Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat mit Schreiben vom 16. Mai 1975 im Einvernehmen mit dem Bundesminister des Auswärtigen, des Innern, für Jugend, Familie und Gesundheit und dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Probst, Dr. Fuchs, Dr. Zimmermann, Dr. Wittmann , Dr. Jobst, Dr. Müller (München), Dr. Gölter, Dr. Kunz (Weiden), Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein und Genossen betr. ausländische Studierende — Drucksache 7:3512 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7/3655 verteilt.
Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 15. Mai 1975 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Rollmann, Dr. Evers, Dr. Schäuble, Vogel , Frau Hürland, Tillmann, Weber (Heidelberg), Eilers (Wilhelmshaven), Dr. Marx, Dr. Jenninger, Gerlach (Obernau) und der Fraktion der CDU/CSU betr. Erfüllung des „Goldenen Planes für Gesundheit, Spiel und Erholung" der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) - Drucksache 7 2601 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 7'3653 verteilt.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
— Drucksache 7/2460 —
Bericht und Antrag des Ausschusses für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
— Drucksache 7/3566 —
Berichterstatter: Abgeordneter Mahne
Die Berichterstatter wünschen nicht das Wort.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mahne.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Einbringung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes am 26. September vorigen Jahres habe ich für die Bundestagsfraktion der SPD erklärt, daß wir uns bei den Beratungen des vorliegenden Gesetzentwurfs für solche Lösungen einsetzen werden, die die Leistungsfähigkeit des Güterkraftverkehrsgewerbes nachhaltig verbessern werden. Die nachfolgenden Beratungen im Verkehrsausschuß desBundestages haben wir unter diese Prämisse gestellt. Wir glauben, daß der heute in zweiter und dritter Lesung vorliegende Gesetzentwurf für das Güterkraftverkehrsgewerbe wesentliche Verbesserungen gegenüber der bisherigen Gesetzgebung enthält.So können für Großgemeinden bis zu drei bezirkliche Mittelpunkte gebildet werden, damit bisherige Verkehrsverbindungen auch nach der kommunalen Neugliederung im Nahverkehr aufrechterhalten und bedient werden können.Durch die Einführung des § 48 a in das Güterkraftverkehrsgesetz wird der tariffreie Werkverkehr schärfer vom tarifgebundenen gewerblichen Güterverkehr abgegrenzt. Für die Anerkennung als Werkverkehr im Handel wird künftig vorausgesetzt, daß der Unternehmer selbständig und innerhalb üblicher Geschäftsbedingungen unabhängig tätig sein kann. Damit wird dem jetzt teilweise bestehenden grauen Markt und den damit verbundenen Wettbewerbsverzerrungen wirksam entgegengetreten.Zur Konsolidierung des Güternahverkehrsgewerbes soll die Einführung der Buchführungspflicht für Güternahverkehrsunternehmen beitragen. Die Buchführung soll für die Unternehmer zuverlässige Daten für die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens und der Wettbewerbssituation liefern.Durch eine verbesserte Tarifüberwachung im Güternahverkehr soll Unterschreitungen des amtlichen Tarifs wirksam entgegengetreten werden. Damit werden die zahlreichen kleinen und mittelständischen Güternahverkehrsunternehmen, von denen die meisten nur bis zu drei Lkws besitzen, vor einseitiger Marktüberlegenheit von Vertragspartnern in Einzelfällen geschützt und ein leistungsfähiges Verkehrsgewerbe auf Dauer gesichert.Die am 30. Juni 1975 auslaufende Kundensatzverordnung im Spediteursammelgutverkehr wird durch die Einführung unverbindlicher Preisempfehlungen von Spediteurverbänden und deren Freistellung von entsprechenden Verboten des Kartellgesetzes abgelöst.So weit die wesentlichen Änderungen.
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12068 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
MahneIch will Ihnen, meine Damen und Herren, nicht verhehlen, daß ich und mit mir meine Kollegen noch gerne einen weiteren Artikel in das GüKG aufgenommen hätten, nämlich die Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Durch die von uns vorgesehene steuerliche Entlastung im Huckepackverkehr bei den Kraftfahrzeuganhängern und den Sattelaufliegern und die tageweise Steuererstattung für die Lkws sollten die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen im internationalen Güterverkehr, die zu Lasten der deutschen Verkehrsunternehmen bestehen, vermindert werden.Die gegenwärtige Finanzsituation des Bundes, der Länder und der Gemeinden erlaubt es aber nicht, Maßnahmen — ganz gleich welcher Art — zu ergreifen, die zur weiteren Verminderung des Steueraufkommens beitragen. Deshalb waren wir gezwungen, unseren bereits eingebrachten Antrag wieder zurückzuziehen. Die SPD-Fraktion weiß sehr gut, welche Schwierigkeiten sich hieraus für den grenzüberschreitenden Güterverkehr ergeben. Jedoch ist Politik die Kunst des Möglichen und auch des Machbaren und nicht die Durchsetzung des Wünschbaren.Die CDU/CSU-Fraktion hat im Ausschuß unseren Antrag aufgenommen und die Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes beantragt, nachdem wir diesen Antrag zurückgezogen hatten. Die Kollegen der Opposition müssen sich aber fragen lassen, wie sie es mit ihrer wiederholt abgegebenen Erklärung halten, im Deutschen Bundestag oder seinen Ausschüssen keine Anträge mehr zu stellen, die mit finanziellen Belastungen für den öffentlichen Haushalt durch Mehrausgaben bzw. Mindereinnahmen verbunden sind. Wenn geordnete öffentliche Finanzen Priorität haben sollen, muß das für alle Vorhaben gelten, selbst wenn sie für eine einzelne Gruppe und auch aus der Sicht des Parlaments noch so berechtigt sind.Die SPD-Fraktion steht voll hinter dem vom Ausschuß einstimmig beschlossenen Entschließungsantrag, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, für eine beschleunigte Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen im grenzüberschreitenden Güterverkehr zu sorgen, indem sie erstens darauf hinwirkt, daß die Regelungen über die Mehrwertsteuerrückerstattung an ausländische Unternehmer in allen EG-Mitgliedstaaten einheitlich gestaltet werden, indem sie zweitens darauf hinwirkt, daß baldmöglichst eine EG-einheitliche Vorschrift über die spezifische Motorleistung je Tonne des höchstzulässigen Gesamtgewichts in Kraft tritt, indem sie drittens mit allem Nachdruck auf eine sofortige einheitliche Anwendung der Sozialvorschriften in allen EG-Ländern drängt und indem sie viertens mittelfristig eine Harmonisierung der Kraftfahrzeugsteuer für Lkw in der Europäischen Gemeinschaft beschleunigt.Wir wissen uns bei dieser Entschließung einig mit dem Bundesverkehrsminister Gscheidle, der in seiner Ansprache anläßlich des verkehrspolitischen Jahresgesprächs am 29. Januar 1975 hier in Bonn dazu ausführte — ich möchte mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren —:Insbesondere muß jeder weiteren Liberalisierung des Verkehrsmarktes, die natürlich unserGewerbe einem verstärkten Druck aussetzt, eine tatsächliche Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen vorangehen. Dazu beabsichtigen wir, eine Bestandsaufnahme sämtlicher Wettbewerbsverzerrungen im grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr vorzunehmen. Ebenfalls können Sie von einer restriktiven Behandlung der bilateralen Kontingente ausgehen. Beabsichtigt sind ferner geeignete Maßnahmen zur Stärkung des grenzüberschreitenden Verkehrs.Minister Gscheidle führte weiter aus:Dazu gehört ebenfalls die Angleichung der kraftfahrzeugspezifischen Steuern bzw. Steuerstrukturen, die Angleichung der Maße und Gewichte für Lkw, die Ergänzung der Sozialvorschriften.Auch nach unserer Auffassung, meine Damen und Herren, kann eine weitere Liberalisierung in der EG-Verkehrspolitik erst begonnen werden, wenn einheitliche Wettbewerbsvoraussetzungen gewährleistet sind.Mit der 3. GüKG-Novelle wird somit ein wichtiger Schritt zur Vervollständigung und Vervollkommnung des verkehrspolitischen Instrumentariums vollzogen. Den Zielvorstellungen sozialdemokratischer Verkehrspolitik wie den praktischen Bedürfnissen der Wirtschaft und der Verkehrssicherheit wird damit gleichermaßen entsprochen. Die SPD-Fraktion setzt damit konsequent die Linie der Einbettung der Verkehrspolitik in die volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhänge fort, die erstmals 1969 von dem damaligen Bundesverkehrsminister Leber verfolgt wurde. Wir glauben, daß eine derartige integrierte Verkehrspolitik auf dem Güterverkehrsmarkt auch weiterhin notwendig ist und erfolgreich sein kann.Gestatten Sie mir zum Schluß noch einige grundsätzliche Bemerkungen zur Ordnung auf dem Güterverkehrsmarkt. Wir haben, als wir im Verkehrsausschuß die Beratungen zur GüKG-Novelle vorbereiteten, eine gründliche Anhörung der beteiligten Wirtschaftsverbände durchgeführt und dabei festgestellt, daß die Ansichten über Art und Umfang des Ordnungsrahmens weit auseinandergehen. Die zur Frage der Tarifüberwachung im Güternahverkehr hervorgetretenen Divergenzen lassen sich mit Sicherheit auch auf das System als Ganzes übertragen.Nicht nur die gegenwärtige konjunkturelle Lage, von der auch die Verkehrswirtschaft betroffen ist, sondern auch die strukturellen Probleme, die im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten bei der Deutschen Bundesbahn aufgetaucht sind, und die besonderen mittelstandspolitischen Probleme der privaten Verkehrswirtschaft haben dazu geführt, daß die Frage der Ordnung auf dem Güterverkehrsmarkt wieder mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wird. Die von der EG-Kommission in diesen Tagen vorgelegten Vorschläge über die künftige Marktordnung des Güterverkehrs innerhalb der Gemeinschaft fordern zusätzlich zur Diskussion heraus.Ich möchte mit aller Deutlichkeit feststellen, daß die SPD-Fraktion in Übereinstimmung mit der Bun-
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Mahnedesregierung und besonders auch mit dem Bundesverkehrsminister für eine wirkungsvolle und kontrollierte Wettbewerbsordnung des Marktes ist. Wir glauben, daß der gegenwärtige Ordnungsrahmen mit den bestehenden Marktzugangsregelungen und dem Margentarifsystem ein ausgewogenes Instrumentarium darstellt, welches einerseits die verkehrspolitisch und volkswirtschaftlich notwendigen Korrekturmöglichkeiten und Hilfestellungen sichert, während andererseits innerhalb dieses Ordnungsrahmens der erforderliche Leistungswettbewerb der Verkehrsunternehmen gewährleistet ist. Wir brauchen auf allen Gebieten gute, zuverlässige und technisch vollkommene Verkehrsleistungen, die nicht durch einen ruinösen, ausufernden Wettbewerb gefährdet werden dürfen. Dies ist nur durch eine wirksame Marktordnung zu erreichen, und nur durch sie läßt sich die Volkswirtschaft mit qualitativ hochwertigen Verkehrsleistungen, die auch vor allem den Aspekt der Struktur- und Regionalpolitik besonders berücksichtigen, zu volkswirtschaftlich günstigen Gesamtkosten versorgen.Wir bekennen uns zu dieser Marktordnung und werden sie, wenn es erforderlich ist, weiterentwickeln, wie das hier am Beispiel der dritten GüKG-Novelle geschehen ist. Die SPD stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf und auch dem Entschließungsantrag des Verkehrsausschusses zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sick.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Mahne hat eben diese dritte Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes in einen gewissen Zusammenhang gestellt, als sei mit dem geltenden Recht alles in den Griff zu bekommen. Ich habe da gewisse Zweifel, Herr Kollege Mahne.Vordergründig handelt es sich bei dem, was wir heute tun, um die Angleichung von Rechtsnormen an veränderte ökonomische Fakten. Das ist ein normaler Vorgang, und damit könnte es sein Bewenden haben. Ich meine allerdings, daß dies im vorliegenden Fall wohl nicht mehr reicht und daß wir uns von der Verkehrspolitik her werden Gedanken machen müssen, ob die Rechtssystematik, mit der wir uns hier beschäftigen, noch ausreicht, um die, wie ich es ausdrücken möchte, ökonomische Systematik, wie sie sich heute darbietet, abzudecken.Ich habe da meine Zweifel, und zwar einfach deswegen, weil die Grundlage des bisherigen Verkehrsordnungsrechts in der Bundesrepublik das Primat der Schiene war, und zwar zu Recht. Es war die Schiene, die das starke Monopol hatte, und es war die Schiene, die deshalb gemeinwirtschaftlich fuhr. Aber es ist auch die Schiene, die sich jetzt selbst dieses Vorteils begibt, indem sie sich aus der Fläche herauslöst und damit, so meine ich, ganz andere Bedingungen für die Entwicklung von Verkehrsrecht für die Zukunft setzt, als das bisher der Fall war.Ich denke hier an das, was der Herr Bundesverkehrsminister jetzt über ,die langfristige Entwicklung, über die Orientierung der Schiene nur auf den Fernverkehr, gesagt hat. Die Schiene ist ja ein wichtiger Verkehrsträger, und Verkehr ist in erster Linie ein ordnungspolitischer, ein raumordnungspolitischer, ein gestaltender Faktor. Dem werden wir als Verkehrspolitiker Rechnung tragen müssen, wenn wir es ernst meinen mit dem Zusammenhang zwischen Raumordnung, Regionalpolitik und Verkehrspolitik;
das also in bezug auf die ländlichen Räume. Ich meine, wir sollten uns mehr denn je Mühe geben, die Verklammerung zwischen den einzelnen Sachgebieten und nicht immer nur dieses kleine Spezialinteresse zu sehen; denn alle Spezialdinge hängen irgendwo miteinander zusammen und haben negative und positive Wirkungen.Ich darf hier nur erwähnen, wohin etwa unsere Überlegungen bei der Verkehrspolitik in Zukunft werden gehen müssen. Wenn der Schienenverkehr zurückgeht, werden beispielsweise immer weniger Orte — natürlich in den ländlichen Räumen — an einen Stückgutbahnhof heran können. Das aber hat standortmäßig direkte Kostenauswirkungen. Das heißt nämlich — in aller Kürze dargestellt —, daß die armen, die ländlichen Gebiete, kostendeckend werden fahren müssen in bezug auf die Vorfracht von ihrem Ort zum nächsten Stückgutbahnhof; von dort wird subventionierter Schienenverkehr in die Ballungsräume betrieben, und die Nachlauffracht vom letzten Bahnhof in das Dorf muß wieder kostendeckend sein.
Das bedeutet, daß die armen Räume ihre vollen Kosten bezahlen, während die reichen Räume weiterhin subventioniert werden. Wohin das raumordnungspolitisch und standortpolitisch führt, liegt auf der Hand.
— Richtig, Herr Kollege Schulte.Ich erwähne dies, Herr Kollege Mahne, auch deshalb: Wir werden uns darüber Gedanken machen müssen, weil Verkehrspolitik nicht nur etwas ganz Spezifisches ist, sondern etwas Umgreifendes. Verkehr ist eine Basisvoraussetzung für alles Wirtschaften schlechthin.Wir werden folgende Überlegungen. anstellen müssen — ich will sie nur andeuten —: Bleiben wir bei dem Begriff der Nahzone wie bisher? Stellen wir Verkehre von der Kontingentierung — 31/2 t bisher, 4 t später — frei? Wagen wir uns überhaupt an die Neuordnung der Kontingente heran? Und so weiter.Sie haben, Herr Kollege Mahne, den materiellen Inhalt des Gesetzes im großen bereits geschildert. Ich will darauf nicht noch einmal im einzelnen eingehen, sondern nur wenige der, ich würde sagen: neuralgischen Punkte ansprechen.Aus der Sicht des Gewerbes wäre das beispielsweise beim § 20 die Abschaffung der Kundensatz-
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Sickverordnung. Ich teile die Bedenken, die hier vom Gewerbe gekommen sind, daß nun eine Überflutung kommen könnte, nicht. Denn gerade im Speditionsgewerbe sind die Anforderungen an die Kapitalausstattung und an die Ausstattung mit Spezialwissen so groß und ist der Organisationsgrad, der dort erforderlich ist, so hoch, daß mit einer großen Fluktuation nicht gerechnet werden kann. Womit viel eher gerechnet werden könnte — darauf werden wir achten müssen —, ist eine zu starke Konzentration wegen dieser erheblichen Vorleistungen. Eine zu starke Konzentration würde natürlich wieder zur Betätigung in betriebswirtschaftlich interessanten Feldern führen. Das wäre wieder der Ballungsraum, dort, wo das Aufkommen ist. Hier wäre die Negativwirkung wieder der Rückzug aus der Fläche, aus den schwachen Räumen, was dann dort erhöhte Kosten mit erneuten Standortnachteilen zur Folge hätte. Das wird viel eher unsere Sorge sein. Wir müssen beobachten, wohin dies geht. Das ist ein ausgesprochen raumordnungspolitischer Effekt, der uns durchaus interessiert, wenn wir sowohl den Auftrag aus dem Grundgesetz wie auch den aus dem Raumordnungsgesetz wie auch den aus den Bundesraumordnungsprogrammen ernst nehmen, und ich weiß, daß wir das gemeinsam tun.Ein weiterer neuralgischer Punkt ist § 48 a, die weitere Abgrenzung von Werkverkehr gegenüber dem gewerblichen Güterverkehr. Auch hier, meine Damen und Herren und meine Freunde von der Verkehrspolitik, werden wir uns in wahrscheinlich sehr kurzer Zeit neue Gedanken machen müssen, wie wir denn diese ländlichen Räume in zumutbarer Weise mit einem ausreichenden Verkehrsangebot versehen. Ich will heute nicht mehr sagen: Wir werden darauf achten, daß die durch Änderung des Kartellrechts gerade erst geschaffenen Kooperationsmöglichkeiten im mittelständischen Gewerbe hierdurch nicht wieder verschüttet werden; denn das wäre wohl eine Entwicklung, wo beim Gesetzgeber die eine Hand nicht weiß, was die andere tut.Ich komme nun zur Tarifüberwachung im Güternahverkehr. Das ist einer der Hauptpunkte. Hierzu will ich einige klare Worte sagen. Die Einführung der Buchführungspflicht, die Bezugnahme auf § 29 in § 85 Abs. 3 ist unstreitig. Es wird auch für das Gewerbe selbst hilfreich sein, mit ordnungsgemäßen betriebswirtschaftlichen Unterlagen die eigene Position jeweils hinreichend bestimmen zu können, um daraus die betriebswirtschaftlich richtigen Entscheidungen ableiten zu können.Die Tarifüberwachung, die vom Gewerbe gefordert wird, muß weiterhin skeptisch und vorsichtig betrachtet werden, und zwar im Interesse des Gewerbes selbst und im Interesse unserer Systematik,
der Systematik nämlich, daß wir die freie Marktwirtschaft und innerhalb dieser Marktwirtschaft nur mit ganz bestimmten Begründungen geregelte Bereiche haben. Zu diesen Bereichen gehörte der Nahverkehr bisher nicht. Wer einmal nachliest ich habe es getan —, was in den 50er Jahren gesagt wurde, als der Fernverkehr der Überprüfungspflichtunterworfen wurde, wird diese Bedenken erneut bestätigt finden.Wir dürfen nicht den Fehler machen, anzunehmen, es handele sich beim Güternahverkehrsmarkt um einen homogenen Markt. Er ist in den Teilbereichen so heterogen wie kaum einer, sowohl regional wie sektoral wie strukturell und konjunkturell — bezüglich der Baustellen —; Sie alle kennen das, und ich will darauf nicht im einzelnen eingehen.Wir werden also dieser Überwachung zustimmen; wir haben ja auch im Hearing gemeinsam das Pro und Kontra gehört. Ich kann davon ausgehen, daß Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen werden, der besagt, daß wir uns nach zwei Jahren von der Bundesregierung werden Bericht erstatten lassen, wie das denn gelaufen ist.Auf gar keinen Fall — das stelle ich hier auchvor der Öffentlichkeit fest — betrachten wir die jetzige Regelung so quasi als eine Methode, den Fuß in die Tür zu setzen, als einen Einstieg in eine umfassende Überwachung des Tarifwesens im Güternahverkehr. Ich lege Wert darauf, dies festzustellen, und ich freue mich darüber, daß der Herr Berichterstatter dies auf einmütigen Wunsch des Ausschusses — in seinem Schriftlichen Bericht auch ausdrücklich gesagt hat. Ich glaube, wir täten mit einem solchen Einstieg auch dem Gewerbe keinen Gefallen, einmal abgesehen davon — aber das soll das Gewerbe mit sich ausmachen —, wie das mit den sozialen Überlegungen zu verstehen ist, wenn man beikommt und sagt: Ich habe nur eine kleine Zahl großer Fische, und alle sollen bezahlen.Aber, meine Damen und Herren, das Herzstück war die Steuerreform, und dieses Problem ist nicht gelöst worden. Hier, so muß ich in aller Kürze sagen, ist die Regierung an ihrer eigenen Unfähigkeit, die Bedingungen für einen Wirtschaftsaufschwung zu schaffen, wieder gescheitert. Die Bedingungen für den Aufschwung, von dem soviel geredet wird und der nicht kommt, ist nämlich, daß die Wirtschaft überhaupt erst einmal wieder in Gang kommt, daß die Pferde einmal wieder saufen. Nur, das Brackwasser, das ihnen heute angeboten wird, werden sie nicht saufen.
Ich frage mich, meine Damen und Herren: Woher soll das Vertrauen kommen? Es ist unvertretbar, was hier geboten wird, was man diesem Gewerbe zugemutet hat, diesem Gewerbe, welches einem direkten Existenzdruck, der Gefahr einer Existenzvernichtung ausgesetzt ist. Es wird vertröstet, es wird gesagt: wir möchten ja gerne, aber wir können leider nicht. Welche Assoziationen es in diesem Zusammenhang gibt, überlasse ich jedem selber. Auch damit, daß Herr Minister Gscheidle hier Absichtserklärungen abgibt, ist dem Gewerbe nicht geholfen. Damit wird ein wichtiger mittelständischer Bereich unseres Gewerbes — ich befürchte, fast vorsätzlich — vernichtet und zerstört. Dann von Aufschwung zu reden, dann den Eindruck zu erwecken, es gehe ja aufwärts, das, meine Damen und Herren, ist eine Blasphemie. Hier, so würde ich sagen, befin-
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Sickdet sich die Bundesregierung in der Kontinuität des Versagens.Ich würde zugeben, Herr Kollege Ollesch mit seiner großen Sachkunde ist als Motor der Verkehrspolitik auf Vollast gelaufen, aber es fehlt zwischen Ihnen, meine Herren von der Koalition, und dieser Regierung das Getriebe, die Kupplung, die Ihre Aktivitäten auch umsetzen könnte. damit etwas passiert. Es nützt gar nichts, groß im Leerlauf daherzureden oder sonst etwas zu tun und dann nachher zu sagen: Wir konnten es ja leider nicht durchsetzen.
— Und bei der Abstimmung nicht da sein. Kollege Schulte, das war, würde ich sagen, wieder einer der treffenden Zwischenrufe.Hier also, meine Damen und Herren, sollte man für eine bessere Kupplung sorgen, für eine bessere Verbindung, damit das, was wir gemeinsam beschlossen hatten und das soll einmal festgestellt werden —, auch in die Praxis umgesetzt werden kann.Ich bin der Auffassung, daß wir gerade im Verkehrsgewerbe als dem Gewerbe, welches eine der Grundbedingungen ist, um überhaupt wieder die Wirtschaft in Gang zu setzen, besonders die mittelständische Struktur brauchen. Eine Politik, die sich mit Absichtserklärungen um die Regelung der notwendigen Dinge herumdrückt, ist es tut mir leid— eine unseriöse Politik. Ich habe zu Anfang die Kollegen im Ausschuß bedauert, die mit uns gemeinsam beschlossen hatten, die Kfz-Steuer-Neuregelung durchzuführen, und nun revozieren mußten mit der ausdrücklichen Begründung — das wurde heute gesagt —, die Kassen seien leer.
— Auf höheren Befehl. — Aber denken wir einen Augenblick darüber nach! Die Kassen sind leer, das ist zwar richtig. Aber die sind nicht von selbst leer, sondern durch die Mißwirtschaft dieser Bundesregierung auf finanzpolitischem Gebiet, auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Nur, es gibt ja immer einen neuen Anfang, wenn man es richtig macht und die Daten richtig setzt.
— Wenn man will, aber nicht alleine, sondern wenn man die Daten richtig setzt. Das Wollen allein genügt nicht, wenn man nicht auch das Richtige dafür tut. Die Bedingung dafür ist, daß man einmal die Wirtschaft wieder in Gang setzt und daß man wieder die Kuh füttert, die man melken will.Hier aber tritt genau das Gegenteil ein. Man ist dabei, insbesondere auch im grenzüberschreitenden Verkehr — dazu wird im einzelnen mein Kollege Dreyer nachher einiges sagen ein Gewerbe in seiner Substanz zu vernichten. Wir sind dabei, volkswirtschaftlich gesehen, international Verkehre zu verlieren, Verkehre, die wir, da sie in einen bereits weitgehend gemeinsamen Markt hineinfließen, nicht wiederbekommen; die sind unwiderruflich verloren.Ein weitere Folge dieser Verkehrspolitik, wie sie sich heute darstellt, die vom Ansatz her in die Konzentration hineinmündet, ist, daß die wichtige Aufgabe, alle Räume gleichmäßig mit den Leistungen zu versorgen, auf die es ankommt, vernachlässigt wird, daß wir uns also immer mehr von der Zielsetzung entfernen, überall zumindest vergleichbare Lebensbedingungen zu schaffen. Bei Fortführung dieser Verkehrspolitik kommen wir in eine schizophrene Lage. In den ländlichen Räumen müssen wir — nicht nur wegen des Rückganges der Schiene — Straßenersatzinvestitionen vornehmen, und wegen der Subventionierung in den Ballungsräumen frißt die Schiene in Kürze den gesamten Verkehrshaushalt auf. Immer weniger bleibt übrig, um die notwendigen Schienenersatzverkehrsleistungen zu finanzieren. Da frage ich mich: wo bleibt denn dann die dienende Rolle der Verkehrspolitik, ihre Aufgabe, ein Faktor innerhalb der Gesamtwirtschaft zu sein, aber der wichtigste, der grundsätzliche Faktor, wie ich sagte, die Basisvoraussetzung, um die gleichmäßige Entwicklung herbeizuführen?Ich bin also der Auffassung — diese Forderung sollten wir gemeinsam an die Bundesregierung stellen —, daß hinsichtlich der Bedienung des Verkehrshaushalts mehr getan werden muß — aus dieser Sicht der Dinge , daß überproportional aus dem begrenzten Haushalt Mittel zugewiesen werden müssen, um die Basisbedingungen in Ordnung zu halten, um die Voraussetzungen für einen neuen Aufschwung zu schaffen, damit nicht nur davon geredet werden muß, sondern damit wir auch tatsächlich etwas tun können. Denn, wie ich sagte, es kommt darauf an, wirklich etwas zu tun.Es kommt aber auch entscheidend darauf an, daß wir bei dem betroffenen Gewerbe das Vertrauen wiederherstellen. Sie alle — auch von der Koalition — haben mit den Vertretern des Gewerbes Ihre Gespräche geführt. Sie alle wissen, daß es hier nicht um ein akademisches Problem geht, daß die Sorgen echt auf den Nägeln brennen und daß es sich natürlich nicht nur um das Güterkraftverkehrsgesetz handelt aber nur das ist heute zu behandeln , sondern daß die Dinge weitergehen.Meine Bitte auch an die Freunde bei der Koalition: Lassen Sie uns versuchen, hier gemeinsam zu einer Regelung zu gelangen, die diesen wichtigen Bereich, den wir alle zusammen vorsätzlich aus der völligen Freiheit der Marktwirtschaft herausgenommen haben, in Ordnung hält, damit wir hier keine Einbrüche bekommen, die nicht nur das Verkehrsgewerbe negativ betreffen, die sich nicht nur wirtschaftspolitisch im einzelnen statistisch und steuerlich negativ auswirken, sondern die auch strukturelle Schäden verursachen, deren Wirkungen wir in absehbarer Zeit nicht wieder werden beheben können.
Das ist das eigentlich Wichtige und Entscheidende hier beim Güterkraftverkehrsgesetz, welches wir heute beraten, wobei wir uns, wie gesagt, in der Materie völlig einig sind. Uns kam es dabei darauf an, noch einmal deutlich zu machen, daß es um mehr geht als um eine rein gesetzestechnische Regelung,
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sickdaß es darum geht, hier auch für die Zukunft die Rechtssystematik weiter zu entwickeln, auch den Schienenverkehr richtig in ein Gesamtkonzept einzubetten, in das er hineingehört. Wir müssen von der klassischen Art und Weise herunterkommen, alles unter dem Primat des Schienenverkehrs zu sehen, denn dafür sind die Bedingungen nicht mehr gegeben.Meine Damen und Herren, wir werden diesem Gesetz in der Hoffnung, daß sich hierzu eine realistischere und verläßlichere Betrachtungsweise bei allen anderen Beteiligten ergibt, zustimmen. Wir werden auch dem gemeinsamen Entschließungsantrag zustimmen und werden unsererseits alles tun, damit das, was in diesem Entschließungsantrag angedeutet wird, auch in die Tat umgesetzt wird. Wir bitten Sie weiterhin, dem von uns vorgelegten Entschließungsantrag zuzustimmen, daß nach Ablauf von zwei Jahren darüber berichtet wird, wie sich insbesondere beim Güternahverkehr die Tarifüberwachung ausgewirkt hat.In diesem Sinne stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoffie.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mit dem heute zur Verabschiedung anstehenden Dritten Gesetz zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes schaffen wir die Voraussetzungen für eine erhebliche Förderung und Verbesserung der Leistungsfähigkeit des betroffenen Gewerbes. Eine Reihe von in der Praxis des Güterkraftverkehrs seit langem erkannten Mängeln und Schwächen werden beseitigt, Wettbewerbsverzerrungen abgebaut und notwendige Kontrollmechanismen gesetzlich geregelt.Die Freien Demokraten begrüßen es, daß diese von ihnen seit Jahren verfolgte Zielsetzung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in einigen wichtigen Punkten erreicht wird. Das betrifft die Anpassung des Güterkraftverkehrs an die kommunale Neugliederung genauso wie die Maßnahmen zur Eindämmung des unechten oder grauen Werkverkehrs, und das schließt die wirksamere Tarifüberwachung ebenso ein wie die Einführung der Buchführungspflicht für die Unternehmen des Güternahverkehrs.Mit Befriedigung können wir weiter feststellen, daß der Forderung der Koalitionsfraktionen voll entsprochen wurde, den Gesetzentwurf dahin gehend zu erweitern, daß die zum 30. Juni auslaufenden Kundensatzverordnungen des Spediteursammelgutverkehrs durch das Modell unverbindlicher Preisempfehlungen abgelöst werden.Wir bedauern hingegen mit allen Verkehrspolitikern des Hauses, daß unsere ursprüngliche Absicht, den Gesetzentwurf zum Anlaß zu nehmen, auch einige seit langem anstehende Korrekturen bei der Kraftfahrzeugsteuer für Nutzfahrzeuge anzubringen, aufgegeben werden mußte. Niemand hat mehr darum gekämpft, durch Steuerbefreiung fürüberzählige Sattelauflieger, für Anhänger und Fahrzeuge des kombinierten Verkehrs die gravierenden Wettbewerbsverzerrungen, die wir ja alle sehen, zu beseitigen, denen die deutschen Transportunternehmer im internationalen Güterfernverkehr ausgeliefert sind. Mein Kollege Alfred Ollesch, der in dieser Frage wie kein anderer engagiert war, wird zu diesem speziellen Problemkreis noch sprechen. Lassen Sie mich jetzt nur soviel feststellen, daß es nachgerade unerträglich wäre, wenn man diejenigen angreifen wollte, die eine von uns allen erhobene Forderung zurückgestellt haben, weil sie sich der größeren Verantwortung für das Ganze gebeugt haben, um einen wirklichen Beitrag zur Sicherung unseres Haushalts zu leisten, der eine Verminderung des Steueraufkommens nicht zuließ.Die Ausführungen meiner Vorredner und die Einmütigkeit bei der Schlußabstimmung zum eigentlichen Gesetzentwurf erlauben es mir, zu den inhaltlichen Neuregelungen, die ich eingangs herausstellte, nur einige Erklärungen anzuschließen.Zunächst zur Anpassung des Güterkraftverkehrsrechts an die kommunale Neugliederung. Die Bildung zahlreicher Großgemeinden hat bekanntlich zu einer Veränderung der Ortsmittelpunkte geführt, so daß zahlreiche Verkehrsverbindungen, die bislang im Nahverkehr bedient werden konnten, zu Fernverkehr wurden. Künftig soll es nun möglich sein, für derartige Großgemeinden bis zu drei Ortsmittelpunkte zu bestimmen, wenn dies für eine befriedigende Verkehrsbedienung notwendig ist. Wir Freien Demokraten unterstützen diese Regelung, weil auf diese Weise die bisherigen Nahverkehrszonen im wesentlichen erhalten bleiben.Bevor ich, meine Damen und Herren, auf die von der Regierung vorgeschlagenen Bestimmungen zur Eindämmung des sogenannten „grauen Werkverkehrs" zu sprechen komme, vorab nur einige knappe Worte zum Werkverkehr ganz allgemein: Die nach Auslaufen der Straßengüterverkehrsteuer und nach Einführung des wenig effektiven Lizenzverfahrens eingetretene überproportionale Zunahme des Werkverkehrs wurde auch von den Freien Demokraten mit Besorgnis beobachtet. Allerdings sollte aus dieser Entwicklung auch nicht der voreilige und sicherlich unzweckmäßige Ruf nach dirigistischen Maßnahmen zur Eindämmung des Werkverkehrs abgeleitet werden. Die Freien Demokraten haben bereits in der ersten Beratung des Gesetzentwurfes klar gesagt, ein flexibleres Angebot der gewerblichen Verkehrsunternehmer wäre in jedem Fall zur angestrebten Substitution von Werkverkehren sinnvoller als ordnungspolitisch bedenkliche und im Ergebnis fragwürdige Eingriffe. Die nunmehr im Güterkraftverkehrsgesetz vorgesehene Begriffsbestimmung des zulässigen Werkverkehrs wird von uns begrüßt, weil sie geeignet ist, den als Fuhrmannshandel bekannten unechten Werkverkehr einzudämmen. Der echte Werkverkehr bleibt hiervon selbstverständlich unberührt, und es erscheint mir noch wesentlich, festzustellen, daß durch die Definition des regulären Werkverkehrs Kooperationsformen im mittelständischen Bereich nicht eingeengt werden sollen, wie das ja, Herr Kollege Sick, von der Opposition in der ersten Beratung noch befürchtet wurde.
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HoffieMeine Damen und Herren, über die Notwendigkeit einer wirksameren Tarifüberwachung im Güternahverkehr besteht wohl allgemeines Einvernehmen. Die hier vorgesehenen Verbesserungen werden zahlreiche mittelständische Nahverkehrsbetriebe vor einseitiger Marktüberlegenheit auf der Verladerseite schützen und damit letztlich eine gewisse Marktgleichgewichtigkeit stabilisieren oder herbeiführen. Um in diesem Bereich aber nicht zu einer übermäßigen Perfektion mit all ihren unerwünschten Folgen zu kommen, soll die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr deshalb nur zur Abwehr schwerwiegender Marktstörungen tätig werden. Meine Fraktion schließt sich dieser Auffassung an, da eine umfassende Tarifüberwachung im Güternahverkehr nicht notwendig ist und wegen der Vielzahl der Beförderungsfälle auch gar nicht praktikabel wäre.Die vorgesehene Einführung der Buchführungspflicht im gewerblichen Güternahverkehr ist nach Auffassung meiner Fraktion überfällig, weil sie es insbesondere den kleineren und mittleren Transportunternehmern erleichtert, ihre Entscheidungen so zu treffen, daß die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Betriebe erhalten bleibt.Ich darf abschließend zu der von SPD und FDP vorgeschlagenen Einführung unverbindlicher Preisempfehlungen im Spediteursammelgutverkehr kommen. Die zum 30. Juni dieses Jahres auslaufende Kundessatzverordnung bietet die nach unserer Auffassung günstige Gelegenheit, in einem begrenzten und überschaubaren Bereich einen kleinen Schritt in Richtung auf die vielzitierte Liberalisierung der Verkehrstarife zu tun. Die im Ausschuß vorgeschlagene Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sieht vor, daß künftig von Spediteursvereinigungen unverbindliche Preisempfehlungen gegeben werden können, da diese Empfehlungen beim Kartellamt anzumelden sind, und zwar zusammen mit einer Stellungnahme der Verlader zu den Preisempfehlungen. Meiner Fraktion erscheint die vorgeschlagene kartellrechtliche Lösung, insgesamt betrachtet, zweckmäßig und ausgewogen.Wir werden abwarten müssen, welche Erfahrungen Spediteure und Verlader mit dieser Preisregelung machen werden. Möglicherweise könnten von diesem Modell, wenn die Erfahrungen positiv sind, Anstöße für eine allgemeine Reform der Verkehrstarife ausgehen.Die FDP-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf und dem Entschließungsantrag in der Gewißheit zu, daß wir einen beachtlichen Schritt vorwärts getan haben, um die Leistungsfähigkeit des Güterkraftverkehrsgewerbes zu steigern.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreyer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte bei dieser Debatte über die dritte Novelle zum Güterkraftverkehrsgesetz auf ein Problem eingehen, das uns imAusschuß bei der Beratung der Novelle — ich möchte sagen — am meisten beschäftigt hat, ja das von größerer verkehrspolitischer Bedeutung ist als die im Gesetzentwurf geregelte Materie. Ich spreche hier von den Wettbewerbsverzerrungen im grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr und dem Versuch, durch einige gezielte Maßnahmen im Rahmen dieser Novelle einen ersten Schritt zum Abbau dieser Wettbewerbsverzerrungen zu unternehmen.Die Beratungen im Verkehrsausschuß haben sich deshalb monatelang hingezogen, weil sich die Regierungskoalition und die Bundesregierung nicht darüber einig werden konnten, ob sie dem von der CDU/CSU aufgezeigten Weg folgen sollten oder nicht. Über das Problem der Wettbewerbsverzerrungen im grenzüberschreitenden Straßengüterverkehr ist in diesem Hause wiederholt gesprochen worden. Verursacht durch den Integrationsrückstand in der gemeinsamen Verkehrspolitik in der EG sind erhebliche Wettbewerbsnachteile für die deutschen Transportunternehmen entstanden, 'die dazu geführt haben, daß ihr Marktanteil an diesem rasch wachsenden und immer mehr an Bedeutung gewinnenden Verkehrsmarkt in den letzten 15 Jahren von rund 60 °/o auf mittlerweile nahezu 30% gesunken ist. Der weitaus größere Anteil entfällt heute auf die ausländische Konkurrenz.
Die Gründe für diese Entwicklung sind diskriminierende staatliche Maßnahmen in der Finanz- und Verkehrspolitik. Zu nennen sind insbesondere die extrem hohe deutsche Kfz-Steuer für Lkw, die unterschiedlichen technischen Vorschriften über Maße, Gewichte und Mindestmotorstärken der Lkw, die extremen Unterschiede in der Anwendung und Überwachung der EG-Sozialvorschriften für den Straßenverkehr
und die diskriminierenden Bedingungen für die Mehrwertsteuerrückerstattung. Jede dieser Wettbewerbsverzerrungen für sich genommen macht natürlich nur einige Prozentpunkte aus. In ihrer Gesamtheit führen sie jedoch zu dem Ergebnis, daß der deutsche Transportunternehmer allein durch die staatlich beeinflußten Kostenarten um 5 bis 10 °/o —je nach den individuellen Verhältnissen — höhere Gesamtkosten als der ausländische Konkurrent zu tragen hat.
Es liegt auf der Hand, daß der deutsche Güterkraftverkehr bei dieser Kostenlage und dem harten Wettbewerb im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr nicht mehr Schritt halten kann.
Es ist nur ein schwacher Trost, wenn immer wieder auf die Harmonisierungsbestrebungen in Brüssel hingewiesen wird. Schnelle Erfolge sind hier nicht mehr zu erwarten. Insofern ist es, wie ich meine, von der Bundesregierung auch unredlich, immer wieder auf die angestrebte Harmonisierung in der EG zu verweisen, wenn der im internationalen Wettbewerb stehende Güterkraftverkehr auf Gleichheit der Marktchancen pocht.
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12074 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
DreyerDieses Problem hat noch an Aktualität gewonnen, weil durch die schlechte Binnenkonjunktur immer mehr Transportunternehmen gezwungen sind, einen Beschäftigungsausgleich im grenzüberschreitenden Verkehr zu finden. Ich weiß nicht, ob der Bundesregierung bekannt ist, daß zur Zeit — und dies erstmalig seit 1945 — trotz Kapazitätsregelungen Lastwagen stillgelegt und Fahrer sowie Hilfspersonal arbeitslos sind.Die GüKG-Novelle sie war von der Bundesregierung ohnehin ungenügend vorbereitet und erforderte eine Ergänzung durch eine Änderung des § 99 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen bot eine günstige Möglichkeit, einen vernünftigen und wohlabgewogenen sowie zudem noch finanziell abgesicherten Schritt zum Abbau dieser Wettbewerbsverzerrungen zu unternehmen. Die CDU/CSU schlug im Verkehrsausschuß vor, diejenigen Bestimmungen der allgemeinen Kraftfahrzeugsteuerreform, die die Lkws betreffen, vorweg mit der Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes zu verabschieden. Aus diesem Grunde stellten wir einen Antrag, der eine Freistellung überzähliger Sattelauflieger und Mehrfachanhänger von der Kfz-Steuer vorsah, und forderten Erleichterungen für den Huckepackverkehr. Die Regierungskoalition schloß sich diesem Vorhaben im Verkehrsausschuß dankenswerterweise an.
— Sehr richtig, zunächst! Für die deutsche Transportwirtschaft wäre damit nach jahrelanger Untätigkeit der Regierung ein Zeichen gesetzt worden, daß man den deutschen Güterkraftverkehr nicht im Stich läßt. Für die Unternehmer und die in der Transportwirtschaft Beschäftigten hätte dies eine wirksame Hilfe bedeutet, und schließlich hätte diese Maßnahme auch in Brüssel endlich einmal ein Signal gesetzt, daß die Bundesrepublik nicht länger bereit ist, der Bevorzugung der ausländischen Konkurrenz durch die jeweiligen Heimatländer tatenlos zuzusehen.
Vermutlich würde eine derartige Haltung erst erfolgversprechende Verhandlungen über den weiteren Abbau der Wettbewerbsverzerrungen ermöglichen.Nach dem Einverständnis aller Verkehrspolitiker im Verkehrsausschuß begann allerdings in der Regierungskoalition und zwischen Koalition und Regierung ein endloses Tauziehen um diesen Antrag. Es wurden zeitweise sogar weitergehende Vorschläge gemacht, die angeblich aus Gründen der „Sozialen Symmetrie" erforderlich waren. Es wurden Spiele mit falschen Zahlen getrieben. Das Ergebnis war, daß die eigentliche Begründung für den Antrag, nämlich der Abbau der Wettbewerbsverzerrungen im grenzüberschreitenden Güterverkehr, immer mehr in den Hintergrund trat. Aus dem Hause des Herrn Finanzministers vernahm man merkwürdige Töne. Da hieß es: ja und nein, vielleicht, ein bißchen weniger oder: doch lieber nicht.Schließlich wurden die Vertreter der Regierungskoalition im Verkehrsausschuß — offenbar auf höhere Weisung — gezwungen, ihren Antrag zurückzuziehen. Der von uns erneut eingebrachte ursprüngliche Antrag wurde dann im Ausschuß endgültig abgelehnt. Ich glaube — mein Kollege Sick hat es schon angesprochen —, es muß festgestellt werden, daß dabei die FDP eine besonders merkwürdige Rolle gespielt hat. Das muß hier einmal festgehalten werden, damit draußen in der Öffentlichkeit die verkehrspolitische Doppelstrategie der FDP deutlich wird.
— Jawohl, Doppelstrategie.Nachdem Herr Ollesch in der Öffentlichkeit mehrfach markige Erklärungen abgegeben hatte, hätte er es in der Hand gehabt, mit seinen Kollegen von der FDP eine positive Entscheidung mit uns herbeizuführen.
Statt dessen fehlte Herr Kollege Ollesch bei der maßgebenden Abstimmung, und die beiden anwesenden FDP-Vertreter stimmten gegen uns.Die CDU/CSU bedauert ausdrücklich, daß keine sachgerechte Lösung zustande gekommen ist, sondern parteitaktische Gründe einen ersten Schritt zum Abbau der Wettbewerbsverzerrungen verhindert haben.
Der sogenannte Kompromiß, der in dem Entscheidungsantrag zum Ausdruck kommt, verdient im Grunde genommen wohl nur eine Bezeichnung: „Weiße Salbe".Was bleibt nach der verpaßten Chance jetzt noch zu tun? Nach unserer Meinung sollte man sich jetzt schnellstens an die Beseitigung der Bestimmung heranmachen, nach der es untersagt ist, bei einer Ein-Fahrer-Besatzung in acht Stunden weiter als 450 km zu fahren. Dies ist zwar keine unmittelbare Angelegenheit des Bundestages, aber, ich meine, ein ausdrückliches Votum an dieser Stelle würde es der Bundesregierung erleichtern, in dieser Frage voranzukommen.Im übrigen fordern wir die Bundesregierung auf, sich weiterhin für einen Abbau der Wettbewerbsverzerrungen auf dem Gebiete der Maße und Gewichte sowie der Mehrwertsteuerrückerstattung für deutsche Unternehmer im Ausland nach den Prinzipien, die bei uns gelten, einzusetzen. Wir müssen diese Bemühungen verstärken, damit nicht ein noch größerer Teil des grenzüberschreitenden Verkehrs an das Ausland abwandert. Dies ist nicht nur eine verkehrspolitische Forderung, meine Damen und Herren, sondern ihre Realisierung dient der Gesunderhaltung des Güterkraftverkehrs und den Beschäftigten in einem volkswirtschaftlich wichtigen mittelständischen Gewerbezweig.Zum Schluß lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eine kurze Bemerkung unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit machen. In dem gleichen
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DreyerMaße, wie der deutsche Lkw durch verzerrten Wettbewerb Marktanteile verliert, kommen ausländische Lkws — zum Teil schlechter motorisiert und technisch vielfach schlechter ausgerüstet — auf unsere Straßen. Daß sie unverhältnismäßig stark am Unfallgeschehen beteiligt sind, ist, glaube ich, nicht mehr gerade neu. Es sollte aber der Hinweis erlaubt sein, daß auch dies eine Folge einer Politik ist, die Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten deutscher Lkws bewußt in Kauf nimmt.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wrede.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte es mir versagen, auf all die Dinge einzugehen, die die Kollegen Sick und Dreyer hier bei der Beratung eines ganz konkreten Gesetzentwurfs zu weiten Bereichen der Verkehrspolitik gemacht haben, ohne daß die Chance besteht, die Thematik in einer solchen Debatte auch auszudiskutieren. Es wäre sicherlich interessant, zu dem Komplex, den Sie, Herr Kollege Sick, angesprochen haben, unter dem Gesichtspunkt des Rückzugs der Schiene aus der Fläche und der Sorge um die Bedienung der ländlichen Räume weitere Ausführungen zu machen; denn dazu könnte man einiges sagen. Aber aus den von mir genannten Zeitgründen möchte ich mich auf einen Satz beschränken. Er stammt nicht von mir, sondern wir bekamen ihn im Hearing vom Vertreter des Bundesverbandes der deutschen Industrie zu hören. Auf entsprechende Sorgen um die Verkehrsbedienung in der Fläche hörten wir den Satz, daß es in der Bundesrepublik Deutschland kein Verkehrsbedürfnis gebe, das nicht in irgendeiner Weise durch die heute am Verkehr beteiligten Organisationen und Träger befriedigt werden könne. Ich meine, damit sollte es für heute sein Bewenden haben, weil die Zeit einfach nicht ausreicht, darüber weiter zu sprechen.Ich möchte zum Kern der Sache kommen, nämlich zu dem, was beide Kollegen hier unter dem Gesichtspunkt Kfz-Steuer für Lkw angesprochen haben. Es ist unbestritten und in völliger Übereinstimmung zwischen allen drei Fraktionen dieses Hauses in den Beratungen des Verkehrsausschusses erklärt worden — daraus resultiert schließlich auch der Antrag —, daß es unser Wunsch war, in diesem speziellen Bereich dem unter starkem Wettbewerbsdruck stehenden Verkehrsgewerbe im grenzüberschreitenden Verkehr in einem bestimmten Punkt eine Erleichterung zu verschaffen, obwohl wir uns alle darüber einig waren — dies wird ja auch von niemandem bestritten , daß damit das Problem nicht gelöst ist, sondern daß dies nur in einem winzigen Teilbereich eine ganz bestimmte Hilfe sein kann. Diese völlige Übereinstimmung besteht — das hat der Kollege Mahne in seinen Ausführungen zum Ausdruck gebracht — auch heute noch. Auch heute sind wir in der Sache der Meinung, daß das notwendig ist.Nachdem ich diese Übereinstimmung zwischen allen drei Fraktionen festgestellt habe, muß ich aufeine weitere kommen. Ich erinnere an die Beratungen des Bundeshaushalts für 1975. Dort bestand offensichtlich ebenfalls Übereinstimmung zwischen allen drei Fraktionen; denn auch Sprecher der Opposition haben dabei zum Ausdruck gebracht, daß es bei der prekären finanziellen Situation der öffentlichen Hand insgesamt nicht angebracht wäre, Anträge zu beschließen, die die Finanzsituation der öffentlichen Hand noch erschweren, d. h. weder Anträge, die zusätzliche Ausgaben beinhalten, noch Anträge, die Steuermindereinnahmen zur Folge hätten. Das war gemeinsame Auffassung bei den Haushaltsberatungen, die nach Einbringung unseres Antrages stattgefunden haben. Dies sollte nicht in Vergessenheit geraten.Ich bin der Meinung, meine Herren Kollegen, sosehr Sie sich auch bemühen, hier nun gravierende Unterschiede festzustellen: eigentlich besteht diese Übereinstimmung auch heute noch. Denn wenn sie nicht bestünde, hätten Sie doch Ihren Antrag aus den Beratungen des Verkehrsausschusses, den wir dort aus bestimmten Gründen ablehnen mußten, heute wieder zur Beratung eingebracht. Da Sie das nicht getan haben, müssen wir wohl davon ausgehen — ich denke, wir können zu Recht davon ausgehen —, daß man sich auch in Kreisen der Opposition klar darüber ist, daß dies wegen der damit verbundenen Steuerausfälle nicht geht oder daß es nicht machbar ist, weil der Bundesrat — die Bundesländer würden ja durch diese Steuerausfälle be- lastet — ohnehin nicht mitspielen würde. Welche Gründe Sie auch immer bewogen haben mögen, Ihren Antrag nicht einzubringen, ich stelle fest:
Trotz dessen, was hier gesagt wurde, gibt es auch hier Übereinstimmung. Offensichtlich ist das — dies müssen wir doch zugeben zur Zeit nicht machbar. Wir bedauern das; dies hat mein Kollege Mahne schon zum Ausdruck gebracht. Aber zumindest die Mitglieder der Koalitionsfraktionen sehen sich in die Gesamtverantwortung für die Politik dieser Regierung genommen. Wir tragen diese Regierung, und wir sehen uns auch in die Verantwortung für diesen Haushalt genommen. Wenn dieser Haushalt es nicht zuläßt und die finanzpolitische Situation es nicht ermöglicht, in einem bestimmten Bereich zu Entlastungen zu kommen, dann müssen wir das mittragen, denn wir tragen die Politik dieser Regierung. Wie Sie sich das vorstellen, ist eine andere Sache. Ich betone noch einmal: Ich entnehme der Tatsache, daß Sie den Antrag in die Beratung des Plenums nicht eingebracht haben, daß Sie im Grunde unsere Auffassung teilen.Wir sollten, nachdem diese Übereinstimmung auch in den Ausschußberatungen zwischen uns immer zum Ausdruck gekommen ist und nach wie vor besteht, in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck erwecken wollen, als gäbe es gravierende Meinungsunterschiede im Grundsätzlichen. Wir sollten uns hei unseren Bemühungen darauf konzentrieren, so
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Wredewie wir dies in der gemeinsam verabschiedeten Entschließung zum Ausdruck gebracht haben, die Regierung immer wieder — dazu sind wir von seiten der FPD-Fraktion bereit — nachhaltig zu drängen, in Europa dafür zu sorgen, daß die Wettbewerbsverzerrungen im grenzüberschreitenden Verkehr durch eine gemeinsame europäische Verkehrspolitik tatsächlich abgebaut werden können. Dies nützt im Endeffekt den betroffenen Unternehmern mehr als ein von uns gewollter, leider aber nicht zu realisierender Versuch, in einem bestimmten Teilbereich Erleichterungen zu schaffen.Wir sollten nun gemeinsam versuchen, im Bereich Europas zu mehr Übereinstimmung in der Verkehrspolitik zu kommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ollesch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Reddemann, ich bin in der Regel immer dort, wo ich sein muß. Aber es gibt allein schon von der unterschiedlichen zahlenmäßigen Stärke der Fraktionen her Notwendigkeiten, denen wir uns nicht entziehen können. Wenn Sie wissen, daß wir nur mit drei Kollegen im Verkehrsausschuß sitzen, Ihre Fraktion aber immerhin 15 Mitglieder stellt, dann werden Sie sicherlich erkennen können, daß die Belastung Ihrer Kollegen im Verhältnis zu der Belastung von uns Freien Demokraten in diesem Ausschuß und in der gesamten Verkehrspolitik nicht so groß ist.
— Ach Gott, Herr Kollege Dr. Jobst, wenn Sie als ehemaliger Bundesbahner mich fragen, welcher Termin wohl wichtiger war — der Termin hier oder ein anderer Termin, bei dem es um die Deutsche Bundesbahn, der Sie ja angehörten, ging —,
dann wundere ich mich, daß Sie mir das Fehlen zum Vorwurf machen. Denn Sie wissen, das Unternehmen Deutsche Bundesbahn bürdet uns auch einiges an Problemen auf, die wir versuchen zu lösen.Der Kollege Sick und der Kollege Dreyer haben sehr „warme" Worte für das deutsche Verkehrsgewerbe gefunden und uns — insbesondere auch mir persönlich — hier vorgeworfen, wir würden den großen Worten keine Taten folgen lassen. Nun, Herr Kollege Sick, ich verstehe, daß Sie hier einen gewissen Nachholbedarf haben und daß Sie das Ansehen, das die Freien Demokraten in der Öffentlichkeit bei denen haben, die sich mit Verkehrspolitik beschäftigen, stört. Dafür, daß Sie das gute Ansehen stört, habe ich, wie gesagt, Verständnis;
Ihre Versuche, durch persönliche Diskreditierung von Mitgliedern unserer Fraktion diesen guten Eindruck draußen zu verwischen,
werden Ihnen und Ihren Kollegen nicht gelingen.
— Nein. Hören Sie doch einmal draußen herum, dann werden Sie wissen, wie das Gewerbe die Aktivitäten der Freien Demokraten wertet.Aber darum geht es ja gar nicht allein. Ich stelle nur fest, daß Sie hier keine neuen Argumente und neuen Erkenntnisse vorgetragen haben. Denn Ihr Antrag ist ja der Regierungsvorlage zur Änderung des Kfz-Steuergesetzes entnommen. Sie ersehen daraus, daß diese Bundesregierung schon vor Ihnen der Meinung war, daß durch die Änderung des KfzSteuergesetzes und durch die Kfz-Steuer für Nutzfahrzeuge ein Abbau von Wettbewerbsverzerrungen vorgenommen werden sollte.
Sie haben es sich sehr einfach gemacht Sie haben Ihren Antrag aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 8. November 1973 abgeschrieben
und verkünden nun diese Arbeit als eine besondere, neue Aktivität der Opposition.
Nun gebe ich Ihnen zu, Herr Kollege Sick, daß wir in der ersten Lesung der Güterkraftverkehrsnovelle erklärt haben, daß wir den Wunsch haben, Teile, die die Verkehrswirtschaft und den gewerblichen Güterverkehr hinsichtlich der vorgesehenen KfzSteuerreform betreffen, wenn möglich, in diese Novelle mit aufzunehmen und hier zu regeln. Die Koalitionsfraktionen im Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages haben sich dann auch bemüht, dies zu tun, und einen entsprechenden Antrag vorgelegt.Ich gebe Ihnen recht: Es wäre für die Freien Demokraten sicherlich möglich gewesen, einen Antrag mit einem solchen Inhalt mit Ihrer Hilfe mit Mehrheit zu verabschieden. Aber das Funktionieren dieser Koalition — trotz großer gegensätzlicher Auffassungen in vielen Fragen der Politik —
— trotz großer gegensätzlicher Auffassungen invielen Fragen der Politik — rührt nicht zuletzt da-her, daß sich die Koalitionsfraktionen fest vorge-
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Olleschnommen haben, nicht mit wechselnden Mehrheiten zu arbeiten. Das würde das Ende des Funktionierens dieser Koalition bedeuten.
Im Interesse des Funktionierens der Koalition — es sind nämlich neben den Fragen des Güterverkehrs auch noch andere sehr wichtige Fragen deutscher Politik zu lösen — haben wir der Versuchung widerstanden, mit Ihnen unser gemeinsames Anliegen — ein Anliegen aller Fraktionen in diesem Hause — durchzusetzen. Dafür wird bei der Mehrheit unserere Bevölkerung sicherlich Verständnis zu finden sein; davon sind wir fest überzeugt.
Nun wissen Sie — der Kollege Wrede hat ja darauf hingewiesen —, daß wir uns ohnehin in einer gewissen Schwierigkeit befanden durch das Übereinkommen — deutlich ausgedrückt in den Haushaltsberatungen —, ausgabenwirksame oder steuermindernde Anträge nicht zu verabschieden. Hier waren wir in dieser schwierigen Situation, denn die Realisierung unseres Antrags, des Antrags der Koalitionsfraktionen aus dem Verkehrsausschuß hätte Steuermindereinnahmen bei den Ländern in Höhe von mehr als 60 Millionen DM bedeutet.
— Herr Kollege Dreyer, sicher gibt es da konjunkturpolitische Auswirkungen, die den Steuerausfall, unter dem Strich gesehen, in der gesamtwirtschaftlichen Rechnung nicht so drastisch werden lassen. Da gebe ich Ihnen recht. Aber Sie wissen, daß wir in Finanzverhandlungen mit den Ländern stehen und daß es recht untunlich wäre, während dieser Verhandlungen durch Gesetzgebungsakte des Bundes den Ländern Steuermindereinnahmen zuzumuten. Diese wären dem Bund bei den Verhandlungen sicherlich präsentiert worden, wie das ja in anderen Fällen auch geschehen ist. Von da her war es nicht möglich, den Inhalt unseres Antrags in das Gesetz aufzunehmen. Die Freien Demokraten bedauern das ausdrücklich.
Wir haben uns in der Vergangenheit — und wir werden das auch in Zukunft tun — bemüht, daran zu arbeiten, Wettbewerbsnachteile im grenzüberschreitenden Verkehr zu beseitigen.Nun ist es aber nicht so, Herr Kollege Sick, daß diese Nachteile durch die Tätigkeit dieser Bundesregierung entstanden sind. Das wissen Sie ebenso wie ich.
Sie wissen auch, daß es nicht allein im Belieben der Bundesregierung liegt, diese Nachteile zu beseitigen. Diese Nachteile — Herr Kollege Dreyer hat ja darauf hingewiesen — hängen auch damit zusammen, daß unsere Partner innerhalb der Gemeinschaft dieVereinbarungen nicht eingehalten haben, sie nicht so ernst nehmen, wie wir in der Bundesrepublik dies zu tun pflegen. Auf die Einhaltung dieser Vereinbarungen immer wieder hinzuwirken und für Abhilfe zu sorgen, ist Aufgabe der Bundesregierung. Sie hat sich nachweisbar darum bemüht, Sie befindet sich zur Zeit in einem Meinungsaustausch mit ihren Partnern über den Wegfall der recht ärgerlichen Begrenzung der Fahrleistung auf 450 km. Hier scheint sich eine Einigung abzuzeichnen.
Das wäre ein erster Erfolg.Lassen Sie mich abschließend für die Freien Demokraten feststellen: Wir haben uns bemüht, im Einvernehmen mit allen Kollegen im Verkehrsausausschuß den Teil der Kfz-Steuerreform, der für den gewerblichen Güterverkehr interessant ist, vorzuziehen und durch dieses Gesetz wirksam werden zu lassen. Ich verschweige nicht, daß in dem Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz auch noch eine andere Änderung enthalten ist, die mit Anlaß dafür war, daß unser Antrag nicht verwirklicht werden konnte: die Gleichstellung der Behinderten bezüglich der Versteuerung ihrer Kraftfahrzeuge mit den Kriegsbeschädigten. Hätten wir das getan — und das schien uns von der sozialen Gerechtigkeit her geboten —, wäre eine weitere Steuerminderung von 60 Millionen DM eingetreten, so daß das ganze Konzept Steuermindereinnahmen von 120 Millionen DM verursacht hätte. Auch daran ist letzten Endes die Verwirklichung unseres Antrags gescheitert.
Wir werden uns mit allen Fraktionen dieses Hauses darum bemühen — wie in den letzten Monaten auch geschehen —, eine realistische Verkehrspolitik zu betreiben, frei von Ideologie, Herr Kollege Sick, zum Nutzen aller Bürger unseres Landes.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen nun zur Abstimmung des Gesetzes in zweiter Beratung. Ich rufe auf Art. 1 bis 4 in der Fassung des Ausschusses, Einleitung und Überschrift. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir kommen zurdritten BeratungDas Wort wird nicht begehrt. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im Ganzen zuzustimmen wünscht, erhebe sich bitte. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Wir haben dann noch über den Entschließungsantrag des Verkehrsausschusses unter Nr. 2 in
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Präsident Frau RengerDrucksache 7/3566 abzustimmen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, gebe bitte ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ebenfalls einstimmig angenommen.Wir haben dann noch den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zur dritten Beratung vorliegen; es handelt sich um die Drucksache 7/3662. Das Wort dazu wird ebenfalls nicht gewünscht. Interfraktionell war vereinbart worden, diesen Antrag an den Ausschuß für Verkehr und für das Post-und Fernmeldewesen zu überweisen. Wer dem zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen! — So beschlossen.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Krankenversicherung der Studenten
— Drucksache 7/2993 —aa) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 7/3641 — Berichterstatter: Abgeordneter Krampebb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 7/3640 —Berichterstatterin:Abgeordneter Frau Verhülsdonk
b) Zweite Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieKrankenversicherung der Studierenden
— Drucksache 7/2519 —aa) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 7/3641 — Berichterstatter: Abgeordneter Krampebb) Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 7/3640 —Berichterstatterin:Abgeordnete Frau Verhülsdonk
Die Berichterstatter wünschen nicht das Wort. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Biermann.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag wird heute seine Beratungen über die Krankenversicherung der Studenten abschließen und damit die Weichen dafür stellen, daß ab dem Beginn des nächsten Wintersemesters alle Studenten und alle Praktikanten über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen.Durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten, zu dem die Koalitionsfraktionen im Dezember des vergangenen Jahres den Entwurf vorgelegt haben, wird eine wichtige Lücke im System unserer sozialen Krankenversicherung geschlossen, eine Lücke, die von den Betroffenen in den vergangenen Jahren als immer bedrückender empfunden wurde. Zwar haben die Studenten in ihrer Mehrzahl Leistungsansprüche, und zwar im Wege der Familienhilfe, da sie der Familie eines in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten angehören; aber der andere Teil der Studenten mußte entweder über eine eigene Mitgliedschaft einen Krankenversicherungsschutz erwerben, oder er blieb auf die an den einzelnen Hochschulen bestehenden Einrichtungen studentischer Krankenvorsorge angewiesen.Sowohl das Leistungsniveau als auch die Beitragshöhe unterschieden sich von Einrichtung zu Einrichtung. Insgesamt entwickelte sich in der Krankenversorgung der Studenten ein Zustand, der weder unter sozialpolitischen noch unter bildungspolitischen Aspekten als befriedigend erachtet werden konnte.Dieser mißlichen Situation wird das Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten, das wir hier heute verabschieden wollen, ein Ende bereiten. Der Koalitionsentwurf war nach seiner ersten Beratung zusammen mit einem Gesetzentwurf des Bundesrates, der ebenfalls die studentische Krankenversicherung zum Gegenstand hat, dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — sowie dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen worden.In den Ausschußberatungen bestätigte sich voll, was sich bereits deutlich abzeichnete, als wir die Gesetzentwürfe erstmalig im Dezember hier im Bundestagsplenum behandelten: Dem von den Fraktionen der SPD und der FDP eingebrachten Gesetzentwurf ist gegenüber dem Bundesratsentwurf eindeutig der Vorrang einzuräumen, weil die Konzeption der Ländervertretung einige gravierende Nachteile aufweist.Nach den Vorstellungen des Bundesrates soll auch der überwiegende Teil der Studenten, der bisher beitragsfrei in der Familienhilfe mitversichert ist, mit Beiträgen belastet werden. Hinzu kommt, daß der Bundesratsentwurf finanziell nicht abgesichert ist und letztlich eine genaue Antwort auf die Frage schuldig bleibt, welchen Beitrag die Studenten zu ihrer Krankenversicherung zu zahlen haben würden.Daher war es keine Überraschung, daß die Beschlußfassung in den Ausschüssen auf der Grundlage des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen erfolgte.In einer nichtöffentlichen Sachverständigenanhörung, zu der der federführende Ausschuß Experten aus dem Hochschul- und aus dem Krankenversicherungsbereich eingeladen hatte, fand der Entwurf der Fraktionen der SPD und FDP eine breite Zustim-
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Biermannmung, während der Bundesratsentwurf in der Diskussion keine Rolle mehr spielte.Der mitberatende Ausschuß für Bildung und Wissenschaft hat dem federführenden Ausschuß eine Reihe von Änderungs- und Ergänzungsanträgen unterbreitet. Diese Vorschläge wurden weitgehend berücksichtigt. Darüber hinaus hielt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung weitere Änderungen und Ergänzungen ebenfalls für geboten. Sie sollen das Gesetz in wichtigen Punkten präzisieren und seine Anwendung durch Studenten, durch die Hochschulen und die Krankenversicherungen erleichtern.Lassen Sie mich die Gesetzesfassung, die Ihnen der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung einstimmig zur Annahme empfiehlt, in ihren wesentlichen Zügen skizzieren:Erstens. Eingeschriebene Studenten an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen sowie Personen, die eine in Studien- oder Prüfungsordnungen verlangte berufspraktische Tätigkeit ausüben, werden in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert. Andere Personen, die sich in einer Ausbildung zum Beruf befinden, erhalten ein Beitragsrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung. Das gilt auch für Examenskandidaten, die nicht mehr an der Hochschule eingeschrieben sind.Vom Beitragsrecht ausgenommen sind allerdings Schüler im allgemeinen Schulbereich.Diejenigen Studenten und Praktikanten, die bereits bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen versichert sind, können sich binnen drei Monaten von der Versicherungspflicht befreien lassen. Das Befreiungsrecht gilt jedoch nur insoweit, als ein der gesetzlichen Krankenversicherung gleichartiger Versicherungsschutz besteht oder begründet worden ist.Zweitens. Von der Versicherungspflicht ausgenommen sind alle diejenigen Studenten und Praktikanten, für die als Familienangehörige ein Anspruch auf Familienhilfe besteht, es sei denn, sie haben bereits selbst eine Familie. Der Familienhilfeanspruch erlischt mit der Vollendung des 25. Lebensjahres des Studenten. Wird jedoch die Ausbildung verzögert oder unterbrochen, weil der Betroffene einer gesetzlichen Dienstpflicht, also den Wehrdienst oder dem Zivildienst, nachkommt, wird der Familienhilfeanspruch entsprechend der Dauer der Dienstzeit über das 25. Lebensjahr hinaus verlängert.Die Aufrechterhaltung des Familienhilfeanspruchs gewährleistet, daß die betroffenen Studenten nach wie vor einen umfassenden Versicherungschutz genießen, ohne selbst Beiträge zahlen zu müssen.Drittens. Die Versicherung der Studenten und Praktikanten wird von allen Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung durchgeführt. Grundsätzlich werden die Versicherten der für ihren Wohnort zuständigen Ortskrankenkasse angehören. Auf Antrag können sie jedoch Mitglied der Ortskrankenkasse des Hochschulortes, des Krankenversicherungsträgers, bei dem sie zuletzt Mitglied waren, des Krankenversicherungsträgers, bei dem fürsie zuletzt Anspruch auf Familienhilfe bestand, oder einer Ersatzkasse werden.Viertens. Die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Studenten und Praktikanten erhalten prinzipiell die gleichen Leistungen wie die übrigen Versicherten, jedoch werden keine Lohnersatzleistungen — kein Krankengeld und kein Mutterschaftsgeld — gewährt. Lohnersatzleistungen sind für diesen Personenkreis deshalb entbehrlich, weil seinen Mitgliedern im Falle der Krankheit oder Schwangerschaft kein Lohnausfall entsteht.Fünftens. Die Krankenversicherung der Studenten wird grundsätzlich durch deren Beiträge finanziert. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß die finanzielle Leistungsfähigkeit dieses Personenkreises begrenzt ist und daß die Studenten im Gegensatz zu den Arbeitnehmern, deren Krankenversicherungsbeiträge zur Hälfte vom Arbeitgeber übernommen werden, ihren Beitrag selbst tragen müssen.Um sicherzustellen, daß der Beitrag sozial tragbar bleibt, wird der Bund in die Bresche springen und einen Zuschuß an die Krankenversicherung zahlen, der sich zunächst auf 15 DM pro Student und Monat belaufen wird. Dieser Bundeszuschuß, der 60 % des vom Studenten selbst zu entrichtenden Beitrages ausmacht, wird der Dynamisierung unterworfen, d. h. entsprechend der durchschnittlichen Entwicklung der Beitragssätze der Krankenkassen und Ersatzkassen gesteigert.Sechstens. Der Beitrag der Studenten selbst wird 5 % des Bedarfssatzes des Bundesausbildungsförderungsgesetzes bei auswärtiger Unterbringung betragen. Da dieser Förderungsbetrag derzeit bei 500 DM liegt, ergibt sich für den einzelnen Studenten ein monatlicher Krankenversicherungsbeitrag von 25 DM. Es soll davon abgesehen werden, diesen Beitrag zu dynamisieren, weil den Studenten eine Mehrbelastung ohne Erhöhung des jeweiligen Förderungsbetrages nicht zugemutet werden kann.Über eine Beitragserhöhung kann nur im Zusammenhang mit einer Erhöhung des Förderungssatzes und einer genauen Analyse der Kostenentwicklung der studentischen Krankenversicherung entschieden werden. Über die finanziellen Erfahrungen mit der Krankenversicherung der Studenten wird der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu gegebener Zeit berichten.Siebtens. Um die soziale Komponente der Beitragsgestaltung zu stärken, erhalten diejenigen versicherten Studenten, die nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz gefördert werden, eine Erhöhung ihres Förderungsbetrages um 10 DM monatlich. Diese Entlastung bewirkt, daß der tatsächliche Eigenbeitrag der Angehörigen dieses Personenkreises nur 15 DM beträgt. Die daraus resultierenden Mehraufwendungen werden zu 65 % vom Bund und zu 35 % von den Ländern übernommen.Achtens. Es ist vorgesehen, daß die Versicherten ihre Beiträge selbst an ihre Krankenkasse abführen. Von den Kassen erhalten sie eine Bescheinigung darüber, daß die Versicherung besteht. Die Beschei-
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12080 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Biermannnigung ist der Hochschule bei der Immatrikulation oder Rückmeldung vorzulegen. Diese Regelung, so meinen wir, vermeidet verwaltungstechnische und personelle Probleme, die bei den Hochschulverwaltungen entstünden, wenn sie die Beiträge der Studenten für eine große Anzahl von Krankenkassen einziehen müßten.Neuntens. Die Krankenversicherung der Studenten soll mit Beginn des Wintersemesters 1975/76 wirksam werden. Für Studenten der allgemeinen Hochschulen ist das der 1. Oktober dieses Jahres. An den Fachhochschulen beginnt das kommende Wintersemester jedoch schon am 1. September 1975, so daß das Inkrafttreten des Gesetzes für Fachhochschulstudenten bereits zu diesem Termin erfolgen muß. Einzelne Vorschriften sollen ja am Tage nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten, weil zahlreiche Hochschulen bereits im laufenden Sommersemester Rückmeldungen und Immatrikulationen für das Wintersemester entgegennehmen und der Bundesminister für Arbeit alsbald die erforderliche Rechtsverordnung vorlegen muß, die den Nachweis, die Zahlung und die Abrechnung des Bundeszuschusses im einzelnen regelt.Die Beschlüsse im Ausschuß wurden einvernehmlich gefaßt. Ich darf auch Sie namens der sozialdemokratischen Bundestagfraktion bitten, dem Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten in der Ausschußfassung zuzustimmen, damit der Bundesrat so bald wie möglich dem Gesetz das notwendige Plazet geben kann.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Verhülsdonk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten, das wir heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden und das zum Beginn des Wintersemesters 1975/76 in Kraft treten soll, ist sehr lange überfällig. Als am 17. Oktober 1973 mein Kollege Rollmann und die Fraktion der CDU/CSU einen Antrag zur Neuordnung der studentischen Krankenversicherung einbrachten, wurde in der Begründung darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung bereits in der Mitte der letzten Legislaturperiode eine gesetzgeberische Initiative angekündigt, aber bis dato nicht ergriffen hatte, sich aber die Deutsche Studenten Krankenversorgung — DSKV — vor der Auflösung befand.Heute sind wir, nach eingehenden Beratungen zweier Gesetzentwürfe, nämlich des Entwurfs des Bundesrates vom 4. September 1974, Drucksache 7/2519, und des Gesetzentwurfs der Fraktionen der SPD /FDP, Drucksache 7/2993, in der Lage, einmütig ein Gesetz zu verabschieden, das in den wichtigsten Punkten dem Antrag der CDU/CSU vom 17. Oktober 1973 entspricht. Allerdings war im CDU/CSU-Antrag nicht vorgesehen, die familienhilfeberechtigten Studenten aus der Versicherungspflicht herauszunehmen, was, wie es der Sprecher der GKV genannt hat, einen generellen Eingriff in das Systemder gesetzlichen Krankenversicherung mit sich bringt, da der Subsidiaritätscharakter der Familienhilfe für diesen Versichertenkreis nur deshalb aufgehoben wird, weil der Bundesfinanzminister lediglich eine unzureichende Zuschußsumme für die Studenten zur Verfügung stellt.Ich glaube aber, es ist ein annehmbares Gesetz, wenngleich sich die Sozialpolitiker, was auch bei den Ausschußberatungen und der Befragung der Sachverständigen über alle Fraktionen hinweg deutlich geworden ist, in bestimmten Punkten — einen, nämlich die Herausnahme der Familienhilfeberechtigten, habe ich bereits genannt — erheblichen grundsätzlichen Bedenken nicht verschließen können. Auf diese Punkte, in denen wir von der Systematik der gesetzlichen Krankenversicherung abweichende Regelungen getroffen haben — ich behaupte nicht, daß sie nicht vertretbar seien, sonst könnten wir dem Gesetz nicht zustimmen —, werde ich am Schluß meiner Ausführungen eingehen. Doch zuvor möchte ich eine Würdigung der wichtigsten Grundgedanken des Gesetzes und vor allem auch der Verbesserungen vornehmen, die infolge der Anhörung von Sachverständigen, auf Grund von Eingaben und Petitionen und nicht zuletzt durch den Sachverstand der an der Gesetzgebung beteiligten Ausschußmitglieder und Ministerialbeamten zustande gekommen sind.Wie groß auch die Zahl der Studenten, Praktikanten, Examenskandidaten usw. exakt sein mag, die jetzt unter die neue gesetzliche Regelung fallen und Bundeszuschüsse zu ihrem Beitrag erhalten — man rechnet, daß es bis zu 40 % aller Studierenden i sein werden —, sie erhalten alle einen lückenlosen, vollständigen Krankenversicherungsschutz, der in Leistung und Beitrag ihrer sozialen und persönlichen Situation gerecht wird. Alle, für die anderweitig ausreichender Versicherungsschutz besteht, z. B. über Familienhilfe oder in einer privaten Krankenversicherung, sind von der Versicherungspflicht befreit bzw. können sich bis zum Ablauf von drei Monaten befreien lassen. Darüber hinaus sind großzügig Beitrittsrechte für alle anderen in der Ausbildung zum Beruf befindlichen Personen eröffnet worden; ausgenommen wurden nur die Schüler im allgemeinbildenden Schulbereich. Das gilt sowohl für Studienplatzbewerber als auch für Abendhauptschüler, Berufsaufbauschüler, Absolventen von Vorbereitungslehrgängen in Weiterbildungseinrichtungen, Fachschulen und Akademien. Ausdrücklich ist nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 RVO auch Teilnehmern an Sprachkursen oder Studienkollegs das Beitrittsrecht eröffnet worden. Damit können sich auch Ausländer, die an deutschen Universitäten studieren, versichern lassen.Nach Nr. 8 des gleichen RVO-Paragraphen gilt der Versicherungsschutz auch während eines Studienaufenthalts im Ausland. Wir hörten, daß immerhin 1 500 Studierende davon betroffen sein können.Als Beitragszahler kommen nur die Versicherten selbst in Betracht. Da ihnen kein Arbeitgeberanteil zusteht, tritt der Bund ein. Er zahlt für die Pflichtversicherten und die Privatversicherten einen Zu-
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Frau Verhülsdonkschuß in Höhe von zur Zeit 15 DM. Die Eigenleistung der Versicherten in Höhe von 25 DM reduziert sich für die BAFöG-Geförderten um 10 DM, um die der Förderungsbeitrag künftig erhöht werden soll. Die Belastung macht also für diesen Personenkreis nur 15 DM aus. Auf die grundsätzliche Problematik dieser Beitragsfestsetzung gehe ich am Schluß noch ein.Da den Versicherten großzügig Freiheit der Wahl des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung eingeräumt wird, was die positive Wirkung hat, daß der Personenkreis der studentischen Krankenversicherung sich auf sehr viele Kassen verteilt, stellen sich erhebliche Probleme der Beitragsabführung ein. Es ging nicht an, die Hochschulen und damit die Länderetats mit den entsprechenden Verwaltungskosten zu belasten. Auch den Krankenkassen ist bei der geringen, im Augenblick gerade knapp die realen Kosten deckenden Beitragshöhe ein hoher Verwaltungsaufwand nicht zuzumuten. Es war also eine einfache kostensparende Regelung zu finden, die auch den Interessen der Versicherten gerecht wird.In der Regel wird bei Semesterbeginn der Beitrag für ein halbes Jahr zu zahlen sein. Das Satzungsrecht der Kassen auf Änderung des Zahlungsmodus — z. B. monatliche Zahlung — bleibt natürlich bestehen. Die Studierenden müssen bei der Immatrikulation oder Rückmeldung Bescheinigungen über das Bestehen einer Krankenversicherung vorlegen.Es bleibt das Problem: Wie kann eine ordnungsgemäße Beitragszahlung gesichert werden? Das sonst übliche Lohnabzugsverfahren oder eine Zwangsbeitreibung scheiden bei diesem Personenkreis aus. Es blieb nur der Weg, durch Landesrecht notfalls Sanktionen zu erlassen, wie etwa Verweigerung der Immatrikulation oder Rückmeldung, wogegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken zu bestehen scheinen, wie ein einschlägiges Urteil beweist.Die Ausschußmitglieder waren sich aber im klaren, daß besser als möglicherweise unterschiedliche landesrechtliche Sanktionen eine generelle bundesgesetzliche Regelung ist. Nach Rücksprache mit den Bundesländern hat sich bei diesen die Bereitschaft ergeben, einer solchen Regelung zuzustimmen. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich infolgedessen dem vorliegenden interfraktionellen Antrag zur Änderung von § 1 Nr. 22 des Regierungsentwurfs, betreffend § 393 c RVO, angeschlossen . Damit sind die Hochschulen verpflichtet, bei Nichterfüllung der auferlegten Verpflichtungen durch die Studierenden die Einschreibung oder die Annahme der Rückmeldung zu verweigern. Nur so ist der Verwaltungsaufwand in Grenzen zu halten.Es besteht kein Zweifel, daß die getroffene Beitragsregelung, nämlich halbjährliche Zahlung am Semesterbeginn, für viele Studierende hart ist. Das gilt für BAFöG-Geförderte, aber sicher noch mehr für eine große Zahl nicht mit öffentlichen Mitteln geförderte Studenten, deren Einkommen oft weit unter dem BAFöG-Betrag liegt. Die BAFöG-Empfänger zahlen zudem pro Semester nur 90 DM selbst, die übrigen müssen 150 DM aufbringen.Die dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorgelegten Unterrichtungen durch die Bundesregierung auf Drucksache 7/2116 und Drucksache 7/2803 über die wirtschaftliche und soziale Sicherung des Studiums haben den Abgeordneten erneut deutlich gemacht, daß die wirtschaftliche Situation vieler Studierender unbefriedigend ist. Die Vertreter des Studentenwerks plädierten deshalb für monatliche Zahlung. Wenn jedoch nach Aussage der Sprecher der gesetzlichen Krankenkassen die Verwaltungskosten dann monatlich 5 bis 6 DM ausgemacht hätten, ist das bei einer Beitragshöhe von 40 DM nicht vertretbar.Bleiben wir bei der Beitragshöhe. Ist mit dem jetzt festgesetzten Beitrag von 40 DM die im Gesetzentwurf der SPD/FDP genannte Bedingung, daß die Krankenversicherung der Studenten grundsätzlich durch deren Beiträge finanziert wird, wirklich erfüllt? Zur Zeit kann das niemand definitiv sagen, aber auch nicht bestreiten. Die Kassen vermuten, daß der Beitrag schon zur Zeit zu niedrig ist, sicher aber ab 1976 bei den rapide, nämlich jährlich um 13 bis 15 % steigenden Kosten nicht ausreicht. Die gesetzliche Krankenversicherung will ab sofort die Leistungen an Studierende gesondert buchen. Ob die studentische Krankenversicherung defizitär sein wird oder nicht, werden wir also in Jahresfrist definitiv wissen. Ich bin ziemlich sicher, daß sich der Deutsche Bundestag in absehbarer Zeit erneut mit den finanziellen Konsequenzen dieses Gesetzes beschäftigen muß.Damit bin ich an dem Punkt der grundsätzlichen Bedenken, von denen ich am Anfang sprach. Es geht um die Frage, ob sich durch dieses neue Gesetz die Schere zwischen der erbrachten Beitragsleistung, die hier vom Gesetzgeber und nicht von der Selbstverwaltung der Versicherungsträger festgesetzt ist, und den entstehenden Kosten nicht allzu schnell zu Lasten der Solidargemeinschaft der Versicherten öffnet. Zwar mag versicherungsmathematisch das Risiko, auf die Lebenszeit und die spätere Beitragshöhe der Mitglieder der studentischen Krankenversicherung bezogen, für die Kassen gar nicht so uninteressant sein, wie man an der Werbung der Ersatzkassen um diesen Personenkreis erkennen kann; kurzfristig aber könnte sich für die Kassen eine Negativbilanz ergeben. Jedenfalls ist es, wie ich schon sagte, ein Abweichen von der Systematik der gesetzlichen Krankenversicherung, daß der Beitrag vom Gesetzgeber festgesetzt ist und, was die Eigenleistung von 25 DM anlangt, nicht voll dynamisiert wird.Als den Studierenden zumutbare Beitragsleistung wurden 5 % des derzeitigen Höchstförderungsbetrages nach BAföG — 500 DM — , das sind 25 DM, angesehen. Nur durch gesetzliche Anhebung des Förderungsbetrages ist also eine Erhöhung dieses Beitragsanteils zu erreichen. Die Versichertengemeinschaft wird also ohne Zweifel eine weitere Belastung, die eigentlich eine bildungspolitische ist, aufgeladen erhalten, obwohl wir alle wissen, daß die Kostenexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung gewaltig ist und wir alles tun müssen, diese in absehbarer Zeit in den Griff zu bekommen.
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12082 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Frau VerhülsdonkDie Belastungsfähigkeit der Studenten setzte allerdings der Beitragshöhe Grenzen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sund?
Bitte schön!
Frau Kollegin, wie würden Sie sich denn angesichts der von Ihnen hier geäußerten Kritik erklären, daß von Ihrer Fraktion nicht ein einziger Änderungsantrag im Laufe der Ausschußberatung gestellt worden ist?
Herr Kollege Sund, was Sie als Kritik bezeichnen, ist eine Feststellung. Ich habe von interfraktionellen Bedenken gesprochen, denn wir alle waren uns über die Durchbrechung der Systematik im klaren. Ich meine, wir sollten diese Bedenken der Redlichkeit halber hier auch vortragen und aussprechen und zu den Akten geben. Eine Änderung war nicht möglich aus den Gründen, die ich genannt habe: keine weitere Belastbarkeit der Studenten und des Bundeshaushalts. Ich bin gerade dabei, das noch einmal auszuführen, Herr Kollege Sund.
Ich sagte gerade, die Belastungsfähigkeit der Studenten setzte allerdings der Beitragshöhe Grenzen. Auch sozusagen „familienpolitische" Lasten kommen auf die gesetzliche Krankenversicherung zu, nämlich die Mitversicherung von Familienangehörigen von Versicherten, die an den gleichen niedrigen Beitragssatz von 40 DM angehängt ist. Das Prinzip der Solidarität der Arbeitnehmer, das unser System der sozialen Sicherung geprägt und seine bisherige Bewährung garantiert hat, muß künftig wieder stärker beachtet werden. Ausnahmen wie die studentische Krankenversicherung sollten Ausnahmen bleiben. Dies gilt um so mehr, als der Belastbarkeit der Versicherten und der Kassen aktuelle und zukünftige Zumutbarkeitsgrenzen gesetzt sind.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates enthielt demgegenüber keine starre Beitragslösung, sondern wollte die Festsetzung des Beitragssatzes dem System der Krankenversicherung entsprechend den Kassen überlassen. Diese hätten damit auch die Möglichkeit gehabt, kostendeckende Beiträge festzusetzen, ohne daß die Studenten wegen der vorgesehenen hälftigen Bundesbeteiligung stärker belastet worden wären. Es war nicht zuletzt die Enge des Bundeshaushaltes, die diesen Weg verbaute. Allerdings ist einzuräumen, daß die finanzielle Belastung des Bundes bei weitem nicht die errechneten 220 Millionen DM erreicht hätte, wenn die Bundesratslösung mit einer Befreiung der familienhilfeberechtigten Studenten kombiniert worden wäre, wie wir es jetzt tun. Übrigens war das im ursprünglichen Gesetzentwurf von Rheinland-Pfalz auch so vorgesehen. Die Differenz hätte für 1976 32 Millionen DM ausgemacht und eben nicht 220 Millionen DM.
Mir scheint, Bundesregierung und Bundestag haben allen Grund, sich der immer drängender werdenden grundsätzlichen Problematik redlich zu stel-
len. Wenn meine Fraktion, die CDU/CSU, diesem Gesetz insgesamt zustimmt, so tut sie es im Bewußtsein der zuletzt angesprochenen Probleme, die mehr als ein Schönheitsfehler in der sozialgesetzlichen Problematik sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spitzmüller.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Für die Fraktion der Freien Demokraten stimme ich dem Koalitionsentwurf eines Gesetzes über die Krankenversicherung der Studenten zu.Gleichzeitig stelle ich mit großer Genugtuung fest, daß die Opposition jenen Gesetzentwurf über die Krankenversicherung der Studierenden nicht weiter verfolgt, den der CDU-Sozialminister Dr. Geißler über den Bundesrat eingebracht hatte. Auf die nach diesem Entwurf vorgesehene Kostenbelastung des Bundes hatten wir schon bei der ersten Lesung hingewiesen. Aus liberaler Sicht ist der Geißler-Entwurf aber auch wegen anderer Weichenstellungen nicht akzeptabel. Das gilt insbesondere für den Vorrang, den dieser Entwurf der gesetzlichen Krankenversicherung zu Lasten der Privatversicherung einräumte. Würde der Vorschlag von Herrn Geißler Gesetz, dann könnte sich ein Student nur dann von der gesetzlichen Krankenversicherung befreien lassen, wenn er bereits bei Eintritt der Versicherungspflicht einen gleichwertigen Schutz in einer privaten Krankenversicherung hätte. So sieht also die von der Opposition so gern beschworene Wahlfreiheit des Bürgers in der Realität aus.
Von Wahlfreiheit könnte keine Rede sein; in Wahrheit bestünde nur die Möglichkeit, eine bereits vorhandene Pritvatversicherung weiterzuführen.Das wird nur deshalb so deutlich, weil die Christlichen Demokraten hier ausnahmsweise einmal einen ausformulierten Alternativantrag vorgelegt haben.
Wir Freien Demokraten können weiter feststellen, daß der Initiative von Herrn Geißler alle Länder der Bundesratmehrheit zugestimmt haben, also auch der Freistaat Bayern. Kenner der Materie wissen, was das bedeutet; denn Bayern hatte sich ja zunächst anders festgelegt.Demgegenüber haben wir in dem Koalitionsentwurf erreicht, daß der Abschluß des privaten Versicherungsvertrages noch nach Eintritt der Versicherungspflicht nachgeholt werden kann. Diese Regelurig in Verbindung mit den Beitrags- und Zuschußvorschriften stellt eine kostenneutrale Wahlfreiheit sicher. Diese Wahlfreiheit ist ein entscheidendes Merkmal liberaler Sozialpolitik. Es ist kein Geheimnis, daß hier auch bei manchen Sozialdemokraten andere Vorstellungen bestehen. Aber was hier und heute zählt, sind die Ergebnisse, die wir mit den Sozialdemokraten gemeinsam erreichen konnten; Er-
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Spitzmüllergebnisse, denen sich dann sogar die CDU/CSU angeschlossen hat. Das stellen wir mit großer Zufriedenheit fest.Die Wahlfreiheit ist für die Freien Demokraten nicht nur im Verhältnis von privater und gesetzlicher Krankenversicherung von Bedeutung. Wahlfreiheit heißt für uns auch Gleichrangigkeit von RVO-Kassen und Ersatzkassen. Auch hier macht ein Vergleich der beiden Gesetzentwürfe deutlich, daß die Zuständigkeitsregelung des Geißler-Entwurfs die Ersatzkassen schlechter stellt als der Koalitionsentwurf. Für alle, die die Ausführungen von Minister Geißler hier in der sozialpolitischen Debatte des Deutschen Bundestages am 16. Januar 1975 über die Ersatzkassen verfolgt haben, kann das allerdings kein Zufall sein.Das in RVO-Kassen, Ersatzkassen und Privatversicherungen gegliederte System unserer Krankenversicherung ist für die Freien Demokraten kein Selbstzweck. Uns geht es darum, den Trägern dieser gegliederten Krankenversicherung gleiche Wettbewerbschancen zu geben, weil eine solche Wettbewerbssituation allein im Interesse des einzelnen Versicherten liegt. Nachbarländer mit Einheitsversicherungen bieten da genügend Anschauungsunterricht.Zugleich verhindert die gegliederte Krankenversicherung eine Konzentration gesellschaftspolitischer Macht. Die mit ihr verbundene Wahlfreiheit gibt dem einzelnen einen echten Entscheidungsspielraum bei der Form seiner Vorsorge gegen Krankheit. Das stärkt wiederum seinen Willen zur Eigenverantwortung auch gegenüber der Versichertengemeinschaft. Auch darin liegt nach unserer Auffassung ein Beitrag zur Lösung der Kostenprobleme in der Krankenversicherung.Es bleibt festzuhalten, daß in der Vergangenheit mit der fortgesetzten Einbeziehung weiterer Personenkreise in die gesetzliche Krankenversicherung dieser Wille zur Eigenverantwortung nicht gerade gestärkt worden ist. Diese Fehler werden in dem Koalitionsentwurf zur Krankenversicherung der Studenten nicht wiederholt. Das Prinzip kostenneutraler Wahlfreiheit ist gesetzlich verankert. Jeder Student kann frei entscheiden, ob er Mitglied bei einer Ortskrankenkasse, einer Ersatzkasse oder bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen werden will.Dieser Konzeption entspricht es, daß die Studenten für eine Weiterversicherung keine Sonderrechte erhalten. Es bleibt vielmehr bei der allgemeinen Vorschrift, daß das Recht zur Weiterversicherung an eine versicherungspflichtige Beschäftigung anknüpft. Auch hier hatte der Geißler-Entwurf zu Lasten des gegliederten Systems eine andere Weichenstellung vorgesehen.Auf die Regelung für die familienversicherten Studenten sind meine Vorredner bereits ausführlich eingegangen. Sie entspricht den Vorstellungen der Freien Demokraten und denen der Studentenverbände.Über die Höhe des Eigenbeitrages gehen die Auffassungen naturgemäß auseinander. Der kostendekkende Beitrag in der gesetzlichen wie in der priva-ten Krankenversicherung liegt schon heute über 40 DM monatlich. Die Haushaltssituation des Bundes läßt einen generellen Zuschuß über die vorgesehenen 15 DM monatlich hinaus gegenwärtig leider nicht zu. Die Studenten, die nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz gefördert werden, erhalten aber einen weiteren Zuschuß von 10 DM monatlich, so daß der Eigenbeitrag 15 DM monatlich beträgt. Die Belastung für die übrigen Studenten verkennen wir Freien Demokraten keineswegs. Wir halten es aber nicht für vertretbar, die Krankenversicherung der Studenten über die Solidargemeinschaft der krankenversickerten Arbeitnehmer zu subventionieren. Eine solche Subventionierung wird im übrigen erfreulicherweise auch von den Studentenverbänden abgelehnt. Die von Frau Verhülsdonk angesprochenen Sorgen teilen wir, aber keineswegs in dem Ausmaß, wie sie sie hier an die Wand gemalt hat. Es kann sich hier nur um kleine Beträge handeln.
Meine Damen und Herren, mir lag daran, für die FDP die tragenden Grundsätze der Neuregelungen herauszustellen. Weitere Einzelheiten des Koalitionsentwurfes und die in der Ausschußberatung beschlossenen Änderungen wurden bereits in der heutigen Debatte behandelt. Deshalb möchte ich nur noch die Verfahrensvorschriften kurz ansprechen.Der FDP kam es darauf an, die Hochschulverwaltungen so weit wie möglich vom Beitrags- und Meldeverfahren zu entlasten. Dem trägt die Neufassung der entsprechenden Vorschriften durch den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechnung. Die noch zu erlassenden Ausführungsbestimmungen ermöglichen in Anlehnung an das Deckungskartenverfahren in der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung eine einfache und zügige Abwicklung. Eine Nebenbemerkung: Ein Blick in das private Versicherungsgewerbe vermittelt auch dem Gesetzgeber manchmal Anregungen, wie man etwas verwaltungsmäßig sachlich und richtig regeln könnte. Also auch hier finden wir den Beweis, daß ein gegliedertes System uns unter verschiedenen Möglichkeiten nach vorne bringt.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend bleibt folgendes festzustellen. Die Neuregelungen für den Krankenversicherungsschutz der Studenten fügen sich konsequent in das gegliederte System ein. Sie verwirklichen den freiheitlichen Sozialstaat in einem weiteren Punkt und verdienen ohne Einschränkung das Markenzeichen „liberal". Wir gehen davon aus, daß die Neuregelungen nach der zügigen und konstruktiven Beratung im Deutschen Bundestag rechtzeitig zu Beginn des Wintersemesters 1975/ 76 in Kraft treten können. Unser Appell richtet sich auch an den Bundesrat, das Seinige für dieses Gesetz zu tun.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
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Präsident Frau RengerWir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf in zweiter Beratung. Ich rufe § 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 7/3673 ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU und FDP vor. Der Antrag wurde bereits begründet. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Wer § 1 in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Ich rufe nunmehr die §§ 3 bis 12 in der Ausschußfassung sowie Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Bestimmungen zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — In zweiter Lesung ist es so beschlossen.Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zurdritten Beratung.Hierzu hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Buschfort das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt, daß mit dem von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Gesetzentwurf für über 800 000 Studenten ein umfassender gesetzlicher Krankenversicherungsschutz eingeführt werden soll. Damit wird ein weiteres Stück sozialer Sicherung während des Studiums geschaffen.Durch die Ausbildungsförderung werden den Studierenden Leistungen zur Sicherung des Unterhalts gewährt. Mit der Förderung des Wohnheimbaus wurde die Wohnungssituation der Studenten verbessert. Bereits seit 1971 sind die Studierenden während ihrer Aus- und Fortbildung an den Hochschulen in der Unfallversicherung geschützt. In der Rentenversicherung kommt den Studenten die Zeit ihrer Ausbildung unter bestimmten Voraussetzungen als Versicherungsjahre zugute. Mit dem Gesetz über die Krankenversicherung der Studenten werden diese zukünftig während des Studiums auch gegen die Risiken der Krankheit gesichert sein. Damit, meine Damen und Herren, werden die Studierenden wie andere Bevölkerungsgruppen voll und ganz in das System der Gesundheitsversorgung einbezogen.Daß dieser Schritt notwendig ist, ist unbestritten. Die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung für Studenten wird von den Beteiligten gewünscht und von den Hochschulen und Studentenwerken für erforderlich gehalten. Auch die beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bestehende Sachverständigenkommission für die Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung hat eine entsprechende Empfehlung abgegeben.So werden durch diese Vorlage die eingeschriebenen Studenten der staatlichen und der staatlich anerkannten Hochschulen sowie die Praktikanten ein-bezogen, die eine in Studien- oder Prüfungsordnungen vorgeschriebene berufspraktische Tätigkeit verrichten. Darüber hinaus wird den in Ausbildung befindlichen Personen — mit Ausnahme der Schüler im allgemeinen Schulbereich — das Recht zum freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht. Hierunter fallen auch solche Personen, die sich auf ihr Studium vorbereiten, sowie unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen auch Studenten, die an einer außerhalb der Bundesrepublik Deutschland gelegenen wissenschaftlichen Hochschule studieren.Der Gesetzentwurf regelt auch das schwierige Problem befriedigend, die Beitragsbelastung für die Studenten sozial tragbar zu halten. Dazu gehört auch, daß Studenten, die durch die Familienhilfe der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend geschützt sind, diesen Schutz weiterhin ohne Beitragsbelastung behalten. Die selbstversicherten Studenten werden einen monatlichen Beitrag von 25 DM zu zahlen haben, der sich, soweit sie nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz gefördert werden, um 10 DM auf 15 DM reduziert.Studenten haben keinen Arbeitgeber, der für sie die Hälfte des Krankenversicherungsbeitrags trägt. Deshalb hat der Bund die Verpflichtung übernommen, für jeden beitragspflichtigen Studenten monatlich 15 DM als Zuschuß zu zahlen. Der Haushalt wird dadurch im Jahre 1975 voraussichtlich mit 15 Millionen DM und 1976 mit 65 Millionen DM belastet.Hinzu kommt die Belastung aus der erhöhten Ausbildungsförderung, die für Bund und Länder im Jahre 1975 etwa 2,5 Millionen und im Jahre 1976 etwa 10,3 Millionen DM betragen wird. Die öffentliche Hand leistet damit einen erheblichen Beitrag zur sozialen Sicherung der Studenten.Der Bundeszuschuß ermöglich auch eine Beitragsregelung, die nicht zu einer nennenswerten Belastung der Versichertengemeinschaft führt. Wenn heute Studenten von einzelnen Versicherungsträgern bereits für 17 bis 19 DM monatlich versichert werden, bedeutet ein monatlicher Gesamtbeitrag von 40 DM eine erhebliche Verbesserung der Einnahmesituation dieser Versicherungsträger.
Trotzdem ist die Einführung der studentischen Krankenversicherung für die Bundesregierung Anlaß, die finanziellen Auswirkungen sorgfältig zu beobachten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Gesetz soll zum Beginn des Wintersemesters 1975/76 in Kraft treten. Die Zeit für die Vorbereitung der Durchführung des Gesetzes bei den Hochschulverwaltungen und den Verwaltungen der Versicherungsträger ist recht kurz. Es wird besonderer Anstrengung und einer intensiven Zusammenarbeit bedürfen, um die studentische Krankenversicherung ohne Schwierigkeiten zu dem geplanten Zeitpunkt anlaufen zu lassen.Die Bundesregierung appelliert an alle Verantwortlichen, sich hierfür einzusetzen, und dankt
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Parl. Staatssekretär Buschfortdenen, die sich im bisherigen Rahmen um die Krankenversorgung der Studenten bemüht haben.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz im ganzen zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Wir haben noch über den Punkt 4 b) abzustimmen. Dazu liegt ein Antrag des Ausschusses vor. Wer dem Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 7/3640 unter Nr. 2 a), „den vom Bundestag eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Krankenversicherung der Studierenden ... im Hinblick auf die Beschlußfassung zu Nummer 1 für erledigt zu erklären", zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Es liegen zwei weitere Ausschußanträge vor. Wer dem Antrag des Ausschusses unter Nr. 2 b) auf Drucksache 7/3640, „den Antrag des Abg. Rollmann und der Fraktion der CDU/CSU betr. Neuordnung der studentischen Krankenversicherung — Drucksache 7/1096 — im Hinblick auf die Beschlußfassung zu Nummer 1 für erledigt zu erklären", zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Wer dem Antrag des Ausschusses unter Nr. 3 auf Drucksache 7/3640, „die zu den Gesetzentwürfen eingegangenen Eingaben und Petitionen für erledigt zu erklären", zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
a) Große Anfrage der Abgeordneten Rollmann, Frau Stommel, Kroll-Schlüter, Burger, Frau Schleicher, Orgaß, Sauer , Braun und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Situation der Kinder in Deutschland
— Drucksachen 7/2414, 7/3340 —
b) Beratung des Berichts der Bundesregierung über die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland — Zweiter Familienbericht — sowie die Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Zweiten Familienbericht
— Drucksache 7/3502
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates.
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Das Wort in der Aussprache hat der Herr Abgeordnete Rollmann.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat bereits 1966 zum erstenmal eine Große Anfrage zur Situation der Kinder in Deutschland im Bundestag eingebracht. Von dieser Großen Anfrage, der Antwortder Bundesregierung und der Debatte im Bundestag sind damals wichtige Anstöße für eine Verbesserung der Situation der Kinder in Deutschland ausgegangen.Wenn die CDU/CSU-Fraktion acht Jahre später erneut eine Große Anfrage zum gleichen Thema stellt, dann hat dieses zwei Gründe. Zum einen wollen wir prüfen, wie sich im Vergleich zu damals die Situation der Kinder in unserem Lande entwickelt hat. Zum anderen sind inzwischen neue Fakten und Daten über die Lebensverhältnisse der Kinder in unserem Lande erforscht worden, die uns besorgt, ja, die uns alarmiert haben. Ganz offensichtlich ist es um die Situation der Kinder in unserem Lande bedeutend schlechtergestellt, als die Öffentlichkeit bisher angenommen hat.Aus diesem Grunde auch ist diesmal unsere Große Anfrage so viel umfassender, so viel detaillierter gefaßt als damals. Wir danken der Bundesregierung für die Beantwortung dieser Großen Anfrage, wenngleich wir feststellen müssen, daß die Regierung auf viele unserer Fragen nicht eingegangen ist und uns viele ihrer Antworten nicht befriedigen können. Die große Chance, umfassend die Situation der Kinder in Deutschland darzustellen und qualifizierte Konzepte für eine Verbesserung ihrer Situation vorzulegen, hat die Regierung nicht wahrgenommen. In ihrer Antwort versucht die Bundesregierung, hinter vielen Worten listenreich zu verbergen, wie kläglich es weithin um die Situation der Kinder in unserem Lande bestellt ist, wie notwendig eine gezielte Politik für das Kind wäre und wie sehr es ihr an einem Konzept für eine solche Politik mangelt. Aus diesem Grunde auch ersuchen wir die Bundesregierung in unserem Antrag, der Verbesserung der Situation der Kinder in Deutschland mehr als bisher ihre Aufmerksamkeit und ihre Initiative zuzuwenden und dem Bundestag bis zum 30. Juni 1977 einen umfassenden Bericht über die Situation der Kinder mit konkreten Vorstellungen für eine Verbesserung dieser Situation vorzulegen.Wie stellt sich uns Christlichen Demokraten und Christlichen Sozialen heute auf Grund der Antwort der Bundesregierung und unserer eigenen Erkenntnisse die Situation der 14 Millionen Kinder in der Bundesrepublik Deutschland dar? Was halten wir für erforderlich, um die Situation der Kinder in unserem Hande nachhaltig zu verbessern?In unserem Lande werden weniger Kinder denn je geboren. Seit dem Beginn dieses Jahrzehnts haben wir ein von Jahr zu Jahr steigendes Geburtendefizit. 1974 erblickten 200 000 Kinder weniger das Leben, als zur Bestandserhaltung unseres Volkes notwendig ist.
Im ersten Quartal 1975 ist die Zahl der Geburten gegenüber dem Vorjahr noch einmal wieder um fast 7 °/o gefallen.Die Geburtenrate, die Zahl der Lebendgeborenen je 1000 Einwohner, hat— wie selbst der nun bevölkerungspolitisch wahr-lich nicht engagierte „Spiegel" feststellen mußte —
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12086 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Rollmannmit dem Wert 10 1974 einen historischen Tiefstand erreicht. Die Bundesregierung rangiert am Ende sämtlicher Länder der Welt, in Europa weit hinter Ländern wie Frankreich , Italien (16) oder Schweden (13,5). Im internationalen Vergleich der allgemeinen Fruchtbarkeitsziffern rangiert die Bundesrepublik mit 51,1 Lebendgeborenen je 1 000 Frauen an letzter Stelle der Welt, weit hinter Industrienationen wie den USA (87,6) der Sowjet-Union (65,2) und Japan (76,1) und traditionell geburtenschwachen Ländern wie Finnland (63,4). Sie ist, nach allen verfügbaren Ziffern und Daten, am Geburten-Tiefpunkt nicht nur ihrer eigenen Geschichte, sondern weltweit und absolut angelangt.Soweit der „Spiegel".Schon, meine Damen und Herren, zeichnet sich ein Bevölkerungsschwund in Millionenhöhe ab. So viele kluge Erklärungen es für diesen Geburtenrückgang auch geben mag — in diesen Zahlen spiegeln sich auch die Enttäuschungen der vergangenen Jahre und die gesunkenen Zukunftserwartungen unseres Volkes wider. Die Bundesregierung hat auf diese alarmierende Entwicklung bisher keine andere Antwort gefunden als die Errichtung eines Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung. Mit unserem Antrag wollen wir die Regierung veranlassen, dem Bundestag bis zum 31. Dezember dieses Jahres — unter Berücksichtigung des Geburtenrückganges — Modellrechnungen für die Bevölkerungsentwicklung in den kommenden Jahrzehnten vorzulegen, damit wir uns über die Frage schlüssig werden können, ob und in welchem Umfang nunmehr eine aktive Bevölkerungspolitik notwendig ist.Trotz Kindergeld und Steuerreform ist der Familienlastenausgleich so unzulänglich geblieben, daß ein durchschnittlich verdienender Familienvater mit mehreren Kindern mit seinem Gesamteinkommen kaum über dem Sozialhilfeanspruch liegt. Der Lebensstandard einer Familie mit Kindern liegt um so stärker unter dem Lebensstandard eines kinderlosen Ehepaares, je mehr Kinder diese Familie hat. Der zweite Familienbericht stellt zutreffend fest:Je größer die Familien sind, desto niedriger sind die durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen.1965 bekam ein Familienvater mit drei Kindern noch 18 % seines Einkommens durch den Familienlastenausgleich. 1974 noch 8 %, 1975 durch die Kindergeldreform dann wieder 13 %, und 1978 werden es dann wieder nur noch 9,5 % sein.Selbst das Sozialbudget der Bundesregierung für das Jahr 1974 gibt zu:Die Leistungen für die Familie nehmen unterproportional zur Gesamtentwicklung des Sozialbudgets zu. Ihr Anteil sinkt von 20 % 1968 auf etwa 15 % in den Jahren 1973, 1974 und 1978 ...Wie kann die Bundesregierung bei dieser eindeutigen Sachlage die Stirn haben, in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zu leugnen, daß die Fürsorge des Bundes für Familien mit Kindern unzureichend ist!
Gerade teilt das Statistische Bundesamt mit, daß die Lebenshaltungskosten für ein Kind im vergangenen Jahr um nicht weniger als 7,6% gestiegen sind.Auch die Familienberichtskommission „ist nicht davon überzeugt, daß mit der Kindergeldregelung eine die Sozialisationsleistung der Familie hinreichend fördernde Hilfe gegeben wird. Die Kindergeldbeträge müssen" — so sagen die Verfasser des Zweiten Familienberichts — „nicht zuletzt auch wegen der zwischenzeitlich eingetretenen Teuerung der Lebenshaltung als unzureichend angesehen werden. Die Regelsätze für die Lebenshaltung nach § 22BSHG liegen derzeit bereits über den Kindergeldbeträgen."Ich glaube, man kann insgesamt sagen: Je größer und je ärmer die Familien in unserem Lande sind, um so geringer ist die Fürsorge der Bundesregierung für diese Familien.
Mit ihrem mangelhaften Familienlastenausgleich setzt die Bundesregierung unaufhörlich eine der Ursachen für den Geburtenrückgang und die Ursache für den schlechten Lebensstandard vieler Familien in unserem Lande.Wir Christlichen Demokraten und Christlichen Sozialen haben uns bei der Kindergeldreform vergeblich um mehr Kindergeld für das vierte und jedes weitere Kind bemüht, denn vor allen Dingen die kinderreichen Familien sind es doch, die sich in Not befinden. Die Unionsparteien waren es, die bei der Kindergeldreform vergeblich die gesetzliche periodische Anpassung des Kindergeldes an die Entwicklung der Einkommen und der Lebenshaltungskosten verlangt haben, wie dies ständig mit den Renten und anderen Sozialleistungen geschieht.Das von uns regierte Saarland hat im vergangenen Jahr ein staatsverbürgtes und zinsbegünstigtes Familiengründungsdarlehen eingeführt, das jungen Ehepaaren die Gründung einer Familie erleichtern soll und je nach der Kinderzahl nur teilweise oder gar nicht zurückgezahlt zu werden braucht.Zur Frage der Höhe der Säuglingssterblichkeit möchte ich mich nicht auf den Streit der Statistiker einlassen. Sie liegt — um mit der Bundesregierung selbst zu sprechen — höher, als sie nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf der Grundlage des bestehenden Gesundheitssystems sein könnte. 1973 entfielen auf 1 000 Geburten 22,7 Totgeburten und Sterbefälle im ersten Lebensjahr. Mehr als 10 000 Kinder versterben jährlich allein als Frühgeburten, und im Vergleich mit 25 europäischen Ländern nimmt die Bundesrepublik Deutschland nur den 14. Platz ein — ein wahrhaft beschämender Rang für unser Land!Unsere Fragen nach der Entwicklung der Müttersterblichkeit hat die Bundesregierung gar nicht erst beantwortet. Ich will Ihnen die Daten nennen. Auf 100 000 lebend Geborene starben 1972 in der Bundesrepublik Deutschland 42,7 Mütter. Im Ausland waren es bedeutend weniger, in Schweden z. B. nur 10 und in Dänemark nur 9 Mütter. 1973 hat sich die Müttersterblichkeit in Deutschland noch weiter verschlechtert; es starben in jenem Jahr 46,4 Mütter.
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RollmannWir sind der Meinung, daß der Kampf gegen die Säuglings- und Müttersterblichkeit in diesem Lande intensiver als bisher geführt werden muß. Aus diesem Grunde beantragen wir, daß Bund und Länder umgehend eine unabhängige Sachverständigenkommission berufen, die Vorschläge machen soll, wie die Säuglings- und Müttersterblichkeit endlich auf ein tragbares Niveau gesenkt werden kann. Wir gehen mit diesem Antrag bewußt über die Entschließungen der Konferenzen der Gesundheitsminister der Länder hinaus.Fast 900 000 Kinder unter 15 Jahren wachsen als Scheidungswaisen, als Halbwaisen und als nichteheliche Kinder in unvollständigen Familien heran. Fast 100 000 Kinder und Jugendliche aus unvollständigen Familien leben von ihren Eltern getrennt in Heimen und in Pflegefamilien. 65 % der Minderjährigen in freiwilliger Erziehungshilfe, 54 % der Minderjährigen in Fürsorgeerziehung stammen aus unvollständigen Familien, weil gerade die alleinstehende Mutter mit den Erziehungsproblemen ihrer Kinder zu lange alleingelassen wird.Die Mütter der Kinder aus unvollständigen Familien sind überproportional außerhäuslich erwerbstätig. Während 1973 39 % der Mütter in vollständigen Familien mit Kindern unter 15 Jahren berufstätig waren, betrug dieser Prozentsatz bei den verwitweten Müttern 44 %, bei den geschiedenen Müttern 73 % und bei den ledigen Müttern 84 %.Trotz dieser hohen Erwerbstätigkeitsquote war 1973 das monatliche Durchschnittseinkommen der alleinstehenden Mütter im Vergleich zu dem der verheirateten Väter extrem niedrig. Während die Männer ein Einkommen von 1 370 DM hatten, zu dem in einem Drittel aller Ehen noch das Einkommen der erwerbstätigen Ehefrau hinzukam, hatten die verwitweten Mütter ein Einkommen von 710 DM, die geschiedenen Mütter von 850 DM und die ledigen Mütter von 820 DM.Was die Realisierung von Unterhaltsansprüchen angeht, so ist — nach dem Zweiten Familienbericht — „die Situation der unvollständigen Familien häufig durch Phasen wirtschaftlicher Instabilität und Unsicherheit gekennzeichnet: Zahlungsausfälle wegen ungeklärter Unterhaltsansprüche, schwebender Unterhaltsklagen, Zahlungsunwilligkeit und -unfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten" sind nach dem Zweiten Familienbericht an der Tagesordnung. In vielen anderen Fällen sind die Unterhaltsleistungen unangemessen niedrig, weil sie nicht an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden.Aus diesem Grunde macht der Zweite Familienbericht den Vorschlag, Unterhaltsersatz- und Vorschußkassen nach skandinavischem Vorbild einzurichten, welche „die Funktion hätten, bei Zahlungsausfällen oder ungeklärten Unterhaltsansprüchen die Zahlungen in Höhe der Unterhaltssätze zu ersetzen bzw. vorzuschießen". Obwohl dieser Vorschlag wahrlich nicht neu ist, sondern von der Bundesregierung bereits seit Jahren geprüft wird, bezieht die Bundesregierung zu diesem Vorschlag wiederum keine Stellung, sondern verweist auf eventuelle Verbesserungen des Bundessozialhilfegesetzes.Bisher hat sich aber das Bundessozialhilfegesetz nicht als ein geeignetes Instrument erwiesen, um die wirtschaftliche Lage der unvollständigen Familien zu verbessern und zu stabilisieren. Es ist an der Zeit, daß die Bundesregierung in der Frage der Unterhaltsersatz- und Vorschußkassen endlich einmal Farbe bekennt!
2,7 Millionen Mütter mit 4,4 Millionen Kindern unter 15 Jahren sind außerhäuslich erwerbstätig. Sogar 700 000 Mütter mit 800 000 Kindern unter drei Jahren gehen einer Arbeit nach. Kaum etwas hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so erhöht wie die Zahl der erwerbstätigen Mütter: von 1,5 Millionen im Jahre 1950 auf 2,7 Millionen heute, also um 79 %.Um ihrer Berufstätigkeit nachgehen zu können, haben Eltern beinahe 20 000 Kinder und Jugendliche in Heimen und in anderen Familien untergebracht und verdienen dann durchschnittlich bedeutend weniger, als die Heimunterbringung ihres Kindes heute kostet. Die anderen Kinder werden tagtäglich zwischen ihren berufstätigen Müttern auf der einen Seite und Verwandten, Kinderkrippen, Tagespflegestellen oder Tagesmüttern auf der anderen Seite hin-und hergerissen.Nach einer Mikrozensusuntersuchung aus dem Jahre 1969 sind von 3,2 Millionen Kindern unter drei Jahren allein 108 000 den halben oder den ganzen Tag in einer Institution, deren „deprivationsgefährdende Wirkung auf diese Altersstufe" hinreichend bekannt ist, untergebracht.Warum, so frage ich Frau Bundesminister Focke, folgen Sie nicht unserem Gedankengang, den berufstätigen Müttern soviel von dem Geld, das die Heimunterbringung ihrer Kinder kostet, zu geben, daß diese Mütter zu Hause bleiben und sich um ihre Kinder kümmern können?
Der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage entnehmen wir, daß die Bundesregierung dem Wohnen von Familien mit Kindern in der „Bauform Hochhaus" immer noch keine schädlichen Wirkungen zurechnet, obwohl sie andererseits selbst einräumen muß, daß „Kleinkinder in den oberen Geschossen von Hochhäusern ohne Begleitung kaum einen Spielplatz erreichen können und deshalb mehr Zeit innerhalb der Wohnung verbringen als gleichaltrige Kinder, die leichteren Zugang zu Spielgelegenheiten haben".Der Zweite Familienbericht beurteilt das Wohnen von Familien mit Kindern im Hochhaus eindeutig negativ. In Belgien ist kürzlich beschlossen worden, daß dort im sozialen Wohnungsbau keine Hochhäuser mehr errichtet werden.
Nach den Untersuchungen von Professor Biermann vom Psychohygienischen Institut des Landkreises Köln „nehmen kindliche Verhaltensstörungen mit zunehmender Höhe der Stockwerke eines Wohnraums zu". Nach den Untersuchungen von Oeter
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12088 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Rollmann„erkranken Mütter und Kinder in Etagenwohnungen weitaus häufiger als Mütter und Kinder in Einfamilienhäusern. Ihre Morbidität ist um 57 % höher".Meine Damen und Herren, wir begreifen nicht, wie sich die Regierung diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen so beharrlich verschließen kann.Die Bundesregierung macht in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage keine Angaben zur Wohnraumversorgung unserer Familien, aber dem Gutachten „Familie und Wohnen" des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit entnehmen wir, daß „zirka 45 % aller Kinder unter 18 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland in Wohnungen leben, die der Mindestnorm nicht entsprechen".
In dem Gutachten wird darauf hingewiesen, „daß sich die mit Wohnraum unterversorgten Kinder auf Haushalte mit überdurchschnittlicher Kinderzahl und niedrigem Einkommen konzentrieren". Der Zweite Familienbericht macht auf die besonders ungünstige Wohnungssituation kinderreicher, junger und unvollständiger Familien sowie von Familien mit behinderten Kindern aufmerksam. Das „macht wohl am deutlichsten", so urteilt Ihr eigener Beirat, Frau Bundesminister Focke, „in welchem Maße die Familien mit Kindern durch die bisherige Wohnungsbaupolitik vernachlässigt worden sind".
Meine Damen und Herren, ein vernichtenderes Urteil als in diesem Gutachten Ihres eigenen Beirates konnte über die Wohnungspolitik der SPD, die nun seit bald zehn Jahren den Bundeswohnungsbauminister stellt, wohl überhaupt nicht gefällt werden.
Die Bundesregierung geht nirgends auf die Feststellungen und Schlußfolgerungen dieses Gutachtens ein. Wir möchten von Ihnen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, bis zum 31. Dezember 1975 hören, welche Konsequenzen Sie aus diesem Gutachten und aus den Vorschlägen Ihres Beirats für Ihre Wohnungspolitik ziehen, insbesondere zur Frage der Reform der Wohngeldgesetzgebung und der Einführung eines Prämiensystems für Familien mit drei und mehr Kindern.Frau Bundesminister Focke, Sie können doch dieses Gutachten nicht einfach dadurch zu den Akten legen, daß Sie es in Ihrer Schriftenreihe veröffentlichen und sich auf die Bemerkung beschränken, daß Sie sich nicht „in allen einzelnen Punkten der Analysen und Empfehlungen die Auffassung des Beirats zu eigen machen".Auf unsere Frage teilt die Bundesregierung mit, daß die Ergebnisse der Wohnungsstichprobe von 1972 den Schluß zulassen, daß in rund 128 000 Einfamilienhaushalten nicht alle Kinder ein eigenes Bett haben. Daraus „kann jedoch nicht" — und ich zitiere die Bundesregierung — „auf einen norm-widrigen Zustand im Einzelfall geschlossen werden" .
Meine Damen und Herren, ich glaube, man muß diesen Satz zweimal hören, um seine ganze Ungeheuerlichkeit zu begreifen: Aus der Tatsache, daß nicht alle Kinder in diesem Lande ein eigenes Bett haben, kann nach Auffassung der Bundesregierung „nicht auf einen normwidrigen Zustand im Einzelfall geschlossen werden".Nehmen Sie zur Kenntnis, meine Damen und Herren von der sozialliberalen Koalition, daß die CDU/CSU-Fraktion es für einen absolut normwidrigen Zustand im Einzelfall wie im allgemeinen hält, daß nicht alle Kinder in diesem Lande ein eigenes Bett haben,
und daß wir ein Konzept der Bundesregierung zurBeseitigung dieses unmöglichen Zustands erwarten.Wie steht es, so frage ich in diesem Zusammenhang, um das mehrfach angekündigte „Gesetz zur Sicherung gesunder Wohnverhältnisse"?Die Bundesregierung schätzt die Zahl der Obdachlosen auf 500 000, der Familienbericht auf 500 000 bis 800 000 Menschen, von denen mehr als die Hälfte Kinder und Jugendliche sind. Die Bundesregierung äußert sich in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage über die Situation dieser Kinder und Jugendlichen nicht. Der Familienbericht weist auf die mangelhaften Entfaltungschancen der Kinder und Jugendlichen in Lagern und Notunterkünften hin. „Die Kinder von Obdachlosenfamilien", so sagt der Zweite Familienbericht, „werden durch die Sozialisationseinflüsse, die sie erfahren, dazu disponiert, selbst wieder in den Bann der Obdachlosigkeit" zu geraten. Wir haben diesen Worten des Familienberichts nichts hinzuzufügen.In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage entwickelt die Bundesregierung überhaupt kein Konzept zur Verbesserung der Situation dieser Kinder und Jugendlichen. In ihrer Stellungnahme zum Familienbericht äußert sie sich nur über die Verbesserung der Wohnverhältnisse der Obdachlosenfamilien. Wir halten das als Aussage einer Regierung, die doch mehr Chancengleichheit schaffen wollte, nicht für ausreichend.
Wie wir der Antwort auf unsere Große Anfrage entnehmen, hält die Bundesregierung noch immer an der berüchtigten DIN 18 011 fest, die für ein Zweibett-Kinderzimmer nur „eine zur Spielfläche erweiterte Bewegungsfläche von 120 X 180 cm" vorsieht, weil die von uns geforderten 5 qm Spielfläche von der Bundesregierung wegen der Auswirkungen auf die Höhe der Mieten für „fraglich" gehalten werden. Auch in größeren Wohnblocks sind kaum Kindergemeinschaftsräume vorhanden, und draußen fehlt es an Spielplätzen. Über den Fehlbestand an Spielplätzen gibt die Bundesregierung in ihrer Antwort nur Schätzungen wieder, die sich auf 20 000 bis 100 000 fehlende Spielplätze in unserem Lande be-
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RollmannI laufen. Viele der vorhandenen Spielplätze — das hat noch jüngst das Nürnberger Städtebauinstitut festgestellt — sind falsch geplant und befinden sich in einem erbärmlichen Zustand. Ihre Ausstattung spricht fast ausschließlich den Spieltrieb der kleineren Kinder, nicht aber den Bewegungs- und Bolzdrang der größeren Kinder an. Viele Spielplätze sind doch heute in unserem Lande eher Hundetoiletten als eben Spielplätze!Seit 1939 bestimmt die Reichsgaragenordnung, daß mit jeder neuen Wohnung auch ein Autoabstellplatz zu errichten ist. Gesetze für die Anlage und Unterhaltung von Spielplätzen, Spielplatzgesetze, gibt es jedoch erst seit einigen Jahren, und das noch nicht einmal in allen Bundesländern. Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, daß die Bundesregierung endlich nach § 25 JWG die Schaffung von Spielplatzgesetzen in allen Bundesländern anregt.Rund 70 000 Kinder verunglücken in unserem Lande jährlich im Straßenverkehr, davon 1973 1 800 tödlich. Von der Gesamtzahl der Getöteten und Verletzten, also von den Verunglückten, entfallen 13 bis 14 % auf Kinder bis zu 15 Jahren. Von 100 000 Kindern verunglückten 1971/72 in Deutschland 364, in den Niederlanden 216, in Dänemark 212, in Frankreich 156 und in Italien 110. Wir hoffen, daß die eingeleiteten Maßnahmen des Bundes und der Länder zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr bald Erfolg haben und sich auch für die Situation der Kinder im Straßenverkehr günstig auswirken werden.1974 war fast ein Drittel aller Hamburger Schulanfänger nicht ganz gesund; jeder zehnte von ihnen war sogar ernsthaft krank. 500 000 Kinder verunglücken jährlich in der Bundesrepublik, 80% im Hause, 20 % außer Hauses. Wir beantragen jetzt, die gesetzliche Unfallversicherung auf die Kinder in Krippen und Horten auszudehnen.Die Bundesregierung beziffert die Zahl der behinderten Kinder unter 15 Jahren auf 104 000. Professor Pechstein vom Kinderneurologischen Zentrum in Mainz geht von 500 000 aus.
Rund' 5 °/o aller Kinder werden behindert geboren. Nach Angaben von Professor Pechstein sind nur bei einem Zehntel dieser Kinder die Behinderungen eindeutig auf Vererbung, bei drei Vierteln aller Kinder aber auf eine Schädigung vor oder während der Geburt zurückzuführen. Das unterstreicht die Wichtigkeit und die Notwendigkeit einer besseren Schwangerenvorsorge. Denn aus einer Düsseldorfer Untersuchung ergibt sich, daß ein Drittel aller schwangeren Frauen niemals an einer Vorsorgeuntersuchung teilnimmt.An der Früherkennungsuntersuchung nehmen nur 54% aller Kinder teil. Wir geben zu erwägen, daß in Zukunft die Leistung des Kindergeldes an die Teilnahme der Kinder an den ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen gebunden wird. Nur auf diese Weise kann erreicht werden, daß möglichst alle Kinder an den Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen und Krankheiten und Behinderungen frühzeitig erkannt und behandelt werden.Die Zahl der verhaltensgestörten Kinder wird bereits auf 20%, die Zahl der verhaltensauffälligen Kinder auf 30 % geschätzt. 20% der Schulkinder haben inzwischen mehr oder minder eine SchreibLese-Schwäche, sind Legastheniker. Fast 25% der Hauptschüler schaffen den Hauptschulabschluß nicht. Die Zahl der Plätze in Sonderkindergärten und Sonderschulen reicht bei weitem nicht aus.Die Wartezeiten in !den Erziehungsberatungsstellen sind unerträglich lang. Es fehlen rund 800 Erziehungsberatungsstellen. Im Schulpsychologischen Dienst haben wir 1 600 Planstellen für Schulpsychologen zu wenig. In den Jugendämtern mangelt es an Erziehungsbeiständen. 1973 befanden sich 32 365 Minderjährige in freiwilliger Erziehungshilfe oder in Fürsorgeerziehung.74 Kinder nahmen sich das Leben. Zu 7 % waren Kinder an Straftaten beteiligt. 19 % der Vermißten waren Kinder, die von zu Hause weggelaufen sind.Seit Jahren steigt die Zahl der Kindesmißhandlungen langsam aber stetig an. Viele Eltern sind auf eine verantwortungsbewußte Elternschaft heute nicht vorbereitet. Nur 12% der Eltern haben je an einer Maßnahme der Elternbildung teilgenommen.Das sind einige Tatsachen und Zahlen zur Situation der Kinder in Deutschland. Das ist das Bild, das sich bietet. Dieses Bild ist weit von jener Schönfärberei entfernt, mit der die Bundesregierung in weiten Teilen ihrer Antwort die Situation der Kinder in Deutschland bezeichnet, ja verzeichnet hat.
Bei der Lektüre der Antwort der Bundesregierung fällt zweierlei auf. Auf einige Fragen zur Situation der Kinder will die Bundesregierung offensichtlich keine Antwort geben. Auf andere Fragen kann sie keine Antwort geben, sondern muß sich mit Schätzungen begnügen, weil die Jugendhilfestatistik nicht ausreicht. Der Bundestag hat bereits im Jahre 1967 die Regierung ersucht, „eine bundeseinheitliche Jugendhilfestatistik auf der Grundlage einheitlicher Begriffe anzustreben, in die die freien Träger mit einbezogen werden". Die CDU/CSU-Fraktion ist in den vergangenen Jahren nicht müde geworden, die Bundesregierung immer wieder an die Erfüllung dieses Auftrages zu erinnern. Wenn bis heute die Grundlagen für viele Planungen in der Jugendhilfe einfach nicht gegeben sind, wenn die Regierung viele unserer Fragen wirklich nicht beantworten kann, dann aus dem Grunde, weil sie es unter Mißachtung des Auftrages des Parlaments immer wieder versäumt hat, eine brauchbare Jugendhilfestatistik zu schaffen. Es ist ein Punkt unseres Antrages, die Bundesregierung nachdrücklich an die Erledigung dieses Auftrages aus dem Jahre 1967 zu erinnern.
Das zweite, das auffällt: Immer wieder, wenn wir die Bundesregierung in unserer Großen Anfrage konkret fragen, was sie denn hier und dort zur Verbesserung der Situation der Kinder in unserem Lande zu tun gedenkt, verweist sie auf den Referentenentwurf eines Jugendhilfegesetzes. Wir ha-
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Rollmannben ein neues Jugendhilfegesetz, das konkrete Rechtsansprüche des jungen Menschen auf Leistungen der Jugendhilfe schafft, immer für notwendig gehalten. Die Bundesregierung hat dieses neue Jugendhilfegesetz seit Jahren versprochen, und sie kann heute aus finanziellen Gründen dieses Versprechen nicht halten. Kostbare Jahre, in denen andere Aufgaben der Jugendhilfe liegengeblieben sind, sind mit der ergebnislosen Diskussion des neuen Jugendhilfegesetzes vertan worden. Nun aber einen schlichten Referentenentwurf, von dem bis heute keiner weiß, ob und wann und in welcher Form er jemals im Bundestag eingebracht und dort verabschiedet wird, ja, der bis heute noch nicht einmal von der Bundesregierung beschlossen worden ist, zur Grundlage von irgendwelchen Maßnahmen machen zu wollen, bedeutet, die Verbesserung der Situation der Kinder in unserem Lande weithin auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben. Stimmen Sie, meine Damen und Herren von der sozialliberalen Koalition, nun wenigstens unserem Antrag zu, daß zur Beseitigung der wichtigsten Defizite in der Jugendhilfe — Elternschulen, Erziehungsberatungsstellen, Spielplätze — Mehrjahrespläne aufgestellt und verwirklicht werden.
Die CDU/CSU-Fraktion ist der Auffassung, daß die Verbesserung der Situation der Kinder in unserem Lande mit der Verbesserung der Situation unserer Familien beginnen muß, mit einer umfassenden Elternbildung, mit einem ausreichenden Familienlastenausgleich, mit einer kindgerechten Wohnraumversorgung. Bei allen Mängeln, die der heutigen Kleinfamilie anhaften, bei aller Kritik, die an ihr immer wieder geübt wird, in allen Stürmen unserer Zeit hat sich die Familie nicht nur als die verläßlichste Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, sondern auch als der letztlich unersetzbare Platz für die Entwicklung und Entfaltung des Kindes erwiesen.
Wir sagen dies nicht aus Gründen der Ideologie, sondern weil die Erfahrungen des Lebens und die Erkenntnisse der Wissenschaft selbst es sind, die der immer wieder totgesagten Familie gerade in den letzten Jahren zu einer Renaissance verholfen haben.
Die Regierung und der Zweite Familienbericht erkennen mehr oder weniger die Bedeutung der Familie in dem Personalisations- und Sozialisationsprozeß des Kindes an. Die entscheidende Rolle der Mutter oder der Ersatzmutter — der Adoptivmutter, der Pflegemutter also — für das Wachsen und Reifen des Kindes, insbesondere des Säuglings und des Kleinkindes, wird von der Bundesregierung überhaupt nicht und von der Familienberichtskommission nicht ausreichend gesehen. Die Bundesregierung bringt das unglaubliche „Kunststück" fertig, in ihrer 21seitigen Antwort auf unsere Große Anfrage das Wort „Mutter" überhaupt nicht zu erwähnen.
Für die Familienberichtskommission ist die Mutter nur deshalb „im frühkindlichen Sozialisationsprozeß von Bedeutung, weil sie . . . für Stimulation des Kindes sorgt ... Es muß jedoch — so fährt der Familienbericht fort — „nicht die Mutter sein, die die sensorische Stimulation des Kindes vermittelt" . Es können auch „bestimmte Dauerpflegepersonen" sein. Und auch da muß man schon kritisch fragen, wo es denn bei dem Rückgang der Pflegefamilien, bei der Personalfluktuation, dem Schichtdienst und der Gruppengröße in Kinderheimen und Kinderkrippen diese „bestimmten Dauerpflegepersonen" überhaupt gibt, geben kann.Meine Damen und Herren, das Kind bedarf aber unserer Auffassung nach nicht nur der „Dauerpflege", es bedarf vor allen Dingen der Liebe, ein Begriff, der auch weder in der Antwort der Bundesregierung noch im Familienbericht vorkommt. Im ständigen Zusammensein mit dem Kind Spender und Empfänger der Liebe des Kindes zu sein, das ist die Rolle der Mutter vor allen Dingen in den ersten Lebensjahren des Kindes. Diese Rolle der Mutter ist wichtiger als alles andere. Kinderärzte und Kinderpsychiater, Psychologen, Biologen und Verhaltensforscher haben seit Sigmund Freud, Rene Spitz und John Bowlby immer wieder auf die einmalige Bedeutung der Mutter oder der Ersatzmutter als notwendiges Objekt der ersten verläßlichen Liebesbindung des Kindes hingewiesen. Voraussetzung für das Entstehen dieser ersten Liebesbindung des Kindes ist die beständige liebevolle Zuwendung der Mutter. Kommt es, aus welchen Gründen auch immer, zu dieser ersten verläßlichen Liebesbindung des Kindes nicht oder wird sie durch die Trennung von Mutter und Kind frühzeitig unterbrochen, sind Bindungslosigkeit und seelische Verwahrlosung die Folge, bildet sich nicht jenes „Urvertrauen" des Säuglings und des Kleinkindes, das die Grundlage des Vertrauens eines jeden Menschen in die Welt und zu seinen Mitmenschen ist. Mögen sich die „bestimmten Dauerpflegepersonen", die der Familienbericht verlangt, denn auch noch irgendwo finden, die Liebe der Mutter zu ihrem Kind können wir von den professionellen Kinderpflegerinnen, Kindergärtnerinnen und Tagesmüttern nun wirklich nicht auch noch erwarten.
Es besorgt uns, daß heute auch mehr und mehr Mütter der Auffassung sind, daß sich die Emanzipation der Frau nur im Beruf, nicht aber in der Familie verwirklichen lasse. Nur so ist die steigende Zahl von erwerbstätigen Müttern zu erklären, die aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu arbeiten brauchten. „Zuhausebleiben bedeutet soziale Isolation, Ausgeliefertsein an die Kinder oder das Kind." Das schreibt die Sozialdemokratin Sophie von Behr in dem Buch „Demokratischer Sozialismus und Langzeitprogramm"
und fordert, einen Teil auch der frühkindlichen Sozialisationsaufgaben aus der Kleinfamilie in die Gesellschaft zu verlagern.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12091
RollmannGerhard Würzbacher und Gudrun Cyprian verlangen in Band 7 der Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit:Durch staatliche Maßnahmen der Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik muß eine Entlastung der Mutter von ihren familiären und erzieherischen Aufgaben erreicht werden, die ihr erst dann eine wirkliche Entscheidung zwischen Berufstätigkeit und Nichtberufstätigkeit erlaubt.Also noch mehr Kinder, Frau Bundesminister Focke, in Heime, in Krippen, zu Tagespflegestellen, zu Tagesmüttern, in Fremd- und Wechselerziehung? Das, meine Damen und Herren, ist doch die unweigerliche Folge, wenn sich bei der von allen Parteien proklamierten Wahlfreiheit der Frau zwischen Berufstätigkeit und Nichtberufstätigkeit heute auch mehr und mehr Mütter für die Berufstätigkeit entscheiden. Die Wahlfreiheit der Mutter also, wenn sie zugunsten der Berufstätigkeit ausgeübt wird, ist in der Praxis sehr schnell eine Entscheidung gegen das Kleinkind, das auf das ungeteilte Dasein und die liebevolle Zuwendung seiner Mutter angewiesen ist.
Wir kämpfen, meine Damen und Herren, bei der Reform des § 218 für das Recht des noch ungeborenen Kindes auf sein Leben. Wir treten aber auch für das Recht des Kleinkindes auf seine Mutter ein. Viele Fehlentwicklungen im späteren Menschenleben bis hin zu Suchtverhalten und Kriminalität haben ihre Ursache in der Mutterlosigkeit des Kleinkindes.
Wie, meine Damen und Herren, steht es denn um die Situation von Heimkindern, von Krippenkindern, von Kindern in Tagespflegestellen und bei Tagesmüttern? Professor Pechstein berichtet von Untersuchungen an mehr als 1 000 Säuglingen und Kleinkindern in 40 Heimen, die ergeben haben, daß „nach einem Heimaufenthalt von mehr als sechs Monaten etwa 70% der Kinder eine Einbuße der statomotorischen Entwicklung um rund 20 %, in der Sprach- und Sozialentwicklung hingegen um fast 50 0/0, d. h. um die Hälfte des Lebensalters, erleiden". Professor Pechstein berichtet von Untersuchungen an Krippenkindern:Diese Kinder sind in ihrer psychomotorischen Entwicklung gegenüber gleichaltrigen Kindern aus der Familie deutlich benachteiligt. Die entsprechenden Entwicklungsquotienten weichen bereits nach dem dritten Aufenthaltsmonat von dem der Familienkinder deutlich nach unten ab und liegen danach regelmäßig zwischen den entsprechenden Verteilungen der Heimkinder und der Familienkinder.Bei einer Entwicklungsuntersuchung an mehr als 6 000 Kindern in 69 Krippen der DDR, in der 42 % aller Kinder bis zu drei Jahren eine Kinderkrippe besuchen, wurde festgestellt, „daß Krippenkinder auf einigen Gebieten, beispielsweise der Sprachentwicklung, zumindest zeitweise hinter ihren Altersgenossen deutlich zurückbleiben. Der Unterschied ist im zweiten Lebensjahr besonders auffallend. Die größte Retardierung gab es bei Kleinkindern, die die ganze Arbeitswoche in der Krippe verbringen und nur zum Wochenende zu ihren Eltern nach Hause kommen".Kein Projekt aus Ihrem Hause, Frau Bundesminister Focke, ist spektakulärer gestartet und von der Wissenschaft härter kritisiert worden als das Tagesmütter-Projekt, dessen — ich zitiere den Zweiten Familienbericht — „überstürzte Initiierung viel eher aktuellen politischen Interessen zu entspringen scheint als längerfristigen Überlegungen zu einem Gesamtkonzept der Gestaltung optimaler frühkindlicher Sozialisation"Nun gut! Die Tagesmutter ist dem Kinderheim und der Kinderkrippe vorzuziehen, aber sie ist wie Heim und Krippe für Kinder unter drei Jahren nur eine Notbehelfseinrichtung, wenn sich die Mutter infolge Berufstätigkeit tagsüber um ihr Kind nicht kümmern kann und eine andere feste Bezugsperson für das Kind nicht zu Verfügung steht.„Die täglichen Wechsel von Bezugspersonen und Lebensumgebung" — so schreibt der Verhaltensbiologe Professor Hassenstein — „bergen in sich die Gefahr von Trennungsschocks, Verlassenheitsängsten und Anpassungsschwierigkeiten. Das Kind verliert jeweils eine seiner Betreuerinnen samt Lebensumgebung, wenn es der anderen übergeben wird. Ein Säugling oder Kleinkind vermag aber noch nicht zwischen vorübergehendem und endgültigem Verlust einer Bezugsperson und Lebensumgebung zu unterscheiden." Heimkinder, Krippenkinder und Tagesmutterkinder sind nach der Auffassung der kinderärztlichen Verbände als „Risikokinder" anzusehen.
Wenn wir von Ihnen, Frau Bundesminister Focke, lesen, „daß die Voraussetzungen einer störungsfreien psychischen und körperlichen Entwicklung desI Kindes auch bei einer Betreuung durch die leibliche Mutter und eine Pflegemutter geschaffen werden können", dann ersehen wir daraus, daß die Tagesmutter für Sie keine Notbehelfseinrichtung, sondern ein durchaus akzeptabler Weg ist, um sich als Mutter mit gutem Gewissen tagsüber seiner Kinder zu entledigen und arbeiten zu gehen.
Herr Kollege, Sie haben die Zeit schon erheblich überschritten.
Ich wäre Ihnen dankbar, Frau Präsidentin, wenn Sie mir noch zwei Minuten gäben.
Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen; denn es haben sich sehr viele gemeldet, die heute noch sprechen möchten.
Danke schön. — Sie reden und handeln dabei allerdings gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen. Wir hätten es begrüßt, wenn Sie einen Teil der Energie, mit der Sie das Tagesmütter-Projekt propagiert haben, dazu verwendet hätten, nur zwei Dinge für unsere
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12092 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
RollmannI Familien wirklich voranzutreiben: den Familienlastenausgleich und die familiengerechte Wohnraumversorgung.
Dann hätten Sie sich um die Familien in unserem Lande wirklich verdient gemacht, und dann hätten Sie Ihren Titel Bundesminister für Jugend und Familie wirklich einmal zu Recht verdient.In unserem Lande haben sich in den vergangenen Jahrzehnten fast nur noch die organisierten Interessen behauptet und durchgesetzt. Kinder können sich noch nicht organisieren, und die Familien haben sich als ungeeignet erwiesen, ihre eigenen Interessen und die ihrer Kinder machtvoll in der Öffentlichkeit zu vertreten.
Die Kinder haben in diesem Lande keine Lobby. Das ist der Grund, warum es um die Situation der Kinder weithin so betrüblich bestellt ist, warum sie weithin so zu kurz gekommen sind. Machen wir alle uns stärker als bisher zum Sachwalter ihrer elementaren Bedürfnisse und Lebensnotwendigkeiten!Die CDU/CSU-Fraktion des Bundestages appelliert an alle Verantwortlichen im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden, sie appelliert an die deutsche Öffentlichkeit, die Interessen der Kinder in unserem Lande stärker zu erkennen und danach zu handeln.
Das Wort hat Frau Bundesminister Focke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während ich der Rede des Kollegen Rollmann lauschte, fiel mir als Charakteristikum dafür ein kinderfreundliches Wort ein, das er selbst benutzte. Ich glaube, lieber Herr Kollege Rollmann, Sie haben hier Ihren Bolzdrang ausgelebt.
— Ihren Bolzdrang. Das war der „Fachausdruck" für das Austoben, wonach sich Kinderspielplätze, bezogen auf Kindereigenschaften, richten sollten. Ich möchte sagen, etwas davon haben wir bei Ihnen heute morgen auch erlebt.
Sie haben als eigene Feststellungen Dinge vorgebracht, die von uns genauso dargelegt worden sind, weil wir uns als Bundesregierung und insbesondere als Familienministerium durchaus der sachlichen Analyse und Beschreibung der Situation zuwenden und eben nicht schönfärben, wie Sie das behaupten. Sie haben, wie ich den Eindruck hatte, völlig vergessen, in welcher Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, in welcher pluralistischen Demokratie, in welcher Funktionsverteilung auch zwischen öffentlicher Hand und freien Trägern viele der Aufgaben wahrgenommenwerden, von denen Sie in einer so negativ wertenden Form gesprochen haben.
Ich hatte fast den Eindruck — wenn ich z. B. an das Problem der Wohnungen und der Kinderbetten denke, das Sie hier aufgebracht haben —, daß Sie die Familienministerin Katharina Focke als eine personifizierte Bundesfamilienfürsorgerin ansehen,
die persönlich von Wohnung zu Wohnung zu schreiten hat, sich über die Aufstellung der Betten zu vergewissern hätte und den Eltern mit drohendem Zeigefinger sagen müßte, was noch zu geschehen hat.
Ich würde gerne von dieser Art der Behandlung unseres Themas abgehen und auf eine sachliche und nüchterne Bestandsaufnahme, eine Leistungsbilanz, und die Frage, was noch vor uns liegt, zu sprechen kommen.
Die Große Anfrage der CDU/CSU und die Vorlage des Zweiten Familienberichts geben der Bundesregierung erneut Gelegenheit, ihre Politik für die Familien und für die Kinder in der Bundesrepublik Deutschland ausführlich darzulegen. Für diese Gelegenheit — besonders dafür, daß wir beides zusammen diskutieren können — bin ich aufrichtig dankbar.Moderne Familienpolitik kann nur als Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftspolitik betrieben werden. Sie beschränkt sich nicht einseitig auf die Förderung der materiellen Lebenssituation der Familie, so wichtig dies auch ist.
Vielmehr muß Familienpolitik die soziale Umwelt der Familie, die persönlichen Lebensbedingungen der Familienangehörigen einbeziehen, wenn sie nicht vordergründig bleiben will.Familienpolitik wäre nun sehr einfach, wenn es d i e Familie mit einer klar zu beschreibenden oder gar festgelegten Position in der Gesellschaft gäbe. Aber dem ist nicht so. Auch wenn die Familie unverändert eine für menschliches Zusammenleben grundlegende und notwendige Einrichtung in unserer Gesellschaft ist, so ist sie doch einem ständigen Bedeutungswandel und einer Differenzierung in einer Vielzahl von Familienformen ausgesetzt, und deshalb ist Familienpolitik sowohl so nötig wie auch so schwierig.Zu Beginn des Familienberichts ist viel Wissenswertes und Beherzigenswertes dazu gesagt. Unsere Gesellschaft wäre nicht lebenswert ohne Familie. Ihre Erziehungsleistung, ihre Sorge für die Lebensbasis — Essen, Wohnen, Ruhen, einen Nächsten haben — und ihre Chance, engste Gemeinschaft der Geborgenheit und des Vertrauens zu sein, sind un-
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Bundesminister Frau Dr. Fockeersetzbar, aber die Familie wäre nicht lebensfähig ohne die Gesellschaft und ihre Leistungen für den persönlichen Wohlstand, für soziale Sicherheit, Daseinsvorsorge, Bildung, Freizeit, um nur einige Stichworte zu nennen.Familienpolitik muß also mithelfen, daß die Vielfalt der Lebenschancen und Lebensmöglichkeiten in der Familie und durch die Familie nicht eingeengt wird. Ziel der Familienpolitik der Bundesregierung ist daher Chancengleichheit für die Familien, Chancengleichheit in der Familie und Schutz der Familie.Zur Chancengleichheit für die Familien: Wir haben dafür gesorgt und werden weiter dafür sorgen, daß auch das Leben mit Kindern wirtschaftlich tragbar ist, ebenso wie das Leben allein oder zu zweit. Mittel dafür darf freilich nicht nur das Kindergeld sein, das diese Koalition ja erst zu einer Grundausstattung für alle Familien mit Kindern ausgebaut hat,
sondern Mittel dafür sind ebenso die Leistungen für besondere Bedürfnisse, vor allem Wohngeld und Ausbildungsförderung.Zur Chancengleichheit in der Familie: Wir haben dafür gesorgt und werden weiter dafür sorgen, daß innerhalb der Familie jedem sein Recht geschieht, jeder nach seiner und die ganze Familie nach ihrer Fasson selig werden kann, jeder in Liebe und Partnerschaft zum andern sich frei entwickeln, erfüllen, entfalten kann, wobei ich hinzusetze, daß das Leben für den anderen in besonderer Weise Selbsterfüllung bringen kann.Es führt etwas über das Thema hinaus, aber ich muß auch dies hier noch hinzufügen: Familie ist Lebensgemeinschaft, aber wir müssen uns auch denjenigen zuwenden, die in dieser Gemeinschaft oder an ihr zerbrechen und sie wieder verlassen. Der Staat ist hier nicht zum Zensor und zum Richter, sondern zum Beistand und zum Nothelfer aufgerufen.
Schließlich zum Schutz der Familie: Wir werden weiter dafür sorgen, daß die Familie als eheliche Lebensgemeinschaft, als Erziehungsgemeinschaft, als Haushaltsgemeinschaft unter dem besonderen Schutz der Rechtsordnung und des Sozialstaates steht. Die Rechtsordnung muß die Familie in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit stärken. Der Sozialstaat muß ihr helfen, das, was am besten sie tun kann, besonders gut zu tun. Er muß also ihre Erziehungskraft stärken, ihr Heim erhalten, den Zusammenhalt in Zeiten der Not eines oder mehrerer Mitglieder wahren.Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, jetzt zu ein paar Schwerpunkten in der Großen Anfrage zur Situation der Kinder und im Familienbericht kommen.Die Situation der Kinder in unserer Gesellschaft ist nicht leicht zu analysieren. Das ist verständlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß jeder einzelne Lebenskreis, in dem ein Kind aufwächst, von Menschen gestaltet wird, die unterschiedliche Lebensauffassungen haben, in ihrer Orientierung an Lebenswerten auseinandergehen, unterschiedlich befähigt sind und ihre besonderen Nöte und Sorgen haben. Und dieser Pluralismus ist ja von uns gewollt und bejaht.Ich hoffe, Sie sind mit mir der Auffassung, daß es gemeinsamer Anstrengungen aller politischen Kräfte bedarf, um Kinder vor Gefahren für Leib und Seele und vor willkürlichen oder — häufig noch gewichtiger — auf Gleichgültigkeit beruhenden Schädigungen zu schützen und darüber hinaus die Gesamtbedingungen für die körperliche, seelische, geistige und soziale Entwicklung des Kindes zu verbessern. Wenn es um das Wohl des Kindes geht, sollte es ein Höchstmaß an politischer Übereinstimmung geben. Weder Schwarzmalerei noch selbstgefällige schönfärberische Darstellungen nützen unseren Kindern. Nützen können ihnen nur Zusammenarbeit in diesem Haus sowie aufeinander abgestimmte Aktivitäten von Bund, Ländern, Gemeinden und Vereinigungen, die Aufgaben des Kinderschutzes, der Jugend-, Familien- und Sozialhilfe wahrnehmen.Die Bundesregierung stellt demgegenüber besorgt fest, daß Vertreter der Opposition offen oder versteckt, hier oder anderswo, meist im Rahmen familienpolitischer Diskussionen vielfach den Eindruck erwecken wollen, die Bundesregierung vernachlässige die Fürsorge für Familie und Kinder oder beeinträchtige sogar mit bestimmten Reformvorhaben wichtige Institutionen, die für die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung sind, wie gerade die Familie.
Angesichts unserer großen Anstrengungen für Familie und Kinder gerade in dieser und der vorangegangenen Legislaturperiode bedauere ich die ungerechtfertigten Angriffe, Vorwürfe, Unterstellungen. Die Bundesregierung fördert weder die öffentliche Erziehung von Kindern als Normalfall noch untergräbt sie das Ansehen und die Stellung der Eltern, wie maßgebliche familienpolitische Sprecher der CDU/CSU bei den verschiedensten Anlässen wider besseres Wissen — anders kann ich es nicht begreifen — verbreiten.
Hinter allen kinder- und familienfördernden Maßnahmen der Bundesregierung steht das Bemühen, den Kindern ein Höchstmaß an Chancen für ihre Entwicklung zu geben und diejenigen, die Erziehungsaufgaben erfüllen, zu unterstützen.Die Antwort auf die Große Anfrage, Herr Kollege Rollmann, erhebt naturgemäß nicht den Anspruch, eine lückenlose Darstellung zur Situation der Kinder zu geben. Sie beschränkt sich — ich glaube, das liegt in der Natur der Sache — auf Antworten zu gestellten Fragen. Sie gibt mithin Aufschlüsse nur über Teilaspekte des Problembereichs.Ein Aspekt, dem die Initiatoren der Großen Anfrage anscheinend Vorrang eingeräumt haben, ist der in den letzten Jahren eingetretene Geburtenrückgang. Ich weiß, meine Damen und Herren von der Opposition, auch den Geburtenrückgang möch-
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Bundesminister Frau Dr. Focketen Sie am liebsten der Bundesregierung und der Politik der sozialliberalen Koalition anlasten.
In der ersten Frage bringen Sie das offen zum Ausdruck, indem Sie den Geburtenrückgang mit einer angeblich mangelhaften Fürsorge des Bundes für Familien und Kinder in Zusammenhang bringen.
So einfach liegen die Dinge nicht. Das wissen Sie selber ganz genau, und zwar sowohl aus eigener Anschauung wie aus der Beobachtung der internationalen Entwicklung, als auch auf Grund einer Reihe von Antworten, die die Bundesregierung auf Ihre Fragen in diesem Hause bereits gegeben hat.
Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, daß sich die Motivation für die Geburt von Kindern gewandelt hat. Die Bundesregierung sieht es als ein grundlegendes Menschenrecht an, daß Ehepartner über die Zahl ihrer Kinder und den Zeitpunkt der Geburt frei und verantwortlich entscheiden können.
Die Familienpolitik hat die Aufgabe, die von ihr beeinflußbaren Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Partner ihren Wunsch nach Kindern auch tatsächlich und zu dem gewünschten Zeitpunkt verwirklichen können. Familienpolitik darf aber nicht mit Bevölkerungspolitik gleichgesetzt werden.
Gleichwohl hat die Bundesregierung Vorsorge getroffen, daß die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, ihre Ursachen, ihre Auswirkungen eingehender untersucht werden. Sie konnte erste Ergebnisse vorlegen, die zeigen, wie wichtig neben den sozialökonomischen und soziokulturellen Lebensbedingungen auch die innerfamilialen Beziehungen insbesondere zwischen den Ehepartnern sind.Familie ist nach unserer Auffassung die für das menschliche Zusammenleben grundlegende und unersetzbare Institution geblieben, eine Institution, die nicht durch das frühere ökonomische Band, sondern durch psychische und geistige Kräfte zusammengehalten wird und auf dieser Basis ein anderes Verständnis von Zusammenleben der Generationen und der Geschlechter entwickelt hat. Kinder haben in aller Regel für die Familie nicht mehr einen wirtschaftlichen Wert, wie dies in der vorindustriellen Familienproduktionsgemeinschaft der Fall war. Für die Gesellschaft sind aber Kinder auch heranwachsende Arbeitskräfte, für die Produktion und die Rentenzahlungen im Alter gleichermaßen unentbehrlich. Schon daraus, aber keineswegs nur deshalb, erwächst der Gesellschaft die Verpflichtung, zu den Kosten, die durch Pflege, Erziehung, Aus- und Fortbildung entstehen, beizutragen.Die sozialliberale Koalition hat in dieser Hinsicht entscheidende Akzente gesetzt. Sie hat nicht nur den Familienlastenausgleich reformiert und dabei die Kindergeldleistungen verbessert, sondern daneben die zweckgebundenen Hilfen, wie Wohngeld und Ausbildungsförderung, fortentwickelt. Durch einen 15-Milliarden-DM-Haushaltsansatz für Kindergeld und Ausgaben von jährlich mehr als 3 Milliarden DM für Wohngeld und Ausbildungsförderung ist das finanzielle Leistungsvermögen des Bundes jedenfalls zur Zeit weitgehend erschöpft. Die öffentlichen Leistungen für Kinder gehen indes weit über die reinen Geldzuwendungen hinaus. Ich denke insbesondere an Einrichtungen, die die Familie in der Erziehung ihrer Kinder unterstützen oder ergänzen. Große Fortschritte wurden z. B. in dem Ausbau der Elementarerziehung erzielt, die entweder kostenlos oder mit begrenzter Kostenbeteiligung den Familien angeboten wird.Angesichts der auf Heller und Pfennig belegbaren Milliardenleistungen muß ich die in der Großen Anfrage der CDU/CSU enthaltene Unterstellung, der Bund komme nur mangelhaft seiner Fürsorgepflicht gegen Familien und Kinder nach, entschieden zurückweisen.
Unsere Leistungen, meine Damen und Herren von der Opposition, können sich sehen lassen, insbesondere wenn ich berücksichtige, daß frühere CDU/ CSU-Regierungsmehrheiten Jahre benötigten, ehe sie ein kümmerliches und dazu noch im wesentlichen von Arbeitgeberbeiträgen finanziertes Kindergeld für Familien mit drei und mehr Kindern in Höhe von 25 DM eingeführt haben
und dann wieder Jahre verstreichen ließen, bis dasKindergeld halbwegs verbessert wurde, allerdingsim Rahmen eines ungerechten steuerlichen Systems.
Nun wird gelegentlich der Vorwurf erhoben, die Steigerung des Einkommens und des Kindergeldes würden durch die Preissteigerungen wieder völlig aufgezehrt — Sie haben dieses Problem ja auch berührt —, und dies bringe insbesondere die kinderreiche Familie in eine unhaltbare Lage.
— Meine Damen und Herren, dies stimmt so nicht. Sie wissen wie ich, daß diese Bundesregierung alles getan hat, um den Preisanstieg in Grenzen zu halten, und hierbei im internationalen Vergleich gesehen höchst erfolgreich war.
So haben auch die kinderreichen Familien am Wachstum des Sozialprodukts und der Einkommen ihren Anteil gehabt.
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Bundesminister Frau Dr. FockeStellen wir doch einmal einen Einkommensvergleich einschließlich des Kindergeldes für eine Familie mit vier Kindern zwischen den Jahren 1969 und 1975 an. Der Vater ist durchschnittlich verdienender Industriearbeiter, die Mutter kümmert sich zu Hause um die Erziehung der Kinder. Selbst unter Berücksichtigung und Abzug des Anstiegs der Lebenshaltungskosten ist das frei verfügbare Einkommen der Familie in dieser Zeit um real 20,9% — das sind 226 DM im Monat gestiegen.Die Bundesregierung hat immer wieder betont, daß sie sich als Anwalt der Schwachen und Benachteiligten versteht, derjenigen, die — aus welchen Gründen auch immer — nicht oder unzureichend am Leben in der Gemeinschaft und am wachsenden Wohlstand dieser Gesellschaft teilhaben können. Diesem Ziel dienen die verschiedensten Maßnahmen: die Entlastung unterer und mittlerer Einkommen im Rahmen der Steuerreform ebenso wie die Einführung eines einheitlichen, vom Einkommen unabhängigen Kindergeldes für alle Familien bereits vom ersten Kind an; Verbesserungen beim Wohngeld und den Ausbildungsbeihilfen ebenso wie die Erweiterung der Hilfen für Alte, Behinderte, Pflegebedürftige im Sozialhilferecht; eine Verbesserung der Krankenhausversorgung ebenso wie das neue Schwerbehindertengesetz und das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation.Meine Damen und Herren, das Ausmaß der sozialen Sicherung unserer Familien läßt sich nicht — ich wiederhole es noch einmal; es kann offenbar nicht oft genug gesagt werden — allein an der Entwicklung von Kindergeldsätzen ablesen. Man muß sich schon die konkrete Lage einer heutigen Familie genau ansehen, wenn man beurteilen will, was allein die verschiedenen staatlichen Geldleistungen für sie bedeuten. Hierzu einige Beispiele.Eine Familie mit zwei Kindern — ein Ehegatte verdient — kann heute, wenn sie monatlich mehr als 320 DM Miete zu zahlen hat, noch bei einem Bruttomonatseinkommen von 2 000 DM Wohngeld erhalten; sind vier Kinder vorhanden und beträgt die Miete mehr als 400 DM monatlich, kann der berufstätige Ehegatte sogar 2 600 DM brutto verdienen, ohne daß sein Anspruch auf Wohngeld erlischt.Oder nehmen Sie eine Familie, deren Kinder in Ausbildung sind: Ein Kind studiert auswärts, das andere wohnt bei den Eltern und besucht die 12. Klasse eines Gymnasiums. Nehmen wir an, der allein berufstätige Ehegatte verdient brutto 2 500 DM monatlich. Dann wird sein Nettoeinkommen von rund 1 810 DM durch Kindergeld und Ausbildungsbeihilfen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz um nicht weniger als 678 DM monatlich auf zirka 2 488 DM aufgestockt, so daß er damit — bis auf wenige Mark — die Höhe seines Bruttomonatseinkommens erreicht.Selbst bei einem Bruttoeinkommen von 3 000 DM machen Kindergeld und Ausbildungsbeihilfen noch 561 DM aus; bei 4 000 DM brutto sind es immerhin noch 290 DM, um die das Nettoeinkommen von 2 857 DM auf 3 147 DM aufgestockt wird. Hat die Familie noch ein weiteres Kind, das unter 15 Jahre alt ist, wird sogar bei einem Bruttoeinkommen. von 5 000 DM noch Ausbildungsbeihilfe gewährt. Bei 3 000 DM brutto betragen Ausbildungsbeihilfen und Kindergeld zusammen 760 DM und bewirken, daß das verfügbare Einkommen dieser Drei-KinderFamilie auf rund 2 941 DM — das sind 98 % des Bruttoeinkommens — aufgestockt wird.Ich bitte Sie zu entschuldigen, wenn ich hier relativ klare, konkrete Beispiele mit Zahlen genannt habe. Ich muß es tun, um Ihnen zu veranschaulichen, daß von dem Gerede über die besorgniserregende Situation gerade unserer Mehr-Kinder-Familien, geht man der Sache einmal auf den Grund, nicht allzu viel übrigbleibt.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann?
Frau Bundesminister, wie erklären Sie sich dann die vernichtende Kritik, die die Verfasser des Zweiten Familienberichts an dem gegenwärtigen Familienlastenausgleich geübt haben?
Es gibt keine vernichtende Kritik der Verfasser des Zweiten Familienberichts am Familienlastenausgleich, es gibt nur — schon wieder! — Überlegungen, wie er weiter entwickelt werden könnte. Das ist das gute Recht von frei arbeitenden Wissenschaftlern.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Burger?
Frau Minister, der Familienbericht stellt eindeutig fest, daß das Pro-Kopf-Einkommen um so schneller absinkt, je größer die Familie ist. Wie verhält sich nun diese Aussage zu Ihrer?
Ich werde gleich versuchen, genau darauf noch näher einzugehen; wenn Sie sich noch einen Augenblick gedulden würden.Herr Rollmann hat hier soeben und Herr Minister Geißler hat im Oktober des vergangenen Jahres auf dem Familienpolitischen Kongreß der CDU in Münster erklärt, das Nettoeinkommen von Arbeiterfamilien mit mehreren Kindern liege heute im Durchschnitt bereits unter dem Niveau der Sozialhilfe. Das ist sozusagen das Fazit, das aus dieser angeblichen Beobachtung gezogen wird. Dazu ganz eindeutig folgendes. Diese Behauptung stimmt so nicht. Daß sich im Einzelfall bei einer überdurchschnittlich hohen Miete oder bei mehreren in Ausbildung befindlichen Kindern von mehr als 16 Jahren Einzelbeispiele bilden lassen, in denen das verfügbare Einkommen einer solchen Familie gering-
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Bundesminister Frau Dr. Fockefügig unter der Sozialhilfeschwelle liegen mag, kann gelegentlich vorkommen.
— Kann gelegentlich vorkommen. Nur, für die große Masse unserer Arbeiterfamilien trifft diese Behauptung nicht zu. Das beweist allein schon ein Blick auf die Sozialhilfestatistik. Im Jahre 1973 — neuere Zahlen liegen uns bisher nicht vor — gab es im gesamten Bundesgebiet 11 024 Ehepaare mit drei und mehr Kindern, die Hilfe zum Lebensunterhalt im Rahmen der Sozialhilfe bezogen.
Ich wiederhole: im gesamten Bundesgebiet 11 000 Familien. Ich bin ziemlich sicher, Herr Katzer, daß dies nur zum geringsten Teil normal verdienende Arbeitnehmer waren. Vielfach mögen Krankheit und andere Notfälle den Weg dieser Familien zum Sozialamt bestimmt haben.Und schließlich: Reden wir doch auch hier — gerade diejenigen von uns, die sich für eine Verbesserung der Sozialhilfe engagiert hatten — nicht immer mit zwei Zungen! Man kann es nicht oft genug wiederholen, und ich finde, daß es auch manchen Sozialpolitikern gelegentlich immer wieder gesagt werden muß: Die Inanspruchnahme der Sozialhilfe hat für diejenigen, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können, nichts Diskriminierendes an sich.
Die Sozialhilfe soll denjenigen helfen, die in Not geraten sind und ihre Notlage allein oder mit Hilfe anderer nicht meistern können. Sie stellt sozusagen das letzte Auffangnetz unseres Systems der sozialen Sicherung dar, das jedem Bürger im Sinne des Grundgesetzes ein menschenwürdiges Dasein garantiert. Bitte behalten Sie dabei in Erinnerung: 11 000 Familien im ganzen Bundesgebiet, im wesentlichen sicher Sondersituationen. Wir könnten natürlich den Versuch machen, so schwierig das ist, diesen Fällen weiter nachzugehen.Nun sagen manche — und dies ist sicher ein Punkt, den auch Sie, Herr Burger, im Auge hatten, als Sie soeben noch einmal die Familienberichtskommission zitierten —, gerade die vielerlei Verbesserungen auf dem Gebiet der Sozial- und Bildungspolitik schafften neue Ungerechtigkeiten, das Geflecht der staatlichen Sozialleistungen sei zu undurchsichtig, zuwenig aufeinander abgestimmt, und die Kumulation von Arbeitseinkommen und staatlichen, in der Regel an Einkommensgrenzen gebundenen Leistungen nehme verteilungspolitisch eine ungerechte Entwicklung. Meine Damen und Herren von der Opposition, wir nehmen solche Einwände sehr ernst. Wir prüfen sie selbstverständlich.Unsere bisherigen Überprüfungen haben gezeigt — dafür finden Sie ein sehr instruktives Beispiel im Bericht der Bundesregierung gemäß der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 21. Juni 1974 zum Bundesausbildungsförderungsgesetz; das ist die Drucksache 7/3438 —, daß diese Vorwürfe, was das Zusammenwirken von Leistungen nach dem Kindergeldgesetz und dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und von bestimmten steuerlichen Entlastungen angeht, unberechtigt sind.Was auch immer weitere Überprüfungen ergeben mögen — lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit auch dies einmal in aller Offenheit sagen —: Mehr Chancengleichheit für diejenigen, die sich selber nicht oder nur unzureichend helfen können, bedingt nun einmal eine Umverteilung der Einkommen in dem Sinne, daß der niedriger Verdienende durch staatliche Leistungen stärker begünstigt wird als der höher Verdienende. Wenn man das will — und das wollen wir —, muß man auch hinzunehmen bereit sein, daß in einem gewissen Übergangsbereich — vor allem bei hohen Einkommen — bei Lohn-und Gehaltserhöhungen ein geringerer Nettoeinkommenszuwachs verbleibt. Ungereimtheiten und Verzerrungen sollen und müssen im Interesse der Gerechtigkeit beseitigt werden; das ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist jedoch, daß die sozialen Leistungen gezielt denen gewährt werden müssen, die sie auf Grund ihrer unzureichenden Einkommenslage oder besonderen Belastungen am nötigsten brauchen. Alles andere wäre heute und auf absehbare Zeit finanzwirtschaftlich nicht zu verantworten.Meine Damen und Herren, ich komme zu einer weiteren entscheidenden Frage im Zusammenhang unserer heutigen Debatte. Gleichberechtigung von Frau und Mann ist heute kaum mehr ein rechtliches, sondern in erster Linie ein soziales Problem. Wo Mann und Frau außerhalb der Familie als selbständige, eigenverantwortliche Personen tätig sind und politisch gleichberechtigt behandelt werden, kann das Verhältnis zwischen ihnen in der Familie nicht grundlegend anders sein. Auch darin zeigt sich die Wechselwirkung von Gesellschaft und Familie.Gleichberechtigung bedeutet nicht die Aneignung von Männerrechten, sondern das Recht der Frau auf Selbstentfaltung, auf ihre eigene Persönlichkeit. Dies gilt nicht nur für die Erwerbstätigkeit und nicht nur für die Teilnahme am öffentlichen Leben, sondern ebenso für die private, die persönliche, die Familiensphäre.Die Bundesregierung will gerade nicht, wie es z. B. Frau Kollegin Stommel behauptet hat, die berufstätige Ehefrau als Leitbild gesetzlich festlegen, sondern Wahlfreiheit ermöglichen, die das noch geltende Familienrecht der Ehefrau und Mutter vorenthält,
eine Wahlfreiheit, von der ich allerdings den Eindruck habe, Herr Kollege, daß Sie diese am liebsten nicht sähen.Man kann nicht verschweigen, daß es auch in einer partnerschaftlichen Ehe Probleme geben kann, wenn die Erwerbstätigkeit beider Elternteile und die Erziehung von Kindern vor allem in der frühkindlichen Phase zusammenfallen. Die Bundesregierung
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Bundesminister Frau Dr. Fockeund der Bundesgesetzgeber haben aber, soweit es in ihrer Zuständigkeit liegt und soweit es finanzwirtschaftlich möglich ist, schon bisher Hilfen dafür bereitgestellt. Ich denke an die Förderung der Teilzeitarbeit, die Freistellung der erwerbstätigen Mutter bei Erkrankung eines Kindes, die Freistellung von Beamten oder auch an das Modellprogramm „Tagesmütter", die zweitbeste, familienähnlichste Lösung für Situationen, wo es die Mutter für den ganzen Tag für das Kind leider nicht gibt. Über dieses Modell, seinen Wert und auch die positiven Erfahrungen in der Praxis gibt es weit im Land, Herr Rollmann, zustimmende Einigkeit.
Aber auch die Frage eines Erziehungsgeldes wird von der Bundesregierung eingehend untersucht, wenn auch die Haushaltssituation vorerst die Einführung einer solchen Hilfe für die Erziehung mit ihrem enormen Kostenumfang, der in die Milliarden geht, nicht gestattet. Immerhin darf ich daran erinnern, daß es die SPD war, die als erste Partei im Entwurf ihres familienpolitischen Programms die Einführung eines Karenz- oder Erziehungsgeldes als langfristige Maßnahme gefordert hat.
Was die Partnerschaft zwischen den Generationen und die partnerschaftliche Erziehung angeht, gibt es bedauerlicherweise immer wieder Mißverständnisse, vielleicht auch gewollte Mißverständnisse. Partnerschaftliche Erziehung muß selbstverständlich auch in den Regelungen zur Frage des elterlichen Sorgerechts ihren Niederschlag finden.Mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf wird nicht Elternrecht verdrängt. Die Anerkennung des Elternrechts, das vom Bundesverfassungsgericht treffend als „Elternverantwortung" bezeichnet worden ist, findet ihre Rechtfertigung darin, daß das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um seine Grundrechte wahrzunehmen und sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbild unseres Grundgesetzes entspricht.Wenn allerdings die Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, hat das Kind einen Anspruch auf den Schutz des Staates. Dieses sogenannte Wächteramt des Staates müssen wir sehr ernst nehmen; denn die Zahlen über Kindesmißhandlung, Kindestötung oder über verhaltensgestörte Kinder oder die altersmäßige Verlagerung beim Mißbrauch illegaler Rauschdrogen zeigen, daß die Früherkennung atypischen Sozialverhaltens von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern nach wie vor besonders wichtig und ausbaubedürftig ist.Es bedarf dabei der breiten Mithilfe von Institutionen und Personen, insbesondere solcher, die aufGrund ihrer beruflichen Betätigung an dem Wohlergehen von Kindern mithelfen. Angesprochen sind nicht nur Sozialarbeiter, sondern auch Lehrer, Geistliche, Ärzte, Psychologen, die Schulen, die Kindergärten, die Jugendhilfeträger, die Sozialämter, die Gesundheitsämter usw., aber auch in der Nachbarschaft wohnende Mitbürger. Es darf nicht sein, daß Nachbarn schweigen, wenn Kinder monatelang oder jahrelang eingesperrt oder mißhandelt werden oder sogar an Unterernährung sterben.Die Bundesregierung ist in ihrer Antwort auf die Große Anfrage sehr eingehend auf bestimmte schwerwiegende, von der Norm abweichende Verhaltensweisen von Kindern oder Erwachsenen in Verbindung mit Kindern eingegangen. Es darf uns nicht beruhigen, daß die Anzahl der Fälle von Kindesmißhandlung, Kindestötung, Kinderselbstmord, Kinderstraffälligkeit oder auch des Ausreißens von Kindern in den letzten Jahren nicht oder nicht wesentlich gestiegen oder sogar rückläufig ist. Das große Maß an Leid, an zerbrochenen Hoffnungen, an physischen und psychischen Belastungen, das sich hinter den Zahlen verbirgt, verlangt sicher noch größere Anstrengungen, um den Ursachen nachzugehen und schon weit im Vorfeld ernsthafter Schädigungen oder abnormaler Verhaltensweisen vorbeugende Hilfen zu geben, aber auch um die Voraussetzungen für konsequente Eingriffe zu schaffen, um eingetretene Schäden zu heilen.Auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen und praktischer Erfahrungen in der Familien- und Jugendhilfe, vor allem aus der Praxis der Erziehungsberatung, wissen wir, daß die Ursachen für Fehlverhalten und Fehlentwicklungen bei Kindern und Jugendlichen sehr häufig in ungünstigen Familienverhältnissen liegen. Die Bundesregierung hat immer wieder — erneut in ihrer Ihnen vorliegenden Stellungnahme zum Familienbericht — erklärt, daß sie die Erziehung des Kindes als die dominierende Aufgabe der Familie ansieht und daß sie eine Reihe von Maßnahmen getroffen oder eingeleitet hat, um die Familie bei der Erfüllung dieser Aufgabe zu unterstützen.Ich darf insbesondere auf die in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Zweiten Familienbericht dargestellten Maßnahmen zur Förderung der Elternbildung und zum Ausbau der familienbezogenen Beratung hinweisen.Auch die angestrebte grundlegende Reform des Jugendhilferechts wird ein wichtiger Schritt in dieser Richtung sein, auch wenn die Bundesregierung im Einvernehmen mit den Ministerpräsidenten aller Bundesländer angesichts der gesamtwirtschaftlichen Lage und mit Rücksicht auf die angespannte finanzwirtschaftliche Situation der Länder und Gemeinden davon abgesehen hat, den im Frühjahr fertiggestellten Referentenentwurf des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt den gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten. Die Bundesregierung hält, ungeachtet der aus gesamtstaatlicher Verantwortung gebotenen Zurückhaltung des Gesetzes, an ihrem Reformvorhaben fest.
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Bundesminister Frau Dr. FockeMeine Damen und Herren, Bemühungen uni stärkeren Schutz für Kinder dürfen sich indessen nicht nur auf die Familie konzentrieren. Es geht um die Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Bedingungen; denn in diesen stecken vor allem die Wurzeln der immer wieder zitierten Kinderfeindlichkeit in unserer Gesellschaft. Sicherlich lieben bei uns Eltern ihre Kinder genauso wie in anderen Ländern. Das Problem der Kinderfeindlichkeit in einem modernen Industriestaat ist ganz anders gelagert. In Technisierung, Verstädterung, Automatisierung stecken Wurzeln einer kinderfeindlichen Entwicklung. Der Fehler lag nicht in einer quasi in uns steckenden Kinderfeindlichkeit, sondern darin, daß man sich nicht genug für Kinder eingesetzt hat, daß in der Aufbauphase der Nachkriegszeit an ihnen vorbeigeplant und -gebaut wurde,
daß man zu wenig bedacht hat, welche elementare Bedeutung Raum und Zeit für das Leben eines Kindes haben, daß unterschätzt wurde, wie wichtig der ständige Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern für beide Seiten ist.Lieber Herr Rollmann, es hat überhaupt keinen Sinn, zu versuchen, diese ganze Nachkriegsentwicklung nun einzig und allein der Bundesregierung in die Schuhe zu schieben. Das ist ein Problem, mit dem wir uns differenzierter auseinandersetzen müssen.
— Ich würde jetzt gern zum Ende kommen. Wir können das sicher nachher noch klären.Erfreulicherweise wächst die Erkenntnis, daß die Entwicklungschancen für Kinder in starkem Maße auch von der Gestaltung der räumlichen Bereiche abhängig sind, in denen Kinder aufwachsen. Angesprochen ist dabei nicht nur die Wohnung, sondern auch das Wohngebiet und dessen Ausstattung mit Einrichtungen für Kinder, wie Spielplätze, Kindergärten, Kinderhorte, Schulen usw. Es gewinnt unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung die Einsicht an Boden, daß hochverdichtete Wohnformen und die Tendenz zur optimalen wirtschaftlichen Nutzung der Grundstücke — also ein Höchstmaß an Wohnungskapazität auf engstem Raum — zwar die Renditen erhöhen, der Forderung nach einer kindgerechten Umwelt aber entgegenstehen. Überbelegte Wohnungen, mangelhafte Qualität der Wohnlage und das Fehlen von Spielflächen sind nicht selten Ursache auch schulischer Minderleistungen und Schulversagens,
nicht entwickelter Intelligenz, Verkümmerung von Kreativität und auch Ursache aggressiven Verhaltens.Die Bundesregierung aber begegnet den Mängeln in der gebauten Umwelt des Kindes im Rahmen ihrer von sozialer Verpflichtung getragenen Wohnungspolitik mit einer stärkeren Konzentration der Förderungsmittel auf sozial benachteiligte Förderungsgruppen, auch durch die Erweiterung der Belegungsrechte für freiwerdende Sozialwohnungen zugunsten besonders einkommensschwacher Familien. Die für die Modernisierung von Altbauten bereitgestellten öffentlichen Mittel werden den Familien helfen, Wohnung und Wohnungsumgebung den Bedürfnissen ihrer Kinder anzupassen. Mit der von der Bundesregierung vorgelegten Novelle zum Bundesbaugesetz werden den Gemeinden zusätzliche rechtliche Instrumente in die Hand gegeben, damit sie auf die Entwicklung zur familiengerechten Stadt stärker als bisher Einfluß nehmen können.Auch darf nicht vergessen werden, daß die Einführung des Kündigungsschutzes als eines Dauerrechts in erster Linie den Familien mit kleinen Kindern, insbesondere den kinderreichen Familien, zugute kommt, die erfahrungsgemäß auf einem völlig freien Wohnungsmarkt zu kurz kommen.
Schließlich darf auch das von der Bundesregierung vorgelegte, inzwischen vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Förderung von Wohnungseigentum und Wohnbesitz im sozialen Wohnungsbau nicht unerwähnt bleiben, durch das kinderreiche Familien, junge Ehepaare, ältere Menschen und Schwerbehinderte mit geringem Einkommen in Zukunft verstärkt Wohnungseigentum oder Wohnbesitz bilden können.Eine positive Einstellung zum Kind kann man, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht von Staats wegen verordnen.
— Es klingt aber sehr häufig so, als verlangten Sie dies. — Die Bundesregierung sieht es allerdings als eine familienpolitische Aufgabe an, dafür zu werben und dafür bessere Voraussetzungen zu schaffen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es der auf ihren seelisch-geistigen Gehalt angewiesenen Familie schwerfällt, sich mit ihrem kindbezogenen Anliegen gegenüber einer zu einem großen Teil von materialistischer Lebensauffassung, Rationalität und Technik geprägten Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Hier müssen Bund, Länder und Gemeinden Hilfe leisten, damit das Wohl des Kindes in der allgemeinen Wertordnung einen höheren Rang erhält.Wir haben in den letzten Jahren durch eine konsequente Politik versucht, die Verantwortlichkeit des Bürgers für seine Umwelt zu wecken. Es müßte erst recht möglich sein, unseren Kindern ihren Lebensraum in dieser Umwelt durch aktive Förderung, durch Rücksichtnahme und Wohlwollen noch mehr als bisher zu sichern. So unterstützt z. B. die Bundesregierung die Ziele der „Aktion Gemeinsinn", die bemüht ist, unsere Mitbürger zu aktivieren und Denkanstöße zu geben, um dadurch eine Änderung der für Kinder nachteiligen Situation herbeizuführen.Lassen Sie mich zum Schluß an die familienpolitischen Ziele der Bundesregierung, die ich zu Anfang nannte, mit drei Zitaten noch einmal anknüpfen. Das erste Zitat:
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Bundesminister Frau Dr. FockeIn jüngerer Zeit mehren sich auch die Stimmen, daß der Schutz des Kindes vor dem Mißbrauch der elterlichen Gewalt verstärkt werden müsse . . . Man kann sich sogar fragen, ob die bestehende rechtliche Regelung der elterlichen Gewalt ausreichend berücksichtigt, daß die Eltern heute weniger denn je die Herren ihrer Kinder sind . . . Ist nicht z. B. ein uneingeschränktes Recht der Eltern, über Ausbildung und künftigen Berufsweg des Kindes zu entscheiden, mehr und mehr als problematisch zu bezeichnen?Das zweite Zitat:Es ist verständlich, wenn eine moderne Familienpolitik die Familien nicht schon deswegen rundweg und unkritisch bejaht, weil es sich um „Familie" handelt ... Vielmehr fragt eine moderne Familienpolitik gerade auch nach Leistungsmängeln und Leistungsgrenzen der Familien, ...Das dritte Zitat:Und doch wissen wir ..., daß eben diese Familie . z. B. einer absoluten Gleichheit der Startchancen der jungen Menschen im Wege steht.Diese Bemerkungen meiner Vor-Vorgängerin im Amt, unserer langjährigen Kollegin Aenne Brauksiepe, nachzulesen im Bulletin Nr. 41 aus dem Jahre 1969, kann ich nur unterstreichen. Heute hören wir es aus oppositionellem Munde leider anders:
einmal, wir hätten kein Konzept, so z. B. Frau Wex im Pressedienst der CDU/CSU-Fraktion vom 24. April 1975. Den Kern dieses Vorwurfs sehe ich darin, daß wir uns weigern, einen Familientyp als „die" Familie zu dekretieren,
zu schützen und zu fördern, nämlich die Kleinfamilie mit mehreren Kindern und der nicht berufstätigen Frau. In der Tat, dieses Konzept einer dekretierten Familie haben wir nicht.Zum anderen kommt aus oppositionellem Munde die Behauptung, wir hätten ein böses Konzept. So z. B. Frau Schleicher, nachzulesen im „Bayernkurier" vom 20. April 1975. Das heißt, wir würden die Familie zerstören, sie entleeren, sie ganz an den Rand der Gesellschaft drängen, in ihre Intimität grob eindringen. Abgesehen davon, meine Damen und Herren von der Opposition, daß es ein bißchen, aber nur ein bißchen lustig ist, so widersprüchlich gescholten zu werden, wird mit dem zweiten Vorwurf in der Familienpolitik genau wie anderswo ein böser Popanz aufgebaut.In Wahrheit zerstört die Familie, wer sie als Herrschaftsordnung in der Nußschale erhalten will, anstatt sie für die Partnerschaft zu öffnen.
In Wahrheit entleert die Familie, wer sie mit Problemen der Erziehung der jungen Generation undder Pflege der Alteren allein läßt und ihr den Ratund die Hilfe der Gemeinschaft fernhält. Ohne diesen Rat und diese Hilfe verlagern sich Erziehung und Pflege von der Familie weg, weil sie damit überfordert wird. Und in Wahrheit drängt sich in die Intimität der Familie ein, wer reglementieren will, wie sie ihr Leben miteinander und füreinander einrichtet und besteht.
Auch vor der Ideologie der alleinseligmachenden materiellen Leistungen in der Familienpolitik möchte ich am Schluß noch einmal eindringlich warnen. Wer so tut, als müsse alles aufgerechnet und vom Staat gezahlt werden, was an Leistung und Gegenleistung in der Familie gewährt wird, vor allem die Fülle der Leistungen für die Kinder, ist unversehens in der kalten Nachbarschaft derer, die Kinder als Besitz der Gesellschaft ansehen, in ihrem Auftrag treuhänderisch erzogen von ihren Eltern.
Kinder sind nicht Besitz irgend jemandes, nicht ihrer Eltern und schon gar nicht des Staates. Sie sind Persönlichkeiten mit eigener Würde und eigenem Recht.
Sie verpflichten uns alle, insbesondere natürlich die Eltern, aber auch die Lehrer, jeden in ihrem Umkreis, alles zu tun, ihnen zu einer freien Entwicklung zu unseren Mitbürgern von morgen zu verhelfen.Wir halten es für nötig und gerecht, daß die Last, die Kinder auch bedeuten, solidarisch von der ganzen Gesellschaft mit getragen wird. Aber Kinder sind doch, vergessen wir das nicht, geringe Last und große Freude, sind Menschen, in denen wir das Beste von dem wiederfinden, was wir selbst geschaffen haben und zu leben versuchen.
Die Bundesregierung hat nicht den Ehrgeiz, ständig von Familie zu reden, um nichts für sie tun zu müssen.Die Rechtspolitik dieser Regierung ist ein Stück gute Familienpolitik.Die Sozialpolitik dieser Regierung ist ein Stück gute Familienpolitik.Die Bildungspolitik dieser Regierung ist ein Stück gute Familienpolitik.
Die Wohnungspolitik dieser Regierung ist ein Stück gute Familienpolitik.Wir lassen uns nicht daran messen, wie viele unserer Leistungen das Beiwort „Familie" tragen. Wir lassen uns daran messen, was wir tun, damit jede einzelne Familie im Land sagen kann: Heute geht es uns und unseren Kindern besser als gestern. Und vor dem Morgen brauchen wir keine Furcht zu haben.
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12100 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Das Wort hat Frau Abgeordnete Wex.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der letzte Teil der Ausführungen der Frau Bundesminister paßt genau in das hinein, was die Wissenschaftler auf Grund ihres Zweiten Familienberichtes gesagt haben: es ist kein Konzept vorhanden.
Und es paßt genau in die Art, wie man wirkliche Diskussion vermeidet, wenn wir — in diesem Falle ich — zitiert werden, die Regierung habe kein Konzept, und dann die Interpretation der Frau Bundesminister angeboten wird: „Den Kern dieses Vorwurfs sehe ich darin, daß wir uns weigern, einen Familientyp als die Familie zu dekretieren". Ich habe diese Aussprüche natürlich nie getan, denn wir von der CDU/CSU haben ja ein familienpolitisches Konzept. Immer wieder, auch schon im Wahlkampf 1972, ist behauptet worden, auch die SPD hätte eines. Nirgendwo sonst als in einer Kommission von Frauen der SPD ist eines verabschiedet worden. Darin liegt genau der Unterschied. Wir binden uns mit der gesamten Partei an unsere Vorstellungen und lassen nicht an verschiedenen Stellen verschiedene Aussagen machen.
Dieses alles paßt zusammen.
Der von der Bundesregierung auf Grund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages vorgelegte Zweite Familienbericht veranlaßt zu folgenden Feststellungen:Erstens. Der Bericht der Sachverständigenkommission, der das Generalthema „Leistungen und Leistungsgrenzen der Familie im Erziehungs- und Bildungsprozeß der nachwachsenden Generation" behandelt, verdient Anerkennung. Die Analysen und die gesellschaftspolitischen Vorschläge des Berichts lassen ein hohes Maß an wissenschaftlicher Kompetenz und politischer Unabhängigkeit erkennen, obwohl auch innere Widersprüche nicht zu übersehen sind.Die Kommission bietet allerdings insgesamt fundierte Entscheidungshilfen für eine in die Zukunft gerichtete Familienpolitik an, die uns hoffentlich in diesem Hause noch lange, aber in anderer Form als heute morgen beschäftigen wird.Zweitens. Das Lob, das dem Bericht der Sachverständigenkommission gebührt, kann die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigen nicht beanspruchen. Sie ist nämlich der mißlungene Versuch, eine Übereinstimmung zwischen der Politik der Bundesregierung seit 1969 und dem Bericht der Sachverständigen herzustellen. Die Regierung vermeidet es, die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrer Politik und dem Sachverständigengutachten klarzumachen. Das wäre aber notwendig gewesen, entweder um darzulegen, aus welchen Gründen die Politik der Bundesregierung nicht geändert zu werden braucht, oderum darzutun, in welchen Punkten ihre Politik im einzelnen überdacht werden muß. Statt dessen aber schreibt Frau Focke im SPD-Pressedienst vom 24. April 1975:Man kann sich darüber streiten, wie sinnvoll es ist, daß sieben Experten sich einige Jahre lang die Köpfe über Familienfragen zerbrochen haben. Das Ergebnis dieses Kopfzerbrechens, den Zweiten Familienbericht, finde ich zumindest insofern nützlich, als diese sieben Fachleute in ihrem Bericht an vielen Stellen bestätigen, wie richtig die Familienpolitik der Bundesregierung seit 1969 war und ist.
Will die Ministerin den Familienbericht etwa in diesem Sinne behandelt wissen? Sieht sie in den Sachverständigen nur insoweit nützliche Zuarbeiter, als sie das Lied einer richtig handelnden Bundesregierung singen? Vor einer solchen Degradierung muß man, so finde ich, eine wissenschaftliche Kommission in Schutz nehmen.
Weniger offen allerdings drückt sich die zuständige Ministerin aus, wenn es um Mitteilungen der Bundesregierung geht. Bei der Vorlage des Familienberichts heißt es in der Presseerklärung des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit:Der Kommission stehen hier wiederum etwa die gleichen Ziele vor Augen, die auch die Bundesregierung verfolgt, nämlich mehr Chancengleichheit für alle, mehr Selbstentfaltung für den einzelnen, Eigenverantwortung und Mitbestimmung aller Familienangehörigen in den möglichen Grenzen, auch innerhalb der Familie, im familialen Umfeld und im gesamten gesellschaftlichen Raum.Durch diesen Zielkatalog, der in dieser Form natürlich nicht etwa in dem Bericht der Sachverständigen zu finden ist, dem man aber in seiner Allgemeinheit zustimmen kann, sieht die Bundesregierung wahrhaftig ihre Politik bestätigt. Aber es kann doch heute nicht mehr ernsthaft darum gehen, mehr Chancengleichheit für alle herzustellen — wer wollte das denn nicht? —, sondern nur noch darum, wie man mehr Chancengleichheit für alle herstellen kann. Es geht doch darum, diese allgemeinen Leerformeln mit Inhalten zu füllen. Hierauf ist uns die Bundesregierung die Antwort schuldig geblieben.Sachgerechte Ergebnisse kann ein solcher Sachverständigenbericht doch nur dann haben, wenn man bereit ist, sich ernsthaft mit den dort dargelegten Problemen auseinanderzusetzen, und auch bereit ist, Korrekturen vorzunehmen. So hat jedenfalls der Deutsche Bundestag seinen Auftrag an die Regierung verstanden, als er sie mit der Erstellung des Familienberichts beauftragte.Die Regierung versucht den Eindruck zu erwecken, als ob ihre familienpolitischen Grundsätze voll und ganz den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprächen. Dieser Versuch konnte jedoch nicht ge-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12101
Frau Dr. Wexlingen, obwohl die Bundesregierung in fast einjähriger Arbeit versucht hat, in ihrer Stellungnahme zum Kommissionsbericht durch Formulierungskünste die Kritik der Wissenschaftler an ihrer Politik abzufangen. Die Stellungnahme entpuppt sich als ein Versuch der Bundesregierung, den Blick auf diesen Kommissionsbericht zu verstellen. Die Wissenschaft, die zum Kronzeugen einer „richtigen" Politik aufgerufen wird, weist nämlich selbst diese angebliche Übereinstimmung zurück. Die Regierung hat bei der Formulierung ihrer Familienpolitik auf ein enges Verhältnis ihrer Familienpolitik mit der Wissenschaft abgehoben und wollte die wissenschaftlichen Erkenntnisse als von ihr beachtet in Anspruch nehmen. Dies ist aber abgewiesen worden, und das ist eine wesentliche Aussage des Kommissionsberichts.Die Stellungnahme der Sachverständigen zum Modellprojekt „Tagesmütter" auf Seite 82 des Berichts ist ein eklatantes Beispiel dafür. Dort heißt es:Derzeit wird vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit ein Modellprogramm zur frühkindlichen außerfamilialen Sozialisation durchgeführt, für welches auch ein wissenschaftliches Begleitprogramm vorgesehen ist. Die Kommission will in diesem Zusammenhang kein Votum über die allgemeine Konzeption von „Tagesmüttern" äußern, sie kritisiert aber, daß die überstürzte Initiierung des Tagesmutter-Projekts viel eher aktuellen politischen Interessen zu entspringen scheint
als längerfristigen Überlegungen zu einem Gesamtkonzept der Gestaltung optimaler frühkindlicher Sozialisation.
Dies zeigt sich beispielsweise daran, daß in der Projektierungsphase kaum Wissenschaft einbezogen wurde: Die in absehbarer Zeit vorliegenden Ergebnisse der Beratungen des Fachausschusses für Jugend- und Familiensoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der mit Förderung des Ministeriums Strukturbedingungen frühkindlicher Sozialisation thematisiert, wurden nicht abgewartet. Der wissenschaftliche Beirat beim Familienministerium wurde nicht in die Planungsüberlegungen zu dem Projekt einbezogen ... Vielmehr scheint das Projekt unter dem Druck von Instanzen , deren Kompetenz diesbezüglich in weiten Bereichen zweifelhaft ist, in großer Hast begonnen worden zu sein.Das ist die Nähe zu wissenschaftlichen Aussagen!Die mangelnde Abstimmung mit der Wissenschaft ist ein zusätzlicher Grund dafür, daß der Familienpolitik der Bundesregierung die notwendige Grundlage für eine Einordnung in gesamtpolitische Vorstellungen fehlt. Die Regierung nimmt für sich in Anspruch, ein gesamtpolitisches Konzept zu haben. Sie führt insbesondere aus, daß ihre Familienpolitik mit allen anderen Sparten der Politik abgestimmt sei. Der Kommisionsbericht weist aber gerade nach, daß dies nicht der Fall ist. Die Prüfung der Gründe, die die Kommission für eine fehlende wirkungsvolle Familienpolitik anführt, ergibt folgende Punkte:Erstens. Es fehlt eine Mitsprache des Familienministeriums bei Gesetzesvorhaben, die die Familie betreffen. Die Kommission stellt am Beispiel der Reform des Ehescheidungsrechts fest:Daß das Familienministerium in der Konkurrenz der verschiedenen Kräfte nicht einmal in eigenen Angelegenheiten effektvoll operieren kann, mag wenigstens beispielhaft daran gezeigt werden, daß die Reform des Ehescheidungsrechts ohne maßgebliche Mitwirkung des dafür von der Sache her eigentlich in erster Linie zuständigen Hauses vollzogen worden ist.
— Die Kommission sagt das. Wir sprechen hier über den Familienbericht. Es ist entscheidend, daß man sich auch einmal mit Vorstellungen, die von wissenschaftlicher Seite an uns herangetragen werden, sachlich auseinandersetzt. Das täte Ihnen allen sehr gut.
Zweitens. Die Kommission führt aus — ich werde das so ausführen, weil ein großer Teil der Ausführungen im Familienbericht von der Öffentlichkeit leider nicht so gelesen werden kann, wie es dringend notwendig wäre —:Es mangelt an statistischen Daten. Voraussetzung für Effizienzkontrollen staatlicher Familienpolitik fehlen gegenwärtig weitgehend.Und dies, obwohl bereits der Familienbericht von 1968 auf die notwendige Erfolgskontrolle familienpolitischer Maßnahmen hingewiesen hatte.Drittens. Es besteht eine extreme Kompetenzzersplitterung. Die Kommission schreibt:Angesichts der gegenwärtig gegebenen Kompetenzverteilung bei familienpolitischen Maßnahmen werden die Kompetenzen, die beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit liegen, als nicht ausreichend angesehen.Viertens. Die Transparenz familienpolitischer Entscheidungsprozesse ist zu gering. Es wird nämlich überhaupt nicht deutlich, aus welchen Gründen sich die Bundesregierung für bestimmte Maßnahmen entscheidet oder aus welchen Motiven sie andere Maßnahmen ablehnt.Fünftens. Es fehlt eine umfassende Familienforschung. Die Kommission schreibt auf Seite 80:Eine systematische, langfristig angesetzte Familienforschung fehlt in der Bundesrepublik . . ., so daß viele Fragen noch nicht beantwortet werden können.Und schließlich — und das ist wohl der einschneidenste Vorwurf —: Es fehlt eine Gesamtkonzeption. Dazu braucht Frau Focke doch gar nicht erst etwa die Opposition zu bemühen, obgleich sie vieles von12102 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode— 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975Frau Dr. Wexunserer Konzeption einmal aufnehmen sollte. Hier brauchte sie ja nur ihre von ihrem eigenen Haus berufenen Wissenschaftler zu fragen. Da steht: Es fehlt eine Gesamtkonzeption. Die Kommission stellt in ihrer Beurteilung fest, daß die Familienpolitik der Bundesregierung in stärkerem Maße von partikularen Gestaltungserfordernissen diverser gesellschaftlicher Teilsysteme eingerichtet ist und nur in geringem Maße von Sozialisationserfordernissen bestimmt und familienspezifisch orientiert ist. Das ist doch ein erstaunlicher Katalog.Anstatt zu diesen schwerwiegenden Feststellungen Stellung zu nehmen, führt die Bundesregierung aus, daß ihre Familienpolitik vor allem in dem eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts sowie in dem Gesetz zur elterlichen Sorge zum Ausdruck komme. Allerdings; denn gerade in den antifamiliären Tendenzen dieser Gesetzesvorlagen wird die Familienpolitik der Bundesregierung deutlich. Ich erinnere an die Begründung zum Gesetzentwurf über die elterliche Sorge: daß das Kleinkind ebenso wie der Heranwachsende Objekt elterlicher Fremdbestimmung sei.
Ich erinnere daran, daß nach Ihrem Entwurf für eine Änderung des Ehescheidungsrechts die Gefahr einer Verstoßungsentscheidung immer noch nicht gebannt ist.Natürlich darf sich die Familienpolitik nicht in Kindergeldregelungen erschöpfen. Welchen Popanz hat denn Frau Focke wieder aufgebaut? Als wenn das von irgend jemandem von uns vertreten würde!
Da stimmen wir doch mit der Bundesregierung überein. Das mindert jedoch nicht die Bedeutung, die der Kindergeldfrage zukommt. Das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe, das unsere Sozialpolitik ja durchgängig bestimmt, gebietet, daß Familien auch durch ein vernünftig gegliedertes Beihilfesystem in den Stand versetzt werden, ihre Funktion als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft umfassend zu erfüllen.Wenn man die Leistungen der Familie als Leistungen für die Gesellschaft anerkennt — und nicht nur mit Worten —, dann geht es nicht an, kinderreiche Familien und Familien mit einem geringen Einkommen auf das Bundessozialhilfegesetz zu verweisen. Das aber hat die Regierung in der Stellungnahme zu dem Bericht auf Seite XIII getan. Wenn Frau Focke hier von 11 000 Familien gesprochen hat, so kann ich nur sagen: Dies ist Anlaß genug für eine Aktivität. Außerdem muß ich hinzufügen, daß diese Zahlen von 1969 sind. In der Zwischenzeit hat sich in der Bundesrepublik durch die Inflation einiges noch verschlechtert.Gesellschaftspolitische Verantwortung tragen wir vornehmlich für die Schwächeren. Darüber sind wir uns ja wohl einig. Der Schlußfolgerung der Kommission im Hinblick auf die Kindergeldreform vom 1. Januar 1975 ist zuzustimmen. Wenn wir uns hier mit einem solch wichtigen Bericht beschäftigen, müssen dem Parlament von der Regierung Stellungnahmen zu einem solchen Bericht vorgelegt werden.Das Parlament hat das Recht, zu hören, was die Regierung zu solchen wissenschaftlichen Aussagen sagt. Die Kommission ist nicht davon überzeugt, daß mit der vorgesehenen Kindergeldregelung eine der Sozialisationsleistung der Familie hinreichend förderliche Hilfe gegeben wird. So steht es auf Seite 89.Nach unserer Auffassung muß die Kindergeldregelung durch eine gezielte, strukturwandelnde Leistung, nämlich das Erziehungsgeld, ergänzt werden.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dem Hause mit dem Entwurf für die Gewährung eines Erziehungsgeldes einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Seine Zielsetzungen sind:— Das Recht des Kindes, in der Familie erzogen zu werden, soll weitgehend verwirklicht werden.— Die Erziehungsleistung der Familie soll in ihrergesellschaftlichen Bedeutung erfahrbar werden.- Unzumutbare Nachteile sollen weitgehend aus-geglichen werden.— Die Chancengleichheit der Kinder soll wesentlich erhöht werden. Die Lücke zwischen Erziehung in der Familie und den Einrichtungen der außerfamiliären Erziehung soll sinnvoll geschlossen werden.— Alleinlebenden Elternteilen soll die Erziehungsaufgabe weitgehend erleichtert werden.Wir nehmen mit unserem Vorschlag „Erziehungsgeld" eindeutig die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse auf und erkennen gleichzeitig durch die Tatsache, daß wir das Erziehungsgeld sowohl der Frau als auch dem Mann anbieten wollen, die Wandlung an, die sich im Rollenverständnis der Geschlechter vollzogen hat. Wir sind allerdings der Meinung, daß wir die Ansprüche aneinander — auch in dieser Phase der Ablösung von teilweise ja auch vorhandenen familienneurotischen Erscheinungen — nicht überziehen dürfen. Wenn Emanzipation etwa in der Weise entartete, daß nur eine Steigerung des Egoismus übrigbliebe, könnten wir das Ende dieser Entwicklung leicht absehen: Dann sind wir nämlich in nicht allzuferner Zeit alle emanzipiert, einsam und ausgestorben.Auch wenn diese Erkenntnis schon alt ist, sie wird durch die Psychologie und Psychotherapie von heute bestätigt: Selbstverwirklichung geschieht am wirkungsvollsten durch die Fähigkeit zur Hingabe an andere Menschen. Diese Fähigkeit muß natürlich schon in der Schule entwickelt werden. Es ist nur eine Teilwahrheit, daß immer nur die heranwachsenden Kinder in ihrer Durchsetzungskraft die Schwächeren wären. Die Tatsache, daß durch bestimmte Lehrinhalte der Konsensus in der Erziehung zwischen Elternhaus und Schule systematisch zerstört wird, macht die Eltern doch oft auch zu Erfüllungsgehilfen ihrer mit Ansprüchen vollgepumpten Kinder — und dies zum Schaden von beiden. Damit ich hier aber nicht mißverstanden werde: Das ist nicht Schuld der Kinder. Im Gegenteil! Die schlimmste Sünde begehen die Vorkämpfer
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12103
Frau Dr. Wexdieser falsch verstandenen emanzipatorischen Erziehung an den Kindern selbst.
: Rich-
tig!)Sie betrügen sie nämlich um die Möglichkeit, Autorität zu erfahren, und machen sie damit für jede Art von kollektiver Ideologie manipulierbar.
Autorität ist freilich nicht so zu verstehen, daß etwa Eltern und Erzieher schon deshalb Recht und Gehör zu beanspruchen haben, weil sie älter sind, sondern muß vielmehr als ein Angebot zur Orientierung an Wertmaßstäben verstanden werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. — Wohl erfordert die Erziehung zum freien Menschen Erziehung zur Kritikfähigkeit. Aber junge Menschen zu früh zum Urteil zu verurteilen, ehe man ihnen Wertmaßstäbe an die Hand gegeben hat, hieße ihre Möglichkeiten einengen, vorurteilslos auch positive Erfahrung in ihrem Leben zu machen.
Der Grund für einen Teil der Aggressionen unter Jugendlichen besteht doch weniger in der berechtigten Ungeduld über immer noch vorhandene Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft als vielmehr darin, daß in zahllosen Schulen der Bundesrepublik statt der Erziehung zum freien Urteil als Lernziel vorrangig globale Kritik angeboten wird. Von der zuständigen Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit hätten wir dazu einmal ein Wort erwartet. Wir hätten es auch für notwendig gehalten, daß Regierung und Kommission hier die Gelegenheit genommen hätten, in ihren Stellungnahmen auf die Wirkung moderner Massenmedien in bezug auf den Sozialisationsprozeß in der Familie einzugehen, so z. B. auf die neuesten Forschungsergebnisse über die Wirkung von Gewaltszenen im Fernsehen auf Kinder und Jugendliche, zu subsumieren unter dem Titel „Aggression wird erlernt".Meine Damen und Herren, wir können Familienpolitik so gut und so viel machen, wie wir wollen, — wenn wir mit der Praxis in der Schule und dem Erziehungsgiganten Fernsehen nicht zu wirkungsvoller Zusammenarbeit gelangen, rutscht uns der Boden unter den Füßen weg.
Die Zielvorstellungen des Erziehungsgeldes werden durch den Bericht der Sachverständigen völlig gedeckt. Die Bundesregierung hat der CDU/CSU im Zusammenhang mit der Diskussion um das Erziehungsgeld vorgeworfen, damit würde Familienpolitik auf einen schmalen Ausschnitt einer besonderen Form materieller Zuwendungen beschränkt. Nach der von uns auf dem familienpolitischen Kongreß vorgelegten umfassenden Programmatik zur Familienpolitik ist eine solche oberflächliche Beurteilung unserer Vorschläge, glaube ich, nicht mehr erlaubt. Wer nicht wenigstens bereit ist, in eine ernsthafte Diskussion darüber einzutreten, welchen Umfang ein solches Erziehungsgeld annehmen muß, damit moderne Familienpolitik begründet und veraltete Vorstellungen von der Familie abgelegt werden können, der argumentiert auf Kosten der Eltern und Kinder, die sich teilweise unauflöslichen Problemen gegenübersehen.Natürlich wissen auch wir, daß die Schwierigkeiten in den Familien selber durch materielle Zuwendungen nicht behoben werden können. Aber nach den gescheiterten Experimenten mit den dilettantischen Formen antiautoritärer Erziehung füllt sich doch die Primärgruppe Familie wieder mit einem positiven Sinn.Die Bundesregierung lehnt das Erziehungsgeld aus finanziellen Erwägungen ab. Diese Ablehnung ist hoffentlich nicht endgültig. Denn auf längere Sicht muß sich erweisen, daß ein Erziehungsgeld die billigste und sicherste Maßnahme ist, den Kindern die besten Chancen für ihr Leben zu garantieren.
Chancengleichheit wird nicht erst in der Schule gewonnen oder verspielt, über sie wird bereits in den ersten Lebensjahren entschieden,
in den Jahren, in denen alles getan werden muß, um dem Kind die Möglichkeit zu geben, in der Familie erzogen zu werden. Die Schwächen, die in diesen Zeiten auftreten, können nicht durch ein noch so gut abgestuftes und verzahntes Schulsystem wiedergutgemacht werden. Hier gilt es, zu überlegen, welches Leid vermieden und welche Kosten gespart werden können, wenn die Erziehung zum richtigen Zeitpunkt und in der Familie einsetzt.
Die immer mehr steigende Zahl verhaltensgestörter Kinder und die dafür angeführten Gründe erlauben uns einfach keinen Aufschub mehr. Damit stellt sich politisch die Frage nach den gesellschaftspolitischen Prioritäten, nach der Entscheidungskraft, solche Prioritäten zu setzen, und nach der Abstimmung mit den Finanzierungsproblemen. Die endgültige Entscheidung über das weitere Schicksal dieses Projekts wird Aufschluß darüber geben, wie ernst es der Bundesregierung mit einer Familienpolitik ist, in deren Mitte die Familie und nicht außerfamiliäre Gruppen stehen sollen.Der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, hat vor einigen Wochen in Dortmund gesagt, Koalition und Opposition sollten bei Fragen, die vorrangig immer noch die Frauen betreffen, zusammenarbeiten. Hier ist eine solche Frage. Ich halte die Konsequenz, dann auf materielle Dinge allein unter dem Aspekt, wir hätten nichts anderes vor, als bestimmte Formen von Familien zu propagieren, auszuweichen, angesichts dieses politischen Hintergrunds einfach für unzulässig. Die CDU/CSU ist bereit, mit der
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12104 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Frau Dr. WexKoalition nach Möglichkeiten für die Einführung eines Erziehungsgeldes zu suchen, aber dann nicht immer nur in verbalem Schlagabtausch, sondern wirklich durch eine Auseinandersetzung in der Sache.Die Schwierigkeiten, vor denen die Familien insbesondere in der Frage der Sozialisation stehen, können durch die von der Bundesregierung bisher in die Wege geleiteten Maßnahmen nicht beseitigt werden. Eine entscheidende Voraussetzung — das hängt auch mit dem Erziehungsgeld zusammen -dafür, das notwendige Klima zur Sozialisation innerhalb der Familie zu schaffen, sind das Verhältnis der Ehepartner zueinander und ihre Einstellung zu den Aufgaben in der Familie und für die Familie.Eine solche Politik beinhaltet zugleich eine eigenständige soziale Sicherung der Frau. Die CDU hat hierzu das Modell der Partnerrente entwickelt, und wir haben mit Freude festgestellt, daß sich die SPD-Fraktion diesem Modell angenähert hat.
— Könnten Sie sich wirklich einmal etwas anderes einfallen lassen, als über ernsthafte Vorstellungen unqualifiziert zu lachen?
„Die Institution Familie ist der zentrale Ort des Menschen in unserer Gesellschaft" ; diese Aussage hat in unserem Land eine repräsentative Basis. 63 % der 16 bis 29 Jahre alten Menschen in der Bundesrepublik halten laut einer Emnid-Umfrage von 1973 ein glückliches Familienleben für das wichtigste Lebensziel, für den wichtigsten Zukunftswunsch. Wesentlich geringer werden die berufliche Sicherheit — 45 % persönliche Unabhängigkeit 41 % — und hohes Einkommen — 36 % bewertet. Ist es nicht die Hauptaufgabe der Familienpolitik, diesen Zukunftswunsch der meisten jungen Menschen durch Entscheidungen verwirklichen zu helfen, die im politischen Bereich gefällt werden können? Eine dieser wichtigen Entscheidungen sieht die CDU' CSU in ihrem Erziehungsgeldentwurf und damit in einer richtigen Weichenstellung zur frühkindlichen Sozialisation.Eine Familienpolitik, die den Adressaten dieser Politik, nämlich die Familie selbst, nicht aus den Augen verliert, muß beispielsweise zur Kenntnis nehmen, daß Mütter, nach ihrer Mutterrolle befragt, der Meinung sind, nämlich 52 %, eine Mutter sollte, solange die Kinder noch klein sind und sie notwendig brauchen, ihre eigenen Interessen zurückstellen. 22 % der Frauen vertraten sogar die Auffassung, eine Mutter sollte immer für die Familie da sein, auch dann, wenn die Kinder bereits größer sind. 74 % der Frauen sehen somit ihre Rolle als Mutter in erster Linie als Erzieherin und sind vorrangig bereit, diese Form der Karriere für sich zu wählen. Für die Gesellschaft bedeuten sie ein unersetzliches Reservoir an Erzieherinnen. Damit wird die Leistung der Frauen keineswegs geschmälert, die beides miteinander verbinden wollen.Wenn aber die Bundesregierung ihre Familienpolitik ausdrücklich am Wohl des Kindes orientierenwill, dann kann sie nicht daran vorbeigehen, ihre Prioritäten in Richtung Erziehung in der Familie — besonders im Kleinkinderalter — und damit in Richtung unseres Erziehungsgeldes zu setzen.
Nun kann man natürlich sagen: Wer in der Erziehung in der Familie seine Hauptaufgabe sieht, soll sich dieser Aufgabe widmen; ich als Bundesregierung sehe die Prioritäten dort,
— hören Sie doch bitte einmal zu! — wo der Staat in die Rolle des Erziehers eintritt. Eine solche Auffassung der Bundesregierung ist zu erkennen; sie ist aber nach unserer Meinung sicher viel zu eng. Familienpolitik heißt die Erziehungsfähigkeit zuerst in der Familie stärken. Dazu gehören Eltern- und Familienbildung. Der Bericht der Kommission macht zu Recht darauf aufmerksam, daß der Initiative der Eltern in den Bereichen Bildung und Erziehung ein stärkeres Betätigungs- und Beteiligungsfeld eingeräumt werden muß. Wer Erziehungsstile verändern will, muß zunächst einmal die Eltern und nicht die Kinder beeinflussen. Es wäre eine lohnende Aufgabe für die Bund-Länder-Kommission, diese Aspekte in der allgemeinen Bildungsplanung zu berücksichtigen.Ich fasse zusammen: Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland stellt die Familie unter ihren besonderen Schutz. Daher gehört Familienpolitik zu den vorrangigen politischen Aufgaben. Sie umfaßt nicht nur eine materielle Förderung der Familie, sondern sie erfordert Familienpolitik vor allen Dingen als familienorientierte Gesellschaftspolitik — handele es sich dabei um Probleme des Städtebaus, des Gesundheitswesens, der Rechtspolitik, der Bildungspolitik oder der Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesregierung ist aber weder organisatorisch noch konzeptionell in der Lage, in diesem Sinne eine familienorientierte Gesellschaftspolitik anzubieten; das beweist die Stellungnahme der Kommission.Unter der Überschrift „Aufgaben der Familie" schreibt die Bundesregierung:Ausgangspunkt für die Familienpolitik der Bundesregierung ist die Familie in ihrer heutigen Struktur, mit ihrem derzeitigen Selbstverständnis und mit den Funktionen, die sie in der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit wahrnimmt. Eine Familienpolitik, die sich an einer idealisierten Familie orientieren würde, hätte für die Familie keinen Nutzen.Hier zeigt sich: Es fehlt an gestalterischer Kraft, die in die Zukunft weist. Wer sich nur Gegebenheiten anpaßt, gibt die Zukunft schon aus der Hand.Die CDU hat auf ihrem familienpolitischen Kongreß eine Offensive für die moderne Familie begonnen. Wir haben darin z. B. den Gesetzentwurf „Erziehungsgeld" als zukunftweisende Aufgabe benannt. Wenn die Koalition bereit ist, mit der Regie-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12105
Frau Dr. Wexrung die notwendigen sachgerechten Konsequenzen aus dem Kommissionsbericht zu ziehen, dann müßte sie sich diesen unseren Initiativen anschließen. Sie sind ein Konzept für die Zukunft der Familie, die für unsere freie Gesellschaftsform unersetzlich ist.
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause ein und setzen die Sitzung um 14 Uhr mit der Fragestunde fort. Ich bitte aber, darauf zu achten, daß diese Fragestunde möglicherweise nicht 90 Minuten dauert, weil die Zahl der noch offenen Fragen begrenzt ist. Wir werden dann ohne Pause zu diesem Tagesordnungspunkt zurückkehren, also gegebenenfalls vor 15.30 Uhr.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir treten in die Fragestunde — Drucksachen 7/3630, 7/3665 —
ein. Es liegen zwei dringliche Fragen des Herrn Abgeordneten Zeyer auf der Drucksache 7/3665 vor, die den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen betreffen. Ich rufe die erste dringliche Frage auf:
Treffen Presseberichte zu, wonach die Bundesregierung in Erwägung zieht, die deutsche Erdgas- oder die deutsche Erdölförderung mit einer Sondersteuer zu belegen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Offergeld steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Herr Kollege, ich weiß nicht, was Sie unter einer Sondersteuer verstehen. Diesen Begriff kennt unser Steuerrecht nicht. Die Bundesregierung untersucht gegenwärtig pflichtgemäß die Probleme, die sich aus den weltweiten Mineralölpreissteigerungen im Hinblick auf die inländische Erdöl- und Erdgasförderung ergeben. Dabei wird auch geprüft, ob steuerliche Maßnahmen in Betracht kommen. Die Überlegungen sind bisher noch nicht soweit gediehen, daß sich konkrete Entscheidungen abzeichnen.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung in Erwägung gezogen, die Veba AG, an der der Bund mit rund 50 % beteiligt ist, aus den Mitteln einer solchen Sondersteuer oder Abgabe, wie Sie es auch nennen mögen, direkt oder indirekt zu subventionieren?
Die Erwägungen sind noch nicht
soweit gediehen, daß man darauf eine Antwort geben könnte.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Geschäftsleitung des Veba-Konzerns die Bundesregierung hat wissen lassen, daß sie ohne eine finanzielle Hilfe des Bundes gezwungen sei, Raffineriekapazitäten stillzulegen, und daß der Aufsichtsrat in Kürze darüber entscheiden soll?
Es gibt Gespräche mit der Veba. Über Einzelheiten kann ich Ihnen im gegenwärtigen Zeitpunkt keine Auskunft geben. Im übrigen sehe ich keinen Zusammenhang mit der gestellten Frage.
Zusatzfrage!
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht auch der Meinung, daß eine Sondersteuer auf die deutsche Erdgas- oder die deutsche Erdölförderung sich in den Kosten der Produkte, also auch im Benzinpreis, niederschlagen würde?
Frau Kollegin, ich habe gesagt, daß wir rechtlich den Begriff der Sondersteuer nicht kennen.
Ich rufe die zweite dringliche Frage des Herrn Abgeordneten Zeyer auf:
Soll die Androhung einer solchen Steuer oder die öffentliche Diskussion über eine solche Steuer die internationalen Mineralölkonzerne dazu bewegen, ebenso wie ARAL und FANAL die Benzinpreise in den nächsten Tagen zu erhöhen, und wie würde die Bundesregierung auf diese Weise erzwungenes gleichförmiges Verhalten der Mineralöl-Gesellschaften wettbewerbsrechtlich beurteilen?
Herr Kollege, zwischen den Überlegungen der Bundesregierung zur inländischen Erdöl- und Erdgasförderung und der Preisentwicklung beim Benzin besteht kein Zusammenhang. Die Bundesregierung hat auch weder von sich aus eine öffentliche Diskussion veranlaßt, noch hält sie es für gerechtfertigt, die Prüfung dieser Fragen als eine — ich zitiere Ihre Frage — „Androhung einer solchen Steuer" zu betrachten.
Sie sieht infolgedessen in ihren Überlegungen auch keinen gerechtfertigten Anlaß für die internationalen Mineralölkonzerne, ihre Benzinpreise anzuheben, und schon gar keinen Zwang zu gleichförmigem Verhalten. Ich kann es mir deshalb ersparen, hypothetische wettbewerbsrechtliche Bewertungen hier zum Besten zu geben.
Sie haben noch eine Zusatzfrage. Bitte!
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12106 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Herr Staatssekretär, finden Sie es nicht auch eigenartig, daß just zu dem Zeitpunkt, in dem die Konzerntöchter der VebaAG, nämlich Aral und Fanal, die Preise um 2 Pfennig je Liter Benzin erhöhen, laut über die Belastung der sogenannten internationalen Ölkonzerne mit einer Sondersteuer oder Abgabe nachgedacht wird, und wie erklären Sie die Tatsache — —
Herr Kollege, darf ich jetzt das Fragezeichen setzen; denn nach „und" käme eine weitere Frage.
Herr Kollege, die Bundesregierung stellt pflichtgemäß, wie ich schon bei der Beantwortung der ersten Frage sagte, Überlegungen schon seit längerer Zeit an. Den Zeitpunkt einer öffentlichen Diskussion über diese Fragen kann die Bundesregierung nicht bestimmen.
Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie die Tatsache, daß ausgerechnet die von der Bundesregierung über die Veba AG beherrschten Mineralölgesellschaften Aral und Fanal wenige Tage nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland die Benzinpreise angehoben haben, während die vielgeschmähten sogenannten multinationalen Konzerne es beim alten Preis belassen haben?
Herr Kollege, das ist eine Unternehmensentscheidung der Veba AG, auf die die Bundesregierung keinen Einfluß genommen hat.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, will die Bundesregierung im Interesse des Veba-Konzerns durch ihr Verhalten die internationalen Ölgesellschaften gegen die Gesetze des Marktes zu einer allgemeinen Benzinpreiserhöhung veranlassen?
Nein, das ist nicht Absicht der Bundesregierung. Das habe ich bei der Beantwortung der zweiten Frage deutlich gesagt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung nicht auch der Meinung, daß eine allgemeine Benzinpreiserhöhung bei den heutigen Marktverhältnissen als mißbräuchliches Verhalten im Sinne des § 22 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen betrachtet werden könnte?
Herr Kollege, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß der gebotene unmittelbare Zusammenhang mit der eingereichten Frage meines Erachtens nicht besteht. — Die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, finden Sie nicht auch, daß bei dem vorliegenden Sachverhalt der Eindruck entstehen muß, daß die Bundesregierung mit ihrem Verhalten die Benzinpreise bewußt in die Höhe treibt?
Nein, ich habe nicht den Eindruck, Frau Kollegin.
Zu einer letzten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Huonker.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung wenigstens annäherungsweise Vorstellungen darüber, wie hoch die windfall profits in dem hier angesprochenen Bereich im Jahre 1974 gewesen sind?
Ja, die kann man grob schätzen, wenn man die höheren Weltmarktpreise in Vergleich setzt zu der früheren Preis-Kosten-Entwicklung bei der inländischen Förderung. Das sind Beträge in Milliardenhöhe.
Damit, meine Damen und Herren, sind die beiden Dringlichkeitsfragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes auf. Zur Beantwortung der eingereichten Fragen steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Schlei zur Verfügung. Ich rufe zunächst die Frage 79 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Auf welche Fakten stützt sich die Behauptung des Bundeskanzlers in seiner Ansprache zum 8. Mai 1975, daß wir dankbar sind für „so viel Hilfe, Versöhnungsbereitschaft, gute Nachbarschaft und Partnerschaft" und daß in diesen Dank neben den USA „ausdrücklich auch die Sowjetunion" miteinbezogen wird?
Frau Staatssekretärin!
Ich nehme an, Herr Kollege, Ihre Frage bezieht sich nicht auf die Fakten der Hilfe, Versöhnungsbereitschaft und Partnerschaft im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten. Hinsichtlich der Sowjetunion hat es nach vielen Jahren ausgesprochen feindseliger Beziehungen einen erheblichen Wandel gegeben, der durch das geschaffene Vertragswerk gekennzeichnet ist. Sicherlich sind die Beiträge, die die verschiedenen Staaten zur Aussöhnung mit dem früheren Kriegsgegner geleistet haben, unterschiedlich. Es gibt Unterschiede nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch innerhalb der Staaten des Westens und des Ostens. Die Politik der Bundes-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12107
Parl. Staatssekretär Frau Schleiregierung wird von dem Willen getragen, Versöhnung nicht nur mit dem Westen, sondern auch mit dem Osten zu vollziehen. Ohne Mitarbeit der osteuropäischen Staaten wäre das bis jetzt Erreichte nicht möglich gewesen. Für den in den letzten Jahren auf der Versöhnungsbereitschaft der östlichen Nachbarvölker beruhenden Beitrag hat der Bundeskanzler ausdrücklich gedankt.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, kann man von Hilfe, Versöhnungsbereitschaft und Nachbarschaft sprechen und diese ausdrücklich loben, wenn man weiß, daß die Sowjetunion gleichzeitig Teilen von Deutschland das Selbstbestimmungsrecht verweigert?
Herr Kollege, diese Rede des Bundeskanzlers bezieht sich auf den 30. Jahrestag der Beendigung des Weltkrieges. Sie wissen, daß zu dem Weltkrieg Gründe führten, die ich hier nicht erörtern muß. Wir haben an diesem Tag den Völkern für ihre Verständigungsbereitschaft gedankt, und es ist kein Zusammenhang mit Ihrer Frage zu erkennen, die sich auf den 17. Juni bezieht.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, wenn Sie sich gerade auf den Zeitpunkt beziehen: Wäre es dann nicht auch richtig gewesen, in die Betrachtung einzubeziehen, daß Tausende von Frauen durch die Rote Armee vergewaltigt worden sind, daß auf den Transporten in die Sowjetunion 200 000 Deutsche jenseits von Oder und Neiße ums Leben gekommen sind und die Zahl der Kriegsgefangenen, die ums Leben gekommen sind, über 1 Million beträgt?
Der Herr Bundeskanzler macht eine Politik für die Zukunft, Herr Dr. Hupka, und wir sind der Ansicht, daß seine Einstellung zur Politikgestaltung die richtige ist.
Herr Abgeordneter, Sie haben keine weitere Zusatzfrage mehr. — Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger.
Frau Staatssekretärin, muß Ihre Antwort auf die angeblichen Fakten, die Sie vorgetragen haben, nicht sehr dürftig erscheinen angesichts der Tatsache, daß der Bundeskanzler — —
Herr Kollege Jäger, ich bitte um eine Zusatzfrage ohne Bewertungen.
Gut. — Frau Staatssekretärin, welche Fakten sind denn in der vom Bundeskanzler in seiner Rede angesprochenen Zeit — „bald nach 1945", wie er sich ausdrückte — vorzuweisen, bei denen die Sowjetunion Hilfe, Verständnis, Versöhnungsbereitschaft und gute Nachbarschaft gezeigt hätte?
Der Herr Bundeskanzler meinte damit die Zeichen, die aus den Völkern kamen, und er meinte aber ganz besonders die Politik, die die sozialliberale Koalition mit den Völkern im Osten nach 1969 gestalten konnte.
Herr Kollege, Sie haben eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich habe folgende Frage: Ist nicht die gleichrangige Einbeziehung der UdSSR und der Vereinigten Staaten von Amerika in den Dank des Bundeskanzlers für Hilfe, gute Nachbarschaft und Versöhnungsbereitschaft nach dem Kriege als eine schwerwiegende Herabsetzung der USA und ihrer großzügigen Hilfe anzusehen?
Aber Herr Kollege, das ist keineswegs so. Die USA sehen sich selbst zusammen mit der Sowjetunion als Partner eines weltweiten Prozesses der Entspannungsbemühungen. Dadurch werden meines Erachtens Gegensätze und Unterschiede nicht in unzulässiger Weise verwischt.
Zu einer letzten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Dr. Wittmann.
Frau Staatssekretärin, nachdem Sie bis jetzt keine Fakten im Sinne der Frage genannt haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie etwa das aggressive Verhalten der Sowjetunion in Berlin als eines der Fakten für gute Nachbarschaft, Versöhnungsbereitschaft usw. werten? Meinen Sie nicht, daß man zwischen der Sowjetunion als solcher und den Völkern der Sowjetunion unterscheiden sollte? Diese Unterscheidung fehlt in den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers.
Herr Kollege, Ihr Politikverständnis ist Ihre Sache. Zu den Fakten gehört aber auch das, was der Herr Bundeskanzler in der eben hier zitierten Rede angeführt hat, nämlich die Erinnerung an lange, ehrliche Gespräche mit den Staatsmännern an der Spitze Frankreichs oder der Sowjetunion, Englands oder der Vereinigten Staaten. In diesen Gesprächen
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12108 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Parl. Staatssekretär Frau Schleistimmte man hinsichtlich der Notwendigkeit überein, daß noch größeres Vertrauen in die von uns gestalteten Friedenssicherungen zu schaffen ist.
Ich rufe die Frage 78 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung heute die Ereignisse des 17. Juni 1953, nachdem der Bundeskanzler am 7. Mai 1975 der Sowjetunion ausdrücklich für „so viel Hilfe, Versöhnungsbereitschaft, gute Nachbarschaft und Partnerschaft" seinen Dank ausgesprochen hat?
Bitte Frau Staatssekretärin!
Herr Dr. Hupka, ich muß noch einmal sagen: Der Herr Bundeskanzler hat am 7. Mai 1975 eine Erklärung zum 8. Mai 1945 abgegeben, also eine Erklärung zum 30. Jahrestage der Beendigung des zweiten Weltkriegs. Die Haltung der Bundesregierung zum 17. Juni 1953 ist unverändert und allgemein bekannt. Falls es Sie aber interessiert, was der Herr Bundeskanzler zu diesem Gedenktag — 17. Juni 1953 — gesagt hat, könnten Sie seine Ausführungen, die er für die Öffentlichkeit am Jahrestag „17. Juni 1974" gemacht hat, nachlesen.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, die Worte des Herrn Bundeskanzlers vom 7. Mai 1975 mit dem Dank für Hilfe, Versöhnungsbereitschaft und gute Nachbarschaft seitens der Sowjetunion beziehen sich ausdrücklich nicht auf den 17. Juni 1953 und das, was damals die Sowjetunion getan hat.
Das ist ganz selbstverständlich. Er hat sich gar nicht zum 17. Juni geäußert. Ich sagte schon vorher: Er hat sich vorwiegend zu der Zeit geäußert, die seit 1969 durch uns politisch gestaltet wurde.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie haben doch vorhin gesagt, der Herr Bundeskanzler habe sich am 7. Mai zum 8. Mai vor 30 Jahren geäußert. Jetzt beziehen Sie sich andauernd nur auf die Verträge. Vielleicht können Sie uns sagen, von welchem Zeitpunkt an der Herr Bundeskanzler meint, der Sowjetunion Dank für gute Nachbarschaft, Hilfe und Partnerschaft abstatten zu müssen.
Für die Entwicklungszeit, die sich im russischen Volk nachweisen läßt, und für die Zeit nach 1969, die durch die Verträge geregelt ist, Herr Kollege.
Herr Kollege, Sie haben keine weitere Zusatzfrage. Ich gebe aber dem Herrn Abgeordneten Jäger die Möglichkeit, eine Zusatzfrage zu stellen.
Frau Staatssekretärin, muß es nicht wie eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer des 17. Juni 1953 wirken, wenn der Bundeskanzler der Sowjetunion ausdrücklich für Hilfeleistungen — wie er sich ausdrückt — „bald nach 1945" dankt?
Nein, das ist eine Interpretation, die Sie unterlegen, die die Regierung nicht unterlegt und die auch die Bundesbürger nicht unterlegen.
Noch eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lagershausen.
Frau Staatssekretärin, ist die Bundesregierung einem Staat für sein Verhalten nach dem letzten Weltkrieg Dank schuldig, der entgegen dem am 17. Juni 1953 sichtbar gewordenen Willen der mitteldeutschen Bevölkerung unverändert diesem Teil des deutschen Volkes das Recht auf Selbstbestimmung vorenthält?
Die Bundesregierung ist den Völkern östlich unseres Landes dafür dankbar, daß wir zu diesem Punkt von Entspannungs- und Friedenspolitik gekommen sind, den wir heute erreicht haben, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes beantwortet. Ich danke der Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister Moersch zur Verfügung.
Frage 77 wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet; die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 80 des Herrn Abgeordneten Dr. Wittmann auf:
Ist die Bundesregierung bereit, sich z. B. im Rahmen der Vereinten Nationen dafür einzusetzen, daß durch eine Untersuchungskommission oder auf einem anderen Wege festgestellt wird, ob in den von cien Kommunisten in Indochina besetzten Ländern die Menschenrechte gewahrt werden, und verneinenden-falls Maßnahmen ergriffen werden, um die Machthaber zu deren Einhaltung zu bewegen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hält es für
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12109
Staatsminister Moerschratsam, konkrete Schritte erst dann zu unternehmen, wenn sie über verläßliche Informationen verfügt, die sie im Falle Kambodschas und Vietnams noch nicht hat.Die Bundesregierung hat wiederholt und unmißverständlich klargemacht, daß sie sich für den Schutz der Menschenrechte in allen Teilen der Welt einsetzt. Sie vertritt insbesondere die Auffassung, daß Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie vorkommen, unter objektiven Gesichtspunkten geprüft und sorgfältig untersucht werden sollten. Dieser Standpunkt ist von der Bundesregierung auch in allen mit dem Schutz der Menschenrechte befaßten Gremien der Vereinten Nationen vertreten worden und wird dort weiterhin vertreten.
Sie haben Zusatzfragen. Bitte, Herr Kollege!
Herr Staatsminister, wie wollen Sie diese Prüfung durchführen, wenn man nicht entweder den Vereinten Nationen oder dem Roten Kreuz die Möglichkeit gibt, die Verhältnisse an Ort und Stelle zu prüfen? Wäre hier nicht eine Prüfungsinitiative notwendig?
Herr Abgeordneter, es ist richtig, daß diese internationalen Organisationen die Möglichkeit zur Prüfung haben müssen. Wir erwarten, daß dies in Zukunft möglich sein wird.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, warum tut die Bundesregierung hier nicht die notwendigen Schritte? Ich glaube, es wäre angemessen, einmal bei den Vereinten Nationen zu beweisen, daß wir nicht nur zahlen, sondern auch für die Menschenrechte eintreten.
Herr Abgeordneter, es wird Ihnen sicherlich nicht entgangen sein, daß wir die diplomatischen Beziehungen zu beiden Staaten noch nicht wieder beleben konnten. Die Bundesregierung ihrerseits hat deutlich gemacht, daß sie die Wiederbelebung dieser Beziehungen wünscht. Bevor wir nicht in einem Land vertreten sind, ist es uns auch nicht möglich, dort Informationen einzuholen.
Aber den Vereinten Nationen ist es möglich!
Herr Kollege, ich muß sagen, nach zwei Zusatzfragen gibt es nach der Geschäftsordnung keine Möglichkeit für weitere Zusatzfragen.
Ich rufe Frage 81 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Warum fördert die Bundesregierung finanziell Schulbuchempfehlungen, die die Massenvertreibung von 12 Millionen Deutschen als „Bevölkerungsverschiebung", Evakuierung, Flucht und Zwangsumsiedlung und nicht als ein - auch nach der UN-Charta, insbesondere aber auch nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und unter Beachtung der Vorschriften des Artikels 25 des Grundgesetzes — verbotenes Vertreibungsverbrechen bezeichnen?
Herr Abgeordneter, die Frage 81 geht von einer unrichtigen Sachdarstellung aus. Die Bundesregierung fördert nicht einzelne Schulbuchempfehlungen, sie fördert vielmehr durch jährliche globale Zuschüsse das Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig, das bisher zur Pädagogischen Hochschule Niedersachsen gehört und nach dem Willen der niedersächsischen Landesregierung künftig in neuer Rechtsform seine Arbeiten fortsetzen soll.
Durch die finanzielle Unterstützung der Bundesregierung ist dieses Institut in der Lage, durch Forschungsarbeiten und Gutachtertätigkeit über deutsche und ausländische Schulbücher sowie durch Veranstaltung von internationalen wissenschaftlichen Tagungen Zusagen zu erfüllen, die von der Bundesregierung in Kulturabkommen mit ausländischen Staaten über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Schulbuchwesens gegeben worden sind. Dadurch wird vom Institut in Braunschweig unabhängigen deutschen Wissenschaftlern und Experten die Möglichkeit gegeben, auf dem Gebiet der internationalen Schulbuchforschung mitzuwirken.
Die von Ihnen angesprochenen „Empfehlungen" sind Arbeitsergebnisse internatioaler wissenschaftlicher Tagungen, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Bundesregierung ist weder an der Erstellung dieser Empfehlungen beteiligt noch l für die Umsetzung dieser Empfehlungen in deutschen Schulbüchern zuständig. Für letzteres ist die ausschließliche Kompetenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland in unserer Verfassung festgelegt.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja. Bitte!
Bedeutet das, was Sie sagten, daß die Bundesregierung die Unterstützung aus eigenen Mitteln dann versagen oder zurückstellen würde, wenn Völkerrechtswidriges und Menschenrechtswidriges beschönigt oder die deutsche Geschichte in solchen Empfehlungen entstellt würde?
Herr Abgeordneter, wenn es so wäre, wie Sie sagen, wäre das sicherlich keine wissenschaftliche Arbeit. Die Bundesregierung unterstützt wissenschaftliche Untersuchungen. Das Wesen wissenschaftlicher Untersuchungen besteht darin, daß sie von anderen Wissenschaftlern unter Umständen kritisch in Frage gestellt werden können. Die Bundesregierung tritt gemäß Art. 5 des Grundgesetzes für die Freiheit der Wissenschaft ein — auch in diesem Bereich.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
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12110 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Trotz des Klatschens: Können Sie erklären, wieso die Empfehlung, die in der Menschenrechtskonvention und in der UN-Deklaration über die Menschenrechte als Vertreibungsverbrechen bezeichneten Tatbestände als „Bevölkerungsverschiebung" zu bezeichnen, wissenschaftlich ist?
Herr Abgeordneter, das ist der Punkt, von dem die Wissenschaft oft lebt: daß sie von anderen als nichtwissenschaftlich qualifiziert wird. Es gehört zur Freiheit der Meinungsäußerung, auch zur Wissenschaft sich kritisch zu äußern. Aber die Bundesregierung hat nicht die Absicht und nicht die Befugnis — sonst würde ihr eine Verfassungsverletzung vorgeworfen werden —, solche wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu unterbinden. Sie selbst haben ja Gelegenheit, Ihren Beitrag zur Wissenschaftlichkeit hier zu leisten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, warum beurteilt die Bundesregierung diese Schulbuchempfehlungen als positiv, wie das wiederholt, auch im Plenum, geschehen ist, obwohl sie zur Kenntnis nehmen muß, daß hier Geschichtsklitterung betrieben worden ist?
Herr Abgeordneter, ich kann nicht zustimmen, daß dei letztgenannte Begriff in dieser allgemeinen Form überhaupt verwendet werden kann. Wenn Sie Schulbücher, die wir früher in der Schule gebraucht haben, mit den gleichen Maßstäben messen, dann müssen Sie zugeben, daß alle Geschichtsbücher dieser Art Geschichtsklitterungen enthalten haben. Wir haben nie behauptet, daß wir den Idealzustand etwa durch solche Empfehlungen erreichen können, sondern wir bemühen uns strebend, das Bessere zu erreichen. Die Bundesregierung ist der Meinung, daß schon der Ansatzpunkt zum Besseren wert ist, dies zu unterstützen.
Ich rufe die Frage 82 des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja auf:
Welche politischen und pädagogischen Werte waren für die finanzielle Förderung von Schulbuchempfehlungen bei den deutschpolnischen Schulbuchkonferenzen für die Bundesregierung maßgebend, wenn diese Empfehlungen in Mißachtung der personalen und Menschenrechte sowie zwingenden Völkerrechts die Vertreibungen nach dem zweiten Weltkrieg einfach als Maßnahmen zu rechtfertigen suchen, die „darauf abzielten, staatliche und ethnische Grenzen nach Möglichkeit in Übereinstimmung zu bringen"?
Herr Staatsminister!
Herr Abgeordneter, die Beantwortung der ersten Frage hat ergeben, daß die Bundesregierung die Schulbuchempfehlungen nicht finanziell fördert. Dadurch entfallen die Voraussetzungen für diese Frage.
Zusatz- 1 frage!
Aber nachdem Sie in der vorigen Antwort festgestellt haben, daß sie die Voraussetzungen für die Herausgabe der Schulbuchempfehlungen fördert, frage ich Sie, ob sie dies, nachdem ausgesprochene Vertragsverletzungen, beispielsweise des Vierten Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention, darin enthalten sind, unter dem Mantel, daß es sich um wissenschaftliche Äußerungen handelt, weiterhin fördern kann.
Herr Abgeordneter, ich glaube, wir diskutieren auf zwei Ebenen. Die Bundesregierung ist dankbar dafür, daß versucht wurde, eine gemeinsame Grundlage in den Empfehlungen zu schaffen, die sicherlich kein weltgerichtliches Urteil darstellen können, sondern den Ausgangspunkt für weitere Diskussionen und Auseinandersetzungen. Z. B. wird das, was Sie hier in Form von Fragen als Meinung geäußert haben, sicherlich auch die nächste Konferenz beschäftigen müssen. Das ist bereits ein Beitrag zu einer kritischen Durchleuchtung von solchen Empfehlungen. Es wäre tief bedauerlich, wenn die Bundesregierung sozusagen durch finanzielle Maßnahmen diese Diskussion, die wir seit 25 Jahren wünschen, unterbände.
Im übrigen vertraue ich darauf, daß die Generation, die heute in den Schulen unterrichtet wird, in der Lage ist, sich aus vielfältigen Quellen, z. B. auch aus solchen, die Sie zitiert haben, zu informieren und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wäre die Urteilsfähigkeit der Menschen so gering, wie das hier in Ihrer Frage anzuklingen schien, dann wäre die Generation, die im Dritten Reich zur Schule gegangen ist, längst verloren.
Eine weitere Zusatzfrage.
Bedeutet Ihre letzte Antwort bezüglich der zukünftigen Überprüfung dieser Aussagen auch, daß die Bundesregierung ihre finanzielle Förderung dann überprüfen würde, wenn unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit weiterhin verfassungswidrige und völkerrechtswidrige Aussagen als Schulbuchempfehlungen veröffentlicht würden?
Herr Abgeordneter, auch dies scheint mir nicht die angemessene Form der möglichen Einwirkungen einer Bundesregierung zu sein. Die Bundesregierung vertraut darauf, daß die elf Kultusminister der Länder mit ebenso kritischen Augen solche Empfehlungen lesen, wie sie das selbst tut.
Die Pluralität dieser Kultusministerkonferenz sorgt sicherlich dafür, daß am Ende in den zur Benutzung
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12111
Staatsminister Moerschempfohlenen Schulbüchern die Dinge stehen, die auch mit unserer Verfassung übereinstimmen. Sie stellen Ihren Kollegen in den Kultusministerien im Grunde ein schlechtes Zeugnis aus, wenn Sie in dieser Form Mißtrauen äußern. Die Bundesregierung hat lediglich dafür zu sorgen, daß solche Empfehlungen in den Kultusministerien selbst noch einmal begutachtet werden können. Ich glaube, die Bundesregierung ist gut beraten, wenn sie diesen Beitrag, den sie auch im deutsch-französischen Verhältnis geleistet hat, im deutsch-polnischen Verhältnis leistet. Ich wüßte nicht, wie man sonst jemals hätte neu beginnen können.
Zu einer
letzten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatsminister, da Sie bereits die deutsch-französischen Schulbuchkonferenzen erwähnt haben: können Sie mir darin zustimmen, daß es doch einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen deutschen und französischen Pädagogen, die beide als Demokraten zusammenkommen, und zwischen deutschen und polnischen Pädagogen, wobei die Polen Abgesandte des kommunistischen Apparats sind?
Herr Abgeordneter, wenn ich dies erwähnt habe, habe ich es nicht im Sinne einer völligen Gleichstellung erwähnt. Aber es wird Ihnen so wenig wie uns entgangen sein, daß es z. B. in der französischen Wissenschaft engagierte Marxisten gibt. Es wird Ihnen auch nicht entgangen sein, daß es in Polen Leute gibt, die sagen, sie seien dies eben nicht. Ich glaube, daß hier eine differenzierte Betrachtungsweise der Sache am besten gerecht wird, und ich hoffe, daß wir in der Lage sind, unsere Souveränität in solchen Fragen zu behaupten, nämlich die innere Souveränität, nicht die staatliche.
Herr
Staatsminister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Der Herr Abgeordnete Pawelczyk hat um schriftliche Beantwortung seiner Fragen 62 und 63 gebeten. Der Herr Abgeordnete Ziegler hat ebenfalls um schriftliche Beantwortung der von ihm eingereichten Frage 64 gebeten, desgleichen der Herr Abgeordnete Dr. Enders für die von ihm eingereichten Fragen 65 und 66. Schriftlich beantwortet auf Wunsch der Fragesteller werden ebenso die Frage 67 des Herrn Abgeordneten Dr. Schweitzer und die Fragen 68 und 69 des Herrn Abgeordneten Dr. Hauser . Die Antworten auf alle genannten Fragen werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Staatssekretär Buschfort, ich danke Ihnen, daß Sie durch Ihre Präsenz das Interesse des Ministeriums an der Beantwortung unterstrichen haben.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Herold zur Verfügung.
Die erste Frage zu diesem Geschäftsbereich, die Frage 70, ist von dem Herrn Abgeordneten Hösl eingebracht:
Trifft es zu, daß im Land Berlin die S-Bahn-Züge am 1. Mai 1975 mit der Flagge der „DDR" versehen waren, und was hat die Bundesregierung unternommen, um dafür zu sorgen, daß der damit dokumentierte Hoheitsanspruch Ost-Berlins auf das S-BahnGelände in West-Berlin eindeutig und erfolgreich zurückgewiesen wird?
Bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Präsident! Herr Kollege Hösl, ich darf Ihre Frage wie folgt beantworten:
Der Betrieb der S-Bahn in den Westsektoren Berlins wird von der Reichsbahndirektion Berlin mit Sitz in Ost-Berlin durchgeführt. Sie unterliegt dabei ausschließlich der Kontrolle und den Weisungen der Alliierten Kommandantur Berlin. Im Auftrag der Alliierten wird von der Westberliner Polizei eingeschritten, wenn die DDR-Flagge auf den Bahnhöfen in den Westsektoren und an den Gebäuden der Reichsbahn im Stadtgebiet gezeigt wird. Das Zeigen von Fähnchen an S-Bahnzügen aus besonderen Anlässen wird nicht unterbunden.
Zusatz-
frage.
Herr Staatssekretär, halten Sie diesen Zustand für tragbar, daß hier auf dem Gebiet von Berlin mit ,den Hoheitszeichen der DDR operiert wird, und finden Sie es nicht für wert, Einspruch einzulegen?
Ich habe Ihnen eben erklärt, daß diese Frage einzig und allein in die Zuständigkeit der Alliierten Kommandantur fällt, vor allem wenn eingeschritten werden soll. Ich nannte Ihnen dazu Beispiele. Die Fähnchen an den S-Bahnzügen sind bis jetzt nicht so zur Kenntnis genommen worden, daß die Alliierte Kommandantur hätte einschreiten müssen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie es auch nicht für notwendig erachten, diesem Zustand durch Vorsprache bei den Alliierten ein Ende zu machen?
Herr Kollege, wenn Sie mich so direkt fragen, möchte ich sagen, wir haben andere Sorgen als die Fähnchen an S-Bahnzügen.
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12112 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Ich rufe
die Frage 71 des Herrn Abgeordneten Hösl auf:
Hat die Bundesregierung entsprechend den öffentlichen Erklärungen des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen auch die Regierung in Ost-Berlin darauf hingewiesen, daß Verweigerung und Verhinderung jeglicher Hilfe für das in Berlin in die Spree gestürzte türkische Kind von der Bevölkerung als Mord angesehen wird und eine unerträgliche Belastung des mit dem Grundvertrag angestrebten Zustands in Deutschland darstellt?
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege Hösl, Ihre Frage gibt mir die Möglichkeit, auch im Hinblick auf die Fragen der Herren Kollegen Dr. Abelein, Dr. Marx und Dr. Jenninger, den Ausdruck des Schrecks und der Empörung darüber zu wiederholen, daß die politischen und rechtlichen Gegensätze in so erschütternder Weise die Handlungsfähigkeit der am Unfallort vorhandenen Kräfte lähmten. Es ist unannehmbar, daß die unterbliebene Hilfeleistung nun mit der Gewichtigkeit der Vermutung, daß das Kind schon tot gewesen sei, erklärt und von der DDR mit dem Hinweis auf die noch nicht zustande gekommenen formalen Vereinbarungen zu rechtfertigen versucht wird.
Zu Ihrer Frage darf ich grundsätzlich feststellen: Der Chef des Bundeskanzleramtes hat am 14. Mai den Leiter der Ständigen Vertretung der DDR empfangen und klar zum Ausdruck gebracht, wie die Bundesregierung diesen unfaßbaren Vorgang bewertet. Die Bundesregierung und der Senat haben, wie Ihnen bekannt ist, außerdem unmittelbar auf die Nachricht vom Ertrinken des Kindes in Berlin und die Verhinderung der durch Angehörige der Westberliner Feuerwehr und der Westberliner Polizei versuchten Hilfsmaßnahmen durch die DDR-Grenzorgane ihrer Trauer und Empörung in aller Deutlichkeit Ausdruck verliehen. Der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland hat bei seinen Gesprächen mit Vertretern der DDR diese Meinung der Bundesregierung eindeutig unterstrichen.
Sie haben eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, nachdem die Rechtslage in Berlin hier etwas unübersichtlich erscheint: Hat der Ständige Vertreter der Bundesregierung Einfluß auf die Regierung der DDR genommen, um zu Regelungen zu kommen, daß diese in allen Bereichen dieser Erde geradezu gebotene Hilfeleistung auch in Berlin gewährleistet werden kann?
Wir sind auf zwei Schienen gefahren, Herr Kollege Hösl. Erstens wurde der Ständige Vertreter der DDR hier in das Bundeskanzleramt gebeten, obwohl er in seiner Erklärung feststellte, er sei nicht zuständig. Im zweiten Zug hat die Bundesregierung durch Herrn Gaus in Ost-Berlin interveniert.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hösl.
Herr Staatssekretär, erfolgte der Schritt des Ständigen Vertreters nach der Unterredung mit Herrn Kohl, dem Ständigen Vertreter der DDR hier in Bonn, oder vorher?
Soweit mir in Erinnerung ist, geschah dies ungefähr zum gleichen Zeitpunkt. Ich kann das jetzt nicht genau sagen; ich müßte es überprüfen. Das kann geklärt werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kunz .
Herr Staatssekretär, wieviel Fälle von unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge durch die DDR bzw. Ost-Berlin sind der Bundesregierung seit dem Abschluß des Grundlagenvertrages bekanntgeworden?
Herr Kollege Kunz, es sind uns bis zur Stunde vier Fälle bekannt.
Herr Abgeordneter Jäger !
Herr Staatssekretär, wie hat die Bundesregierung auf das Vorbringen des Ständigen Vertreters der DDR, des Herrn Kohl, reagiert, der der Bundesregierung jede Berufung auf den Grundlagenvertrag in diesem Zusammenhang und das Recht, hier vorstellig zu werden, bestritten hat?
Wir haben gegenüber Herrn Kohl — so kann ich wohl sagen — eindeutig klargestellt, daß es hier nicht um Zuständigkeitsfragen, sondern um ein humanitäres und menschliches Problem geht, das im Vordergrund steht.
Herr Abgeordneter Ey.
Herr Staatssekretär, ist nunmehr gesichert, daß künftig in ähnlich gelagerten Fällen von beiden Seiten unverzügliche Hilfe geleistet werden kann?
Ich glaube, daß die zuständigen Berliner Stellen, also sowohl der Senat als die Alliierten — selbstverständlich mit Unterstützung der Bundesregierung —, alles tun und vorbereiten werden, damit solche schrecklichen Vorfälle künftig vermieden werden. Ob wir das generell er-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12113
Parl. Staatssekretär Heroldreichen können, kann ich Ihnen im Moment nicht mit absoluter Sicherheit sagen.
Eine letzte Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Berger.
Herr Staatssekretär, hat sich die Bundesregierung in diesem Falle, insbesondere auch im Hinblick darauf, in Zukunft Fälle dieser Art zu vermeiden, mit den Westalliierten in Verbindung gesetzt?
Ich glaube, es dürfte Ihnen bekannt sein, daß dieses Thema in den letzten Tagen auch bei Gesprächen mit den Alliierten eine wichtige Rolle gespielt hat.
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Abelein, der Abgeordnete Dr. Marx und der Abgeordnete Dr. Jenninger haben um schriftliche Beantwortung der eingereichten Fragen gebeten. Dem wird entsprochen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Herold, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Wir fahren in der Debatte des heutigen Vormittags zu den Tagesordnungspunkten 5 a und 5 b — Situation der Kinder in Deutschland; Zweiter Familienbericht — fort.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fiebig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zweite Familienbericht, von Experten erarbeitet, bestätigt auf der ganzen Linie die Familienpolitik der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen. Was Wissenschaftler auf ihre Art und Weise erarbeitet und ausgesagt haben, wird jedes Elternpaar in unserem Lande als Experten eigener Art auf andere Art und Weise bestätigen können. Die Bundesregierung wird dem Auftrag des Grundgesetzes nach Art. 6 gerecht, Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung zu stellen. Schutz ist von den Vätern des Grundgesetzes nicht allein als statischer Begriff gesehen, sondern wie alle vergleichbaren Begriffe des Grundgesetzes als ein dynamischer, d. h. auf die Familienpolitik angewandt: Der Staat hat der Familie besondere Hilfen zu geben, damit sie in einer sich ständig wandelnden Welt ihren Aufgaben gerecht werden kann. Denn auch Familie ist nicht etwas für alle Zeiten Unwandelbares, sondern ist wie alle Organisationsformen des menschlichen Zusammenlebens einem dauernden Prozeß und ständiger Wandlung unterworfen.Wer versucht, den Begriff Familie zu definieren, wird bald sehr kläglich scheitern. Weil die Betroffenen, Menschen nämlich, ihre jeweils eigene Familie gestalten, wird jede Familie ganz spezifisch sein, unverwechselbar, individuell, nicht austauschbar. Daher wird sich jede Familienpolitik von anderenEntscheidungen des Grundgesetzes ebenso leiten lassen müssen: Vom Recht auf Freiheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit, vom Anspruch auf Wahrung der Würde des Menschen und von dem Gebot der Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Alle Familienmitglieder, also auch die Kinder, sind Träger von Grundrechten.Wie alle gesetzlichen Regelungen so haben die Entscheidungen des Gesetzgebers auch für den Familienbereich die eine Funktion, Rechte und Pflichten der einzelnen abzuwägen und mit denen der Gemeinschaft in Einklang zu bringen. Das gilt auch für die Familie und ihre Mitglieder. Elternrecht und Kindesrecht, Recht der Frau und Recht des Mannes sind aufeinander bezogen und bedürfen im Konfliktfall einer Regelung, die den Konflikt fair auszutragen ermöglicht und ihn am Ende bewältigt. Eine konfliktfreie Welt gibt es nicht, auch nicht in der Familie.
Wie aber Konflikte ausgetragen und überwunden werden, ist entscheidend für die kleine Welt der Familie und die große Welt der Bevölkerung.Das Recht des Kindes auf Erziehung, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Erziehungsrecht der Eltern, Schutz und Wertschätzung von Ehe und Familie bleiben leere Formeln und Deklamationen, solange nicht staatliche Ordnung und politisches Handeln die Bedingungen und Voraussetzungen schaffen, Rechte und Pflichten zu realisieren. Ich füge einen Satz des Godesberger Programms meiner Partei hinzu, denen ins Stammbuch geschrieben, die da meinen, uns Sozialdemokraten der familienpoliti- schen Unzuverlässigkeit verdächtigen zu können:Staat und Gesellschaft haben die Familie zu schützen, zu fördern und zu stärken. In der materiellen Sicherung der Familie liegt die Anerkennung ihrer ideellen Werte. Ein Familienlastenausgleich im Steuersystem, Mutterschaftshilfe und Kindergeld sollen die Familie wirksam schützen.Damit ist zugleich gesagt, daß das alles, 1959 gefordert, nur durch eine Regierungsverantwortung der Sozialdemokraten zu erreichen war.
Am Anfang jeder Überlegung über Aufgaben und Ziele der Familienpolitik muß die Frage nach der Stellung und den Aufgaben der Familie in unserer Gesellschaft stehen. Dazu gehört auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ehe und Familie. Die Großfamilie des ausgehenden 19. Jahrhunderts existiert nicht mehr. Man mag das beklagen oder begrüßen; das richtet sich nach dem Standort des Betrachters. Jedenfalls müssen wir davon ausgehen, daß sich die gesellschaftlichen Strukturen grundlegend verändert haben, und das ist gut. Die Funktionen, die früher die Großfamilien zu tragen hatten, wirtschaftliche und soziale Absicherung, sind auf die Gesellschaft übergegangen.Die Einheit von Lebens- und Arbeitsbereich der vorindustriellen Gesellschaft besteht nicht mehr. Das müßte die CDU/CSU endlich auch zur Kenntnis
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Fiebignehmen. Gerade auch die heutige Kleinfamilie bedarf der staatlichen Hilfe zu ihrer Sozialisation.Wenn Frau Kollegin Wex vorhin gesagt hat, Familienpolitik müsse die Erziehungsfähigkeit zuerst in den Familien stärken, so hat sie den Horizont entscheidend verengt. Der Zweite Familienbericht sagt zu diesem Thema etwas mehr und etwas Weiteres:Familienpolitik muß zur erweiterten Teilnahme von Familien an außerfamilialen Gruppen und öffentlichen Einrichtungen beitragen, um die Familien aus ihrer Isolation herauszuführen.
Der Familienbericht fügt hinzu — auch das sei nicht verschwiegen —:Es geht auch nach wie vor um den Abbau dersozialen Schichtungen in bezug auf Familie.
Der pauschale Vorwurf, die Bundesregierung betreibe Familienpolitik an der Familie vorbei — so eine Pressemitteilung der Opposition vom 24. April —, trifft nicht zu.
Familienpolitik heute muß den gesellschaftlichen Kontext auf das sorgfältigste beachten und notfalls zu verändern trachten. Außerfamiliale Hilfen sind zur Sozialisation unbedingt erforderlich.
Familienpolitik ist eine Gesellschaftspolitik, die man sich umfassender kaum vorstellen kann. Es gibt kaum einen Bereich, der nicht mit Familie zu tun hat. Ob es sich um Wohnen, Gesundheit, Erziehen, Bilden, Kultur, Steuern, Wirtschaft oder Arbeiten handelt — alles wirkt in die Familie hinein, fördert oder behindert sie. Alle Lebensbereiche münden früher oder später in die Problematik der Familie. Daher treten familienpolitische Probleme in vielen Bereichen der Politik auf. Mit Recht ist der familienpolitische Erfolgskatalog der Bundesregierung weit gefächert. Er begegnet uns in vielen Ressorts und gewinnt dadurch seine von der Opposition so sehr beneidete oder bewunderte — wie man will — Effizienz.
Die Komplexität der Familienpolitik möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen, das Ihnen auf den ersten Blick abwegig erscheinen wird. Ich meine die Humanisierung der Arbeitswelt — ein hervorragender Erfolg der sozialliberalen Koalition. Bessere Arbeitsbedingungen verringern die physischen und psychischen Belastungen und damit zugleich den Konflikt zwischen den Anforderungen am Arbeitsplatz und den familiären Aufgaben. Bessere Arbeitsbedingungen setzen Kräfte frei, die nach Feierabend der Familie zugute kommen. Auch das ist Familienpolitik.
Ein Arbeitnehmer, der Schichtarbeit zu leisten hat, wird seine Familie anders erleben als derjenige mit regelmäßiger Arbeitszeit.
Das Selbstwertgefühl wie es der Familienberichtformuliert — eines Arbeitnehmers, der am unteren Ende der Betriebshierarchie steht, wird anders sein als das desjenigen, der in der Chefetage arbeitet. Das Verhalten in der eigenen Familie wird im Falle dieser beiden extremen Beispiele diametral entgegengesetzt sein. Der Familienbericht sagt das in einer Sprache, die nicht die meine ist, aber ich zitiere einmal:Die einen erleben sich als mächtig, selbstbewußt, gebildet. Die anderen bauen Ohnmachts- und Minderkeitsgefühle auf, erfahren sich als abhängig und entwickeln an sich eher ein hohes Maß an Agressivität.Ich füge hinzu, daß dann die Familie darunter zu leiden hat. So stehen Familien und Arbeitsplatz in einem direkten Zusammenhang. Daher wage ich die Behauptung: Wer die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb stärkt, den Arbeitsplatz vermenschlicht, der sorgt zwar nur indirekt, aber dennoch sehr wirksam für die Familie dieses Arbeitnehmers.
Gesundheit und Ausgeglichenheit des Vaters und der Mutter schaffen ein besonderes Klima in der Familie. Vieles, was nicht das Etikett „Familienpolitik" trägt, ist dennoch ein guter Beitrag zum Thema „Familie".Ich füge ein anderes Beispiel kurz hinzu.
Das Arbeitsförderungsgesetz sorgt dafür, daß ein Arbeitnehmer, der sich in seiner bisherigen Betriebssituation unzufrieden fühlt und durch dieses Arbeitsförderungsgesetz einen neuen Arbeitsplatz bekommt, auch ein anderer Familienvater werden wird. Mit diesen Beispielen für sinnvolle Familienpolitik in ihrer Komplexität ist zugleich die Wechselwirkung von Familie und Gesellschaft angesprochen. Gesellschaftliche Bedingungen sind maßgebend dafür, ob Familie gedeihen kann oder nicht.Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist die Lage der Familie gut. Die sozialliberale Koalition hat das Netz der sozialen Sicherheit ausgebaut. Aus bestimmter Ecke hört man dann immer wieder so etwas wie eine Verelendungstheorie zum Thema Familie. Da hat man offensichtlich in dieser bestimmten Ecke etwas von Karl Marx aufgenommen. Ich will Karl Marx nicht zitieren und nicht untersuchen, ob er mit seiner Verelendungstheorie recht oder unrecht gehabt hat. Aber eines stimmt in jedem Fall: Die Verelendungstheorie bestimmter Leute, auf die Familie angewandt, stimmt heute nicht mehr.
Primäre Aufgabe der Familienpolitik ist also, solche gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen,
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Fiebigdie für die Familie günstig sind. Der Familienbericht bestätigt in eindrucksvoller Weise auch, daß die Bundesregierung hier große Erfolge erzielt hat. Der Familienlastenausgleich wird von den Familien als das erkannt, wozu er bestimmt ist, als ein Beitrag des Staates zur materiellen Sicherung der Familie.
— Dann unterhalten Sie sich doch bitte einmal mit Familien in unserem Lande; Sie werden dann sehen, wie dankbar der Familienlastenausgleich jetzt anerkannt wird.
Lassen Sie sich das bitte einmal vom Bürger im Lande sagen, und sprechen Sie mit den Menschen auf der Straße! Dann wird man Ihnen das sagen.Das wird übrigens auch von Familienverbänden anerkannt. So hat die Evangelische Aktionsgemeinschaft festgestellt: „Die Reform des Familienlastenausgleichs ist ein sozialer Fortschritt." Ich füge hinzu: nicht mehr, aber auch nicht weniger. So wichtig auch die materielle Stützung der Familie ist — Familienlastenausgleich, Bundesausbildungsförderungsgesetz — —
— Entschuldigen Sie, Frau Kollegin Stommel, wenn ich zunächst einmal meinen eigenen Stall zitiere.
Ich fahre fort: Familienlastenausgleich, Bundesausbildungsförderungsgesetz, Bundessozialhilfegesetz — dies alles ist Familienpolitik. Wir meinen aber, daß sich Familienpolitik darin nicht erschöpft. Familienpolitik ist mehr als nur Kindergeldzahlung, und Jugendpolitik erschöpft sich nicht im Bundesjugendplan.Man kann Familienpolitik unter verschiedenen Aspekten betreiben. Aus guten Gründen ist die Familienpolitik der Bundesregierung am Wohl des Kindes orientiert. Die höchste und vornehmste Aufgabe der Familie ist die der Sozialisation der Kinder.
Wie ein Kind auf das Erleben und Gestalten von Gemeinschaft in der eigenen Familie vorbereitet wird, ist entscheidend für den ganzen weiteren Lebensweg.
„Darum" — das ist Zitat — „ist die Familienpolitik der Bundesregierung darauf angelegt, allen Kindern ein Höchstmaß an Chancen für ihre emotionale, geistige und soziale Entwicklung unabhängig von der sozialen Schichtzugehörigkeit der Eltern zu sichern." So heißt es in der Stellungnahme der Bundesregierung zum Zweiten Familienbericht.
Daher begrüßt es die sozialdemokratische Bundestagsfraktion außerordentlich, daß Frau Bundesminister Dr. Focke im Begriff ist, die Neufassung und Verbreitung der sogenannten Elternbriefe zu fördern, die praktische Hinweise und Ratschläge für die Erziehung enthalten.
Die Bundesregierung hat die Bedeutung der Elternbildung als die wichtigste Voraussetzung der Bildung der folgenden Generation erkannt. Es ist bedauerlich, daß von dem Angebot der Erziehungsberatungsstellen immer noch ungenügend Gebrauch gemacht wird.Ergänzend dazu möchte ich noch einmal herausstellen, daß auch die Gesundheitspolitik einen entscheidenden Beitrag zur Familienpolitik leistet. Ich denke an Vorsorgeuntersuchungen, Schwangerenberatungen oder an die neuen Regelungen des Urlaubs für die Mutter im Krankheitsfall des Kindes.Wenn Sie, Herr Kollege Rollmann, die Bürger wegen mangelnder Teilnahme an diesen Maßnahmen anklagen, dann verstehe ich auf der anderen Seite nicht, wie Sie die Informationspolitik der Bundesregierung als „Propaganda" abqualifizieren.
Einerseits soll die Bundesregierung über alle Möglichkeiten informieren, die es in unserem Lande heute gibt; andererseits regen Sie sich darüber auf und erklären, das sei Propaganda. Hier verstehe ich Sie wirklich nicht mehr.
— Oh doch, sie liefert sie! Schauen Sie sich bitte einmal die Broschüren des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit an und lesen Sie darin nach, was alles den Familien in unserem Lande angeboten wird. Sie sollten als allererste einmal diese Broschüren lesen. Hoffentlich geben Sie sie als CDU-Politiker in Ihrem Wahlkreis auch weiter.
Ich möchte auf die schon zitierte Pressemitteilung zurückkommen. Darin behauptet die Opposition, nicht die Funktionsfähigkeit, sondern die Ablösung von Funktionen sei das beherrschende Instrument der Familienpolitik der SPD/FDP-Koalition. Anstatt Erziehungshilfen für die Familie stünden Erziehungshilfen außerhalb der Familie im Vordergrund der Aktivität. Offenbar ist es der Aufmerksamkeit der Opposition entgangen, daß Bund, Länder und Gemeinden ein breites Angebot für die Familie bereithalten: von der Familienfürsorge über Erziehungsberatung bis hin zur Familienerholung. Dies alles ist ein freies Angebot, das angenommen oder abgelehnt werden kann.Unsere Familienpolitik lehnt jeden Staatsdirigismus ab, der versucht, in die Familie hineinzuregieren
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Fiebigund eine bestimmte Familienideologie aufzuzwingen. Wir haben höchsten Respekt vor den Entscheidungen einer Familie, wie sie ihr Leben gestalten will, und zu dieser Lebensgestaltung machen wir Angebote.Dazu sagt der Familienbericht:Im Unterschied zu anderen institutionalisierten Gruppen ist die Familie, ihr eigener Innenbereich, zu außerordentlich autonomer Verfügung überlassen.Von dem Respekt vor dieser Autonomie geht unsere Familienpolitik aus. Wer etwas anderes will, muß das sagen.Wie auf vielen Feldern der Sozialpolitik gilt auch hier Hilfe zur Selbsthilfe. Nichts anderes ist z. B. mit dem Modellprojekt „Tagesmutter" gemeint. Nicht die Ablösung der Familie, sondern ihre Stärkung ist beabsichtigt. Eine Mutter wird es sich gut überlegen, ob ein Heimaufenthalt oder die Obhut durch die Tagesmutter für ihr Kind das Bessere ist. Nur stundenweise während der Arbeitszeit von ihrem Kind getrennt zu sein, ist das kleinere Übel. Wer wie ich eine etwas größere Familie hat, erlebt es jeden Tag, wie die Einzelkinder in diese größere Familie hineinströmen und sich dort geborgen fühlen.
So meine ich, daß eine Tagesmutter mit einem größeren Kinderkreis hier durchaus eine gute Aufgabe haben wird.
— Ja. Meine Frau — ich darf das in einer so familiären Diskussion hier sagen — ist so etwas wie eine Tagesmutter,
weil viele Kinder aus anderen Familien ständig bei uns sind, von morgens acht bis abends acht. Von daher meine ich: Tagesmutter ist eine sehr gute Sache.
Wie bei einer Ellipse rückt damit ein zweiter Brennpunkt in das Blickfeld des Interesses: die Frage nach der Stellung der Frau. Viele Frauen in unserem Lande sehen sich vor einen fast unlösbaren Konflikt gestellt. Einerseits besteht der Wunsch, eines oder mehrere Kinder aufzuziehen, andererseits der Wunsch, Erfüllung in einem Beruf zu finden.Entgegen anderslautenden Behauptungen sind wir Sozialdemokraten der Auffassung, daß sich Gesellschaftspolitik davor hüten muß, ein bestimmtes Rollenbild für die Frau zu propagieren. Auch hier gilt es, die freie Entscheidung einer Frau zu respektieren. Jedoch, Aufgabe der Familienpolitik ist es, solche Hilfen anzubieten, die die Entscheidung für das eine oder andere erleichtern oder aber die es ermöglichen, beide Aufgaben, Beruf und Kindererziehung, miteinander zu verbinden.Der Zweite Familienbericht stellt dazu fest und bestätigt damit wiederum die Politik der Bundesregierung:Die Unvereinbarkeitsspanne zwischen Haushalts- und Erzieherrollen einerseits und Berufsrollen andererseits läßt sich verringern durch den Ausbau öffentlicher Strukturen und Erziehungseinrichtungen, zweitens durch Differenzierung des Berufssystems, daß sehr flexible Teilzeitnachfragen entwickelt werden, drittens durch ein verstärktes Angebot von Berufsbildung mit entsprechenden Einrichtungen der Kinderbetreuung für die Zeiten, in denen ein Elternteil auf Grund der übernommenen Haushaltsund Erziehungspflichten nicht im Berufssystem integriert ist, so daß die spätere Eingliederung in einen Beruf erleichtert wird.Diese drei aufgezählten Dinge geschehen in unserem Lande durch Initiativen sozialliberaler Koalitionen. Ich erinnere an das Land Nordrhein-Westfalen, das nun über eine sehr respektable Zahl von Kindergärten verfügt; ich erinnere daran, daß es jetzt Teilzeitbeschäftigung im öffentlichen Dienst gibt und daß solche Berufsbildungsmaßnahmen ja gerade jetzt durch Konjunkturmittel besonders gefördert werden.Die Frage, ob die Zahlung eines Erziehungsgeldes weiterhilft, kann der Familienbericht abschließend nicht beantworten. Vier Fragen bleiben im Familienbericht übrig.Erstens. Bei welcher Höhe eines Erziehungsgeldes wird der Verzicht auf Erwerbstätigkeit überhaupt möglich, um sich der Erziehung des Kindes in den ersten Lebensjahren widmen zu können?Zweitens. Wie kann ein Anspruch auf Sicherung und Erhaltung des Arbeitsplatzes gewährleistet werden?Drittens. Von welchen Regelungen der Rentenversicherung und Krankenversicherung muß ein Erziehungsgeld begleitet werden, und was kostet das?Viertens. Welche Auswirkungen hat der Ausfall weiblicher Arbeitskräfte in volkswirtschaftlicher Hinsicht?
Auf absehbare Zeit steht das notwendige Finanzvolumen nicht zur Verfügung, so bedauerlich das ist. Der Deckungsvorschlag des Familienberichts, die bestehende Regelung des Ehegattensplittings
bei Ehepaaren in der Besteuerung, ist nicht einsichtig. Denn die angebliche Steuererleichterung — 1972 13 Milliarden DM — wird ja gerade dann in der Masse den Familien entzogen.Was für die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft gilt — Entscheidungsfreiheit und Wahlmöglichkeit —, gilt in abgewandelter Form ebenso für das Kind. Familienpolitik hat die Entfaltungsmöglichkeit des Kindes zu fördern und Angebote zu machen, dem Kind in seiner Sozialisation und seiner Selbstverwirklichung zu helfen.Man kann lange darüber streiten, wer die schwächsten Glieder in unserer Gesellschaft sind; Kinder gehören zweifellos dazu. Eine mehr als hun-
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Fiebigdertjährige Tradition der Sozialdemokratie bestimmt uns, zuerst und am nachdrücklichsten für die Schwächsten, in diesem Fall die Kinder, einzutreten. Es war ein langer Weg, am Anfang die Abschaffung der Kinderarbeit durchzusetzen, bis heute, wo es darum geht, auch Kinder als Träger der Grundrechte zu schützen. Für eine intakte und sozial starke Familie ist dies kein Problem, sobald aber eine Familie — aus welchen Gründen auch immer — auseinanderbricht, gilt es, die Rechte des Kindes zu schützen.Der Gesetzgeber kann Konflikte nicht verhindern, z. B. im Fall der Ehescheidung, aber er kann und muß die Austragung und die Folgen von Konflikten regeln, so regeln, daß vor allem die Schwächsten geschützt werden und zu ihrem Recht kommen, nämlich die Kinder. Nichts anderes meint der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge. Daß Kinder im familiären Bereich angehört werden müssen, daß sie an der Diskussion zu beteiligen sind, das, meine ich, ist eine gute Sache. Daß das Gespräch über familiäre Probleme mit Kindern keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt eine Untersuchung des Familienberichts, nach der auf eine Umfrage immerhin 19 % der Befragten Gehorsam und Unterordnung, 45 % Ordnungsliebe und Fleiß und ebenfalls 45 % Selbständigkeit und freier Wille als erstrebenswerte Erziehungsziele angaben. Wenn ich eine Bemerkung zur Bildung anfügen darf, so meinen wir Sozialdemokraten, die Aufgabe der Bildungspolitik ist es doch wohl auch, u. a. die Kritikfähigkeit der jungen Menschen zu stärken und ihnen Kritikfähigkeit beizubringen;
denn, Frau Kollegin Wex, man kann doch wohl in der Geistesgeschichte nicht daran vorbeigehen, daß es am Ende der Aufklärung einmal einen Immanuel Kant gegeben hat. Wir müssen doch wohl auch von daher Bildung sehen, und wir können nicht so tun, als sei die Kritikfähigkeit der Kinder kein erstrebenswertes Ziel.
Ich meine, Kinder sind in der Tat nicht als Objekte elterlicher Fremdbestimmung anzusehen — um noch einmal dieses Ihnen mißliebige Wort zu zitieren —, sondern als Grundrechtsträger, als Gesprächs- und Diskussionspartner, die auf dem Weg der Einsicht zur eigenen Entscheidung in allen sie betreffenden Fragen kommen sollten.
Die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen — Frau Kollegin Stommel, ich darf sie noch einmal zitieren — sagt dazu:Das Elternrecht beruht auf der elterlichen Verantwortung und hat das Recht des Kindes auf Entwicklung seiner eigenen Persönlichkeit und Entfaltung seiner Begabung zu gewährleisten. Auch das uneingeschränkte Recht der Eltern, über die Ausbildung und den künftigen Berufdes Kindes zu entscheiden, ist problematisch geworden. Die Stimme des Kindes selbst ist zwar von altersbedingt unterschiedlichem Gewicht, sie sollte aber gehört werden. Im Konfliktfall sollte ein Jugendlicher das Recht haben, eine Entscheidung des Vormundschaftsgerichts herbeizuführen, insbesondere wenn die Eltern eine weiterführende Ausbildung des Kindes verweigern, für die nach dessen Fähigkeiten öffentliche Ausbildungsförderung gewährt werden könnte.
Zum Abschluß noch ein Wort zur Partnerschaft, in der heutigen Zeit ein viel gebrauchtes, aber auch ebensooft mißbrauchtes Wort. Sie ist nur äußerst schwer zu verwirklichen; denn das bedeutet, auf angestammte und liebgewordene Rechte zu verzichten. Dies sei für die Männer gesagt, die in einer familienpolitischen Debatte ja auch irgendwo vorkommen müßten.
Ehe und Familie sind für uns Sozialdemokraten konstitutive Elemente unserer Gesellschaft. Der Zweite Familienbericht bestätigt die Familienpolitik der Bundesregierung, die in einem weitgefächerten Angebot die Sozialisation der Familie und vor allem der Kinder fördert. Ich weiß nicht, wer ein so dummes Zeug redet, die Familie sei totgesagt, und ich verstehe auch nicht, warum man solch ein dummes Zeug hier noch weitererzählt.
Auch die Sprache zeigt oft die Denkweise der Menschen auf. Herr Kollege Rollmann, wenn Sie vorhin die geplante und freudig erwartete Geburt eines Kindes — so sollte es ja sein — unter dem Begriff „Reproduktionsziffer" in die Diskussion brachten, so ist das meiner Meinung nach eine disqualifizierte Sprache für dieses erfreuliche Ereignis im Leben einer Familie.
Herr Kollege Rollmann, da kann ich Ihnen nur sagen: Deine Sprache verrät Dich, Galiläer!
Herr Abgeordneter Fiebig, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann?
Ich möchte gern abschließen; ich habe nur noch einen kleinen Abschnitt meines Konzepts vorzutragen.Ich will mit folgendem Gedanken schließen. Familienpolitik handelt davon, was Staat und Gesellschaft für die Familie leisten können und müssen. Was aber wären Staat und Gesellschaft ohne die Leistungen der Familie? Ich meine, das sollten wir am heutigen Tage hier auch einmal sagen: Daß Eltern, insbesondere Frauen, ihre Kinder lieben, versorgen und
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Fiebigerziehen, ist ein wesentlicher und unverzichtbarer Beitrag für unseren Staat und unsere Gesellschaft. Diesen Frauen gilt unser ganz besonderer Dank am heutigen Tage.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Frau Abgeordnete Lüdemann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Familienbericht und der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage über die Situation der Kinder in der Bundesrepublik Deutschland liegt uns Politikern wertvolles Material vor, das uns viele Anregungen geben kann, die Situation der Familien und der Kinder dort zu verbessern, wo dies noch notwendig ist. Nutzen wir also die Chance und lassen wir uns den Inhalt beider Drucksachen in den nächsten Jahren als Anregungen dienen! Jedenfalls sind wir Freien Demokraten der Bundesregierung sehr dankbar für das umfangreiche Material.Außerdem sind wir dankbar, daß die Stellungnahme der Bundesregierung zum Familienbericht deutlich werden läßt, welch hohen Stellenwert die Regierung der Familie einräumt und somit die Angriffe von seiten der Opposition entkräftet, die immer wieder behauptet — wie auch heute morgen mehrfach Frau Dr. Wex —, daß Bestrebungen im Gange seien, das Elternrecht einzuschränken und den Stellenwert der Familie in der Gesellschaft zu schmälern. Aus der Stellungnahme zum Familienbericht wird deutlich, daß dies keineswegs beabsichtigt ist. Im Gegenteil: das Leitbild der lebenslangen ehelichen Gemeinschaft hat in der Familienpolitik Priorität. Aber die Rollenverteilung in Ehe und Familie muß sich der Gleichberechtigung der Partner anpassen. Kinder sind nicht mehr der elterlichen Gewalt unterworfen, sondern haben genauso wie jeder Erwachsene einen Anspruch auf die Grundrechte des Menschen, und schließlich erfahren ledige Elternteile die Anerkennung durch die Gesellschaft wie Normalfamilien.Doch nun zu den Konsequenzen, die wir aus dem Familienbericht ziehen sollten.Wenn wir als Politiker die Familie schützen wollen — und das ist ja wohl unser aller Ziel —, dann erscheint es mir erst mal wichtig, die jungen Menschen besser auf die Aufgaben in der Familie vorzubereiten, als das bisher der Fall war. Der Familienbericht weist aus, daß durch die Bildungsangebote der Vereine, Familienverbände, Volkshochschulen, Kirchen und freien Wohlfahrtsverbände nur 12 % der Eltern bzw. Elternteile erreicht werden. Hier sollte einmal die Sonderstellung des Deutschen Landfrauenverbandes hervorgehoben werden, der die Menschen im ländlichen Raum, die im Elternbildungsangebot stark unterversorgt sind, betreut. Der Deutsche Landfrauenverband hat rund 250 000 Mitglieder, und laut Jahresbericht gab es im vergangenen Jahr rund 24 500 Veranstaltungen mit Themen der Familienbildung und der Kindererziehung für die Frauen auf dem Lande. Trotz aller Anerkennung der hier geleisteten Arbeit ist das nicht ausreichend. Und so sollten wir Bundespolitiker uns bemühen, auf unsere Parteifreunde in den Ländern Einfluß zu nehmen, daß Familienunterricht einschließlich Erziehungslehre in die Lehrpläne der beruflichen und höheren Schulen mit aufgenommen wird, und dies für Mädchen und Jungen. Nur auf diese Weise wird gewährleistet, daß alle zukünftigen Väter und Mütter Grundkenntnisse über ihre Aufgaben in Familie und Ehe vermittelt bekommen. Vielleicht sind sie dann später auch eher bereit, sich weiterzubilden. Die im Familienbericht angesprochenen Elternbriefe sind sicher eine sehr wertvolle Hilfe der Elternbildung. Die Frage ist nur, ob sie von den sozialen Unterschichten angenommen wird. Für sie ist es meiner Ansicht nach notwendig, daß die Beratungsdienste in die Wohngebiete dieser Familien gehen, um gerade diejenigen, die es besonders nötig haben, zu erreichen.Ich möchte mich im folgenden vorwiegend mit der Situation der Kinder aus Problemfamilien befassen.Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Sie in Ihrer Anfrage zur Situation der Kinder die Behauptung aufstellen, Kinder hätten keine Lobby, so gebe ich Ihnen insoweit recht, daß diese Lobby, wie sie der Kinderschutzbund und die Gesellschaft zur Wahrnehmung der Interessen der Sozialwaisen darstellen, nicht genügend effektiv ist. Das ist nur deshalb so, weil sie zu wenig aktive Mitglieder und auch zu wenig Förderer haben, die ihre Arbeit unterstützen. Sind Sie, meine Kollegen von der Opposition, alle Mitglieder in diesen Vereinen? Wenn Sie beklagen, daß die Kinder keine Lobby hätten, frage ich Sie: Warum machen Sie sich nicht selbst zu Lobbyisten für diese Kinder aus Problemfamilien?
Ich jedenfalls verstehe mich als Lobbyist für Kinder.Es kann nicht damit getan sein, Herr Kollege Rollmann, hier große Reden zu schwingen, um sich in der Öffentlichkeit als engagierter Interessenvertreter der Kinder darzustellen. Sie sollten vielmehr zur Kenntnis nehmen, daß gerade diese Bundesregierung mit dem Familienbericht die Situation der Kinder illusionslos dargestellt hat,
um ihre Interessen um so nachdrücklicher vertreten zu können.
Nur dadurch, daß Sie die Möglichkeit hatten, das Zahlenmaterial für Ihre Rede zu benutzen, konnten Sie endlich einmal die Notsituation der Kinder darstellen, die es in der Bunderepublik leider immer noch gibt. Das steht im Gegensatz zu den Ausführungen Ihrer Kollegin Frau Wex, die hier wieder einmal das Bild der heilen Vollfamilie als verbindliches Leitbild für alle Mitglieder der Gesellschaft
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Frau Lüdemanngezeichnet hat. Und so frage ich Sie, Frau Kollegin Wex: Wo wollen Sie die vielen alleinstehenden und verwitweten Männer und Frauen in dieser Gesellschaft plazieren?Sie fordern auf der einen Seite mit ungeheurem Nachdruck das Erziehungsgeld für berufstätige Elternteile für den Fall, daß diese ihre Berufstätigkeit aufgeben, um sich der Versorgung ihres Kleinkindes zu widmen. Es ist aber erwiesen, daß trotz des Angebots eines Erziehungsgeldes die Berufsarbeit nicht immer aufgegeben wird.
Auf der anderen Seite fragen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, aber nicht nach der Situation der Heimkinder und damit der Sozialwaisen, also jener Kinder, die von ihren Eltern verlassen worden sind.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Wex?
Bitte!
Frau Kollegin, ich frage Sie wirklich nur wegen der Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung: Wo ist denn nachgewiesen, daß ein Erziehungsgeld nicht angenommen worden ist? Haben Sie in unserem Gesetzentwurf für ein Erziehungsgeld nicht gerade das gelesen, was Sie anstreben, daß alleinstehende Elternteile dieses Erziehungsgeld vorrangig und sogar im Rahmen von höheren Einkommensgrenzen bekommen? Das ist doch ein Ansatzpunkt, der Ihrer Meinung entsprechen müßte.
Frau Kollegin Dr. Wex, ich weiß mit Sicherheit, daß viele Mütter, die ein Vollstudium hinter sich haben, sagen: Wenn ich jetzt jahrelang aus meinem Beruf herausgehe, dann bekomme ich den Anschluß nicht mehr.Nun hören Sie bitte erst einmal zu, was wir für Vorschläge dazu zu machen haben. Im Grunde gibt es diese Vorschläge schon lange.
Ich sehe eine Diskrepanz darin, daß Sie auf der einen Seite Erziehungsgeld fordern auf der anderen Seite aber nicht nach der Situation der Heimkinder fragen. Das zielt meines Erachtens darauf ab, Sympathie bei den Wählern zu gewinnen. Es geht eindeutig daraus hervor, daß Sie immer nur die gesunde Normalfamilie vor Augen haben.Ich stehe mit meinen Parteifreunden auf dem Standpunkt - und das weist schon unser Familienprogramm aus dem Jahre 1972 aus —, daß vor jeglicher Fremdunterbringung eines Kindes, d. h. der Unterbringung in einem Heim, in einer Pflegestelle oder bei einer Tagesmutter, geprüft werden sollte, ob nicht mit gleichem finanziellen Aufwand der öffentlichen Hand das Kind besser bei den leiblichen Eltern oder einem Elternteil aufgehoben wäre.Frau Kollegin Dr. Wex, ich bedaure außerordentlich, daß Sie jetzt nicht zugehört haben, was die FDP dazu zu sagen hat.
Nein, sie unterhält sich ja dauernd.
Der finanzielle Aufwand kann bei unserem Angebot zwar im Einzelfalle höher sein als das von der Opposition geforderte Erziehungsgeld von 300 DM monatlich; er liegt aber mit Sicherheit niedriger als z. B. der Aufwand für eine Heimunterbringung bei Pflegesätzen von heute 40 bis 100 DM täglich. So sollten wir da, wo es wirklich notwendig ist, helfen und nicht nach dem Gießkannenprinzip allen etwas geben, was in der Höhe letztlich doch nicht für alle ausreicht.Auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen wissen wir, daß das Kleinkind bis zum dritten Lebensjahr unbedingt seine regelmäßigen Bezugspersonen haben muß. Wissenschaftlich erwiesen ist jedoch nicht, daß dies die leibliche Mutter sein muß. Jedoch sehen wir Freien Demokraten es als die optimale und glücklichste Lösung an, wenn leibliche Eltern diese Aufgabe selbst übernehmen und das Kind in geordneten Verhältnissen bei ihnen aufwachsen kann. Dort jedoch, wo Eltern nicht in der Lage oder gewillt sind, diese Versorgung zu übernehmen, muß der Staat helfend eingreifen.Eine derartige Hilfemaßnahme stellt das Tagesmütter-Modell dar. Es ist auf jeden Fall eine bessere Alternative als die Heimunterbringung. Wir Freien Demokraten begrüßen die Tatsache, daß Frau Minister Focke in dem Modellversuch eine wissenschaftliche Begleitung zwingend vorgeschrieben hat, deren Ergebnisse wir sehr sorgfältig prüfen werden, um gesicherte Daten über die Entwicklung von Kindern bei Tagesmüttern zu haben.Ich habe mir einen solchen Modellversuch in Reutlingen angesehen. Ich muß zugeben, daß ich in meiner Einstellung sehr skeptisch und damit auch sehr kritisch gewesen bin. Jedoch habe ich erlebt, daß nur Eltern aus Problemfamilien ihre Kinder tagsüber abgaben. Es waren alleinstehende Väter und Mütter, es waren sehr junge Mütter, es waren haftentlassene Mütter, die erst wieder Boden unter die Füße bekommen mußten, und es waren Ausländer.Besonders hervorzuheben ist mein Eindruck, daß alle Kinder von den Tagesmüttern zur Liebe zu den leiblichen Eltern erzogen wurden. So war es reizend, zu erleben, daß die Kinder, wenn sie abends abgeholt wurden, fröhlich Vater oder Mutter begrüßten und dann aber keinen Unterschied machten, auf wessen Schoß sie saßen, ob bei der Tagesmutter oder bei den Eltern. Das muß man gesehen und erlebt haben, um sich ein Urteil bilden zu können. Verhaltensgestörte Kinder habe ich dort nicht gesehen. Die Bindungen zu den leiblichen Eltern, die sich tagsüber nicht um ihr Kind kümmern können, blieben optimal erhalten. So kann, Herr Kollege Roll-
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Frau Lüdemannmann, von einem Hin- und Hergerissensein der Kinder keine Rede sein.
— Bitte, Herr Kollege Rollmann!
Herr
Kollege Rollmann, Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Verehrte Frau Kollegin, haben Sie vielleicht zur Kenntnis genommen, daß ich heute morgen nicht so sehr meine eigene Meinung ausgedrückt, sondern die Meinung von Wissenschaftlern zitiert habe, die das Schicksal des Kindes in seinem Hin- und Hergerissensein zwischen Mutter und Tagesmutter untersucht haben?
Herr Kollege Rollmann, es ist klar, das hat es schon immer gegeben. Das Kind war früher im landwirtschaftlichen Betrieb tagsüber der Großmutter anvertraut, weil die Mutter mit aufs Feld ging; abends kam die Mutter nach Hause, und dann hat diese wieder Priorität gehabt. Also auch da gab es mehrere Bezugspersonen, die für das Kind zuständig waren.
Ich möchte Sie eigentlich mal fragen: Haben Sie sich schon einen Modellversuch persönlich angesehen, mit den Tagesmüttern gesprochen, mit den abgebenden Eltern, mit den Damen und Herren, die die wissenschaftliche Begleitung durchführen, die die einzelnen Lehrgänge für die beteiligten Personen halten? Erst dann könnten Sie sich im Grunde hier ein Urteil erlauben.
Frau
Kollegin, der Herr Kollege Sauer wünscht noch eine Zwischenfrage zu stellen.
Ich gehe doch recht in der Annahme, Frau Kollegin, daß wir heute die sogenannte Kernfamilie haben, und daß das Beispiel von der Landwirtschaft, das Sie soeben gebracht haben, völlig hinkt, weil in Ihrem Beispiel alle in einem gemeinsamen Haushalt gelebt haben? Oder liege ich da falsch?
Auch heute noch! Aber auf der anderen Seite, Herr Sauer, kommt es nicht darauf an, daß das Kind nur eine Bezugsperson hat. Ich habe ja vorhin dargestellt, daß wir Freien Demokraten es als die glücklichste Lösung ansehen, wenn das Kind in der leiblichen Familie bleibt. Nur wo dies nicht möglich ist, bei Kindern aus Problemfamilien, sehe ich es als die bessere Alternative an, wenn ein Kind bei einer Tagesmutter ist und der Kontakt zur leiblichen Mutter voll erhalten bleibt, dadurch daß sie es abends holt und morgens wiederhinbringt. Da kann doch gar keine Diskrepanz bestehen.In der Stellungnahme der Bundesregierung zum Familienbericht wird hervorgehoben, daß der Vorteil der Tagesmutter gegenüber der althergebrachten Tagespflegestelle darin besteht, daß Tagesmütter verpflichtet sind, an Vorbereitungs- und Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen. Wir sollten bei den Ausschußberatungen daraus die Konsequenz ziehen und darauf drängen, daß der § 31 Abs. 2 JWG dahin gehend geändert wird, daß die Jugendämter verpflichtet werden, regelmäßig diese Veranstaltungen anzubieten, und die Tagespflegeeltern, daran teilzunehmen. Es bilden sich in letzter Zeit überall Pflegeelterngruppen auf freiwilliger Basis, die zum Teil sogar als eingetragene Vereine fungieren. Ich stehe mit vielen dieser Gruppen in der Bundesrepublik in persönlichem oder auch nur schriftlichem Kontakt. Diese Gruppen werden gebildet, um dem Verlangen nach Weiterbildung Rechnung zu tragen. Wenn diese gesetzliche Verpflichtung eingeführt wird, haben wir mit geringem Finanzaufwand für die Sozialträger die Möglichkeit geschaffen, diese bewährten Pflegeeltern den Tagesmüttern gleichzustellen. Allerdings müßten dann die Tagespflegemütter auch materiell den Tagesmüttern gleichgestellt werden.Nun eine kritische Bemerkung zu den Kindern in Familienpflege. Der Familienbericht weist für mich eine viel zu pauschalierte Stellungnahme aus. Es gibt da gravierende Unterschiede, die nicht aufgezeigt sind. Erstens bestehen die Unterschiede darin, daß es Kinder in Familienpflege gibt, die regelmäßig Kontakt zu den leiblichen Eltern haben, und solche, die ihre Eltern überhaupt nicht kennen. Der zweite gravierende Unterschied liegt in der Dauer des Pflegeverhältnisses. Die im Familienbericht gemachten Ausführungen gehen von der zeitlich begrenzten Unterbringung des Kindes aus. So findet das Dauerpflegekind überhaupt keine Beachtung. Gerade aus meiner Kenntnis der Situation der Dauerpflegekinder scheint mir dies ein erheblicher Mangel im Familienbericht zu sein, wie ich es auch immer wieder erlebe, daß gerade diese Kinder von Politikern und Wissenschaftlern ignoriert werden. So zeigt auch die Kleine Anfrage der CDU/CSU betreffend die Situation der Pflegekinder, daß Sie, meine Damen und Herren, gar keine Kenntnisse auf diesem Gebiet haben, denn sonst hätten Sie Ihre Fragen inhaltlich völlig anders stellen müssen. Auch Ihr uns heute auf den Tisch gelegter Entschließungsantrag beweist deutlich, daß trotz Ihrer Kleinen Anfrage zur Situation der Pflegekinder diese Pflegekinder in Ihrem Bewußtsein gar nicht existieren. Wir stimmen aber trotzdem oder gerade deswegen der Überweisung dieses Antrages an den zuständigen Ausschuß zu.Gerade in letzter Zeit häufen sich die Briefe von ehemaligen Pflegeeltern auf meinem Schreibtisch, die ihr Pflegekind nach langjährigem Pflegeverhältnis ohne Kontakt zu den leiblichen Eltern wieder hergeben mußten. Durch diesen Wechsel nicht nur der Bezugspersonen, sondern auch des Wohnortes verloren die Kinder alles Liebgewordene: die
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Frau LüdemannFreunde, die Nachbarn, die Mitschüler, die Lehrer. Die Kinder mußten zu Fremden in die Fremde. Wenn dann noch bekannt wird, daß die Kinder in der Umgebung der biologischen Eltern vernachlässigt oder auch in einem Fall mißhandelt werden, müssen wir uns fragen, ob das noch etwas mit dem Wohl des Kindes zu tun hat. Es sind zum Teil grausame Einzelschicksale! Wenn ich mich dann mit den zuständigen Jugendämtern in Verbindung setze, wird deutlich, daß diese fast ausnahmslos personell unterbesetzt sind und somit nicht in der Lage, den Einzelschicksalen nachzugehen. So werden diese Kinder in Angst und Schrecken alleingelassen. Müssen wir uns dann wundern, wenn sie als Jugendliche und Erwachsene, durch ihre Verhaltensstörungen bedingt, uns in Angst und Schrecken versetzen, indem sie sich kriminellen Banden anschließen?Aus meiner Kenntnis muß ich es besonders begrüßen, daß das zukünftige Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge hier ganz wesentliche Verbesserungen, wenn nicht sogar Abhilfe schaffen wird. Nach meiner Auffassung muß sichergestellt werden, daß in Zukunft ein Dauerpflegekind, welches sich in einer Pflegefamilie gut eingelebt und normal entwickelt hat, gegen seinen Willen nicht mehr aus dieser Familie herausgenommen werden darf. Ist das Kind noch klein, so soll das Jugendamt seinen Willen vertreten, und dieses hat das Kindeswohl bei seinen Entscheidungen in den Vordergrund zu stellen. Man bedenke, was die Dauerpflegeeltern auf sich nehmen, wenn sie meist sehr stark verhaltensgestörte Kinder aufnehmen, die durch Gerichtsbeschluß aus der unguten Familie herausgenommen worden sind und deren Schädigungen durch die schlechten frühkindlichen Erlebnisse bedingt sind oder die stark hospitalgeschädigte Heimkinder sind. Kleinkinder werden meist — auf Anraten der Jugendämter oder aber aus einem persönlichen Selbstverständnis der Pflegeeltern — in das Eheschlafzimmer aufgenommen, was bedeuten kann, daß die neuen Eltern oft wochenlang nicht richtig schlafen können, weil ihr neues Kind schreit, mit dem Kopf schlägt oder schaukelt. Über solche Gegebenheiten gibt es keine Klagen, sondern höchstens ein Fragen nach Rat im Interesse des Kindes, obwohl niemand sicher sein kann, wie lange das Kind in dieser Familie bleiben darf. Pflegeeltern haben nur Pflichten, aber keinerlei Rechte. Nach meinen Erfahrungen geht es den Dauerpflegekindern in den Familien hervorragend gut, denn vor der Inpflegegabe werden die Familien sorgfältig überprüft, ob sie menschlich und räumlich in der Lage sind, einem Kind optimale Bedingungen zu bieten. Im Familienbericht lesen wir, daß es rund 65 000 Kinder in Familienpflege gibt. Ich meine, diesen Pflegeeltern gebührt einmal Dank und Anerkennung aus diesem Hause dafür, daß sie trotz Mangel der eigenen Rechte gegenüber ihren Schutzbefohlenen diese Kinder auch bei Vorhandensein eigener Kinder in ihren Familien voll integrieren und damit eine staatspolitische Aufgabe erfüllen, die durch nichts besser ersetzt werden könnte. Sie bringen den Kindern echte Elternliebe entgegen und bieten Ihnen dadurch die Chance, als Familienkinder ohne Negativstellung aufwachsen zu können.Doch bei diesem Dank alleine sollten wir es nicht belassen, sondern wir sollten durch ein eigenes Pflegekindergesetz — an dem ich zur Zeit arbeite — den Kindern und ihren Pflegeeltern mehr Rechte geben. Daß diese Rechte erst einsetzen, wenn sich echte Eltern-Kind-Beziehungen entwickelt haben, dürfte im Interesse der Kinder klar auf der Hand liegen. Die Schwerpunkte im Gesetz sollten in folgendem liegen. Bewährten Pflegeeltern sollte die Vormundschaft für das Kind übertragen werden. Sie sollten Impf- und Operationserlaubnis in Verbindung mit dem behandelnden Arzt erteilen können, und sie müßten im Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ein Einspruchsrecht im Interesse des Kindes erhalten. Das Recht des Kindes muß dahin gehend erweitert werden, daß das Kind den Namen der Pflegeeltern als Doppelnamen führen darf, ohne daß dies im Personenstandsregister eingetragen werden muß. Damit wird eine Diskriminierung des Pflegekindes in Kindergarten, Schule und Gesellschaft weitgehend abgebaut. Pflegemütter sollten auf Antrag die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung zusätzlich zum Pflegegeld erhalten, denn sie verzichten durch die Aufnahme des Kindes darauf, selbst berufstätig zu sein. Ohne hier schon vollständig die Grundzüge des Pflegekindergesetzes aufzeigen zu wollen, muß aber noch angesprochen werden, daß die Kinder mit in die Krankenversicherung ihrer Pflegeeltern aufgenommen werden können. Die vorhin angesprochenen Vorbereitungs- und Fortbildungslehrgänge sollten auch für diese Elterngruppe zur Teilnahme verpflichtend angeboten werden.Nun muß ich noch einmal zur Tagesversorgung der Kinder von alleinstehenden Elternteilen zurückkommen. Die Kleinkinder werden in Zukunft durch Tagesmütter oder -väter optimal versorgt. Deshalb sollte dieses Modell stärker ausgebaut werden. Heute ist jedoch die Zahl der Plätze in Tageseinrichtungen der Kindergärten noch viel zu gering. Deshalb sollten wir Politiker uns alle dafür einsetzen, daß diese Kinder noch bei der Tagesmutter bleiben können und von da aus den Kindergarten besuchen. Für Schulkinder, deren Mütter und Väter alleinstehen und berufstätig sein müssen, sollten bevorzugt Ganztagsschulen eingerichtet werden, damit die Kinder versorgt und die Schulaufgaben abends erledigt sind, wenn die Mütter oder Väter von der Arbeit kommen. Dadurch wird die Bindung zu diesen Elternteilen erhalten, und der finanzielle Aufwand bleibt gering.Da ich mich mit den Kindern aus Problemfamilien befaßt habe, muß nun auch noch etwas zu den Heimkindern gesagt werden. Zunächst ist es erfreulich, feststellen zu können, daß die Zahl der Heime und der darin zur Verfügung gestellten Plätze in den letzten Jahren rückläufig ist. Ob die Kinder in den Heimen hospitalgeschädigt werden und ob ihr Intelligenzquotient retardiert wird, hängt einzig und allein von der Art der Heimführung ab. Es gibt auch heute noch Heime, die personell gut ausgestattet sind und in denen die Kinder die notwendige liebe-
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Frau Lüdemannvolle Zuwendung durch regelmäßig anwesende Pflegepersonen erhalten.
— Kommt gleich, Augenblick! — Hierbei sind besonders die kirchlichen Heime zu nennen, in denen es keinen Schichtdienst gibt, sondern die Schwestern rund um die Uhr immer für dieselben Kinder zur Verfügung stehen.Je familienähnlicher die Heime geführt werden, desto weniger entwickelt sich der Hospitalismus. Aber ich kenne auch Heimkinder, die schon im Alter von einem halben Jahr mit dem Kopf schlagen oder schaukeln — beides typische Zeichen für Hospitalschaden. So sollten wir alle unseren Einfluß geltend machen, daß in Zukunft die herkömmlichen Heime mit großen Kinderzahlen, in Altersgruppen untergliedert, verschwinden und statt dessen nur noch Heime gebaut und mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, die analog den SOS-Kinderdörfern mit Einzelhäusern ausgestattet sind, in denen möglichst Ehepaare mit eigenen und fremden Kindern in einem Verbund leben.
Wir werden auch in Zukunft auf die Heime nicht verzichten können, aber wir sollten bemüht sein, daß den Kindern darin ein weitgehend familiengerechtes Aufwachsen ermöglicht wird.Wenn ich jetzt zum Schluß komme, so weiß ich, daß ich sehr viele Probleme, die das umfangreiche Werk des Familienberichts aufzeigt, unberücksichtigt gelassen habe. Mir ist bewußt, daß auch für die gesunde Normalfamilie noch vieles zu verbessern ist, wenn ich nur an die rückläufigen Geburtenzahlen, die Beratungsdienste, den Unfallschutz für Kinder, Vorsorgeuntersuchung für Kinder, Freizeiteinrichtungen und vieles, vieles andere mehr denke.Ich habe auch die Familie mit behinderten Kindern unberücksichtigt gelassen, aber schon früher an dieser Stelle meine Gedanken dazu vorgetragen. Wegen meiner praktischen Erfahrungen mit Kindern aus Problemfamilien habe ich mich besonders auf die Sozialwaisen und die Kinder alleinstehender Väter oder Mütter beschränkt.Zusammenfassend möchte ich sagen, daß die Entwicklungsbedingungen für ein Kind dort am besten sind, wo eine vollzählige Familie mit Einfühlungsvermögen, Verständnis, Toleranz und Liebe ihren Einfluß geltend macht, egal ob es sich um die biologischen oder um Adoptiv- oder Pflegeeltern handelt. Was auch immer die rechtliche Stellung des Kindes sein mag, sie sind für das Kind in der Familie die Eltern im psychologischen Sinne, und das Kind wird hier zu einem erwünschten, geschätzten und damit vollwertigen Familienmitglied. Das scheint mir die günstigste Ausgangsbasis dafür zu sein, daß ein Kind glücklich heranwachsen und zu einem vollwertigen Menschen in unserer Gesellschaft werden kann.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Glotz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Rollmann und die Frau Kollegin Wex haben eine ganze Fülle von wirklich schwierigen und echten Problemen vorgetragen. Nur, Herr Kollege Rollmann, eine Aufsummierung von Problemen ergibt natürlich nur dann eine berechtigte Anklage gegen die Bundesregierung, wenn man gleichzeitig auch nachweisen kann, daß diese Probleme von der Bundesregierung hätten gelöst werden können. Das haben Sie in vielen Punkten gerade nicht dargetan, wie ich glaube.
— Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie sagen, Sie hätten das gar nicht als Kritik an der Bundesregierung gemeint. Aber wir müßten erst einmal das Protokoll nachlesen, auch bezüglich der Äußerungen der Frau Kollegin Wex.
— Ich will einmal zwei Beispiele nennen. Es wurde— dies ist ein echtes Problem — die besondere Gefährdung von Kindern im Straßenverkehr in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich dargestellt.
— Einverstanden! Ich höre, das war nicht im Sinne einer Anklage gemeint. Ich glaube, das ist wichtig für die Diskussion in diesem Haus. Wir sind uns also einig, daß es in einer Autogesellschaft, die diese bundesrepublikanische Gesellschaft ist — wir sind vielleicht alle skeptisch, daß das so ist, und wollen es vielleicht ändern —, nicht die Schuld der Bundesregierung ist, wenn dieser Sachverhalt sich so darstellt. Ähnliches gilt wohl für die Bevölkerungsentwicklung, die Sie dargestellt haben.
— Gut, ich nehme dies zur Kenntnis. Ich habe aus beiden Reden an manchen Punkten einen deutlichen anklägerischen Ton herausgehört.
— Sofort, Herr Kollege Rollmann, ich komme gleich darauf. Ich möchte erst einmal auf den einen oder anderen Widerspruch hinweisen, der, wie ich glaube, in einigen Ihrer Äußerungen und Darstellungen enthalten war.Herr Kollege Rollmann, Sie haben beispielsweise den Vorschlag gemacht — auch dies ist ein Vorschlag, den ich hiermit nicht einfach pauschal ableh-
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Parl. Staatssekretär Dr. Glotznen will —, daß die Zahlung des Kindergeldes unter Umständen an bestimmte Auflagen gebunden werden könnte.
— Früherkennung! Ich nehme dies zur Kenntnis. Ich kann mich dazu hier jetzt nicht äußern. Dies ist etwas, was man ernsthaft diskutieren muß. Aber ich frage Sie selbst: Wäre es, wenn ein sozialdemokratischer Politiker diesen Vorschlag gemacht hätte, nicht so gewesen, daß sich unter Ihnen, unter den „Christlichen Demokraten" oder unter den „Christlich-Sozialen", wie Sie das nennen, Herr Rollmann, einer gefunden hätte, der dies als eine „sozialistische Zwangsmaßnahme" dargestellt hätte? Ich bin sicher, daß das passiert wäre.
Um auf etwas zu kommen, was Sie, Frau Kollegin Wex, gesagt haben: Sie haben ein ganz wichtiges Problem, das mich seit langem beschäftigt, das viele von uns beschäftigt, angesprochen, nämlich das Problem der Gewalt im Fernsehen. Die Bundesregierung versucht in dieser Hinsicht einiges zu tun. Ich räume durchaus ein, daß man darüber diskutieren kann, ob es genug ist. Die Bundesregierung hat beispielsweise die Sendereihe „Sesamstraße" analysieren lassen. Sie hat ein Medienpaket vorbereitet, das für die Elternbildung gedacht ist. Sie hat auch noch manches andere vorbereitet. Im Familienbericht steht einiges darüber. Ich will es hier nicht aufzählen. Sie sagen hier mit Recht: Dies ist ein schwieriges Problem. Wenn Sozialdemokraten aber etwa die Werbung, die mit Kindern im Fernsehen betrieben wird, kritisieren, und die Frage stellen, ob man hier nicht manches einschränken müßte, findet sich bestimmt jemand unter Ihnen, der mit der Werbung treibenden Wirtschaft, mit der Wirtschaftswerbung herkommt und sagt: Dies ist eine staatliche Zwangsmaßnahme, gegen die wir antreten müssen.
Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Wex zu?
Sehr gern.
Meinen Sie wirklich, daß die Begründung, es fände sich irgend jemand, der einer Sache widerspricht, ausreichend ist, um eine notwendige Sache nicht durchzuführen und sie anzugreifen? Ich meine, das wäre keine Begründung, die der Sache entspräche.
Frau Kollegin, Sie haben vollständig recht, daß dies keine ausreichende Argumentation ist. Ich würde auch Herrn Katzer nicht vorwerfen wollen, was Herr Strauß
über die berufliche Bildung an schlimmen Dingen sagt.
So werfe ich auch Ihnen nicht vor, daß Sie beispielsweise dies behauptet hätten, was hier jetzt etwa zur Werbung mit Kindern gesagt wird. Lassen Sie uns diese Vorschläge dann doch gemeinsam verfolgen, gemeinsam insofern, als Sie aufhören, Zitate aus dem Spektrum der Sozialdemokratie, die Ihnen im einzelnen nicht gefallen, die aber mit Sicherheit nicht die Position der Bundesregierung wiedergeben, zu zitieren, und als wir umgekehrt andere Zitate, die wir auch finden können, nicht dagegen aufrechnen. Wir sollten uns vielmehr ernsthaft gemeinsam mit den Problemen auseinandersetzen. Angefangen mit Zitaten — von Frau von Behr und manchen anderen — hat in dieser Debatte Herr Rollmann aus Ihrer Fraktion.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Wenn die Zeit dafür nicht von den kurzen 15 Minuten, die mir zur Verfügung stehen, abgezogen wird — gerne!
Frau Kollegin Wex verzichtet auf ihre Frage.
Was das Thema „Gewalt im Fernsehen" anbetrifft, so möchte ich noch auf eines hinweisen, Frau Kollegin. Das Schlimmste, was, gerade auch für die Kinder, passieren könnte, wäre Sie haben die Sozialisationskraft des Fernsehens angesprochen —, wenn wir in dieser Bundesrepublik ein privates Fernsehen bekämen.
Liebe gnädige Frau, die sozialliberale Koalition hat dies nie gefordert, sondern immer das Gegenteil durchgesetzt. Forderungen dieser Art höre ich von der konservativen Seite dieses Hauses. Wenn Sie von Familienpolitik sprechen, dann sorgen Sie bitte dafür, daß solche Forderungen in Ihren Reihen verstummen, und zwar endgültig. Dann ist es gut.
— Frau Kollegin, nehmen Sie mir doch bitte ab, daß ich mich — genau wie Frau Wex — ernsthaft um das Problem der Kinder, die vor dem Fernsehschirm sitzen, sorge.
Wenn das so ist, dann müssen Sie mir gleichzeitig zugestehen, daß ich als jemand, der sich lange mit diesem Medienproblem beschäftigt hat, sage: Dies würde um noch vieles schlimmer, wenn private Un-
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Parl. Staatssekretär Dr. Glotz
ternehmer jeden Kriminalfilm, der eine große Einschaltrate hat, bringen könnten, wie es in den Vereinigten Staaten der Fall ist. In Ihrem neuesten Medienpapier lese ich wieder, daß privates Fernsehen keineswegs so klar wie bei SPD und FDP abgelehnt wird, und gleichzeitig höre ich, daß Frau Wex Gewalt im Fernsehen kritisiert. Das sind für mich Widersprüche, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Abgeordneten Erhard ?
Herr Staatssekretär, kommt es Ihnen darauf an, wer Träger einer Fernseheinrichtung ist, oder kommt es uns allen darauf an, was ausgestrahlt wird?
Herr Kollege Erhard, selbstverständlich kommt es darauf an, was ausgestrahlt wird. Aber ich bin ganz sicher, daß das Fernsehen, gerade was Kinder betrifft — und wir sind hier in einer familienpolitischen Debatte —, wenn Sie private Träger haben, die ja mit dem Fernsehen nur Profit machen wollen, für die Kinder Schlimmeres ausstrahlen würde als das öffentlichrechtliche Fernsehen, das sich wie beim ZDF auf Staatsverträge gründet. Davon bin ist fest überzeugt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Frau Wex?
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht wirklich der Meinung, daß dieses Thema so angesprochen werden müßte, daß auch wirklich etwas dabei herauskommt? Und würden Sie sich wenigstens dazu verstehen, meinen Vorschlag, gerade dies als eine Aufgabe der Bund-Länder-Kommission bezüglich der Bildungsinhalte aufzunehmen, zu beachten und nicht nur Dinge anzugreifen, die in dieser Debatte überhaupt nicht erwähnt wurden?
Frau Kollegin Wex, um das abzuschließen: Natürlich müssen wir uns jetzt auch mit den vielen anderen Problemen der familienpolitischen Debatte beschäftigen. Auch wenn in dieser Debatte keiner privates Fernsehen gefordert hat, muß es für mich doch als ein Widerspruch erscheinen, daß man einerseits Gewalt im Fernsehen kritisiert, aber andererseits — und da sehe ich einen ganz dichten Zusammenhang — aus der gleichen Fraktion Forderungen nach Privatisierung des Fernsehens kommen.
Auch wenn das in dieser Debatte nicht gesagt wird — Herr Fuchs —, ist das für mich ein enger und wichtiger Zusammenhang.
— Verzeihen Sie, lesen Sie das Medienpapier Ihrer eigenen Partei!Zweitens zu Ihrem konkreten Vorschlag, Frau Wex. Den Vorschlag, dies zu diskutieren, möchte ich gern aufnehmen. Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung wird allerdings keinen Einfluß auf die freien Rundfunkanstalten haben.
Das nur zu diskutieren ist selbstverständlich möglich. Sie wissen aber, daß die Rundfunkanstalten autonom und die Möglichkeiten des Einflusses auch von BundLänder-Gremien auf die Rundfunkanstalten begrenzt sind. Trotzdem würde ich Ihren Vorschlag durchaus für sinnvoll und möglich erachten.Jetzt möchte ich noch ein paar Sätze zu dem sagen, was Sie zur Bildungspolitik ausgeführt haben. Ich konnte Ihre Rede nicht mehr nachlesen, aber, ich glaube, ich zitiere Sie richtig. Durch bestimmte Lerninhalte, so sagten Sie, würden die Konflikte mit den Eltern geschürt; man betrüge die Kinder um die Möglichkeit, Autorität zu erfahren; junge Menschen würden zu früh zum Urteil verurteilt; und das Lernziel sei globale Kritik.Lassen Sie mich im Hinblick darauf sagen: Die Bundesregierung ist auf das verpflichtet, was im Bildungsgesamtplan steht. Im Bildungsgesamtplan, Frau Kollegin, steht:Lehrpläne müssen sich an Sachbereichen und wissenschaftlichen Methoden orientieren; sie sollen Lernziele und Lerninhalte umfassen, die zu kritischem Verständnis und verantwortungsbewußtem Handeln befähigen. Damit wird es möglich, die unterschiedliche Bewertung von theoretischer und praktischer Ausbildung zu überwinden.Ich glaube, dies, worauf sich sämtliche Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung geeinigt haben, ist die Leitlinie für die Bildungsinhalte und sollte sie sein.Nun gibt es sicher — das haben Sie wahrscheinlich gemeint; Sie haben es auch nicht als pauschalen Verdacht gesagt, sondern auf bestimmte Dinge zugespitzt — Diskussionen um Bildungsinhalte, die problematisch sind. Auch ich möchte mich hier nicht auf jede Einzelheit der ersten Fassung der Rahmenrichtlinien zur Gesellschaftslehre in diesem oder jenem Bundesland festlegen wollen. Dies schon gar nicht die Bundesregierung!Aber abgesehen davon muß man doch, gerade wenn man über Kinder und Lehrinhalte diskutiert, feststellen, daß uns die Pädagogen sagen, daß in den jetzigen Lehrinhalten oft viel zuviel auf Wissenserwerb und Anpassung Wert gelegt wird. Beispielsweise steckt in vielen gymnasialen Bildungsgängen noch zuviel philologischer Wissenserwerb,
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Parl. Staatssekretär Dr. Glotzund kreatives Denken wird zu wenig gefördert. Wir müssen da also etwas ändern. Da sind wir einer Meinung. Meine Meinung ist: Wir müssen darauf aufpassen, daß durch die Diskussionen und die Art der Diskussionen, die heute über Rahmenrichtlinien oder Bildungsinhalte geführt werden, nicht jeder Versuch, jede Neuerung, jede Veränderung sofort von Entrüstungsschreien zugedeckt wird. Das gehört doch auch zur Wirklichkeit .unserer jetzigen Bildungsdiskussion.
— Ich will nicht darüber streiten, daß diese Diskussion vielleicht von allen möglichen Seiten ungut geführt worden ist. Aber, verzeihen Sie, Herr Kollege, ich habe hier noch keine Rede des Kollegen Carstens gehört, in der er das Thema „Rahmenrichtlinien" nicht in der gleichen undifferenzierten Form zu Wahlkampfzwecken angesprochen hätte.
Ich möchte mich auf eine Äußerung beziehen, die vor kurzem der Kollege Erhard Eppler gemacht hat, in der er sagte, die Schulen wären dann familienfeindliche Institutionen, wenn sie die Hierarchien unserer Gesellschaft ins Klassenzimmer projizierten. Dem möchte ich voll und ganz zustimmen, und unter diesem Aspekt sollten alle Demokraten in diesem Lande die Lerninhalte unserer Schulen überprüfen. Das wäre sehr wichtig.Noch ein Hinweis, Frau Kollegin. Im Familienbericht und auch in dieser Debatte ist viel vom Konkurrenzdruck die Rede, der heute in den Schulen bestehe und erzeugt werde, ferner von den Neurosen, den Verhaltensstörungen und anderen Problemen, die daraus entstünden. Ein sehr wichtiges Problem, das dabei mit angesprochen werden muß, liegt darin, daß dieser Konkurrenzdruck, und zwar bis hinunter zu den Zwölf-, Dreizehnjährigen, u. a. dadurch erzeugt wird, daß wir ein völlig falsches Zulassungssystem an unseren Hochschulen haben, wo vor allem Abiturdurchschnittsnoten und Wartezeiten eine Rolle spielen.
Das heißt also, daß wir ein Zulassungssystem haben, wo man im Grunde schon mit zwölf, dreizehn Jahren rangeln muß, um zu einer Einsernote zu kommen, die man braucht, um überhaupt zum Studium an einer Hochschule zugelassen zu werden.
Nein, ich übertreibe nicht, Herr Kollege Fuchs. Sie wissen, daß man Medizin heute nur mit der Note 1,6 studieren kann. Wenn die Menschen in unserem Lande erfahren, daß in drei Jahren alle jungen Ärzte einmal Einser-Schüler gewesen sein müssen, wird sie ein furchtbares Gruseln befallen. Das verspreche ich Ihnen, Herr Kollege Fuchs.
Wir müssen also die Zulassungsbedingungen ändern.
— Wir haben darüber im Bildungsausschuß konstruktive Diskussionen geführt.Ich weise darauf nur deshalb hin, weil ich eine Bitte habe, Frau Kollegin Wex — es ist kein Streit mit Ihnen, sondern eine Bitte —: Vertreten Sie das, was Sie in der familienpolitischen Debatte hier zugunsten der Kinder vertreten, erstens auch bei der Diskussion von Bildungsinhalten und zweitens bei der Diskussion über den Zugang zu den Hochschulen! Lehnen Sie also beispielsweise das Hochschulrahmengesetz von seiten der CDU/CSU nicht ab, wenn es im Bundesrat zur Abstimmung kommt! Das ist meine Bitte.
Dies wird nur etwas, wenn man es konsequent vertritt. Man kann nicht in der Familienpolitik mit dem Schutz der Kinder argumentieren, dann aber die Konsequenzen, die in anderen Bereichen der Politik gezogen werden müssen, nicht ziehen wollen.Ich möchte — damit bin ich gleich schon am Ende meiner kurzen Ausführungen — zwei Sätze, die Hartmut von Hentig kürzlich geschrieben hat und die sich allgemein mit dem Problem der Reformen beschäftigen, zitieren. Der erste Satz lautet:In einer komplexen Industriegesellschaft kann es nur totale Reformen geben; denn wenn man an der einen Stelle anfängt etwas zu verändern, erzeugt man woanders nicht vorhergesehene Probleme.Das ist etwas, was wir im Bildungswesen ständig bemerken. Der zweite Satz lautet:In einer komplexen Industriegesellschaft kann man realistischerweise immer nur stückweise reformieren; oder anders: die Schule darf nicht unabhängig von der Beschäftigungsstruktur geändert werden, aber auch nicht in Abhängigkeit von ihr bleiben.Sie sehen hier die gegenseitige Abhängigkeit von Reformen in den verschiedenen Bereichen. Mit einer Reform schafft man neue Probleme, die man dann wieder lösen muß.Ich will ein solches Problem, das in unsere Debatte paßt und das hier noch nicht diskutiert worden ist, noch aufwerfen. Durch die Bildungsexpansion, durch die Tatsache, daß es viel mehr junge Leute gibt, die höhere Qualifikationen erwerben, daß heute 21,5 % die Studienberechtigung haben, nicht mehr nur 6 % wie vor 15 Jahren, entsteht die Gefahr, daß sich eine Qualifikationsschere öffnet; denn es gibt noch genauso viele junge Leute wie vor 15 Jahren, die den Hauptschulabschluß nicht schaffen, die also nicht einmal einen mittleren Abschluß bekommmen.
— Nein, es sind in den letzten 15 Jahren nicht mehr geworden — ich habe es genau nachgesehen —, sondern die Zahl ist gleichgeblieben, während die andere Zahl gestiegen ist. Dies bringt die Gefahr
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Parl. Staatssekretär Dr. Glotzmit sich, daß der Abstand zwischen Erfolg und Mißerfolg immer größer wird, weil nämlich dann auch eine Verfestigung, eine Erstarrung der Bildungslaufbahnen die Folge sein könnte und derjenige sozusagen aus dem unteren Spektrum, der diese Qualifikation nicht erwirbt, nur eine geringe Chance für eine erfolgreiche Berufsausübung und ein erfolgreiches Leben hat. Es wird versucht, dies in den Ländern durch besondere Berufsgrundschuljahre, durch Gelegenheiten zum Nachholen von Hauptschulabschlüssen und vieles andere zu lösen. Ich meine nur, dies ist ein solches entscheidendes Problem, das durch die Bildungsexpansion entstanden ist.Daraus darf man jetzt nicht den Schluß ziehen, die Bildungsexpansion sei falsch gewesen, sondern man muß umgekehrt den Schluß ziehen, daß es nun gilt, nicht den Zugang zu den höheren Qualifikationen zu sperren — wie manche es wollen —, sondern die unteren Qualifikationen durch Förderung und Hilfe anzuheben. Dies ist ein solches Problem, das in unsere familien- und jugendpolitische Debatte ganz entscheidend hineingehört.Zum Abschluß möchte ich, wie auch Sie es getan haben, Frau Wex, ein paar Sätze aus diesem Familienbericht zitieren, den Sie sehr positiv charakterisiert haben.
— Den Bericht, und aus dem Bericht möchte ich zitieren.
— Nein, nein, den Bericht selbst. In dem Bericht heißt es:Man wird den Schichteneinfluß der Unterschichtenfamilie nur dann erheblich beeinträchtigen können,
— das ist die Seite 71, Frau Kollegin Wex — damit ist ein negativer Einfluß gemeint, der aus dem Erziehungsmilieu von Familien entstehen kann, die es wirtschaftlich schwer haben --wenn es gelingt, die Schichtenlage dieser Familien zu verändern — indem man also— ich zitiere jetzt weiter wörtlich diesen von Ihnen mit Recht so positiv charakterisierten Bericht —eine erfolgreiche „Entschichtungspolitik" betreibt. Diese Schlußfolgerung ergibt sich auch noch aus einem weiteren Argument: In dem Maße, in dem kompensatorische Erziehungsprogramme insofern Erfolg zeitigen, als sie die Chancengleichheit im öffentlichen Bildungssystem erhöhen, entstehen Folgeprobleme von keineswegs geringem Gewicht. Wenn dadurch nur die Mobilitätschance von Unterschichtkindern erhöht, nicht aber das vorhandene Ausmaß von Ungleichheiten z. B. im Berufssystem abgebaut wird, entsteht um die gleichbleibend geringe Zahl privilegierter Positionen zwangsläufig eine verstärkte Konkurrenz. Es muß inden Schulen ein Wettbewerbsdruck aufkommen, der für die betroffenen Kinder und Jugendlichen Leistungsstreß und die Wahrscheinlichkeit von Neurosen erzeugt. Anzeichen dafür ließen sich in den letzten Jahren durchaus auch in der Bundesrepublik schon erkennen. Ein solcher Effekt kann nur vermieden werden,— und jetzt kommt's —wenn mit der Erhöhung von Chancengleichheit im Bildungssystem die Ungleichheiten der sozialen Schichtung im Hinblick auf Macht, Geld und Prestige gleichzeitig vermindert werden. Denn nur in dem Maße, in dem dies gelingt, werden die auch im Schulsystem natürlich unabdingbaren Konkurrenzen ohne den Zwang ablaufen, angesichts der lebenslang drastischen Folgen um jeden Preis gewinnen zu müssen.Dies, Frau Kollegin Wex, scheint mir eine ganz wichtige und ganz richtige Stellungnahme zu sein. Sie beweist, daß Familienpolitik mit einer ganzen Reihe von Politiken zusammenhängt, beispielsweise mit der Bildungspolitik — Frau Minister Focke hat darauf hingewiesen —, mit der Wohnungspolitik. Dieser Zusammenhang geht ja auch aus Ihrer Stellungnahme und aus Ihrem Antrag hervor.Meine Bitte wäre nur, daß Sie das, was die sozialliberale Koalition an „Entschichtungspolitik" — Entschichtungspolitik im Sinne dieses Absatzes —, an Hilfe für sozial schwächere Schichten in diesem Sinne erkämpft hat und worum sie kämpft,
nicht, wie es oft ist, bekämpfen, sondern es unterstützen — und dies nicht nur in einer familienpolitischen Debatte, sondern in der konkreten Politik Tag für Tag hier in diesem Haus, in Ihrer Partei und im anderen Haus, dem Bundesrat.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Frau Abgeordnete Stommel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst einige Worte zu den Ausführungen von Frau Minister Focke. Frau Minister, Sie hatten mich zitiert als jemand, der gesagt und geschrieben hat, daß das Leitbild Ihrer Partei die berufstätige Frau sei. Frau Minister, solange Sie mir nicht widerlegen können, daß sich nach Äußerungen Ihrer Partei die Frau nur in der Erwerbstätigkeit selbst verwirklichen kann, glaube ich auch nicht, daß Sie ein anderes Leitbild haben. Wir haben in unseren Richtlinien ganz klar herausgestellt, daß die Erwerbstätigkeit ein Weg zur Selbstverwirklichung ist. Ich glaube, hier liegt der große Unterschied.Frau Minister, ein Weiteres noch: Solange der Familienlastenausgleich nicht so ausgestattet ist, daß eine Frau aus finanziellen Gründen nicht berufs-
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Frau Stommeltätig sein muß — eine Frau, die sich lieber der Erziehung ihrer Kinder widmet —, gehört die Erwerbstätigkeit der Frau noch zu Ihrem Leitbild.Sie haben ferner das Problem der Kinderfeindlichkeit angesprochen, und Sie haben gemeint, es sei nicht so, wie wir es in unseren Anfragen dargestellt haben. Wir sind mit Ihnen einig, daß wir alles tun müssen, um das Problem der Kinderfeindlichkeit zu lösen. Deshalb auch unsere Große Anfrage zur Situation des Kindes. Sie sollten uns eigentlich dankbar dafür sein, daß wir durch die Große Anfrage die Situation des Kindes wieder einmal in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt haben.
Solange man auf der einen Seite beanstandet, daß in Wohnsiedlungen Kinderspielplätze eingerichtet werden, auf der anderen Seite aber den Lärm aufheulender Motoren duldet, ist die Kinderfeindlichkeit in unserer Bundesrepublik noch nicht beseitigt.
Sie werden uns aber zum Mitstreiter haben, wenn Sie Wege zur Überwindung der Kinderfeindlichkeit einschlagen.Frau Minister, Sie haben erklärt, die CDU wolle auf der einen Seite nicht zuviel Staat, auf der anderen Seite fordere sie immer erhöhtes Kindergeld, und letzten Endes gipfelten die Forderungen wohl darin, daß der Staat die ganzen Kosten für die Kindererziehung tragen solle. Sie werden keinen Antrag der CDU finden, in dem nicht der Anteil der Familie an der Erziehung der Kinder herausgestellt wird; wir lehnen nur eine unzumutbare Belastung der Familie ab. Daß dieses Problem in besonderem Maße die kinderreichen Familien angeht, ist wohl eine Selbstverständlichkeit.Es wird außerdem behauptet, Familienpolitik bestehe für uns nur im Kindergeld. Frau Minister, Sie haben eine lange Zeit Ihrer Ausführungen darauf verwandt, sich mit allen Problemen und Auswirkungen des Kindergeldes zu befassen. Das weist darauf hin, daß man die Probleme des Kindergeldes und sonstiger finanzieller Beihilfen nicht zur Seite schieben darf, sondern daß dies wichtige und tragende Faktoren im Rahmen der Familienpolitik sind.Herr Kollege Fiebig erwähnte die Elternbriefe. Ich glaube, Elternbriefe gibt es schon seit langen Jahren in vielen Städten der Bundesrepublik. Es ist dankbar zu begrüßen, daß die Bundesregierung Mittel zur Verfügung stellt, damit dies zukünftig in allen Städten möglich ist. Zur Richtigstellung ist aber auch darauf zu verweisen, daß damit keine neuen Wege beschritten werden, sondern daß es sich nur um die Überarbeitung vorhandener Dinge handelt.Lassen Sie mich noch auf ein anderes Thema der Großen Anfrage zur Situation des Kindes zurückkommen. Angesichts der sich andauernd und beschleunigt verändernden gesamtgesellschaftlichen Lebensbedingungen ist die Jugendhilfepolitik heute von besonderer Bedeutung. Das zeigt schon die Diskussion des heutigen Tages. Sie ist es um so mehr, als die politische Aktivität eines Teils der Jugendin unserem Lande es uns nicht immer leicht macht, zu unterscheiden, inwieweit sich eine kritische Jugend im Sinne unserer demokratischen Grundordnung engagiert und inwieweit jene politischen Gruppen am Werk sind, die als „Systemüberwinder" eine andere staatliche Ordnung als die unsere wollen.Wir kennen und beobachten die oft hoffnungslos ideologisch blockierte Auseinandersetzung vieler junger Menschen heute mit Staat und Gesellschaft. Wir machen uns auch zunehmend Gedanken um eine Jugend, die morgen fähig sein soll, notwendige gesellschaftliche Reformen aus der demokratischen Substanz unserer staatlichen Gemeinschaft zu entwickeln. Auch aus dieser Verantwortung heraus und in wachsender Sorge um die Festigung demokratischer Sustanz dieser Jugend haben wir unsere Große Anfrage zur Situation des Kindes an die Bundesregierung gerichtet.Auch aus dieser Sicht haben wir das Thema Heimerziehung als eine Kernfrage der Jugendhilfe von heute aufgegriffen. Das Thema Heimerziehung läßt sich nicht mit der politischen Stoßkraft der großen Zahl präsentieren. Aber immerhin bietet es als Ausweis seiner jugendpolitischen Brisanz zwei bemerkenswerte Superlative:Heimkinder sind unsere chancenärmsten Kinder. Heimkinder sind aber auch auf dem Wege, unsere teuersten Kinder zu werden. Heimkinder sind die Kinder und Jugendlichen, an denen sich u. a. die Unterlassungen, die Versäumnisse, die Schwächen und Lücken der Jugendhilfe als öffentlicher Aufgabe am schonungslosesten als persönliche Schicksalsfaktoren auswirken.
Ausgangspunkt der öffentlichen Erziehung ist immer und ausschließlich der Erziehungsnotstand des Kindes. Die Ursachen hierfür liegen in erster Linie im erzieherisch versagenden Elternhaus, in der nicht immer intakten Familie, für die der Staat insoweit eine Verantwortung trägt, als er nach Art. 6 des Grundgesetzes Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates stellt.Aus diesen Gründen schon erscheint uns die Heimerziehung über ihre sozialpädagogische Problematik hinaus auch als ein Politikum wert und bedürftig einer Diskussion im Hohen Hause — wie das soeben auch ein Diskussionsbeitrag gezeigt hat —, obwohl der Bund für diesen Bereich der Jugendhilfe nur eine sehr schmale Gesetzgebungs- und eine sehr eingeschränkte Förderungskompetenz hat und die Bundesregierung so formatrechtlich jeder Verantwortung aus der den Ländern und Kommunen zugeordneten Vollzugskompetenz entbunden ist. Wir wissen das und wissen auch, daß das Bundesministerium als eines der Ziele der Bundesregierung nannte, ein neues Jugendhilfegesetz als umfassendes Reformwerk zu verabschieden, was jetzt aus finanziellen Gründen vorläufig gestorben ist und sich nicht realisieren läßt. Aber von einer Regierung der inneren Reformen, wie sie genannt wurde, erwarten wir, daß sie auch im kompetenzlosen Raum kraft ihres politischen Gewichts und kraft ihres
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Frau StommelMandats Verbesserungs- und Reformbedürftiges entscheidend in Bewegung hält und führt.Meine Damen und Herren, Länder, Kommunen und freie Träger sind bemüht — und mit Erfolg bemüht —, die Heimerziehung zu verbessern, zu reformieren, die Heime zu modernisieren und qualifiziertes Personal heranzubilden. Ich möchte von dieser Stelle aus vor allem einmal den freien Trägern für ihren jahrelangen mühevollen und oft selbstlosen Einsatz unseren ganz besonderen Dank sagen.
Eine durchgreifende Verbesserung auf dem Gebiet der Heimerziehung kann aber nur gelingen, wenn die Bundesregierung hierbei mitarbeitet. Sie darf in dieser Frage nicht draußen vor der Türe bleiben. Sie muß dort tätig werden, wo sie es kann. Dazu gehören z. B. Information, Aufklärung und Stärkung der Familie. Ich bin nicht der Meinung, daß dazu gleich Millionen notwendig sind.Das Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit hat eine Reihe von Broschüren herausgegeben, z. B.: „Unsere Kinder sollen Wunschkinder sein" oder: „Jede werdende Mutter hat ein Recht auf Hilfen" oder: „Sicherheitsfibel für die Eltern". Warum sollte nicht auch einmal eine Broschüre: „Wenn unsere Kinder Heimkinder sein müssen" herausgegeben werden? Eine solche Broschüre böte z. B. die Chance, eine breite Öffentlichkeit zu informieren, und könnte mit dazu beitragen, daß immer weniger Kinder in Heime geschickt werden müssen. Die Bundesregierung würde mit ihrer gekonnten Publizität und von ihrer Ebene aus Hilfestellung und Rückendeckung für die pädagogischen Risiken leisten, heute und jetzt, mit denen die Entwicklung und Praktizierung von Reformmodellen immer verbunden sind. Sie könnte mit den vielen Vorbehalten und falschen Vorstellungen zur Heimerziehung aufräumen. Unsere Bevölkerung sollte die grundsätzlichen und unerläßlichen Voraussetzungen einer zeitgemäßen Heimerziehung erfahren. Dazu zählt z. B. die Heimstruktur. Wenn ich das sage, sage ich es nicht vom grünen Tisch her. Ich lebe in einem ständigen Kontakt mit Kindern in Heimen und habe Heime besucht und habe mich orientiert. Ich halte das auch für eine Selbstverständlichkeit, wenn man dazu Stellung nimmt. Dazu gehört aber auch, daß ein Dauerüberarbeitungsstreß der Erzieher aufhört. Dazu gehört weiter, Heime aus dem irreal gewordenen ländlichen Idyll herauszulösen. Ferner gehört dazu das Bild der modernen heilpädagogischen Erziehungsmethode sowie die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen Heim, Jugendamt und Eltern.Information und Aufklärung, meine Damen und Herren, haben die Wirkung erfolgversprechender Präventivmaßnahmen, um Ursachen, die zur Heimerziehung führen können, abzubauen.Es ist nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, daß manche Eltern heute in der Erziehung ihrer Kinder vielfach überfordert sind. Ihre erzieherischen Fähigkeiten reichen teilweise nicht aus, um ihren Kindern eine störungsfreie Aufwuchsmöglichkeit zu bieten. Wir müssen die Eltern auch als Kinder ihrer Zeit und der äußeren Gegebenheiten sehen, als Menschenkinder, die oft noch mehr nach einer Geborgenheit suchen als ihre bisweilen schon recht selbständigen Kinder. Es wäre falsch, diese „versagenden Eltern", Väter und Mütter allein als schuldig zu deklarieren. Sie sind überfordert. Aber diesen Eltern muß geholfen werden. Hier sollte der Staat mit der Schaffung einer kinderfreundlicheren Umwelt — wie schon gesagt —, Erziehungsberatung und dergleichen helfen.Meine Damen und Herren, es ist notwendig, das Thema Heimerziehung abzubrechen. Seine Behandlung wäre aber unvollständig, wenn nicht auch die Situation der Säuglings- und Kleinkinderheime angesprochen würde. Wir wissen heute, daß Kleinkinder die Bezugsperson brauchen. Darauf brauche ich nicht mehr näher einzugehen. Wir wissen heute, daß das Modell der Tagesmütter — auch wenn Frau Kollegin Lüdemann ihnen ein großes Lob ausspricht — eine Notlösung bleibt und keine grundlegende Abhilfe zu schaffen vermag.
Der von der Bundestagsfraktion der CDU/CSU eingebrachte Gesetzentwurf über ein Erziehungsgeld ist von Frau Dr. Wex schon begründet worden. Er ist für mich die einzig realisierbare Möglichkeit, um dort Hilfe zu geben. Dennoch zieht die Bundesregierung aus dieser Tatsache bedauerlicherweise nicht die Konsequenzen, die zu einem durchschlagenden Erfolg führen.Wie notwendig dies ist, wurde mir wieder einmal besonders deutlich, als ich kürzlich ein Urteil des französischen Soziologieprofessors Vernon Baptiste las, der drei Jahre lang die deutsche Familienstruktur studiert hat. Er bescheinigt den Deutschen ein Maximum an egoistischem Auseinanderstreben in der Familie und rät gleichzeitig davon ab, noch an deutschen Universitäten zu studieren; hier werde eine Entwicklung geduldet, die die familienfreundliche Gesellschaft geradezu provoziere. Inwieweit er damit recht hat, sei dahingestellt.Meine Damen und Herren, ich wollte nur einige Faktoren, die die Heimerziehung berühren, ansprechen. Es gibt sicher noch eine Reihe weiterer Punkte, z. B. die Fragen: Wird die Heimerziehung im Bildungsplan ihren besonderen Platz finden? Wird es eine Ausnahmeregelung für die Erzieher hinsichtlich der Einführung der 40-Stunden-Woche geben? Wie soll den Folgen begegnet werden, die bei einer Einführung der 5-Tage-Woche für die Schulen auftreten würden? Ich denke hier an die Freizeitbewältigung.Heimkinder, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind eine kleine Minderheit in unserem Lande. Schlimmer ist es, daß es überdies eine fast stumme Minderheit sind. So ist jedes Wort, das andere, das wir nicht für sie sprechen, verloren. Jede Chance, die wir nicht für sie wahrnehmen, ist vertan. Vor diesem Hintergrund erscheint uns jedes Gespräch über dieses Problem als erstrangiger aktueller jugendpolitischer Beitrag.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12129
Das Wort hat der Abgeordnete Marschall.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Streckenweise haben die Dikussionsbeiträge der Opposition heute an das Geschehen an einer Klagemauer erinnert, einer Mauer der Motorisierung und der Bodenspekulation, die von der CDU/CSU 20 Jahre lang vom Fundament auf gebaut wurde.
Allerdings sind nun ungeheure Brocken des Allgäuer Voralpenlandes obenauf getürmt.
Die Opposition hat schon vorher — schon in den ersten Sätzen ihrer Großen Anfrage zur Situation der Kinder — ihr Maß an Sachlichkeit zu erkennen gegeben, wenn sie ohne Zaudern den Geburtenrückgang der vergangenen Jahre mit Kinderfeindlichkeit der Gesellschaft und Mangel an Fürsorge des Bundes in Zusammenhang bringt. Die Opposition hat auch ihren ideologischen Standort — schon in den ersten Sätzen ihrer Großen Anfrage — zu erkennen gegeben, wenn sie wie selbstverständlich von einem Bestand des deutschen Volkes ausgeht, der durch Steigerung der Geburtenzahl wenigstens zu erhalten sei. Derartige unbesehen übernommene Ansichten einer durch Zahlenwerte bestimmten Bevölkerungspolitik, die gerade in unserem Lande unselige Traditionen hat, sind wohl kaum als Einleitung einer sachlichen Diskussion geeignet.
Jedenfalls erwarten Eltern und Kinder, daß Politik an ihren Bedürfnissen und Interessen, nicht aber an irgendwelchen Zahlenwerten gemesen wird.Die Antwort der Bundesegierung hat klargemacht, daß man von einem wachsenden Verantwortungsbewußtsein unserer Eltern reden kann. Kinder werden zunehmend nicht mehr deshalb zur Welt gebracht, weil Sitte und Brauch es so fordern, sondern dann, wenn die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse günstigere Voraussetzungen für die Erziehung bieten. Aus dieser Sicht kann keineswegs verurteilt werden, wenn Frauen auf Grund der Erfahrungen mit dem ersten oder dem zweiten Kind ihre Belastung durch die Erziehungsaufgaben realistisch einschätzen und dann ursprüngliche Kinderwünsche zurücknehmen und ihre erzieherische Kraft einem oder zwei Kindern voll zuteil werden lassen.In diesem Zusammenhang ist die Feststellung von Bedeutung, daß mit dem Bildungsstand, dem sozialen Status, der Einkommenshöhe und der Verbesserung der Wohnverhältnisse die Bereitschaft zur Erhöhung der Kinderzahl wächst. Das bestärkt uns Sozialdemokraten darin, unsere Politik der Verbesserung der Bildungschancen, der Einkommen — vor allem der weniger Verdienenden — und der Wohnverhältnisse konsequent weiterzutreiben.
Erfreulich ist auch, daß die vor Jahren noch heftig bekämpfte freie Verfügbarkeit über empfängnisverhütende Mittel nicht zu einer weitgehenden Absage an den Kinderwunsch geführt hat, sondern es im Gegenteil den Eltern ermöglicht, ihr Leben so zu planen und zu gestalten, daß die Kinder zum gewünschten Zeitpunkt auf die Welt kommen und dadurch bessere Entwicklungschancen erhalten. Dies entspricht dem Grundsatz, daß Mütter und Väter über die Zahl der Kinder und den Zeitpunkt der Geburt frei und verantwortlich entscheiden sollen.Die Mitarbeit von Millionen ausländischer Arbeitnehmer in unserem Lande hat den Eindruck erweckt. die Deutschen seien nicht zahlreich genug, um aus eigener Kraft für das nötige Wirtschaftswachstum zu sorgen. Der Arbeitsmarkt in diesen Monaten müßte eigentlich auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nachdenklich gemacht haben. Eine hemmungslose Wachstumspolitik hat die Umweltbedingungen für menschliches Leben erheblich beeinträchtigt und die Ressourcen dieser Erde gefährdet. Wir werden Abschied von der Wachstumsideologie zu nehmen haben. Nicht mehr Quantität, sondern mehr Qualität ist die Voraussetzung für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen.
Eine verantwortungsbewußte Politik muß von den künftigen Erwartungen hinsichtlich der ökonomischen und sozialen Entwicklung ausgehen. Dabei wird deutlich, daß nicht einfach mehr Menschen, sondern gebildetere, gesündere, sozial bewußtere Menschen für ein Volk wichtig sind. Das werden wir Sozialdemokraten auch bei der Förderung der Familien und der Kinder vor Augen haben.Die SPD hat als erste und bisher einzige Partei einen Orientierungsrahmen für das kommende Jahr- zehnt vorgelegt. Die CDU/CSU sollte sich erst einmal der Mühe solcher perspektivischer Arbeit unterziehen, ehe sie den Untergang des Abendlandes beschwört.
Die in dem heute von der CDU/CSU vorgelegten Entschließungsantrag erhobene Forderung an die Regierung nach perfektionistischen Modellrechnungen über die Entwicklung der Wohnbevölkerung und der Altersschichtung für die Jahre 2000, 2030 und 2070 kann diese Arbeit nicht ersetzen. Die seltsame Fragestellung — um nur ein Beispiel zu nennen —, welche gesellschaftspolitischen Maßnahmen notwendig sind, um eine Gefährdung der kontinuierlichen Weiterentwicklung des Staates, der Gesellschaft, der Kultur und des Systems der sozialen Sicherheit auch in späteren Generationen durch Veränderungen von Bevölkerungszahl und Struktur auszuschließen, erinnert beklemmend an die Bevölkerungspolitik vergangener Jahrzehnte, soll aber wohl nur an eine übermenschliche Weisheit gerichtet sein. Ich bin jedenfalls der Auffassung, daß die Bundesregierung keiner Beschäftigungstherapie bedarf und ihre Arbeitsmöglichkeiten zweckmäßigerweise für die in der Antwort auf die Große Anfrage zu diesem Thema bereits angekündigten Entscheidungsgrund-
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12130 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Marschalllagen und ansonsten zur konkreten Arbeit für den Bürger nutzen sollte.
Sie machen es sich wiederum zu einfach, wenn Sie in Ihrer Großen Anfrage die zukünftige Sicherstellung der Altersversorgung offensichtlich in einseitiger Abhängigkeit von der Geburtenzahl sehen. Nicht die Zahl der zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen ist für das Aufkommen der Rentenversicherung maßgeblich, sondern der Ertrag ihrer Arbeit, die Höhe ihres Einkommens. Zudem ist für die Erwerbsstruktur nach 1985 zu berücksichtigen, daß die geringere Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung durch stärkere Erwerbsbeteiligung ausgeglichen werden kann. Die Bedeutung einer umfassenden sozialen und ökonomischen Strukturpolitik liegt auf der Hand.Die CDU/CSU hofft vielleicht politisches Kapital aus der Tatsache schlagen zu können, daß die Bundesrepublik hinsichtlich der Säuglingssterblichkeit im internationalen Vergleich erst an zwölfter Stelle rangiert. Das ist kein erfreulicher Platz. Dazu muß aber gesagt werden: nie war die Quote der gestorbenen Säuglinge höher als zu der Zeit, als CDU und CSU noch die Verantwortung für die Bundesregierung trugen.
Seither ist es gelungen, die Zahl der Sterbefälle insgesamt zu senken und die Unterschiede bei den Quoten der einzelnen Bundesländer abzubauen. Diese Daten liegen vor.
Die Antwort der Bundesregierung hat auch auf die sozialen Faktoren aufmerksam gemacht, die die Säuglingssterblichkeit beeinflussen.
Herr Abgeordneter Marschall, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rollmann?
Nein, ich möchte weiter sprechen.Besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß die Säuglingssterblichkeit bei ledigen Müttern doppelt so hoch wie bei verheirateten liegt. Dies bedeutet unter anderem auch, daß nicht gewünschte Kinder schlechtere Lebenschancen haben als erwünschte. Das gilt nicht nur für die betroffenen Mütter, sondern auch für ihre Umwelt. Ein warnendes Zeichen nicht nur für die Politiker, sondern für die gesamte Gesellschaft.Der alarmierend hohe Anteil von Kindern in der Kriminalstatistik darf von niemandem bagatellisiert werden. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß der seit 1959 bis 1969 zu verzeichnende stetige Anstieg der von Kindern begangenen Delikte seit 1970 zum Stehen gebracht werden konnte. Das ist sicher zu einem nicht geringen Maße ein Verdienst der aufklärenden und fördernden Maßnahmen dieser Bundesregierung.
Bedauerlich ist, daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sich des Begriffes „Kinderkriminalität" bedienen. Es ist kaum zu rechtfertigen, Sechs- bis Vierzehnjährige bereits durch eine solche Bezeichnung mit dem Stigma des Verbrecherischen zu belegen.
Dem Anschein nach ist die Diskussion um ein neues Jugendhilferecht in diesem Punkte spurlos an den Fragestellern vorübergegangen. Die Statistik macht deutlich, daß das Hauptdelikt dieser Altersgruppe der Diebstahl ist. Unsere Kinder werden in Funk, Fernsehen und in der Öffentlichkeit dem Trommelfeuer hemmungsloser Konsumwerbung ausgesetzt. Die dadurch bei den Kindern geweckte Begehrlichkeit übersteigt gerade bei sozial schwachen Familien bei weitem die wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Wen soll es da wundern, wenn Kinder zur „Selbsthilfe" schreiten? Dieses rücksichtslose Trommelfeuer auf unsere Kinder wird immer wieder mit dem Argument einer angeblich sozialen oder freien Marktwirtschaft abgedeckt. Die Auseinandersetzung um die Alkohol- und Tabakwerbung ist ein offenkundiges Beispiel,Dazu kommt, daß die Familiensituation in vielen Fällen keine umfassende Erziehung und Förderung unserer Kinder mehr erlaubt. Wo Vater und Mutter, eventuell noch in Wechselschichten, arbeiten, wo die Wohnung zu klein und das Einkommen gering ist, bleibt oft nicht genug Kraft für eine vielseitige und intensive Erziehung der Kinder. Deshalb — dies knüpft an Frau Stommels Bemerkung an — fördert die Bundesregierung eine stattliche Reihe von Maßnahmen zur Ehe- und Familienförderung mit entlastenden und kinderfördernden Angeboten und Verbesserungen im Wohnbereich.Wir sehen wie Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mit großer Besorgnis, daß viele Kinder von ihren Eltern und Angehörigen geistig, seelisch und körperlich gequält und mißhandelt werden. Wir alle wissen um die Problematik der Dunkelziffern, um die Begrenztheit der Aufklärungs- und Beweismöglichkeiten. Wir können jedoch in der Zunahme der Strafanzeigen keinen Beweis für die Ausweitung dieses Tatbestandes sehen. Vielmehr liegt darin bereits ein Erfolg der Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit, an der auch die Bundesregierung Anteil hat. Immer mehr Bürger zeigen so viel Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Kindern aus ihrer Nachbarschaft, daß sie den Anruf, den Brief oder auch die persönliche Anzeige bei der Polizei nicht scheuen. Daß die Zahl der strafrechtlich zu ahndenden Kindesmißhandlungen nicht gestiegen ist, geht wohl aus der Tatsache hervor, daß die Zahl der Verurteilungen in den letzten Jahren etwa auf gleicher Höhe geblieben ist.Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage auch Ursachen aufgezählt: Zerrüttete Familienverhältnisse, beengte Wohnverhältnisse, wirtschaftliche Schwierigkeiten, berufliche Überla-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12131
Marschallstung der Eltern, um nur einige zu nennen. Es wird deutlich, daß auch hier keine monokausalen, sondern komplexe und strukturelle Zusammenhänge bestehen, die nur durch ein Ineinandergreifen von verschiedenartigsten Maßnahmen z. B. der Rechtspolitik, der Einkommens- und Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Wirtschaftspolitik, Wohnungsbaupolitik, Gesundheitspolitik sowie Familien- und Jugendpolitik wirkungsvoll verändert werden können. Von meinen Vorrednern ist eine Fülle dieser für die Lebensverhältnisse der Kinder bedeutsamen Maßnahmen vorgetragen worden, die bis an die Grenze der gegenwärtigen finanziellen Möglichkeiten des Bundes reichen.Die Bundesregierung bereitet darüber hinaus eine Reihe von Maßnahmen vor, die ebenfalls dazu beitragen werden, die Zahl der Kindesmißhandlungen und Kindestötungen zu senken. Dazu gehören die Förderung von Projekten für familiengerechtes Wohnen, des Ausbaus der sozialen Dienste für sozial benachteiligte Familien und nicht zuletzt die Verstärkung der öffentlichen Aufklärung, unter anderem mit Hilfe der Aktion Jugendschutz.Auch die vorgesehene Neufassung des § 1666 BGB im Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge dient dem Schutz von Kindern bei objektiv erziehungsunfähigen Eltern. Die Opposition wäre in ihrer Sorge um die betroffenen Kinder sicherlich glaubwürdiger, wenn sie diese Regelung zugunsten der Kinder klar und deutlich unterstützte
und aufhörte, den Text des neugefaßten § 1666 als „Einstiegsschleuse für eine Aushöhlung des verfassungsgemäß garantierten Elternrechts" und als „Beginn eines staatlichen Hineinregierens und Hineinreglementierens in den Kernbereich der Familie" zu verdächtigen. Schließlich wird auch die Erleichterung der Aussagemöglichkeiten für Kinder nach der Reform des Strafverfahrensrechtes dazu beitragen, daß Fälle von Kindesmißhandlungen leichter aufzuklären sind.Mit Befriedigung nehmen wir zu Kenntnis, daß der mit viel Mühe gegen manche Widerstände ausgehandelte Bildungsgesamtplan zügig realisiert wird, so daß 1985 für alle Fünfjährigen ein Bildungsangebot entweder in Kindergärten oder in der Eingangsstufe der Grundschulen erwartet werden kann. 1970 hatte ein Drittel der Drei- bis Fünfjährigen einen Kindergartenplatz, nunmehr die Hälfte. Bereits im vergangenen Jahr wurde mit einer durchschnittlichen Gruppengröße von 17 die im Bildungsgesamtplan für 1980 vorgesehene Ausbauquote erreicht. Nun gilt es, besondere Aufmerksamkeit auf regionale und gruppenspezifische Defizite zu richten.Die Sprecher der Opposition haben heute viel Wünschenswertes vorgetragen. Die Wege zur Verwirklichung verlieren sich jedoch meist im Unbestimmten. Den verantwortungsvollen Sparsamkeitsappellen in der Öffentlichkeit stehen gleichzeitig gutklingende Forderungen zur Seite, in der heutigen Diskussion etwa die Forderung nach zwei besonders wichtigen Dingen, wie gesagt wurde: dem Familienlastenausgleich und einer familiengerechten Wohnraumversorgung. Von der Kostendeckung war natürlich nicht die Rede. Der CDU/CSU-Fraktion sei jedenfalls gedankt, daß sie durch die Große Anfrage der Regierung und den Koalitionsfraktionen Gelegenheit gibt, darzulegen, wie viele Anstrengungen in den letzten Jahren gemacht wurden, um die Situation der Kinder in unserem Land Schritt um Schritt und konsequent zu verbessern; dies nicht ohne Schwierigkeiten, da durch die Zuständigkeitsregelung, z. B. im Bereich des Bildungswesens und der Jugendhilfe, diesen Bemühungen deutliche Grenzen gesetzt sind.Es bleibt weiterhin viel zu tun. Die sozialdemokratische Fraktion wird sich auch in Zukunft entschieden für bessere Bedingungen zugunsten der Kinder im Lande einsetzen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rollmann hat in seiner Rede deutlich gemacht — und das geht auch aus dem Entschließungsantrag der CDU/CSU hervor , wie unverändert einseitig innerhalb der CDU/CSU die Aufgaben von Mann und Frau und ihre Rollen in dieser Welt gesehen werden.
Nun ist es inzwischen doch wohl keine Frage, daß es nicht d e n Mann gibt, und es hat sich auch herumgesprochen, daß es nicht d i e Frau gibt, aber offensichtlich gibt es in Ihrer Vorstellung nur eine Standardform von Familie. Da hat es eben so zu sein, wie Friedrich Schiller das sorgfältig beschrieben hat: „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben ... Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau." Genau dies war das Lebensbild, das uns heute Herr Rollmann und auch Frau Wex in dem ersten Teil ihrer Rede so deutlich und so plastisch vorgeführt haben.
— Ich habe sorgfältig zugehört. Der Vater ist bei der Betrachtung der Situation der Kinder und ihrer Notwendigkeiten bei Herrn Rollmann überhaupt nicht vorgekommen. Es war immer nur von den Pflichten der Mutter die Rede, vom Vater nicht.
Meine Damen und Herren, in dem Entschließungsantrag über die Kinder kommt nun wiederum die Mutter sozusagen nicht vor. Sie wird lediglich an vier Stellen erwähnt, der Vater nur einmal in Klammern. Einmal kommt die Mutter bei der „Müttersterblichkeit" vor, dann bei der „Mutterberatung", weiter bei der „Elternerziehung", und schließlich
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12132 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Frau Funckeheißt es, daß die Mutter dem Kind „voll als feste Bezugsperson zur Verfügung stehen" muß. Aus!
— In Klammern der Vater.
Ich sagte ja, einmal kommt er in Klammern vor.Meine Damen und Herren, in unserer Welt sollte es sich allmählich herumsprechen, daß es eine gesunde Familie nur geben kann, wenn alle Teile in dieser Familie Rechte und Pflichten haben.
und nicht, wenn der Mann und die Kinder Rechte und die Frauen allein die Pflichten haben. Es war mein Eindruck, nachdem ich die Reden aus den Reihen der CDU/CSU gehört hatte, daß Sie Rechte und Pflichten sehr ungleich verteilen.
— So hat es sich aber angehört. Ich glaube, diesen Eindruck hatten wir alle.
Nun, meine Damen und Herren, müssen wir uns doch wirklich einmal klarmachen, daß es eben nicht d i e Familie gibt und daß es vor allen Dingen einen erheblichen Strukturwandel im Leben der Familie gegeben hat; Herr Kollege Fiebig hat darauf schon hingewiesen. Das, was wir landläufig als Familie, noch von Schiller herkommend, tradiert haben, gibt es doch in weiten Bereichen nicht mehr, nämlich jene Großfamilie mit verwandtschaftlichem Anhang, mit Nähe des Berufes, mit dem Vater im Haus. Das alles hat sich doch gewandelt. Von daher kommt doch überhaupt erst diese seltsame Verteilung, daß der Mann „hinaus" muß und die Frau ins Haus gehört. Das ist doch keineswegs etwa natur- oder schöpfungsbedingt, sondern das entspricht der bürgerlichen Gesellschaft des vorigen und vorvorigen Jahrhunderts, die dieses Leitbild entwickelt hat.In allen früheren Jahrhunderten hat es die echte Partnerschaft von Mann und Frau in Familie, Beruf und Gesellschaft gegeben; denn in der Großfamilie früherer Zeiten mit bekannter Nachbarschaft war die Frau in das gesamte berufliche und gesellschaftliche Leben einbezogen. Da gab es kein Draußen und Drinnen; sie nahm selbstverständlich an der Berufstätigkeit des Mannes teil, und selbstverständlich war der Vater auch den ganzen Tag bei der Familie.Diese Aufteilung, der Bereich, der sich allmählich entwickelt, resultiert eben aus Strukturveränderungen, die wir uns einmal vor Augen halten müssen. Erstens haben sich Beruf und Haushalt räumlich voneinander getrennt. Doch besagt das ja nicht, daß daraus nun auch ganz zwangsläufig eine Trennung der Bereiche folgen muß, d. h. daß der Mann außerhalb der Familie, die Frau allein im Haushalt zu wirken haben.Zweitens ist heute ein großer Teil der Aufgaben der Frauen in den Bereich des Berufes und der Gesellschaft übergegangen. Damit ist der Bereich des Haushaltes in seiner früheren Wirkungsbreite immer enger geworden, weil eben vieles nicht mehr zu Hause produziert und entschieden wird, sondern in der Politik oder im Beruf.Drittens haben wir weithin nur noch die Kleinoder Kleinstfamilie mit allen Folgen der menschlichen Isolierung. Herr Rollmann, da hilft es uns nun einmal nicht weiter, wenn Sie sagen, die Frauen hätten eben ein falsches Gefühl, wenn sie sich isoliert fühlten. Sie fühlen sich nun einmal isoliert. Ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht, es ist so.
— Ja, eben. Aber diese Einstellung können Sie weder durch die Bundesregierung noch durch sonstige staatliche Maßnahmen ändern. Die fixierte Vorstellung, die Sie haben — was die Frau tun sollte, nämlich so fühlen und so denken , ist eben das, was ich Ihnen vorwerfe. Sie haben eine festgelegte Vorstellung, was christliche Menschen für richtig zu halten haben, und danach wollen Sie alle Gesetze und Maßnahmen ausrichten.Ich meine, von einer solchen Einheitsvorstellung müssen wir Abschied nehmen. Wenn Sie von Wahlmöglichkeiten sprechen, müßten Sie doch konsequenterweise auch die Wahlmöglichkeiten in der Wertung zugestehen und nicht sagen: Sie dürfen zwar und werden nicht erschossen, wenn sie es anders machen; aber es ist natürlich verkehrt, was sie da machen.Nein, die Möglichkeiten heute, Familie zu sein, sind so vielschichtig, wie unsere Welt vielschichtig ist. Die Menschen sind in ihren persönlichen und äußeren Verhältnissen, ihren Fähigkeiten, ihrer Zuordnung zueinander, ihren persönlichen Entscheidungen so vielschichtig, daß ich mich frage, wieso Frau Wex, die doch sonst für die selbständigen Entscheidungen der Familien ist, sagt, wir brauchten eine bestimmte Konzeption. Nein, wir wollen keine fixierte Konzeption, was Familie zu sein hat.
Ich verstehe vielmehr die Maßnahmen der Bundesregierung und der Koalition richtigerweise so, daß wir die gegebenen Verhältnisse erleichtern und darüber hinaus Möglichkeiten schaffen müssen, damit die Familien ihre Aufgaben selbst so aufteilen und wahrnehmen können, wie sie es in ihrem individuellen Bereich entsprechend ihrer Verantwortung für richtig halten.
Da ist ja nun eine Menge geschehen. Wir haben doch eine Reihe von Maßnahmen zugunsten der im Hause bleibenden Frau verwirklicht. Wir haben doch das Kindergeld nachdrücklich angehoben. Wir haben doch mit Hilfe des von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Gutachtens zu der Frage, was denn
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Frau Funckeeigentlich die Arbeit einer Hausfrau wert ist, dazu beigetragen, daß die Hausfrauenarbeit höher bewertet wird. Wir haben uns doch zumindest bemüht, das Babyjahr einzuführen, was leider an Ihnen gescheitert ist.
— Wir wollen doch nun nicht jedesmal wieder darüber streiten. Daß Sie das Babyjahr abgelehnt haben, ist doch historisch eindeutig nachweisbar.
— Aber entschuldigen Sie, Sie haben doch das Geld für die flexible Altersgrenze ausgegeben. Sie haben doch seinerzeit bei Ihrer Entscheidung kein Geld eingespart. Die Mittel, die für die Frauen vorgesehen waren, haben Sie doch an anderer Stelle ausgegeben. Das Geld ist nicht zweimal da.
Es ist nun einmal eine Tatsache, daß man Geld nur einmal ausgeben kann. Oder wollen Sie etwa die Vergünstigungen für die 63jährigen Rentner wieder zurücknehmen?Wir haben eine Regelung eingeführt, daß die Pflege eines Angehörigen daheim auch Versicherungsansprüche verbessern kann — dies ist zwar nur ein kleiner Schritt, aber immerhin doch ein Schritt nach vorn —; wir haben erreicht, daß die Fortbildung auch für die Frau erleichtert wird — und vieles andere.Es muß nun allerdings auch die Erkenntnis hinzukommen, daß die Frau im Hause eine berufsgleiche Leistung erbringt und daß sie deshalb auch eine Alterssicherung haben muß. Meine Damen und Herren, heute morgen gab es in diesem Hause einige Zwischenrufe, als Frau Wex ganz selbstverständlich erklärte, die CDU/CSU habe mit ihrem Vorschlag der Partnerschaftsrente nun endlich die Tür aufgestoßen. Wir sind wirklich nicht sehr eitel, aber so geht es sicher nicht. Wenn man vom Nachbarn abschreibt, soll man dies, wenn man ertappt wird, auch zugeben.
— Sie haben das Ganze bei der FDP abgeschrieben. Daran kann doch überhaupt kein Zweifel bestehen, auch wenn Herr Geißler aus Rheinland-Pfalz offenbar so tut, als habe man in der Provinz noch nichts davon gelesen, dies sei seine neue Idee. All das wurde haargenau abgeschrieben. Das Rentensplitting wurde lediglich mit einem neuen Etikett versehen, und unter diesem neuen Etikett wird es nun draußen gehandelt. Wir sind im übrigen ganz froh, wenn Sie dieses Ziel jetzt auch ansteuern. Vielleicht kommen wir dann miteinander klar. Sie sollten aber nicht so tun, als handle es sich hier um Ihre Erfindung.
Frau Abgeordnete Funcke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller ?
Bitte schön!
Frau Kollegin, können Sie dem Hohen Hause nicht mitteilen, wer eigentlich von wem, wann und wo abgeschrieben hat?
Herr Müller, es gibt mehr in der Welt, als Sie wissen. Deswegen nehme ich Ihnen Ihre Frage nicht übel. Wir sprechen seit acht Jahren vom Rentensplitting. Spätestens seit fünf Jahren haben wir konkrete Vorlagen dazu vorgelegt. Bei Gelegenheit können Sie einmal bei Ihren Kollegen die Einzelheiten darüber erfragen, wie ich auf Bitten der Jungen Union vor vielen Jahren unsere Konzeption vorgetragen habe. Damals wurden von Ihnen drei ausgewachsene Sozialpolitiker dazugesetzt, um zu verhindern, daß ich etwa die Junge Union mit unseren Gedanken infiziere. Nun ist diese Infektion aber doch geglückt, wenn auch sozusagen nur mit Zeitzündung. Sie haben diese Zielsetzung jetzt übernommen. Wir sind dafür dankbar und hoffen, daß wir in dieser Angelegenheit jetzt weiterkommen.
Allerdings sollten Sie den Etikettenschwindel lassen. Er bringt uns nicht weiter.Nun haben wir eine Reihe von Möglichkeiten angeboten, die es der berufstätigen Hausfrau — dies gilt natürlich in gleicher Weise auch für den Mann — ermöglichen sollen, die beiden Aufgabenbereiche Beruf und Familie miteinander zu verbinden: die Teilzeitbeschäftigung, die Möglichkeit, im Falle der Krankheit eines Kindes eine Woche zu Hause zu bleiben, der Unfallschutz auch auf dem Weg zum Kindergarten, die flexiblen Anfangszeiten, die Kindergartengesetze in verschiedenen Ländern, das Institut der sogenannten Tagesmütter. Nicht zuletzt ist hier auch die dahin gehende Änderung im Eherecht zu nennen, daß die Frau nicht einseitig zur Hausarbeit verpflichtet sein soll. Dies alles sind Schritte auf dem Wege zu einer echten partnerschaftlichen Ehe und einer Partnerschaft auch außerhalb der Familie — in Beruf, Politik und Gesellschaft.Meine Damen und Herren, Sie meinen offensichtlich — es klang jedenfalls so, vielleicht tue ich Ihnen unrecht —, als sei die Wertung von Ehe und Familie zum einen von der Größe der Familie und zum anderen von deren formalem Bestand abhängig. Wie sollen wir denn sonst die zweieinhalb Seiten Ihrer Entschließung verstehen, in denen von Bevölkerungspolitik die Rede ist? Sie stellen doch in er-
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12134 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Frau Funckeheblichem Maße die quantitativen Wertungen in den Vordergrund. Wir sind demgegenüber der Meinung, daß eine kleine Familie, in der es möglich ist, sich hinreichend um die Kinder zu kümmern, in einem besseren Sinne „Familie" ist als eine solche, in der die Zahl der Kinder im umgekehrten Verhältnis zur Betreuungsmöglichkeit steht. Ich verstehe, ehrlich gesagt, diese Ihre bevölkerungspolitischen Exkursionen nicht, und ich verstehe, auch nicht, warum — dieser Satz wurde hier zitiert — eigentlich „eine Gefährdung der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Kultur" gegeben ist, wenn die Bevölkerungszahl sinkt.
So wörtlich in Ihrer Entschließung. Hat Kultur zwingend etwas mit der Zahl zu tun? Oder denken Sie, es müßte überall so sein wie bei Bach, der als 16. Kind eine besondere Leistung hervorgebracht hat? Nicht jeder berühmte Mann war ein 16. Kind. Von solchen bevölkerungspolitischen Vorstellungen sollten wir doch wohl abesehen.Auch die Wertung von Ehe und Familie hat nichts mit dem formalen Aufrechterhalten einer nicht mehr intakten Ehe zu tun. Hier greife ich eine Andeutung auf, die Frau Wex heute morgen machte. Eine Ehe, die über drei Jahre nicht mehr besteht, ist keine Ehe mehr, die tatsächlich den Namen Ehe und Familie verdient, auch wenn sie noch auf dem Papier steht.
Sie kann im Gegenteil sehr erheblich sowohl die alte Familie wie auch eine möglicherweise daneben bestehende neue Familienbindung belasten. Sie trifft nicht nur die neue — das brauche ich wohl nicht zu erläutern —, sondern auch die alte Familie. Denn wer ist so lebensfremd, nicht zu wissen, daß der aus der Ehe hinausdrängende Partner, der dies wegen § 48 nicht kann, versucht sein kann, über seine noch bestehenden Einflüsse auf die Kinder die Zustimmung zur Ehescheidung zu erzwingen? Dann sind die Kinder diejenigen, auf deren Rücken die Streitigkeiten der Eltern praktisch ausgetragen werden. Das kann für die Kinder doch nicht gut sein und kann ebensowenig ehefördernd sein. Ich meine, eine Ehe, die nicht mehr besteht, die auf viele Jahre getrennt ist, muß auch aufgehoben werden können; denn sie dient nicht mehr der Idee der Ehe und entspricht nicht ihren Grundsätzen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zuletzt noch ein Wort zu der Verbindung von Familie und Gesellschaft sagen. Immer wieder klingt bei der Opposition so etwas wie ein Widerspruch auf. Ich habe das zu früheren Zeiten auch schon einmal gesagt. Frau Wex, auch bei Ihnen klang das an. Nach meiner Erinnerung haben Sie sinngemäß gesagt,
die Bundesregierung oder die Koalition oder welche bösen Mächte auch immer verhinderten, daß die Kinder die Erfahrung der Autorität machten, und seien dann den Gefahren der Kollektivierung und Manipulation ausgesetzt. Es klang auch Ihre Mei-nung an, die Erziehung müsse nicht auf kritische Auseinandersetzung gerichtet sein, sondern müsse Erziehung in einem Guß sein, um Konfliktmöglichkeiten auszuschließen.Meine Damen und Herren, die Struktur der Kleinfamilie hat es mit sich gebracht, daß diese kleine Gemeinschaft von Menschen in viel größerem Maße auf die Umwelt angewiesen ist, nicht nur bezüglich der gegenseitigen Hilfeleistung, sondern entscheidend in der Kommunikation und Sozialisation. Wir können die Familie nicht mehr abschließen und in einen geschlossenen Raum einbinden, in dem es nur die durch die Familie bestimmte Wertung gibt. Die heutige Kleinfamilie ist nach allen Seiten offen. Von hier aus ergibt sich die Notwendigkeit einer anderen Erziehung als zu früheren Zeiten. Damals gab man an Kinder und Lehrlinge weiter, was man wußte. Das mußte dann akzeptiert werden; das war Tradition und erlebte Erfahrung.Heute dagegen leben wir in einer Welt, in der keiner weiß, was die Kinder in zehn Jahren erwartet. Keiner kann sagen, in welche Bedingungen oder Bedingtheiten wir die Kinder hineinerziehen. Um so notwendiger ist, daß wir sie auch mit der Atmosphäre außerhalb des Hauses vertraut machen und sie dort Erfahrungen sammeln lassen. Wir müssen sie dann auch kritisch werden lassen. Sie sollten nicht alles akzeptieren, auch nicht einfach die Autorität der Eltern. Sie müssen bei allem Respekt gleichzeitig urteilen lernen. Das ist nämlich, meine Damen und Herren, der beste Schutz, den wir den Kindern in ein ungesichertes Leben überhaupt mitgeben können: die Fähigkeit, die verschiedenen Erscheinungen dieser Welt zu beurteilen und sich nicht zum Gefangenen von Meinungen anderer Leute zu machen;
denn wir können sie nicht mehr in geschützten Räumen vor der Außenwelt schützen.Aber — das ist das Letzte — dieses bedingt dann auch, daß wir uns auf der anderen Seite mühen, die „böse Welt" draußen, außerhalb unserer vier Wände, ein wenig familiengerechter, ein wenig familienfreundlicher, ein wenig mehr entsprechend der Wohnzimmeratmosphäre zu machen. Dazu gehört nun allerdings, meine Damen und Herren, daß die Frau hinausgeht, daß sie eben auch draußen ihren Einfluß geltend macht, daß sie nicht an das Haus gebunden wird, sondern daß sie von früh an, auch wenn sie Mutter kleinerer Kinder ist, bei den Entscheidungen dieser Welt mitspricht, die ja auch Entscheidungen über ihre Kinder sind, wenn wir von Schule, Kindergärten, Spielplätzen usw. sprechen. Diese Welt draußen — die anwesenden Herren mögen dies entschuldigen — ist weitgehend von den Auffassungen und nach den Maßstäben der Männer geprägt, und das liegt entscheidend daran, daß die Frauen in immer kleinere Räume zurückgedrängt wurden oder sich haben zurückdrängen lassen. Das öffentliche und gesellschaftliche Leben ist ganz eindeutig durch die Maßstäbe bestimmt, die die Männer gesetzt haben. Sie wissen, daß gerade wir Politikerinnen immer wieder manches verdolmetschen
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Frau Funckemüssen, wenn wir in die Vorstellungswelt der Frauen hereinsprechen.Wenn wir auch außerhalb des Hauses eine familiengerechte Welt haben wollen, so ist dies, glaube ich, nur in einer echten Partnerschaft in allen Bereichen dieses Lebens zu erreichen. Dazu ist es notwendig, daß die Frau Verantwortung auch für Dinge außerhalb des Hauses übernimmt und die Familien es so einrichten, daß sie es ohne Schädigung und ohne Benachteiligung der Familie tun kann. Das heißt, daß der Mann seine Partnerschaft in der Familie ernster nehmen muß als bisher.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schleicher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anlaß der heutigen Debatte ist die Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Situation der Kinder in Deutschland. Die damit verbundene Debatte zum Familienbericht der Bundesregierung gibt uns eigentlich eine unerwartet gute Möglichkeit, Vergleiche zu der Antwort zu ziehen, die hier gegeben worden ist.Ich möchte mich zunächst auf einige Punkte der Großen Anfrage konzentrieren, nämlich auf die Fragen 5, 6, 12 und 16. Ich sehe mich dabei gezwungen, die Antworten in Relation zu dem gesamten Familienbericht zu setzen. Zunächst aber einiges zu der Großen Anfrage.Die Selbsttötung im kindlichen Alter ist laut Antwort der Bundesregierung eine Ausnahme geblieben. Es wäre aber doch angebracht, Veränderungen in der zahlenmäßigen Erfassung zu beobachten und eventuell Rückfragen zu stellen.Angesprochen auf die Entwicklung der Frühkriminalität bei Kindern, kann die Antwort des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit in keiner Weise zufriedenstellend sein. Es klingt nämlich mehr als dürftig, bei der Nachfrage hinsichtlich der Entwicklung in anderen Ländern lediglich festgestellt zu haben, daß auch dort ein Ansteigen zu beobachten ist. Entweder will man hier die Augen verschließen, oder man erkennt nicht, daß das Anwachsen der Jugendkriminalität in den letzten Jahren auf lange Sicht eine lebensgefährliche Krise von Gesellschaft und Staat in sich birgt. Der Hinweis, daß die Erkenntnis des Unrechtsgehalts einer strafbaren Handlung bei Kindern noch wenig ausgeprägt sei und die Tatmotive bei Kindern anders gelagert seien als bei Jugendlichen, ist keine Entschuldigung. Man muß doch wissen, daß vielen erwachsenen Straffälligen bereits im Kindesalter Verfehlungen nachzuweisen sind. Also wird es sich später widerum um den nahezu gleichen Personenkreis handeln, wenn auch, wie in der Antwort zum Ausdruck kommt, die Kinderdelinquenz anderen Regeln als denen von Strafmündigen folgt. Es wird in der Antwort auch eindeutig zugegeben, daß diesem Bereich in der Vergangenheit zu wenig Beachtung geschenkt worden sei und daß deshalb die Erkenntnisse noch lückenhaft seien.Es ist der Zweck unserer Anfrage, auf diese Dinge aufmerksam zu machen, da dies von zuständiger Stelle bisher nicht geschehen ist.Auffällig ist der hohe Anteil der Kinder bei einfachen Eigentumsdelikten, wobei Mädchen besonders hervorstechen. Noch beachtenswerter ist die Zunahme von schwerem Diebstahl oder gar Sachbeschädigung, was sich bei jugendlichen Tätern in einem Anwachsen von Gewalt und in dem Hang zu krimineller Gruppen- und Bandenbildung zeigt. Vorbeugung ist hier eines der wichtigsten Mittel — um unserer Gesellschaft willen, aber ganz sicher auch um dieser Kinder willen.Da in der Vergangenheit hier zu wenig geschehen ist, ist es um so erstaunlicher, wenn man die Aufmerksamkeit zunächst nicht nur auf die betroffenen Familien dieser Kinder richtet, sondern gleichzeitig auf „anscheinend" problemlose Familien. Soll dieses der Einstieg sein, alle Familien zu kontrollieren, oder — wie es so schön im Familienbericht heißt — die Familie aus ihrer Isolation zu lösen, da man sich mit der Tatsache der Nichtkontrollierbarkeit der Erziehung in den Familien nicht abfinden kann? Es versöhnt dann wieder, auf der anderen Seite festzustellen, daß die Bildungsarbeit auf dem Sektor von Ehe und Familie darauf abzielt,... die Selbstverantwortung der Familie zu stärken und sie bei der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgabe zu unterstützen sowie Schwierigkeiten auf dem Wege zur partnerschaftlichen Familie auszuräumen.Es taucht jedoch in dieser Argumentation immer wieder ein Widerspruch auf, der sich z. B. aus einer Veröffentlichung der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit in Band 7 ergibt. Es heißt dort:Man sollte unsere heutigen Ehen und Familien von ihrer übermäßigen Selbstbezogenheit, von ihrem sich dem öffentlichen Raum weitgehend verschließenden Privatismus sich befreien helfen.Hierzu sei... freilich eine Weiterentwicklung des in unserer bundesdeutschen Gesellschaft gültigen Menschen- und Gesellschaftsbildes erforderlich, die das Bedürfnis nach personaler Freiheit außer auf die Familie auch auf die übergreifenden Gemeinwesen richtet ... bzw. sie aus ihrer Beschränkung auf den innerfamiliaren Bereich .. .lösen müsse. Wie dies zu geschehen hat, wird in diesem Bericht gleich deutlich angesprochen:Wegen Vernachlässigung der kognitiven, sozialen und politischen Entwicklung des Kindes in der Familie müssen schon frühzeitig ergänzende Institutionen eingreifen ... Allerdings— das sollte man sich auch wirklich anhören —darf der Besuch von vorschulischen und schulischen Förderungsmaßnahmen nicht primär der Entscheidung der Eltern überlassen werden, da sonst nur die bildungswilligen Mittel- und
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12136 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Frau SchleicherOberschichten aktiviert werden. Nur durch eine stärkere Gewichtung der schulischen Erziehung kann weiterhin zumindest in den Ansätzen eine Korrektur des elterlichen Erziehungsverhaltens erreicht werden. Zudem stehen dem Kind in der Schule mehrere Bezugspersonen zur Verfügung, die es von seiner Abhängigkeit gegenüber den Eltern in gewissem Maße entlasten können.Wenn ich auf diese Schriftenreihe verweise, so deshalb, weil sie im Familienbericht als Quellenangabe zu finden ist.Auf die Frage nach Maßnahmen zur Bekämpfung der kindlichen Vergehen wird dann ausführlich auf die Elternbildung hingewiesen, vor allem auch im Zusammenhang mit den Beratungsstellen, wozu das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit ein Modellprogramm fördert. Ich halte diese Argumentation für wirklich an den Haaren herbeigezogen. Die Regierung bringt sie lediglich vor, um Aktivitäten nachweisen zu können. Denn der Schwerpunkt gerade dieses Modellprogramms sind doch die Familienplanung und Familienberatung im Zusammenhang mit den Maßnahmen zu § 218 des Strafgesetzbuches — dafür sind ja auch die Mittel gegeben worden —, wobei das Problem der Erziehungsberatung „schwieriger Kinder" nicht im Vordergrund dieses Modellprogramms steht. Vielmehr steht hier im Vordergrund die Hilfestellung im Falle der Schwangerschaft.Es wird dann auch darauf verwiesen, daß im Rahmen eines psychosozialen Langzeitprogramms derzeit Hilfen entwickelt werden, die der Früherkennung und Früherfassung gefährdet erscheinender Kinder und Jugendlicher dienen. Ich möchte hier ganz konkret an das Bundesministerium die Frage stellen: Wer führt dieses Programm durch und in welchem Auftrag, und wann ist hier mit ersten Ergebnissen zu rechnen? Es ist sicherlich wünschenswert, hier baldigst auch von den gemachten Erfahrungen zu hören.Es ist sicherlich bedauerlich, daß bezüglich kindlicher Ausreißer überhaupt keine Zahlen aufzutreiben sind und in dieser Antwort auf die große Anfrage nur auf Erfahrungsberichte verwiesen wird. Wenn Sie auch glauben, die Ursachen erkannt zu haben, so scheint es mir doch mehr als zweifelhaft zu sein, daß Sie den richtigen Personenkreis erfassen, zumal Sie auf Grund der Angaben bzw. der mangelhaften Angaben überhaupt nicht wissen können, um welche Familien es sich hier nun tatsächlich handelt. Ist es politisch nicht sogar etwas gefährlich, ohne Nachweis und damit ohne Einstieg in die Materie zu behaupten, was tatsächlich Ursache und Wirkung ausmacht?Zum Stichwort „Kindesmißhandlungen" erscheint die tatsächliche Zahl der Fälle ungeheuer niedrig gegenüber sonstigen Schreckensmeldungen. Sicher ist es notwendig, weitere Forschungen einzuleiten. Ich möchte jedoch in diesem Zusammenhang davor warnen, immer nur den Unterschied zwischen dem geliebten und dem ungeliebten bzw. unerwünschten Kind zu machen. Die Ursachen für solche Mißhandlungen sind doch in den wenigsten Fällen beim Kind zu suchen, sondern immer nur bei demjenigen,der mißhandelt und mit sich selbst eben nicht fertig wird. Daß dann ein Kind leichter zum Objekt wird als ein Erwachsener, ist naheliegend, da sich ein Kind am wenigsten wehren kann.Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie man Mangelzustände und Alarmzeichen erkennen kann, ohne die Familien unbedingt kontrollieren zu müssen. Ich halte es deshalb in diesem Zusammenhang für wesentlich und wichtig, den Schutz des Kindes stärker auszubauen. Haben wir nicht sogar in erster Linie eine Verpflichtung, hier tätig zu werden, als in mißverstandener Weise die Rechte des Kindes gegen seinen Erziehungsberechtigten neu durchzudenken?Es ist wirklich hochinteressant, den Familienbericht zu lesen. Ich war nur gespannt auf die Ausführungen der zuständigen Frau Ministerin; denn es ist doch mehr als erstaunlich — ich möchte sogar behaupten: wahrscheinlich einmalig —, daß ein zuständiger Minister zu einem Bericht, der in seinem Hause in Auftrag gegeben worden ist, überhaupt nicht Stellung nimmt, wenn dieser Bericht veröffentlicht wird. Immerhin sind in diesem Bericht eine Reihe von kritischen Punkten aufgeführt, die aufhorchen lassen. Es wäre aber unglücklich, hierzu Stellung zu nehmen, ohne den bzw. die Betroffenen vorher gehört zu haben. Mir ist in den bisherigen Ausführungen auch noch nichts zu Ohren gekommen, was direkt zu diesem Bericht sowie zu den Fragen und Kritiken, die dort enthalten sind, Stellung nimmt.Eines ist jedenfalls deutlich geworden, wenn man den Bericht aufmerksam liest: daß viele Ungereimtheiten zutage treten. Ich kann diese Widersprüche, die sich offen ergeben, nur aufzeigen und zur Diskussion stellen, ohne mir bereits ein abschließendes Bild machen zu können. Scheinbar hatten die Kommissionsmitglieder nur einen vagen Auftrag, ohne über die Absichten und Vorstellungen des auf-traggebenden Hauses informiert zu werden. Wie könnte es sonst dazu kommen, daß sich — ich zitiere jetzt aus dem Bericht — die Kommissionsmitglieder verunsichert fühlten und erst einmal abwarten wollten; das heißt: sie werden den Umgang der Bundesregierung mit dem vorliegenden Bericht als Probe aufs Exempel begreifen.Es hört sich ganz gut an, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme schreibt — ich zitiere hier die Erklärung der Bundesregierung —:In Artikel 6 Abs. 1 des Grundgesetzes, der Ehe und Familie als Gemeinschaften, deren Bedeutung mit keiner anderen menschlichen Verbindung verglichen werden kann, unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, sieht die Bundesregierung in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht lediglich ein Bekenntnis und eine Institutsgarantie, sondern eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.Ich möchte Frau Kollegin Funcke fragen, ob sie zu diesem Grundsatz, der im Bericht der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, auch steht oder nicht.
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Frau SchleicherMan stutzt wirklich, wenn man die Ausführungen der Kommission liest und feststellt, daß sie eine besondere Art von Außeneinflüssen auf die Familie sieht, nämlich die Gesamtheit der gesellschaftlichen Eingriffe in die Familie, wobei dieses aber wieder den Wünschen des Ministeriums entspreche — so laut Bericht , besonders unter dem Gesichtspunkt der Erfolgskontrolle.Ich muß auf diesen Punkt noch weiter eingehen, denn ich halte diese Widersprüche für sehr wesentlich. Der Familienbericht sagt, an der Institution Familie würde jedoch Kritik geübt, d. h., Formen eines Zusammenlebens außerhalb der Familie würden diskriminiert. Dieses Problem stelle sich allerdings — so ein Teil des Berichts — nur einer akademisch bestimmten Minderheitengruppe. An anderer Stelle geht der Familienbericht allerdings darauf ein und sagt, man bemühe sich um einen offenen Familienbegriff, d. h., es dürfe keine Benachteiligungen gegenüber „Normalfamilien" geben. Deshalb wurde die Forderung von neuen Formen des Zusammenlebens aufgestellt. — Dann aber wieder im Gegensatz dazu: „Was solche Zusammenschlüsse leisten können, ist allerdings noch nicht genau bestimmbar."! Und im Text wörtlich: „Auf der einen Seite scheinen Hoffnungen derer enttäuscht, welche mit der Gründung von Wohngemeinschaften glaubten, politisch wirksame Aktionszentren schaffen zu können. Je mehr sie im Inneren der neuen Wohngruppe Funktionen kollektivierten und die privaten Zonen der Mitglieder dabei auflösten, um so stärker entstand ein innerer Problemdruck, der den Elan der Beteiligten absorbierte und von Außenbeziehungen abzog."Oder aber an anderer Stelle: „Vom Wohl der Kinder her muß dabei besonders auf die Nichtdiskriminierung nicht-legalisierter Lebensgemeinschaften und alleinstehender Elternteile mit Kleinkindern geachtet werden, da dort die Haushaltsaufbauprobleme gewöhnlich noch schwieriger sind als in normalen Familien." !Dagegen steht dann wieder der Ausspruch: „Will man Familien abschaffen, läuft es auf künstliche Reproduktion familienähnlicher Kleingruppen hinaus — mit kaum überwindbaren Schwierigkeiten, wenn man diese Kleingruppen auf Massenbasis stellen will. Eine außerordentliche Zahl von Erziehungspersonen beiderlei Geschlechts müßte über den Arbeitsmarkt rekrutiert werden, wobei neue Probleme des Familienersatzes entstehen, die bis zur Überlegung gehen, wie man bei normalen Kündigungsrechten eine bisher gewährleistete Freizügigkeit der Erzieher ihrerseits aufheben könnte."In einem anderen Licht sehe ich noch weitere Widersprüche, die ich andeuten möchte: es wird darauf aufmerksam gemacht, daß es dem Ministerium an Effizienz-Kontrolle fehle, an Koordination, an einem Gesamtkonzept auch im Zusammenhang mit dem Sozialbudget. Als Beispiel wurde der angeblich absurde Effekt der Steuerreform zahlenmäßig aufgeführt, daß nämlich Familien mit höherem Einkommen sich schlechter stünden als Familien mit niedrigerem Einkommen und gleicher Kinderzahl!Wenn dies zwar zunächst auf Grund des Berichts als absurd erscheint, muß ich dagegensetzen, was an anderer Stelle behauptet wird: „Weitere gesellschaftspolitische Maßnahmen sollten darauf abzielen, gravierende Einkommensunterschiede zu verringern." Dies sei sowohl Aufgabe des Staates als auch der Tarifpartner. Ich kann diesen Sachverhalt nur so verstehen, daß dieser Widerspruch nur Unwissenden auffällt, da in Wirklichkeit volle Absicht dahinter steckt, nämlich: Einkommen ohne Bezug auf Leistung zu nivellieren! — Ist sonst eine Kritik gegen das Ministerium und damit gegen die Bundesregierung anders zu verstehen als die durchsichtige Tatsache, daß die Bundesregierung Familienpolitik den federführenden Ministerien zugesteht, ohne auch die entsprechende Sachkompetenz damit zu verbinden? Es geht hier letzten Endes überhaupt gar nicht um die Familienpolitik, sondern um die Veränderung der Gesellschaft, die sich über den Gesetzesweg leichter anläßt, wenn sie über Ressorts eingeleitet wird mit anderen politischen Schwerpunkten, wie z. B.: Reformierung des Rechts.Ich glaube, die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag hat ein Anrecht darauf, zu erfahren, wohin die Bundesregierung bei der Familienpolitik tatsächlich steuert. Fragen sind genügend aufgeworfen worden. Das Mißtrauen unsererseits ist nicht unbegründet. Es zeigt sich schon auf Grund der Tatsache, daß die Familienpolitik, wie sie von CDU und CSU verantwortlich geführt wurde, in dem Familienbericht in folgender Weise abgetan wird: „Eine durch ihren Bezug auf Sozialisationsprozesse funktional begründete Familienpolitik wendet sich gegen ideologische Zielsetzungen, welche die überzeitliche Geltung eines bestimmten historischen Familientypus unkritisch hinnehmen und fixieren. Tendenzen zu solcher Zielbestimmung lassen sich für die Gründerjahre staatlicher Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland" -- die übrigens in diesem Zusammenhang natürlich abgekürzt als BRD bezeichnet wird — „angeführt feststellen". Dazu die Fußnote mit dem Hinweis auf eine repressive Familienpolitik, die damals geführt worden sei!Ich möchte deshalb abschließend betonen: Es gibt eine Reihe von Problemen in Familien, die gesehen werden und angegangen werden müssen. Es ist nur mehr als unklug, so zu tun, als ob alle Familien überhaupt nur Konflikte hätten, d. h. die Eltern nicht erziehungsfähig seien und deshalb neue Einrichtungen deren Aufgabe übernehmen müßten. Es wird ein ernstes Randproblem hochstilisiert, um Begründungen zu finden, die Gesellschaft verändern zu können. Sie haben uns als Verbündete, wenn es darum geht, unglückliche Zustände aufzugreifen und ihnen entgegenzuwirken. Sie werden uns aber nicht dafür gewinnen können, die Familie in Frage zu stellen, sie zu zerstören, indem man beabsichtigte neue Formen des Zusammenlebens legalisiert. Wir tun alles dafür, die Familie zu stärken, um sie in den Stand zu versetzen, ihren Aufgaben gerecht werden zu können, auch wenn nur ein Elternteil vorhanden ist.Aber die eigenartigen Vorgänge um die Veröffentlichung des Familienberichts, die ich vorhin
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Frau Schleicherschon angedeutet habe, lassen tief blicken. Zu verstehen sind sie nur unter dem Gesichtspunkt, daß bei Ihnen die Rechte nicht weiß, wohin die Linke gehen will. Deshalb möchte ich nochmals die Frage aufwerfen, ob der Satz in der Stellungnahme der Bundesregierung auch so zu verstehen ist, der lautet:Das Grundgesetz ist offen für unterschiedliche familienpolitische Denkansätze und Zielvorstellungen; es ist offen für den Fortschritt.Bitte sagen Sie uns, was Sie, die Bundesregierung und das zuständige Familienministerium nun wirklich darunter verstehen.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Huber.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur einige Bemerkungen zu verschiedenen ökonomischen Aspekten machen, die heute in diese familienpolitische Debatte eingeflossen sind. Wir halten zunächst an dem Grundsatz fest, daß die Entscheidung über die Familiengröße eine private Entscheidung ist und bleibt. Ich glaube aber, es trifft nicht zu, daß diese private Entscheidung für oder gegen ein oder mehrere Kinder ausschließlich ökonomisch begründet ist. Hier muß man sich vor einem falschen bevölkerungspolitischen Zungenschlag hüten.
Der Staat kann Kinderliebe nicht in Gesetzen verordnen. Er kann keine Richtlinien für Mutterliebe oder für kinderfreundliches Verhalten erlassen.
Dies ist Aufgabe der Gesellschaft. Das hier zu erwähnen, ist sicherlich nützlich.Man muß sich aber auch der Grenzen staatlicher Möglichkeiten bewußt sein. Wir sind uns natürlich alle darüber im klaren, daß hier die ökonomischen Aspekte neben der Schutzgesetzgebung und neben Bildungsfragen eine große Rolle gespielt haben. Insofern möchte ich gleich sagen: Der Staat leistet heute in verschiedenen Formen einen Teilausgleich für die Kinderkosten. Er leistet keinen Vollausgleich, und zwar — das muß man auch festhalten nicht nur, weil es finanziell nicht darstellbar wäre, sondern weil auch die Eigenverantwortlichkeit der Familie dann verschwinden würde. Dies wünschen weder der Gesetzgeber noch die Familie noch die Bevölkerung.Ich finde es geradezu abenteuerlich, wenn die Frau Wex in ihrer Rede sagt, daß die Eheleute heute aus ökonomischen Gründen einen massiven Druck hinsichtlich ihrer freien Entscheidung für oder gegen das Kind empfänden. Die Umfragen in der Bevölkerung von neutralen, uns nicht nahestehenden Instituten haben ausgewiesen, daß drei Viertel der Bevölkerung erklärt haben, es gehe ihnen gut. Ausgerechnet in dieser Zeit, in der der Teilausgleich desStaates bedeutend höher ist als je zuvor, soll also ein massiver Druck vorhanden sein. Das finde ich doch ein bißchen abenteuerlich.
Nun ist in der Debatte über die Tabelle geredet worden, die auf den Seiten 168/169 steht und in der der Pro-Kopf-Anteil des Familieneinkommens aufgeschlüsselt wird. Wenn man es so betrachtet, wird hierbei zunächst unterstellt, daß Babies und Kleinkinder genau denselben Bedarf wie Erwachsene haben und daß sich die Familienkosten im einzelnen ganz anders ausnehmen. Aber dies würde ich noch vernachlässigen. Der Hauptgesichtspunkt ist, daß man überhaupt nur von einem Einkommen schreibt und nicht von den vielen Ausgleichsleistungen, die gerade auch der kinderreichen Familie zufließen. Diese Tabelle gibt überhaupt keinen Aufschluß über Entwicklungen; sie zeigt keine Vergleiche. Ich aber möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen.Bei der Fortschreibung der Einkommensstatistik von dem Jahr 1968 auf heute ergibt sich, daß z. B. die 540 000 Arbeitnehmerhaushalte mit vier oder mehr Kindern, die nicht zur Einkommensteuer veranlagt werden — also Lohnsteuerfälle —, fast zur Hälfte, nämlich in über 200 000 Fällen, in der Lohngruppe zwischen 25 000 und 36 000 DM Einkommen jährlich sind. Das ist stets mehr als der Durchschnittslohn des Arbeitnehmers. Und da müssen Sie natürlich auch einmal fragen, wo diese Leute angesiedelt sind. Wir haben also 62 % der Mehrkinderfamilien in den Einkommensstufen zwischen 20 000 und 36 000 DM jährlich; darunter liegen nur 17 %. Frühere Tabellen, meine Damen und Herren, haben sehr viel schlechter ausgesehen. Und Sie dürfen ja nicht nur immer sagen, das sei alles ganz schlecht, sondern müssen erst einmal sehen, wieviel besser alles geworden ist.
— Ja, das habe ich gelesen, aber ich sage Ihnen, daß der Familienlastenausgleich nicht die Aufgabe hat, Einkommensnivellierungen jeglicher Art zu vollziehen; er ist vielmehr ein Teilausgleich für Kinderkosten, und darüber sind wir uns mit den betroffenen Gruppen der Gesellschaft einig.Von den Einkommensteigerungen haben nämlich auch die Mehrkinderfamilien profitiert, wie ich dargelegt habe. Wenn Sie nun einwenden: ja, aber nicht in dem Maße, will ich Ihnen gleich sagen, in welchem Maße wir jetzt die steuerlichen Entlastungen hinzurechnen können. Zu den reinen Lohn- und Einkommensteigerungen kommen ja die dadurch hervorgerufenen Verbesserungen hinzu.Bei Familien mit vier und mehr Kindern wurden durch die Steuerreform Entlastungen bis zu Jahreseinkommen von 180 000 DM erzielt, bei den Junggesellen nur bis zu 40 000 DM und bei den kinder-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12139
Frau Huberlosen Ehepaaren his zu 80 000 DM. Da können Sie doch unsere Präferenzen deutlich sehen!
Ich will ein Beispiel nennen. Ein unverheirateter Arbeitnehmer unter 50 Jahren hat bei 20 000 DM Jahreseinkommen steuerlich nach der Reform 688 DM gespart; das sind 19,1 %. Ein verheirateter Arbeitnehmer unter 50 Jahren mit genau dein gleichen Einkommen, aber mit vier Kindern, erfährt eine steuerliche Entlastung von 1 734 DM gegenüber dem, was früher war, und das sind 255%. Ich finde, dies ist schon etwas.
Bei den höheren Einkommen ist die Entlastung geringer, aber die Werte sind noch deutlich unterschiedlich. Wenn jemand, der ledig ist, 100 000 DM verdient, so hat er jetzt eine Entlastung von 275 DM gleich 0,69 %. Wenn er 100 000 DM verdient und vier Kinder hat, hat er eine Entlastung von 1 122 DM, und dies sind 4,3 %.
Ich will aber gerade an dieser Stelle einen grundsätzlichen Satz anfügen: Es geht hier nicht um die ökonomische Lage der Mehrkinderfamilien schlechthin. Es kann einer Familie mit zwei Kindern oder auch mit einem Kind oder sogar einer Einzelperson sehr viel schlechter gehen als einer Familie mit drei, vier oder fünf Kindern.
Man muß das doch einmal gesellschaftspolitisch sehen, und da ist die einzige Überlegung, die anzustellen ist, die, daß man den Familien helfen muß, deren eigene finanzielle Kraft nicht ausreicht, damit sie am gesellschaftlichen Standard teilhaben können. Hier muß man ansetzen, nicht einfach an der Kinderzahl; sonst kommt man zu völlig falschen Auffassungen.
Das Familienlastenausgleichssystem hat hier mit der Ersetzung der früheren Kinderfreibeträge ein Stück mehr Gerechtigkeit gebracht, denn die Freibeträge hatten ja gerade auch die Großverdiener berücksichtigt, und zwar stärker als den kleinen Mann, der von der heutigen Regelung mehr hat.Ich will auch noch einen anderen interessanten Aspekt ansprechen, nämlich den der Sparförderung. Es wird ja immer so getan, als könne hier nicht gespart werden. Aber wir haben bei der neuen Form der Sparförderung die Kinder nicht nur bei den Einkommensgrenzen stark berücksichtigt, wir haben ja auch 2 % pro Kind auf die Prämie aufgeschlagen. Das bedeutet, daß die früheren starren 400 DM für jedermann jetzt bei den kinderlosen Ehepaaren gesenkt worden, bei den Ehepaaren mit Kindern aber höher geworden sind. So gibt es jetzt 496 DM bei vier Kindern und 560 DM bei sechs Kindern.Nun kommen Sie sicher her und sagen: ja, was soll das alles, eine Familie mit so vielen Kindern spart doch nicht. Auch das will ich Ihnen erläutern. 1972 hatten 11% der Haushalte drei oder mehr Kinder. Nach einer Untersuchung, die sich auf 1,7 Millionen abgeschlossene Sparverträge stützten, entfielen auf diese Haushalte 9 °/o dieser Verträge. Die Mehrkinderfamilien sparen also bei den Sparverträgen genau entsprechend ihrem prozentualen Anteil an der Bevölkerung, d. h. sie sparen auch, und sie sind durch unsere Gesetzgebung, durch die Prämien usw., bevorzugt bedient worden.
Nun belohnt natürlich die Prämie beim Sparen eine eigene Leistung; dies soll gar nicht verkannt werden. Ich werde jetzt aber noch ein paar Daten zu den Leistungen nennen, die unabhängig von eigenen Leistungen gewährt werden. 1973 waren von 1,1 Millionen Haushalten, die Wohngeld bezogen, knapp 102 000 Familien mit fünf und mehr Personen; das waren 8,6%. Da die Bewilligung des Wohngeldes bei der Wohnbedarfs- wie auch insbesondere bei der Einkommensberechnung an der Familiengröße ausgerichtet ist, zeigt auch dieser Anteil, daß für eine generelle Klage über die schlechte Einkommenssituation der Mehrkinderfamilien kein Anlaß besteht.Kein schlechtes Bild bietet sich bei den Eigenheimern. Die Zahl der Lastenzuschüsse ist gestiegen. 1973 entfiel von 67 700 geförderten Haushalten in bezug auf das Eigenheim die Hälfte auf die Haushalte mit fünf und mehr Personen --- die Hälfte!Mehr als die Finanzierung des täglichen Lebensbedarfs und etwa die Sparförderung wird aber noch ein Punkt berührt, bei dem man sehr kritisch ist und zu Recht sehr kritisch ist. Das ist die Frage nach den Ausbildungschancen der Kinder. Hier wird ja immer gesagt, viele Kinder beeinträchtigten die Ausbildungschancen. Dazu will ich Ihnen auch einen Zahlenvergleich bringen. 8% der Familien haben jetzt — voriges Jahr — vier oder mehr Kinder. Von den Familien, in denen mindestens ein Kind studiert, sind aber 17 °/o Familien mit vier oder mehr Kindern. Leider habe ich keine Statistik über die berufliche Zuordnung der Väter von Mehrkinderfamilien allgemein. Aber für die Studenten gibt es die. Unter den Studenten aus Familien mit vier und mehr Kindern haben 20 % einen Arbeiter zum Vater. Unter diesen Vätern sind 12 % ungelernte Arbeiter. Ihr Anteil wird nur noch übertroffen von den Ärzten mit 13 °/o und von den Geistlichen mit 365.
— Geistlichen!
— Gut, Pfarrer; in der Statistik steht „Geistlichen".Alle die hier aufgezählten Hilfsmaßnahmen: steuerliche Maßnahmen einschließlich Kindergeld, Sparförderung, Wohngeld, Ausbildungsförderung und die Sonderprogramme der Gemeinden für Fahrgeld, Eintrittspreise, öffentliche Einrichtungen, Ferienmaßnahmen sowie die für besondere Fälle eintretende Sozialhilfe bedeuten natürlich nicht, daß man sich für die Zukunft nicht noch Besseres einfallen lassen könnte. Sie sind aber eine eindeutige Antwort auf die Schwarzmalerei, die Sie heute hier betrieben haben. Seit 1969 ist eine ganze Reihe von
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12140 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Frau HuberFortschritten erzielt worden, von denen auch und gerade die Familien mit mehr Kindern profitiert haben. Unter sozialen Gesichtspunkten ist es selbstverständlich, daß die spezielle Förderung der Familie über den rein steuerlichen und Kindergeldbereich hinaus von bestimmten Einkommensgrenzen abhängig gemacht wird. Sonst verliert Förderung als materieller Ausgleich ihren Sinn. Sie wäre auch finanziell überhaupt nicht darstellbar. Einkommensgrenzen sind notwendig. Aber das Notwendige — das bekenne ich offen — stellt keine ideale Lösung dar, denn es bringt immer Ungerechtigkeiten an der Grenze für diejenigen, deren Einkommen leicht über dieser Grenze liegt. Der Umstand, daß verschiedene Förderungen heute an ein und derselben Grenze enden, verstärkt diese Problematik. Das ist ein ernstes Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung stellt das neue Stufensystem bei der Bundesausbildungsförderung dar.Der Zweite Familienbericht, der heute hier diskutiert worden ist, hat der Opposition wiederum Anlaß gegeben, in polemischer Form die Familien- und Jugendpolitik der Regierung zu kritisieren. Als ob es hier jemanden gäbe, der gegen die Familie wäre, oder, um mit Frau Schleicher zu reden, der die Familie in Frage stellte! Ich finde das seltsam. Wir alle sind in Familien großgeworden, und wir verbringen den größten Teil unseres Lebens in der Familie, und wir halten das für die normale Lebensform in dieser Gesellschaft. Es braucht überhaupt nicht erörtert zu werden, ob man für oder gegen die Familie ist. Wenn man gegen die Familie ist, ist man gegen die Gesellschaft. Das ist hier kein Mensch.
Ich möchte aber noch betonen: jeder, der hier sitzt, weiß, daß es uns allen besser geht. Das brauchen wir nicht erst aus Umfragen zu erfahren. Jeder, der in seinen Wahlkreis fährt, weiß, daß die Leute dies auch zugeben in Gesprächen. Wir verlangen nicht, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Sie schönfärben; wir verlangen nur, daß Sie der Wahrheit die Ehre geben. Da möchte ich der Frau Wex sagen: gestalterische Kraft beweist sich nicht in Worten, sondern in Taten. Ich glaube, wenn wir heute in diesem Land — im Gegensatz zu vielen anderen Ländern — einen relativ gesicherten sozialen Frieden haben, dann ist das
der Erfolg einer gesellschaftlichen Politik, die der Familie gewidmet war und die wir seit 1969 betrieben haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Für die aufmerksamen Zuhörer der Debatte hat sich jetzt etwasEigenartiges abgespielt. Frau Schleicher von der CSU hat nämlich den Sachverständigenbericht sehr kritisch gewürdigt und auf die unterschiedlichsten und vielfältigsten Widersprüche hingewiesen, die in diesem Sachverständigenbericht enthalten sind. Zwar hat heute morgen Frau Dr. Wex ebenfalls auf einige Widersprüche hingewiesen, hat aber ausdrücklich den Sachverständigen großes Lob gezollt und angeführt, kein Lob verdiene die Bundesregierung, weil sie die Unterschiede zu den Sachverständigen nicht deutlich genug herausgearbeitet habe.Meine Damen und Herren, für mich stellt sich damit die Frage, ob dieser Sachverständigenbericht von der CSU also in einem etwas anderen Licht und aus einem anderen Gesichtswinkel betrachtet wird als von der CDU,
die durch ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende hier ja nun tatsächlich diese Sachverständigen mit außerordentlichem Lob bedacht hat. Ich habe mich heute mittag, weil wir ja eine Pause hatten, gefragt, was Frau Wex denn als innere Widersprüche ansehen würde oder was in ihr Lob einzubeziehen wäre. So lese ich auf Seite 74 des Sachverständigenberichts:Dies bedeutet, daß nichtlegalisierte Partnergemeinschaften, Wohngemeinschaften, Kollektive etc. gegenüber der historischen Form der heutigen „Normalfamilie" nicht benachteiligt werden dürfen . . .Danach wird ausgeführt:So ist die derzeitige Wohngeldregelung voll auf das traditionelle Familienprinzip abgestellt. Elternpaare, die in nichtlegalisierter Partnerschaft leben, im Haushalt lebende Verwandte und die Wohngemeinschaften nicht-verwandter Personen sind von einer gemeinsamen Wohngeldbeantragung ausgeschlossen.So geht es auf dieser Seite noch weiter. Hat hier Frau Dr. Wex nun zustimmen wollen, oder hat hier Frau Wex auf die inneren Widersprüche hinweisen wollen? Ich hoffe, daß dies bei der Beratung des Berichts im Ausschuß klar und deutlich wird.
— Ja, ich hoffe, daß Frau Dr. Wex uns dann dieEhre ihrer Anwesenheit geben wird und uns klarmacht, wo sie die inneren Widersprüche sah. Frau Schleicher hat das ja sehr gut ausgearbeitet, wo sie sie sieht. Wir wüßten aber gerne, wo Frau Dr. Wex Widersprüche sieht oder wo sie lobt.Wenn ich auf Seite 77 des Berichts feststelle, daß diese Sachverständigenkommission die organisatorische Konzentration von Familienpolitik wünscht, also Kompetenzerweiterung des Familienministeriums, dann stellt sich mir die Frage, die ich nun gar nicht beantworten kann: War das nun in das Lob oder in das andere einzubeziehen? Wenn es ins Lob einzubeziehen ist, kann ich nur sagen: diese Familienministerin hat wesentlich mehr Kompetenzen im familienpolitischen Bereich, als vor zehn Jahren Familienminister der CDU hatten. Demnach
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12141
Spitzmüllerwären wir dann auf dem richtigen Weg in die richtige Richtung.Am Schluß auf Seite 142 ist zu den Kosten und der Finanzierung der Maßnahmen, die die Sachverständigenkommission angeregt oder vorgeschlagen hat, zu lesen:Die dabei zur Disposition stehenden Mittel aus dem Gesamtbereich bisheriger Familienpolitik sind nicht zu gering zu veranschlagen, wenn man etwa daran denkt, daß durch das Ehegattensplitting 1972 rund 13 Mrd. DM an Steuern dem Staat entgingen . . .Da stellt sich für mich die Frage: Hat Frau Wex das begrüßt, und will sie das Ehegattensplitting abschaffen, das wir überhaupt erst auf Grund eines Verfassungsgerichtsbeschlusses eingeführt haben, oder gehört das zu den Widersprüchen, auf die sie in einem Nebensatz hingewiesen hat?Meine Damen und Herren, ich führe das an, um deutlich zu machen, daß die heutige breite Diskussion hier im Plenum noch keineswegs Klarheiten geschaffen hat, welchen Weg die Opposition eigentlich zu gehen bereit ist und welchen Weg sie einschlagen will.
Auf der folgenden Seite, der Seite 143, ist dann zu lesen:Darüber hinaus können dort Mittel eingespart werden, wo die Kommission bestimmten Maßnahmen keine Priorität zumißt
Da stelle ich mir die Frage: Will sich die CDU damit von ihren schichtenspezifischen Kindergeldvorstellungen der 50er und der 60er Jahre abwenden? Ich erinnere mich, daß die CDU damals auch ihren Koalitionspartner FDP gegeißelt hat, weil er der Meinung war, das damals über Familienlastenausgleichskassen aufzubringende Kindergeld solle von einer bestimmten Einkommenshöhe ab nicht mehr gezahlt werden. Die CDU hat dann ihre schichtenspezifische Kindergeldregelung verteidigt, die Kindergeld plus Steuerfreibeträge umfaßte, die um so höher waren, je höher das Einkommen war. Dies hat bis zum heutigen Tage in der Gesetzgebung eine große Rolle gespielt. Das sind Fragen, die sich mir aufgedrängt haben nach dem hohen Lob, das Frau Dr. Wex diesem Sachverständigenbericht gezollt hat. Wir hoffen, daß im Ausschuß noch aufgeklärt wird, wo das Lob galt und wo die Widersprüche von Frau Dr. Wex gesehen wurden.Einige Worte noch zum Kollegen Rollmann. Herr Kollege Rollmann, wir kennen uns nun schon über ein Jahrzehnt, und ich hätte eigentlich erwartet, daß Sie in diese Debatte ein bißchen mit weniger jugendbewegtem Ungestüm einsteigen würden, sondern sich in den Jahren doch zu etwas hanseatischer Distinguiertheit entwickelt hätten
und Sie das heute an den Tag legen würden; aberSie waren noch der jugendbewegte jugendpolitischeSprecher der CDU/CSU, als den ich Sie in den Jahren 1961/62, glaube ich, zum erstenmal kennenlernte. Sie haben hier ein tristes Kolossalgemälde des angeblich familienpolitischen Versagens aufgezählt, allerdings teilweise wieder gespickt mit Zitaten, und dabei so ein bißchen unterschwellig einfließen lassen, daß dieses familienpolitische Versagen in der Bundesrepublik ganz besonders groß geworden sei, seitdem die sozialliberale Koalition an der Regierung ist.
Herr Kollege Rollmann, wir sind uns sicher beide einig, daß vieles besser sein sollte. Aber wenn wir nachprüfen, werden wir feststellen, daß wahrscheinlich nur einiges besser sein könnte, weil die Gemeinden, die Länder und der Bund mit ihren Mitteln eben immer nur das Maß des Möglichen und nicht das Maß des Wünschbaren durchführen können.Herr Kollege Rollmann, ich habe Ihr tristes Kolossalgemälde auch deshalb als schmerzlich empfunden, weil vieles von dem, was Sie angesprochen haben — fehlende Spielflächen im Freien, falsch angelegte Spielflächen im Freien, fehlende Spielflächen in der Wohnung, Spielplatzgesetze nur in einigen Bundesländern —, im Grunde genommen doch eine Anklage gegen die Kommunalpolitiker und gegen Landespolitiker war, die ich so pauschal nicht abgeben möchte. Denn ich glaube, wir wissen alle miteinander, daß in den Kommunen die Vertreter der verschiedensten politischen Gruppen ringen um familiengerechtere Entscheidungen in den Gemeinden, um kindergerechtere Entscheidungen, um Einrichtung von Spielplätzen usw. und daß sich das manchmal von Ort zu Ort und von Landschaft zu Landschaft in der Firma der Partei, die sich dafür besonders engagiert, sehr wechselhaft im Lande darstellt.
Daher, glaube ich, sollten wir den heutigen Tag auch nutzen, denen in den Kommunalparlamenten zu danken — ob sie der CDU, der CSU, der FDP, der SPD oder freien Wählergruppen angehören —, die sich doch manchmal sogar in heftigem Widerstreit mit der Mehrheit in ihrer Fraktion für solche kinder-und familiengemäße Belange einsetzen. Meine Damen und Herren, machen wir uns doch gar nichts vor: Es ist in vielen Gemeinden außerordentlich schwierig, sich für Minderheiten im Rat der Stadt oder der Gemeinde stark zu machen.
Es ist nicht so, daß man Parteikarriere damit macht,
daß man sich für Obdachlose, für Ausländerkinder, für Behindertenschulen, für Freizeitangebote einsetzt und dafür auch Geld aus dem Stadtsäckel verlangt.
Daher, meine Damen und Herren, wollte ich dem, was Herr Kollege Rollmann hier aufgestellt hat, ein bißchen entgegentreten und sagen: So schlecht ist es um die Kinderfreundlichkeit und um die Familien-
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12142 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Spitzmüllerfreundlichkeit in unserer Bundesrepublik, in unseren Gemeinden und Bundesländern nicht bestellt, daß man das so hart geißeln kann, wie Kollege Rollmann das heute gegeißelt hat, sondern wir haben hier und heute auch die Aufgabe, denen zu danken, die im kommunalpolitischen Bereich sich dieser Dinge angenommen haben.Meine Damen und Herren, ich hätte einen praktischen Vorschlag zu machen. Wenn nicht nur alle, die hier anwesend sind, sondern etwa die dreifache Zahl der hier anwesenden Bundestagsabgeordneten als Fazit der heutigen Debatte mit nach Hause nehmen würden in die sitzungsfreie Woche und in die Sommerpause, sich in ihren Parteiorganisationen auf Kreis- und auf Stadtverbandsebene in diesen vier Monaten einmal intensiv darum zu kümmern und dafür zu engagieren, daß auch auf der unteren Ebene vor Ort, wo das Entscheidende und das Wichtige und das Mögliche täglich getan werden kann, diese kinder- und familienpolitischen Akzente durch Initiativen der Bundestagsabgeordneten oder zumindest der Hälfte der Bundestagsabgeordneten — in den Parteiorganisationen wieder ein bißchen mehr aktiviert werden, dann, glaube ich, hätte diese Debatte heute auch eines erreicht, das alle Parteien verbindet, nämlich daß in den Parteien die Wichtigkeit und die Notwendigkeit familien- und kinderpolitischer Akzente in den Kommunen wieder bewußter werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Kroll-Schlüter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst, Herr Spitzmüller, darauf hinweisen, daß wir nicht zuletzt durch die Aktivitäten in der Jungen Union und in der Schülerunion zu unserer Anfrage angeregt worden sind; denn Sie wissen, daß es seit mehr als einem Jahr gerade in der Jungen Union zu dem Thema „Kinder haben keine Lobby" beachtliche Aktivitäten nicht nur auf Kongressen, sondern gerade vor Ort in praktischen Aktionen gemeinsam mit den Eltern gibt. Von hier aus ist auch mit uns gemeinsam eine Perspektive für eine kinderfreundliche Politik entworfen worden.
Zu Frau Huber — ich sehe sie gerade nicht — möchte ich sagen: Ich hoffe, daß ihre Zahlen zuverlässiger sind als die Zahlen, die ihre Partei jeweils vor einer Landtagswahl herausgibt.
Wenn ich das miteinander vergleiche, sieht es schlecht um die Familien aus;
denn das, was Sie an Zahlenspielereien, an quantitativer Lüge mit Zahlen vor den letzten Landtagswahlen
provoziert haben, war eine Ungeheuerlichkeit.
— Das möchte ich eindeutig nachweisen.
herr Abgeordneter, ich nehme an, daß Sie mit dem Wort „Lüge" keine Mitglieder des Hauses gemeint haben?
Nein. Vizepräsident Dr. Jaeger: Gut.
Ich möchte mich nicht weiter in Zahlenvergleichen ergehen, sondern mich mehr dem Grundsätzlichen zuwenden
und meinen Vorwurf wiederholen, daß diese Regierung sowohl in der Kinder- als auch in der Jugend- als auch in der Familienpolitik ohne Perspektive und deswegen weitgehend konzeptlos ist.Ich darf ein Thema aufgreifen, das heute noch nicht angesprochen werden konnte bzw. nicht angesprochen worden ist, nämlich das Problem des zunehmenden Alkoholismus. Die Zahl jugendlicher Alkoholiker ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Alkohol ist preiswerter als andere Drogen; Alkohol ist die Droge, die die Gesellschaft akzeptiert.Auf der Suche nach Lösungen dieses Problems bei Kindern und Jugendlichen wie Erwachsenen werden wir in die Tiefe gestörter menschlicher Beziehungen und sozialer Zusammenhänge geführt, aus denen heraus sich erst das Mißbrauchsverhalten erklären läßt. Viele Untersuchungen dieses Problems kommen zu dem Ergebnis, daß wir in unserer Gesellschaft heute weitgehend von dem Gefühl der Enttäuschung, der Sinnlosigkeit bestimmt werden. Die Wert- und Bindungslosigkeit dieser Zeit ist sicherlich mit die tiefste Ursache für steigenden Alkoholismus und zunehmende Kriminalität.Genau diese Sicht der Zusammenhänge fehlt in der Antwort der Bundesregierung. Auch hier ist sie ohne Perspektive. Die Sehnsucht nach Geborgenheit steht im Vordergrund aller Zukunftsüberlegungen bei der jungen Generation. Kinder und Jugendliche reagieren gegenüber den Unstimmigkeiten in ihrer Umgebung sehr sensibel. Sozialisationshilfen sind gute emotionale Beziehungen zu Bezugspersonen wie Eltern oder Freunden. Der überarbeitete Vater, die enttäuschte Hausfrau oder Mutter, der überlastete Hausarzt oder Lehrer —
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Kroll-Schlütersie alle verlieren an Attraktivität und damit an Vertrauen bei den Heranwachsenden.Es ist ein gefährlicher Irrtum zu glauben, Kinder und Jugendliche wären mit dem zufrieden, was wir Wohlstand nennen. Wir sollten uns nichts vormachen: Der gezielte Einsatz finanzieller Mittel reicht nicht aus. Deshalb sollte man das Ganze Suchtproblem einmal andersherum betrachten. An Symptomen zu kurieren ist nicht sehr erfolgreich. Nachdenkenswert wäre, ob nicht ein sich immer weiter entwickelnder Wohlfahrtsstaat, der zwangsläufig immer stärker bürokratisiert wird und in der Meinung seiner Bürger für fast alles zu sorgen hat, die Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative der Bürger stärken sollte.Sucht ist Flucht. Ich könnte mir denken, daß hier ein Ansatzpunkt gegeben wäre, um das Suchtproblem in den Griff zu bekommen, wenn Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative gefördert und gefordert werden.Internationale Studien beweisen, daß die Zufriedenheit des einzelnen mit seiner Umwelt und mit seinem Staat auch davon bestimmt wird, welche Erwartungen er an diesen Staat hat. Eine Regierung wie diese, die vor den Bürgern in den vergangenen Jahren einen sehr hohen Erwartungshorizont aufgebaut hat, die aber nicht dazu in der Lage ist, einen wichtigen, einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung dieses Erwartungshorizontes zu leisten, trägt zur Enttäuschung der Bürger bei, macht die Bürger unzufrieden und erreicht, daß ihre Distanz zum Staate wächst. In der Sicht dieser Zusammenhänge hat diese Regierung versagt.Ich möchte ein zweites Problem aufgreifen, nämlich das des Erziehungsgeldes. Ich weise noch einmal darauf hin, daß es nicht ausschließlich um die Fragestellung geht: Soll die Hausfrau, die Mutter, arbeiten oder nicht? Es geht nicht ausschließlich um die Fragestellung: Ein prinzipielles Ja oder ein prinzipielles Nein zu Tagesmüttern? Es geht vielmehr vor allem und gerade um das Wohl und um die Entfaltungschancen der Kinder.Es ist eine Tatsache, daß die Entwicklung des Jugendlichen und des Erwachsenen nur auf dem aufbauen kann, was in der frühkindlichen Phase zugrunde gelegt worden ist. Was in den ersten Lebensjahren versäumt worden ist, kann später kaum oder gar nicht nachgeholt werden. Ich zitiere aus dem Bericht des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen:In den ersten Lebensjahren eines Menschen bilden sich Grundformen seines Verhaltens heraus. Ein Kind, das in diesen Jahren nicht zu seinem Recht kommt, ist in seiner ganzen Entwicklung gefährdet.Der Deutsche Bildungsrat sagt:Nach allgemeiner Auffassung wird ein Kind während seiner ersten drei Lebensjahre in seiner Entwicklung am besten gefördert, wenn ihm seine Familie eine verständnisvolle und anregende Umwelt bietet.Darein geht es. Es geht uns um die Erziehungskraft der Familie stärkende staatliche Hilfen ohne politische Auflagen. Diese Priorität setzen wir, und um diese Priorität kämpfen wir. Das ist keine totale Absage an andere Formen. Wir sagen aber ein klares Ja zu dieser Priorität, für die Sie mit uns kämpfen sollten. Es ist eben nicht so, daß Sie ein klares Ja zum Erziehungsgeld sagen, denn die Bundesregierung stellt fest:Im übrigen muß die Berufstätigkeit beiderEltern nicht zu Erziehungsproblemen führen.Sie sagt weiter:Zur Einführung eines Erziehungsgeldes für Elternteile, die während der ersten Lebensjahre des Kindes auf Erwerbstätigkeit verzichten, fehlt es an gesicherten Erkenntnissen, die eine sachgerechte Beurteilung erlauben.Alle wissen es, viele Untersuchungen gibt es dar-, über — nur diese Bundesregierung ist nicht bereit, dieser Erkenntnis zu folgen. Sie ist auch hier eine taubstumme Dialogpartnerin ohne Perspektive. Wir bedauern dies und hoffen dennoch darauf, daß Sie mit uns gemeinsam diesen sinnvollen Vorschlag auf Einführung des Erziehungsgeldes zur Stärkung des Erziehungsauftrages der Familie nach und nach, in Phasen — so wie es die finanziellen Verhältnisse erlauben — in die Tat umsetzen.
Bisher haben Sie alle diese Alternativen, die wir vorgelegt haben, leider abgelehnt. Das gilt vor allem für den Bereich der Jugend- und Familienpolitik und auch für den Bereich der Politik für das Kind.Ein Wort zur Tagesmutter! Mit Genehmigung des Präsidenten zitiere ich einmal Professor Hellbrügge, der darauf hingewiesen hat, wie mangelhaft dieses Projekt vorbereitet worden ist:Im Rahmen dieser Beratung stellte sich heraus, daß die in der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts eingesetzten Mitarbeiter des Deutschen Jugendinstitutes eine erschreckende Unwissenheit auf dem Gebiet der Diagnostik und der Beurteilung von Säuglingen und Kleinkindern aufwiesen.Das ist eine Stellungnahme eines erfahrenen Facharztes, der in aller Klarheit die wirklich mangelhafte Vorbereitung dieses Projekts darstellt.
Weiter wird festgestellt: Um die erschreckenden Unkenntnisse der begleitenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Säuglings- und Kleinkinderdiagnostik beseitigen zu helfen, führt Frau Dr. Menara derzeit einen Fortbildungskurs in funktioneller Entwicklungsdiagnostik mit den beteiligten Psychologen des Deutschen Jugendinstituts durch.
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Kroll-SchlüterSie haben sich von einer ideologischen Vorstellung und nicht von dem leiten lassen, was hier sachgerecht notwendig wäre.
Ein drittes Beispiel ist das Jugendhilfegesetz. Sein Referentenentwurf liegt leider in der untersten Schublade.
Der Hinweis, Frau Minister Dr. Focke, auf die Ministerpräsidenten, die das Jugendhilferecht ebenfalls zurückstellen wollen, ist unbefriedigend und unzureichend. Entscheidend ist die Feststellung der Bundesregierung, daß sie eine Gesamtverantwortung für die Situation der öffentlichen Haushalte auch in Ländern und Gemeinden habe. Dieser Gesamtverantwortung ist die Bundesregierung in den vergangenen Jahren in keiner Weise gerecht geworden. Sie trägt ein hohes Maß an Mitschuld dafür, daß heute vor allem bei den Gemeinden die Kassen leer sind, daß die Gemeinden — als Bürgermeister kann ich das sagen — kaum wissen, wie sie das Geld aufbringen sollen, um die Durchführung der Gesetze des Bundes zu finanzieren.Wer nicht in der Kommunalpolitik ist, sollte nicht lachen. Sie wissen, daß die Verschuldung der Gemeinden stärker gestiegen ist als die des Bundes, weil die Steuereinnahmen viel geringer sind als die des Bundes. Es ist eben so, daß dort, wo, wie Sie, Frau Focke, selber festgestellt haben, die Hauptverantwortung liegt, nämlich beim Bund, die Kassen weitgehend leer sind; aber auch bei den Gemeinden ist dies so. Daran scheitert die Einführung des Jugendhilfegesetzes. Es ist ein wichtiges Gesetz, das Sie ins Zentrum Ihrer Jugendpolitik gestellt haben. An diesem zentralen Punkt Ihrer Jugendpolitik sind Sie gescheitert. Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, daß das Grund genug ist, zu sagen, daß Sie in der Jugendpolitik weitgehend gescheitert sind.
Ein Letztes. Ich möchte anregen, daß wir uns, um in diesem Bereich wirklich zuverlässige Ergebnisse zu bekommen und hier eine sachgerechte und nicht ideologisch gestärkte Politik durchzuführen, um eine Forschung im Bereich der Kinder bemühen sollten. Die weithin erkennbare Vernachlässigung wichtiger Belange des Kindes in unserer Gesellschaft, die Tatsache, daß entscheidende Grundlagen und Wechselwirkungen zwischen der kindlichen Entwicklung und der sozialen Umwelt-, Familien-und Erziehungsinstitutionen für die verschiedenen Altersstufen wissenschaftlich nicht oder nur unzureichend erforscht sind bzw. kontroverse Ergebnisse gebracht haben, sowie die Tatsache, daß diese Grundlagen nur durch gemeinsame Arbeit aller praktisch mit dem Kind befaßten Wissenschaftsdisziplinen gewonnen werden können, machen es wohl erforderlich — das ist eine Anregung von mir, Frau Minister Dr. Focke —, daß die Bundesregierung in Auftrag gibt, binnen Jahresfrist ein Bundesinstitut für Kinderforschung einzurichten. Inwieweit das im Zusammenhang mit dem DeutschenJugendinstitut geschehen kann, ist eine andere Frage. Aber daß wir uns diesem Bereich verstärkt widmen müssen, steht für mich außer Frage. Deswegen gebe ich diese Anregung.Im übrigen wäre es auch in diesem Bereich gut, wenn dieses Haus mehr an Gemeinsamkeit aufweisen könnte. Wir wünschen das vor allem im Interesse der Kinder, der Jugendlichen und der Familie. Es wäre wünschenswert, wenn Sie auf die Alternativen der Opposition hörten, die in vielfacher Weise und immer wieder neu vorgebracht werden. Es wäre erfreulich, wenn Sie die Initiativen der Opposition auch in diesem Bereich anerkennen würden. Es wäre aber noch erfreulicher, wenn Sie wenigstens hier und da zur Zusammenarbeit auf der Grundlage der konstruktiven Vorschläge der Opposition bereit wären. Es ist so: Die Nein-Sager sitzen nicht in der Opposition, sondern in der Koalition.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Meermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach diesem Spaziergang meines verehrten Vorredners „quer durch den Garten", bei dem er freilich weniger nach Blüten als vielmehr mühsam nach welken Blättern suchte,
möchte ich mich auf ein Thema beschränken.Die Bundesregierung hat in ihrem Zweiten Familienbericht dem Wohnen viel Raum gewidmet. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat das mit Freude festgestellt, denn unsere Familien- und Jugendpolitik ist immer ganz entscheidend von dem Gedanken mitbestimmt worden, daß die Wohnung das Zentrum des Familienlebens ist. Sie muß den Bedürfnissen der Eltern und Kinder nach Geborgenheit und Entfaltung gerecht werden, das Zusammenleben der Familie fördern, aber auch Besuche von Freunden und Verwandten ermöglichen. Dazu ist es notwendig, daß sich die Familien in ihrer Wohnung rechtlich und wirtschaftlich sicher fühlen, daß die Wohnungen ausreichend groß sind und daß auch die sozial schwächeren Familien am besseren Wohnungsstandard teilhaben.Der Erste Familienbericht wurde im Jahre 1968 erstattet. Im Jahre darauf wurde die sozialliberale Bundesregierung gebildet. Ich muß mich nun wundern, Herr Rollmann, daß Sie sich auf eine Bestandsbeschreibung beschränken, so wie Sie sie verstehen, aber keinen Gedanken an eine Untersuchung verschwenden, was sich im Bereich des Wohnens gegenüber der Zeit, in der Sie die Bundesregierung gestellt haben, geändert hat. Ich möchte das unter vier Aspekten tun.1. Wir haben im Jahre 1971 unser in vielen Jahren der Opposition immer wieder vergeblich
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Frau Meermannverfolgtes Ziel durchsetzen können, die zur Miete wohnenden Familien im rechtlichen Besitz ihrer Wohnung zu sichern. Sie haben zwar in Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von der Opposition, das familiengerechte Wohnen auf Ihr Panier geschrieben. Aber die Voraussetzung dafür, daß sich auch die Familien, die kein Wohnungseigentum besitzen, in ihrer Wohnung sicher fühlen können, haben Sie nicht geschaffen. Sie haben sie vielmehr der Härte des damals völlig unausgeglichenen Wohnungsmarktes ausgesetzt. Ihnen konnte gekündigt werden, aus welchem Grund auch immer und auch ohne Grund. Die soziale Seite Ihres Mietrechts bestand darin, daß die Familien ihre soziale Notlage beweisen mußten, wenn sie in der Wohnung bleiben wollten. Das haben Sozialdemokraten und Freie Demokraten geändert.Heute ist jede Familie, die sich an ihren Mietvertrag hält, in ihrer Wohnung vor Kündigung weitgehend geschützt und vor ungerechtfertigter Mieterhöhung sicher.
Es müssen schon sehr wichtige Gründe vorliegen, um ihr kündigen zu können. Das haben wir gegen Ihren erbitterten Widerstand in Bundestag und Bundesrat schließlich hier in diesem Hause mit Kanzlermehrheit durchgesetzt.
Sie werden Verständnis dafür haben, wenn ich manchen, der heute hier über seine guten Absichten in der Familienpolitik spricht, also auch Sie, Herr Rollmann, daran messe, wie er damals abgestimmt hat.
Frau Abgeordnete Meermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rollmann?
Ich möchte diesen Gedanken erst zu Ende führen; dann gern. — Daß Sie im vergangenen Jahr bei der Verankerung des Wohnraumkündigungsschutzgesetzes im BGB mitgemacht haben, betrachte ich gerne als Anerkennung dafür, daß Sie wenigstens im nachhinein den von uns im Jahre 1971 eingeschlagenen Weg für richtig gehalten haben.
Bitte, Herr Rollmann!
Frau Kollegin Meermann, nachdem nun alles so wunderbar geworden ist, wie Sie es hier soeben geschildert haben, frage ich Sie: Wie erklären Sie es sich dann, daß, obwohl die Sozialdemokratische Partei seit beinahe zehn Jahren den Bundeswohnungsbauminister stellt, nach den Feststellungen des Familienbeirates beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit noch immer 45 °/o aller Kinder unter 18 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland in Wohnungen leben, die der Mindestnorm nicht entsprechen?
Sie sind heute zu eilig, Herr Rollmann. Ich war jetzt erst einmal bei derrechtlichen Sicherung der Mieter in ihrer Wohnung; zur Wohnungsversorgung komme ich selbstverständlich. Ich gebe Ihnen gern eine Antwort auf das, was Sie heute morgen gesagt haben.
2. Die Familien sind nicht nur im rechtlichen, sondern auch im wirtschaftlichen Besitz ihrer Wohnungen sicherer als je zuvor. Das gilt sowohl für die Mieter als auch für die Eigentümer eines Eigenheims oder einer Eigentumswohnung. Für beide ist mit der Verabschiedung des Zweiten Wohngeldgesetzes im Jahre 1970 und den Leistungsverbesserungen im Jahre 1973 die Miete oder die Belastung der Wohnung tragbarer geworden. Auch sind sie gegen die Wechselfälle des Lebens in ihrer Wohnung geschützt.Durch das neue Kindergeldgesetz konnten wir insbesondere für die kinderreichen Wohngeldempfänger das Verhältnis von selbst zu tragendem Mietanteil zum Einkommen erheblich verbessern. Das Kindergeld wird nämlich dem Einkommen nicht zugerechnet. Die Familien erhalten genausoviel Wohngeld, wie wenn es kein Kindergeld gäbe. Daß das Wohngeld gern in Anspruch genommen wird, ergibt sich aus den steigenden Zahlen im Haushalt. Die Wohnungsleistungen haben sich bei Bund und Ländern seit 1969 verdreifacht und werden in diesem Jahr weiter steigen.
Bei der demnächst anstehenden erneuten Novellierung des Wohngeldgesetzes werden wir uns besonders mit zwei Fragen befassen, die die von der Bundesregierung berufene Sachverständigenkommission aufgeworfen hat, nämlich mit den Fragen: Wie kann die Mietbelastung für die besonders einkommensschwachen Familien noch weiter gesenkt werden? Was kann getan werden, damit das Wohngeld noch stärker als bisher als Anreiz empfunden wird, um aus einer überbelegten Mietwohnung in eine andere, ausreichend große Mietwohnung zu ziehen? Im Gegensatz zu den Mieterfamilien kalkulieren nämlich die Familien, die selbst bauen wollen, das Wohngeld jetzt schon sehr genau ein, weil sie sich sorgfältiger beraten lassen. Beide können sich aber bei ihren Entscheidungen darauf verlassen, daß das Wohngeldgesetz auf Dauer angelegt ist und daß seine Leistungen immer wieder den sich ändernden Verhältnissen von Miete und Einkommen angepaßt werden.Damit, Herr Rollmann, komme ich zum dritten Punkt, zur Wohnungsversorgung. Die Wohnungsversorgung der kinderreichen Familien hat sich in den letzten Jahren auch qualitativ laufend verbessert. Natürlich wohnen noch zu viele Familien in überbelegten Wohnungen. Das kann aber auch gar nicht anders sein. Sie haben bei der Übernahme dessen, was Sie aus dem Gutachten zitiert haben, Herr Rollmann, ganz offensichtlich nicht bedacht, daß hier im Jahre 1971 für den Bau von neuen Wohnungen gesetzte Maßstäbe auf den gesamten Wohnungsbestand angelegt werden, daß die älteren
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Frau Meermann) Wohnungen vorwiegend Kleinwohnungen sind, daß auch die älteren Sozialwohnungen, die aus der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung stammen, vorwiegend Kleinwohnungen sind und daß in der Nachkriegszeit Wohnungen von 50 Quadratmetern für vier Personen gebaut wurden. Das alles kann man doch nicht in ein paar Jahren aufholen.
Heute, meine Damen und Herren, liegt die Durchschnittsgröße im sozialen Wohnungsbau bei mehr als 80 Quadratmetern, und die Palette der Größen reicht von 32 bis 139 Quadratmetern. Die Wohnungen auch für die kinderreichen Familien sind deutlich größer und besser ausgestattet. Das trifft sowohl für die Eigenheimer als auch für die Mieter zu.Hier macht sich bemerkbar, daß das Wohnungsangebot größer und reichhaltiger geworden ist, weil die Zahl der Wohnungen zum ersten Mal in unserer Geschichte der Zahl der Haushalte entspricht; sie übersteigt sie sogar ein wenig. Es wirkt sich auch aus, daß die Bundesregierung in ihrem Intensivprogramm über viele Jahre hinweg gerade auch den Wohnungsbau für die kinderreichen Familien besonders gefördert hat. Das wird sie auch weiter tun.Vielen Familien mit Kindern wird auch geholfen durch die Modernisierung von älteren Wohnungen, die die SPD-Bundestagsfraktion als einen Schwerpunkt der Wohnungspolitik ansieht und für deren kräftige Förderung sie sich eingesetzt hat. Wenn zwei kleinere Wohnungen zu einer größeren zusammengelegt, wenn die Heizungs- und sanitären Anlagen verbessert werden, tun sich die Mütter in der Haushaltsführung leichter, die Familie kann am modernen Wohnungsstandard teilhaben und braucht doch die gewohnte Umgebung nicht zu verlassen. Das hat auch den großen Vorzug, daß die Schulkinder weiter in dieselbe Schule und die kleineren Kinder in denselben Kindergarten gehen können.Im übrigen, Herr Rollmann: ich bin auch der Meinung, daß der soziale Wohnungsbau noch sozialer werden kann. Dazu müssen aber viele zusammenarbeiten. Die Förderung des Wohnungsbaus ist nach dem Zweiten Wohnungsbaugesetz eine Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam obliegende Aufgabe. Die Durchführung der Maßnahmen liegt dabei allein bei den Ländern und Gemeinden. Der Bund ist Mitförderer und Anreger. Kein einziges von der CDU oder CSU regiertes Land wäre bereit, dem Bund hier mehr Kompetenzen einzuräumen.
Zum vierten Punkt: Wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, haben in den letzten Jahren über den Einfluß der Wohnungsumwelt auf Befinden und Verhalten der Kinder einiges dazugelernt. Aber eines haben wir doch alle immer gewußt: daß Kinder draußen Platz zum Spielen brauchen. Das ist Ihnen doch auch nicht erst eingefallen, Herr Rollmann, seit Sie in der Opposition sind. Was aber haben denn die CDU-geführten Bundesregierungen für Kinderspielplätze getan? Das Bundesbaugesetz hat für den Garagenbau alle Vorkehrungen getroffen. Aber als Planungsgesetz für die soziale Infrastruktur, zu der Kinderspielplätze gehören, ist es völlig, aber wirklich völlig unzureichend.Erst unter der sozialliberalen Bundesregierung konnten wir im Städtebauförderungsgesetz festlegen, daß das Fehlen eines Kinderspielplatzes ein städtebaulicher Mißstand ist, dem die Gemeinden mit einschneidenden Maßnahmen begegnen können. In der jetzt in Beratung befindlichen Novelle zum Bundesbaugesetz werden wir hoffentlich mit allen Stimmen dieses Hauses die Planung und Durchführung gerade der sozialen Infrastrukturmaßnahmen einschließlich der Kinderspielplätze auf eine völlig neue Rechtsgrundlage stellen.Sie haben in Ihrem Entschließungsantrag gefordert, daß alle Bundesländer zur Schaffung von Kinderspielplatzgesetzen angeregt werden sollen. Das ist ja sehr schön, was Sie da beantragen. Ich sage in diesem Zusammenhang auch gern, daß hier sozialdemokratisch regierte Länder schon mit gutem Beispiel vorangegangen sind. Ich möchte besonders alles, was Herr Spitzmüller in diesem Zusammenhang ausgeführt hat, voll unterstreichen.Aber, Herr Rollmann: So leicht ist das nicht, nachträglich in vor Jahren gebauten Wohnvierteln Spielplätze zu schaffen, wo die rechtzeitige Anlage durch eine Bodenordnung, die Sie zu verantworten hatten, verhindert worden ist.
— Auch die Neue Heimat und auch die Gemeinden haben alle nur auf der Grundlage des Bundesbaugesetzes handeln können, so, wie Sie es damals mit Ihrer Mehrheit verabschiedet haben.
Leider, meine sehr verehrten Damen und Herren, empfinden die meisten Bundesbürger, wie kürzlich das Nürnberger Städtebauinstitut ermittelte, Kinderlärm als Störfaktor Nr. 1, noch vor dem Verkehrslärm. Bei der bürgerschaftlichen Mitbeteiligung an Bebauungsplänen wird die Frage, wohin der Kinderspielplatz kommt, immer eine große Rolle spielen. Ich hoffe aber darauf, daß die bürgerschaftliche Mitbeteiligung, die wir im Bundesbaugesetz verankern, auch zu mehr Verständnis dafür führt, daß Kinder nur gesund aufwachsen können, wenn sie tagsüber auch einmal Lärm machen dürfen.Zu dem Appell von Herrn Spitzmüller an uns alle hier in diesem Hause möchte ich eine Bitte an Presse, Rundfunk und Fernsehen hinzufügen. Sie haben in den letzten Jahren sehr viel dazu beigetragen, daß die Scheu der Bürger vor behinderten Kindern und vor behinderten Erwachsenen sehr viel geringer geworden ist, daß wir sie stärker als früher als zum normalen Leben gehörig betrachten.
Vielleicht kann durch ihre Hilfe auch noch mehrVerständnis dafür geweckt werden, daß zum huma-
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Frau Meermannnen Wohnen auch Kinderlärm, Kinderweinen und Kinderlachen gehört.
Ich habe heute nur einige Anmerkungen über sozialdemokratische Wohnungspolitik für die kinderreichen Familien machen können. Die besonderen Probleme der ausländischen Arbeitnehmerfamilien, der alleinstehenden Frauen mit Kindern und der Behinderten, die im Familienbericht ebenfalls behandelt sind, habe ich in der wohnungspolitischen Debatte der vergangenen Woche angeschnitten. Wir haben diese Gruppen während der Zeit der sozialliberalen Koalition besonders gefördert. Damit haben wir angefangen, meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition — wir haben da nichts vorgefunden aus Ihrer Regierungszeit —, und wir werden auch in Zukunft dafür sorgen, daß ihre Wohnungsversorgung mit der der übrigen Bevölkerung Schritt hält.
— Sage ich gern. Die Frage nach den Kindern, die kein Bett haben, war als Nebenfrage der statistischen Erhebung erfaßt worden, und es hat sich herausgestellt, daß die Beantwortung auch nebensächlich und nicht so ganz gründlich erfolgt ist. Längst nicht alle Familien haben sie beantwortet, und manche haben auch geschrieben: „Kein Bett", wo das Kind noch in der Wiege lag oder auf der Couch schlief. Dieser Teil der Statistik ist nicht sehr aussagekräftig.Im übrigen rechnet die sozialdemokratische Bundestagsfraktion mit einer fruchtbaren Vertiefung der heute begonnenen Diskussion des Familienberichts im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, zum Wohl der Familien, für die wir uns besonders verantwortlich fühlen.
Das Wort hat der Abgeordnete Sauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte in dieser Aussprache ebenfalls die Problematik des kindergerechten und familienfreundlichen Wohnungsbaus ansprechen, und in Anwandlung zu den Äußerungen meiner geschätzten Kollegin Frau Meermann zu meinem Kollegen Kroll-Schlüter möchte ich sagen: ich würde gern mit Ihnen einen Spaziergang durch einen gepflegten Wohnungspark unternehmen, Frau Meermann, aber ich glaube, wir müßten dann erst sehr viele Disteln und anderes Unkraut jäten, das in den letzten Jahren dort gewachsen ist.
Der Lebensraum der Kinder, den Theodor Heuss einmal als „Herberge der Menschlichkeit" bezeichnet hat, muß in dieser Debatte gerade nach den Ausführungen unserer Frau Kollegin Focke von heute morgen etwas näher behandelt werden. Denn so leicht, Frau Minister Focke, können wir Sie aus derVerantwortung nicht entlassen. Ich finde es eigentlich unerhört, daß Sie mit der billigen Floskel, Sie könnten nicht alle Sozialwohnungen besuchen, die eigentliche Problematik verschleiern wollen. Als ob der Arzt erst selber jede Krankheit durchgemacht haben müßte, um heilen zu können!Unsere Anfrage betrifft sicherlich im Bereich des Wohnungswesens Sachbereiche, für die unsere Länder zuständig sind. Doch dem Bundestag darf es nicht gleichgültig sein, wie unsere Kinder und Jugendlichen wohnungsmäßig untergebracht sind. Denn der Bund schafft im Wohnungsbau die Rahmenbedingungen. Unter Führung der CDU/CSU hat unser Staat nach der Nazidiktatur für uns, die wir nicht zur Erlebnisgeneration zählen, ein unfaßbares Trümmerfeld beseitigt. Bundesminister Dr. Heck konnte bereits bei der Großen Anfrage meiner Fraktion zur Situation der Kinder im Jahre 1968 darauf hinweisen, daß der Wohnungsmarkt weitestgehend gesättigt war; und er verwies darauf, daß der Anteil der Neubauwohnungen mit drei und mehr Räumen von 54 % im Jahre 1955 auf 75 % im Jahre 1967 gestiegen war. In Ihrer Rede, Frau Kollegin Meermann, in der Debatte vom 17. Januar 1968 haben Sie selber begrüßt, daß die Wohnflächengrößen und die Zahl der Räume ständig zugenommen habe. Es ist ein Gebot der Redlichkeit, hier festzustellen, wie sich die durchschnittlichen Wohnflächen in den Jahren unserer Regierungszeit verbessert haben. 1952: 54,8 qm, im Jahre 1960 bereits 70,4 qm, im Jahre 1966 bereits 80,4 qm und in den von Ihnen bestrittenen Jahren nur eine Steigerung um 4,4 qm auf 84,8 qm. Es konnte also damals bereits im Familienbericht 1968 nach der vollzogenen Behebung der Wohnungsnot, bei allen noch vorhandenen Schwierigkeiten festgestelt werden — ich zitiere —:„Der zukünftige Wohnungsbau wird deshalb von einer Erweiterung des Wohn- und Lebensbereiches des Kindes gekennzeichnet sein".Es war Mitscherlich, der auf die Bedeutung der Umwelt in den ersten fünf Jahren des Kindes hingewiesen hat; denn die Persönlichkeitsbildung hängt in hohem Maße von der Wohnung ab: von ihrem Standort, der Grundrißgestaltung sowie der Ausstattung und damit der Qualität. Anfänge des Bemühens, kinder- und jugendgerechten Wohnungsbau zu betreiben, sehen Sie darin, daß unter dem von Ihnen oft zu Unrecht kritisierten Kollegen Lücke neben den DIN-Vorstellungen für Kinderzimmer und Kinderspielplätzen damals bereits „Hausarbeitsräume" in der DIN 18022 ausgewiesen wurden
— 18022! Sie müssen sich schon mit der Problematik beschäftigen, Herr Kollege —, wobei diese Mehrzweckräume für die Kinder und noch viel mehr für die Jugendlichen geschaffen wurden. Ich kann mit Stolz sagen, daß sich meine Fraktion sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart — das sage ich deswegen so ausführlich, Frau Kollegin Meermann, weil Sie dies nicht gewürdigt haben — in besonderem Maße für den familiengerechten Wohnungsbau engagiert hat. Ich erinnere an die Familienzusatzdarlehen, an den steuerbegünstigten
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Sauer
Wohnungsbau, an die Aufbaudarlehen, an die Nebenerwerbssiedlungen, an die Aktion „Junge Familie", an die Aktion „Großfamilie", an die Umsetzungsmaßnahmen, an die Wohnbauprämien, an das Barackenräumprogramm.Ich will keineswegs, Frau Dr. Focke — ich sehe die Frau Ministerin leider nicht —, die vor wenigen Tagen herausgegebene „Zwischenbilanz in Schlagzeilen" außer acht lassen. Aber den Bereich des Wohnungsbaues, den wir hier zur Zeit ansprechen, habe ich dabei nicht gefunden.Seit 1966, seit fast einem Jahrzehnt, haben wir sozialdemokratische Wohnungsbauminister. Was ist denn eigentlich aus den Anfängen, die ich gerade geschildert habe, aus dem Übertritt vom quantitativen zum qualitativen Wohnungsbau geworden? Um die Relationen zwischen den Leistungen von 1949 bis 1966 bzw. bis 1969 und denen danach richtig zu sehen, muß ich bei dieser Beurteilung darauf verweisen, daß der Maßstab für eine familiengerechte und kinderfreundliche Wohnung ja nicht konstant bleibt, Frau Kollegin Meermann. Denn er verändert sich in dem Maße, in dem sich auch die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen im allgemeinen verändern. Was ist geschehen, seitdem der gute Begriff des familiengerechten und kinderfreundlichen Eigenheims von Ihnen in die sogenannte familiengerechte Wohnung umfunktioniert worden ist?Nehmen wir einmal den Mietwohnungsbau. Die Mietwohnung hatte bereits in unserer Zeit — ich sagte es vorhin —, im Jahre 1966, eine Durchschnittsgröße von 80,4 qm pro Wohneinheit und erfuhr unter Ihrer Regierung bis heute lediglich eine Steigerung um 4,4 qm auf 84,8 qm. Für das Kind ist der heutige kinderfreundliche Wohnungsbau, wie Sie ihn hier darstellen, als solcher nicht zu erkennen. Das Elternschlafzimmer ist doch tabu, das Wohnzimmer gilt oft als Aushängeschild für Bekannte und darf zum Spielen nicht genutzt werden, die Küche ist keine Wohnküche mehr
— darauf wollte ich gerade kommen, Herr Kollege —, sondern allenfalls eine Laborküche. Wie sieht es denn mit dem Kinderzimmer aus? Es wird immer noch nach der längst überfälligen DIN 18011 gebaut, d. h. mit einer Spielfläche von 120 mal 180 cm, obwohl Frau Minister Focke im Bulletin vom 17. Mai 1973 erklärt hat — ich darf wörtlich zitieren —:Für Kinder bedeutet dies, daß ihnen die Bewegung, Betätigung und die Möglichkeit, andere Kinder einzuladen und mit ihnen zu spielen, als Grundvoraussetzung für die Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit eingeschränkt wird.
— Darf ich den Satz noch zu Ende sprechen? Nachdem Sie zuerst eine Änderung dieser DIN in Aussicht gestellt haben, hat die Bundesregierung nun erklärt, eine Überarbeitung mit dem Ziel der Erhöhung der Mindestansätze komme nicht in Betracht.
Frau Abgeordnete Meermann zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege, Ihnen ist aber doch bekannt, daß diese DIN-Normen Mindestnormen darstellen und daß sie in der Praxis des sozialen Wohnungsbaus weitgehend überschritten werden?
Frau Kollegin, das bezweifle ich; aber Sie wissen, daß selbst der Raum für einen Untersuchungshäftling größer ist als der für unsere Kinderzimmer. Dies ist ein Faktum.Meine Damen und Herren von der SPD, diese Entscheidung, die DIN-Norm nicht zu ändern, obwohl Sie das vor wenigen Wochen einmal in Aussicht ge- stellt haben, hat doch gerade bei fast allen Familienverbänden der verschiedensten Couleur in den letzten Tagen den größten Unmut hervorgerufen. Es geht doch bereits so weit, daß man meint, Sie würden das Kinderzimmer mit einem modernen Hühnerschlag verwechseln. Warum sind Sie eigentlich nicht gewillt, diese DIN-Norm zu ändern? Nehmen Sie doch einmal die Kinder vor, für die Kinderzimmer in Betracht kommen! Nehmen wir doch einmal die Kinder zwischen einem Jahr und drei Jahren, die sogenannten Krabbelkinder, die sicherlich eine größere Spielfläche benötigen könnten, nehmen Sie die drei- bis sechsjährigen, die Kleinkinder, die einmal einen Freund mit einladen wollen, um etwas zu basteln, nehmen Sie die sechs- bis zwölfjährigen, unsere Schulkinder, die einen Raum für die Hausarbeiten und gleichzeitig zum Experimentieren haben wollen, nehmen Sie die zwölf- bis 16jährigen, unsere Teenager und Twens, die auch einmal ihre Freunde und Freundinnen zum Plattenhören einladen wollen bzw. einmal eine Fete zu Hause feiern möchten. Darum unsere Forderung: ändern Sie doch diese DIN-Norm!Die CDU/CSU-Fraktion stellt ferner mit großer Sorge fest, daß sich der Staat aus der Förderung des Wohnungswesens immer mehr zurückzieht.
Die Regierung scheint die Forderung „Von der Quantität zur Qualität" in finanzieller Hinsicht mißzuverstehen. Waren es 1968 noch 0,89 v. H. des Bruttosozialprodukts, so sind es 1974 nur noch 0,61 v. H., und nach der Anlage 3 des Sozialbudgets 1974 werden es im Jahre 1978 nur noch 0,44 v. H. sein.
Etwas anderes: In ihrem eigenen Bericht über die Mieter in Sozialwohnungen des Jahres 1973, den Sie uns im Ausschuß zur Verfügung gestellt haben, muß die Regierung folgendes bekennen — ich sage das insbesondere nach dem Beitrag der Frau Kollegin Huber, und Sie werden, nachdem Frau Huber hier die Situation in den schönsten Farben geschildert hat, Verständnis dafür haben, daß ich Ihnen als der jüngste Oppositionsabgeordnete nun die Negativbilanz vorführe —:
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Erstens. Große Haushalte mit Kindern und Haushalte mit Kleinkindern sind mit ihrer jetzigen Wohnungssituation am wenigsten zufrieden.
Zweitens. Die Wohnfläche ist besonders für Familien mit Kindern nicht ausreichend.
Drittens. Unzufrieden ist man nicht nur mit den zu kleinen Kinderzimmern und Küchen, sondern auch a) mit der Schallisolierung, da trotz Forschungsaufträgen immer noch die liebe Frau Nachbarin alle Einzelheiten mithören kann, und b) mit den Grundrissen, die keine Mobilität und Variabilität der Raumaufteilung zulassen. Ändern Sie diese DIN-Vorschrift!Viertens. Rund 36 % der Sozialmieter möchten gern umziehen, Kinderreiche sogar zu 52% und Familien mit Kleinkindern sogar zu 70 %. — Das ist doch eigentlich verständlich — das haben Sie auch betont, Frau Kollegin Meermann —, wenn nahezu alle natürlichen kindlichen Äußerungen — wie hausinternes Toben, Singen, Spielen — total abgebremst werden.
— Ja sicher, auch!Wie es aber um die tatsächliche Wohnraumversorgung — das war ja der dritte Punkt, den Sie in Ihrer Bilanz lobend dargelegt haben, Frau Meermann —, wirklich bestellt ist, läßt sich einem jüngst veröffentlichten Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates für Familienfragen beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit entnehmen: nämlich daß es katastrophal ist. Es ist mir völlig unverständlich, warum die in diesem Gutachten enthaltene Analyse in der Antwort der Bundesregierung und auch in dieser Debatte von Ihrer Seite überhaupt gar keine Erwähnung gefunden hat!
Einer Übersicht dieses Gutachtens, das Sie vermutlich verschweigen wollen, ist zu entnehmen, daß ein Drittel aller Einkinder- und Zweikinderfamilien wohnraummäßig unterversorgt ist; das gleiche gilt für etwa 60 % der Dreikinderfamilien, für rund zwei Drittel der Vierkinderfamilien und für mehr als 70% der Familien mit fünf Kindern. Das ist die Wahrheit!
Hier heißt es Konsequenzen — siehe unser Entschließungsantrag — sowohl für die Förderung des sozialen Wohnungsbaus zugunsten der kinderreichen Familien zu ziehen als auch in der Wohngeldgesetzgebung, die mein Kollege Nordlohne in der vergangenen Woche hier ausführlich behandelt hat, und zwar im Blick auf die Belange insbesondere der größeren Familien.Ich halte zwar, Herr Kollege Spitzmüller, Ihren Plan, was wir Abgeordnete in den Ferien im Wahlkreis machen sollen, auch für eine gute Anregung, aber besser wäre es, wenn die Bundesregierung sich dieses Gutachten des Focke-Ministeriums „Familieund Wohnen" vor Augen hielte und danach ihre Politik gestaltete.
Der Kollege Rollmann hat vorhin darauf hingewiesen, daß 45 % aller Kinder unter 18 Jahren nicht einmal in anständigen Wohnungen leben.Die Bundesregierung muß auf dem Gebiet des kinderfreundlichen und familiengerechten Wohnungsbaues endlich von Programmen, Denkschriften, Ausarbeitungen und immer neuen Forschungsaufträgen wegkommen und zu Taten schreiten im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen.
Ob das Gutachten des Familienministeriums, ob der Städtebericht des Jahres 1975, ob der Familienbericht — es sind doch überall Anklagen, daß kinderreiche Familien nicht ordnungsgemäß untergebracht worden sind. Herr Kollege Fiebig, ich habe die Drucksache 7/3502 als Familienbericht vorliegen. Nach Ihrem Beitrag darf ich Ihnen nur einmal aus drei aufeinanderfolgenden Seiten zitieren: Seite 76 als Stichwort „fehlende Gesamtkonzeption", Seite 77 „Mangel an statistischen Daten" und „Kompetenzzersplitterung", Seite 78 „Machtdefizit des Familienministeriums". Ich muß Ihnen sagen — weil Sie Geistlicher sind und das gerne betonen —: „Lügenhafte Lippen sind dem Herrn ein Greuel!"
Ich hatte erwartet, daß nach Lippenbekenntnissen die Bundesregierung heute hier Initialzündungen auch für die Länder und für die Kommunen gegeben hätte. Gerade Frau Focke hätte hier eine Konzeption darlegen müssen oder wenigstens höhere Anforderungen an den Wohnungsbauminister in diesem Fragenkomplex stellen müssen.
— Herr Staatssekretär Haack ist da, Kollege Rollmann. Er kann sich ja nachher dazu äußern. — Ich stelle namens der Opposition fest, daß in der kinderpolitischen Wohnungslandschaft diese Bundesregierung unbeweglich, ratlos und auch hilflos ist. Denn wenn sie schon nicht, wie es zu unserer Regierungszeit damals notwendig war, bis zu 600 000 Wohneinheiten jährlich zu bauen brauchen — ich bezweifle, daß Sie dies bei einer Notwendigkeit heute schaffen würden —, dann hätte sie wenigstens — —
— Darum! Wenn es notwendig wäre, würden Sie es heute bei der Inflation doch nicht schaffen! Aber dann hätten Sie wenigstens jetzt qualitative Leistungen erbringen sollen!Für eine kinderreiche Familie — damit meine ich drei Kinder und mehr — kann es heute in einer Wohnung unter 100 qm kein geordnetes Familienleben geben. Fest steht, eine Wohnungsbaupolitik ist falsch, die nicht in erster Linie in der heutigen Zeit ihren Erfolgsausweis in der Qualität der So-
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zialeinrichtung Nummer 1, nämlich der Wohnung, sucht. Ich glaube, da trennt uns etwas Ideologisches, und weil Sie ja noch — ich betone: noch — zahlreiche Oberbürgermeister in den Großstädten stellen. Ich habe die Befürchtung, daß Sie Ihren Erfolgsnachweis bzw. Ihren Erfolgsausweis gar nicht in erster Linie in der Wohnungsqualität suchen, sondern in Surrogaten, z. B. in Spielplätzen, um die sich später niemand kümmert und die biologische Gefahren — wir kennen die Gutachten — aufweisen, in Rasenflächen, die man mit Kleinkindern gar nicht benutzen kann, wegen der Hundehaltung, in Kindergärten, die doch kein eigenes Kinderzimmer ersetzen können, in "Communicationrooms" im Parterre, die niemandem gehören und um die sich keiner kümmert, oder in Jugendheimen, die von linken Brillenträgern geleitet werden und gar nicht mehr zu übersehen sind. Ich frage unsere Kommunalpolitiker quer durch die Fraktionen in unserem Hause, ob meine These stimmt: wenn Sie Wohnungen unter 100 qm bauen, dann müssen Sie gleichzeitig neue hausexterne Bedürfnisse in neuen kostspieligen Einrichtungen befriedigen.
— Ich sprach von kinderreichen Familien ab drei Kinder. Die Zahl, die Sie nennen, betrifft Familien mit über sechs Kindern.Wir müssen gemeinsam den Herausforderungen der Zeit gerecht werden. Ich darf feststellen, die CDU/CSU, jahrelang unterstützt durch FDP-Wohnungsbauminister und zeitweise auch getragen von DP und BHE, hat, international anerkannt, eine gute Wohnungsbaupolitik getrieben. Wir haben damals fast jedem Bürger eine Wohnung verschafft. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es jetzt, jedem „seine" Wohnung zu ermöglichen.Lassen Sie mich ein letztes Wort noch zu den Kosten sagen! Bei diesen Plänen wird selbstverständlich Geld benötigt. Aber bei etwas Einsicht in die Rangfolge der Grundbedürfnisse muß man bereit sein, die Steuerkraft der Gemeinschaft dafür anzusetzen, daß das Leben in Würde gelebt werden kann. Was wir an Mitteln in die Erziehung, in die Ausbildung und vorher auch in die Umwelt — ich zitierte vorhin Mitscherlich — für unsere Kinder stecken, ist die beste und zunkunftsträchtigste Investition, die wir überhaupt, gerade auch gesellschaftspolitisch, vornehmen können. Was wir beim Kind versäumen, läßt sich später nur unter sehr erschwerten Bedingungen wiedergutmachen, wenn nicht schon irreparable Schäden eingetreten sind. Beim Vitalgut Wohnen gilt in finanzieller Hinsicht der Slogan: „Halb besoffen ist weggeworfenes Geld".
Auf einer Konferenz für Bauforscher und Architekten, von der FDP in Gummersbach und in Kassel dankenswerterweise einmal organisiert, wurde festgestellt, daß sich geradezu ein Heer von äußerst aggressiven und selbstzerstörerischen Jugendlichen in den Wohnsilos heranbilden würde, wenn mannicht endlich humanen, menschlichen Wohnungsbau für kinderreiche Familien betriebe.Wir müssen sehen, daß der einzelne bei der Aufgabe, sich angemessenen Wohnraum zu verschaffen, nicht dem Marktregulans von Angebot, Nachfrage und Preis überlassen bleiben darf; denn man kann für eine kinderreiche Familie die Wohnungen nicht handeln wie Austern und Kaviar oder wie Brillanten und Pelzmäntel. Bei Arzneimitteln und Peterwagen, Krankenhäusern und Eisenbahnen fragt niemand zuerst nach dem Preis, sondern zunächst nach der Notwendigkeit. Doch da sich meine Fraktion nicht — wie ihre Vorgängerinnen — nur im Fordern oder als Sprachrohr anderer Gruppen betätigt, möchte ich auch gleichzeitig ein klares und ernstes Wort an die Mieter, an die Nutznießer der größeren Wohnungen richten.
— Ja, die rote Lampe leuchtet, und bei Rot werde ich in der Regel allergisch. — Aber dennoch, wie viele unserer Familien haben einen Wagen, haben ein Auto. Es ist schön, daß wir das geschafft haben. Aber wie viele Familien bezahlen, ohne zu knurren, ohne zu klagen, für dieses „liebste Kind" Auto seit Jahren eine teure Garagenmiete! Ich meine, wir sollten von unseren Mietern verlangen, daß das, was für das Auto längst selbstverständlich ist, für unsere Kinder ebenso selbstverständlich wird.Meine Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung auf, sich an ein Wort zu erinnern, das der langjährige Bundeskanzler und Gründer der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Konrad Adenauer, einmal in diesem Hause gesagt hat:Es kann keine gesunden Familien geben, keine gesunde und frohe Jugend, keine Stetigkeit, wenn nicht alle Menschen eine gute und gesunde Wohnung haben.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Lepsius.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte noch einmal auf den Gesamtzusammenhang zurückkommen, der durch den Bericht über die Lage der Familie gegeben ist. Dieser Bericht ist natürlich auch im Zusammenhang mit den umfassenden Bemühungen der SPD/FDP-Koalition zu sehen, das Familienrecht insgesamt zu reformieren. Hier ist bereits einiges geleistet worden. Wir haben die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters und die kleine Adoptionsreform herbeigeführt. Zur Beratung liegt der Entwurf zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vor, gleichfalls der Entwurf zur Neuregelung des Kindschaftsrechts. Frau Minister Focke hat ja auf diesen Gesamtzusammenhang hingewiesen.Da wir jetzt so in die Einzelheiten gegangen sind, möchte ich doch noch einmal auf einige Stichworte, sozusagen auf das Wertesyndrom zurückkommen, das
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Frau Dr. Lepsiusja im Zusammenhang mit der Familienrechtsreform heute hier im Hause und auch in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielt. Da stehen auf der einen Seite die Stichworte von der Verstoßungsscheidung, der elterlichen Fremdbestimmung, der Ehe auf Zeit und auf der anderen Seite das Idol der Partnerschaft, das für die CDU jetzt sozusagen die neue Zauberformel beinhaltet. Für uns ist das immer schon ein anerkannter Begriff gewesen, den wir jetzt in das Familienrecht umzusetzen versuchen. Interessant ist hierbei allerdings, daß wir es nicht nur hier im Hause mit einer breiten Diskussion zu tun haben, sondern daß sich auch in der Öffentlichkeit, eigentlich von den materiellen Inhalten entfernt, eine plakative Diskussion abspielt, die darauf hinzielt, diese Regierungskoalition insgesamt zu denunzieren und sozusagen als den eigentlichen Wertezerstörer in unserer Gesellschaft hinzustellen.
Ich muß dies jetzt einmal feststellen, weil auch heute wiederum diese Schlagworte gefallen sind, weil auch heute wieder so getan worden ist, als ob vor allen Dingen die SPD von dem Grundsatz der dauerhaften Ehe, der Ehe auf Lebenszeit abrücken würde, und weil immer verschwiegen wird, daß für uns das geltende Recht unberührt bleibt und bestehenbleibt. Warum eigentlich wird dies immer verschwiegen? Wird es verschwiegen, damit die CDU/ CSU hier als Retter der Ehe erscheint?Ich stelle diese Frage auch gerade im Hinblick auf die Ausführungen von Frau Wex, die hier diese Balkendiskussion auch wieder aufgegriffen hat. Frau Wex hat uns unterstellt, daß unsere Gesetzesvorhaben zu einer Schwächung und Untergrabung der Institutionen Ehe und Familie beitragen würden. Sie haben uns ganz klar antifamiliäre Tendenzen im Ehe- und Familienrecht vorgeworfen, desgleichen für den Gesetzentwurf zur Neuregelung der elterlichen Sorge. Dabei erschien es mir bemerkenswert, daß Sie sich weniger an Details hielten, sondern daß Ihnen der ideologische Überbau wichtiger war.
Frau Kollegin, würden Sie der Frau Kollegin Wex eine Zwischenfrage gestatten?
Ja, gerne!
Frau Lepsius, da Sie ja eine Frage gestellt haben, wollen Sie sicher auch eine Antwort haben. Ich bin allerdings nicht ganz sicher, ob Sie diese Antwort in der Frage, die Sie gestellt haben, auch — —
Frau Kollegin, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt die Zwischenfrage stellen würden.
Die Frage heißt: Welche Unterstellung können Sie zurückweisen, wenn ich sage, daß Sie die Ehe auf Lebenszeit nicht als eine grundsätzliche Aussage in allen ihren Teilen bejahen, wo doch in der Konferenz der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen die eheliche Gemeinschaft auf Lebenszeit zu den negativ apostrophierten überlieferten Leitbildern gehört und Sie nicht bereit sind — —
Frau Kollegin, jetzt machen wir erst einmal ein Fragezeichen, damit die Frage beantwortet werden kann.
Frau Wex, Sie unterliegen wieder einem Denkfehler. Ich rede hier von dem Ehe- und Familienrecht, ich rede von dem geltenden Recht, das unverändert bleibt, und dann kann man zusätzlich noch davon sprechen, daß auf einem Bundeskongreß der SPD die Formulierung — und zwar von allen — akzeptiert wurde, daß die Ehe eine auf Dauer gerichtete Institution ist. Ich weiß, daß Sie das immer noch nicht zur Kenntnis genommen haben und daß Sie hier einen persönlichen Streit mit Frau Eilers führen; aber ich würde Sie doch bitten, dies einmal nachzulesen.Aber mir geht es jetzt um eine ganz andere Sache, gerade weil Sie hier diese große Gesamtschau versucht und so viele hohe Worte gesprochen und eine noch höhere Warte eingenommen haben. Ich möchte feststellen, daß Partnerschaft nicht nur zu proklamieren ist, sondern daß man sie in Gesetzen durchsetzen muß. Auf der einen Seite gibt es Modelle; Sie haben Ihr Partnermodell, Ihre Partnerschaftsrente. Auf der anderen Seite gibt es gesetzliche Schritte, und da sind wir ja mitten drin. Bei der Einführung des neuen Rechtsinstituts zum Rentensplitting, dem Versorgungsausgleich, werden wir hier im Hause noch sehen, wie ernst es den Abgeordneten in allen Fraktionen mit der Partnerschaft Ist. Ich kann nach diesen Reden eigentlich davon ausgehen, daß der Versorgungsausgleich jetzt über die Runden geht und völlig unumstritten sein wird.
Wenn Sie aber, Frau Wex, heute morgen die große Kühnheit besessen und behauptet haben, die SPD habe sich jetzt den Vorstellungen der Partnerrente der CDU angenähert, dann hat das — das muß ich nun einmal sagen — mit Wahrheit nichts mehr zu tun. Die Wahrheit ist: Sie schmücken sich mit fremden Federn. Die Wahrheit ist vielmehr: Sie als Person haben ja an den Beratungen zum Versorgungsausgleich, zum Rentensplitting, im Arbeitsausschuß und im Unterausschuß für Familienrecht niemals teilgenommen.
Gleich. — Die Wahrheit ist auch: Sie haben unter dem neuen Namen „Partnerrente" ein altes Konzept der Regierungskoalition zum Rentensplitting der Anwartschaften auf die soziale Alterssicherung verkauft. Sie spekulieren dabei auf kurzes Erinnerungsvermögen. Wir aber wollen bei der Wahrheit bleiben.
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Frau Abgeordnete Dr. Lepsius, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Wex?
Bitte!
Frau Lepsius, sind Sie bereit zurückzunehmen, daß das mit Wahrheit nichts mehr zu tun hat — denn ich halte das für die Auseinandersetzung für sehr ungeeignet —, stimmen Sie mir zweitens zu, daß Herr Glombig unseren Vorstellungen von der Partnerrente insofern zugeneigt hat, als er den Ehegattenzuschlag unterstützt hat, geben Sie drittens zu, daß das immerhin eine Idee ist, die von Ihnen bisher nirgends sonst vertreten worden ist, und viertens — —
Frau
Kollegin, ich wäre Ihnen doch dankbar, wenn Sie im Laufe des Jahres der Frau einmal einen Blick in die Geschäftsordnung werfen würden, damit ich in einem solchen Jahr nicht noch einmal in die schwierige Lage gerate, Sie unterbrechen zu müssen.
Frau Wex, ich muß nach Ihren Fragen jetzt allerdings auch wieder zur Wahrheit zurückkehren. Erstens hat ja die FDP seit Jahren die sogenannte Hausfrauenrente, Rentensplitting, proklamiert. Zweitens — um wiederum bei der Wahrheit zu bleiben — hat die SPD das Rentensplitting im Versorgungsausgleich als den Grundriegel angesehen, der für eine künftige Neuordnung der eigenständigen Sicherung der Frau zu gelten hat. Drittens aber bleibt es dabei, daß wir ein Gesetz vorgelegt haben und dabei sind, es zu verabschieden — mit Ihrer Hilfe, wie ich hoffe und wie ich heute dieser Diskussion entnehmen zu können glaube.
Frau Abgeordnete Dr. Lepsius, der Herr Abgeordnete Erhard möchte eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie auch diese Zwischenfrage?
Ja, wenn mir das nicht von der Redezeit abgezogen wird.
Nein,
Frau Kollegin, die Zwischenfragen werden nicht mitgerechnet.
Könnten Sie uns dann gleichzeitig sagen, Frau Kollegin, warum Sie das Frauenrecht, das sich aus dem Rentensplitting ergibt, nur auf die geschiedene Frau beziehen wollen?
Das ist aber jetzt ganz schlecht. Lieber Herr Kollege, ich werde jetzt gerne
— Ich beschäftige mich jetzt damit.
Zunächst einmal möchte ich feststellen, daß Sie Anträge vorgelegt haben, über die ich mich immer wundern mußte. Sie haben nämlich die Beratungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung über das längst überfällige Kapitel der sozialen Sicherung einer besonders schutzwürdigen Gruppe — der geschiedenen Frauen — zum Anlaß genommen, erneut mit dem Verfassungsgericht zu drohen.
In zwei Anträgen, Herr Kollege Erhard, haben Sie gegen die Einführung des Versorgungsausgleichs verfassungsrechtliche Einwände geltend gemacht. Erstens sei es mit dem Grundgesetz, vor allem mit dem Gleichheitsgrundsatz, nicht vereinbar, daß die Tätigkeit einer Ehefrau im Falle der Scheidung zu eigenen Ansprüchen in der Sozialversicherung führe, beim Fortbestehen einer Ehe jedoch nicht. Sie haben gesagt, damit würde die geschiedene Ehefrau den verheirateten Ehefrauen bevorzugt. Außerdem haben Sie einen zweiten Antrag vorgelegt, in dem Sie die sofortige Einführung einer eigenständigen sozialen Sicherung für Frauen in bestehenden Ehen verlangt haben.Nun muß ich Sie angesichts der Schwierigkeiten der Beratungsmaterie, über die sich die mit der Sache befaßten Abgeordneten und die, die mit uns kooperieren, sehr wohl im klaren sind, allerdings fragen: Was wollen Sie eigentlich mit diesen Anträgen? Merken Sie denn gar nicht, wie zynisch solche Anträge angesichts der sozialen Lage der geschiedenen Frauen und ganz besonders angesichts der sozialen Lage der geschiedenen Frauen im Alter sind? Dies ist der Ausgangspunkt.Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom März zur Hinterbliebenenversorgung hierzu nun einige Ausführungen gemacht. Es hat den Gesamtzusammenhang wiederhergestellt, der mit der Ehe- und Familienrechtsreform gegeben ist. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich auf diesen Zusammenhang mit den Plänen der Bundesregierung zum Aufbau einer eigenständigen sozialen Sicherung der Frau in der Rentenversicherung abgestellt. Es hat darüber hinaus darauf hingewiesen — dies ist im Hinblick auf Ihre Anträge wichtig —, daß langfristige Vorarbeiten zur Lösung dieser vielschichtigen gesellschaftlichen, sozialpolitischen und finanziellen Fragen notwendig sind.Nun ist es jedem, der im Ausschuß mit dieser Materie zu tun hat, hinlänglich bekannt, daß eine grundlegende Neuordnung der Hinterbliebenenversorgung und auch der eigenständigen Sicherung der Frau nicht über den Steigbügel der Reform des Ehe- und Familienrechts erfolgen kann. Dies kann ja überhaupt nicht strittig sein. Insofern ist es mir wiederum rätselhaft, wieso Sie überhaupt verlan-
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Frau Dr. Lepsiusgen können, jetzt sofort die eigenständige soziale Sicherung, d. h. die Partnerschaftsrente, einzuführen. Wer solche Anträge stellt und wer der Öffentlichkeit vorgaukelt, daß dieses Ziel schnell zu erreichen sei, hat von den schwierigen sozialversicherungsrechtlichen Fragen keine blasse Ahnung. Oder aber er mißbraucht die längst überfällige Neuordnung der Alterssicherung der geschiedenen Frau zu Propagandazwecken. Nichts anderes, so meine ich, tut die CDU/CSU; denn ihre lockeren und losen Versprechungen im Hinblick auf die Partnerschaftsrente für das Jahr 2000 nutzen den Frauen wenig. Sie nutzen auch den geschiedenen Frauen überhaupt nichts, weil der größte Prozentsatz von ihnen überhaupt keine soziale Sicherung im Alter hat.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, gern!
Frau Lepsius, könnten Sie uns ungefähr sagen, für welche geschiedene Frau im Alter von 40 Jahren nach neuem Recht — nehmen wir an, es tritt im Jahre 1976 oder Anfang 1977 in Kraft — ab wann eine solche eigenständige Rente in Frage kommen kann?
Wenn die Frau wie alt ist?
— Aber klar! Die eigenständige Alterssicherung wird natürlich nicht unterschiedlich von der Alterssicherung der Masse der anderen Arbeitnehmer sein. Sie wird mit 60 bzw. mit 63 Jahren, wenn man die flexible Altersgrenze in Anspruch nimmt, beginnen.
Würden Sie mir zustimmen, daß das dann etwa in das Jahr 2000 fällt?
Nein, hier kann ich Ihnen nicht zustimmen, weil es sich im Scheidungsfall ja nicht nur um 30jährige Frauen, sondern auch um 50jährige, 60jährige Frauen handelt, die zum großen Teil — nämlich zu 80 % — dann erwerbstätig sind, wenn sie geschieden sind, so daß der Gedanke des Rentensplittings, der Anwartschaftsübertragung, der Anwartschaftsteilhabe, des Anwartschaftsausgleichs gerade im Hinblick auf die Frau, die in Rente geht, von ganz entscheidender Bedeutung ist. Ich glaube, darüber sind wir uns aber einig. Oder verstehe ich das falsch?
Sie haben die Möglichkeit, noch eine zweite Zwischenfrage zu stellen.
Sie können gern noch eine Frage stellen.
Frau Kollegin Lepsius, stimmt es, daß die Rentenversicherer in der Anhörung im Arbeits- und Sozialausschuß erklärt haben, daß sie für den Einzelfall frühestens ab 1980 die erforderlichen Berechnungen nach einem solchen neuen Recht vorlegen könnten?
Dies stimmt nicht. Das können Sie aber auch im Protokoll nachlesen.
Ich komme damit zum Schluß. Wir sind jetzt dabei, die Instrumente für eine gesetzliche Neuordnung zu schaffen. Wir alle wissen, daß wir Anfang Juni ein Hearing im Deutschen Bundestag haben werden, in dem eine Reihe von Fragen zu stellen sind. Ich hoffe, daß dabei auch die Opposition Klarheit gewinnt.
Ich möchte aber noch einmal deutlich machen, daß Sie sich jetzt einem bisher von Ihnen traditionell vernachlässigten sozialpolitischen Gebiet der Familienpolitik zugewandt haben.
— Ja sicher!
Ich möchte Ihnen im übrigen auch empfehlen, sich mit Ihrem großen bayerischen Bruder oder Ihrem zweitgrößten Vorsitzenden in Verbindung zu setzen, der ja sehr merkwürdige Äußerungen zur Partnerrente gemacht hat.
— Er hat in seiner Sonthofener Rede einiges gesagt.
— Er hat z. B. sehr deutlich darauf hingewiesen, daß man die Partnerrente einführt und dann den Männern 25 O/0 von der Rente wegnimmt. Das sind all die Dinge, die Peinlichkeiten, über die Sie in der öffentlichen Diskussion ebenso wie über die Gesamtprobleme, die damit verbunden sind, bisher geschwiegen haben.
— Nein, mir liegt ja nichts an Sonthofen. Ich weise nur darauf hin, daß es zwischen der CDU und der CSU unterschiedliche Auffassungen gibt. Das ist aber Ihr internes Problem. Mir geht es darum, zu einer langfristigen Neuordnung zu kommen. Insofern ha-
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Frau Dr. Lepsiusben meine Fraktion und ich immer wieder insbesondere herausgestellt, daß wir froh sind, daß auch bei Ihnen endlich Offenheit gegenüber partnerschaftlichen Vorstellungen herrscht. Wir können hieraus entnehmen, daß die Grundsätze des Versorgungsausgleichs bei der großen Familienrechtsreform nicht umstritten sein werden.
Das
Wort hat Herr Abgeordneter Braun.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich darf noch kurz einige Anmerkungen zu unserer Großen Anfrage machen, und zwar konkret zu ,den Fragen 1 bis 3. Hier geht es um den enormen Geburtenrückgang und die sich hieraus ergebenden Probleme und Konsequenzen.Man muß feststellen, daß die Antwort, die uns die Bundesregierung hier erteilt hat, einfach enttäuschend ist und an den Problemen vorbeigeht. Wir hatten gehofft, auf konkrete und auch brennende Fragen von der Bundesregierung konkrete Antworten zu bekommen. Wir sind nach wie vor der Meinung — daran hat auch die Antwort, die wir bekommen haben, nichts geändert —, daß eine der Ursachen für den Geburtenrückgang die mangelnde Fürsorge des Bundes für die Familien mit Kindern ist. Man könnte hier sicherlich einige Jahre zurückgreifen und daran erinnern, wie diese Koalition, die SPD und die FDP, in den Jahren 1970 bis 1974 immer wieder unsere Anträge auf Erhöhung des damaligen Kindergeldes abgelehnt hat.
Man könnte auch vorrechnen, welche Nachteile durch diese ablehnende Haltung der Koalition den Mehrkinderfamilien entstanden sind.
Meine Damen und Herren, bei diesen Ablehnungen unserer Anträge, für die wir auch die entsprechenden Deckungsvorschläge gebracht haben
— wir haben nicht nur beantragt, sondern auch gesagt, wie zu finanzieren ist —, wurden wir immer darauf verwiesen, daß eine Steuerreform — heute muß man sagen: eine sogenannte Steuerreform — in Aussicht steht und danach alles, alles anders werden sollte.Aber auch nach dem neuen Kindergeldsystem, das am 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, ist die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Mehrkinderfamilie nicht wesentlich günstiger geworden.
Noch immer liegt ein großer Teil der Familien mit Kindern an der Grenze, wo Sozialhilfe in Anspruch genommen werden kann, ja, besser gesagt, in Anspruch genommen werden muß. In Anbetracht der Kürze der Zeit möchte ich hier kein Beispiel brin-gen, sondern nur darauf hinweisen, daß heute ein Familienvater — Alleinverdiener — mit drei Kindern bereits mit einem Bruttoarbeitseinkommen von 1 850 DM berechtigt ist, Sozialhilfe zu beantragen. Insofern hat sich also auch nach dem 1. Januar dieses Jahres für die Mehrkinderfamilie nichts wesentlich geändert. Die wirtschaftliche Situation ist nach wie vor schlecht.Meine Damen und Herren, in unserer Frage 2 hatten wir gefragt, welchen Beitrag die Bundesregierung leisten kann, damit die Zahl der Geburten nicht weiter sinkt. Die Bundesregierung vertritt in ihrer Antwort die Auffassung, daß auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse der Zeitpunkt zum Einsatz direkter bevölkerungspolitischer Maßnahmen noch nicht gekommen sei. Hier müssen wir allerdings weiter fragen: Wann wird dann nach Auffassung der Bundesregierung dieser Zeitpunkt gekommen sein?
Nach den für 1973 und 1974 vorliegenden Daten schrumpft die Bevölkerung des Bundesgebietes um rund 100 000 Personen jährlich. Aber auch die Geburtenentwicklung in den ersten drei Monaten dieses Jahres läßt die Tendenz erkennen, daß die Geburtenzahlen noch weiter zurückgehen. Mit einer Geburtenzahl von 150 491 von Januar bis März dieses Jahres lag die Zahl der Lebendgeborenen um 4 % niedriger als die Vergleichszahlen des Vorjahres.Meine Damen und Herren, wir sind der Meinung, daß auf Grund dieser Zahlen bereits jetzt Maßnahmen notwendig sind. Einige solcher konkreten Maßnahmen haben meine Kolleginnen und Kollegen vorhin hier aufgezeigt. Dominierender Faktor dürfte aber nach wie vor die insgesamt unzureichende Berücksichtigung der materiellen Bedürfnisse der Familien mit Kindern sein.Vorhin ist, nicht zuletzt auch von Herrn Kollegen Marschall, über den Begriff „Bevölkerungspolitik" gesprochen worden. Lassen Sie mich hier in aller Deutlichkeit folgendes dazu sagen. Ich glaube, wir wissen alle, mit welcher Hypothek aus den unseligen Zeiten des Dritten Reiches das Wort „Bevölkerungspolitik" belastet ist. Trotzdem bin ich der Meinung, daß wir auf bevölkerungspolitische Konzepte nicht verzichten dürfen,
wobei wir uns darin einig sein sollten, daß Bevölkerungspolitik bedeutet, die Entwicklung der Bevölkerungszahl und der Bevölkerungsstruktur in die politische Willensbildung miteinzubeziehen.
Meine Damen und Herren, wir dürfen ebenfalls nicht übersehen, daß heute allüberall mit großer Sorge die Frage diskutiert wird, welche Folgen der Geburtenrückgang insbesondere für die Altersversorgung der heute im Erwerbsleben stehenden Generation hat. Es ist sicherlich zu einfach und keineswegs beruhigend, wenn die Bundesregierung kurz feststellt — ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung —: „Grundsätzlich wird sich der Geburten-
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Braunrückgang nicht zwangsläufig nachteilig auf die Altersversorgung der heutigen Beitragszahler auswirken." Aber, meine Damen und Herren, hier geht es nicht nur um die Altersversorgung der heute im Erwerbsleben Stehenden, sondern wir müssen hier auch konkrete Zahlen, konkrete Unterlagen für weitere Bereiche haben. Insofern darf ich hier auf unsere Entschließung eingehen der Entwurf ist Ihnen vorgelegt worden — und insbesondere die Begründung zu Ziffer II dieser Entschließung geben, wo wir erwarten und beantragen, daß uns „Modellrechnungen über die Entwicklung der Wohnbevölkerung und Altersschichtung für die Jahre 2000, 2030 und 2070 ohne Berücksichtigung von Wanderungsbewegungen über die Auslandsgrenzen" vorgelegt werden.Meine Damen und Herren und insbesondere Herr Kollege Marschall, wenn wir mit unserem Antrag bis ins Jahr 2070 vorgreifen, so hat das nichts mit Beschäftigungstherapie zu tun. Wir halten es vielmehr für notwendig, daß wir für einen solchen Zeitraum konkrete Unterlagen, konkretes Material bekommen, und zwar aus folgendem Grund. Einige Länder haben nebenbei derartige Erhebungen bereits durchgeführt. Die Bundesregierung, die auf diesem Gebiet eine besondere Verantwortung trägt, sollte deshalb diese Erhebung ebenfalls schnellstens durchführen, u. a. deshalb, weil die Gemeinden schließlich für einen längeren Zeitraum planen müssen; ich darf hier nur an das Gebiet des Schulbaus erinnern. Für diesen Zweck, für diese Aufgabe ist es einfach notwendig, daß hier konkrete Zahlen vorgelegt werden.Wenn wir von Wohnungsbau sprechen — HerrKollege Sauer hat soeben darauf hingewiesen —, dann gehen wir davon aus, daß die Wohnungen, die heute erstellt werden, ja rund 100 Jahre bewohnbar sein müssen, so daß wir also auch mit den Wohnungen, die wir heute bauen, mindestens in das Jahr 2070 vorgreifen.Schließlich noch ein Letztes, für das wir ebenfalls diese Zahlen und Unterlagen benötigen. Wir bekommen doch fast tagtäglich von den verschiedensten Bürgerinitiativen Briefe, in denen sich eine Initiative beispielsweise gegen den Bau einer Autobahn wehrt. Jeder dieser Briefe beginnt doch mit der Einleitung: Da die Geburtenzahl rückläufig ist, braucht diese Autobahn nicht gebaut zu werden, da auch das Verkehrsaufkommen rückläufig sein wird. Auch für diese Planung, für die Verkehrsplanung brauchen wir also diese Unterlagen, diese Zahlen, deren Darlegung wir hier mit unserem Entschließungsantrag verlangen. An Hand dieser Zahlen können wir dann die notwendigen Beratungen in den zuständigen Ausschüssen durchführen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch kurz auf ein Problem eingehen. Wenn wir über die Situation des Kindes und über die Situation der Kinder in der Bundesrepublik Deutschland sprechen, dürfen wir einen Personenkreis hier nicht vergessen, nämlich die Kinder von Gastarbeitern.
Ich bin erstaunt, daß heute noch keine Redner bzw. keine Rednerin von der SPD oder der FDP auf dieses Problem eingegangen ist.
Rund eine Million Kinder ausländischer Arbeitnehmer leben in der Bundesrepublik Deutschland. Allein im Jahre 1974 betrug die Zunahme rund 123 000. Trotz dieser hohen Zahl von Kindern und Jugendlichen ausländischer Gastarbeiter hat die Bundesregierung bisher noch nicht ihre Zusage verwirklicht, ein Programm „Hilfen für Kinder und Jugendliche in Gastarbeiterfamilien" in den Bundesjugendplan aufzunehmen. Die Bundesregierung drückt sich hier meines Erachtens vor ihrer Verantwortung, wenn sie in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage — ich zitiere aus der Antwort — sagt:Den Kindern ausländischer Arbeitnehmer werden von den Gemeinden, Wohlfahrts- und Jugendverbänden und privaten Initiativgruppen im Rahmen der Jugendhilfe und der außerschulischen Jugendbildung vielfältige Angebote gemacht.Die Gemeinden und Gemeindeverbände haben hier in der Vergangenheit trotz ihrer mangelnden Finanzausstattung wirklich Erstaunliches geleistet.
Gerade im Rahmen dieser Debatte sollten wir den Gemeinden, vor allen Dingen aber auch den karitativen Verbänden und den Jugendorganisationen für die bisher geleistete Arbeit und Mitarbeit für Kinder ausländischer Arbeitnehmer danken.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.1 Hier sollte sich die Bundesregierung nicht darauf beschränken, auf andere zu verweisen, sondern endlich wahrmachen, was sie versprochen hat: das Programm für Kinder und Jugendliche in Gastarbeiterfamilien schnellstmöglich in den Bundesjugendplan aufzunehmen und mit Vorrang auszubauen. Die Regierung ist am Zuge. Wir von der CDU/CSU sind zu konstruktiver Mitarbeit bereit.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Timm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, die Debatte nähert sich ihrem Ende. Wenn ich mir noch einmal ein bißchen vergegenwärtige, was wir heute so in insgesamt, glaube ich, sieben Stunden über den sehr, sehr wichtigen Themenkreis der Situation der Kinder in der Bundesrepublik und — im Zusammenhang damit der Situation der Familie und der Leistungen für die Familie besprochen haben, glaube ich, daß die Vielfalt der Probleme sehr deutlich geworden ist, aber auch — das wurde bei allen Debattenrednern deutlich — der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Politiken, die so oft in Ressorts aufgeteilt werden.
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Frau Dr. TimmIch darf für meine Fraktion den Dank an Frau Bundesminister Focke dafür aussprechen, daß sie in ihrer Darlegung heute morgen die konzeptionelle Auffassung im Sinne einer Gesamtfamilienpolitik deutlich gemacht hat.Ich möchte insbesondere Frau Kollegin Wex bitten, das doch noch einmal nachzulesen. Sie sagte in mehreren Sätzen ihrer Rede, es sei kein Konzept vorhanden. Unbewiesene Behauptungen, die sich durch das, was gesagt wurde, sogar noch widerlegen lassen, werden durch Wiederholungen nicht wahrer, Frau Wex. Sie können es zwar weiter behaupten, aber vielleicht wäre es ganz gut, Sie läsen es noch einmal. Genau Ihre Forderungen am Schluß Ihrer Rede, die verschiedenen Politiken in einer familienpolitischen Konzeption zusammenzufassen, finden Sie in der Konzeption der Bundesregierung verwirklicht.
Frau
Kollegin Timm, würden Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Wex zulassen?
Sind Sie bereit, zuzugeben, daß ich die Kritik der Wissenschaftler an der Politik der Bundesregierung zitiert habe, die zum Inhalt hat, es bestehe keine Gesamtkonzeption der Familienpolitik der Regierung?
Sie haben sich wesentlich mit der Kritik der Wissenschaftler identifiziert, also darf ich Sie doch wohl als diese Meinung vertretend hier zitieren. Ich bitte Sie dennoch, es noch einmal nachzulesen. Es gibt ja auch andere Auffassungen, die in bezug auf den Kommissionsbericht, den Familienbericht, aus Ihrer Fraktion heute vorgelegt wurden. Vielleicht sollten Sie doch versuchen, in Ihrer Fraktion untereinander erst einmal eine gewisse Einheitlichkeit auch in bezug auf ganz konkrete Vorschläge — oder das, von dem Sie meinen, es seien konkrete Vorschläge — herzustellen.
Frau Wex, Sie haben die Frage des Erziehungsgeldes wieder sehr in den Mittelpunkt Ihrer Rede gestellt. Sie haben es nicht im Detail dargelegt, Sie haben die hehren Zielvorstellungen dargelegt. An den Zielvorstellungen ist überhaupt gar nichts zu rütteln. Sie haben nicht gesagt, für wen nun konkret dieses Geld sein soll. Sie haben gesagt, wir wüßten alle, daß es jüngeren berufstätigen Müttern große Schwierigkeiten mache, für ihre Kinder dazusein. Würden Sie mir bitte sagen — und darin liegt doch die Schwierigkeit —, ob 300 DM in der Tat reichen, solche Mütter in den Stand zu setzen, bei ihren Kindern zu bleiben? Das ist doch die Frage: Ist es zuviel, oder ist es nicht genug? Für wen soll es gelten? Wie soll es gestaffelt sein?
Sie bleiben auch die Antwort auf die Frage schuldig — und das dürfen Sie als Parlamentarierin eigentlich nicht : Woher soll das Geld eigentlich kommen?
Deshalb hat der Haushaltsausschuß, dem immerhin
ein Kollege aus Ihrer Fraktion vorsitzt, auch gefunden, daß man sich mit dieser Sache so nicht beschäftigen kann.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Wex?
Wir machen keine Nacht-und Nebelaktionen. Was soll denn der Zwischenruf, Herr Kollege? Das ist doch Unsinn!
Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich hier nicht alleine irgendwelche Vorstellungen entwickelt habe, sondern daß dem Parlament ein Gesetzentwurf vorliegt, den Sie wohl auch mit der Begründung lesen können?
Frau Wex, Ihr ganzes Konzept der Rede, wenn ich es recht verstanden habe, drehte sich um das Erziehungsgeld; das war die Rettung in der großen Not.
— Entschuldigen Sie, Herr Rollmann, lassen Sie mich mal aussprechen! — Wie es sich konkret darstellt, wurde nicht gesagt, kommt auch in Ihrem Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck.
— Frau Wex, Sie sind sich klar darüber — wir alle zusammen sollten uns darüber klar sein —, daß das ein Gießkannen-System wäre; Familien und Frauen sollen das kriegen. Und dann verlangen Sie mit den Wissenschaftlern zu Recht die Möglichkeit einer gewissen Effizienzkontrolle. Wie wollen Sie denn das überhaupt noch schaffen bei diesem Erziehungsgeld, das Sie da vorschlagen? Nein, Frau Wex! Wir werden uns ja in den Ausschüssen und im Plenum noch im einzelnen damit beschäftigen.
So wie nur dieses eine Problem von Ihnen hier mit dem großen Anspruch vorgestellt wurde, muß ich sagen: Pathos ohne konkrete, ohne wirkliche Fleischbeigabe, ohne das, was notwendig ist.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rollmann?
Ja, bitte.
Frau Dr. Timm, sind Sie nicht der Meinung, daß die von uns vorgeschlagenen Sätze von 300 bis 700 DM Erziehungsgeld im Monat
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Rollmannsozial gestaffelt, plus das, was nach dem Bundessozialhilfegesetz gezahlt werden könnte, insbesondere eine alleinstehende Mutter in die Lage versetzen würde, bei ihrem Kind zu sein und nicht berufstätig sein zu müssen?
Vielleicht, Herr Rollmann. Wir müssen das noch einmal nachprüfen.
Der Grundgedanke — ich habe vorhin von den hehren Zielsetzungen gesprochen — ist ja ohnehin etwas, was Sie aus unserem familienpolitischen Programm abgeschrieben haben.
Darüber haben wir ja schon häufiger gesprochen. Aber das ist egal; die Verwirklichung ist ja viel schwieriger.
Und darauf möchte ich doch noch einmal kommen: Jedesmal, wenn es an die konkrete Verwirklichung von Ansätzen geht ich erinnere, wie auch schon Frau Funcke, an den Herbst 1972, als es darum ging, zum erstenmal eine gesellschaftspolitische Leistung von Frauen, nämlich ihre Kindererziehung, anzuerkennen und zu honorieren, indem man ihnen über das Baby-Jahr ein Stück auf ihre Rente — —
— Entschuldigen Sie! Lassen Sie mich doch einmal ausreden! Sie hören ja gar nicht zu; Sie sagen das einfach.
Hier ist das Grundprinzip zum erstenmal angepackt worden,
und Sie haben es abgelehnt. Wir werden sehen
Frau Lepsius hat vorhin darüber gesprochen —, wie Sie sich bei der konkreten Beschlußfassung hinsichtlich eines Versorgungsausgleichs, bei einer Gesetzgebung, der wirklich Partnerschaft zugrunde liegt, dann verhalten werden.
Frau Abgeordnete Timm, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Rawe?
Wenn es sein muß.
Frau Kollegin, ich sehe zwar nicht den Zusammenhang, den Sie jetzt hergestellt haben; aber wenn Sie das Baby-Jahr für so gut gehalten haben, warum sind Sie dann, nachdem Sie
jetzt in der Mehrheit sind, mit Ihrem Vorschlag nicht erneut gekommen?
Sie wissen ganz genau, daß das Geld verbraucht war. Das war ein ganzes Paket von fünf Teilen der Rentenreform.
Sie wissen das zu genau. Lassen Sie uns nicht mehr darüber streiten! Das ist Unsinn. Aber genau den Teil, der hier gesellschaftspolitisch für die Frauen und im Hinblick auf einen allmählichen Aufbau einer eigenständigen Sicherung der Frauen notwendig gewesen wäre, den haben Sie uns verbaut. Darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel.
Die Frauen wissen es im Lande draußen auch ganz genau.
So ähnlich ist es — ich will nicht mehr in Einzelheiten gehen, aber ich mußte einfach auf einige dieser Fragen hinweisen —, wenn es an die konkrete gesetzgeberische Verwirklichung geht. Dann verwehren Sie uns die Zustimmung.
Da haben Sie uns etwas kaputtgemacht.Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: In der Frage Erziehungsgeld, Partnerrente usw. sollten Sie doch zuerst einmal versuchen, in Ihrer Fraktion eine einheitliche Meinung zu bilden. Ich will jetzt nicht unbedingt noch einmal Sonthofen zitieren,
Aber Sie wissen, wie schwierig es ist, mit Ihrer Partnergruppe der CSU in diesen Fragen zu Rande zu kommen. Lesen Sie den betreffenden Teil noch einmal durch, Frau Wex, und Sie werden merken, wie hoch Kinderpsychologen im Sinne von Herrn Strauß eingeschätzt werden.
Es ist einfach so, und man darf das hier wohl auch sagen. Frau Schleicher, Sie werden damit auch Ihre Schwierigkeiten haben.Ich möchte jetzt aber doch noch etwas zu einer Sache sagen, die mich wirklich entsetzt hat: die Behauptung von Frau Wex, in den beiden großen Ansätzen der Reform der elterlichen Sorge und des gesamten Reformwerks des Familien- und Eherechts würden antifamiliäre Tendenzen deutlich. Sie hat dieses harte Wort nur mit zwei Schlagworten belegt. Frau Wex, ich weiß nicht, wie verantwortlich Sie
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Frau Dr. TimmIhre eigenen Aussagen nehmen und wie wir das eigentlich noch auffassen sollen.Das eine Schlagwort war die Fremdbestimmung von Kindern. Genau an demselben Morgen diskutieren wir hier auf Grund Ihrer Großen Anfrage die Schwierigkeit, daß Kinder in Familien mißhandelt und getötet werden. Gibt es dieses Problem, daß auch Kinder fremdbestimmt sind, denn nicht? Es geht bei unserem Reformansatz um die elterliche Sorge und die Stärkung der Verantwortung. Das drehen Sie uns einfach in eine antifamiliäre Tendenz um. Ich verwahre mich im Namen meiner Fraktion dagegen.
Genauso verhält es sich bei dem anderen Schlagwort. Das einzige, was Sie zum Gesamtreformwerk „Familien- und Eherecht", das Sie als antifamiliär titulieren, sagen, ist: Verstoßungsehe. Auch dies müßten Sie nun wirklich nach der langen Diskussion, die wir miteinander hatten, längst begriffen haben. Sie reden von Partnerschaft. Heute war soviel von Partnerschaft in der Ehe und in der Familie die Rede. Überall wollen wir partnerschaftliche Beziehungen. Wir wollen mit diesem Reformwerk die Grundlage dafür schaffen, daß endlich die diskriminierenden Paragraphen aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch, z. B. § 1356 und 1360, hinauskommen. Ist Ihnen das gar nicht wert, darauf einzugehen und daraus dann allerdings auch all jene Konsequenzen zu ziehen, die beispielsweise in einem Konfliktfall wie der Ehescheidung zu ziehen sind?
Frau Ab-
geordnete, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Stark?
Frau Kollegin Timm, verstehe ich Sie richtig, daß Sie der Meinung sind, daß ein Hauptanliegen der Neuordnung des elterlichen Sorgerechts nach dem Entwurf der Bundesregierung die Beseitigung der Fremdbestimmung von Kindern durch ihre Eltern sein soll?
Herr Stark, das ist ja ganz dumm; entschuldigen Sie, wenn ich das so sage. Ich habe das eben gesagt: Es geht um die Stärkung der elterlichen Sorge und Verantwortung zum Schutze und zur Gewährleistung der Rechte auch der Kinder. Daß es hier Konfliktfälle gibt, hat doch die heutige Debatte mehr als deutlich gezeigt.
Gestat-
ten Sie eine weitere Zusatzfrage.
Frau Dr. Timm, kennen Sie den Entwurf zur Neuregelung des elterlichen Sorgerechts? Hier steht schon auf dem Deckblatt und noch weitere dreimal in der Begründung, das Hauptanliegen sei die Beseitigung der Fremdbestimmung der Kinder durch ihre Eltern.
Ich bin nicht sicher, Herr Kollege Stark, ob Sie bei der ersten Lesung dabeigewesen sind.
Dann würde ich Sie bitten, die Rede von Frau Lepsius zu dieser ersten Lesung noch einmal nachzulesen. Da steht es nämlich ganz genau. Dann brauchten Sie solche Frage, die nun wirklich wieder eine Unterstellung von Absichten und Zielsetzungen darstellt, nicht mehr zu stellen.
Ich bitte Sie wirklich sehr herzlich darum, sonst wiederholen wir uns immer.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch einiges zu dem Entschließungsantrag sagen. Es ist ja nicht im einzelnen darauf eingegangen worden. Ich bin nicht ganz sicher, ob nicht die einzelnen Redner der CDU/CSU, die hier heute gesprochen haben, alle jeweils ihre Forderungen dort hineingebaut haben und ob es überhaupt irgend jemanden in Ihrer Fraktion gibt, der das ganze Ding einmal zusammenhängend gelesen hat.
Was Sie da von der Regierung alles an Berichten,Statistiken usw. bis zum 31. Dezember 1975 fordern
meine Damen und Herren, ich meine das sehr ernsthaft —, das heißt im Grunde schon, mit der eigentlichen Sache und mit den Kräften, von denen Sie und wir alle wollen, daß sie Politik machen und die Gesetze vorbereiten, Schindluder zu treiben.
Die sollen sich jetzt also nur noch mit Berichten beschäftigen. Mir kommt es schon fast vor — ich will Ihnen die Absicht nicht unterstellen, aber es ist in der Auswirkung so — wie eine Blockierung der Tätigkeit von Ministerien.
Ich bitte Sie, sich das sehr genau zu überlegen.
— Ich bin sicher, Sie haben das, was Sie da alles wollen, gar nicht gelesen; vielleicht war es nur Herr Rollmann, der alles gelesen hat.
Dann, wenn das so ist, bestätigt es allerdings — was ich als Absicht nicht unterstellen würde — leider meine Befürchtungen.
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Frau Dr. TimmMeine Damen und Herren, wir werden uns im Ausschuß sehr genau und sehr kritisch gerade auch mit dem, was hier sinnvollerweise an Berichten verlangt werden kann und sollte, beschäftigen müssen.
Wir werden einem Überweisungsantrag nicht widersprechen; aber so sollte man mit dieser wichtigen Materie und mit denen, die daran arbeiten, nicht umgehen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Burger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gleich bei dem von Ihnen apostrophierten Entschließungsantrag beginnen, Frau Kollegin Dr. Timm. Wir haben uns schon Gedanken gemacht, bevor wir ihn formuliert haben; wir haben in den Arbeitskreisen und in der Fraktion sorgfältig darüber diskutiert.
Er ist natürlich umfangreich, aber wir — alle Redner der Opposition, die ja heute zu sehr unterschiedlichen Themen Stellung genommen haben — haben ihn durch unsere Diskussionsbeiträge sorgfältig abgedeckt. Das, was wir hier beantragen, soll ja zum Ergebnis haben, daß wichtige Entscheidungen durch die Entscheidungshilfen dieser Statistiken und dieser Gutachten, die die Bundesregierung beibringen soll, vorbereitet werden können.Die Redner der Regierungskoalition haben immer wieder gesagt: Es ist wenig Geld da.
Nun, Frau Timm, wenn wenig Geld da ist, müssen Prioritäten gesetzt werden. Wenn Prioritäten gesetzt werden sollen, muß man auf Grund guter und sachlicher Unterlagen wissen, welche Prioritäten man setzen will. Deshalb haben wir diesen Entschließungsantrag vorgelegt, und deshalb beantrage ich Überweisung an den Ausschuß.Dieser Familienbericht und die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage haben sicherlich viele Probleme aufgeworfen. Zur Lösung und Abklärung dieser Probleme soll auch der Entschließungsantrag beitragen, er soll weitere Informationen beibringen.Nun, meine Damen und Herren, mit 18 Rednern haben wir heute sieben Stunden lang über Familienpolitik diskutiert. Ich glaube, es war der Sache angemessen, daß sich der Bundestag diese Zeit genommen hat.
Es ist der zweite Familienbericht, es ist die zweite Große Anfrage. Ich darf feststellen, daß im Pro und Kontra gute Gedanken vorgetragen und interessante Vorstellungen entwickelt worden sind.Aber über eines müssen wir als Fraktion milde lächeln: wenn uns Frau Funcke mit Hilfe von Schiller-Zitaten ein romantisches, gefühlsbetontes Familienbild unterschieben will. Meine Damen und Herren, unsere Vorstellung von dem, was Familie ist, ist zeitnah, und manches, was wir bisher, in den letzten Jahren, vertreten haben, was dann und wann einmal milde belächelt worden ist, ist heute durch Ergebnisse insbesondere der Verhaltensforschung eigentlich unterstrichen worden; ich denke hier vor allen Dingen an die Begründung für das Erziehungsgeld.Die Frau Kollegin Dr. Lepsius hat uns unterstellt, wir hätten die Familienpolitik vernachlässigt. Ich möchte sie fragen, ob sie nicht weiß, daß ihre Fraktion in der Oppositionszeit niemals, um nur ein Beispiel zu nennen, Kindergeldanträge gestellt hat, die über das hinausgingen, was wir damals, in diesen kargen 50er und 60er Jahren geben konnten.
Es ist angenehm, Frau Dr. Lepsius, von den weichen Sesseln der 70er Jahre aus rückblickend die Konditionen der 50er Jahre zu kritisieren. Sie haben Herrn Kollegen Erhard angeraten, einen Blick ins Protokoll zu werfen. Ich möchte Ihnen sehr freundlich raten und möchte Sie herzlich darum bitten, auch einmal den Familienbericht zu lesen. Hier steht enorm viel Kritisches über die Familienpolitik der derzeitigen Bundesregierung,
und wir haben es sorgfältig gelesen.Herr Spitzmüller hat recht, wenn er sagt, daß im Pro und Kontra nicht alles abgeklärt werden konnte. Ich möchte in aller Kürze noch einmal auf einige wichtige Punkte, die noch widersprüchlich sind, eingehen. So stellt die Sachverständigenkommission z. B. fest — und dies ist wichtig —, daß die schematisch gleichen Leistungen der neuen Kindergeldregelung den ungleichen Gegebenheiten bei den Familien nicht gerecht werden — dies ist ein harter Satz —; es gebe soziale Schichten, in denen sich die Probleme verdichteten. Es wird ausgeführt, die finanzielle Basis sei die Voraussetzung der Sozialisation und der Erziehungsfunktion der Familie. Die Bundesregierung weist ständig darauf hin, daß sie Chancengleichheit verwirklichen wolle. Aber nach Meinung der Gutachter ist ihr dies mit der neuen Kindergeldregelung nicht gelungen. Denn je größer die Familie, um so rapider sinkt das Pro-Kopf-Einkommen. Darüber haben wir nicht viel gehört von der Bundesregierung. Dies ist ein ganz fundamentaler Satz. Um das noch einmal klarzustellen: Die CDU/CSU fordert nicht die kinderreiche Familie, aber sie kämpft für ihre Chancengleichheit.
Ich möchte auch noch einmal auf das Erziehungsgeld eingehen. Der Kommissionsbericht spricht sich grundsätzlich für das Erziehungsgeld aus. Die Bundesregierung sagt, es sei kein Geld da. Damit ist das Problem aber nicht gelöst. Wir sind der Auffassung, daß es auf die Dauer billiger ist, Erziehungs-
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Burgergeld zu zahlen, als die Kleinkinder berufstätiger Eltern in einem Heim zu betreuen oder gar die Kinder versorgen zu müssen, wenn sie lebenslange Schäden davontragen, weil sie in der ersten Lebensphase auf die Mutter verzichten mußten. Nach Auffassung vieler Wissenschaftler zeigt der Vergleich der Entwicklung von Heimkindern und Familienkindern die Vorzüge der Familienerziehung, dies, obwohl die Eltern immer Amateure sind; denn sie haben die Elternschaft ja nicht gelernt. Die Regierung muß in diesem wichtigen Punkt eindeutig Farbe bekennen. Es gibt ja auch die Möglichkeit des Vergleichs mit der Entwicklung in der DDR. Ich weise hier auf den Entschließungsantrag hin. Wir möchten hierzu einen Forschungsauftrag anregen. Denn hier muß Klarheit sein, welche der vielen Möglichkeiten die beste und auch die billigste ist.
Herr Abgeordneter Burger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jaunich?
Bitte, Herr Kollege Jaunich.
Herr Kollege Burger, ist es richtig, daß Sie und Ihre Freunde im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit bei der Beratung des Haushalts keinerlei Anträge zur Aufnahme der entsprechenden Geldmittel für das Erziehungsgeld gestellt haben?
Burger Das ist nicht die Frage. Wir wissen auch, daß man eine solche Konzeption nur stufenweise einführen kann, daß man das nur schrittweise erfüllen kann. Es geht ja zunächst einmal um die grundsätzliche Übereinstimmung, ob dies ein richtiger Weg ist. Dann reden wir darüber, wie das nach und nach realisiert werden kann.
Ein Drittes ist wichtig. Die Regierung spricht von Selbstentfaltung und Eigenverantwortung der Familie. Dem stimmen wir zu. Doch teilen wir die wachsende Skepsis gegen die Intervention staatlicher Organe in Familienangelegenheiten. Unser Ruf nach weniger Staat entspringt nicht einer konservativen Familienideologie, sondern der Erkenntnis, daß Staat und Gesellschaft bislang keineswegs das Kindeswohl garantieren konnten, wenn die Eltern versagt haben.Das Vierte ist die Frage des Zusammenhangs zwischen Geburtenrückgang und sozialem Wohlstand. Hier sind wir skeptischer als Frau Focke, die keine Gefahr für den sozialen Besitzstand infolge des rapiden Geburtenrückgangs sieht. Geburtenrückgang hat zwei Seiten. Auf kurze und mittlere Frist wirkt er wie eine Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens, auf die Dauer aber führt er zu Wohlstandsverlusten. Denn schon in 25 Jahren droht eine Überforderung der Erwerbstätigen. Die Regierung will dieses Problem verdrängen. Wir haben im Entschließungsantrag gerade diesen Punkt sehr sorgfältig angesprochen. Hier legen wir Wert auf Klarheit. Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung? Hat sie eine Vorstellung in der Gastarbeiterfrage? Welche Möglichkeiten sieht sie, dieser Problematik zu begegnen?Noch einmal zur Chancengleichheit! Es gibt benachteiligte Familien. Es sind dies die kinderreichen, die unvollständigen und die Familien mit Behinderten. Der Familienbericht ich darf kurz noch auf das Behindertenproblem zu sprechen kommen — weist auf die besonderen schweren wirtschaftlichen Belastungen einer Familie mit behinderten Kindern hin: Sonderaufwendungen für die Daseinsvorsorge, die eingeschränkte Beweglichkeit der Familie und besonders die Belastung der Mutter. Über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten bei der Mitwirkung an der Rehabilitation scheinen viele Eltern unzureichend informiert zu sein. Hier ist noch viel zu tun, um durch verbesserte Aufklärung Behinderungen zu verhüten oder rechtzeitig zu erkennen. Es ist gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, daß Behinderungen vielfach während der Schwangerschaft, vor und während der Geburt und in der Neugeborenenperiode entstehen. Das Instrumentarium der Früherkennung muß deshalb verbessert werden. Dies gilt für die Schwangerenvorsorgeuntersuchungen und die Vorsorgeuntersuchungen im Kleinkind-alter. Ärzte und Kinderärzte sind hierfür die richtige Anlaufstelle. Rechtzeitige Hilfe bedeutet nicht nur weniger bleibende Schäden, sondern auch eine Verminderung der Säuglingssterblichkeit.Kein Votum gibt die Regierung zu einem kontrovers ,diskutierten Problem. Die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates empfiehlt, daß behinderte Kinder so weit als möglich gemeinsam mit nichtbehinderten Schülern unterrichtet und nicht in Sonderschulen isoliert werden sollten. Andererseits aber steht der Direktor der Kinderklinik in Mainz, Professor Dr. Köttgen, der Forderung einer grundsätzlichen schulischen Integration behinderter und gesunder Kinder kritisch gegenüber. Die ganzen Vorzüge der Sonderschulen wie kleine Klassen, besondere Ausstattungen, speziell ausgebildete Lehrer und gezielte Förderung zur Beseitigung besonderer Schwächen gingen dadurch verloren. Hier sind klare Richtlinien im Interesse einer vernünftigen Planung bald erforderlich. Wir fordern die Bundesregierung hierzu auf.Auf eine besorgniserregende Entwicklung ging die Bundesregierung heute leider nicht ein: Konjunkturrückgang und Mangel an geeigneten Ausbildungsstätten in Handwerk, Handel und Industrie haben die Sonderschüler ins Abseits gedrängt. „Der Sonderschüler ist das Schlußlicht unserer Gesellschaft", sagte kürzlich Heinrich Schwenker, der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Vereine zur gemeinnützigen Förderung für Sonderschüler. Die vielgepriesene Chancengleichheit hört mit dem Schulabschluß auf. In einer Zeit, in der Gymnasiasten Berufe ergreifen, die bislang nur Realschülern vorbehalten waren, und Realschüler sich mit Lehrstellen zufriedengeben, die sonst allenfalls für Hauptschüler attraktiv gewesen sind, ist der Sonderschüler nicht mehr gefragt, nicht als Jungarbeiter
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Burgerohne Lehre und schon gar nicht als Auszubildender. Sonderschüler und Hauptschüler ohne Abschluß drohen heute mehr denn je Bürger zweiter Klasse zu werden. Zusammen mit der wachsenden Zahl von jetzt schon über 50 000 schulentlassenen Gastarbeiterkindern jährlich droht ihnen die Rolle eines jugendlichen Proletariats, das schon frühzeitig und chancenlos an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird.Wie aber sieht die Zukunft dieser jungen Menschen aus, die ohne eigenes Verschulden in ein Getto des beruflichen Abseits gedrängt werden? Viele unterliegen der Gefahr, physisch und sozial zu verwahrlosen. Für viele dieser Jugendlichen ist dann ein schlimmes Schicksal vorprogrammiert, aus dem sie sich nur schwer selbst befreien können. Wer keine Arbeit hat, findet schnell den Weg auf die Straße und in die Kneipen, wer keine Arbeit hat, fühlt sich ausgeschlossen, reagiert aggressiv und sucht nach Ventilen. Wer aber erst einmal ins Gefängnis geraten ist, der hat es doppelt schwer von der Rehabilitation zur Resozialisierung. „Die Situation ist katastrophal", sagte Schwenker. Nach dem Schneeballsystem werden es mit jedem Jahr mehr sein, die trotz guter und kostenaufwendiger Berufsvorbereitungen auf der Straße liegen.Die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für diese Gruppe der Jugendlichen kann nicht mit dem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr enden. Wir dürfen mit der heutigen Debatte nicht nur einen Blick in den Rückspiegel werfen. Wer sich für eine zeitnahe Familien- und Jugendpolitik einsetzen will, kann an der Situation dieser jährlich größer werdenden Gruppe nicht vorübergehen.Ich bin der Auffassung, daß die Politik der Chancengleichheit die Begabten begünstigt und die Schwächeren an den Rand drängt. So entsteht oder kann ein neues Proletariat entstehen, wenn die Gefahr nicht rechtzeitig erkannt wird und nicht Wege zur Besserung gefunden werden. Wer die Bilder der Slums in Amerika kennt, der weiß, was kommt, wenn für junge Menschen die Schulentlassung zur Endstation wird.Meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Focke, Sie haben die Bundesregierung immer wieder als Anwalt der Schwachen apostrophiert. Sie haben gesagt, daß hier jeder - jeder! — zu seinem Recht kommt. Sie haben sogar ein Höchstmaß an Chancen versprochen, und Herr Fiebig hat artikuliert, daß sich die SPD besonders für die Schwächsten einsetzen werde.
Hier sind sehr viele Schwache, die heute nicht einmal erwähnl worden sind. Ich halte dieses Problem, wenn man es nicht rechtzeitig bekämpft, wenn man sich nicht rechtzeitig um diese Frage kümmert, für eines der erschreckendsten, die vor uns liegen. Ich weiß, daß es dafür keine Patentrezepte gibt. Ich weiß, daß auch wir als Bundestag nur begrenzte Möglichkeiten haben, daß man dies nur in einer Art konzertierter Aktion aller Verantwortlichen schaffen kann. Aber, Frau Focke, setzen Sie sich mit IhremMinisterium an die Spitze, geben Sie die Alternative an, weisen Sie Wege! Hier ist die Chance, Ihre Sorge um die Chancengerechtigkeit für alle unter Beweis zu stellen.
Das Wort hat Frau Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute viele Stunden über die Probleme der Kinder und der Familien in der Bundesrepublik Deutschland miteinander diskutiert. Ich bin froh, daß wir diese ausführliche Zeit dafür gefunden oder genommen haben, und ich bin auch der Familienberichtskommission ebenso wie der Opposition für die Fragen dankbar, die dazu geführt haben, daß wir Grundlagen und Material für unsere Diskussion hatten.Mir ist allerdings wieder einmal aufgefallen — ich sage das ganz ohne Spitze und Ironie, denn ich selbst erlebe es auch an mir —, daß es noch immer ein nicht ganz einfaches Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen Wissenschaftlern und Politikern gibt. Ich glaube, daß man es sich nicht ganz so einfach machen darf mit einem von mir auch außerordentlich anerkannten Produkt einer wissenschaftlichen Kommission, wie dies heute zum Teil aus den Reihen der Opposition geschehen ist. Auch wir, die Bundesregierung und die Mitglieder der Koalitionsfraktionen, nehmen natürlich die Meinungen, die erarbeiteten Ergebnisse von Wissenschaftlern ernst, aber, meine Damen und Herren, auch Wissenschaftler sind Menschen, und auch Wissenschaftler müssen sich dann natürlich die Fragen von Politikern gefallen lassen, wieweit das, was sie dargestellt haben, realistisch ist, wieweit es auch, soweit sie Empfehlungen aussprechen, möglich ist, solche Empfehlungen durchzuführen. Ich kann darum verstehen, daß es hier unterschiedliche Meinungen selbst in den Reihen der Oppositionsfraktion gibt, ich kann allerdings dann nicht verstehen, wie eine Sprecherin, Frau Wex, alles und jedes, was in diesem Bericht gesprochen worden ist, so darstellt, als ob es das allein selig-machende Wort wäre.Dies ist eine Anmerkung zu einem Problem, das uns weiter beschäftigen wird und auch in der Vergangenheit schon beschäftigt hat: Wie gehen wir in diesem Haus mit einem wissenschaftlichen Ergebnis einer durch uns eingesetzten Kommission um? Ich bin sicher, daß die Ausschußberatungen über den Familienbericht dazu noch eine Menge zutage fördern werden.Es würde mich wundern, meine Damen und Herren, wenn irgend jemand, der dieser Debatte gefolgt ist oder sie hoffentlich noch einmal im Protokoll nachliest, den Eindruck hätte, den hier Herr Kroll-Schlüter zum Ausdruck gebracht hat, die Familienministerin oder die Bundesregierung oder die Koalitionsfraktionen wären taubstumme Dialogpartner ohne Perspektive. Abgesehen davon, meine
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Bundesminister Frau Dr. FockeDamen und Herren von der Opposition, daß wir einen höchst hellhörigen und beredten Dialog ständig mit sehr vielen führen — wir haben durch das, was wir hier zusammen zur Diskussion beigetragen haben, gezeigt, daß wir in diesem ständigen Gespräch viel gelernt und aufgegriffen haben —, glaube ich, daß wir Ihnen nichts an klaren Aussagen zur Bewertung zur Zielsetzung, zur fördernden Einstellung gegenüber Ehe, gegenüber Familie, gegenüber dem Problem der Entwicklungschancen und der Schutzbedürftigkeit der Kinder in unserer Gesellschaft, zu dem Problem des Verhältnisses von Familie zu Gesellschaft und umgekehrt, zu dem Problem einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern schuldig geblieben sind.
Wir sind Ihnen nichts schuldig geblieben mit einem konkreten Leistungskatalog unserer Politik für Kinder und Familien, von den finanziellen Hilfen über die ganze Breite der familienfördernden Maßnahmen der Wohnungspolitik, über die partnerschaftsfördernde Rechtspolitik, über die sozialliberale Bildungspolitik bis hin zu Hilfen für alleinstehende Mütter, berufstätige Mütter, Hilfen für Eltern bei den Erziehungsproblemen in der heutigen Welt, — auch mit dem Blick auf morgen.Ich könnte jetzt natürlich noch einmal den einen oder anderen Punkt aus den Diskussionsbeiträgen aufgreifen
— ich möchte das jetzt möglichst schnell zu Ende bringen — und den Leistungskatalog auf diese Weise verlängern, indem ich z. B. darauf hinweise, daß das Tagesmüttermodell mit seiner wissenschaftlichen Begleitung der sorgfältigste bisher überhaupt durchgeführte Versuch ist, das Pflegestellenwesen in der Bundesrepublik Deutschland noch besser zu gestalten als bisher; indem ich darauf hinweise, daß es der Bund ist, der in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zum Thema Mütter- und Säuglingssterblichkeit darauf drängt, dafür zu sorgen, daß wir hier endlich zu konkreteren Ergebnissen kommen, und bereit ist, seine finanziellen Mittel im Rahmen des Möglichen mit zur Verfügung stellt.Ich könnte darauf hinweisen, daß es einem Gespräch zwischen den Mitgliedern der Familienberichtskommission und mir zu verdanken ist — denn, meine Damen und Herren der Opposition, ich unterhalte mich auch mit Wissenschaftlern, die solche Berichte schreiben —, daß in dem Familienbericht das Kapitel über die Probleme besonders benachteiligter Familiengruppen in unserem Lande, über die Eltern von benachteiligten Kindern, über die Probleme von Gastarbeiterkindern steht. Ich könnte auf die Fragen zum Bundesjugendplan antworten und darauf hinweisen, daß wir dabei sind, ihn umzugestalten, damit gerade solche Kinder und Jugendliche stärker als bisher einbezogen werden.Ich versage mir das. Ich gehe davon aus, daß wir das alles im Ausschuß noch sorgfältig und im einzelnen beraten werden.Wir haben bewiesen — ich glaube, das ist auch ein Fazit, das ich eindeutig feststellen darf —, daß wir die Augen offen haben; daß wir uns auch den Mißständen, Problemen und Mängeln stellen, daß wir nicht versucht haben, zu vertuschen und zu verschönen; daß wir uns den Aufgaben, die noch vor uns liegen, aufgeschlossen zugewandt haben. Allerdings, unser Sinn für Realitäten sagt uns auch, daß Sie sich, meine Damen und Herren der Opposition, mit Ihren globalen Anklagen an die Adresse der Bundesregierung mit Ihrem schwarz gemalten Bild von der Situation der Familie in diesem Lande trotz aller immer wieder vorgebrachten einseitigen Argumente und statistischen Zahlen im wirklichkeitsfremden Abseits befinden.
Vielleicht gelingt es uns in den Ausschußberatungen, Sie etwas näher an die Realitäten heranzuführen,
Ihnen die Tatsachen vor Augen zu führen, was für Familiensituationen es heute in unserem Lande gibt, welches die Bedürfnisse sind, was inzwischen schon geschehen ist und wo die wirklichen konkreten Ansatzpunkte für die Prioritäten und die dringlichsten Aufgaben zu sehen sind, die in der nächsten Zeit vor uns liegen. Patentrezepte gibt es nicht, auch nicht, wenn man immer wieder durch Wiederholung versucht, das Erziehungsgeld zu einem solchen zu machen.
Es hilft auch nicht, meine Damen und Herren von der Opposition, nach immer neuen Berichten, Kommissionen und Instituten zu rufen.
Was wir brauchen, ist konkrete Arbeit zur Bewältigung der konkreten Probleme. Wir wissen, was zu tun ist, und wir sind an der Arbeit.Ich habe diese Debatte insgesamt als eine Bestätigung, als eine Ermunterung auf diesem Weg empfunden,
und ich bedanke mich bei allen, die durch ihren Diskussionsbeitrag dazu beigetragen haben.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12163
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenDer Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland — Zweiter Familienbericht sowie die Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Zweiten Familienbericht — Drucksache 7/3502 — dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend — sowie dem Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — mitberatend — zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Es ist ferner vorgeschlagen worden, den Entschließungsantrag der Abgeordneten Rollmann, Frau Stommel und Genossen und der Fraktion der CDU/ CSU — Drucksache 7/3660 — dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Damit ist Punkt 5 der Tagesordnung abgeschlossen.Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rollmann, Kroll-Schlüter und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt— Drucksache 7/3304 —b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt— Drucksache 7/3642 —Wird zur Begründung das Wort gewünscht? — Das Wort wird nicht begehrt.Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird in der Aussprache ebenfalls nicht begehrt.Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlagen dem Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Punkt 7 der TagesordnungErste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Bezeichnungen der Richter und ehrenamtlichen Richter— Drucksache 7/3550 —wird in der morgigen Plenarsitzung aufgerufen.Ich rufe nunmehr die Punkte 8 bis 10 der Tagesordnung auf:8. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Fundrechts— Drucksache 7/3559 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für Arbeit und Sozialordnung9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu denVerträgen vom 5. Juli 1974 des Weltpostvereins— Drucksache 7/3580 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates:Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen10. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. November 1974 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland über die Gewährung von Sachleistungen der Krankenversicherung— Drucksache 7/3587 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und SozialordnungWird hierzu das Wort begehrt? — Das Wort wird nicht begehrt.Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates bitte ich aus der Tagesordnung zu entnehmen. Bei Punkt 8 entfällt die Überweisung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Hierüber besteht Einverständnis.Ist das Haus mit den vorgeschlagenen Überweisungen einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Ich rufe nunmehr Punkt 11 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Susset, Sauer , Dr. Köhler (Wolfsburg), Schröder (Lüneburg), Dr. Sprung, Dr. Müller-Hermann, Gierenstein, Höcherl, Dr. Warnke, Seiters, Dr. Jenninger und der Fraktion der CDU/CSUbetr. zusätzliche Förderungsmaßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage— Drucksache 7/3558 —Zur Begründung der Vorlage hat der Abgeordnete Susset das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat am 24. April 1975 den Ihnen in Drucksache 7/3558 vorliegenden Antrag betreffend zusätzliche Förderungsmaßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage vorgelegt. Die Einbringung dieses Antrags lag in der Zeit, in der die Bundesregierung vor den Landtagswahlen mit viel Propagandaaufwand der Bevölkerung der Bundesrepublik den kurz bevorstehenden Aufschwung einzureden versuchte. In der Zwischenzeit mußte jedoch der Herr Bundeswirtschaftsminister Friderichs selbst feststellen, daß die Konjunktur nicht hielt, was wir von ihr erwarteten. Die jüngsten Zahlen über die Aufträge der Wirtschaft und die Lage auf dem Arbeitsmarkt waren so ernüchternd, daß selbst die Regierung nicht mehr zu dem stehen mag, was sie auf diesem Gebiet vor den Wahlen verkündete. Tatsache ist, daß es zur Zeit fast 2 Millionen erwerbslose oder kurzarbeitende Bundesbürger gibt. Diese für uns
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12164 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Sussetalle erschreckende Zahl macht zusätzliche Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage zwingend notwendig.Die Arbeitsmarktlage hat sich insgesamt, jedoch besonders in Gebieten, die durch die Entscheidungen des VW-Werks zusätzliche Arbeitslose zu erwarten haben, drastisch verschlechtert. Die durch Zahlen belegte Verschlechterung der Arbeitsmarktlage zwingt uns, hier im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer für die Annahme des von uns eingebrachten Antrags einzutreten. Die Entscheidung des VW-Konzerns, die Zahl seiner Belegschaftsmitglieder zu reduzieren, hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion veranlaßt, in der Fragestunde des Bundestages am 17. April 1975 dringliche Fragen zur Situation auf dem Arbeitsmarkt einzubringen.
Die Beantwortung durch die Bundesregierung war jedoch so unzureichend und im Ergebnis geradezu deprimierend, daß im Anschluß an die Fragestunde von meiner Fraktion eine Aktuelle Stunde beantragt wurde. Für die Fraktion der CDU/CSU begründete damals mein Kollege Dr. Müller-Hermann den Antrag auf Durchführung der Aktuellen Stunde mit der die Lage verharmlosenden Beantwortung durch die Bundesregierung.
Er bezeichnete die Antworten der Bundesregierung zu Recht als eine Zumutung für die von den Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmer.Die Schwierigkeiten, in denen sich nun die Wirtschaft und das VW-Werk befinden, werden von meiner Fraktion keineswegs verkannt. Wir können jedoch nicht umhin, immer wieder festzustellen, daß die Situation, in der sich das VW-Werk und die übrige Wirtschaft im Moment befinden, in erster Linie die Folge einer verfehlten Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ist.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann deshalb die Bundesregierung nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Wir können die Bundesregierung auch nicht aus der Verantwortung für die Entscheidungen im VW-Aufsichtsrat entlassen.Entlassungen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die sich in Größenordnungen, wie sie nun bei den VW-Werken zu verzeichnen sind, bewegen, können nicht den betroffenen Regionen allein aufgebürdet werden. Hier sind der Bund und die Bundesländer gefordert, ihrer sozialen Verpflichtung, die sie gemeinsam für die betroffenen Arbeitnehmer tragen, voll nachzukommen.Die Arbeitsmarktlage hat sich jedoch gerade in den Gebieten, in denen Standorte von VW-Werken angesiedelt sind, so verschlechtert, daß die Bundesregierung aufgefordert ist, Förderungsmaßnahmen vorzusehen, die, wie in unserem Antrag zum Ausdruck kommt, über den üblichen Rahmen hinaus-gehen. Dies gilt insbesondere dort, wo es sich um strukturschwache Gebiete handelt.Wenn in Wolfsburg beispielsweise 5 900 Arbeitsplätze — das sind 12 % der dort Beschäftigten , in Hannover 3 900 Arbeitsplätze — das sind 18,8 % —, in Ingolstadt 1 700 Arbeitsplätze — das sind10,6% , in Kassel 2 300 Arbeitsplätze — das sind15,2 % —, in Neckarsulm 4 700 Arbeitsplätze — dassind 43,9% --, in Salzgitter 3 000 Arbeitsplätze — das sind 36,1 % —, in Emden 1 500 Arbeitsplätze — das sind 21,7% — und in Braunschweig 850 Arbeitsplätze — das sind 14,7 % der Beschäftigten — freigegeben werden sollen und ganze Werke, beispielsweise in Heilbronn und Neuenstein, geschlossen werden sollen, dann ist die Bundesregierung gemeinsam mit den beteiligten Bundesländern aufgefordert, zusätzliche Förderungsmaßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage einzuleiten und durchzuführen.Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bundesregierung auf, diese von den Massenentlassungen betroffenen Gebiete unverzüglich in die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" aufzunehmen.
Es ist mir zwar bekannt, daß am 2. Mai dieses Jahres gemeinsam mit den Bundesländern verschiedene Gebiete, darunter auch Gebiete in Baden-Württemberg, in die genannte Gemeinschaftsaufgabe aufgenommen wurden. Es ist jedoch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unverständlich, warum Anträge für Gebiete, für die Hilfe erforderlich wäre, abgelehnt wurden, wie z. B. der Antrag des Landes Bayern, auch Ingolstadt in das VW-Hilfsprogramm aufzunehmen.In Ziffer 2 unseres Antrags fordern wir die Überprüfung der Höhe der Förderungssätze. Die bisher vorgenommenen Überprüfungen und die Beratungsergebnisse des 2. Mai haben nicht in allen Bereichen zu dem von uns für notwendig gehaltenen Ergebnis geführt.Wir fordern in Ziffer 3 die Bundesregierung weiter auf, bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze zügig und unkompliziert Hilfestellung zu geben. Dies gilt sowohl für Neuansiedlungen von Betrieben als auch für die Förderung von Betriebserweiterungen, um den von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmern neue Arbeitsplätze bereitstellen zu können.Die Bundesregierung wird ferner aufgefordert, mit Zuweisungen aus dem EG-Regionalfonds die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" aufzustocken, damit die von den Bundesländern für diese Aufgabe bereitgestellten Mittel auch voll in Ansatz gebracht werden. Würde die Bundesregierung danach verfahren, dann könnten, um nur ein Beispiel zu nennen, die vom Land Baden-Württemberg zur Verfügung gestellten 65 Millionen DM voll wirksam für die Verbesserung der Wirtschaftsstruktur in diesem Raum ausgegeben und eingesetzt werden. Das gleiche gilt auch für
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12165
Sussetdie von der bayerischen Staatsregierung zur Verfügung gestellten Mittel für den Bereich Ingolstadt.Die Bundesregierung hat sich jedoch leider bei den Beratungen am 2. Mai 1975 lediglich bereit erklärt, für die verschiedenen Bereiche im Verlauf der nächsten drei Jahre Mittel in der Höhe zur Verfügung zu stellen, wie sie glaubte — um die Presse zu zitieren — im Moment verantworten zu können.Ein weiterer Punkt unseres Antrags fordert: Die aus dem Konjunkturprogramm vom Dezember 1974 noch nicht verbrauchten Mittel aus den Beschäftigungshilfen müssen unserem Antrag entsprechend unter allen Umständen für die Gebiete eingesetzt werden, in denen sich die Arbeitsmarktlage in letzter Zeit wesentlich verschlechtert hat. Dies ist um so notwendiger, als nun auch die Bundesregierung, wie ich eingangs schon sagte, entgegen ihren Versprechungen vor den Landtagswahlen die zahlenmäßig zu belegende reale Lage auf dem Arbeitsmarkt endlich akzeptieren muß. Die derzeitige Situation auf dem Arbeitsmarkt macht es unmöglich, daß die von den Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer ohne die Hilfe des Bundes, d. h. in Härtefällen auch nicht ohne Beschäftigungshilfen, wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden.Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung weiter auf, die „bevorzugte Berücksichtigung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge", wie sie in der Richtlinie vom 19. Juli 1968 für das Zonenrandgebiet erlassen wurde, als Förderungsmaßnahme zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage in diesen Gebieten einzusetzen. Leider hat die Bundesregierung auch in anderen Fällen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge jegliche Bereitschaft vermissen lassen, dabei mitzuwirken, Arbeitsplätze in Problemgebieten zu sichern und zu erhalten. Ich bringe hierfür ein Beispiel.Die Bundesregierung hat in Beantwortung einer Kleinen Anfrage der CDU-Landesgruppe von Baden-Württemberg, in der sie gefragt wurde, ob sie bereit sei, als öffentlicher Auftraggeber kurzfristig verstärkt Aufträge in diesem Raum zu vergeben, lediglich mitgeteilt, daß einer bevorzugten Vergabe sehr enge Grenzen gesetzt sind. In der Zwischenzeit hat jedoch das Bundeskabinett eine in der Diskussion stehende Vergabe von Aufträgen für das Neckarsulmer Werk abgelehnt.In Ziffer 8 unseres Antrags fordern wir die Bundesregierung auf,ihren Widerstand gegen die Gesetzesinitiative der Länder Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen zur Änderung des Stabilitätsgesetzes aufzugeben ...Dieser Gesetzentwurf des Bundesrates, der dem Bundestag als Drucksache 7/499 vorliegt, will aus der Erfahrung der Vergangenheit die notwendigen Konsequenzen ziehen. Er will verhindern, daß, wie sich gezeigt hat, schwachstrukturierte Räume durch Konjunkturabschwächungen immer stärker betroffen werden, als dies in Ballungsräumen der Fall ist. Die Tatsache, daß die Konjunkturentwicklung im Bundesgebiet regional unterschiedlich verläuft, macht esnotwendig, daß der Gesetzgeber die ihm im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft gegebenen Möglichkeiten voll nutzt. Der von mir angesprochene Gesetzentwurf des Bundesrates könnte hier wesentlich zur Beseitigung des strukturellen und regionalen Ungleichgewichts beitragen.Der von mir begründete Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wurde ich weise nochmals darauf hin — eingebracht, als die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nichts unterließen, die bestehende Arbeitslosigkeit zu verharmlosen und zu bagatellisieren.
Die wahre Lage am Arbeitsmarkt, die nun allen offenkundig ist, macht es notwendig, daß die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen den in unserem Antrag zum Ausdruck gebrachten Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage unverzüglich Rechnung tragen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bittet, den Überweisungsvorschlägen zu entsprechen und dem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Christ.
Herr Präsident! Meine sehr verehr- i ten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Susset sehr dankbar, daß er uns heute nun endlich gesagt hat, was er eigentlich meint. Trotzdem muß ich Ihnen gestehen, daß mir immer noch nicht klar geworden ist, welche Gebiete Sie über die Orte hinaus, die durch den Personalabbau bei VW-Niederlassungen betroffen sind, mit dem Begriff „in einigen Gebieten derart verschlechtert" meinen. Sie müßten uns also hier, falls Sie sich eindeutig auf die Orte beschränken wollen, die ich soeben nannte, auch noch deutlich sagen: Darauf beschränkt sich unser Programm, oder Sie müssen die Karten auf den Tisch legen und uns auch eine Definition davon geben, was Sie mit den Worten „darüber hinaus" meinen. Denn mit einem Begriff „in einigen Gebieten derart verschlechtert" können wir zunächst kaum etwas anfangen.Ich komme später noch auf das VW-Problem zurück, aber eine Vorbemerkung möchte ich hier noch machen. Wenn Sie hier nun auch gerade für Bayern und Ingolstadt sprechen, so frage ich mich doch: Kennen Sie nicht das Abstimmungsergebnis im Planungsausschuß? Wenn ja, dann müssen Sie nämlich wissen, daß hier nicht nur die Bundesregierung, sondern zehn weitere Bundesländer, also auch die CDU-regierten Bundesländer, zugestimmt haben. Es ist interessant, nun zu hören, daß die CDU/CSU-Fraktion hier im Bundestag anderer Auffassung ist; wir werden dies entsprechend prüfen. Aber ich muß Sie daran erinnern, daß die CDU-regierten Länder diesem Vorschlag der Bundesregierung samt und sonders zugestimmt haben.
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12166 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
ChristAuf eine Anzahl von Ziffern, die über VW hinausgehen — so die Ziffern 4, 5 und 6 —, werde ich noch zurückkommen. Ich habe nur meine Zweifel, ob das, was Sie vorschlagen, in dem Zusammenhang ein vernünftiges Bündel von Maßnahmen ist.Sie, die Opposition, haben uns einen Antrag zur Verbesserung der Arbeitsmarktlage vorgelegt, bei dem ich erhebliche Zweifel habe, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen über die bisherigen Aktionen der Bundesregierung hinaus tatsächlich notwendig sind und ob sie in der Lage wären, die bestehenden strukturellen und konjunkturellen Probleme wirklich erfolgreich und möglicherweise auch schneller zu lösen als all das, was wir bisher unternommen haben. Besonders bedauerlich ist — das muß ich jetzt mit aller Deutlichkeit sagen und insofern auch wiederholen —, daß eine klare Definition für die Gebiete fehlt, die Sie mit zusätzlichen Förderungsmaßnahmen bedenken wollen. In diesem Zusammenhang ist es nicht notwendig, die einzelnen Entscheidungen in aller Breite darzulegen, welche die Bundesregierung bisher zur Belebung der konjunkturellen Lage getroffen hat.Festzuhalten bleibt allerdings — das sollten Sie auch sehen —, daß z. B. bei den Lohnkostenzuschüssen keineswegs sämtliche Mittel abgerufen werden, wenn ich an das Datum Ende Mai denke, und daß wir damit rechnen müssen, daß zirka 200 Millionen DM nicht verbraucht werden.Im übrigen: Dieser Antrag ist, wenn ich das so sagen darf, eine bunte Mischung von Vorschlägen, die sich keineswegs auf die beiden Beine regionale Strukturpolitik und Arbeitsmarktpolitik beschränken, sondern auch Forderungen enthalten, die nur bedingt in Zusammenhang mit den aktuellen Schwierigkeiten stehen, die Sie hier angesprochen haben.Zum weiteren Verfahren möchte ich vorweg sagen: Der Antrag wird der Bundesregierung bei den Ausschußberatungen, die erfolgen, sicherlich die Gelegenheit geben, eine Erfolgsbilanz der bisherigen konjunkturellen Maßnahmen darzulegen,
so daß man in diesem Zusammenhang wesentlich besser als jetzt hier, ohne die Zahlen zu kennen, die Sie genauso wir wir brauchen, bei den Ausschußberatungen in eine Prüfung eintreten kann, ob zusätzliche Maßnahmen gerade dieser Art notwendig sind, wie Sie sie vorgeschlagen haben. Das gilt auch ganz besonders für Orte wie Ingolstadt oder auch für die Orte, die im Sonderprogramm vom 2. Mai zwar bereits enthalten sind, von denen Sie aber meinen, sie müßten zusätzlich in die Gemeinschaftsaufgabe eingereiht werden.
— Oder höhergestuft werden; das ist der Punkt 2 des Antrags.Ich will für meine Fraktion konkret zu den einzelnen Punkten Stellung nehmen, wobei ich eines einschränkend sagen muß: Dies kann eben nur eine vorläufige Stellungnahme sein, denn wir haben genausowenig wie Sie heute die Zahlen auf dem Tisch, die man braucht, um zu wissen: Ist dies ein vernünftiger Vorschlag? Muß man diesen Weg gehen? Es wird sich erst bei einer eingehenden Prüfung im Rahmen der Ausschußberatungen zeigen, welche einzelnen Forderungen wir unter dem Gesichtspunkt aufnehmen können, daß sie notwendig und dort zu wirken in der Lage sind, wo wir es wollen.Ich wollte eine Vorbemerkung machen, bevor ich Sie mit Ihrer Begründung hörte, nämlich die, daß möglicherweise die Forderung in den Ziffern 1 und 2 dann überholt ist, wenn Sie mit Ihren Forderungen gerade die Problemgebiete meinen, die durch den Personalabbau bei den verschiedenen VW-Niederlassungen betroffen sind.Ich weiß nun, daß die Maßnahmen nicht allein auf solche 'Orte bezogen sein ollen. Deshalb möchte ich doch zu den Punkten 1 und 2 Stellung nehmen. Sie fordern die unverzügliche Aufnahme der Problemgebiete, die Sie im Auge haben, in die Gemeinschaftsaufgabe. Um diese Forderung sinnvoll bearbeiten zu können — auch das ist praktisch nur noch zu wiederholen —, brauchen wir klare Aussagen von Ihnen. Ich bitte Sie wirklich, uns zu sagen, welche Problemgebiete Sie meinen.
— Es geht doch nicht nur um Zahlen. Sie müssen uns auch sagen, nach welchen Kriterien Sie ein Problemgebiet einstufen. Ich kann 50 Problemgebiete nennen, und ich kann genausogut nur fünf haben. Das kommt nur darauf an, nach welchen Kriterienschlüssel man vorgeht. Sie haben sich doch wahrscheinlich darüber Gedanken gemacht. Sie müßten uns dazu einen Vorschlag machen,Zu Punkt 2 kann ich auf die vorherige Stellungnahme zu Punkt 1 verweisen; denn über diese Frage kann man erst diskutieren, wenn die klare Definition vorliegt. Darüber hinaus muß folgendes bekannt sein. Sie wissen genausogut wie ich, daß die Tatsache, daß wir einsteigen, bedeutet, daß Bund und Länder Gelder hergeben müssen. Diese Konsequenzen haben Sie hoffentlich bedacht. Darüber müssen wir nicht nur im Ausschuß, sondern auch mit den Ländern reden, ob sie dazu in der Lage sind.Ich meine, daß Sie sich mit Punkt 3 einen falschen Adressaten ausgesucht haben. Das ist nicht weiter tragisch, aber ich wundere mich darüber, daß Sie nicht daran denken, diese Aufforderung auch an die Bundesländer zu richten.
Diese Frage müßte zum einen deswegen an die Bundesländer gerichtet werden, weil die Länder in Ausführung des Rahmenplans dafür zuständig sind. Darüber hinaus wissen Sie genausogut wie ich, daß die Länder oft mit äußerster Empfindlichkeit reagieren — ich denke da an Bayern —, wenn der Bund mit dieser Forderung an sie herantritt.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12167
ChristDer Punkt 4 ist zweifellos ein sehr interessanter Punkt. Hier geht es nicht um die Strukturpolitik im engeren Sinne oder um die Arbeitsmarktpolitik, sondern hier geht es um den EG-Regionalfonds. Wir haben gemeinsam und einstimmig in diesem Hause am 13. Dezember 1973 einen Beschluß gefaßt, den wir — das ist wichtig — bei der Bundesregierung in Erinnerung rufen wollen. Ich weiß, daß die Bundesregierung mit Rücksicht auf die Partner und die Verhandlungen in Brüssel noch keine eindeutige Stellungnahme abgeben konnte. Ich will deshalb für meine Fraktion nur sagen: Wir haben unsere Überlegungen zu diesem Punkt weitgehend abgeschlossen. Wir sind der Meinung, daß es zweifellos besser wäre, wenn die Zuweisungen aus dem EG-Regionalfonds in unserem Lande zusätzlich — ich betone: zusätzlich — für Zwecke der Regionalpolitik verwendet würden.
— Genau, natürlich.Nach meiner Überzeugung ist es nämlich so: Wir haben in der Europäischen Gemeinschaft bestimmte Hauptempfängerländer, die aus dem Regionalfonds Gelder zugewiesen bekommen, und wenn wir nicht selber mit gutem Beispiel vorangehen, werden wir die anderen kaum überzeugen können, daß sie diese Mittel nicht zur allgemeinen Haushaltsfinanzierung, sondern zur Verstärkung ihrer regionalpolitischen Anstrengungen verwenden sollen.Zu Punkt 5: Zu der Forderung, nicht verbrauchte Mittel aus Beschäftigungshilfen des Konjunkturprogramms vom 14. Dezember 1974 — wie Sie formulieren beschränkt auf Härtefälle auch für diejenigen Gebiete zu verwenden, die nach dem bisherigen Schlüssel nicht begünstigt waren, muß man, meine ich, sagen: Auch das kann man so ad hoc, ohne genaue Prüfung zusammen mit dem Arbeitsministerium, weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Wir sind der Auffassung, daß das im zuständigen Ausschuß eingehend geprüft werden muß.
Nun zu Punkt 6, der Forderung, die sich im Grunde an die Bundesanstalt für Arbeit richtet: Ich bin sicher, daß diese Forderung weitgehend erfüllt ist. Die Bundesanstalt, die in ständigem Kontakt mit der Bundesregierung steht und die um das besondere Problem gerade in den Gebieten weiß, die Sie ansprechen, ist sicherlich bemüht, ihre Maßnahmen, soweit das vom Personal her möglich ist, zu intensivieren. Ich meine, wir sollten den Punkt festhalten und sollten der Bundesanstalt unsere Meinung dazu sagen. Aber da sehe ich keine unterschiedlichen Auffassungen.
Bitte, das müssen Sie besser wissen, zumindest die älteren Kollegen.Zu Punkt 7: Hierzu kann ich wirklich nur eine begrenzte und vorläufige Stellungnahme abgeben. Sie werden verstehen, daß unsere Fraktion bisher nicht in der Lage war, das nachzuprüfen. Sollte estatsächlich zutreffen, daß Dienststellen des Bundes in einzelnen Fällen, wie ich annehme, diese Richtlinien für das Zonenrandgebiet bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nicht voll berücksichtigen, so kann ich von dieser Stelle aus nur mit allem Nachdruck zur vollen Anwendung dieser Vorschrift durch die entsprechenden Dienststellen des Bundes auffordern.
Auch da, meine ich, muß sich der Ausschuß von der Bundesregierung einen Bericht vorlegen lassen. Dann wird sich das ja zeigen. Sollte es in einigen Fällen tatsächlich so sein — was ich nicht ausschließen will —, so werden wir dazu unsere Meinung deutlich sagen.Zu Punkt 8 muß ich zunächst feststellen, daß es hier, wie Sie ja wissen, nicht um eine Gesetzesinitiative des Bundesrats insgesamt geht, sondern lediglich um eine Gesetzesinitiative der Länder Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen.
Ich betone das deswegen, weil die Dinge draußen oft etwas anders dargestellt werden, und es scheint mir notwendig zu sein, diese klare Aussage hier zu machen.Zur inhaltlichen Forderung dieses Gesetzentwurfs will ich folgendes bemerken. Die Initiative dieser Bundesländer zielt auf eine Regionalisierung der im Stabilitätsgesetz verankerten Globalsteuerung, insbesondere bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Ich habe mir das sehr gut angesehen. Die Bundesregierung hat jedoch — das können Sie ja nachprüfen — diese Berücksichtigung regionalpolitischer Belange im Rahmen der allgemeinen Wirtschaftspolitik sehr beachtet. Die bisherigen Sonderprogramme der Bundesregierung — Sie kennen sie —beweisen nachhaltig, daß die Bundesregierung auch in ihrer aktuellen Stabilitätspolitik jene Gebiete besonders berücksichtigt, in denen sich strukturelle und konjunkturelle Faktoren kumulieren können.Und für die Effizienz der gesamten Wirtschaftspolitik ist eines nach der Überzeugung der Freien Demokraten sehr wichtig: die saubere und prinzipielle Trennung der Aufgaben der Konjunkturpolitik auf der einen Seite und der Aufgaben der Strukturpolitik auf der anderen Seite. Deshalb darf die notwendige Korrektur, die Sie wollen — wobei Sie sich auf diese drei Bundesländer beziehen —, nicht bei der Globalsteuerung ansetzen. Vielmehr ist die von den Antragstellern, diesen Bundesländern, angestrebte Regionalisierung eine der originären Aufgaben der Strukturpolitik.Wenn Sie von einer Blockierung dieser Initiative durch die Bundesregierung sprechen: Ich sehe dies nicht. Davon kann keine Rede sein. Der zuständige Ausschuß dieses Hauses, der Wirtschaftsausschuß, wird zu gegebener Zeit — das ist auch die Entscheidung des Ausschußvorsitzenden — diese Frage auf seine Tagesordnung setzen.
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12168 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
Christ— Ich bin ja, wie Sie wissen, im Wirtschaftsausschuß. Und Sie wissen auch, daß das derzeit nicht auf der Tagesordnung steht.
— Das ist klar. Ich brauche meine Ausführungen hinsichtlich des Zeitpunkts der Beratung dieses Tagesordnungspunktes im Wirtschaftsausschuß wohl nicht zu wiederholen.Ich darf zum Schluß kommen. Meine Fraktion kann zu den einzelnen Forderungen in diesem Antrag noch keine endgültige Stellungnahme abgeben; denn der Antrag — das muß ich sagen, und zwar mit der notwendigen Kritik — ist zu wenig präzis und in einzelnen Punkten noch nicht genügend durchdacht und bedarf einer entsprechenden Überprüfung an Hand aktuellen Zahlenmaterials. Möglicherweise sind in dem Forderungskatalog — ich kann das im Augenblick nicht beurteilen — einige Forderungen enthalten, deren Berücksichtigung man nach gründlicher Prüfung als notwendig betrachtet. Aber dann müssen wir die finanziellen Konsequenzen und auch die Erfolgschancen sehen. Das kann immer nur im Vergleich mit dem, was die Bundesregierung bisher getan hat, geschehen. Sie wissen genausogut wie viele andere in diesem Hause: Man darf nach entsprechenden Programmen der Bundesregierung nicht zu früh sagen: Das war nicht ausreichend, oder: Das war nicht wirksam. Manchmal brauchen wir eben längere Fristen, um eine eindeutige Beurteilung darüber abgeben zu können, ob diese Programme zum Erfolg führen.Ich teile keineswegs den Pessimismus, den Sie eingangs gezeigt haben, als Sie meinten, es sei nun zwar viel getan worden, aber der Erfolg sei zu wenig oder gar nicht sichtbar. Insgesamt sind wir der Meinung, daß diese Prüfung erst in den Ausschußberatungen vorgenommen werden kann.Wir stimmen deshalb der Überweisung an die Ausschüsse zu.
Meine
Damen und Herren, wir fahren in der Aussprache
fort. Das Wort hat der Abgeordnete Reuschenbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die relativ lustlose Begründung, die heute abend für diesen — jedenfalls Ende April — als ganz außergewöhnlich wichtig verstandenen Antrag abgegeben worden ist, erklärt sich vermutlich nicht nur mit der späten Abendstunde, sondern auch mit dem Ablauf der Zeit. Der Antrag war vor der Landtagswahl gestellt worden. Sie haben daran erinnert. Heute ist der 4. Mai vorüber. Da ist das Interesse vermutlich nicht mehr so groß wie bei der Veröffentlichung am Tage vor dem Wahlgang.Die lustlose Begründung ist so zwar erklärlich, aber ganz bestimmt nicht verständlich. Ferner ist nicht verständlich, daß sich kaum noch diejenigen, die namentlich diesen Antrag gestellt haben, für das Schicksal dieses Antrags interessieren. Das kennzeichnet im Grunde das, was hinsichtlich ihrer Motive für Debatten über Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik eigentlich maßgebend ist.
Unverständlich ist diese relative Lustlosigkeit auch deshalb, weil die Fragen der wirtschaftlichen, konjunkturellen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklung schließlich unabhängig von Wahlterminen unser Engagement und eine sachgerechte Behandlung erfordern.
— Ja, ich finde es sehr gut, daß Sie dieser Meinung sind. Aber die Art und Weise — sowohl inhaltlich als auch personell — läßt nicht darauf schließen daß über Sie — über die vier oder fünf, die hier noch von Ihnen anwesend sind —, hinaus diese Meinung im wesentlichen von Ihren Fraktionsfreunden geteilt wird.Hier sind die Begriffe „Täuschung und Irreführung vor dem 4. Mai" gefallen. Ich kann nur sagen: Den lebenswichtigen Fragen der wirtschaftlichen, konjunkturellen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklung bekommt es nicht, wenn Sie auch nach dem 4. Mai daran festhalten, sie weiterhin in einer agitatorischen Wahlkampfstimmung zu behandeln. Aber wir werden uns vermutlich darauf einrichten müssen, daß solche Gespensterschlachten über Schuld und Unschuld an den wirtschaftlichen Verhältnissen und über die angeblichen politischen Motive und Ziele sozialliberaler Politik fortgesetzt werden. Einen Vorgeschmack hat es in den letzten zwei Tagen erneut gegeben.Daran will ich gerne eine Bemerkung anknüpfen: Es ginge darum, so sagte der CSU-Vorsitzende, ob in Deutschland künftig marxistisch regiert werde oder ob seine Freiheit, vor allem seine marktwirtschaftliche Ordnung im Prinzip erhalten bleiben könne. Solche Worte sind nicht neu. Aber im Zusammenhang mit dem Thema, über das wir uns unterhalten, ergibt sich die Veranlassung, auf eine bestimmte Verhaltensweise der Union bei wirtschafts- und konjunkturpolitischen Fragen hinzuweisen. Das steht unter der Überschrift: sie predigen Wasser und trinken Wein. In der Theorie und verbal tragen Sie immer die Fahne der Marktwirtschaft vor sich her, aber in der Praxis sowie in den konkreten Forderungen und Anträgen versuchen Sie, Bundesregierung und Koalition dazu zu bewegen, an jeder Ecke der wirtschaftlichen Entwicklung — sogar bei einzelnen Unternehmensentscheidungen — einzugreifen und damit die Zuständigkeit für die wirtschaftlichen Einzelabläufe auf den Staat zu übertragen.Ein markantes Beispiel haben wir gestern im Wirtschaftsausschuß erlebt: Einer Ihrer Fraktionskollegen war der Meinung, nun müsse die Bundesregierung aber her, um einem Ölunternehmen einem Benzinunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland klarzumachen, es hätte seine Preise nicht so, sondern ganz anders zu gestalten.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975 12169
ReuschenbachIch finde, daß diese politische Praxis und die parlamentarische Alltagsarbeit, die Sie an den Tag legen, im Grunde darauf hinauslaufen, daß nicht die angeblichen Marxisten, sondern die als Marktwirtschaftler verkleideten Unionspolitiker ständischem Schutzzaundenken das Wort reden, außenwirtschaftlichen Protektionismus befürworten und für staatliche dirigistische Eingriffe Partei ergreifen.
Wir werden natürlich diesen Antrag — wie alle anderen — sorgfältig in den Ausschüssen beraten. Ich will auch gar keine Einzelpunkte vorwegnehmen. Herr Christ hat seine Meinung zu einer Reihe von Gesichtspunkten gesagt. Aber ich will noch einen weiteren Kernpunkt herausgreifen, der, jedenfalls für mich, bei der allgemeinen Bewertung dieses Antrags, der ja in einer Serie von anderen Anträgen steht, von Interesse ist.Auch in diesem Antrag sagen Sie, die Reste der Mittel des Programms für Beschäftigungshilfe sollten eingesetzt werden, um zu finanzieren. Wir sind gern bereit, in den Ausschüssen auf Grund von Vorschlägen der Bundesregierung zu prüfen, ob und zu welchem Zweck und Zeitpunkt Reste eingesetzt werden können. Aber Sie müssen sich vorhalten lassen, daß dann, wenn man auflistet, wofür die Union in den letzten Monaten und Wochen die Reste aus diesem 600-Millionen-Programm verwendet sehen will, diese Reste schon mindestens fünfmal verbraucht worden sind: zur Stützung des Arbeitsmarktes in VW-Standorten — das kehrt hier wieder —, für die Finanzierung der Einbeziehung neuer Gebiete in die Beschäftigungshilfen, für Programme zur Verringerung von Jugendarbeitslosigkeit, für Prämien für zusätzliche Lehrstellen.
Verwunderlich ist dieses Ergebnis hektischer Betriebsamkeit nicht. Ein solcher unrealistischer Katalog ist die logische Folge einer Politik, die allen alles verspricht. Das ist entweder eine Unfähigkeit Ihrer Fraktionsführung, die unterschiedlichen Interessen auf einen Nenner zu bringen, oder, was schlimmer wäre, skrupellose Propagandastrategie, die auf allen Seiten Hoffnungen erwecken will, die Enttäuschungen wahlpolitisch ausbeuten will und die die totale Plünderung der öffentlichen Kassen in Kauf nehmen würde.
Und dann hätten Sie natürlich wieder das Argument, mit der Aufblähung der öffentlichen Haushalte seien die öffentlichen Hände Schrittmacher der Inflation.
— Ich sprach vom Zustand der Führung der Fraktion der Christlich Demokratischen Union, der ja jedem offenbar ist, der nicht mit verbundenen Augen durch die Gegend läuft.
Wir halten es, wenn alle Beteiligten das möchten 1 und wünschen, für durchaus möglich, zu einer weitgehend einheitlichen Beurteilung der Wirtschafts- und Konjunkturlage zu kommen und nüchtern zu beraten, was getan werden kann und muß, um den Weg aus den Schwierigkeiten heraus nicht zu verfehlen.
— Aber selbstverständlich! Ihre Zwischenrufe und Ihre Bemerkungen, daß irgend jemand ein Interesse daran haben könnte, diese Schwierigkeiten nicht zu nennen, sind ja im übrigen insofern absurd, als in diesem Lande eine freie Presse tätig ist, die darstellt, was sie erfährt, was sie hört und was sie zu schreiben hat, und die auch durchaus von Politikern der sozialliberalen Koalition artikulierte Sorgen weitergibt.Wer etwa bereit ist, sich auf den Boden der Generallinie des Frühjahrsgutachtens der wirtschaftswissenschaftlichen Institute zu stellen, der muß auch bereit sein, zuzugeben, daß die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik mit ihren Mitteln und ihren Zielen richtig liegt. Mit uns kann man sich jederzeit darüber verständigen, daß das Tempo der Wende zum Positiven nicht den Annahmen oder Erwartungen entspricht, und nur ein Ignorant könnte eine solche Bemerkung zum Anlaß nehmen, so zu tun, als liege es allein oder im wesentlichen an gefaßten oder unterlassenen nationalen Beschlüssen, die Auswirkungen weltwirtschaftlicher Entwicklungen aufzufangen. In lichten Momenten gibt es ja durchaus 1 auch bei Unionspolitikern die Erkenntnis, daß man sich solchen Auswirkungen zwar entgegenstemmen, sich ihnen aber nicht völlig entziehen kann. Ihr Kollege Leicht hat am 21. März hier in der Haushaltsdebatte ausgerufen „Der weltwirtschaftliche Befund ist erschütternd", und der Kollege Breidbach sagte am gleichen Tage °der am Tage danach: „Wir werden in den nächsten Monaten die Auswirkungen der Weltmarktsituation noch zu spüren bekommen." A la bonne heure! Nur: wenn man das sagt, muß man auch zu der Schlußfolgerung bereit sein, daß das eigene Haus nur dann in Ordnung gehalten werden kann, wenn wir unseren Handelspartnern mithelfen, daß bei ihnen die Grundmauern nicht zusammenbrechen. Da ist es wenig hilfreich, wenn Ihre Kollegen in der Öffentlichkeit das ist noch keine vier Wochen her — die bundesrepublikanische Beteiligung an internationalen Kreditprogrammen als fragwürdig, großsprecherisch und dilettantisch darstellen — nachzulesen in der Rede Ihres Kollegen Leicht.Ich sagte: ich halte es für durchaus möglich, zu einer weithin übereinstimmenden Bewertung zu kommen. Dieses wird aber sicherlich so lange schwer oder gar unmöglich sein, solange die Opposition hierzulande erklärt, sie allein habe immer gewußt und wisse auch heute, wie die Weltwirtschaft und die Volkswirtschaft unserer großen Handelspartner in Ordnung zu bringen seien. Die Regierungen unserer Handelspartner bedanken sich jedenfalls für solche Besserwisserei.
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12170 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 22. Mai 1975
ReuschenbachZweitens werden wir wohl in unfruchtbarem Streit bleiben, wenn die Opposition dabei bleibt, sich aus der Verantwortung für die auch mit ihrer Zustimmung beschlossenen konjunktur- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen nachträglich hinwegzustehlen und vor neuen Entwicklungen stets zu erklären, diese habe sie im Gegensatz zu allen anderen immer schon vor Jahr und Tag vorausgesehen. Sie müssen auch Ihre janusköpfige Politik aufgeben, einerseits mehr und mehr öffentliche Ausgaben und die Bereitstellung von Krediten zu fordern und bei nächster Gelegenheit dies der Koalition als Verschleuderung öffentlicher Mittel vorzuwerfen.Trotz aller Probleme — das wissen Sie gut, und deswegen sparen Sie dieses Thema aus Ihren Beiträgen aus — findet in diesem Lande weder Massenelend noch Massendesaster statt. Die von der Opposition bekämpfte Neugestaltung der sozialen und rechtspolitischen Landschaft hat dafür gesorgt, daß weder Alter noch Krankheit noch Arbeitslosigkeit zu existentiellem Desaster führen. Dieses enge Netz der sozialen Sicherung findet im Sprachgebrauch der Opposition relativ wenig Platz, allenfalls und neuerdings unter der diskriminierenden Formel von der „Last der Wohltaten". Zu diesem Netz gehört zweifellos auch, daß in unserer Arbeitslosenstatistik zu etwa einem Drittel Personen enthalten sind, die nicht arbeitslos geworden sind, sondern sich in diesen Monaten als arbeitslos gemeldet haben. Zu dieser Wirklichkeit gehört auch, daß darunter ein Teil ist, der dem Arbeitsmarkt in Wirklichkeit nicht zur Verfügung steht. Das wissen diejenigen von Ihnen, die sich für die Zahlen und Statistiken interessieren, so gut wie ich. Aber damit keine Mißverständnisse auftreten: wir denken nicht daran, an der Statistik herumzumanipulieren, sondern ich sage dies gegenüber den Zahlenspielereien, die die Opposition mit internationalen Vergleichen betreibt. Dem muß entgegengesetzt werden, daß die Statistik hierzulande Personen enthält, die in anderen Ländern überhaupt nicht einbezogen werden. So ist auch der Versuch unzulässig, Unvergleichliches miteinander zu vergleichen.Nur in schwachen Stunden gibt es von Ihrer Seite mal Lob für die soziale Sicherung in diesem Lande, dann natürlich auch wieder nur in Verbindung mit einem anderen Versuch, Unsicherheit zu verbreiten. So z. B. Ihr Parteivorsitzender, Herr Kohl, der auf einer wehrpolitischen Tagung sagte: „Was nützt unser bestes soziales System, wenn die Kosaken kommen?" Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist gewiß nicht die stärkste Seite des um die Spitzenkandidatur ringenden Landeschefs von Mainz, aber die Qualität unserer Sozialleistungen hat er sicherlich richtig erkannt.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktionbraucht von niemandem Nachhilfe in ihrer Sorge um die Sicherung der Existenzgrundlagen der Menschen in diesem Lande, insbesondere nicht von jenen, die vor kurzem noch von Arbeitslosigkeit als „Stunde der Gnade der Angst" sprachen und eine bewußte Politik der Vollbeschäftigung als unverantwortliche Garantie für Überbeschäftigung disqualifiziert haben. Aber ich will auch ehrlich sagen, daß wir weder eine problemlose Insel in einer problemgeschüttelten Welt schaffen können noch eine ungefährdete Entwicklung im Inneren bei unübersehbaren Gefährdungen in der Welt um uns herum garantieren können.
Das sagen wir und wollen wir tun, so gut wir imstande sind, die richtige Analyse zu finden, darauf fußend die Entwicklung einigermaßen richtig einzuschätzen und dann das zu tun, was möglich und nötig ist. In diesem Bekenntnis zur Begrenzung des Handlungsspielraumes, das den Oberflächlichen sicher immer fremd bleiben muß, liegt vermutlich aber auch die Glaubwürdigkeit dieser Politik.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu überweisen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts und des Antrags des Finanzausschusses zu dem von der Bundesregierung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag der EG-Kommission für eine Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute
— Drucksachen 7/3082, 7/3605 — Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Becker
Ich frage, ob der Herr Berichterstatter eine Ergänzung des Schriftlichen Berichts zu geben wünscht. Das ist nicht der Fall. Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nicht begehrt. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag des Ausschusses von der Vorlage — Drucksache 7/3082 — zustimmend Kenntnis zu nehmen. Ich glaube, ich kann sofort über Nr. 2 des Ausschußantrages, den Entschließungsantrag, mit abstimmen lassen.
Es bestehen keine Bedenken.
Meine Damen und Herren, wer den Nrn. 1 und 2 des Ausschußantrages zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.
Meine Damen und Herren, damit stehen wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 23. Mai 1975, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.