignis deutlich gemacht: daß es auf die Dauer nicht möglich ist, die stärkste Partei dieses Landes daran zu hindern, dieses Land zu regieren.
Zur Verteidigungspolitik haben wir heute von seiten der Regierung zunächst den Bundesverteidigungsminister und dann den Bundeskanzler gehört. Die Reden unterschieden sich fundamental.
Die Ausführungen des Bundesverteidigungsministers waren — ich muß es leider sagen, Herr Leber —, ein Gemisch aus billiger Polemik,
teils böswilligen Unterstellungen, allgemeinen Bekenntnissen und einem peinlichen Selbstlob, das man unter die Überschrift bringen könnte „Ich, Leber" — ich bitte, die Reihenfolge zu beachten —„und die SPD und die Bundeswehr sind gut".
Schade, der deutsche Verteidigungsminister hat nur selten die Gelegenheit, vor dem deutschen Parlament die Sicherheitslage unseres Landes im Zusammenhang darzustellen. Die Ausführungen des Bundeskanzlers waren weit sachlicher und sachbezogener, wenn sie auch leider das nicht nachgeholt haben, was der Bundesverteidigungsminister versäumt hat.
Meine Damen und Herren, das erleichtert es mir aber nach dieser Bereinigung der Atmosphäre, die Vorstellungen der Opposition zur Sicherheitslage noch einmal im Zusammenhang darzustellen. Dabei werden nicht Kritik und Anklage, sondern Analyse und Anregung im Vordergrund stehen. Da es in dieser Debatte nicht nur um die Bundeswehr, sondern um die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik geht, und da diese in das Bündnis eingebettet ist, müssen sich meine Ausführungen notwendigerweise auf Westeuropa und den ganzen Westen erstrecken.Eine zweite Vorbemerkung werden Sie mir gestatten. Richtige Politik setzt eine zutreffende Beurteilung der Lage voraus. Da die Sicherheitslage Teil der Gesamtlage, die Sicherheitspolitik daher Teil der Gesamtpolitik sein muß, werde ich zunächst in wenigen Strichen den geistigen und politischen Hintergrund erhellen, vor dem sich deutsche, europäische und atlantische Sicherheitspolitik ereignen. In einem zweiten Abschnitt werde ich mich dann der Frage zuwenden, wie europäische Sicherheit in den kommenden Jahren gewährleistet werden kann, wie insbesondere das spezifisch deutsche Sicherheitsinteresse in die Verteidigungskonzeption der NATO und unserer Verbündeten eingebettet werden kann.Zunächst also: Welcher Bedrohung hat der Westen in den nächsten Jahren zu begegnen? Wie ist die heutige Sicherheitslage? Wie ist sie entstanden?In der Sicherheitspolitik der Nachkriegszeit gibt es eine tiefe Zäsur. Der offen ausgetragene Konflikt zwischen rechtsstaatlicher Demokratie und kommunistischer Diktatur, zwischen West und Ost war das erste Thema der Nachkriegspolitik. Diese Zeit wird heute rückblickend als die Zeit des kalten
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Dr. DreggerKrieges bezeichnet. An seine Stelle sind — so wird gesagt — Entspannung und friedliche Koexistenz getreten.Dieser Themenwechsel hat die Politik des Westens grundlegend verändert. Mit dem Gefühl der Bedrohung schwand die Bereitschaft zur Wachsamkeit und zur Zusammenarbeit. Das Gefüge der NATO hat sich seitdem gelockert. Die europäische Einigung stagniert. Die Verteidigung wurde vernachlässigt.Auch innenpolitisch hat dieser Themenwechsel im Westen weitreichende Konsequenzen gehabt. Der Einfluß der Kommunisten und ihrer Helfer ist in allen westlichen Ländern gewachsen. In Frankreich haben nur wenige Stimmen gefehlt, um einen Volksfrontpräsidenten an die Macht zu bringen. In Italien halten manche den sogenannten historischen Kompromiß zwischen Kommunisten und Christdemokraten für unabwendbar. Auch in der Bundesrepublik Deutschland hat sich die Lage wesentlich verändert. Im Zuge der neuen Ostpolitik haben SPD und FDP auch innenpolitisch die Abwehrfront gegenüber den Kommunisten ich will mich zurückhaltend ausdrücken — wesentlich aufgelockert.
Die Verfassungsdebatte und die Debatten zur inneren Sicherheit haben das erkennen lassen.Der Themenwechsel vom kalten Krieg zur Entspannungspolitik hat im Osten keine vergleichbaren Veränderungen zur Folge gehabt, weder innen- noch außenpolitisch. Die Bürgerrechtsbewegungen werden nach wie vor unterdrückt. Viele ihrer Vertreter befinden sich im Zuchthaus, in der Irrenanstalt oder werden aus ihrer Heimat ausgewiesen. Die Sowjetunion hat ihre ost- und mitteleuropäischen Satelliten fest im Griff. Sollte sich in einem Land das wiederholen, was sich 1968 in der Tschechoslowakei ereignete, so würde die Sowjetunion dem mit vergleichbaren Mitteln begegnen.Eine in den Jahren der Entspannung durchgeführte atemberaubende Aufrüstung hat die Sowjetunion zur modernsten, auf allen Weltmeeren operierende Seemacht, zur vollen Parität in der Nuklearmacht gebracht und ihre konventionelle Überlegenheit an Land- und Luftstreitkräften in Europa — auch in Mitteleuropa — auf einen Stand gebracht, der einen konventionellen gegen Westeuropa gerichteten Blitzkrieg nicht von vornherein als aussichtslos erscheinen läßt.Diese Aufrüstung dient nicht der Erhaltung, sondern der Überwindung des Status quo, wie sowjetische Theorie und Praxis zeigen.
Diese Aufrüstung hat den Sinn, militärische Macht in politischen Druck zu verwandeln. Dieser Druck ist verbunden mit Spionage, Sabotage, Subversion sowie ideologischer, finanzieller und waffenmäßiger Ausrüstung der Gegner des Westens überall in der Welt.Die unterschiedliche Anwendung der Begriffe „Entspannung" und „friedliche Koexistenz" in Ostund West hat das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt grundlegend verändert. In Vietnam wurden die USA zum Rückzug gezwungen. In einer Dreiphasenstrategie wurde der vietnamesische Verbündete des Westens zunächst diffamiert, dadurch isoliert und schließlich liquidiert. Der Sieg auf dem Schlachtfeld wurde erst vollzogen, nachdem er in den Massenmedien, den Hörsälen und in den Straßendemonstrationen in Westeuropa und in Amerika errungen war.
Nach dem Sieg der Kommunisten ist das Interesse der westlichen Protestierer am Schicksal der Vietnamesen schlagartig erloschen.
Auch in Europa, meine Damen und Herren, sind die Erfolge der kommunistischen Politik unübersehbar. Durch die deutschen Ostverträge und die Konferenz von Helsinki wurde die gesamte Kriegs- und Nachkriegsbeute der Sowjetunion in Ost- und Mitteleuropa zwar nicht völkerrechtlich, aber doch politisch legitimiert. Jetzt steht nach Auffassung der Sowjetkommunisten nicht mehr die Zukunft Osteuropas, sondern nur noch die Zukunft Westeuropas zur Diskussion.Zur Zeit ist vor allem Afrika wichtiger Schauplatz der sowjetischen Einflußstrategie. Während die westliche Führungsmacht ihre vietnamesische Vergangenheit bewältigt, marschieren die Hilfstruppen der Sowjetunion in Angola.
Europa ist hier, wie anderswo, als Machtfaktor nicht präsent, obwohl in Afrika auch unsere Rohstoffquellen und damit unsere Sicherheit auf dem Spiele stehen.All das ist, soweit es die Sowjetunion angeht, nicht überraschend, da ihre Führer und Ideologen nie verschwiegen haben, daß ihre offensive Zielsetzung nicht aufgegeben worden ist. „Entspannung" und „friedliche Koexistenz" bedeuten für sie nicht das Ende, sondern die Fortsetzung der Konfrontation bis zum Sieg des Kommunismus im Weltmaßstab, wobei ihnen nach ihrer eigenen Interpretation des Entspannungsbegriffes alles erlaubt ist, was ihren Interessen dient, sogar Bürgerkriege und nationale Befreiungskriege.Meine Damen und Herren, hat der Westen diesem Gegner gegenüber eine Chance? Was dem Westen die Auseinandersetzung so schwer macht, ist die Tatsache, daß er einem Gegner gegenübersteht, der völlig anders ist als er selbst. Dieser Gegner hat nicht, wie der Westen, eine offene, sondern eine geschlossene Gesellschaft. Dieser Gegner macht, anders als der Westen, schon im Frieden alle seine Ressourcen, ideologische, politische, wirtschaftliche und militärische, seiner offensiven Zielsetzung nach strategischen Gesichtspunkten unter einheitlicher Leistung dienstbar .Das gegnerische System ist gekennzeichnet durch Einheit, gemeinsame Ideologie und Durchsetzungswillen. Entscheidend in dieser Trias ist die gemeinsame Ideologie, weil sie Einheit
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Dr. Dreggerund Durchsetzungswillen bewirkt. Ideologische Fragen haben daher im Ostblock höchsten Rang. Sie werden dort ebenso ernst genommen, wie dogmatische Fragen in der alten Kirche ernst genommen worden sind.Auf Grund dieser offensiven Ideologie sind die Kommunisten, ob sie uns nun als Parteien in der Innenpolitik oder als Staaten in der Außenpolitik gegenübertreten, zu definieren als eine kämpfende, ständig im Angriff befindliche Gruppe mit dem Ziel, ihren Glauben und ihre dressierte Unfreiheit der ganzen Menschheit aufzuzwingen.Nochmals: Hat der Westen ,diesem Gegner gegenüber eine Chance? Ja, er hat sie — noch. Erstens ist der Westen zahlenmäßig nicht schwächer, solange China und die Sowjetunion getrennt bleiben, sicherlich ein wesentlicher Gesichtspunkt für die westliche China-Politik. Zweitens. Der Westen ist ökonomisch ungleich stärker. Die Gegenseite braucht unsere Technologie, unsere Maschinen, ja sogar unseren Weizen. Drittens. Unsere Lebensqualität — nicht nur der Lebensstandard, sondern die sozialen Rechte und ,die Persönlichkeitsrechte — sind denen der anderen Seite haushoch überlegen.
Der Westen hat damit auch die Fähigkeit — ich will vorsichtiger sagen: ,die Möglichkeit , die Aufgaben zu erfüllen, deren Erfüllung oder Nichterfüllung die Entscheidung bringen wird, nämlich erstens der militärischen Erpressung vorzubeugen und, wenn notwendig, zu begegnen und zweitens die geistige und politische Auseinandersetzung zu gewinnen.Der Westen kann auf diesen Feldern der Entscheidung aber nur dann gewinnen, wenn seine Bürger wissen, um was es geht, wenn sie wissen, was auf dem Spiel steht, und wenn sie die Ziele und Methoden des Gegners kennen. Denn unsere demokratische Gesellschaft, in der Politik nicht erzwungen, sondern letztlich akzeptiert werden muß, kann ohne volle Information über die sie bedrohenden Gefahren die geistigen und moralischen Kräfte nicht entwickeln
und die Opfer nicht erbringen, die notwendig sind, um die Freiheit zu erhalten. Aufklärung über die Ziele und Methoden des Gegners und über die Mittel, die ihm zur Verfügung stehen, wozu auch die militärischen gehören, ist daher erster und wichtigster Teil westlicher Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Und nun kommt meine erste Kritik an die Adresse der Bundesregierung. Diese entscheidend wichtige Aufgabe ,der Information und Aufklärung hat die Bundesregierung nicht erfüllt. Allenfalls in geheimen Sitzungen der zuständigen Parlamentsausschüsse haben einzelne ihrer Vertreter ein ungeschminktes Bild der Lage gegeben.
Nach außen stehen Verschweigen, Beschwichtigen und Beschönigen im Vordergrund.
Die Antwort auf unsere Große Anfrage und auch die mündliche Antwort des Bundesverteidigungsministers waren dafür ein Beispiel.Herr Bundeskanzler, an Sie und an Ihre Regierung möchte ich die Aufforderung richten, die Bürger dieses Landes nicht wie Kinder zu behandeln, denen man die volle Wahrheit nicht sagen kann.
Setzen Sie das Werk der Täuschung, das Ihr Vorgänger — bewußt oder unbewußt — begonnen hat, nicht fort! Klopfen Sie sich nicht selbst dauernd auf die Schulter, auch dann, wenn kein Anlaß dazu besteht,
sondern sagen Sie 'die Wahrheit, auch dann, wenn Sie unangenehm ist!
Und die Wahrheit ist 'doch, daß der Kernsatz Ihrer schriftlichen Antwort — ich zitiere ihn wörtlich —:..., daß sich aus der gegenwärtigen Situation keine unmittelbaren militärischen und politischen Gefahren für den Westen ergeben.absolut unzutreffend ist,
daß sich die Sicherheitslage unseres Landes in den letzten Jahren mindestens eben so verschlechtert hat wie seine wirtschaftliche, finanzielle und soziale Lage.
Der Hinweis, daß andere westliche Länder in ihren Verteidigungsanstrengungen noch schlechter dastehen als wir, ist nur ein schwacher Trost. Er nützt auf diesem Gebiete noch weniger als auf dem Felde der Wirtschaftspolitik.
Denn in der Sicherheitspolitik haben wir nicht den Wettbewerb mit unseren Verbündeten, sondern mit unseren Gegnern zu bestehen, deren wachsende militärische Überlegenheit und deren offensive Zielsetzung uns bedrohen.Ich bin der Überzeugung: Wenn die führenden Politiker des Westens — dazu gehören auf Grund des Gewichts unseres Landes auch die deutschen — den Mut haben, ohne Beschönigung und ohne Beschwichtigung die Wahrheit zu sagen, dann werden ihre Völker auch den Selbstbehauptungswillen und bei ihren materiellen Möglichkeiten auch die Selbstbehauptungsfähigkeit bekommen, die für ihren Fortbestand nötig sind. Allein auf der Grundlage dieses Selbstbehauptungswillens und dieser Selbstbehauptungsfähigkeit — in klarer Erkenntnis der Gefahren — kann dann eine kluge westliche Politik Spannungen begrenzen. Mehr ist vorerst nicht möglich. Das Ende der Spannungen könnte erst eintreten, wenn die Gegenseite ihre offensive Zielsetzung aufgibt. Die unterschiedliche Auslegung der Begriffe „Ent-
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Dr. Dreggerspannung" und „friedliche Koexistenz" in Ost und West müßte daher vorrangiges Thema der Entspannungsgespräche zwischen der anderen Seite und uns sein.Der französische Staatspräsident hat bei seinem letzten Besuch in Moskau damit begonnen, indem er die Sowjetunion aufforderte, den ideologischen Krieg zu beenden oder zumindest zu mildern. Die Tatsache, daß die Sowjets nicht bereit waren, dieser Aufforderung zu folgen, ist für uns kein Anlaß, darüber zu schweigen.
Wir dürfen uns die Thematik und den Fortgang der Entspannungspolitik nicht von der Gegenseite vorschreiben lassen, sondern müssen ihren Inhalt ganz wesentlich mitbestimmen.
Zur Selbstbehauptungsfähigkeit des Westens gehört auch, daß er seine militärischen Kräfte nicht zersplittert, sondern endlich zusammenfaßt. Nicht die Antwort der Bundesregierung zur Verteidigungspolitik, sondern der Bericht des belgischen Ministerpräsidenten, Tindemans, zur Europapolitik hat auf die Aufgaben hingewiesen, die uns auf diesem Felde bevorstehen. Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich einige Zitate aus dem Bericht Tindemans vortragen.Europa muß wieder Herr seines eigenen Schicksals werdenheißt es dort.Die Sicherheit darf nicht aus der Europäischen Union ausgeklammert werden.
Ich stelle fest, daß unsere Staaten heute noch nicht in der Lage sind, allgemeine Orientierungsrichtlinien zu erarbeiten, ohne die eine gemeinsame Verteidigungspolitik undurchführbar ist. Ich schlage demnach vor,- immer noch Tindemansregelmäßig einen Meinungsaustausch über unsere spezifischen Verteidigungsprobleme sowie über die europäischen Aspekte der multilateralen Verhandlungen über die Sicherheit durchzuführen.Aus dem Kontext, in dem diese Zitate stehen, wird folgende Auffassung deutlich:Erstens. Die gemeinsame Sicherheit muß Kernpunkt der europäischen Einigung sein.Zweitens. Die gemeinsame Sicherheit gehört zu den vier grundlegenden Problembereichen, in denen konkrete Sofortmaßnahmen notwendig sind.Drittens. Die europäischen Regierungen sind von einer gemeinsamen Beurteilung dieses Problems noch weit entfernt.Viertens. Ein regelmäßiger Meinungsaustausch soll zu einer gemeinsamen Analyse führen; diese Analyse ist Voraussetzung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und — ich unterstreiche das — einer übereinstimmenden Beurteilung der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten von Amerika.Meine Damen und Herren, die Ausführungen von Tindemans sind nüchtern und realistisch. Sie lassen ungelöste Probleme und schwere Versäumnisse der europäischen Regierungen erkennen.
Die Bundesregierung hat leider die Gelegenheit, diese ungelösten Probleme, die Meinungsverschiedenheiten der NATO-Partner und die Lösungsvorschläge der Bundesregierung vorzutragen, nicht genutzt, obwohl ja diese Große Anfrage der Opposition dazu eine ausgezeichnete Gelegenheit geboten hat. Statt dessen wurden Probleme verschwiegen.Zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik sagt die Bundesregierung in ihrer schriftlichen Antwort z. B., diese Zusammenarbeit sei eng und vielgestaltig. Daß Frankreich aus der integrierten Verteidigung der NATO ausgeschieden ist, daß es sich auf bilaterale Absprachen über einen gemeinsamen konventionellen Einsatz beschränkt, sich die Entscheidung über Zeitpunkt, Art und Umfang dieses Einsatzes aber vorbehält und daß es Absprachen über die Einsatzplanung seiner nuklearen Waffen völlig ausspart, bleibt unerwähnt, obwohl doch diese Tatsachen für unsere Sicherheit ebenso von Bedeutung sind wie für die Möglichkeiten der europäischen Einigung.
Der Herr Bundeskanzler sagte eben, die deutschfranzösischen Beziehungen seien noch nie so gut gewesen wie jetzt. Dazu muß ich die Frage an ihn richten, welche Wirkungen diese guten Beziehungen denn im Fortschritt auf die Einigung Europas gehabt haben. Das muß doch an den Ergebnissen gemessen werden.
Statt Probleme und Lösungsmöglichkeiten darzulegen, hat es der Bundesminister der Verteidigung vorgezogen, in einem Beitrag für die Stuttgarter Zeitung vom 3. November zu empfehlen, von einer Diskussion über ein europäisches Verteidigungskonzept überhaupt abzusehen. Das wurde auch heute morgen in seinem Beitrag wieder erkennbar.Ich kann nur hoffen, daß ihn wenigstens der Tindemans-Bericht aus seiner Lethargie in Fragen der europäischen Verteidigung herauszureißen vermag. Denn, meine Damen und Herren und Herr Bundesminister der Verteidigung, wenn ein regelmäßiger Meinungsaustausch zwischen den europäischen Regierungen stattfinden soll — das schlägt Herr Tindemans vor — mit dem Ziel, zu einer gemeinsamen europäischen Analyse des Verteidigungsproblems, zu einer übereinstimmenden europäischen Beurteilung der Beziehungen zwischen den USA und Europa auch in Verteidigungsfragen und schließlich zu einer europäischen Verteidigungspolitik zu kommen, dann können doch die schwerwiegenden Strukturprobleme der westlichen Verteidigung nicht länger verschwiegen werden; dann müssen doch alle Fragen auf den Tisch.
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Dr. DreggerIch nenne einige dieser Fragen. Das erste ist die nationale Verteidigungsdoktrin Frankreichs mit ihren Auswirkungen auf die Sicherheit seiner europäischen Verbündeten.
— Entschuldigen Sie, der deutsche Verteidigungsminister kann ja nicht die französische Verteidigungspolitik bestimmen.
Aber wir müssen doch die Probleme erkennen und darstellen, wenn wir sie lösen wollen.Zweitens handelt es sich um die Frage, wie die Abschreckungswirkung taktischer und strategischer Nuklearwaffen trotz nuklearer Parität zwischen den USA und der Sowjetunion gegen einen konventionellen Angriff auf Westeuropa voll erhalten bleiben kann, insbesondere auch für diejenigen europäischen Verbündeten, die über diese Waffen nicht selber verfügen. Verteidigungsminister Schlesinger hat versucht, die Glaubwürdigkeit der strategischen Nuklearabschreckung der USA zugunsten Europas durch die Entwicklung sogenannter selektiver strategischer Optionen zu erhöhen. Wird damit das angestrebte Ziel voll erreicht? In welcher Weise tragen die europäischen Nuklearmächte zur Sicherheit ihrer nicht nuklear ausgerüsteten Verbündeten bei?Signale aus Paris, man sei nicht daran interessiert, über diese Fragen zu reden, sind für uns kein ausreichender Anlaß, über sie zu schweigen. Denn, meine Damen und Herren, Sicherheit im Bündnis kann es nur auf Gegenseitigkeit geben, nur dann, wenn die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten, also auch die unsrigen, voll berücksichtigt werden.Es ist meines Erachtens Aufgabe der deutschen Politik — der Bericht von Herrn Tindemans gibt dazu Gelegenheit —, unser spezifisch deutsches Sicherheitsinteresse zu formulieren und in die gemeinsame Verteidigungskonzeption einzubringen. Das geht sicherlich nicht ohne Diskussionen. Ich fordere Sie auf, sich daran zu beteiligen und nicht zu meinen, Herr Leber, es genüge, für eine gute Bundeswehr zu sorgen; denn die Bundeswehr allein kann die Sicherheit dieses Landes nicht gewährleisten.Worum muß es uns in der Sicherheitspolitik gehen? Ganz einfach gesagt: um Frieden und Freiheit. Diese alte Formel hat inzwischen gerade auf diesem Gebiet konkreten Inhalt gewonnen. Freiheit, das heißt auch Freiheit von politischem Druck durch militärische Macht. Einen solchen politischen Druck auszuüben ist doch das mindeste, was die Sowjetunion mit ihrer sonst geradezu als irrsinnig zu bezeichnenden Aufrüstung beabsichtigt.
Frieden, das heißt für uns an der Grenze mehr als für jeden anderen — das möchte ich betonen — die Strategie des Nichtkriegs.Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, möchte ich ihn einmal bis zum Ende des Denkbaren ausführen. Für die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion ist schon viel erreicht, wenn der große nukleare Schlagabtausch auf ihre Kerngebiete unterbleibt, worüber ja aus verständlichen Gründen auch bilaterale Absprachen bestehen. Für Frankreich oder Großbritannien ist schon viel erreicht, wenn sowjetische Blitzkriegsarmeen an der französischen Grenze oder am Ärmelkanal haltmachen und sich damit begnügen, sich des übrigen Europas als Faustpfand zu bemächtigen. Für uns ist bei der modernen konventionellen Waffenwirkung in unserem dichtbesiedeltem Land auch der begrenzte, nur konventionelle Krieg so schrecklich, daß wir ständig mit ganz besonderem Nachdruck die sich zum Nachteil des Westens verschlechternde militärische Lage und die Verteidigungskonzeption der NATO, seiner integrierten Verbände und seiner nichtintegrierten Verbände, auch seiner Nuklearwaffen, dahin gehend überprüfen müssen, ob sie der spezifischen Sicherheitslage auch unseres Landes gerecht werden.
Dazu haben wir als deutsche Politiker nicht nur die Pflicht, sondern auch die Möglichkeit. Denn so richtig es ist, daß es eine nationale deutsche Verteidigung nicht gibt und gegenüber einem stärkeren, dazu mit Nuklearwaffen ausgerüsteten Gegner nicht geben kann, so richtig ist es, daß Westeuropa nicht ohne deutsche Truppen zu verteidigen ist. Wir haben daher nicht nur zu fragen, was den anderen zumutbar ist und wozu sie bereit sind; wir haben auch das Recht und im Interesse unseres Landes die Pflicht, die Frage aufzuwerfen, was uns zumutbar ist und wozu wir bereit sein können. Niemand wird von uns erwarten können, daß wir unser Land als Glacis, als Vorfeld für andere, als möglichen Schauplatz auch eines nur begrenzten konventionellen Krieges verstehen können.Seit die Sowjetunion zur konventionellen Überlegenheit, die sich noch vergrößert hat, die nukleare Parität hinzugewonnen hat — eine Konstellation, die relativ neu, jedenfalls noch nicht im allgemeinen Bewußtsein ist —, kann das Dilemma der europäischen Verteidigung etwa wie folgt umrissen werden. Westeuropa kann gegen einen konventionellen Angriff auch konventionell auf Dauer nicht verteidigt werden. Es gibt Meinungen, daß das nur für einige Tage möglich ist. Ohne Nuklearwaffen geht es also leider nicht, was Schlesinger und Leber übereinstimmend mit Recht festgestellt haben. Das einzige, was uns aus diesem Dilemma befreien könnte, wäre konventionelle Parität, die aber leider von der Sowjetunion mit Entschiedenheit abgelehnt wird. Je stärker die Sowjetunion nuklear wird — inzwischen hat sie die Parität erreicht und scheint dabei, das Übergewicht zu gewinnen —, um so problematischer wird es, das konventionelle Defizit in Europa durch nukleare Waffen ausgleichen zu wollen, da ihr Einsatz einen nicht minder verheerenden Gegenschlag auslösen würde. Die nukleare Antwort auf einen überlegenen konventio-
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Dr. Dreggernellen Angriff auszulösen ist insbesondere für denjenigen fragwürdig, dessen eigenes Schicksal von diesem konventionellen Angriff nicht unmittelbar betroffen ist.Was ergibt sich aus diesem Dilemma für die deutsche Sicherheitspolitik heute, d. h. für die Zeit, in der die Strukturprobleme der europäischen Verteidigung noch nicht gelöst sind?Erstens. Die Anwesenheit amerikanischer Truppen mit taktischen Nuklearwaffen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland ist unverzichtbar, da sie mehr als alles andere geeignet ist, die Nuklearmacht USA in die Mithaft für die europäische Sicherheit einzubeziehen,
Ein irgendwie gearteter Rapacki-Plan ist in der gegenwärtigen Sicherheitslage unseres Landes daher auch aus diesem Grunde — es gibt noch andere Gründe — völlig indiskutabel. Ich bedauere, daß Herr Wehner in Warschau zumindest den Anschein erweckt hat -- ich will mich vorsichtig ausdrükken —, daß das ein Gedanke sei, über den wir ernsthaft zu verhandeln überhaupt bereit sein könnten.
Die Anwesenheit amerikanischer Truppen auf dem europäischen Kontinent mit taktisch-nuklearischen Waffen und die Festlegung selektiver Optionen für ihre strategisch-nuklearen Waffen erspart es den Europäern aber auf die Dauer nicht, einen eigenen Beitrag zur Strukturreform des Bündnisses zu leisten. Diese Reform ist allerdings nicht auf den Sicherheitsbereich zu beschränken. Sie muß die gesamte politische Struktur des freien Europas umfassen. Beste Lösung wäre sicherlich die Gründung des Europäischen Bundesstaates, zu dessen Kompetenzen auch die Verteidigung gehören würde. Dieses Ziel ist sicherlich fern, aber es darf nicht aus dem Auge verloren und nicht durch Rapacki-Pläne und ähnliches endgültig vereitelt werden.
Da Europa aber nur schrittweise zu verwirklichen ist — auch die angestrebte europäische Union, mit der sich der Tindemans-Bericht befaßt, ist nur ein Schritt in Richtung auf den europäischen Bundesstaat —, erhebt sich die Frage, ob bis dahin Zwischenschritte auf dem Gebiet der Verteidigung möglich und notwendig sind. Der Tindemans-Bericht sagt dazu eindeutig ja.
Auch wir, die Opposition, sagen dazu seit jeher ja.Der erste Schritt in die richtige Richtung ist eine verstärkte europäische Verteidigungszusammenarbeit,
wie sie die CDU/CSU wiederholt angeregt hat. Ich denke vor allem an folgendes: nicht, wie es zur Zeit geschieht, jedem Bündnispartner den Weg zu einer eigenen Neuordnung seiner Wehrstruktur zuöffnen, sondern alle Möglichkeiten zur Vereinheitlichung der Grundsätze für Ausbildung, Gliederung und Einsatzplanung zu nutzen; ferner gemeinsame Vorbereitung für alle denkbaren Krisen zu treffen, damit in plötzlich eintretenden Ernstfällen schnelles und sicheres Handeln gewährleistet ist. Die Erfahrungen aus dem letzten Nahostkrieg geben zu dieser Bemerkung Anlaß; schließlich davon war heute morgen mehrfach die Rede — durch eine durchgreifende Waffenstandardisierung eine unverantwortliche Verschwendung von Steuergeldern auf der einen Seite und kaum überbrückbare Schwierigkeiten für die Logistik und damit für die Einsatzfähigkeit einer Bündnisarmee auf der anderen Seite auszuschließen. Das ist der erste Schritt.
Der zweite Schritt könnte eine europäische Verteidigungsgemeinschaft neuen Typs sein, wie ich sie in einem Denkmodell in der „Deutschen Zeitung" angeregt habe, eine Verteidigungsgemeinschaft, die erstens fest im NATO-Bündnis mit den USA verankert ist, in der zweitens nicht jeder Partner über alle Waffen verfügt — in der aber alle Waffen eines jeden dem Schutz aller dienen —, in der drittens Rüstung, Einsatzgrundsätze, Logistik institutionell vereinheitlicht sind — denn ob durch Absprachen allein dem Egoismus der Rüstungsindustrien und der Wirtschaftspolitiken der Staaten begegnet werden kann, ist sehr fraglich — und in der viertens alle konventionellen und nuklearen Waffen der Partner zusammengefaßt sind, um sie nach dem Prinzip gleicher Aufwand, gleiches Risiko, gleicher Schutz der Abschreckungsstrategie zugunsten des Gesamtgebiets nutzbar zu machen. Das könnte der zweite Schritt sein.Der dritte Schritt wäre der europäische Bundesstaat mit voller Kompetenz in Verteidigungsfragen. Der Weg dahin ist weit. Aber die Zeit drängt. Bitte drängen auch Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, soweit Sie unsere Ziele teilen. Greifen Sie unsere Gedanken auf, soweit sie Ihnen brauchbar erscheinen, bringen Sie eigene ein, soweit Sie welche haben, aber zögern Sie nicht, handeln Sie, bringen Sie das europäische Einigungswerk mit uns gemeinsam voran — auch auf dem Felde der Verteidigung —, und lassen Sie es nicht scheitern am Egoismus der Nationalisten und am Utopismus der Sozialisten!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dregger sprach davon, zu einer richtigen Politik gehöre eine richtige Beurteilung der Lage. Völlig in Ordnung; wir stimmen darin überein. Aber, Herr Kollege Dregger, wenn man alle Ihre Ausführungen und auch die des Kollegen Wörner — nicht nur hier heute, sondern auch sonst — zusammenfaßt, kommt man doch immer wieder zu dem Ergebnis, daß eine richtige Beurteilung der Lage bei Ihnen offensicht-
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14670 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Mischnicklieh nicht vorausgegangen ist. Ich kann doch die Verteidigungspolitik nicht isoliert sehen; ich muß sie doch immer im Gesamtzusammenhang nicht nur unserer Außenpolitik, sondern auch der Außenpolitik unserer Partnerländer sehen.
Wenn Sie hier eine Zielvorstellung entwickelt haben, der natürlich alle, die der europäischen Idee anhängen, voll zustimmen, nämlich den europäischen Bundesstaat mit einer eigenen Verteidigungshoheit, dann sind wir darin einig. Nur, denken Sie bitte daran: Es ist doch schon einmal der Versuch mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gemacht worden. Er ist gescheitert, weil er eben ein Ziel anvisierte, das nicht durchsetzbar war, da die Interessenlagen der verschiedenen Beteiligten zu unterschiedlich waren.
Worauf es uns in der Verteidigungspolitik heute ankommt, ist, das, was wir aus verteidigungspolitischen Gründen, aus sicherheitspolitischen Gründen für uns für notwendig halten, in Einklang zu bringen nicht nur mit unseren eigenen außenpolitischen Überlegungen, sondern auch mit denen der Partnerstaaten, und daraus ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Das ist die Aufgabe, die vor uns steht und die wir bewältigen müssen.
Wenn man das aber sieht — und das gehört zur richtigen Beurteilung der Lage —, ist es doch selbstverständlich, daß man eben nicht sagen kann: ich erwarte von dir, NATO-Partner Frankreich, England, Amerika — wer auch immer mit Vollintegration oder Teilbeteiligung in diesem Bereich —, daß du verteidigungspolitisch all die Überlegungen, die wir haben, voll übernimmst; aber wenn ihr beispielsweise bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bestimmte andere Überlegungen habt als wir, dann isolieren wir uns von euch. Dies paßt dann nicht zusammen!
Gerade mit Ihrer Haltung in diesen Fragen haben Sie dieses Gesamtkonzept in Frage gestellt und deutlich gemacht, daß Sie eben eine falsche Lagebeurteilung zur Grundlage Ihrer Entscheidung nehmen.Damit wir uns ja nicht mißverstehen und das draußen nicht falsch verwendet wird: Wir sind uns darin einig, daß die Verteidigungsbemühungen dieser Bundesrepublik Deutschland innerhalb der NATO nicht nachlassen dürfen und daß wir hier auch einen höheren Anteil als andere zu leisten haben. Aber das Ganze muß in ein politisches Konzept eingebettet sein und darf nicht isoliert laufen, und es darf vor allen Dingen, Herr Kollege Dregger, wenn ich so an manche Kongresse denke, nicht unter dem Gesichtspunkt betrieben werden, was man propagandistisch damit machen kann, statt in erster Linie unter dem Gesichtspunkt, was ich damit mache, um die Sicherheit unseres Volkes zu erhöhen. Das sinddoch die Punkte, die uns immer wieder auseinanderbringen!
Es ist der Vorwurf erhoben worden, wir sollten die Bürger nicht wie Kinder behandeln bzw. wir würden ihnen die Wahrheit nicht sagen, würden die Wahrheit verschweigen. Das tun wir nicht. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir halten auch nichts davon, daß Erkenntnisse, die wir haben, nicht nur nicht richtig eingeordnet werden, sondern von Ihnen zum Teil auch zu einer Art Panikmache verwendet werden. Das halten wir für falsch.
Nüchtern sagen, wie die Situation ist, deutlich machen, daß auch in einer Zeit der Entspannungspolitik Verteidigungsanstrengungen nicht nebenbei gesehen werden dürfen, sondern, voll integriert, Bestandteil dieser Überlegungen sein müssen — das haben wir für notwendig gehalten, und dabei werden wir bleiben.Aber es ist doch interessant, daß in dem Augenblick, in dem von dieser Bundesregierung in diesem Gesamtkonzept auf Grund der Beurteilung der Lage Überlegungen zur Abrüstung dargelegt werden, sofort wieder das Nein kommt. Das ist die Diskrepanz in Ihrer Gesamtpolitik, die hier deutlich wird.
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege Carstens, es ist doch ein entscheidender Unterschied, ob man bei diesen Überlegungen damit rechnen kann, gemeinsam — Regierung und Opposition - diese Auffassung in einem Bündnis zu vertreten, und dann versuchen muß, das Nein einer anderen Seite zu überwinden, oder aber, wie es bei uns der Fall ist, ständig zu hören: Wir wollen natürlich Entspannung, wir wollen Abrüstung, und bei konkreten Vorschlägen wird dann ständig von der Opposition gepaßt. Das ist der Punkt, um den es geht.
Dabei muß auch dies realistisch behandelt und darf nicht von der Vorstellungswelt aus betrachtet werden, wie wir es gern hätten, aber im Augenblick oder in kürzerer Frist nicht haben können.Der Herr Kollege Wörner hat heute vormittag, wenn ich es richtig im Gedächtnis habe, gesagt, wir sollten dort investieren, wo die Freiheit gesichert werde, und nicht Milliarden an den Osten geben. Ist das richtig?
— Sehen Sie, Herr Kollege Wörner, das ist wieder ein typisches Beispiel dafür, daß Sie mit einem solchen Hinweis den Eindruck erwecken wollen, als würde durch die Außenpolitik dieser Koalition der
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14671
MischnickBestand der Freiheit, die wir haben, nicht etwa gesichert, sondern gefährdet, weil wir ungleichgewichtig handelten. Dies ist nicht der Fall. Das Gegenteil ist richtig: wir handeln gleichgewichtig.
Bitte, Herr Kollege!
Darf ich an Sie die Frage richten, ob Sie dem Hohen Hause bekanntgeben könnten, in welchem Verhältnis Ihre Leistungen an die Ostblockstaaten zu Leistungen etwa an die Südflanke des Bündnisses stehen.
Herr Kollege Wörner, wenn Sie insgesamt unsere Leistungen a) im Bereich der Entwicklungshilfe, b) innerhalb der NATO —
— Darf ich es zusammenzählen? Es ist doch möglich, daß man die Gesamtlage betrachtet.
Entschuldigen Sie! Gerade wenn ich für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland tätig werden will, muß ich alle Leistungen in diesem Bereich sehen und darf dann nicht plötzlich anfangen wollen, NATO-Leistungen und andere Leistungen jeweils für sich zu nehmen.
Das ist ein Zahlenspiel, mit dem Sie keinen Erfolg haben werden.
Worauf es uns ankommt, ist, neben den Möglichkeiten, die wir haben, innerhalb des Bündnisses, innerhalb der Gemeinschaft, sei es mit finanziellen Mitteln, sei ,es mit militärischen Mitteln, zur Erhaltung der Freiheit beizutragen und gleichzeitig Wege zu suchen, wie man die Entspannungspolitik auch im Zuge der wirtschaftlichen Verbindung in Durchführung der Vereinbarungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterstützen kann. Dies in einem ausgewogenen Maße auch mit Krediten oder wie mit dem Rentenabkommen mit Polen zu tun, ist eben der Gesamtzusammenhang der Politik, und das ist nicht isoliert zu betrachten.
Das ist der Punkt, den ich Ihnen vorwerfe, und nichts anderes.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Wörner?
Es tut mir leid, Herr Mischnick, ich konnte die Antwort auf meine Frage nicht erkennen. Können Sie uns sagen — da mein Vergleich, den Sie angesprochen haben, lautete, daß Sie mehr an unsere Gegner als an unsere Verbündeten geben —, wieviel Sie für Griechenland und die
Türkei und wieviel Sie für die Ostblockstaaten getan haben?
Sehen Sie, dies ist der entscheidende Punkt: Sie versuchen hier, die Dinge nur punktuell zu sehen, während wir genau diese Frage im Gesamtzusammenhang betrachten,
weil Fragen der Verteidigungspolitik und der Außenpolitik nur im Gesamtzusammenhang zu betrachten sind.
Deshalb ist es falsch zu sagen: Griechenland bekommt soundso viele Millionen, Polen soundso viele. Das ist ein falscher Denkansatz, und damit kommen Sie zu einer Fehlbeurteilung der Situation.
Sie werden in Kürze — Sie haben das ja hier jubelnd gefeiert - Gelegenheit bekommen, im Bundesrat — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?
Bitte!
Herr Kollege Mischnick, nachdem der Herr Kollege Wörner soeben gesagt hat, im Bündnis gebe es keine Entwicklungshilfe, würden Sie ihm mitteilen, daß die NATO-Partner Türkei, Griechenland und Portugal von der Bundesrepublik Entwicklungshilfe erhalten?
Das weiß der Kollege Wörner natürlich. Er hofft nur immer, durch solche Fragen den Eindruck erwecken zu können, als stimme das nicht. Er weiß es ganz genau. Das ist es, was ich beklage, nämlich daß dann solche Fragen gestellt werden.
Meine Damen und Herren, die Union wird in Kürze Gelegenheit erhalten, im Bundesrat zu beweisen, ob sie, wenn es beispielsweise um die Bewertung des Rentenabkommens mit Polen geht, diesen Gesamtzusammenhang sieht. Die Verantwortung dafür ist für die Union möglicherweise mit dem heutigen Tag — man muß abwarten, wie die Entwicklung weitergeht — größer geworden. Ob sie dieser Verantwortung gerecht wird und ob man erkennen kann, sie ist tatsächlich in der Lage, Gesamtregierungsverantwortung zu übernehmen, liegt in erster Linie an ihrem Verhalten. Wir werden uns auf jeden Fall nicht auseinanderdividieren lassen und diese Politik — Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik — in gleicher Weise fortsetzen, wie es bis zum heutigen Tage geschehen ist.
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14672 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Das Wort hat der Abgeordnete Pawelczyk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposition hat im Grunde in jedem Beitrag von uns verlangt, die europäische Weiterentwicklung intensiver zu betreiben. Mit dieser Frage will ich mich hier in meinem Beitrag beschäftigen.Ich finde, Sie brauchen uns nicht permanent darüber zu belehren, daß es eines intakten Verteidigungssystems im Westen bedarf. Verteidigungsminister Leber hat in überzeugender Weise nachgewiesen, wie wir zur Stabilität des Bündnisses durch eigene Leistungen, durch Verbesserung der Bundeswehr beigetragen haben.Sie brauchen uns auch nicht darüber zu belehren, daß atlantische und europäische Solidarität miteinander in Übereinstimmung gebracht werden müssen, urn zu einer vernüftigen Verteidigungsleistung des Bündnisses insgesamt zu gelangen.Herr Kollege Wörner, Sie drücken sich besorgt über das Schicksal der Allianz aus. Sie sprechen von dem „Westen". Nun frage ich mich: Wie können Sie denn für den Fall, daß Sie die Regierungsverantwortung übertragen bekommen, die Entwicklung in dieser Richtung mit beeinflussen, wo Sie doch Punkt für Punkt, wenn es um entscheidende Fragen der Weiterentwicklung der gemeinsamen Außen- und Entspannungspolitik mit den Bündnispartnern ging, immer mit einem Nein reagiert haben und inzwischen außenpolitisch isoliert sind?
Wie wollen Sie dies mit Ihrer politischen Konzeption leisten?
Nun haben wir uns natürlich aUch Ihre verteidigungspolitischen Leitlinien angesehen, 'die kürzlich verabschiedet worden sind, und müssen leider zu dem Ergebnis kommen, zu dem auch Herr Weinstein gekommen ist: Nichts Originelles.
— Wenn Sie noch eine Rede halten wollen, melden Sie sich doch an. Wir haben hier schon zweimal dieselbe Rede gehört, wir hören sie uns dann auch noch ein drittes Mal an.Sie haben gesagt, daß Sie sich, abgesehen von wenigen Randpunkten, in Übereinstimmung mit der CSU befinden. Dieser sogenannte kleine Unterschied, der es, wie wir alle wissen, bekanntlich in sich hat, ist das, worüber wir heute miteinander zu reden haben. Es ist die Auseinandersetzung zwischen CDU und CSU. Die Auseinandersetzung zwischen den Atlantikern und den Neogaullisten ist nicht ausgetragen. Die Differenzen, die vorhanden sind, werden Sie wahrscheinlich für den Wahlkampf überdecken. Sie wissen, daß die Bundesrepublik sich am Beginn ,der Großen Koalition außenpolitisch sowohl gegenüber den Vereinigten Staaten als auch gegenüber Frankreich in einer ausgesprochen schlechten Situation befand. Bundeskanzler Kiesinger hat es in seiner Regierungserklärung im Dezember 1966 eingestanden. Er hat die Situation weiter konkretisiert in seiner Bundestagsrede vom 14. Juni 1967. Er hat damit zugegeben, daß diese unterschiedlichen Auffassungen in den Grundsatzfragen, die Atlantiker und Gaullisten trennen, in Ihrer gemeinsamen Fraktion vorhanden und nicht ausdiskutiert sind. Damit hat Kiesinger aber auch zugegeben, ,daß Sie zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen Politik nicht imstande sind, die ,das Maß an Solidarität zustande bringt, das dem Bündnis die Abwehrfähigkeit gibt, die es braucht, um der Entwicklung im Osten standhaft entgegentreten zu können. Diese Kontroverse ist bis heute nicht ausgetragen. Sie wird mühsam überdeckt. Übernähmen Sie im Herbst die Regierungsverantwortung, so wäre eine gleiche Entwicklung wie in der ersten Hälfte der 60er Jahre zu befürchten. Risse im Bündnis wären eine Gefährdung der Sicherheit der Bunrepublik Deutschland. Ich meine, daß die Tatsache, daß Herr Wörner zum Schattenverteidigungsminister ernannt wurde, die Kontroverse nicht zugunsten der Atlantiker aufgelöst hat.
— Ja, ein Schatten seiner selbst.
In einer CDU/CSU-Regierung stünden Kohl und Wörner Strauß und Dregger gegenüber. Niemand behauptet im Ernst, daß Kohl und Wörner sich politisch durchsetzen könnten. Wir alle wissen, daß Herr Dregger konzeptionell mehr mit der CSU als mit seiner eigenen Partei übereinstimmt.
— Der Kollege Dregger — ich habe natürlich zugehört — hat zu der entscheidenden Frage einer europäischen oder einer atlantischen Priorität und auch zur Weiterentwicklung im nuklearen Bereich keine Aussagen gemacht. Vor etwa einem Jahr hat es hier eine kurze Kontroverse mit der CSU gegeben, als ich schon einmal zur Nuklearpolitik Stellung zu nehmen hatte. Herr Stücklen war nicht bereit, das, was Herr Dr. Seidel für die CSU zu Fragen einer europäischen Nuklearmacht, und wenn sie nicht gelingt, einer ins Auge zu fassenden bundesdeutschen Nuklearmacht, die er gefordert hat, sagte, für die CSU zu dementieren. Das können Sie im Protokoll nachlesen. Solange das hier nicht ge-
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Pawelczykschieht, müssen wir davon ausgehen, daß dieser Dissens nicht ausgetragen ist, der eine Beeinträchtigung der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik wäre.
— Nein! Wir können hier über tausend Dinge reden, aber dieser entscheidende Dissens ist bei Ihnen nicht ausgetragen. Solange er nicht ausgetragen ist, besteht eine Gefahr für unsere Sicherheit.Nach unserer Auffassung lauten die wichtigen Fragen der Sicherheitspolitik wie folgt. Erstens: Was muß getan werden, um die Nukleargarantie der USA für Europa aufrechtzuerhalten? Zweitens: Was muß getan werden, um die militärische Präsenz der USA in Europa qualitativ ungeschmälert aufrechtzuerhalten? Drittens: Welche Anstrengungen müssen wir in Europa selber unternehmen, um die Abschrekkung glaubwürdig zu erhalten?In diesem Rahmen muß die europäische Verteidigungskooperation gesehen werden. Mit einer verantwortungsbewußten Sicherheitspolitik lassen sich die Forderungen nach einer europäischen oder gar einer nationalen nuklearen Streitmacht nicht in Übereinstimmung bringen, weil es sonst zu einem entscheidenden Dissens mit den Vereinigten Staaten käme.Würden Bestrebungen dieser Art sich durchsetzen, sehe ich folgende Gefahren. Erstens. Die USA könnten sich vor ihrer nuklearen Beistandspflicht entbunden fühlen.Zweitens. Das Nebeneinander einer europäischen und einer amerikanischen Nuklearstreitmacht könnte zu einer Regionalisierung führen, so daß die USA die strategischen Elemente und die europäischen Staaten die taktische Nuklearkomponente zu verantworten hätten.Drittens. Die Franzosen zeigen keinerlei' Bereitschaft, einem europäischen Zusammenschluß zuzustimmen.Viertens. Großbritannien ist in der Nuklearpolitik abhängig von der Vereinigten Staaten.Fünftens. Die technischen, die konzeptionellen Entwicklungen zwischen den beiden europäischen Nuklearstreitmächten sind derart unterschiedlich verlaufen, daß es vieler Jahre bedürfte, bis eine Zusammenfassung erreicht würde.Sechstens. Eine europäische Nuklearstreitmacht wäre nur von Wert, wenn sie derjenigen der Vereinigten Staaten und derjenigen der Sowjetunion gewachsen wäre. Das wäre allein aus finanziellen Gründen überhaupt nicht darstellbar. Aber viel wichtiger ist, daß eine Entwicklung dieser Art einen neuen Rüstungswettlauf in Gang setzte. Die Entwicklung einer europäischen Nuklearmacht würde einen Rüstungswettlauf in der Welt anheizen. Europäische Entwicklungen würden sich wie eine ansteckende Krankheit auf andere Staaten und Staatengruppen außerhalb Europas ausbreiten.Siebtens. Die Entspannungspolitik zwischen West und Ost wäre bereits im Ansatz gescheitert. Stattgleichwertiger, kontrollierter Truppenreduzierungen fielen wir in die schrecklichen Zeiten des kalten Krieges zurück.Die Sicherheitspolitik der sozialliberalen Koalition unterscheidet sich ausdrücklich von derjenigen der Opposition. Die gemeinsamen Ansätze, die 1966 in der Großen Koalition formuliert wurden, hat die Opposition inzwischen verlassen. Sie stimmt zwar verbal der Doppelfunktion der NATO zu, nämlich durch die militärische Säule des Bündnisses und durch Entspannungspolitik die Sicherheit in Europa aufrechtzuerhalten, versagt sich jedoch regelmäßig, wenn es darum geht, politische Konsequenzen daraus zu ziehen.
— Das stimmt. Ich komme noch auf Beispiele.
Beide Säulen stehen gleichwertig nebeneinander. Sie bedingen einander; denn militärische Sicherheitspolitik ohne Entspannungspolitik würde in einem die finanziellen Möglichkeiten aller Beteiligten übersteigenden Maße den Rüstungswettlauf anheizen. Eine Entspannungspolitik ohne den sicheren militärischen Rückhalt wäre ein unverantwortliches Sicherheitsrisiko.Die Politik der SPD/FDP-Koalition ordnete sich seit 1969 ausdrücklich in diesen übergreifenden Entspannungsprozeß ein. Sie hat selber entscheidende Anstöße für die Weiterentwicklung in dieser Richtung gegeben und damit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der europäischen und atlantischen Solidarität geleistet. Wir Sozialdemokraten identifizieren uns mit den Ergebnissen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die ein Meilenstein in dieser Entwicklung ist.Diese Politik ist auch ein wichtiger Beitrag der sozialliberalen Koalition für die Fortentwicklung der Europapolitik. Sie geben hier permanent Rezepte für die Weiterentwicklung der Europapolitik aus, aber wir stellen immer wieder fest, daß sie untauglich sind. Sie haben Fortschritte nicht zustande gebracht. Wir haben mit dem Ansatz der sozialliberalen Koalition zu größerer Solidarität im westlichen Bündnis beigetragen. Die Bundesregierung hat dazu beigetragen, daß entgegen den Befürchtungen, die Sie als Opposition ständig vortragen, bei den KSZE-Verhandlungen die Übereinstimmung innerhalb der europäischen Staaten nicht abgenommen, sondern zugenommen hat. Sie wissen, daß der Konsultations-und Entscheidungsprozeß vervollkommnet wurde, und Sie geben inzwischen zu, daß Sie sich in diesem wichtigen Element der Weiterentwicklung der europäischen Politik geirrt haben. Durch enge Verflechtung der sachlichen Diskussion in der EPZ und in der NATO ist ein gemeinsames Stück Europapolitik geschrieben worden, die erstmals nationale Egoismen dieser verschiedenen Staaten überwunden hat, ohne in ein europäisches Hegemonie- oder Autonomiedenken zu verfallen.Alle westeuropäischen Staaten, die USA und Kanada sind sich in der Konzeption dieser Politik einig. Europäische Weiterentwicklung fordern ist eine Sache. Solidarität mit den Staaten, mit denen sie gemeinsam durchgesetzt werden muß, ist eine
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14674 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Pawelczykandere Sache. Hier sind Sie ständig den Beweis schuldig geblieben. Ich habe Ihnen das am KSZE-Beispiel soeben vorgeführt. Das praktische Ergebnis ist, daß die USA näher an Europa herangerückt sind, die EG gestärkt aus dieser Konferenz hervorgegangen ist, die Neutralen mit uns übereinstimmen. Alle Regierungen, auch die konservativen in Europa stimmen überein. Keine parlamentarische Opposi- tion in anderen Staaten lehnt die Ergebnisse ab. Nur zwei tun dies. Das eine ist Albanien, und das ist die Opposition im Deutschen Bundestag, die CDU/ CSU. Sie aber sagen, Sie seien nicht isoliert!Das gleiche Ausmaß an Solidarität ist im MBFR-Entscheidungsprozeß zu finden. Wir wissen alle, daß nur ein Teil der NATO-Staaten beteiligt ist. Wir wissen aber auch und begrüßen es, denke ich, alle gemeinsam, daß alle NATO-Staaten miteinander die Initiativen für die MBFR-Verhandlungen in Wien gemeinsam vorbereiten und abstimmen. Trotz unterschiedlicher nationaler Auffassungen gehen die NATO-Partner davon aus, daß die gemeinsame Zielsetzung, die Truppenstärken im europäischen Reduzierungsraum zu verringern, ohne die militärische Säule der Sicherheit zu vernachlässigen, höher zu bewerten ist als der nationale Egoismus.Wer die sicherheitspolitische Entwicklung nach 1956 prüft, wird feststellen, daß in den Jahren bis 1966 die Verteidigungsleistungen anderer Staaten, auch der Vereinigten Staaten, abgenommen haben. Der Verteidigungsminister Leber hat völlig recht, wenn er feststellt, daß die Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa nie so hoch war wie jetzt. Er hat seine Bewertung vor dem Hintergrund dieser Entwicklung abgegeben.Die Formulierung einer gemeinsamen Sicherheitspolitik hat neue Entscheidungsgrundlagen, hat neue Einsichten auch für die innenpolitische Argumentation in all den betroffenen Staaten zur Verfügung gestellt und damit überhaupt erst die Voraussetzung für die Stabilität der Sicherheitspolitik auf Dauer gegeben. Sie können nicht dies fordern, aber die politischen Beiträge, die im Gegenzug abverlangt werden — Solidarität wird nur durch gegenseitigen Kompromiß hergestellt —, verweigern. Auf dieser Basis der gemeinsamen Abstimmung ist es auch möglich, daß im NATO-Rat alle Grundsatzweisungen für die nationale Delegation, z. B. in Wien bei der MBFR-Konferenz, einstimmig gefällt werden.Ich will noch ein paar andere Fakten aufzählen. Der Abschluß der Ostverträge, die Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages, der Beitritt der Bundesrepublik zur UNO sind weitere außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen, die die atlantische Solidarität günstig beeinflußt haben. Sie als Opposition wissen selber, wie Sie sich bei diesen Entscheidungen verhalten haben. Sie konnten sich nie zu einer klaren Haltung hier durchringen.
— Passen Sie auf, daß Sie nicht in einer schlimmenWeise die eine Hälfte Ihrer Fraktionsgemeinschaftkritisieren, denn eine Hälfte Ihrer Fraktion hat ja jeweils mit uns mitgestimmt.
— Bei der Entscheidung über den Atomwaffensperrvertrag war Ihre Fraktion gespalten. Die eine Hälfte hat dafür gestimmt, die andere dagegen. Dasselbe gilt für den UNO-Beitritt.
— Ja, ja, die Freiheit! Wenn Sie in die Regierungsverantwortung wollen, erwartet der Bürger von Ihnen, daß Sie eine Politik nicht nur zum Teil durchsetzen, sondern insgesamt durchsetzen — nicht zum Teil.
Wenn Sie regieren, brauchen Sie Mehrheiten im Parlament!
— Mogeln Sie sich nicht darüber weg!Wenn der grundsätzliche Dissens zwischen den zwei grundverschiedenen Auffassungen zu Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik bei Ihnen nicht überwunden wird, bleiben Sie entscheidungsunfähig. Dann werden Sie die bisher von allen Bündnispartnern gemeinsam getragene Politik nicht mittragen können und aus der Solidarität ausscheren müssen
und damit das eigene Land in Gefahr bringen.Sie haben bei den Ostverträgen weder den Mut gehabt, mit Ja noch mit Nein zu stimmen. Sie haben sich der Entscheidung entzogen.
Diese Ostverträge sind doch kein bilateraler Vorgang zwischen der Bundesrepublik, der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei, sondern sie sind doch das Ergebnis einer abgestimmten Politik zwischen
der Bundesrepublik und den westlichen Partnerstaaten. Erst danach wurden die Verträge abgeschlossen.
Sie wichen der politischen und moralischen Verantwortung, die Sie haben — auch als Opposition, erst recht aber, wenn Sie regieren sollten — aus. Diese moralische Dimension der Politik fehlt bei all ihren Entscheidungen. Forderungen ohne Bereitschaft zum Kompromiß, der erst Solidarität herstellt, ist eine Politik, die man nicht ernst nehmen kann.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14675
PawelczykDie Opposition verlangt eine Weiterentwicklung des europäischen Entscheidungsprozesses. Durch Ihr konkretes Handeln haben Sie sich in West und Ost isoliert. Sie sind die einzigen, die die Perspektiven dieser Politik ablehnen. Jede Initiative der NATO, der 15 NATO-Staaten wird gemeinsam von allen getragen, auch von den Parteien in den anderen Staaten, die Ihnen nahestehen, unabhängig davon, ob sie regieren oder sich in der Opposition befinden.Unsere Sicherheits- und Entspannungspolitik ist ein Element der Weiterentwicklung der Europapolitik zu mehr Übereinstimmung, zu mehr Solidarität
und damit auch zu einer besseren Verteidigungsfähigkeit, die Sie ständig fordern.
— Ob Sie es glauben oder nicht, Sie werden doch nicht im Ernst behaupten wollen, daß die außenpolitische Lage in Europa im Jahre 1976 kritischer als vor 1966 ist.
Alle Konfliktsituationen, die uns in die Nähe eines neuen Weltkriegs brachten — der Bundeskanzler hat selber zwei genannt —,
haben vor der Neuformulierung der Außen- und Entspannungspolitik stattgefunden.
Diese Entwicklung, diese Konzeption der sozialliberalen Koalition ist sicherheitspolitisch abgedeckt. Hier braucht nicht wiederholt zu werden, was der Herr Verteidigungsminister zu den Leistungen der Bundesrepublik, zum Verteidigungsbeitrag gesagt hat. Er ist ja auch, glaube ich, bei Ihnen unbestritten.Wir gehen bei dieser Politik, ohne nationale Interessen aufzugeben, kein Risiko zu Lasten unseres Landes ein. Der Bürger unserer freiheitlichen Demokratie hat Anspruch darauf, daß wir jede noch so kleine Chance nutzen, um zu versuchen, ein Stück Spannungsabbau zustande zu bringen. Das Ergebnis wird hoffentlich auch in Zukunft vorwiegend positiv ausfallen, wie es in den Jahren der sozialliberalen Koalition bisher der Fall gewesen ist.Weder bei Ihnen, Herr Dregger, noch bei Herrn Wörner hatte ich den Eindruck, daß Sie die Bundesrepublik für ihre Leistungen im Bündnis schelten. Wir werden bei Aufrechterhaltung dieser Leistungen ernsthaft jeden Versuch unternehmen, um den Frieden zu sichern, gemeinsam mit den befreundeten Staaten.Aber für den Fall, daß eine positive Weiterentwicklung nicht zu verzeichnen ist, läge ein weiterer Beweis dafür vor, daß Sicherheitsausgaben in der derzeitigen Höhe nötig sind. Wir als politische Parteien sind — ob wir in der Regierung oder in der Opposition stehen — dem Bürger permanent Beweise schuldig, was die Höhe der Bildungsausgaben angeht, was den Sozialetat angeht. Wir müssen vor dem Bürger den Beweis dafür antreten, daß wir im Rahmen des Gesamtetats das Mögliche und das Nötige tun — weder zuviel noch zuwenig. Wir müssen dem Bürger rational nachvollziehbare Kriterien auch für die nötigen Sicherheitsaufwendungen geben. Das heißt, daß wir uns auch ernsthaft mit allen Initiativen, die der Ostblock vorträgt, auseinandersetzen und diese daraufhin prüfen, ob sie Chancen einer günstigen Weiterentwicklung enthalten.An keiner Stelle können Sie uns vorwerfen — Sie haben es ja, glaube ich, auch nicht getan —, daß wir nicht parallel zu diesen Versuchen als Bundesrepublik Deutschland den Verteidigungsbeitrag stabil halten. Wir haben aber ein entscheidendes Interesse daran, daß die sicherheitspolitischen Verteidigungsaufwendungen, die sich ja schließlich finanziell niederschlagen, für den Bürger einsehbar bleiben. Der Bürger läßt sich die Bewertungsmaßstäbe nicht vorenthalten. Er läßt sich auch nicht unter Zuhilfenahme primitiver Klischees abspeisen. Und hier überprüfen Sie noch einmal die Reden, die Sie heute vormittag und heute nachmittag hier gehalten haben! Er, der Bürger, erwartet objektive Kriterien. Wer diese objektiven Kriterien nicht vorweisen kann, gerät, weil er emotional agieren und reagieren muß, in die Gefahr innen- und außenpolitischer Konfrontation.
Das ist der entscheidende Vorwurf, den wir Ihnen zu machen haben: daß Sie sich dem fairen Dialog entziehen und sich mit emotionalen Behauptungen begnügen.
Dieser Gefahr des Abgleitens in die Konfrontationspolitik müssen wir aus dem Weg gehen.
— Lassen Sie mich das jetzt doch nicht alles wiederholen, was vor mir andere Koalitionssprecher ausgeführt haben.Lesen Sie nach, was Herr Damm gesagt hat, der die zwanziger Jahre zu Hilfe nehmen mußte! Das ist doch ein Skandal, was er hier aufgeführt hat. Darauf ist schon reagiert worden. Hier geht es darum — Verteidigungsminister Leber hat das schon erwähnt —, mit dem Bürger den Dialog zu führen.
Sie haben den Schritt noch nicht getan. Sie haben sich nicht ehrlich auseinandergesetzt mit den Konsequenzen gemeinsamer Europapolitik für die Politik der Bundesrepublik Deutschland.
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14676 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Pawelczyk— Ich bin sofort fertig. Wir haben die Solidarität mit den Bündnispartnern hergestellt, eine stabile sicherheitspolitische Situation erreicht, mehr Entspannung für Europa geschaffen. Sie fordern ein anderes Konzept; Sie haben es hier nicht entwickelt. Die Alternative fehlt.
Das Wort hat der Abgeordnete van Delden.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pawelczyk, Sie haben Ihre Rede offenbar gestern geschrieben und sie heute nicht umgearbeitet — angesichts der Situation, die sich in Niedersachsen ergeben hat.
Sonst hätten Sie sich nicht so viel mit uns und unserer Regierungsfähigkeit oder Nichtregierungsfähigkeit befaßt, sondern sich an das Wort Ihres Landtagskollegen und stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Hüper gehalten, der gesagt hat: „Die SPD ist nicht mehr regierungsfähig." Dem haben wir nichts hinzuzufügen.
Ich möchte auch gar nicht näher auf Ihre wiederholten Behauptungen eingehen, wir seien gegen Entspannung, gegen MBFR, gegen KSZE. Das war so dick aufgetragen, daß es der Bürger im Lande, den Sie in anderer Sache zitiert haben, sicherlich nicht begreift, schon gar nicht, wenn Sie das hier so polemisch darlegen. Was wir tun, ist nämlich immer nur, daß wir die Kehrseite der Medaille nicht ganz aus dem Auge verlieren. Manche Medaillen, die Sie uns hier präsentiert haben, haben offenbar nicht nur eine Kehrseite, sondern mehrere, oder die Kehrseite ist ausgeprägter als das Positive, was auf der anderen Seite steht. Wenn Sie uns dann noch zurufen, wir hätten den Boden der Gemeinsamkeit in diesem oder jenem Punkt verlassen oder seien nicht mehr regierungsfähig — worauf ich vorhin schon eingegangen bin —, dann kann ich nur sagen: Bestimmen Sie denn, was gemeinsame Politik ist? Gemeinsame Politik muß gemeinsam getragen werden.
Zu dem gemeinsamen Tragen gehört das Selbstverständnis der Bundeswehr. Jedenfalls habe ich da bisher keinen Unterschied gesehen.
Damit komme ich zum Bundeskanzler, der uns vorwirft, es sei von uns nicht redlich gewesen, nicht in seinen Ruf einzustimmen, daß die Bundeswehr gut sei. Meine Damen und Herren, wir stehen gar nicht an zu behaupten, daß die Bundeswehr gut ist. Wir brauchen das aber nicht bei jeder Gelegenheit zu betonen. Ich finde es auch gut, daß man nicht, wie das zu Anfang noch üblich war, der Bundeswehr und allen Bediensteten pflichtschuldigst und obligatorisch den Dank ausspricht und daß jeder Sprecher das wiederholt. Wir alle sind allen dankbar, die in der Bundeswehr tätig sind, ob als Offiziere, Mannschaften oder Beamte, für ihre Leistungen und ihre Leistungsbereitschaft. Wir sind dankbar für den
Katastropheneinsatz in Hamburg. Wir sind dankbar für jeden Katastropheneinsatz — in aller Welt, insbesondere in Angola, wo die Bundeswehr unter schwierigen Bedingungen neben ihrer Einsatzbereitschaft ein Organisationstalent an den Tag gelegt hat, das es ermöglicht hat, den Fahrplan der Evakuierung beinahe minutiös einzuhalten.
Ich möchte hier einmal rhetorisch den Gedanken wieder aufgreifen, den Herr Kollege Damm im Militärkommitee der Nordatlantischen Versammlung aufgebracht hat, ob es nicht auch zur NATO gehört, daß man ähnlich wie bei SAR — Search and Rescue —, wo wir ein gemeinsames System haben, einmal einen gemeinsamen Katastrophen- bzw. Krisenstab bildet, damit nicht, wenn eine solche Katastrophe ausbricht, was Gott verhüten möge — aber man ist ja nie davon frei, daß so etwas auf der Welt passiert , alle Maschinen mit Decken oder Zelten dorthin fliegen, sondern eine unter allen NATO-Nationen abgestimmte Hilfeleistung vorgenommen wird. Ich wäre dankbar, wenn der Bundesminister der Verteidigung diese Dinge, die sich nicht für eine Behandlung in der Öffentlichkeit eignen, einmal im kleinen Kreise unter den NATO-Partnern zur Absprache bringt.
Der Herr Bundeskanzler hat gesagt, die Bundeswehr sei dank seiner Hilfe oder der Hilfe der Koalition endlich integriert. Ja, meine Damen und Herren, an uns hat es doch nicht gelegen, daß die Bundeswehr nicht früher in diesen Staat integriert worden ist. Das lag doch an der Ohne-mich-Parole usw. Aber wir wollen darauf nicht länger herumreiten. Ich wäre auch nicht darauf eingegangen, wenn nicht der Herr Bundeskanzler sich auch diese Feder wieder an den Hut stecken zu müssen geglaubt hätte. Freuen wir uns darüber, daß die Bundeswehr integriert ist!
Wenn die Bundeswehr gut und integriert ist, dann kann uns das als Opposition schon zweimal nicht daran hindern, immer und immer wieder auf die Schwächen hinzuweisen, die nicht durch eigene Schuld, sondern durch die zunehmende Rüstung der anderen Seite entstehen. Es wird uns auch keiner daran hindern, das ebenfalls in Zukunft zu tun.
Der Herr Bundesminister Leber hat etwas gesagt. Das hat Herrn Wörner, wie ich ihn kenne — und ich glaube, richtig gesehen zu haben —, getroffen. Der Minister sprach von der Armee, die zum Kämpfen erzogen wird. Das hat der Bundeskanzler erfreulicherweise geradegestellt. Aber er konnte es sich dabei nicht verkneifen, es nur an die Adresse von Herrn Wörner zu richten und Vorgänger — jedenfalls unterschwellig — partiell auszunehmen.
Der Soldat muß kämpfen können, um niemals kämpfen zu müssen.
Auch das sollte hier einmal klar gesagt werden.
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van Delden— Selbstverständlich, die hat er, wenn man es wohlwollend auslegt, mit einbegriffen. Aber Herr Strauß hatte er in diesem Punkt — so habe ich es jedenfalls verstanden — ausgelassen.Meine Damen und Herren, Herr Kollege Handlos hat einen Teil dessen, was ich sagen wollte, bereits vorweggenommen; ich möchte es nicht wiederholen. Ich meine die Auswirkungen von KSZE und MBFR. Wir sind weder gegen KSZE noch gegen MBFR, vorausgesetzt, daß MBFR — und sinngemäß auch KSZE — so behandelt wird, wie es der Name MBFR sagt, nämlich ausgewogen: Mutual Balanced Force Reductions.Ich bedaure, daß der Bundesverteidigungsminister nur auf die Schwierigkeiten der anderen Seite hingewiesen hat, daß es schwer sei, sie dazu zu bringen, dieses oder jenes zu tun. Aber wenn die Sowjetunion schon bei einer so geringfügigen Angelegenheit wie bei dem Wort „ausgewogen" ausdrücklich darauf besteht, dies aus der Überschrift der Verhandlung herauszunehmen, so daß es zwei verschiedene Überschriften gibt und mit zwei verschiedenen Zungen gesprochen wird, dann frage ich mich, ob nicht doppelte Wachsamkeit geboten ist, wenn hier schon Geringfügigkeiten zu Schwierigkeiten führen.Damit komme ich zu dem eigentlichen Thema, zu dem ich einige Worte sagen möchte, nämlich zur Marine. Herr Kollege Handlos hat die Frage aufgeworfen: Wer sagt uns, daß, wenn in Mitteleuropa auf militärischem Sektor tatsächlich irgendwie eine Entspannung durch eine — so hoffen wir — ausgewogene Reduzierung eintritt, nicht an den Flanken um so mehr passiert?Kurz vor Weihnachten las ich in einem Artikel, daß die Norweger besorgt waren, daß im Zusammenhang mit der Verteilung der Bodenschätze des Nordmeerschelfs die Russen erneut Ansprüche gestellt haben, und daß man Sorge hat, daß es im Zusammenhang mit den Spitzbergen-Abkommen zu einer Veränderung der bisherigen Balance auch auf diesem Gebiet kommt. Es ist für jedermann klar, daß die Russen, die nur einen eismeerfreien Hafen, nämlich Murmansk, haben, mit Macht an eine Ausdehnung denken. Aus ihrer Sicht müssen sie das tun, wenn sie die gewaltige Flotte, die sie aufgebaut haben, sinnvoll — sinnvoll in ihrem Sinne — einsetzen wollen.Meine Damen und Herren, ich verstehe eigentlich nicht, wenn seitens unserer SPD-Kollegen — wenn man den Zeitungen folgen darf — über den Begriff „die Flagge zeigen" lachend hinweggegangen wird oder man der Marine irgendwelche tirpitzschen Größenwahnvorstellungen unterstellt hat. Denn anders als beim Heer und bei der Luftwaffe, wo man nur auf dem eigenen Gebiet übt, ist die Marine sozusagen ständig im Manöver, denn die Truppe lebt auf ihrem Schiff. Sinngemäß würde man sagen: während eines Einsatzes des Heeres lebt der Soldat in seinem Panzer oder bei seinem Gerät. Die Marine ist praktisch dauernd im Manöver, und der Begriff dafür heißt „Flagge zeigen". Um zu sehen, wie das die Russen tun, brauchen wir uns gar nicht in den Atlantik zubegeben oder in das Nordmeer oder in den Indischen Ozean — alles Seegebiete, die Herr Kollege Wörner hier mit Recht aufgegriffen hat, weil hier eine Interdependenz gegeben ist, und sie werden nicht etwa von uns als Begründung dafür angeführt, daß wir uns nun um sie kümmern müßten. Wir haben genug zu tun, wenn wir die Aufgaben, die uns innerhalb der NATO auf dem Seegebiete zugeteilt worden sind, erfüllen.Meine Damen und Herren, wenn ich sage, wir brauchen uns nicht in den Indischen Ozean oder in das Nordmeer zu begeben, dann darf ich Sie daran erinnern, daß bei dem Besuch des Flugzeugträgers Nimitz drei Tage zuvor hundert Meter außerhalb der Hoheitsgewässer vor Wangerooge, also 3 Meilen plus etwa hundert Meter, ein sowjetischer Trawler mit ECM -Einrichtungen lag, um alle Bewegungen wahrzunehmen. Das ist die Freiheit der Meere. Wir haben nichts dagegen, vorausgesetzt, daß man uns nicht, wenn von uns einmal ein Flottenverband oder ein U-Boot in die östliche Ostsee fährt und dann auch die selbst festgelegte Zwölf- und mehr Meilen-Zone der Ostblockstaaten respektiert, damit gleichzeitig Revanchismus und Angriffstaktik und was auch immer unterstellt. Der Flugzeugträger Nimitz wurde von Island bis Helgoland von drei sowjetischen Zerstörern begleitet. Außerhalb der Hoheitsgewässer drehten dann zwei ab, einer blieb vor Anker liegen, einer legte sich vor Esbjerg, einer wurde durch einen polnischen Zerstörer im Skagerrak ersetzt, weil man nicht wußte, wohin die Nimitz danach fuhr.Warum erzähle ich das? Nicht etwa, um hier eine kalte-Krieg-Stimmung zu erzeugen, sondern, um einmal klarzumachen, daß sich die Öffentlichkeit viel zu wenig dessen bewußt ist, was sich außerhalb von MBFR, womit man immer Landstreitkräfte meint, auf dem Gebiet der Strategie der Russen tut, denn niemand wird behaupten, daß es reiner Zufall war, daß diese Schiffe sich dort aufhielten. Es ist erfreulich, daß auch in der Publizistik neuerdings der sowjetischen Seerüstung durch Darstellungen immer mehr Raum gegeben wird.„Der Bär kann schwimmen", unter diesem Titel hat die BBC eine eindrucksvolle Dokumentation herausgegeben, und ich bin erfreut, daß es gelungen ist, wenigstens im Dritten Programm des Norddeutschen Rundfunks und des Westdeutschen Rundfunks diese völlig wertneutrale, ohne polemischen Hintergrund vorgenommene Dokumentation einmal der Öffentlichkeit darzubieten.In diesem Zusammenhang hat sich der Bundesminister der Verteidigung selber einen Tort angetan, als er ausgerechnet zu dem SPD-Parteitag seine Arbeitsteilungstheorie veröffentlicht — die ich im Prinzip bejahe, vorausgesetzt, sie ist fundiert abgesprochen im Sinne dessen, was auch der Kollege Dr. Dregger gesagt hat — und so getan hat, als könnten wir praktisch auf unsere maritimen Aufgaben in der Nordsee verzichten, die ja bei Konzipierung der NATO noch nicht die Rolle spielten, die sie heute spielen. Im übrigen ist ja auch SACLANT, das Alliierte Oberkommando Atlantik, unglücklich darüber, daß die Einflußsphäre am Wende-
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van Deldenkreis des Krebses endet, während es im südlichen Atlantik um das Kap der Guten Hoffnung, auf welchem Wege wir unseren Ölbedarf, immerhin zu 53 % decken und auch in Zukunft trotz Öffnung des Suezkanals wegen der Größe der Tanker in etwa dieser Größenordnung decken werden, keinen Einfluß hat. Dagegen haben die Russen, was Kollege Wörner bereits gesagt hat, die Angola-Krise ja ebenfalls wieder dazu genutzt, sich neue Stützpunkte und neue Einflußsphären zu sichern.Worum geht es bei der Verteidigung der Nordsee? Dem ehemaligen Verteidigungsminister Schmidt wird das Verdienst zugeschrieben, damals eine etwas vage Konzeption der Marine, nämlich die Flugabwehrfregatten, vom Tisch gewischt zu haben, wie es in der Zeitung stand. Das hat er nicht alleine getan, sondern er hat das im Einverständnis mit uns gemacht. Ich möchte das erwähnen, damit nicht etwa der Eindruck entsteht, als ob wir alle Vorschläge, die von seiten der Militärs kommen, kritiklos hinnähmen.
Nun steht ein Programm zur Debatte, das denselben Arbeitstitel trägt, aber etwas ganz anderes darstellt. Das betrifft die Fregatten. Meine Damen und Herren, man kann diskutieren, wie man will, man kommt nicht daran vorbei, daß die rückwärtige Bedrohung, die Flankenbedrohung über die Nordsee vom Nordmeer her auch für das Heer und die Luftwaffe von eminenter Bedeutung geworden ist. Anders hätte sich der Führungsstab der Bundeswehr auch nicht einhellig für dieses Projekt ausgesprochen. Man kann darüber streiten, ob man es mit anderen Mitteln durchführen kann. Man kann darüber streiten, ob es so ideal ist. Aber die Studien haben ergeben — ich habe mich bemüht, in diese Materie einzusteigen —, daß alle anderen Projekte mehr kosten als dieses Projekt, das zudem noch ein Gemeinschaftsprojekt zusammen mit den Holländern ist,
also gerade das, was von allen Seiten des Hauses gefordert wird, nämlich gemeinsame Rüstung. Eine selbständige Teilstreitkraft — hier also die Flotte — ohne gewisse größere Einheiten — wobei man sich wiederum streiten kann, welchen Umfang diese Einheiten haben müssen — kann als solche nicht lebensfähig sein, abgesehen davon, daß diese Streitkräfte für die Sicherung der Nordsee notwendig sind.Damit komme ich zur Rüstung überhaupt. Hier allerdings kann man manchmal sagen — das war schon unter allen Verteidigungsministern so; ich laste das keinem Minister partiell an —: weniger wäre mehr; denn was auf dem Gebiete der Beschaffung geschieht, spottet manchmal jeder Beschreibung. So jüngst geschehen bei dem Umbau der Minensuchboote in schnelle Minenjagdboote.
Da muß ich allerdings dem Minister Leber den Vorwurf machen, daß er in dieser Frage im Gegensatzzu allen seinen Vorgängern — ich sage: allen seinenVorgängern, also einschließlich des Bundeskanzlers — nicht auf die Warnungen reagiert hat, die ihm vom Kollegen Haase und von mir in unserer Eigenschaft als den jeweiligen Berichterstattern zugegangen sind.
Es dreht sich nämlich darum, daß alte Boote mit einem Kostenaufwand umgebaut werden sollen, mit dem man besser neue Boote gebaut hätte, alte Boote, die zudem aus Holz sind, von denen man uns damals, bei der Beschaffung der Schnellboote S 143, als wir die Frage stellten, ob es denn überhaupt Sinn hat, Boote dieser Größenordnung noch aus Holz zu bauen, ob das nicht in der Wartung usw. kostspieliger sei, gesagt hat: Nein, die halten mindestens 20 Jahre. — Meine Damen und Herren, das Durchschnittsalter dieser Boote, die aus Holz sind und jetzt umgebaut werden, ist 22 Jahre. Und da will mir doch niemand sagen, daß die Folgekosten, die da entstehen, etwa geringer sind als die Kosten für ein ganz neues Boot.Zudem sind bei der Vergabe, bei der Handhabung des Systems Generalunternehmer — welches ich als solches bejahe — Unglaublichkeiten geschehen, die mich veranlaßten, dem Minister zu schreiben, daß sich das Parlament — das Parlament insgesamt — hier vom Minister getäuscht fühlt. Ich vermisse bis jetzt eine Antwort auf diesen Vorwurf, der ja immerhin nicht eine freundliche Floskel ist, sondern schon eine beachtliche Kritik darstellt.Meine Damen und Herren, die ganze Vergabe praxis bei diesem Minensuchboot bringt mich zu, dem Schluß, daß wir von der CDU/CSU-Arbeitsgruppe Verteidigung uns überlegen wollen, ob wir nicht im Verteidigungsausschuß gemeinsam zu dem Entschluß kommen müssen, daß auch Umbauvorhaben größerer Art einem sogenannten BuchstallerBrief, einem Brief an den Vorsitzenden unterliegen müssen; denn im Wege des Umbaus werden uns manche Dinge — um einmal diesen Ausdruck zu benutzen — untergejubelt, bei denen man erst hinterher absieht, was für finanzielle Folgen das hat.Zusammenfassend möchte ich sagen, daß wir die Konzeption der Marine bejahen, daß wir das Unsere dazu beitragen werden, um der Marine im Rahmen der Haushaltsmöglichkeiten zu den Mitteln zu verhelfen, die sie in die Lage versetzen, ihren erweiterten Aufgaben in der Nordsee gerecht zu werden. Und ich möchte abschließend auch meinerseits keinen Hehl daraus machen, daß bei der ganzen Sache mit der Vergabe nicht etwa nur das Ministerium der Sündenbock ist, sondern daß sich auch die Industrie, insbesondere die deutsche elektronische Industrie, in diesem speziellen Falle, nämlich beim Umbau der Minenräumboote zu Minenjagdbooten, nicht gerade ruhmreich verhalten hat. Ich kann das hier deswegen so offen sagen, weil ich es den einzelnen Firmen im Privatissimum auch schon gesagt habe.Eine Bemerkung zum Schluß: Wenn der Admiral Gorschkow — abweichend von der früheren sowjetischen These — im Jahre 1975 gesagt hat: „Der Seeherrschaft der imperialistischen Mächte ist ein Ende gesetzt", dann können wir uns nicht auf ein Zitat des heute schon oft zitierten Herrn Lenin aus dem
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van DeldenJahre 1917 berufen: Die Marine ist eine Vergeudung und Verschwendung öffentlicher Gelder.
Das Wort hat der Abgeordnete Neumann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde hier nicht die Marinedebatte fortsetzen, Herr van Delden; das können wir vielleicht im Ausschuß machen. Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was der Kollege Wörner heute morgen begonnen hat.Es ist an und für sich eine sehr gute Angelegenheit, daß die Opposition in diesem Hause eine Große Anfrage zur Verteidigungspolitik eingebracht hat; denn es wäre ja möglich gewesen, daß man der Regierung Versäumnisse hätte vorwerfen und nachweisen können, daß man ihr heikle, unangenehme Fragen hätte stellen können. Man hätte vielleicht auch erwarten können, daß die Opposition bei dieser Großen Anfrage Alternativen oder neue Ideen ins Gespräch gebracht hätte. Von all dem war bei der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Verteidigungspolitik, meine ich, nichts zu spüren.Das wäre ja nicht so schlimm, wenn man der Anfrage wenigstens eine sachlich begründete Sorge um unsere äußere Sicherheit zugrunde gelegt hätte. Liest man die Begründung, so könnte man zunächst meinen, es wäre so. Eines Besseren wird man jedoch belehrt, wenn man dann die Erklärung nachliest, die der verteidigungspolitische Sprecher und Ministeraspirant der CDU, der Kollege Wörner, dazu vor der Presse abgegeben hat.Da blättert der seriöse Lack ab, und zum Vorschein kommt die altbekannte CDU/CSU. Sie warnt vor der ganzen Entwicklung, weil — ich zitiere den Kollegen Wörner — „bei uns amtlicher Konferenzoptimismus verordnet wird, die Gebetsmühlen der Entspannung sich lustig weiterdrehen, als ob nichts geschehen wäre, und Sorglosigkeit Trumpf ist". So weit der Kollege Wörner.
— Wissen Sie, Herr Wörner, es ist ganz interessant,sich einmal alte Zitate von Ihnen vorzunehmen. Siehaben sich nie geändert, Sie sind der alte geblieben.
— Verzeihung, Herr Dr. Wörner, Sie vergessen nur eines, nämlich daß sich Ihre Umgebung und die Entwicklung verändern. Das haben Sie nie zur Kenntnis genommen. Sie bringen immer die alten Texte.Anderthalb Monate vor der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte haben Sie Ihre Anfrage eingebracht. Es wurde ein ausgesprochenes Oppositionsgemälde: große Leinwand, billiger Rahmen, das ganze Bild tiefschwarz.
In einem haben Sie natürlich völlig recht: wenn auch Sie davon ausgehen, daß Sicherheitspolitik eine Funktion der Außenpolitik ist, genauer gesagt, eine Möglichkeit, die Sicherheit eines Staates nach außen zu gewährleisten.Was die Große Anfrage anbelangt, ist dann ein Text entstanden, mit dem man vordergründig das erreichen könnte, was man Ihrerseits anscheinend will: die Entspannungspolitik totmachen, nicht nur die der sozialliberalen Koalition, sondern die der gesamten NATO. Angesichts dieses Vorhabens ist es, meine ich, nötig, sich dieser Entspannungspolitik des Westens anzunehmen. Ost- und Entspannungspolitik wurden und werden von der Bundesrepublik Deutschland sowie vom übrigen Westen betrieben, um von explosiver militärischer Konfrontation und kaltem Krieg wegzukommen, wie sie sich klassisch in Berlin, auf Kuba und anderswo dargestellt haben.Nirgendwo, weder seitens der Regierung noch seitens verantwortlicher Koalitionspolitiker, war die Rede davon, daß wegen der Entspannungspolitik einseitige militärische Abrüstung auf westlicher Seite geschehen sollte oder daß etwa damit in kurzer Zeit erreicht werden könnte, daß der Ostblock von seiner „Heilslehre", wie heute hier gesagt wurde, und ihrer möglichen Weiterverbreitung auf Erden abläßt und sich auf den Weg nach Canossa begibt, wie es sich die CDU/CSU wohl wünscht. Die Opposition nährt nur allzugern die Legende, daß Sozialdemokraten an solche Wunder glauben. Da man keine vernünftige Alternative zu bieten hat, versucht man eben, die Politik der Regierung mieszumachen. Aber auch das ist nichts Neues.Es kommt in diesem Lande niemand daran vorbei, daß die riesigen Schuttberge des Mißtrauens, die geschichtlichen Tatsachen des zweiten Weltkrieges und von 20 Jahren kaltem Krieg nicht innerhalb von sechs oder sieben Jahren wegzuräumen sind. Sie wissen das zwar auch; nur eingestehen wollen Sie es nicht, weil dann Ihre Politik wie ein Kartenhaus zusammenstürzen müßte.Lassen Sie sich von Ihrem Generalsekretär Biedenkopf erklären, daß es sehr wohl Unterschiede zwischen politischer und militärischer Entspannung gibt. Auf dem sicherheitspolitischen Symposion Ihrer Partei im Juli 1974 sah er — ich zitiere —„die Auflösung des Zusammenhanges von militärischer und politischer Konfrontation im Gefolge der Entspannungspolitik", und er stellte generell fest, daß trotzdem die „ideologische Kriegsführung fortdauert". Nach Erscheinen des Textes in der „Welt" vom 25. September 1974 bezeichnete der Vorsitzende meiner Fraktion, Herbert Wehner, diesen Beitrag in einer Pressemitteilung als einen guten Diskussionsbeitrag. Sie sehen also, Sozialdemokraten sind großzügiger als andere, wenn es sich um die Anerkennung eines anerkennenswerten Gedankens handelt.
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NeumannSie müssen dagegen den Beweis dafür schuldig bleiben, daß je ein maßgebender Sozialdemokrat die These vertreten hat, die Ihre Partei uns laufend unterstellt, daß nämlich mit der Entspannungspolitik jegliche ideologische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus enden würde. Dabei wissen Sie natürlich genauso gut wie wir, daß gerade Theorie und Praxis sozialdemokratischer Politik oder, wie man andernorts sagt, der Sozialdemokratismus den Kommunisten die ärgsten Schwierigkeiten in ihrem Machtbereich bringt. Sie wissen so gut wie meine politischen Freunde und ich, daß die Bundesrepublik Deutschland — trotz ihrer Mängel — den friedlichen Wettstreit der Systeme alles in allem nicht zu scheuen braucht.Ich glaube, Herr Kollege Wörner, Sie sollten Ihre Taktik begraben, den Westen so schwach und den Osten so stark darzustellen, wie Sie es bisher getan haben. Das paßt auch nicht zu dem, was Sie zur Überlegenheitspalette des Westens im Oktober 1974 etwas unbeachtet und etwas abseits — ich meine, zu Unrecht unbeachtet — in Kiel gesagt haben. Ich möchte es in Erinnerung rufen. Sie sagten damals:Vergleicht man unsere Stärken mit den Schwächen der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, dann wird deutlich, daß der Westen den friedlichen Wettstreit nicht zu fürchten braucht. Unsere Stärke besteht in unserem stärkeren Wirtschaftspotential, unserem technologischen Vorsprung, unserer überlegenen Wirtschaftsverfassung, die rationelleren Kapitaleinsatz ermöglicht, unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, die mehr Überzeugungskraft und schöpferische Initiative zu wecken versteht. Dem stehen die Schwächen der Sowjetunion und des Warschauer Pakts gegenüber: Die Unterlegenheit im technologischen Bereich, die Mängel in der Organisation des Wirtschaftspotentials, die Sterilität des gesellschaftlichen Daseins, starke wirtschaftliche und Versorgungsschwierigkeiten im Konsumsektor, die Spaltung im kommunistischen Lager und die Rivalität mit China. Auch die totalitäre Struktur der Ostblockstaaten kann diese Mängel langfristig nicht ausgleichen, im Gegenteil, in manchen Bereichen wirkt die Diktatur zusätzlich hemmend.So können Sie auch reden, Herr Dr. Wörner.Wenn wir uns den konkreten Fragen der derzeitigen Entspannungssituation zuwenden, brauchen wir an eine „Revision der Entspannungspolitik", wie Sie sie kürzlich gefordert haben, nicht zu denken. Mit der Harmel-Studie vom Dezember 1967 haben alle 15 Mitglieder der NATO die sogenannten „künftigen Aufgaben der Allianz" unterschrieben, die da lauten: „Die erste besteht darin, eine ausreichende militärische Stärke und politische Solidarität aufrechtzuerhalten, um gegenüber Aggressionen und anderen Formen von Druckanwendung abschreckend zu wirken und das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verteidigen, falls es zu einer Aggression kommt."Die zweite Hauptfunktion lautet:Die weitere Suche nach Fortschritten in Richtung auf dauerhafte Beziehungen, mit deren Hilfe die grundlegenden politischen Fragen gelöst werden können; militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar.Beide Seiten der Sicherheitspolitik der NATO werden seitdem erfüllt: Verteidigungsfähigkeit und Entspannungsbereitschaft.Bei Ihnen, Herr Dr. Wörner, ist das ganz einfach. Sie behaupteten im September in Hamburg:Die NATO und Europa büßen auf schreckliche Weise dafür, daß sie ihr eigenes Entspannungskonzept weder richtig eingeordnet noch geistig verarbeitet, noch schlüssig durchgehalten haben.
Der Westen hat Entspannung auf Kosten seiner Verteidigungsbereitschaft betrieben und damit dem Warschauer Pakt in die Tasche gearbeitet.
Das erinnert mich an die KSZE-Debatte, Herr Dr. Wörner. Da war wieder einmal der von der CDU/ CSU so geliebte Rundschlag gegen die ganze Welt unter dem Motto: Die Christdemokraten wissen alles besser. Bei der Debatte über die Ergebnisse der letzten Ministerratstagung im Dezember 1975 wurde in der gleichen Weise von Ihnen formuliert:Bezeichnend für den Zustand des Bündnisses ist die Tatsache, daß man sich im Kreise der Minister über nichts so schnell einigen konnte wie über ein wesentliches Zugeständnis des Westens an die Sowjetunion bei den Wiener Verhandlungen über ausgewogene Truppenreduzierung in Europa.
— Nein, Herr Dr. Wörner, so ist es eben nicht.Das Angebot an die UdSSR, Nuklearwaffen gegen eine Panzerarmee einzutauschen, muß vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lage im Bündnis auf die Sowjetunion wie ein „Ausverkauf in Schwäche" wirken.Das war Ihre Meinung. Dieses Angebot, so schrieben Sie am 14. Dezember 1975 in der „Welt", sei ein falscher Schritt in die falsche Richtung und zur falschen Zeit.Auf die Vergeßlichkeit der Mitbürger vertrauend, war das im Dezember 1974 und Januar 1975 alles nicht wahr. Im Bundestag und gleichlautend auf dem sicherheitspolitischen Kongreß der CDU meinten Sie:Die taktisch-nuklearen Waffen in Europa stellen als Bindeglied zwischen konventioneller und strategischer Ebene einen unverzichtbaren Bestandteil der Abschreckungslandschaft dar. Ihre Zahl ist sicher kein Dogma. Ihre Modernisierung ist unbestreitbar notwendig. Eine Verringerung
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Neumannihrer Zahl darf allerdings nicht das Ergebnis mehr oder minder zufälliger Verhandlungskompromisse sein. Die erforderliche Zahl muß sich an rational und einverständlich vereinbarten Kriterien orientieren. Auf keinen Fall darf eine Verringerung die Substanz der taktischnuklearen Abschreckung in Europa antasten.Das war Ihre Meinung.
Nun sollte man meinen, daß die Reduzierung der 7 000 taktisch-nuklearen Sprengköpfe um 1 000 Stück nicht an die Substanz geht, vor allem dann nicht, wenn die Modernisierung schon läuft und wenn verschiedene Zeitungen schreiben, daß die USA sowieso Abstriche am Potential machen wollten und der verbleibende Rest von 6000 Sprengköpfen dem taktischen Nuklearpotential der Sowjetunion erstens qualitativ und zweitens quantitativ um 2 500 Köpfe überlegen sei.Vielleicht ist Ihnen diese Frage nach Ihrem „Welt"-Artikel vom 14. Dezember 1975 auch gekommen; denn einen Tag später las man es in der gleichen Zeitung ganz anders. Es war nicht mehr alles „falsch", sondern nur noch ein „schlüpfriges Pflaster", auf dem der Westen sehr leicht ausrutschen könnte. Zur vollständigen Verwirrung nannte der verteidigungspolitische Sprecher der Opposition dann aber Voraussetzungen, die den am Vortage noch so bös gescholtenen NATO-Vorschlag rechtfertigten.
— Das haben Sie in dem ersten Teil Ihrer Ausführungen nicht gesagt. Das ist etwas, was Sie jetzt verdeutlichen. Die Konsequenz war für viele Leser dieser Zeitung eindeutig: Der Sprecher der Opposition war zu diesem Zeitpunkt für diesen Vorschlag. Ich habe mich dann gefragt, was die Schwesterpartei dazu sagt.
— Ich kann mir ja auch einmal Sorgen über Ihre Partei machen. Sie machen sich doch auch laufend über uns Sorgen.
Nach ihrem Programm will die Schwesterpartei keine Verringerung des taktischen Nuklearpotentials, denn im sicherheitspolitischen Programm der CSU vom Oktober 1975 heißt es:Das taktische Nuklearpotential des Bündnisses einschließlich der nuklearen Trägersysteme der Bundeswehr muß erhalten bleiben. Zusätzlich muß die konventionelle Kampfkraft in Westeuropa gestärkt werden.In den verteidigungspolitischen Leitlinien der CDU vom Montag findet man unter Punkt 12 gewisse Rahmenbedingungen für eine beiderseitige und ausgewogene Rüstungsreduktion in Europa. Irgendwann in diesem Jahr wollen die Unionsparteien aber ihre gemeinsame verteidigungspolitische Plattform der Öffentlichkeit bekanntgeben. Nach dem, was sie jetzt ausgesagt haben, paßt beides noch nicht so recht zusammen. Wir werden an Hand dieser gemeinsamen Plattform dann sicherlich erneut feststellen können, wer in der Union das Sa- gen hat. Wer hier wetten will, dem rate ich: Nehmen Sie nur Wetten auf die CSU an.
— Herr van Delden, wir sind ja nicht in der schwierigen Situation, zwei Parteien zu sein. Wir sind ja Gott sei Dank eine Partei.
— Ich finde es immer sehr spaßig, wenn Sie nun Differenzen zwischen dem Fraktionsvorsitzenden, dem Verteidigungsminister und anderen konstruieren wollen.
— Weil Ihnen das so ins Konzept paßt, wird noch ein bißchen dazukonstruiert. Wir sind eine große Partei, und wir können es uns Gott sei Dank leisten, auch unterschiedliche Meinungen zu vertreten. Das nehmen Sie ja für sich auch ständig in Anspruch.
— Fragen Sie doch den Minister Leber selbst. Das brauche ich Ihnen doch nicht zu sagen.Lassen Sie mich noch zugestehen, daß in der NATO selbstverständlich nicht alles zum besten bestellt ist. Minister Leber ist darauf eingegangen; der Bundeskanzler hat das auch getan. Ich will daher nicht im einzelnen darauf eingehen. Aber Sie tun so, als sei das alles etwas ganz Neues; das ist es eben nicht. Das gilt auch nicht erst seit heute, sondern seit dem Bestehen des Bündnisses.Wenn es für Sie auch keine Beruhigung ist: Auch im Warschauer Pakt ist das nicht anders. Auch dort sind kommunistische Staaten entweder gar nicht dabei, oder sie bewegen sich am Rande des Bündnisses, oder sie marschierten gar bei Paktgenossen ein, als es die sogenannte „brüderliche Solidarität" gebot.
— Ich habe ja gesagt: für Sie ist das keine Beruhigung. Das will ich Ihnen ja auch gar nicht unter die Weste jubeln.
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NeumannEs ist also wohl nicht ganz so leicht, die mehr als 200 Jahre alten Wurzeln der nationalen Souveränität abzuhacken, um eine irgendwie geartete europäische Einheit herzustellen, deren Idee ja wohl ebenso alt ist. Ich mache Ihnen zum Vorwurf, daß Sie gar nicht nach den Gründen für die Schwierigkeiten suchen. Für Sie ist das sehr einfach: für Sie ist es dann eben diese Koalition oder diese Regierung.Deshalb müssen Sie auch abstreiten, daß wir während unserer Regierungszeit z. B. auf dem Wege nach Europa weitergekommen sind und auch Erfolge errungen haben. Ein herausragender Erfolg war z. B. die Erweiterung der EWG der Sechs zur EG der Neun. Aber dafür haben Sie selbstverständlich keine Ohren.Beruhigend ist es allerdings, zu hören, wenn ein führender Oppositionspolitiker mit langjähriger Ministererfahrung hinter seiner öffentlich zur Schau getragenen Europamaske ein klares Wort zu den sogenannten „Europaerfolgen" seiner eigenen Regierungszeit sagt. Ich darf zitieren:Wir müssen sicherlich die europäische Idee am Leben halten. Aber wir sind heute von jeder Möglichkeit einer europäischen Union, auch einer echten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, weiter weg, als wir im Jahre 1950 gewesen sind.
Im Jahre 1955, 1960, 1965 oder wann auch immer ist man in einem fast hoffnungslosen Zustand angelangt, wobei der moralische Zustand Europas schlimmer ist als der materielle oder der politische oder der militärische.1955, 1960, 1965: das war doch wohl unbestritten Ihre Regierungszeit.
Falls Sie es nicht schon erraten haben, wer das gesagt haben könnte, wissen Sie es vielleicht beim nächsten Satz, der noch zum Zitat gehört. Es ist Franz Josef Strauß, der fortfährt „Die Europäer sind total degeneriert". Das war in Sonthofen im November 1974.Zwei Monate später kam das Echo von Herrn Kohl aus Koblenz auf der sicherheitspolitischen Tagung der CDU: „Der Zustand Europas ist jämmerlich."Wenn Herr Strauß und Herr Kohl etwas zum Zustand des Westens sagten, dann dürfen Sie, Herr Kollege Wörner, nicht fehlen. Wie vor jeder NATO-Tagung konnten wir dann Ähnliches zur Kenntnis nehmen; am 7. Dezember 1975 sah es dann so aus, daß wir in einer so ernsten Lage sind, was die politische wie die militärische Situation der NATO anlangt, daß es mit bloßen verbalen Bekundungen nicht getan sei usw. Alles das hören wir seit vielen Jahren von Ihnen; es ist nichts Neues dabei.
— Auf Herrn Luns komme ich gleich; das habe ich mir mitgebracht.
— Ich habe ja gesagt, daß in der NATO selbstverständlich nicht alles zum besten bestellt ist. Das ist doch nichts so Schlimmes und auch nichts Neues, habe ich gesagt.
— Herr Wörner, wenn ich das so lese, was Sie schreiben, dann stelle ich mir Sie so richtig als neuen Verteidigungsminister vor,
wie Sie dann mit eisernem Besen die ganze NATO wieder auf Vordermann bringen möchten, aber nicht können — abgesehen davon, daß Sie gar nicht Verteidigungsminister werden, weil es sich nämlich um ein Bündnis souveräner Staaten handelt.Herr Kollege Wörner hat das heute wieder gesagt, und auf dem wehrpolitischen Kongreß der CSU im Oktober, auf dem Franz Josef Strauß die Franzosen fast flehentlich um Mitarbeit in Sachen Europa und europäischer Verteidigungszusammenarbeit bat, haben Sie Ihren Kraftquell so richtig preisgegeben, Herr Dr. Wörner. „Die entscheidende Schlacht", haben Sie gesagt, „wird auf dem Gebiete des Willens ausgetragen. Wir reden viel zuwenig von der Kraft des Willens. Da mangelt es." Nun wissen wir ja alle, daß der Wille Berge versetzen kann.Wie das mit dem Willen in Ihrer praktischen Politik aussehen würde, haben Sie auch am 7. Dezember 1975 im Südwestfunk zum Ausdruck gebracht. Sie haben da zur Frage der Rüstungszusammenarbeit und Rüstungsstandardisierung in einem Interview sehr deutlich gemacht
— o ja, es macht auch Spaß, das nachzulesen —, wie man das so machen könnte, wie Sie das machen möchten, wenn Sie könnten. Sie haben gesagt:Auf dem Rüstungssektor bedeutet dies, daß wir den Franzosen klarmachen müssen, daß, wenn sie sich nicht bequemen,— ich wiederhole: „wenn sie sich nicht bequemen" —das Geschäft an ihnen vorbeilaufen wird, daß dann eben Standardisierungsbeschlüsse ohne Frankreich gefaßt werden.Sehen Sie, Herr Minister Leber, so einfach ist das, zumindest bei Dr. Wörner. Ich bin sicher, daß unsere französischen Partner hellauf begeistert waren, als sie solche Töne aus dem Munde des verantwortlichen Sprechers der Opposition für Verteidigungsfragen hörten.Als äußerst lesenswert darf ich Ihnen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, eine Studie empfehlen, die bereits im September 1965 vom Bun-
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Neumanndesrat an die Vertretungen der Länder beim Bund versandt worden ist; denn sie zeigt auf, mit welchen Problemen sich die NATO-Parlamentarier-Konferenzen damals herumschlugen und wie der Zustand des Bündnisses im Jahre 1965 war. Ich darf zitieren:
— Wir können noch im Ausschuß darüber reden, Frau Tübler.
Aber Sie sollten nicht glauben, daß wir alles das, was wir gern auch einmal vor der Öffentlichkeit sagen wollen, nun hinter der verschlossenen Tür des Verteidigungsausschusses sagen müssen.Für den Zeitraum von 1970 bis 1978 steigen diese Pro-Kopf-Ausgaben in der Bundesrepublik kontinuierlich auf fast das Doppelte, nämlich von 425 DM auf 846 DM. Ich will es damit bewenden lassen.Es ist immer gut, wenn man Beispiele findet, bei denen man die Versprechungen und die Äußerungen Ihrer Fraktion an konkreten Taten messen kann. Vor einem Jahr versprach Ihr Kanzlerkandidat vor dem CDU-Verteidigungskongreß in Koblenz: „Wir werden die Bundeswehr in die allererste Prioritätsstufe setzen." Als Vorsitzender der Rundfunkkommission der Ministerpräsidenten der Länder hat er aber dann anschließend gleich das Gegenteil praktiziert. Da ihn wohl eine allgemeine Gebührendiskussion schreckte, holte er für die Rundfunkanstalten das Geld woanders. Ohne den Bund anzuhören, wurde z. B. die Gebührenfreiheit für Geräte in Gemeinschaftsunterkünften der Bundeswehr gestrichen. Für den Verteidigungshaushalt sind das genau 900 000 DM. Der Kollege Damm ist jetzt nicht mehr im Haus.
— Entschuldigung!
— Ja, der möchte gern. Vielleicht kann es ihm einer sagen, wenn er nicht mehr abgelenkt ist: Dafür hätte man dann 225 000 Wehrpflichtigen jeweils jenes Paar graue Wollsocken kaufen können, das für Herrn Damm ein Sicherheitsproblem gewesen ist.Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bernerkungen zur Frage der militärischen Stärke von Bundeswehr und NATO machen. Erst unter der Verantwortung der sozialliberalen Koalition hat die Bundeswehr ihren stets vorgesehenen Personalumfang von rund 495 000 Mann erreicht. Zur Zeit der CDU/ CSU waren es mindestens 30 000 Soldaten weniger. Ich glaube, es hat auch einmal eine Zeit gegeben, in
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Neumannder jemand die Personalstärke auf 417 000 Mann verringern wollte. Damals sollte diese Verringerung nicht etwa erfolgen, weil die Bedrohung geringer geworden war, sondern weil damals haushaltspolitische, finanzpolitische und Wirtschaftsprobleme vorhanden waren, die es zu lösen galt.Ich möchte noch zwei Sätze an Herrn Handlos richten, der heute hier auch gesprochen hat, und zwar möchte ich mich auf eine Resolution beziehen, die ein Arbeitskreis während des wehrpolitischen Kongresses der CSU 1974 mit großer Mehrheit gefaßt hat. Es heißt dort:Der Arbeitskreis stellt ferner mit Besorgnis fest, daß der nach Art. 87 a Abs. i Satz 2 des Grundgesetzes vorgesehene Friedensumfang der Bundeswehr von 495 000 Mann nicht in voller Höhe präsent und einsatzbereit ist ...Ich glaube, es ist ein massiver Vorwurf, wenn man sich dabei auf das Grundgesetz bezieht, also der Regierung im Grunde genommen Verfassungsbruch vorwirft. Das müßte man belegen. Aber anscheinend haben Sie eine CSU-Sonderausgabe des Grundgesetzes vorliegen gehabt; denn im Grundgesetz steht im angezogenen Artikel tatsächlich etwas anderes. Da steht nämlich drin, daß sich die zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge der Bundeswehrorganisation aus dem Haushaltsplan, nicht aus dem Grundgesetz, ergeben müssen. Das ist ein „kleiner" Unterschied!Herr Stahlberg, Sie haben vorhin Herrn Luns herangezogen. Ich möchte ein paar Ausführungen zur NATO machen. Durchaus positiver, als Sie es dargestellt haben, ist auch die Lage der NATO, wenn man nicht nur Zahlen, sondern auch Qualität, Ausbildung, Logistik usw. mit dem Warschauer Pakt korrekt vergleicht. Nur so konnten der ehemalige amerikanische Verteidigungsminister Schlesinger sowie der Generalsekretär der NATO, Joseph Luns, zu der beachtenswerten Feststellung kommen, daß Westeuropa ohne Einsatz von taktischen Nuklearmitteln, also rein konventionell, zu verteidigen sei!Ich will nicht mehr auf die tatsächlichen Steigerungen usw. eingehen. Die Zeit läßt das nicht mehr zu.Bei der Vorbereitung dieser Debatte habe ich natürlich eine Fülle von Unterlagen eingesehen. Dabei fiel mir auch das Material für die Presse vom 7. Juni 1973 des Bundesministeriums der Verteidigung in die Hand, Titel: „Militärische Entwicklungstendenzen im Warschauer Pakt — Lagevortrag des Militärausschusses der NATO zur Sitzung des Verteidigungsplanungsausschusses am 7. Juni 1973 in Brüssel". Dabei fiel mir auf, Herr Kollege Dr. Wörner, daß Sie aus diesem Fünfjahresbericht wortwörtlich ganze Passagen abgeschrieben haben müssen. Die einzige Arbeit, die Sie sich gemacht haben, ist die, daß Sie die Aussagen der Seiten 1 bis 4 dieses Berichtes zu Fragen an die Bundesregierung zusammengestoppelt haben. Ihnen den Nachweis zu bringen bin ich gern bereit.
— Nein, das will ich gar nicht ins Klassenbuch eintragen. — Wie Sie diese Tatsache bewerten, ist Ihre Sache. Ich meine aber, Herr Kollege Wörner, daß dies für einen Politiker, der ein Ministeramt anstrebt, nicht überzeugend ist. Und damit bin ich wieder am Anfang meiner Ausführungen: Sie sind auch in der Verteidigungspolitik keine Alternative.
Das Wort hat Herr Staatsminister Moersch vom Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte die Debatte nicht neu eröffnen und mir vor allen Dingen nicht den Zorn der Mitglieder des Hauses zuziehen. Ich hatte hier nur, durch die Zwischenrufe ein wenig alarmiert, den Eindruck, daß manches doch nicht ganz klar ist, was hier heute über MBFR an Kritischem gesagt worden ist. Ich möchte mir deshalb erlauben, noch einmal ganz kurz den Sachverhalt darzustellen. Vielleicht klärt das ein bißchen die Fronten, meine Herren von der Opposition.Die Einführung der nuklearen Komponente wurde auf der NATO-Ministerratstagung am 11. und 12. Dezember 1975 beschlossen und als ein Angebot verabschiedet, das den Unterhändlern des Warschauer Pakts inzwischen in Wien unterbreitet worden ist. Die NATO ist bereit — zusätzlich zu dem bisher angebotenen Abzug von 29 000 amerikanischen Soldaten —, in der ersten Verhandlungsphase den Abzug einer bestimmten Zahl spezifischer amerikanischer nuklearer Elemente zu verwirklichen unter der Bedingung, daß der Warschauer Pakt dem Vorschlag der NATO zustimmt, in der ersten Verhandlungsphase erstens das in zwei Verhandlungsphasen zu erreichende Ziel der Herstellung der ungefähren Parität des Personals der Landstreitkräfte zu vereinbaren und zweitens eine sowjetische Panzerarmee mit 68 000 Mann und 1 700 Panzern aus Mitteleuropa abzuziehen. Dieser wichtige, zusätzliche NATO-Vorschlag — er ist in der NATO einvernehmlich verabschiedet worden —dient dem Ziel, das bestehende Ungleichgewicht im Bereich der konventionellen Streitkräfte abzubauen und damit ein stabiles militärisches Kräfteverhältnis in Mitteleuropa zu erreichen. Diese Zielsetzung liegt nach unserer Auffassung und nach Auffassung des gesamten Bündnisses im beiderseitigen Interesse. Das einmalige nukleare Angebot der NATO ist ein Versuch, die MBFR-Verhandlungen mit dieser Zielsetzung voranzubringen. Es liegt nun — das ist ausdrücklich betont worden, und ich unterstreiche es hier — an den Mitgliedern des Warschauer Pakts, mit ihrer Reaktion ihre Verwirklichung in Mitteleuropa zu ermöglichen und damit zum Abbau der Gefahren der militärischen Konfrontation beizutragen.Ich will noch einmal verdeutlichen, wie die militärische Ausgangslage bei den MBFR-Verhandlungen war. Sie ist gekennzeichnet durch die starken Disparitäten zugunsten des Warschauer Pakts beim
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Staatsminister MoerschI Personal der Landstreitkräfte und bei den Kampfpanzern: 925 000 zu 777 000 und 15 000 zu 6 000. Die MBFR-Vorschläge zielen an sich — ich wiederhole es — darauf ab, diese Disparitäten im Falle der Panzer zu vermindern und an die Stelle der Disparitäten beim Personal der Landstreitkräfte ein ausgewogenes, d. h. paritätisches Kräfteverhältnis zu stellen. Deswegen die erste Phase, nämlich Zustimmung zum Ziel der ungefähren Parität im Personalbestand der Landstreitkräfte , Abzug der sowjetischen Panzerarmee mit 68 000 Soldaten und 1 700 Panzern sowie Abzug von 29 000 amerikanischen Soldaten als Schritt in Richtung auf das vereinbarte Ziel der Parität. Und in der zweiten Phase: Vollendung der ungefähren Parität. Das heißt: auf beiden Seiten Verminderungen auf die ungefähre Parität, die von uns bei 700 000 Mann angesetzt wird. Ich wiederhole noch einmal: Die Herstellung der Parität würde den Sicherheitsinteressen aller Beteiligten gerecht werden. Mit ihr würde in Mitteleuropa auf niedrigerem Streitkräfteniveau ein stabileres Kräfteverhältnis erreicht.An dieser Zielsetzung hält die Bundesregierung mit ihren Verbündeten, wie die letzte NATO-Ministerratstagung gezeigt hat, unbeirrt fest. Nachdem, was ich hier gesagt habe, kann nicht behauptet werden, daß wir hier irgendeine Art von Vorleistung erbringen, sondern es ist ganz klar, daß dieses Angebot für den hier genau charakterisierten Fall und für nichts anderes gilt und daß hier nichts einseitig und etwa leichtsinnig vom westlichen Bündnis angeboten worden ist.Ich möchte noch ein Zweites zum Tindemans-Bericht hinzufügen dürfen. Wir freuen uns sehr, daß dieser realistische Bericht über die europäische Möglichkeiten, Aufgaben und Zielsetzungen ein so starkes Echo überall in diesem Hause gefunden hat. Nur kann nicht verschwiegen werden, daß dieser Bericht unter Mitarbeit der Bundesregierung auf Grund der gemeinsamen Lagebeurteilung im Kreise der Neun entstanden ist. Es kann auch nicht verschwiegen werden, daß dieser Bericht mit seinen Vorschlägen nicht losgelöst werden kann von der Gesamtauffassung von Ost-West-Politik, die das Atlantische Bündnis und die Neun haben. Zu dieser Gesamtauffassung, die man bei der Verwirklichung des Tindemans-Bericht sehen und berücksichtigen muß, gehört z. B. die gemeinsame Arbeit der Neun und des Atlantischen Bündnisses in der KSZE und gehört auch das gemeinsame Vorgehen bei MBFR. Man kann nicht einen Teil der westlichen Politik unterstützen und den anderen einfach beiseite lassen. Wer dies versucht, wer also nicht alle Komponenten der Bündnispolitik und der westlichen Politik insgesamt unterstützt, begibt sich unter Umständen — trotz partieller Zustimmung zu dieser Politik — in den Bereich der absoluten Exklusivität seiner Ansichten und Meinungen. Diese Exklusivität hat die Bundesregierung nie erstrebt und kann und darf sie nicht erstreben. Denn Exklusivität auf diesem Gebiet heißt natürlich Isolation im Bündnis selbst. Diese Isolation aber wäre gefährlich für unsere Sicherheitsinteressen. Deswegen haben wir unsmit Erfolg bemüht, eine gemeinsame Auffassung von der politischen Entwicklung in Europa mit unseren Verbündeten zu erarbeiten. Wir bitten daher diejenigen, die den Tindemans-Bericht unterstützen, doch auch die Konsequenz zu ziehen und die übrigen Maßnahmen des Bündnisses ebenso positiv zu bewerten und nicht in Bausch und Bogen abzutun.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sicher unangenehm, sich zu so später Stunde noch zu Wort zu melden.
Aber einige der hier im Zusammenhang mit meinerPerson aufgestellten und vertretenen Behauptungen
veranlassen mich ungeachtet der Peinlichkeit Ihrer Art von Zwischenbemerkungen, die nur Sie charakterisiert und niemanden sonst,
einiges dazu zu sagen.
Es stört manche von Ihnen — ich erwähne die Damen und Herren hier nicht, die das besonders stört; das weist ja das Protokoll aus, soweit sie sich nicht nur in Sammelrufen ergangen sind —, und sie möchten durch Verzerren verdächtig machen, wenn jemand wie ich aus den Erfahrungen von einigen Jahrzehnten Bundestag daran erinnert, wie viele, viele Jahre haben verstreichen müssen, ehe hier bei uns auf Zeichen von Entspannungsbereitschaft aus einem besonders geschundenen Volk — neben den Juden wohl dem am meisten geschundenen —, dem polnischen Volk, eingegangen worden ist. Und heute wollen Sie so tun, als sei dabei nichts anderes gewesen als eben sozusagen die Lawine der anderen Seite.Ich will in die Worte des Herrn Dr. Dregger, die ich mir notiert habe, gar nicht noch einmal hineinleuchten; sie seien ihm geschenkt. Er hat klugerweise Abstand genommen von gewissen Grobschlächtigkeiten anderer, ohne sich von ihnen abzusetzen. Sie möchten aber eine Darstellung zum Verzerren und zum Verdächtigmachen verbreiten, als hätte ich mich in Warschau — und dann kommt das Schrecklichste, beinahe ein Majestätsverbrechen — für den Rapacki-Plan eingesetzt und dergleichen mehr. Damit Sie Bescheid wissen: Der Name jenes früheren Staatsmannes ist mir aus mehreren Gründen nicht über die Lippen gekommen. Wenn jemand von Ihnen privat zu erfahren wünscht, warum aus mehreren Gründen, dann würde ich ihm das gern sagen; hier hat das keinen Sinn.Aber damit Sie mehr kombinieren können — vielleicht das eine oder andere nicht zu meinen Gun-
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Wehnersten; das schenke ich Ihnen; denn ich bin dazu da, daß Sie jemanden haben, auf dem Sie herumklopfen können —, gebe ich Ihnen zwei Quellenhinweise. Die eine Quelle ist die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Dienstag, 9. September 1969, Nr. 208, Seite 19. Herr Dr. Dregger, weil Sie es aufschreiben, füge ich hinzu: Das war die einzige Zeitung, die -aus welchen Gründen, weiß ich nicht — eine Rede von mir im Wortlaut der Bandaufnahme abgedruckt hat, ohne daß ich sie auch nur korrigiert hätte. Ich hätte sie auch nicht korrigiert. Überschrift: „Sieben Wörter im Gedächtnis der polnischen Nation — Die Rede von Bundesminister Wehner vor den ostdeutschen Landesverretungen in Bad Godesberg am 31. August". Das war am Tag, bevor zum 30. Mal der 1. September war, jener Tag, an dem diejenigen über die polnische Grenze rollten, die dort den „Blitzkrieg" machten und ihrer Meinung nach den „Blitzsieg" errangen, die dann in dem, was damals bei uns ein Parlament ersetzte, nämlich in der Kroll-Oper, jene sieben schrecklichen brennenden Worte sozusagen als Feststellung einbrannten. Das waren die Worte, die ich wörtlich zitiere: „Polen hat als Staat aufgehört zu existieren."Das ist einer der Gründe, weswegen ich eine Affinität zu denen habe, die damals niedergewalzt, niedergeworfen, niedergetrampelt und gefoltert worden sind. Das habe ich damals als Bundesminister vor den ostdeutschen Landmannschaften vertreten, und zwar ohne mich dort darauf einzulassen, daß vor mir der verehrte Herr Kollege Scheel in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der FDP — er stand damals in der Opposition gegen die Regierung, deren Mitglied ich war — dort am Weiterreden gehindert worden war. Das Reden war ihm an dem Tag vor dem 30. Jahrestag nicht möglich. Dazu gehörte schon einer wie ich, der sich nicht nieder-reden ließ. Bitte, wenn Sie wissen wollen, wie es um mich steht, dann lesen Sie bitte diese Rede! Vielleicht gibt es noch jemand, der sie Ihnen beschafft. Ich habe sie kürzlich wieder aus einem Fach gezogen. Das ist die eine Quelle. Ich habe mich auf diese Rede auch in Warschau berufen, auf diese vor den ostdeutschen Landmannschaften gehaltene Rede.Die andere Quelle ist das Bulletin Nr. 109 vom 4. September 1968. Dort beginnt es auf Seite 932. Dem Herrn, der hier jetzt gerade Quellen heranzutelefonieren versucht, Herrn Damm, der heute morgen hier neben dem einen oder anderen sonstigen geredet hat, sei gesagt: In dieser Rede war doch nur ein Satz in bezug auf die damaligen Pläne. Ich lese hier jetzt vor, worum es damals ging. Der damalige Bundesminister des Auswärtigen, Willy Brandt, hat in der Genfer Konferenz der nichtnuklearen Länder, an der über 90 Länder teilnahmen, und zwar mit dem ausdrücklichen Willen der damaligen Regierung, der er als Bundesminister des Auswärtigen und ich als Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen angehörten, geredet. Ich zitiere hier:Die Bundesrepublik Deutschland hat den Vertrag der lateinamerikanischen Länder über eine atomwaffenfreie Zone ebenso begrüßt wie die Beschlusse der Organisation für afrikanischeEinheit, die auch dort zu einer atomwaffenfreien Zone führen könnten. Europa ist nicht in der glücklichen Lage, kernwaffenfrei zu sein. Die Entfernung bereits vorhandener Kernwaffen ohne gefährliche Veränderungen des gesamten Gleichgewichts, also unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Beteiligten, ist eine schwierige und nicht schnell lösbare Aufgabe.Das war der eine Absatz. Dann kommt der nächste:Die Bundesregierung hat sich dafür eingesetzt, daß aus Europa eine Zone der Entspannung wird als Vorstufe einer dauerhaften Friedensordnung. Sie hat vorgeschlagen: Abbau der Konfrontation, wechselseitigen Verzicht auf Gewalt, Normalisierung der Beziehungen mit den Staaten Ost- und Südosteuropas, geregeltes Nebeneinander auf deutschem Boden, erleichterten Austausch in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft. Diesen Bemühungen ist ein schwerer Schlag versetzt worden. Dennoch bleiben wir bereit, für eine europäische Zone friedlicher Nachbarschaft zu wirken, die allmählich zu konstruktivem Miteinander führt und in der die gefährliche Konfrontation abgebaut werden kann. Wir befürworten daher weiterhin einen ausgewogenen, gegenseitigen Abbau der Truppenkontingente, mit dem auch eine angemessene Regelung des Problems der in dieser Region stationierten Kernwaffen verbunden werden könnte. Dabei gibt es übrigens einige Berührungspunkte mit den bekannten polnischen Vorschlägen.Im Dezember 1967 habe ich— so sagt der damalige Bundesminister des Auswärtigen —vor dem Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, daß wir bereit sind, an einem Abkommen mitzuwirken, das im Zuge einer ausgewogenen Verminderung aller Streitkräfte, auch zur stufenweisen Verringerung der Kernwaffen in ganz Europa führt. Diese Bereitschaft gilt weiter.Damit schließe ich dieses Zitat.Nun sage ich Ihnen: Der Unterschied zwischen Ihnen und mir, abgesehen von vielen anderen Fragen — ich will sonst sicher von Ihnen nicht als jemand angesehen werden, der sich Ihnen aufdrängt —, ist, daß wir nach jahrelangen Bemühungen, die unter anderem ihren Ausdruck in solchen Aussprüchen auf der Genfer Konferenz der nichtnuklearen Länder gefunden haben — damals von der Regierung Kiesinger Brandt gedeckt —, dies zäh, beharrlich, geduldig weiterbetreiben, und Sie wollten heute hier den Eindruck erwecken, als sie das alles falsch gewesen, und dann kam das, was Herr Dregger über die „Zäsur" usw. sagte. Aber ich hatte ja versprochen, abends nicht noch einmal in eine Diskussion Ihrer politischen Linie einzutreten.Nun zitiere ich noch aus meiner handschriftlichen Notiz aus der Diskussion mit den Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des polnischen Parlaments in Warschau am 7. Januar:
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WehnerJahre hindurch sind zum Beispiel wegweisende Vorschläge der Volksrepublik Polen, Europa zu einer Zone der Entspannung zu machen,— also nicht „Entspannungszone" usw. —in der Bundesrepublik Deutschland mißachtet worden. Unser Parteivorsitzender Willy Brandt hat in seiner damaligen Eigenschaft als Außenminister am 3. September 1968 in Genf im Rahmen der Konferenz der nicht-nuklearen Länder behutsam Fäden aufgegriffen und zu knüpfen versucht. Alles braucht seine Zeit, wir bedürfen der Beharrlichkeit ...Da kam dieses Zitat, und da kamen diese Hinweise. Ich habe davon nichts zurückzunehmen, zumal ich das, was ich dort gesagt habe, in Erinnerung an etwas gesagt habe in bezug auf meine Eigenschaft als einer, der hier für die Bundesrepublik Deutschland spricht, wenn auch nicht in Regierungseigenschaft. Ich habe ihnen gesagt: Wir sind die Bundesrepublik Deutschland, die ihre Verträge im eigenen Namen abschließt, aber als die Bundesrepublik, die unter den Vorbehaltsrechten von drei der vier Mächte steht, die am Ende des Zweiten Weltkriegs besondere Verantwortlichkeiten für diesen Teil in Mitteleuropa übernommen haben. Da haben wir voneinander gewußt, was wir voneinander zu halten haben, und da wurde nicht Etikettenschwindel getrieben.Deshalb konnte ich hier auch sehr eindeutig sagen: Gedanken wie die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone oder eines Disengagements — das war ja das Ergebnis der hiesigen „Aufklärungsarbeit", ehe ich mich hier überhaupt habe äußern können — werden weder von mir noch von den Teilnehmern der Warschauer Gespräche für aktuell gehalten oder propagiert. Aber es muß erlaubt sein, gelegentlich solcher Gespräche daran zu erinnern, daß während einiger Jahre aus der Volksrepublik Polen Vorschläge zur Entspannung gemacht wurden, auf die jedenfalls die seinerzeit das Wort führenden politischen Kreise unseres Landes lediglich negativ oder ignorierend reagiert haben. Dann kommt wieder meine Feststellung, worauf ich mich beziehe: auf das, was in dieser Genfer Rede steht.Nein, nein. Ich bin gefragt worden: Wenn es nicht so sei, daß ich dort irgend etwas angebändelt hätte, atomwaffenfreie Zone und ähnliches betreffend, was dann sollte die Bundesregierung „nach Ihren Vorstellungen" — nach meinen also — z. B. diesen Wiener Verhandlungen für eine ausgewogene Truppenverminderung und Rüstungsbegrenzung an Impulsen geben? Darauf habe ich geantwortet — und ich zitiere, was ich auf eine entsprechende Frage in der Wochenzeitung „Die Zeit" gesagt habe —:Daß unsere Bundesregierung unter Helmut Schmidts Kanzlerschaft mit Sachverstand und politischem Augenmaß im Rahmen unserer Bündnisverpflichtungen nützliche Impulse geben wird, dafür bürgt mir Helmut Schmidts Sachkenntnis und Engagement. Mir kommt es darauf an, ihm den Rücken freizuhalten.Damit Sie wissen, wie ich meine Aufgabe sehe. Undim übrigen, weil da von Bemerkungen Gebrauch ge-macht worden ist, daß es hier und da noch gewisse Elemente — Rudimente könnte man auch sagen —, Spuren oder Anflüge antipolnischen Chauvinismus gebe: Ich bin dem Herrn Dr. Ackermann dankbar dafür, daß er unter dem gestrigen Tag, 14. Januar 1976 — „CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag — Pressedienst" — folgendes — keine Angst, der ganze Text kommt nicht — veröffentlicht hat:Der Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Eduard Ackermann, teilt mit:.. .Dann wurden unter Bezug auf das, was ich beim „Besuch bei der kommunistischen Fraktion des polnischen Sejm wider besseres Wissen von chauvinistischen Einstellungen" gesagt hätte, Absätze der geistvollen Ergüsse eines Ihrer Fraktionsgeschäftsführer, des Herrn Reddemann, wörtlich abgedruckt. Ich nähme sie nicht in den Mund, weil ich ihn mir dann spülen müßte.
— Das hilft bei Ihnen auch nicht, wissen Sie, und bei mir würde das auch nicht helfen. Nein, das ist eine Geschmacksfrage,
über die ich mit Ihnen, die Sie mit einem nicht ganz, jedenfalls mir nicht ganz einwandfrei scheinenden Finger so gerne zeigen, nicht rechte. Mit Ihnen nicht! Nein, nein!Im übrigen, wenn Sie wollen: Meine Rede vom 30. Juni des Jahres 1960 weist mich aus. Das war die Summe von Erfahrungen in den Jahren des Ringens um die deutsche Frage seit Kriegsende und in der Periode des kältesten kalten Krieges; immerhin noch rechtzeitig, damit diejenigen, die damals auf Ihrer Seite gesessen und gehört haben, wenn sie gewollt hätten, unseren Vorschlag, von mir dargelegt und begründet, wenigstens hätten aufgreifen können, weil ja ein Jahr, ein Monat und ein paar Tage darauf das, was man die Mauer in Berlin nennt, errichtet wurde. Ich habe hier gesagt: Worauf es ankommt, ist, miteinander zu reden, damit nicht durch einseitige Änderungen plötzlicher Art in dem geteilten Deutschland die Entwicklungen mehr als kritisch werden. Und das wurden sie damals.Sie wollten nicht hören, Sie wollten keine Bestandsaufnahme, Sie wollten kein Gespräch. Und heute wollen Sie so tun, als ob jeder, der sich für das im Rahmen eines getrennten Deutschlands Mögliche einsetzt, von Ihnen angeklagt werden dürfte, weil Sie am Horizont ganze Divisionen und mehr aufscheinen lassen wollen.
So war es ja wohl heute. — Hier beziehe ich mich ganz auf das, was mein Kollege und Freund Georg Leber Ihnen heute morgen gesagt hat. — Schönen Dank für Ihre — immerhin — Geduld!
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wörner.
— Dann hat der Herr Abgeordnete Stahlberg das Wort.
— Ja, es handelt sich um den schon aufgerufenen Punkt 3 der Tagesordnung: Beratung des Antrags betr. Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten für Unteroffiziere. — Bitte!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen hier, wie die Frau Präsidentin heute morgen festgestellt hatte, eine verbundene Debatte. Das heißt, daß ich jetzt die Aufgabe habe, den Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 7/4433 zu begründen.
Dieser Antrag befaßt sich mit den Unteroffizieren, die in der Truppe als Ausbilder ihren Dienst tun. Wir sähen es gern, wenn dieser Antrag einvernehmlich bewirkte, daß die Ausbilder in der Bundeswehr - also die, die Außendienst in der Truppe leisten — die Möglichkeit hätten, als Offiziere des militärfachlichen Dienstes aufsteigen zu können.
Wir waren bei Einführung dieser Dienstgradgruppe schon von Anfang an der Auffassung, daß militärfachlichen Dienst auch der Ausbilder und nicht nur der sogenannte Spezialist als S 1 — oder was weiß ich an welcher Stelle — leistet, und wir haben es für verkehrt gehalten, daß beispielsweise ein 27jähriger, der wegen seiner besonderen Leistung als Ausbilder schon in diesem Lebensalter zum Hauptfeldwebel befördert und auch zum Berufssoldaten ernannt wird und als Zugführer tätig ist, nicht die Möglichkeit hat, in den nächsten 27 Jahren, die er dann nämlich noch zu dienen hat, noch aufsteigen zu können — unter der Voraussetzung, daß er noch mindestens zehn Jahre im Außendienst als Ausbilder tätig ist. Ihm, in so jungem Lebensalter in eine hohe Verantwortung gestellt, müßte es vergönnt sein, mindestens Offizier des militärfachlichen Dienstes zu werden, zumal dies auch genau das richtige Lebensalter für einen Ausbilder in der Truppe ist.
Wenn man die Schriftenreihe „Innere Führung" verfolgt und Heft 19, die „Wehrsoziologischen Studien" also, nimmt, läuft dort doch wie ein roter Faden die Feststellung durch, daß die Ausbilder in der Truppe nicht deshalb unzufrieden sind, weil sie diese Aufgabe, mit jungen Menschen umzugehen, haben, sondern deswegen, weil sie aus dieser Position heraus nicht die gleichen Aufstiegschancen haben, wie es bei den sogenannten Spezialisten der Fall ist. Im übrigen halten wir es für viel zu kostspielig, jemanden aus dem Ausbildungsdienst herauszunehmen und ihn zum Spezialisten anderer Art — im technischen Dienst oder wo immer — zu machen, um ihn dann erst zum Offizier des militärfachlichen Dienstes aufsteigen zu lassen.
Wir wollen also nicht mehr und nicht weniger, als daß für diesen Teil der Soldaten — sehr tüchtiger Soldaten — Planstellen reserviert werden, und zwar — damit niemand auf die Idee kommt, wir wollten nun unzählige neue Planstellen geschaffen wissen — aus dem, was an Planstellen da ist.
Im übrigen werden auf Grund der Ausbildung der Offiziere auf den Hochschulen viele Ausbilder in jungen Lebensjahren im Offiziersdienstgrad fehlen. Wir könnten uns vorstellen, daß auch sogenannte Wechselstellen mit dafür sorgen, daß in der Zeit, wo andere dann studieren, sich auf andere Dienste in der Bundeswehr vorbereiten und nur für verkürzte Zeiten in der Truppe zur Verfügung stehen, ihnen eben auch diese hervorragenden Ausbilder zur Seite stehen und ihren Platz ausfüllen, solange sie auf den Hochschulen tätig sind.
Wir bitten die Koalitionsfraktionen herzlich darum, diesem Antrag ihre Zustimmung zu geben, damit wir einem Teil hervorragend leistungsfähiger Unteroffiziere eine echte Hilfe zum Aufstieg an die Hand geben können.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Horn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch für die Kollegen von der FDP möchte ich zu diesem Antrag der CDU/CSU wie folgt Stellung nehmen.Der als Zugführer in den Kampf- und Kampfunterstützungstruppen ausgebildete Bewerber für die Laufbahn der Offiziere des militärfachlichen Dienstes hatte auch bisher grundsätzlich gleiche Chancen in der Auswahl für diese Laufbahn wie der Unteroffizier in der sogenannten speziellen Verwendung. Er war nicht benachteiligt, da das Auswahlverfahren auf dem Prinzip der Bestenauslese basierte. Dabei war es gleichgültig, welche Verwendung der einzelne Soldat vorher durchlaufen hatte. Aufkommen und Bedarf regelten auch für den Zugführer die Aufstiegschancen für die Offiziere im militärfachlichen Dienst für die in diesem Dienst vorgesehenen Verwendungen. Allerdings mußte der als Zugführer ausgebildete Bewerber in allen Fällen in eine neue Fachrichtung umgesetzt werden. Ein weiterer Einsatz als Zugführer kam bisher nur vorübergehend vor Beginn der Umschulung in Frage.
— Richtig, Herr Kollege Wörner! Dieses Verfahren war von der Ausbildung her aufwendig und für die Betroffenen unbefriedigend, da es mit mehr Ausbildung verbunden war und nicht die Chance bot, bisher Gelerntes voll weiter zu verwerten.Der Minister hat aber bereits bei der Entscheidung über das Konzept der Neuordnung von Ausbildung und Bildung am 10. September 1975 Maßnahmen angeordnet, um die aufgezeigten Schwierigkeiten zu beheben. Danach wird in Zukunft jeder Offizier des militärfachlichen Dienstes im Heer eine
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HornFachschule besucht oder eine entsprechende Ausbildung durchlaufen haben. In diesem Zusammenhang sei die in Munster errichtete Fachschule des Heeres für Erziehung erwähnt, die zu Führungsverwendungen, gezielt auch zum Zugführer ausbildet, gleichzeitig aber auch für die zukünftigen speziellen Verwendungen vorbereitet, die auf den Zugführer zukommen, wenn er aus Altersgründen aus der Truppe herausgelöst werden muß. Die Ausbildung an dieser Schule, die insbesondere für den Bereich der Kampf- und Kampfunterstützungstruppen geschaffen wurde, dient also sowohl der unmittelbaren Anschlußverwendung der Zugführer als auch der Nachfolgeverwendung als Spezialist. Umfangreicher zusätzlicher Ausbildung bedarf es dann nicht mehr.Darüber hinaus wird im Heer ein System von Ausbildungsreihen geschaffen, das den logischen Aufbau von Vorbildung, Ausbildung und Verwendungen sicherstellt. Die Ausbildungsreihen werden personalorganisatorisch so zusammengefaßt, daß bereits von der Struktur her weitgehend Chancengleichheit in Auswahl und Ausbildung gewährleistet ist. Dieses System benötigt auf Grund der tiefergreifenden Änderungen Zeit, um sich auszuwirken. Es ist vorgesehen, daß es für die ab 1. April 1974 eingetretenen Soldaten voll wirksam wird.Auf Grund der Entscheidung des Ministers vom 11. September 1975 über die Einrichtung der Fachschulen ist das Heer nun dabei, die bisherigen Untersuchungen über die Verwendungen zu konkretisieren, die eine Ausbildung an einer Fachschule des Heeres voraussetzen. In diese Untersuchungen werden insbesondere auch solche Führungsverwendungen in ,den Kampf- und Kampfunterstützungstruppen einbezogen, die eine pädagogische Ausbildung erfordern. Darüber hinaus werden die Anschlußverwendungen festgelegt, auf denen die Ausbildung und Erfahrung als Zugführer genutzt werden können, etwa Lehrtätigkeit usw. Durch diese eingeleiteten Maßnahmen im Rahmen der Neuordnung von Ausbildung und Bildung im Heer werden die Voraussetzungen geschaffen, daß Zugführer in Zukunft in einer eigenen Fachrichtung im Bereich der Kampf-und Kampfunterstützungstruppen zum Offizier des militärfachlichen Dienstes aufsteigen können. Damit soll sichergestellt werden, daß geeigneten und bewährten Unteroffizieren in Führungsverwendungen der Kampf- und Kampfunterstützungstruppen der Aufstieg zum Offizier unter gleichen Bedingungen möglich ist wie den Unteroffizieren in den sogenannten speziellen Verwendungen.Meine Damen und Herren, wenn man diese Voraussetzungen sachlich sieht, kommt man zu dem Ergebnis, das heute morgen der Herr Minister Leber schon einmal zitiert hatte, als er vom sechsjährigen Schlaf der Opposition sprach.„Spät kommt ihr, doch ihr kommt", um bei einer verteidigungspolitischen Debatte einmal „Wallenstein" zitieren zu können. Wir waren der Auffassung — —
— Nicht „Der arme Schiller", sehr geehrter Herr Dr. Wörner: Ihr Antrag ist so überflüssig wie ein Kropf. Er ist völlig gegenstandslos.
Sie wissen doch ganz genau, daß der Minister am 11. September 1975 diesen Erlaß herausgegeben hat. Ihr Antrag datiert drei Monate später. Aus Gründen der parlamentarischen Übung wollen wir es aber hier nicht zum Streit kommen lassen.
Wir wollen die schöne Möglichkeit haben, ihn im Verteidigungsausschuß entsprechend beraten zu können. Wir brauchen ihn gar nicht abzulehnen. Was Sie hier fordern, hat die Bundesregierung, hat der Verteidigungsminister längst getan. Damit befinden Sie sich wieder einmal am Ende des Zuges,
obwohl Sie hier immer vorgeben wollen, Lokomotive zu sein.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag von Dr. Wörner und Genossen auf Drucksache 7/4433 betr. Verbesserung der Aufstiegsmöglichkeiten für Unteroffiziere in den Kampf- und Kampfunterstützungstruppen des Heeres dem Verteidigungsausschuß — federführend — und dem Haushaltsausschuß — mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung — zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Damit sind die Tagesordnungspunkte 2 und 3 erledigt.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen— Drucksache 7/4170 —Bericht und Antrag des Innenausschusses
— Drucksache 7/4429 —Berichterstatter: Abgeordneter EntrupAbgeordneter Dr. Wernitz
Ich frage zunächst, ob von den Herren Berichterstattern das Wort gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Ich danke den Herrn Berichterstattern.Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nicht begehrt. Ich schließe die Aussprache.
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14690 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenWir kommen zur Abstimmung in zweiter Beratung und Schlußabstimmung. Ich rufe Art. 1. 2, 3, Einleitung und. Überschrift auf. — Wer dem Gesetz in der zweiten Beratung und Schlußabstimmung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Verwaltungsverfahrensgesetzes
— Drucksache 7/910 —Bericht und Antrag des Innenausschusses
— Drucksache 7/4494 -Berichterstatter:Abgeordneter Gerlach Abgeordneter BühlingAbgeordneter Dr. Wendig
Ich frage zunächst die Herren Berichterstatter, ob sie noch zu dem Bericht das Wort begehren. — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich danke den Herren Berichterstattern.Wir treten in die zweite Lesung ein. Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der CDU/CSU auf den Drucksachen 7/4569 und 7/4570 vor. Ich habe mich von dem vorher amtierenden Präsidenten unterrichten lassen, daß die Fraktionen übereingekommen sind, im Rahmen der zweiten Lesung die Begründung dieser Anträge und die Aussprache über sie mit der allgemeinen Aussprache zu verbinden.Das Wort hat Herr Abgeordneter Gerlach . Ihm folgt der Herr Abgeordnete Bühling.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein langer Weg intensiver Erörterungen und Beratungen um die besten Formulierungen eines Kodexes für die Verwaltung, besser gesagt, eines Kodexes für die Rechtssicherheit der Bürger soll heute jedenfalls ein vorläufiges Beratungsende finden. Es könnte in der Tat ein endgültiges Beratungsende sein, wenn die Regierungskoalition und die Bundesregierung nicht halsstarrig auf Positionen beharrten, die dem Bund nach unserem Grundgesetz nun einmal nicht zustehen. Ich bedaure sehr, daß dieses echte Jahrhundertgesetz deswegen nicht in der ihm an sich gebührenden Harmonie und Einigkeit verabschiedet werden kann.Des Gewichtes dieses Gesetzes und seiner Auswirkungen auf den Bürger wegen wäre es angebracht, wenigstens einen kleinen historischen Überblick zu geben. Die Zeitökonomie dieses Hauses läßt dies aber leider nicht zu. Angesichts der Novität dieses Gesetzes seien jedoch wenigstens einige Bemerkungen in dieser Richtung gemacht.Es ist erwähnenswert, daß die Bemühungen um einheitliche Bestimmungen im Verwaltungsverfahren vor 50 Jahren begonnen haben. Ansätze hierzugab es damals in Thüringen, bis nach langer Pause — eine Kodifikation fand übrigens nach dem Kriege in Osterreich statt — der erste Musterentwurf für dieses Gesetz 1960 und der zweite 1964 vorgelegt wurden. Lediglich das Land Schleswig-Holstein hat den damaligen Entwurf übernommen und praktiziert ihn seit 1967. Die übrigen Bundesländer wollten die Gesetzgebungsentscheidung des Bundes abwarten. Die genannten Entwürfe wurden von einer großen Kommission aus Mitgliedern des Bundes und der Länder sowie von Sachverständigen erarbeitet. In der 6. Legislaturperiode wurde dieser Entwurf praktisch unverändert mitsamt der Begründung als Gesetzentwurf eingebracht. Dies wiederholte sich in der 7. Legislaturperiode mit einigen begrifflichen Aufbereitungen, z. B. zum Begriff der Amtssprache, da wir zwischenzeitlich ja eine große Anzahl von Ausländern in unserem Lande haben.Noch stärker als alle anderen Gesetze stehen Verwaltungsverfahrensregelungen im Spannungsverhältnis zwischen der Garantie auf individuelle Bürgerrechte auch im Verwaltungsverfahren auf der einen Seite und der Notwendigkeit, die Verfahren rationell zu gestalten, sie nicht zu kompliziert zu machen und nicht zu personalintensiv zu gestalten, auf der anderen Seite.Von dem nunmehr zur Verabschiedung vorliegenden Gesetz kann, glaube ich, mit Fug und Recht gesagt werden, daß es diese Kriterien nach den bisherigen Erkenntnissen von Rechtsprechung, Wissenschaft und Praxis optimal erfüllt. Die Beratungen im Innen- und Rechtsausschuß wurden mit großem Augenmaß geführt.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassend vier Gesichtspunkte zum Inhalt des Gesetzes kurz vortragen.Erstens. Leitlinie für dieses Gesetz war der Versuch, die Bestimmungen auch für den Bürger möglichst klar zu formulieren. Freilich konnte auf die in Wissenschaft, Verwaltungspraxis und Rechtsprechung fest installierten Begriffe nicht einfach verzichtet werden. Der Bürger wird es also auch in Zukunft nicht ganz leicht haben, mit seinem Recht zurechtzukommen. Es werden für ihn aber jene Vereinfachungen und Vereinheitlichungen eingeführt, die es ihm - wenn auch mit etwas Anstrengung — ermöglichen, das Verfahrensschema zu durchschauen und seine Rechte und deren Anwendungsmöglichkeiten zu katalogisieren. Der Bürger soll nicht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen; er soll trotz der Vielzahl der Bestimmungen möglichst klar abgegrenzt die einzelnen Verwaltungsphasen, seine eigenen Mitwirkungschancen, die Entscheidungsstufen und Entscheidungsmerkmale sowie seine Instrumentarien gegen die Akte der Verwaltung erkennen.Zweitens. In den Ausschußberatungen ist meines Erachtens eine weitgehende Abstimmung mit anderen Verfahrensgesetzen, vor allem mit der Bundesabgabenordnung, gelungen. Es wurde die einmalige Chance der gleichzeitigen parlamentarischen Behandlung konsequent — wenn auch zugegebenermaßen unter schwierigen Geburtswehen — genutzt,
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14691
Gerlach
Bleichlautende und gleichgeordnete Verwaltungsvorgänge nicht einmal so und das andere Mal anders zu formulieren, nur weil Ressortdenken sich an bisherigen Entwicklungen festklammerte.Hier gilt es, den Kollegen des Finanzausschusses, vor allem des Unterausschusses „Abgabenordnung", und den beteiligten Ministerien dafür zu danken, daß Übereinstimmung gefunden werden konnte, wo immer sie von der Sache her möglich war.Ich möchte allerdings die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß sich diese Bereitschaft z. B. auch bei den Beratungen zum Sozialgesetzbuch zeigen wird; denn letzten Endes muß der Bürger mit den Gesetzen zurechtkommen, wenn seine Rechte nicht zur Farce werden sollen. Wo sich Vereinheitlichungen im Verfahrensablauf trotz verschiedener Sachgebiete anbieten, sollten diese vom Gesetzgeber konsequent durchgesetzt werden, um alle Verfahren für den Bürger durchschaubar zu machen.Drittens. Die Beratungen ergaben die Dringlichkeit, auch die Massenverfahren in einem eigenen Abschnitt zu kodifizieren. Hier betritt nicht nur der Gesetzgeber, sondern auch die Praxis im wesentlichen Neuland. Mit den gefundenen Bestimmungen wird der ernsthafte Versuch unternommen, sowohl die immer zahlreicher werdenden Massenverfahren verwaltungsmäßig in den Griff zu bekommen, als aber auch die berechtigten Interessen der Bürger nicht zu vernachlässigen. Freilich wird von den Betroffenen künftig in Massenverfahren stärkere persönliche Aufmerksamkeit verlangt werden, wenn sie ihre Rechte wahren wollen. Diese Konsequenz muß gezogen werden, wenn sich Verwaltungstätigkeit nicht ins Uferlose verlieren soll, mit Folgen für die Kosten des Verfahrens und die Ausweitung der personellen. Ausstattung der Behörden.Viertens. Schließlich wurde die sogenannte Verbandsbeteiligung in das Verwaltungsverfahrensgesetz nicht aufgenommen. Die Diskussionen in der Wissenschaft und in der Fachwelt stehen noch am Anfang, sind noch unausgegoren und allzuoft sehr stark von den jeweiligen Interessensphären, aber noch zuwenig von einer fachlich-kritischen Analyse bestimmt, als daß eine Kodifizierung in einem allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz verantwortet werden könnte.Meine Damen und Herren, für die CDU/CSU darf ich die Auffassung vertreten, daß das vorliegende Verwaltungsverfahrensgesetz ein gutes, ein praktikables, aber auch die Rechte der Bürger schützendes Gesetz geworden ist. Um so mehr muß bedauert werden, daß die Koalitionsparteien und die Bundesregierung wieder einmal dabei sind, die klar kodifizierten Zuständigkeiten der Länder zu untergraben. Mit dem starren Festhalten an § 1 Abs. 1 und Abs. 2 verstößt das Gesetz klar gegen den vom Grundgesetz vorgezeichneten föderativen Aufbau unseres Staates und seiner Verwaltungen; denn mit diesen Bestimmungen bezöge sich der Geltungsbereich des Gesetzes vor allem auch auf den Vollzug von Bundesgesetzen durch die Länder. Dies hieße in der Praxis, daß bei ein und demselben Verwaltungsverfahren gleichzeitig Bundes- und Landesrecht angewandt werden müßten. Im Gegensatz zu der bisher vorgetragenen Meinung der Bundesregierung und der Vertreter der Koalitionsparteien sind diese Fälle nicht etwa selten, sondern bei der Verwaltungspraxis sogar in der Mehrzahl; denn die große Masse aller Bundesgesetze, aller von den Ländern vollzogenen Bundesgesetze, sind hier in der Tat einbegriffen. Ich darf z. B. nur an das Baurecht, das Gewerberecht, das Gaststättenrecht und das Wohnungsrecht erinnern.Wir hätten also in der Tat zwangsläufig ein Nebeneinander von Bundes- und Landesverfahrensrecht. Dies wäre für den Vollzug unnötig arbeitsintensiv und damit unrentabel und aufwendig. Für den Bürger wäre es unüberschaubar. Insgesamt gesehen wäre es untragbar und eine Zumutung für jeden, der sich damit befassen muß oder auch in die Fänge solcher Gesetzesbestimmungen kommt.Bestürzend bleibt, daß ohne Rücksicht auf dieses Dilemma diese Bestimmungen durchgepaukt werden sollen, eindeutig mit dem politischen Ziel, die Position des Bundesrates zu schwächen. Hier erhält eine augenblicklich parteiegoistische Position Vorrang vor der Notwendigkeit, ein brauchbares Gesetz zu verabschieden. Sollte freilich der Bundesrat von sich aus auf solche fundamentalen Rechte verzichten wollen, aus welchen Perspektiven auch immer, dann wäre selbstverständlich die CDU/ CSU-Fraktion jederzeit bereit, einer gemeinsam gefundenen Regelung zu den angeführten Bestimmungen des § 1 zuzustimmen. Sie kann aber nicht verantworten und ihre Hand nicht dazu reichen, daß der Bundesgesetzgeber — —
— Man kann davon ausgehen, Herr Professor Schäfer, selbstverständlich, wenn eine praktikable Lösung oder mit dem Bundesrat eine Einigung gefunden wird. Ich glaube, so ist das auch bei unseren Beratungen im Innenausschuß immer deutlich geworden.Meine Fraktion — ich darf das wiederholen — kann aber nicht verantworten und ihre Hand nicht dazu reichen, daß der Bundesgesetzgeber den Versuch unternimmt, die Länder und den Bundesrat in seinen im Grundgesetz fixierten Zuständigkeiten zu beschneiden, ohne daß von dort ein Signal gesetzt wird, — um das noch einmal ganz deutlich zu machen. Die Länder haben im übrigen gerade in dieser Legislaturperiode gezeigt, daß sie sich dort einer Zuständigkeitsveränderung nicht verschließen, wo die Entwicklung eine solche erfordert. Meine Fraktion widersetzt sich aber mit Nachdruck jeglicher Schmälerung der Länderzuständigkeiten und dem Abbau unseres föderalen Systems, wenn und soweit Entwicklungen dies nicht zwingend erfordern.Ich stelle daher den Antrag aus der Drucksache 7/4569, in § 1 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 zu streichen.Außerdem stelle ich den Antrag aus der Drucksache 7/4570. Die Formulierungen in § 8 Abs. 1 Sätze 2 und 3 der Vorlage können sich rationalisierungshemmend und kommunalfeindlich auswirken. Nach dem Entwurf sind nur bare „Auslagen" erstat-
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tungsfähig. Dieser dem Verwaltungkostenrecht angehörende und sehr alte Begriff kann deswegen nicht mehr, wie wir meinen, in eine moderne, praktikable Verwaltungsverfahrensregelung einbezogen werden. Bei modernen automatisierten Verfahren können nicht nur nach Satz 1 erstattungsfähige „Auslagen" anfallen. Vielmehr entsteht häufig ein besonderer Aufwand durch Maschinenlaufzeiten von Computern, Programmierung, Datenträger usw. Auch diese Kosten müssen erstattungsfähig sein. Sie können auch nicht — so könnte der Entwurf ausgelegt werden — auf den einzelnen Verwaltungsfall, sondern müssen auf das Amtshilfeersuchen als Ganzes bezogen werden. Die Worte „im Einzelfall" sollten daher zur Klarstellung wegfallen. Der vorgeschlagene Begriff „besondere Aufwendungen" umfaßt sowohl den herkömmlichen Begriff „Auslagen", wie den durch die Automatisierung verursachten obengenannten Kostenbereich.Meine Damen und Herren, ich darf schließlich noch auf die Entschließung verweisen, die der Innenausschuß vorgelegt hat. Mit dem heute zu verabschiedenden Verwaltungsverfahrensgesetz ist die Arbeit noch nicht abgeschlossen. Es wird eine große Anzahl von Gesetzen bereinigt werden müssen; das wird einige Jahre dauern. Der Innenausschuß ist der Auffassung, daß eine Frist von acht Jahren ausreichend ist.Der Innenausschuß will mit dieser Entschließung die Bundesregierung auch ersuchen, einen Zwischenbericht zum 1. Januar 1982 zu geben, um eine Kontrolle des Parlamentes hinsichtlich des Fortgangs der Vereinheitlichung einzubauen.Zum Schluß, meine Damen und Herren, darf ich noch recht herzlich danken allen Mitarbeitern des Ausschußsekretariats und der beteiligten Ministerien, vor allem den Vertretern des Bundesrates und den Mitgliedern der vorhin genannten Ausschüsse. Ohne deren ausgezeichnete Vorarbeit wäre es uns sicherlich nicht möglich gewesen, dieses Gesetz angesichts seines Umfangs in doch relativ kurzer Zeit heute zur Verabschiedung zu bringen.
Meine Damen und Herren, das war wieder einmal ein Beweis dafür, daß man in 15 Minuten entscheidende Dinge zusammengefaßt darstellen kann.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bühling.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Gesetz, das heute endlich zur Entscheidung kommt, steckt soviel Arbeit so vieler Beteiligter, daß es der Entwurf wahrlich verdient hätte, bald geltendes Recht zu werden. Das wäre, so glaube ich, Herr Kollege Gerlach, der beste Dank an alle Beteiligten, dem ich mich im übrigen nur aus vollem Herzen anschließen kann. Aber leider stellt nun die Opposition das Inkrafttreten dieses Entwurfs in Frage, so daß ich doch für beide Koalitionsfraktionen auf folgendes hinweisen muß:Seit über zehn Jahren haben sich Bund und Länder bemüht, ein einheitliches Verfahrensrecht zustande zu bringen. Es war sehr schwer, die verschiedenartigen Interessen nicht nur der einzelnen Länder, sondern auch der einzelnen Ressorts des Bundes auf einen Nenner zu bringen. Dabei mußte jeweils aus den unterschiedlichen rechtstechnischen oder auch rechtsdogmatischen Vorstellungen, aus den Grundgedanken der Rechtsprechung und aus den Erkenntnissen der Wissenschaft die sinnvollste Lösung herausgesucht und in das gesamte System des Gesetzes eingefügt werden. Es ist nicht verwunderlich, daß diese Notwendigkeiten unverhältnismäßig viele Überlegungen und Beratungen mit sich gebracht haben. Der Umfang dieser Bemühungen geht schon aus dem Zeitaufwand im einzelnen hervor, der nicht etwa auf zu langsames Arbeiten der Beteiligten, sondern ausschließlich auf die intensiven Diskussionen der Fachleute innerhalb und außerhalb der Verwaltung zurückzuführen ist.Alle diese Vorarbeiten sollen aber nun, da sie endlich zu dem erstrebten Erfolg, nämlich der Verabschiedung des Verwaltungsverfahrensgesetzes, führen können, wieder von der Opposition und auch von einigen Ländern in Frage gestellt werden. In Wirklichkeit gibt es unseres Erachtens keinen vernünftigen Grund, die seit dem Beschluß des Deutschen Juristentages von 1960 und dem Musterentwurf des Bundes und der Länder von 1964 nun wirklich ausdiskutierte Lösung noch in letzter Minute zunichte zu machen. Im Gegenteil: Das Gesetz ist wegen immer neuer Aufgaben der Verwaltung nur noch dringlicher geworden. Das gilt auch dann, wenn im letzten Stadium der Beratung nunmehr vermeintlich föderalistische Gründe gegen das Gesetz geltend gemacht werden. Diese sind angesichts der Tatsache, daß die Länder an der Erarbeitung und der Erörterung aller Bestimmungen wesentlich beteiligt waren und die Erfahrungen der Länderverwaltungen überall berücksichtigt worden sind, völlig unverständlich. Sie sind auch unbegründet. Das Verlangen, den Bund auf die Regelung des Verfahrens vor Bundesbehörden zu beschränken, verurteilt den Gesetzentwurf nämlich zur Wirkungslosigkeit, und zwar auch deshalb, weil nach dem Grundgesetz nun einmal der bundeseigene Unterbau der Verwaltung die Ausnahme ist. Gerade um den Ländern im Prinzip ihre eigene Behördenorganisation zu belassen, sind für die Ausführung der meisten Bundesgesetze auf der unteren und mittleren Ebene keine Bundesbehörden geschaffen worden, die Ausführung ist vielmehr den Ländern überlassen worden. Gerade hier besteht ein klares Bedürfnis für die bundesgesetzliche Regelung des Verfahrens, das der bundeseinheitlichen Regelung der Sachmaterie entsprechen muß. Dies war ja gerade eines der Hauptmotive für das vorliegende Gesetz. Klammert man die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder aus, hat ein Verwaltungsverfahrensgesetz nach unserer Auffassung überhaupt keinen Sinn mehr.Dem Föderalismus wird mit der Verhinderung eines Gesetzes, das von allen Fachleuten für notwendig gehalten wird und wegen seines Rationalisierungseffektes notwendiger denn je ist, einDeutscher Bundestag — 7. Wahlperiode 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14693Bühlingschlechter Dienst erwiesen. Es wäre gerade im bundesstaatlichen Sinn sehr bedauerlich, wenn die deutsche Öffentlichkeit sehen müßte, daß die hier geübte umfangreiche Zusammenarbeit der Länder und mit den Ländern nicht zum Erfolg führt. Der Gedanke des kooperativen Föderalismus würde insoweit entschieden diskreditiert. Gerade auch der Innenausschuß hat bei jeder Einzelberatung einen Vertreter des Bundesrats nicht nur hinzugezogen und gehört, sondern auch seinen Gesichtspunkten Rechnung getragen. Dieses Entgegenkommen sollte von allen Bundesländern erwidert werden und damit auch von der Opposition, die sich vornehmlich auf bayerische Einwände stützt.Die Verzögerung oder gar die Vereitelung des Verwaltungsverfahrensgesetzes würde schließlich die Länder mindestens ebenso stark schädigen wie den Bund. Es ist doch nur eine Last für die Behörden der Länder, wenn sie materiell Bundesgesetze ausführen sollen und dabei verschiedene Länderverfahrensgesetze anwenden müssen. Die Regelung der Sachmaterie und das dazugehörige Verfahren sind so miteinander verflochten, daß sie nicht völlig voneinander getrennt werden können, ohne Mehrarbeit, Verwirrung und Verzögerung hervorzurufen. Die Länder sollten demgemäß — ebenso wie der Bund — wieder wie am Ausgangspunkt aller gemeinsamen Bemühungen auf die Einheitlichkeit des Verwaltungsverfahrens bedacht sein. Dieses Ziel kann nur durch den vorliegenden Gesetzentwurf in der Ausschußfassung erreicht werden, er bietet die einzige praktische Möglichkeit.Wenn ich damit die Hauptproblematik des Gesetzes behandelt habe, so lassen Sie mich noch zwei andere wichtige Punkte erwähnen, die den Entwurf im Laufe der Beratungen wesentlich verändert haben. Dabei möchte ich jetzt nicht mehr im einzelnen davon sprechen, daß dieses Gesetz eine bessere Überschaubarkeit für Bürger und Behörden, eine Verstärkung der bürgerlichen Rechte und —langfristig — einen beträchtlichen Rationalisierungserfolg für die Verwaltung und als Folgewirkung auch für die Verwaltungsgerichte bringt. Dies ist schon im 6. Bundestag vorgetragen worden. Es ist in der Begründung bei der abermaligen Vorlage an den 7. Bundestag enthalten, und diese Gesichtspunkte sind in der Ausschußberatung noch verstärkt und vertieft worden.Ich möchte nur noch auf zwei neue Gesichtspunkte verweisen. Zum ersten war es ein glücklicher Zufall, daß das Verwaltungsverfahrensgesetz gleichzeitig mit der Abgabenordnung beraten wurde. Dadurch konnten beide Gesetze aufeinander abgestimmt werden. Punkt für Punkt hat sich erwiesen, daß Bleichlautende Formulierungen für die meisten Verfahrensregelungen tatsächlich möglich sind. Alle aus zu engem Fachdenken entstandenen Einwände haben sich widerlegen lassen. Selbst tief eingewurzelte Eigenheiten des Ressortpartikularismus sind zugunsten einer einheitlichen Lösung überwunden worden. Dies sollte uns über das vorliegende Gesetz hinaus eine wesentliche Lehre auch für die Zukunft sein. Hier liegen für die zukünftige Gesetzgebungnoch große Reserven zur Vereinfachung und zur Rationalisierung.Auf diesen Erfahrungen beruht auch die vorliegende Entschließung, die eine weitere konkrete Tätigkeit der Bundesregierung zur Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts erstrebt.Zum zweiten möchte ich kurz auf die Regelungen über das sogenannte Massenverfahren eingehen. Sie mußten dem ursprünglichen Entwurf hinzugefügt werden, weil der Gesetzgeber neuerdings mit dem Problem konfrontiert wird, daß vor allem im Planungs- und im Baurecht hinsichtlich eines Projekts häufig viele Tausende von Einwendungen erhoben und Rechtsbehelfe eingelegt werden, z. B. bei Kraftwerken und Flughäfen. Hier waren Sondervorschriften notwendig, um die technische Abwicklung solcher Verfahren überhaupt zu ermöglichen. Dabei war streng darauf zu achten, daß verfahrensmäßige Erleichterungen zugunsten der Behörde nicht zu einer Verkürzung der Rechte der Bürger führen.Wir hoffen bei Abwägung aller Gesichtspunkte, daß wir — mit Hilfe dankenswerter wissenschaftlicher Vorarbeiten — nunmehr eine tragbare Lösung für die Abwicklung der Massenverfahren in zumutbaren Zeiträumen und mit vertretbarem Aufwand geschaffen haben, ohne daß der Rechtsschutz der Bürger dabei verkürzt wird. Dabei haben wir darauf geachtet, daß die individuellen Rechte des Betroffenen auch neben Bürgerinitiativen bestehen bleiben.Gerade bei tieferen und komplizierteren Interessenkonflikten sind wir von dem Grundsatz ausgegangen: So viel Rechte für die Betroffenen wie nur irgend möglich, so viel Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten für die Verwaltung wie unbedingt notwendig.Hieraus ergibt sich, daß das Verwaltungsverfahrensgesetz durch die Ausschußberatungen wirklich auf den letzten Stand der sozialen Wirklichkeit gebracht worden ist. Dies gilt auch für viele andere Änderungen und Hinzufügungen zum Regierungsentwurf von größerer oder geringerer Bedeutung, die ich hier nicht im einzelnen aufführen möchte.Erwähnenswert bleibt nur, daß ein Fragenkreis ungeregelt bleibt, weil notwendigerweise zunächst ungeregelt bleiben muß, nämlich die Verbandsklage. Hier hat die Diskussion erst vor relativ kurzer Zeit begonnen. Die möglichen praktischen Rückwirkungen sind noch weitgehend unbedacht. Die vielen vorliegenden Formulierungsvorschläge und ihre jeweiligen Folgen sind noch nicht hinreichend verglichen worden. Last not least ist erst ansatzweise das Problem erkannt worden, das im Nebeneinander parlamentarischer Befugnisse aller Ebenen und der Verbandsklage entstehen kann. Aus diesem Grund wird die Verbandsklage — insofern stimme ich mit meinem Vorredner überein — jedenfalls in allgemeiner Form noch lange nicht gesetzgebungsreif sein. Ihre Regelung konnte somit nicht im Verwaltungsverfahrensgesetz vorgenommen werden.Die Arbeit an der Verbesserung und Vereinfachung des Verwaltungsverfahrensrechts kommt mit
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Bühlingdiesem Gesetz ein entscheidendes Stück voran. Die nächsten Schritte in der aufgezeigten Richtung sind wiederum Sache der Bundesregierung. Die gleichzeitig vorgelegte Entschließung legt diese nächsten Aufgaben konkret fest.Aus allen diesen Gründen möchte ich die Opposition und im Ergebnis auch den Bundesrat auffordern, den Nutzen dieses Gesetzes für Bund und Länder nochmals zu überdenken, um ihm doch noch zuzustimmen. Die Koalitionsfraktionen jedenfalls sehen die dringliche Notwendigkeit des Verwaltungsverfahrensgesetzes ein und stimmen ihm ebenso wie der vorgelegten Entschließung zu.Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Auffassung der SPD- und der FDP-Fraktion, wie ich sie soeben dargestellt habe, auch die Ablehnung der beiden Änderungsanträge der CDU/CSU.Der Antrag auf Drucksache 7/4569 verkehrt das Gesetz unserer Auffassung nach in sein Gegenteil. Ich kann mich hierzu in vollem Umfang auf die Gesichtspunkte beziehen, die ich für die Regierungsvorlage und für die insoweit mit ihr identische Ausschußfassung des Gesetzes vorgetragen habe. Der weitere Antrag auf Drucksache 7/4570 dient nicht der Verwaltungsvereinfachung, sondern eher der Verwaltungskomplizierung, und zwar aus folgendem Grund: Bisher haben sich die Behörden gegenseitig nur bare Auslagen zu erstatten. Das ist klar und hat sich eingespielt. Wenn nun statt dessen nach dem Antrag der CDU/CSU alle Aufwendungen erstattet werden sollen, gibt es sehr viel Streit, was denn nun nach diesem schwammigen Begriff von einer Behörde an die andere zu zahlen ist. Gleichgültig wie die neuen, unnötigen Streit- und Zweifelsfälle dann erledigt werden: der Steuerzahler gewinnt nie etwas. Denn die sogenannten Aufwendungen werden immer nur zwischen Behörden hin- und her-und zurückgeschoben. Die Belastung für die Allgemeinheit bleibt stets die gleiche, und die Kapazität der Behörden für ihre eigentliche Arbeit nach außen wird durch den internen Kostenstreit in jedem Fall nur verringert.Ich bitte also namens der Fraktionen der SPD und der FDP um Ablehnung beider Änderungsanträge.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Herr Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur wenige kurze Bemerkungen. Ich möchte mich, was die Darstellung des Gesetzes angeht, auf meine beiden Vorredner beziehen. Was die Streitfragen und die Stellungnahme dazu betrifft, schließe ich mich dem Kollegen Bühling an.Die Bundesregierung betrachtet die Beschlußfassung über den von ihr vorgelegten Entwurf als ein Ereignis von rechts- und verwaltungspolitischem Rang. Zum erstenmal unternimmt es der Bundesgesetzgeber, in einem breiten Spektrum die Verfahrensregelungen zu kodifizieren, nach denen sich die allgemeinen Verwaltungsbehörden bei der Ausübung ihrer Tätigkeit zu richten haben. Für den Bürger — und das ist das Wesentliche — bringt es eine rechtsstaatlich notwendige umfassende Klärung seiner Rechte und stärkt seine Stellung. Das Gesetz macht das Handeln der Behörden für den Bürger transparenter und wirkt damit der oft beklagten „Bürgerferne" der Verwaltung entgegen.Verfahrensrecht ist eine spröde Materie. Scheinbar erschließen sich seine trockenen Regeln nur dem Spezialisten und sind nur für ihn von Interesse. Wer aber das Verwaltungsverfahrensrecht nur in diesem Sinne, also nur als Technik, verstehen würde, der übersähe etwas ganz Entscheidendes: Er ließe außer acht, daß es einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung des Rechtsstaates leistet.Ich begrüße es daher, daß die Ergebnisse der Ausschußberatungen die Konzeption des Regierungsentwurfs bestätigt haben. Aufbau und Systematik des Entwurfs sind beibehalten worden. Vor allem aber haben sich die Ausschüsse diejenigen Vorschläge zu eigen gemacht, die dazu dienen sollen, die Stellung des Bürgers gegenüber der Verwaltung zu stärken. Dazu gehören die Bestimmungen, die das Recht der Beteiligten auf Anhörung und das Recht auf Akteneinsicht zu grundsätzlichen Ansprüchen ausgestalten, aber auch die Verdeutlichung der Begründungspflicht bei Verwaltungsakten, der Anspruch der Beteiligten auf Wahrung ihrer Geheimnisse, die Beratungspflicht der Behörden und die Regelungen über das Wiederaufgreifen von Verwaltungsverfahren.Auf die Massenverfahren ist hier schon eingegangen worden; das möchte ich nicht wiederholen.Über die verfahrensregelnden Einzelvorschriften des Entwurfs hat der Innenausschuß, wie Sie hörten, mit großer Einmütigkeit beschlossen. Politische Differenzen über sie gab es nicht.Meinungsunterschiede zwischen den Regierungsparteien und der Opposition bestehen dagegen in einem, wie die Bundesregierung meint, für das Gelingen dieses Gesetzgebungsvorhabens ganz wesentlichen Punkt, nämlich hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Gesetzes. Der Erfolg des Gesetzes hängt entscheidend von seiner Breiten- und Tiefenwirkung ab. Nur wenn es für möglichst viele Sparten und Ebenen der Verwaltung gilt, werden seine Ziele erreicht; nur dann kann es einen sinnvollen Beitrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse leisten. Die Frage des Anwendungsbereichs ist daher, wie Sie, Herr Kollege Bühling, mit Recht ausgeführt haben, das zentrale Problem des Gesetzes.Herr Kollege Gerlach, ich vermag Ihre verfassungsrechtlichen Bedenken nicht zu teilen. Wir haben das Problem sehr eingehend geprüft. Ich bitte Sie, das Gesetz nicht nur aus der Sicht der Länderzuständigkeit zu sehen, sondern auch die Interessen des Bürgers zu berücksichtigen. Wenn Sie auf diesen Argumenten der Länderzuständigkeit beharren, wirken Sie dem Grundsatz entgegen, den Sie selber
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
den Bürger in seinen Rechte zu stärken. Die Bundesregierung kann sich also mit den Änderungsanträgen nicht einverstanden erklären.
Zu dem zweiten Antrag der Opposition: Wie sich aus der Begründung Ihres Antrags ergibt, zielt der Änderungsvorschlag letztlich nicht auf Amtshilfe, also Einzelfälle, sondern ganz allgemein auf eine Beteiligung anderer Behördenträger an den Kosten automatisierter Register ab. Die damit zusammenhängenden Probleme können nicht im Verwaltungsverfahrensgesetz, das nur Kostenersatz in Amtshilfefällen regelt, gelöst werden. Schon aus diesem Grunde, Herr Kollege Gerlach, können wir das hier nicht regeln.
Ich bitte, den Anträgen des Kollegen Bühling zu folgen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe § 1 auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/4569 vor, den Herr Abgeordneter Gerlach begründet hat und zu dem in der Aussprache Herr Abgeordneter Bühling und Herr Parlamentarischer Staatssekretär Baum Stellung genommen haben. Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Der Antrag ist mit sehr großer Mehrheit abgelehnt.
Wer § 1 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich danke. Gegenprobe! — Danke. Gegen die Stimmen der Antragsteller des Änderungsantrags mit sehr großer Mehrheit gebilligt.
Ich rufe die §§ 2 bis 7 auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! —Keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Keine Stimmenthaltungen. Die Bestimmungen sind gebilligt.
Ich rufe § 8 auf. Hierzu liegt der von dem Herrn Abgeordneten Gerlach begründete Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 7/4570 vor. Ich verweise auf die Stellungnahmen des Herrn Abgeordneten Bühling und des Herrn Parlamentarischen Staatssekretärs Baum. — Das Wort wird nicht zusätzlich begehrt.
Wer dem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Danke. Stimmenthaltungen? — Keine Stimmenthaltungen. Auch dieser Antrag ist mit sehr großer Mehrheit abgelehnt.
Wer § 8 in der Ausschußsitzung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Danke. Stimmenthaltungen? — Mit dem gleichen Ergebnis, d. h. mit sehr großer Mehrheit, angenommen.
Ich rufe die §§ 9 bis 103 in der Fassung des Ausschußantrags sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. —
Danke. Gegenprobe! Stimmenthaltungen? —
Diese Bestimmungen sind damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung.
— Das Wort wird nicht begehrt. Wer dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich danke Ihnen. Gegenstimmen? — Keine Gegenstimmen. Stimmenthaltungen? — Meine Damen und Herren, das Gesetz ist in der dritten Beratung einstimmig gebilligt.
Wir kommen noch zu den Anträgen des Ausschusses aus Drucksache 7/4494. Darf ich davon ausgehen, daß wir über Nr. 2 und 3 des Ausschußantrags gemeinsam abstimmen können? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes
Bericht und Antrag des Innenausschusses (Drucksache 7/4546)
Berichterstatter:
Abgeordneter Wittmann Abgeordneter Biechele
Abgeordneter Wolfgramm
Ich frage die Herren Berichterstatter, ob sie eine Ergänzung ihres Schriftlichen Berichtes zu geben wünschen. — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann danke ich den Herren Berichterstattern.
Wir wollen auch bei diesem Gesetzentwurf wie bei dem soeben verabschiedeten Gesetz so verfahren, daß wir in der zweiten Beratung die Aussprache mit der Begründung des Antrags Drucksache 7/4579, den ich hiermit aufrufe, verbinden. Dazu gebe ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Biechele.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zu Beginn meiner Ausführungen über die Problematik der uns vorliegenden Gesetzentwürfe in aller Kürze den Änderungsantrag Drucksache 7/4579 begründen. Dieser Änderungsantrag wurde von allen drei Fraktionen eingebracht und wird von ihnen unterstützt.Es handelt sich bei den Ziffern 1 und 2 bezüglich Art. 1 Nr. 13 und 14 in den Buchstaben a und b um Berichtigungen redaktioneller Art und Verdeutlichungen. Die Begründung ist auf der Rückseite des Antrags abgedruckt. Ich kann auf weitere Interpretationen verzichten.In der Ziffer 3 wird darum gebeten, daß ein Art. 1 a eingefügt wird. Er dient dazu, in einem be-
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Biechelestimmten Bereich dieser Novelle die Problematik von Berlin zu berücksichtigen.In der Ziffer 4 wird beantragt, daß in den Entschließungsantrag eine Nummer 3 aufgenommen wird mit dem Wortlaut:Die Bundesregierung wird ersucht, dem Bundestag das zu erwartende Gutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen über Umweltprobleme des Rheins vorzulegen.Dieses Gutachten ist für die weiteren Initiativen zur Reinhaltung der Gewässer, hier zur Reinhaltung des Rheins, von großer Bedeutung. Aus diesem Grunde sind wir der Meinung, daß es allen Mitgliedern des Deutschen Bundestages zugänglich gemacht werden sollte.Für die Fraktion der CDU/CSU habe ich in der 57. Sitzung des Deutschen Bundestages am 18. Oktober 1973 unseren Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes begründet und dabei Gelegenheit gehabt, zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes Stellung zu nehmen. Wir wollten mit unserer Vorlage einen wichtigen Beitrag im Kampf um das Lebensgut „sauberes Wasser" leisten. Das aus dem Jahr 1957 stammende Wasserhaushaltsgesetz sollte gründlich überholt und nach den Erfordernissen eines modernen, leistungsfähigen Wasserhaushalts gestaltet werden.Das bedeutet, daß zwei Zielsetzungen verwirklicht werden:1. Im Sinne eines vorbeugenden Umweltschutzes müssen den Gewässern Stoffe ferngehalten werden, die die Gesundheit des Menschen bedrohen und die belebte Umwelt zerstören.2. Die ausreichende und einwandfreie Wasserversorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft muß durch langfristige Planungen gesichert werden.Wir waren von Anfang an davon überzeugt, daß wir mit den in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen die Sanierung und Reinhaltung der Gewässer schneller, sachgerechter und wirksamer fördern und sicherstellen können, und zwar mit den Möglichkeiten des Rahmenrechts, als dies die Regierungsvorlage versprach, die auf der Vollkompetenz des Bundes für den Wasserhaushalt beruhte. Mit aller Aufgeschlossenheit gingen wir in die Beratungen in der Bereitschaft, neue Gesichtspunkte unvoreingenommen und sachgerecht zu prüfen.In den Beratungen im Innenausschuß und in der aus Mitgliedern des Innenausschusses gebildeten Arbeitsgruppe „Wassergesetze" haben wir die schwierigen Probleme der beiden Entwürfe gründlich beraten. Das Ergebnis dieser Beratungen, der dem Deutschen Bundestag zur Beschlußfassung hier vorliegende Bericht und Antrag des Innenausschusses auf der Drucksache 7/4546, kann als ein guter, sachlich begründeter Kompromiß zwischen dem Regierungsentwurf, dem Initiativgesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU und den Vorschlägen des Bundesrates gewertet werden.In das Vorblatt dieser Drucksache hat sich — das darf ich hier einfügen — ein sinnstörender Fehler eingeschlichen. Auf Seite 2 ist unter „D. Kosten" das Wort „erheblich" durch das Wort „unerheblich" zu ersetzen.Alle Seiten haben erkennen lassen, daß es ihnen nicht etwa um vordergründigen Kompetenzstreit, sondern daß es allein darum ging, die beste dem Umweltschutz dienende Lösung zu finden. Hier wurde darauf geachtet, daß Normen geschaffen wurden, die den Vollzug durch die Länder erleichtern helfen und einen möglichst geringen Verwaltungsaufwand mit sich bringen. Hier wurde also der so oft und aus unterschiedlichen Motiven beschworene kooperative Föderalismus mit guten Ergebnissen praktiziert.Ich habe alle Veranlassung, im Namen der Fraktion der CDU/CSU den Vertretern der Bundesregierung und den Vertretern der Länder, die durch ihren Sachverstand und ihre intensive Mitarbeit zu dem guten Ergebnis wesentlich beigetragen haben, herzlich zu danken. In diesen Dank möchte ich auch die Mitarbeiter des Sekretariats des Innenausschusses einbeziehen.Die Fraktion der CDU/CSU stimmt den beiden Gesetzentwürfen in der vom Innenausschuß einstimmig verabschiedeten und dem Deutschen Bundestag vorliegenden Fassung zu.In einer kurzen Zusammenfassung wende ich mich nun dem Inhalt der Novelle zu. In wichtigen Punkten waren die Vorschläge der Bundesregierung, der CDU/CSU-Fraktion und des Bundesrates dem Inhalt und weithin auch dem Wortlaut nach identisch. Als Beispiele nenne ich die Erlaubnispflicht für die Verwendung chemischer Mittel bei der Unterhaltung der Gewässer, die Zulassung nachträglicher Auflagen für eine bereits erteilte Erlaubnis oder Bewilligung, den Ausschluß der Bewilligung für Abwassereinleitungen, die Zulassung vorzeitigen Baubeginns, Regelungen für erlaubnisfreie Benutzungen bei Übungen und Erprobungen, insbesondere der Feuerwehr oder der Bundeswehr, Verbesserungen der Überwachungsvorschrift, Vorschriften über den Erlaß von Veränderungssperren und die dringende Reform der Strafvorschriften für den Gewässerschutz. Schon dieses Bündel an Vorschriften macht deutlich, daß durch diese Novelle eine wesentliche Verbesserung des Umweltschutzes, insbesondere auf dem Gebiet des Gewässerschutzes und der Gewässerreinhaltung, erwartet werden kann.Weitere von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Regelungen sind in die Novelle aufgenommen worden. So lag uns daran, durch die verstärkte Sozialbindung des Grundeigentums ,die Schutzvorschriften für das Grundwasser wesentlich zu verbessern und damit die Grundwasserversorgung für Generationen zu sichern. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß eingeräumte Benutzungsrechte vielfach nicht in Anspruch genommen werden und damit eine Sperre für andere Gewässerbenutzungen darstellen. Bei dem knappen Gut Wasser kann das nicht hingenommen werden. Eine Möglichkeit, erteilte Bewilligungen zu beschränken, muß deshalb
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14697
Biecheleim Gesetz insbesondere dann vorgesehen werden, wenn der Nutzungsumfang über eine längere Zeit hinweg wesentlich unterschritten wird.Dem Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, die Abwasserbeseitigungspflicht mit gesetzlicher Verbindlichkeit zu regeln und insbesondere festzulegen, daß die Länder bestimmen müssen, welche Körperschaften des öffentlichen Rechts zur Abwasserbeseitigung verpflichtet sind, wurde zugestimmt.Entsprechend den Regelungen in anderen Umweltschutzgesetzen, insbesondere im Immissionsschutzgesetz, haben wir auch die Regelung eines Betriebsbeauftragten für den Gewässerschutz vorgeschlagen. In der jetzt gefundenen Form ist unser Anliegen voll erfüllt.In strittigen Fragen wurden Kompromisse gesucht und auch gefunden. Ich verweise auf drei Beispiele. In Zukunft darf eine Erlaubnis für das Einleiten von Abwasser nur erteilt werden, wenn Menge und Schädlichkeit des Abwassers so gering gehalten werden, wie das bei Anwendung der jeweils in Betracht kommenden Verfahren nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik möglich ist. Die Bundesregierung wird mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen, die die Emissionsnormen für Abwasser näher festlegen. Die Länder haben andererseits die Aufgabe, Fristen zu bestimmen, innerhalb denen die Anpassung bei vorhandenen Einleitungen an die bundeseinheitlich festgelegten Anforderungen vorgenommen werden müssen.In das Wasserhaushaltsgesetz werden für das Lagern wassergefährdender Stoffe in erheblichem Umfang unmittelbar geltende Vorschriften aufgenommen, die nur zum Teil einer Auffüllung durch die Länder bedürfen. Diese Regelung hat sich als zweckmäßig erwiesen, weil dadurch den Ländern die Möglichkeit bleibt, den Zusammenhang mit den baurechtlichen Vorschriften zu wahren und wasserrechtlich und baurechtlich einheitliche Ausführungsverordnungen zu erlassen.Soweit die Ordnung des Wasserhaushaltsgesetzes es erfordert, können die Länder verpflichtet werden, zur Bewirtschaftung der Gewässer Pläne aufzustellen, die den Nutzungsvorschriften entsprechen. Der Bundesregierung wird hier die Möglichkeit eröffnet, Richtlinien über die Grundsätze der Kennzeichnung der Merkmale für die Beschaffenheit des Wassers zu erlassen und zu bestimmen, welche Merkmale zwingend in die Bewirtschaftungspläne aufzunehmen und wie diese Merkmale zu ermitteln sind.Ich habe schon darauf hingewiesen, daß bei den Beratungen der Gesetzentwürfe im Innenausschuß und in der Arbeitsgruppe ein vordergründiger Kompetenzstreit keine Rolle spielte. Es ging allein darum, die beste dem Umweltschutz dienende Lösung der zu regelnden Probleme zu finden.
Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages hat sich in seiner 82. Sitzung am 27. November 1975 mit den Entwürfen eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes befaßt und folgende gutachtliche Stellungnahme abgegeben — ich zitiere —:Nach eingehender Erörterung der verfassungsrechtlichen Fragen hält der Rechtsausschuß die Fassung des Innenausschusses für mit der Rahmenkompetenz des Art. 75 Nr. 4 des Grundgesetzes vereinbar.Ein Anliegen des Entwurfs der CDU/CSU-Fraktion wurde leider noch nicht verwirklicht, nämlich die Einführung einer Gewässerbenutzungsabgabe. Wegen der Überschneidung der von uns hierfür vorgesehenen Vorschriften mit Regelungen des später von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Abgaben für das Einleiten von Abwasser in Gewässer, des sogenannten Abwasserabgabengesetzes, haben wir zugestimmt, daß die Beratung dieses Teils unserer Vorlage zurückgestellt wird, um in die Beratung des Abwasserabgabengesetzes einzugehen. Diese Beratung ist inzwischen aufgenommen worden. Es zeigen sich hier bei den bekannten schwierigen Sachproblemen Ansätze für einen Kompromiß.
Wir hoffen, daß noch in diesem Jahr auch dieses Anliegen unseres Entwurfs, dem wir für einen modernen Gewässerschutz und für eine auf die Zukunft bezogene Wasserwirtschaft besondere, ja entscheidende Bedeutung zumessen, erfüllt wird.Die Notwendigkeit und Bedeutung des Gewässerschutzes kann auch heute noch nicht überschätzt werden. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um in der Sanierung und Reinhaltung unserer Gewässer mit größeren Schritten voranzukommen. Es geht ja hier in einem wichtigen Bereich um die Sicherung unserer Lebensgrundlagen.Trotz großer Anstrengungen im Bereich des Gewässerschutzes und der Gewässerreinhaltung muß leider festgestellt werden, daß sich der Zustand der Gewässer im Bundesgebiet, aufs Ganze gesehen, kaum gebessert hat. Dies macht ein Blick auf die Gewässergütekarte der Bundesrepublik Deutschland, Ausgabe 1974, die die Länderarbeitsgemeinschaft Wasser vorgelegt hat, deutlich. Wir hoffen, daß die nächste Ausgabe dieser Gewässergütekarte, an der gearbeitet wird, wichtige Fortschritte hinsichtlich der Güte unserer Gewässer erkennen läßt.Es gibt aber auch erfreuliche und bedeutsame Ausnahmen, zu denen der Bodensee, der größte Trinkwasserspeicher und Trinkwasserspender Europas, gehört. Seine Wassergüte hat sich bemerkenswerterweise gebessert. Zu diesem positiven Ergebnis haben die großen Anstrengungen des Landes Baden-Württemberg, die nachdrückliche Hilfe des Bundes und die gute Zusammenarbeit der Bodenseeanliegerstaaten in der internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee geführt.Ich darf bei dieser Gelegenheit die Hoffnung aussprechen, daß das Bundesprogramm zur Sanierung von Rhein und Bodensee wegen der überragenden Bedeutung dieser beiden Gewässer weitergeführt
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14698 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976
Biechelewird, und ich darf Ihnen, Herr Staatssekretär, diesen Wunsch an Herrn Minister Professor Maihofer mitgeben.
— Ich stimme Ihnen durchaus zu.Die Fraktion der CDU/CSU ist davon überzeugt, daß die Vierte Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz ausgezeichnete Möglichkeiten zur Sanierung und Reinhaltung der Gewässer im Sinne eines leistungsfähigen, modernen Wasserhaushalts zur Verfügung stellt, Möglichkeiten, die dem Wohl der Menschen dienen. Unsere Fraktion erwartet, daß diese Möglichkeiten in vollem Umfang verwirklicht werden. Wir setzen uns dafür nachdrücklich ein, weil wir uns in der Sorge für eine menschenwürdige Umwelt von niemandem übertreffen lassen.
Das Wort
hat der Herr Abgeordnete Wittmann .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was lange währt, wird endlich gut, oder, auf bayerisch, ein gut Ding braucht Weil.
— So ist es, ein gut Ding braucht Weil.Wenn ich in Erinnerung rufe, daß seit der ersten Lesung des Wasserhaushaltsgesetzes am 18. Oktober 1973 fast 21/4 Jahre vergangen sind, bis wir heute die Vierte Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz in zweiter und dritter Lesung beraten und verabschieden können, wird jedem klar, welch steiniger Weg gegangen werden mußte, um eine von allen Parteien u n d den Bundesländern mitgetragene Lösung zu finden.Erlauben Sie mir jedoch zunächst, einige allgemeine Bemerkungen über die Umweltpolitik zu machen, die aber auch besondere Bezüge zum Gewässerschutz haben. Umweltpolitik, so meine ich, erfordert ein konsequentes Umdenken und verlangt die Änderung eingefahrener Gewohnheiten, und zwar in doppelter Weise. Wir müssen lernen, die Umweltgefahren als ein weltweites, fast alle Bereiche des Lebens umfassendes Problem zu begreifen, und müssen uns darüber klar werden, daß die Qualität des Lebens vom erfolgreichen Kampf gegen die Umweltgefahren abhängen wird. Das heißt, wir müssen das Umweltbewußtsein der Bevölkerung schärfen, der Wirtschaft umweltpolitische Rahmenbedingungen und Daten setzen und die Umweltforschung verstärkt fördern. Das heißt aber auch, umweltpolitischen Zielen den gleichen Rang einzuräumen wie anderen Problemen der Daseinsvorsorge.Wir müssen deshalb die Mängel und Versäumnisse der Vergangenheit aufzeigen
und notwendige Lösungen darstellen, selbst wenn das unpopulär ist, selbst wenn dies viel Geld kostet. Das Wohlstandsfieber in den 50er und 60er Jahren verdrängte jeden Gedanken an Einschränkung und an Umweltschutz. Damals wäre noch ausreichend Geld vorhanden gewesen, um ohne große Anstrengungen in allen Städten Kläranlagen zu bauen und die Großindustrie an den Flüssen mit den technischen Vorrichtungen für einen wirksamen Schutz gegen chemische Emissionen zu versehen. Heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, muß das sehr teuer bezahlt werden.
Umweltschutz darf nicht von der Konjunkturpolitik abhängig gemacht werden. Ich begrüße deshalb auch die Erklärung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Umweltschutz nicht aus konjunkturellen Gründen zu bremsen. Ich begrüße auch die Ergebnisse und Erkenntnisse des Umweltforums, das seine letzte Tagung unter das Leitmotiv „Umweltschutz und Konjunkturpolitik" gestellt hatte. Bei dieser Tagung wurde von vielen Rednern deutlich gemacht, daß Umweltschutz eine langfristige Aufgabe ist, die sich auch an langfristigen Zielen zu orientieren hat. Ja, es würde wahrscheinlich ein zusätzliches konjunkturelles Gefahrenmoment auftreten, wenn wir Umweltpolitik unter konjunkturellen Gesichtspunkten kurzfristig jeweils drosselten oder entsprechend der konjunkturellen Entwicklung beschleunigten.Deutlich wurde bei dieser Tagung aber auch, daß Umweltschutz in Verbindung mit Konjunkturpolitik nicht nur geeignet ist Innovationen, d. h. Ersteinführungen neuer Verfahren, in der Investitionsgüterindustrie für Umweltschutzanlagen herbeizuführen, sondern Umweltschutz kann auch Anstoß zu grund- legender Erneuerung des Produktionsprozesses in umweltbelasteten Industriezweigen sein.
Ich erinnere daran, daß die schwedische Papierindustrie erst kürzlich unter dem Druck von Umweltstandards neue Produktionsverfahren eingeführt hat, die nicht nur die Umwelt geschont, sondern die auch die Produktivität wesentlich erhöht haben. Ich meine, hier sollte die Industrie die von der Regierung bereitgestellten Forschungsmittel noch stärker als bisher für diese Zwecke nutzen. Dieses Beispiel könnte in der Auseinandersetzung mit der deutschen Papierindustrie bei der Einführung der Abwasserabgabe recht hilfreich sein. Ich meine deshalb, daß eine erkennbare Abhängigkeit schen Konjunkturlage und Umweltschutzmaßnahmen nicht besteht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, nun zu unserem Gesetzesvorhaben. Die Sicherung der Wasserversorgung ist zu einer der wichtigsten Aufgaben der Daseinsvorsorge geworden. Der Schutz des Wassers als einer der natürlichen Lebensgrundlagen des
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Wittmann
Menschen und die Erkenntnis, daß dieses wertvolle Gut nicht beliebig vermehrbar ist, machen ein rasches Handeln notwendig. Wenn sich nach der Prognose des Batelle-Instituts der Wasserbedarf bis zum Jahre 2000 verdoppeln wird und wir wissen, daß jetzt schon über 40 % des Trinkwasserbedarfs aus Oberflächenwasser, d. h. aus unseren stark verschmutzten Flüssen und Seen entnommen werden müssen, bedeutet das, daß jeder künftige Mehrbedarf nur noch aus dem Oberflächenwasser entnommen werden kann.Das macht deutlich, welche überragende Bedeutung der Sauberhaltung und der Sanierung unserer Oberflächengewässer zukommt. Unsere Gewässer müssen wieder in einen Zustand versetzt werden, der sie für öffentliche Wasserversorgung und für die Gesundheit der Bevölkerung, für die Fischerei, für die Land- und Forstwirtschaft und für Freizeit und Erholung geeignet macht und damit Natur und Landschaft wieder belebt und verschönt. Hierbei ist vorbeugen besser als heilen. Es ist einfach absurd, die Verunreinigung der Gewässer als angeblich unvermeidbar hinzunehmen und von der Technik zu verlangen, durch geeignete Verfahren der Wasseraufbereitung dann wieder Trinkwasser zu gewinnen. Eine solche Denkweise ist weder aus hygienischer noch aus wirtschaftlicher Sicht vertretbar. Das beste Beispiel dafür ist der Rhein, der zur größten Kloake Europas geworden ist, wie das erst kürzlich in dem schönen und hochinteressanten Fernsehfilm „Ist der Rhein noch zu retten?" sehr deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Auch der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen kommt leider zu diesen oder ähnlichen Ergebnissen.Man kann also nicht ungestraft jährlich Millionen Kilogramm Kupfer, Blei, Arsenik, Zink, Chrom und Quecksilber und dazu ungeheure Mengen von Kochsalz in den Rhein leiten und glauben, daß die Selbstreinigungskraft des Flusses ausreicht, damit fertig zu werden. Wenn z. B. im Gegensatz zu unseren Kaliwerken, die ihre Abfälle auf Halde nehmen müssen, die elsässischen Kaliwerke täglich 20 000 Kilogramm Kochsalz dem Rhein zuführen, zeigt dies darüber hinaus, daß an dem europäischen Strom Rhein eine Lösung nur möglich ist, wenn in einer gemeinsamen Aktion aller Rheinanliegerstaaten verbindliche Auflagen zur Sanierung gemacht und dann auch eingehalten werden. Eines steht fest, am Rhein wurde Raubbau mit der Natur getrieben, und ich behaupte, eine billige Lösung zur Verbesserung des Gewässerzustandes gibt es nicht mehr. Ich möchte aber auch sagen, noch ist der Rhein zu retten, wenn bald etwas Entscheidendes geschieht.Meine Damen und Herren, Alarmzeichen sehe ich auch für den Fluß, an dem ich lebe, für die Donau. Wenn ich daran denke, daß mit dem Ausbau des Rhein-Main-Donau-Kanals die Ufer der Donau strekkenweise mit einer festen Steindecke befestigt werden, die dann keine Vegetation mehr zuläßt, und daß durch den Einbau einer Vielzahl von Staustufen die Fließgeschwindigkeit der Donau erheblich reduziert wird, wodurch die biologische Selbstreinigungskraft verringert wird, so muß befürchtet werden, daßsich die Gewässergüte der Donau weiter verschlechtert. Die Donau hat im Streckenabschnitt Regensburg–Straubing heute bereits den Verschmutzungsgrad 3. Man muß wissen, daß beim Einbau von Staustufen die Gefahr besteht, den Verschmutzungsgrad 3 bis 4 zu erreichen. Die im Wasser enthaltenen Schmutzstoffe werden nämlich in einem gesunden Gewässer von den Mikrolebewesen unter Aufnahme von Sauerstoff aufgezehrt und in einer Kette von Abbauvorgängen in fäulnisunfähige, geruchlose Stoffe umgewandelt. Bei Überlastung des Gewässers entsteht dagegen eine Massenentwicklung von Organismen. Dann reicht der Sauerstoffgehalt des Wassers zum vollständigen Abbau der organischen Inhaltsstoffe durch Mikrolebewesen nicht mehr aus. Die eingeleiteten Schmutzstoffe werden größtenteils nicht mehr mineralisiert. Es kommt zu einer Trübung des Wassers und zu sichtbarem Flockentreiben. Während die so gebildeten Organismen in schneller fließenden Gewässern ohne weitere Veränderung abfließen, setzen sie sich bei der Stauhaltung, d. h. dann, wenn wir Staustufen einbauen, im Bereich der geringeren Wassergeschwindigkeit als Schlamm am Flußgrund ab. Damit gelangen sie in die sauerstoffarme Bodenzone und sterben ab. Dort erfolgt unter Bildung von Schwefelwasserstoff und Methan ein langsamer Abbau durch Fäulnis, die die gesunden natürlichen Lebensbedingungen der Tier-und Pflanzengemeinschaft im Wasser zerstört. Das bedeutet, wir können den Zeitpunkt vorausberechnen, zu dem in der Donau das Fischsterben, wie wir es heute im Rhein vielfach erleben, beginnt. Für mich heißt dies: Bevor wir den Bau von Staustufen genehmigen, muß dringend eine Sanierung des Flusses erfolgen. Meine einzige Hoffnung ist, daß der Bau von Kläranlagen an der Donau so beschleunigt werden kann, daß dadurch ein Ausgleich für die Eingriffe von außen geschaffen wird. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen bieten hier eine gute Handhabe.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun noch verdeutlichen, welche Auswirkungen die neuen gesetzlichen Bestimmungen auf die Entwicklung unserer Gewässer haben werden. Im Sachbereich „Gewässergüteregelung" wird die Bundesregierung ermächtigt, bundeseinheitliche Einleitungsstandards zu erlassen. Diese Einleitungsstandards werden im wesentlichen mit dem Ziel eingeführt, eine Gleichbehandlung aller Einleiter zu erreichen, keine Anerkennung erworbener Verschmutzungsrechte zuzulassen, durch eine bessere und schnellere Anpassung an den Stand der Technik eine optimale Reinigung der Abwässer durchzusetzen und die behördlichen Gewässerüberwachungsmaßnahmen in vertretbaren Grenzen zu halten.Neu und als erhebliche Verbesserung anzusehen ist die Verpflichtung der Länder zur Aufstellung von Bewirtschaftungsplänen, wenn es um die Sicherung der öffentlichen Wasserversorgung oder um die Erfüllung internationaler Verpflichtungen geht. Die Behörden können nun auch ein generelles Einleitungsverbot erlassen, wenn eine Verschlechterung der Gewässerbeschaffenheit zu erwarten wäre. Die Erfahrungen, die das Land Niedersachsen mit demWittmann
Bewirtschaftungsplan „Leine" bisher gemacht hat, wecken bei mir die Hoffnung, daß die Wasserbehörden hier planerische Grundlagen an die Hand bekommen, die es ihnen ermöglichen, die vielfältigen Inanspruchnahmen des Gewässers so zu steuern, daß das Gewässer als Gemeingut mit dem größten Nutzen für die Menschen, für die Bevölkerung erhalten wird.Eine ganz besondere Bedeutung kommt neben der allgemeinen Verpflichtung zur Abwasserbeseitigung, die ja in vielfältigster Form geschehen kann, der Standortbestimmung der Kläranlagen durch die Länder nach überörtlichen Gesichtspunkten zu. Ich hoffe, daß die Länder bei der Erstellung von Abwasserbeseitigungsplänen großräumiger planen, als das in der Vergangenheit der Fall war, d. h. weniger Kläranlagen, aber dafür größere Anlagen vorsehen, weil dadurch die Folgekosten wesentlich reduziert werden können.Besonders schwierig gestaltete sich die Verständigung im Sachgebiet „Lagern wassergefährdender Stoffe". Der gefundene Kompromiß stellt sicher, daß die Anlagen zum Lagern und Abfüllen wassergefährdender Stoffe den Mindestanforderungen der anerkannten Regeln der Technik entsprechen müssen und künftig einer behördlichen Eignungsfeststellung unterworfen werden. Neu ist auch die Zulassung besonderer Fachbetriebe zum Einbau und zur Wartung solcher Anlagen.Eine weitere wesentliche Verbesserung stellen die Vorschriften über die Gewässerschutzbeauftragten dar, die wir in Anlehnung an das Bundesimmissionsschutzgesetz eingeführt haben.Als Verschlechterung gegenüber der Regierungsvorlage betrachte ich die Tatsache, daß wir uns leider nicht über die Festlegung eines für die Trinkwasserversorgung ausgerichteten Gewässergütestandards einigen konnten. Ich hoffe aber, daß wir bei den weiteren Beratungen des Abwasserabgabengesetzes zu weitgehend einheitlichen Immissionsstandards kommen.Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit den Damen und Herren des Ausschußsekretariats und den Damen und Herren des Innenministeriums meinen Dank für die Unterstützung aussprechen, die sie uns in der Arbeitsgruppe gewährt haben. Ich kann sagen, daß dies nicht immer sehr leicht war. In diesen Dank möchte ich auch die Vertreter der Länder und hier insbesondere die beiden Vorsitzenden der Länderarbeitsgemeinschaft „Wasser" einschließen. Auch wenn wir uns nicht immer einigen konnten, war das Klima gut. Ich hoffe nur, daß diese konstruktive Zusammenarbeit auch beim Abwasserabgabengesetz anhält.Abschließend darf ich für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion feststellen, daß wir dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen werden. Die Verbesserungen, die dieses Gesetz bringt, können aber nur zu einem vollen Erfolg führen, wenn es in den nächsten Monaten gelingt, auch noch das Abwasserabgabengesetz zu verabschieden; denn mit diesem Gesetz werden dann auch die finanziellen Voraussetzungen geschaffen, um die Sanierung unserer Gewässer in der Zukunft zu sichern, ich meine: schneller zu sichern.Es wäre, meine Damen und Herren, eine Katastrophe, wenn das Abwasserabgabengesetz an der derzeitigen konjunkturellen Situation scheiterte. Da die Bundesregierung in ihrem letzten Konjunkturprogramm dem Kläranlagenbau hohe Priorität gegeben und damit einen Teil der insbesondere in Schloß Gymnich anläßlich der Klausurtagung vorgetragenen konjunktur- und strukturpolitischen Argumente berücksichtigt hat, bin ich überzeugt, daß wir auch hier einen erträglichen Kompromiß finden werden.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgramm.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die zunehmende Steigerung eines Umweltbewußtseins in der Bevölkerung ist ein erfreulicher Vorgang. Noch wichtiger ist es, daß die Politiker dieses Feld entdeckt haben und sich nach Kräften nicht nur für einen reagierenden, sondern zunehmend auch für einen präventiven Umweltschutz einsetzen. Für die Forcierung der Umweltschutzpolitik ist es höchste Zeit geworden. Zu lange haben wir auf Kosten der Umwelt und damit auch im bedenkenlosen Vorgriff auf die Zukunft gewirtschaftet und die Grundlagen unserer Existenz bedroht. Es ist Zeit, auch gegen egoistische Gruppeninteressen umfassende Umweltschutzregelungen durchzusetzen.
Bei einem effektiven Umweltschutz stellt sich nicht zuletzt aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft die Frage nach Umweltschutzregelungen, die über den nationalen Rahmen hinausgehen. Solche Regelungen anzustreben und auszubauen ist ein besonderes Ziel der Freien Demokraten.
Im nationalen Rahmen ist in den letzten Jahren unter der sozialliberalen Koalition eine eindrucksvolle Reihe von Umweltschutzgesetzen verabschiedet worden. Erinnert sei nur an das Immissionsschutzgesetz, das Benzinbleigesetz, das Gesetz gegen den Fluglärm, das Altölgesetz, das Waschmittelgesetz, das Abfallbeseitigungsgesetz und das Tierkörperbeseitigungsgesetz. Diesen Gesetzen liegt ein umweltpolitisches Gesamtkonzept zugrunde, dem sich bisher auch die Opposition nicht widersetzt hat. Die vorliegende Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz stellt ein weiteres Stück dieses gesamten Konzeptes dar.
— Wir kommen noch darauf, Herr Kollege.
Politiker und Fachleute sind sich einig, daß es einen sinnvollen Umweltschutz im ganzen ohne einen effektiven Gewässerschutz nicht geben kann. Fast noch mehr als die Reinhaltung der Luft ist der Gewässerschutz notwendig für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer gesunden Umwelt. Aus-
Wolfgramm
gerechnet in diesem Kernbereich des Umweltschutzes widersetzt sich die Opposition, repräsentiert hier besonders durch das Land Bayern und/oder der CSU, der Umwandlung der Rahmenkompetenz des Bundes in eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz.
— Dies ist um so bedauerlicher, Herr Kollege, als die zahlreichen Umweltschutzvorschriften ineinandergreifen und nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können.
Die Probleme der Gesetzgebungskompetenz sind in der ersten Lesung ausführlich diskutiert worden. Wasserläufe richten sich nun einmal nicht nach Ländergrenzen, und Wasserverschmutzungen werden nicht harmloser, wenn sie Grenzen passieren. Wir nehmen zur Kenntnis, daß eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für den Bund auf dem Gebiet des Wasserhaushalts zur Zeit nicht durchsetzbar ist, und dies obwohl vor der letzten Bundestagswahl die CDU in ihrem Konzept für die Umweltvorsorge ausdrücklich erklärte, die Grundgesetzänderung für die Einräumung der Vollkompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Wasserhaushaltsrechtes zu unterstützen.
Je mehr die Umweltschutzgesetzgebung über die nationale Ebene hinaus in die Zuständigkeit der EG wächst, desto dringlicher stellt sich die Frage nach einer entsprechenden bundeseinheitlichen Transformationsmöglichkeit für EG-Richtlinien im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz. Bei den bereits bestehenden Kompetenzen der EG auf diesem Gebiet mutet die bestehende bundesdeutsche Rechtszersplitterung des Wasserrechtes sehr anachronistisch an. Die Freien Demokraten werden sich auch und gerade für die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf diesem Gebiet weiter einsetzen.
Die nach intensiven Beratungen im Innenausschuß gefundene Kompromißlösung ist, wie die Stellungnahme des Rechtsausschusses ergeben hat, als Rahmenkompetenzregelung möglich. Sie enthält eine Vielzahl von Detailregelungen mit unmittelbarer Verbindlichkeit und läßt den Ländern wenig Raum für eigene Entscheidungen. Aber zunehmend umfangreichere Rahmenregelungen führen in sachlicher Hinsicht zu einer Beschneidung der gesetzlichen Regelungskompetenzen der Länder. Eine Verlagerung der vollen Gesetzgebungskompetenz auf den Bund im Bereich dieses Wasserrechts, wie von uns immer gefordert, wäre ehrlicher gewesen. Dennoch ist die Verabschiedung der im Innenausschuß erarbeiteten Kompromißmöglichkeit ein Beitrag, um die Probleme der Wasserwirtschaft ein entscheidendes Stück voranzubringen.
In der vierten Novelle zum Wasserhaushalt ist der Gewässerschutz noch nicht ausreichend geregelt. Die FDP tritt deshalb für eine umfassende Abwasserabgabenregelung ein; denn es ist nicht länger vertretbar, daß die Kosten der Beseitigung oder des Ausgleichs von Umweltschäden im Bereich der Gewässerverschmutzung auf die Allgemeinheit über-
tragen und nicht von den Verursachern getragen werden. Produkte und Produktionsverfahren, die solche Verschmutzungen hervorrufen, haben einen ungerechtfertigten wirtschaftlichen Vorteil gegenüber entsprechenden Verfahren, die keine solche Verschmutzungen verursachen. Wir treten auch hier, um zu einer einheitlichen Lösung zu kommen, für die Bundeskompetenz ein.
Die Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes reiht sich in eine lange Kette von Umweltschutzmaßnahmen ein, die die sozialliberale Koalition schon geregelt hat oder noch regeln wird. Wir halten den Kompromiß, den wir hiermit vorlegen, für vertretbar. Sorgen wir alle dafür, daß die Durchführung des Gesetzentwurfes nicht verwässert wird. Die FDP stimmt dieser Novellierung zu.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige wenige Bemerkungen aus der Sicht der Bundesregierung zum Abschluß dieser Debatte. Der umweltbewußte Bürger hierzulande ist anspruchsvoll geworden. Er erkennt zwar an, daß bei der Begrenzung etwa von toxischen Emmissionen in den letzten Jahren schon beachtliche Erfolge erzielt worden sind. Er hat auch die stattliche Zahl wichtiger Umweltgesetze und -verordnungen wahrgenommen, die in diesem Hohen Hause beschlossen worden sind. Nun will er aber auch sichtbare Erfolge auf allen Feldern der Umweltpolitik sehen: bessere Luft, saubere Flüsse, weniger Lärm. Nur deutlich erkennbare Verbesserungen werden den Kredit, den der Bürger in unserem Lande der Umweltpolitik in Bund und Ländern bisher einräumt, erhalten.Es bedurfte eines Zeitraums von zehn Jahren, diese vor uns liegende Novelle zu erreichen. Dabei standen Notwendigkeit und Bedeutung einer Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes für den Gewässerschutz bei den Umweltexperten aller Fraktionen dieses Hauses wie auch in Bund und Ländern stets außer Frage.
Alle Gesetzentwürfe, die in dieser Sache eingebracht worden sind, waren von der Sorge um die zunehmende Verunreinigung und übermäßige Beanspruchung unserer Gewässer bestimmt. Einig waren sie daher auch in der Zielsetzung, den Gewässerschutz zu intensivieren und von einer reagierenden auf eine planende, präventive Umweltpolitik überzugehen.Die Belastung der Gewässer hat ständig zugenommen. Die Schere zwischen steigendem Schmutzwasseranfall und zunehmender Reinigungsleistung klafft immer weiter auseinander. Unterschiedliche Auffassungen — begründet in sachbezogenen, aber auch in politischen Überlegungen — bestanden dagegen über die Ausgestaltung des rechtlichen Instrumentariums, so insbesondere über die Ausge-
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Parl. Staatssekretär Baumstaltung der Regelungen hinsichtlich der Gewässergütestandards, der Anforderungen an Abwassereinleitungen und auch der Anforderungen an Anlagen zum Lagern wassergefährdender Stoffe.Heute ist festzustellen, daß sich diese lange Mühe der Beratung doch gelohnt hat. Die auf der Grundlage von Regierungsentwurf und Entwurf der CDU/ CSU-Fraktion erarbeiteten Regelungen werden das wasserrechtliche Instrumentarium gegenüber dem bisherigen Rechtszustand wesentlich verbessern. Damit tragen sie zugleich entscheidend dazu bei, ein Hauptziel des Umweltprogramms der Bundesregierung, wenn nicht zu verwirklichen, so doch ein gutes Stück näher zu bringen, das Ziel nämlich, den Wasserhaushalt so zu ordnen, daß alle dem Gemeinwohl dienenden Nutzungen der Gewässer, allen voran die einwandfreie Wasserversorgung unseres Landes, auch in Zukunft gewährleistet sind. Das Lebensgut „sauberes Wasser" darf in Zukunft nicht noch knapper werden.Diese Aufgabe ist in den letzten sechs Jahren gewiß nicht geringer geworden. Der Wettlauf mit der Verschmutzung ist noch längst nicht gewonnen, wie sich anschaulich im Umweltgutachten des Sachverständigenrates nachlesen läßt. Ohne die Gründe hierfür in allen Einzelheiten darzulegen, möchte ich nur die beiden entscheidenden Faktoren deutlich machen:1. Einerseit hat trotz erheblich gesteigerter Reinigungsleistung die Verschmutzung der Gewässer bis auf wenige positive Ausnahmen weiter zugenommen. Immerhin aber erhöhten sich die jährlichen Investitionsleistungen im öffentlichen Bereich für Abwasserbehandlungsanlagen von 1971 bis 1974 bei einer jährlichen Steigerungsrate von durchschnittlich 18 % von 0,6 Milliarden auf 1 Milliarde DM. 1975 wurden darüber hinaus zusätzliche Anstrengungen durch das Konjunkturprogramm unternommen.2. Andererseits wird der Wasserbedarf von ca. 27 Milliarden Kubikmetern im Jahre 1969 auf rund 44 Milliarden Kubikmetern im Jahre 2000 ansteigen, eine Wassermenge, die nach Gebrauch wiederum als Abwasser anfallen wird.Meine Damen und Herren, ich möchte trotz dieser positiven Betrachtung, die ich angestellt habe, nicht verhehlen, daß die Bundesregierung natürlich nicht voll zufrieden sein kann. Die Novelle ist nicht der große Fortschritt, den wir uns erhofft haben, aber eben doch ein wichtiger und wesentlicher Schritt in die richtige Richtung.Es bleibt festzuhalten, daß, auf die Dauer gesehen, eine Erweiterung der Rahmenkompetenz für den Wasserhaushalt zur Vollkompetenz unerläßlich ist, erstens um den Gewässerschutz weiter zu vereinheitlichen, zweitens um das längerfristige Ziel der Gewährleistung der Güteklasse II im ganzen Bundesgebiet zu erreichen, drittens um die Abwasserabgabe in allen Einzelheiten so zu regeln, daß sie ein das klassische Instrumentarium ergänzendes, wirksames Instrument der Gewässerchutzpolitik bildet, viertens um die Umsetzung von EG-Recht in innerstaatliches Recht zu erleichtern.
— Ich will nichts loben, was noch nicht auf dem Tisch liegt. — In der Kombination des „klassischen" Instrumentariums des Wasserhaushaltsgesetzes und des „ökonomischen Hebels" der Abwasserabgabe liegt der Schlüssel zu einer umweltpolitisch erforderlichen und gesamtwirtschaftlich günstigen Gewässerschutzpolitik.Eine Schlußbemerkung, meine Damen und Herren: Diese Bundesregierung geht auch in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation von folgenden Grundsätzen aus: Umweltpolitik muß in einem ökonomischen System wie dem unseren konjunkturneutral betrieben werden, sollen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Gleichgewicht von Leistungsfähigkeit und Menschlichkeit miteinander bleiben. In aller Deutlichkeit möchte ich feststellen, daß wir es uns nicht leisten können — wenn wir unser ökonomisches System nicht ökologisch ad absurdum demonstrieren wollen —, die fortwährende Aufgabe der Gewährleistung menschenwürdiger Umweltverhältnisse auch nur zeitweise zu vernachlässigen. Es ist unsere Aufgabe, Ökonomie und Ökologie zum Ausgleich zu bringen. Das vorliegende Gesetz entspricht diesen Gesichtspunkten.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache in der zweiten Beratung. Wir kommen zur Abstimmung.Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegen Änderungsanträge auf der Drucksache 7/4579 vor, und zwar auf Streichung der Nr. 13 und auf Änderung der Nr. 14.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 212. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1976 14703
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenMeine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß wir die beiden Entscheidungen in einer Abstimmung erledigen können. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Wer den Änderungsanträgen Drucksache 7/4579 Ziffern 1 und 2 zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Meine Damen und Herren, wer dem Art. 1 in der nunmehr geänderten Fassung zustimmt, bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Es ist dann noch in der Aussprache vorgetragen worden, daß nach Art. 1 ein Art. 1 a eingefügt werden soll, wie er auf der Drucksache 7/4579 vorliegt. Auf die Begründung nehme ich Bezug. Das Wort wird nicht dazu begehrt.Wer der Einfügung des Art. 1 a zustimmt, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist so beschlossen.Ich rufe Art. 2, 3, 4 sowie Einleitung und Überschrift auf. — Wer ihnen in zweiter Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir treten in diedritte Beratungein. — Das Wort wird nicht begehrt.Wer dem Gesetz in der dritten Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Ich danke Ihnen. Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Das ist nicht der Fall. Damit ist das Gesetz in der dritten Beratung einstimmig gebilligt.Meine Damen und Herren, der Ausschuß schlägt vor, die zu den Gesetzentwürfen eingegangenen Petitionen und Eingaben für erledigt zu erklären. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Wir kommen zu der Ziffer 4 auf der Drucksache 7/4579. Es ist dem Inhalt nach ein Entschließungsantrag, mit dem die Bundesregierung ersucht wird, dem Bundestag das zu erwartende Gutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen über Umweltprobleme des Rheins vorzulegen.Auf die Begründung nehme ich Bezug.Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Danke. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Damit ist die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes abgeschlossen.Ich rufe Punkt 7 der heutigen Tagesordnung auf:Beratung des Antrags des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung der Bundesregierungbetr. Üpl. Ausgabe bei Kap. 10 02 Tit. 652 06 im Haushaltsjahr 1975— Drucksachen 7/4222, 7/4430 — Berichterstatter: Abgeordneter LöfflerIch frage, ob eine Ergänzung des Berichts gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Ich danke dem Herrn Berichterstatter und frage, ob das Wort zur Aussprache begehrt wird. — Das ist nicht der Fall.Wer dem Antrag des Haushaltsausschusses auf Drucksache 7/4430 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Zeichen. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Meine Damen und Herren, damit stehen wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen für die Mitarbeit und schließe die Beratungen.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 16. Januar 1976, 9 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.