Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Meine Damen und Herren, ich beginne mit einem Geburtstagsglückwunsch: Unser Kollege Dr. Czaja hat gestern seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ich spreche ihm die herzlichsten Glückwünsche des Hauses aus.
Es liegt Ihnen eine Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 der Geschäftsordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen werden sollen:Betr.: Ergänzung zum Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" für den Zeitraum 1974 bis 1977— Drucksache 7/2587 —zuständig: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten , HaushaltsausschußBetr.: Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksache 7/2622 —zuständig: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung , Ausschuß für Jugend, Familie und GesundheitBetr.: Bericht der Bundesregierung über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften
— Drucksache 7/2662 —zuständig: Auswärtiger Ausschuß , Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, HaushaltsausschußBetr.: Bericht über die Durchführung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes— Drucksache 7/2697 —zuständig: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft , Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, HaushaltsausschußBetr.: Grundsätzliche Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1074 bei Kap. 32 0.5 Tit. 575 06 — Diskont für unverzinsliche Schatzanweisungen —Bezug: § 37 Abs. 4 BHO— Drucksache 7/2684 —zuständig: HaushaltsausschußErhebt sich gegen die beabsichtigte Überweisung Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen.Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 18. Oktober 1974 den nachfolgenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 GG nicht gestellt:Gesetz über die Volksentscheide aufgrund der nach Artikel 29 Abs. 2 GG in den Ländern Rheinland-Pfalz und Niedersachsen zustande gekommenen VolksbegehrenGesetz zu dem Europäischen Übereinkommen vom 1. Juli 1970 über die Arbeit des für internationalen Straßenverkehr beschäftigten Fahrpersonals
Gesetz zu dem Abkommen vom 24. September 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Sierra Leone über den LuftverkehrGesetz zu dem Internationalen Schiffsvermessungs-Übereinkommen vom 23. Juni 1969Gesetz zu dem Zusatzprotokoll vom 25. Oktober 1972 zu der am 17. Oktober 1868 in Mannheim unterzeichneten Revidierten RheinschiffahrtsakteGesetz zu dem Zusatzprotokoll vom 14. Januar 1974 zu dem Protokoll zu dem Europäischen Abkommen zum Schutz von FernsehsendungenGesetz zur Änderung des Gesetzes über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in StrafsachenGesetz zur Änderung des Heimarbeitsgesetzes und andererarbeitsrechtlicher Vorschriften
Der Bundesrat hat in der gleichen Sitzung dem Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes nicht zugestimmt. Sein Schreiben ist als Drucksache 7/2682 verteilt.Zu dem Sonderprogramm zur regionalen und lokalen Abstützung der Beschäftigung nach § 6 Abs. 2 StWG — Drucksache 7/2589 — hat der Bundestag einen Beschluß gefaßt, der als Drucksache 7'2689 verteilt ist.Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 21. Oktober 1974 die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Dritten Abkommen vom 12. Juli 1974 zur Änderung des Abkommens vom 29. Oktober 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat über Soziale Sicherheit — Drucksache 7/2579 — übersandt, die als Drucksache 7/2687 verteilt ist.Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 22. Oktober 1974 die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes 1964 — Drucksache 7/2580 — übersandt, die als Drucksache 7/2690 verteilt ist.Der Bundesminister für Forschung und Technologie hat mit Schreiben vom 16. Oktober 1974 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Lenzer, Benz, Engelsberger, Dr. Franz, Hösl, Pfeffermann, Dr. Freiherr Spies von Büllesheim, Dr. Stavenhagen, Frau Dr. Walz und der Fraktion der CDU/CSU betr. Kosten der Verwaltung von Forschungsmitteln im Forschungsministerium — Drucksache 7/2578 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 7/2693 verteilt.Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 22. Oktober 1974 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wittmann , Dr. Gruhl, Dr. Haenschke, Dr. Jahn (Braunschweig) und Genossen betr. Beschlüsse der III. Internationalen Parlamentarierkonferenz zu Umweltfragen — Drucksache 7/2532 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 7/2702 verteilt.Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat mit Schreiben vom 28. Oktober 1974 im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen, für Wirtschaft, für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sick, Frau Tübler, Bremer, Dr. Narjes, Eigen, Dreyer, Schulte , Ey, Straßmeir und Genossen betr. Koordinierung einzelner Ressortmaßnahmen zur Beachtung raumordnungspolitischer sowie regionaler und sektoraler Konjunktursituationen — Drucksache 7/2603 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 7/2710 verteilt.Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat mit Schreiben vom 31. Oktober 1974 im Einvernehmen mit dem Bundesminister des Innern, der Finanzen, für Wirtschaft, für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau die Kleine Anfrage der Abgeordneten Gewandt, Hauser , Lampersbach, Milz, Schedl, Josten, Dr. Unland, Dr. Jahn (Münster), Ey, Leicht, Dr. Stark (Nürtingen), Dr. von Bismarck, Engelsberger und Genossen betr. Bekämpfung der
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3510 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Vizepräsident von HasselSchwarzarbeit - Drucksache 7/2645 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache 7 2723 verteilt.Überweisungen von EG-VorlagenDer Präsident des Bundestages hat entsprechend dein Beschluß des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen überwiesen:Verordnung des Rates über die zolltarifliche Behandlung bestimmter, aus den neuen Mitgliedstaaten eingeführter Erzeugnisse, die in der Gemeinschaft in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung beim Bau, bei der Instandhaltung oder Instandsetzung bestimmter Luftfahrzeuge verwendet werden sollen- Drucksache 7'2671 —überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im RatMitteilung der Kommission an den Rat über die Ergebnisse der Verhandlungen mit Tunesien und Marokko über die Verlängerung der Assoziierungsabkommen zwischen der Gemeinschaft und diesen beiden LändernEmpfehlung für eine Verordnung des Ratesüber den Abschluß eines Abkommens zur Verlängerung des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Tunesischen RepublikEmpfehlung für eine Verordnung des Ratesüber den Abschluß eines Abkommens zur Verlängerung des Assoziierungsabkornmens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko— Drucksache 7/2672 -überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft , Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat.Die neue Reihenfolge der Tagesordnung für Donnerstag und für Freitag wird noch durch eine amtliche Mitteilung bekanntgegeben.Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde— Drucksache 7/2720 —Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, daß wir auch in dieser Woche zwei Fragestunden durchführen, abweichend von unseren Richtlinien, und zwar mit einer jeweiligen Dauer von 90 Minuten. Gemäß § 127 unserer Geschäftsordnung muß diese Abweichung von der Geschäftsordnung beschlossen werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; dann ist so beschlossen.Wir treten in die Fragestunde ein. Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Die Frage 2 des Abgeordneten Dr. Jahn — die einzige Frage, die zu diesem Geschäftsbereich eingereicht wurde — wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft auf, und zwar zunächst die Frage 3 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister:Treffen Pressemeldungen zu, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die Zulassungsbedingungen für das Medizinstudium im kommenden Jahr zu ändern?Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Glotz zur Verfügung.
Herr Präsident! Verehrte Frau Kollegin! Die Bundesregierung hat ihre Vorstellungen über eine Neuregelung des derzeitigen, auf Länderrecht beruhenden Zulassungsverfahrens in dem Entwurf eines Hochschulrahmengesetzes, der gegenwärtig im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft behandelt wird, vorgelegt. Die Pressemeldungen, auf die Sie Bezug nehmen, beziehen sich auf die Erwartung, daß der Entwurf vom Deutschen Bundestag noch vor Jahresende verabschiedet wird und daß das Gesetz dann im nächsten Jahr in Kraft tritt. Die Bundesregierung wird nach Inkrafttreten des Hochschulrahmengesetzes die Rahmenvorschriften durch Rechtsverordnungen konkretisieren und die neuen Zulassungsverfahren im Zusammenwirken mit den Ländern entwickeln und einführen. Bereits mit Inkrafttreten des Gesetzes wird derjenige Teil der vorgesehenen Neuregelung als unmittelbar geltendes Recht wirksam, der vorsieht, daß nach Inkrafttreten des Gesetzes in einem sogenannten Wartestudium verbrachte Zeiten später nicht mehr auf die Wartezeit angerechnet werden.
Keine Zusatzfrage? — Ich rufe die Frage 4 der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister auf:
Welchen Inhalt sollen nach Ansicht der Bundesregierung die neben dem Notendurchschnitt des Abiturzeugnisses als zusätzliche Kriterien für die Zulassung zum Medizinstudium gegebenenfalls angestrebten ergänzenden Prüfungen haben?
Bitte schön, zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Glotz.
Frau Kollegin, der Entwurf des Hochschulrahmengesetzes sieht wesentliche Änderungen des zur Zeit unbefriedigenden Zulassungsverfahrens vor. Das derzeitige Verfahren führt insbesondere in Fächern mit stark begrenzter Platzzahl — ich nenne als Beispiel das Fach Medizin — dazu, daß nur noch „Einser-Abiturienten" ohne eine lange Wartezeit eine zu verwirklichende Studienchance haben. Dies ist sicher unbefriedigend. Ziel der Neuregelung ist es, auch Schülern mit durchschnittlichen Noten eine Zulassungschance ohne unvertretbar lange Wartezeiten zu geben, falls sie für dieses Studium eine ganz besondere Studieneignung nachweisen. Nach dem gegenwärtigen. Stand der Überlegungen zwischen Bund und Ländern wird davon ausgegangen, daß möglichst viele Eignungsfaktoren herangezogen werden sollten.Für ein derartiges Eingangsverfahren im Fach Medizin kommen neben dem Abitur, das weiterhin seine Rolle spielen wird, insbesondere folgende Auswahlfaktoren in Betracht:1. Objektivierte Fähigkeits-, Verständnis- und Leistungsprüfungen in der Form von Auswahltests, die, ohne Schulwissen abzufragen, die Aussage der Zugangsberechtigung ergänzen und jeweils auf bestimmte Studienfelder beziehen sollen.2. Strukturierte Interviews durch Kommissionen aus Vertretern von Staat und Berufswelt, die bei einem bestimmten Teil der Bewerber, insbesondere in Grenzfällen, Härtefällen eine individuelle Prüfung der ganz besonderen Umstände des Einzelfalls ermöglichen. Hierbei könnten dann auch praktische
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8511
Parl. Staatsekretär Dr. GlotzI Erfahrungen in entsprechenden beruflichen Tätigkeiten gewertet werden, wenn sich dies organisieren läßt.
Eine Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister.
Herr Staatssekretär, würden dann die Berufsvertretungen der jeweiligen Berufe — ich nehme an, dies bezieht sich auch auf Zahnmedizin und Pharmazie bei der Erarbeitung solcher Auswahlverfahren herangezogen werden?
Sie müssen jetzt zwischen dem, was ich unter Punkt 1 genannt habe, nämlich den Tests, und zweitens den Interviews unterscheiden. Ich meine, daß bei den Interviews, die ja nun besonders die Aufgabe haben sollen, beim Arzt beispielsweise die sozialen Fähigkeiten, die Bereitschaft, zu heilen und zu pflegen, festzustellen, ganz sicherlich, wie ich schon gesagt habe, auch Vertreter der Berufswelt und damit also auch der Berufsverbände mitwirken sollten. Bei den Tests würde die Aufgabe sicher einem überregionalen Testinstitut übertragen werden, das geschickterweise an die zentrale Verteilungsstelle angehängt werden könnte. Bei der inhaltlichen Erarbeitung der Tests wird man sicher auch den Rat der entsprechenden Verbände und der Fachleute brauchen.
Eine zweite Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Neumeister.
Herr Staatssekretär, sehen Sie eine Möglichkeit der Differenzierung im Auswahlverfahren, in der Medizin z. B. hinsichtlich der Befähigung für den öffentlichen Gesundheitsdienst und einer besonderen Befähigung für den Einsatz im ländlichen Bereich?
Wer ein guter Arzt auf dem Land oder im öffentlichen Dienst wird, wird man sicherlich nicht im Rahmen dessen, was wir hier gerade besprochen haben, nämlich im Rahmen der neuen Möglichkeiten durch Tests und durch strukturierte Interviews, herausfinden können. Wir haben aber vorgesehen — ich glaube, wir hatten über diese Frage schon einmal eine Diskussion —, daß der Versuch gemacht wird, im Rahmen des neu zu regelnden gesamten Zulassungsverfahrens nach dem Hochschulrahmengesetz — dies steht hiermit nicht in direktem Zusammenhang auch die Frage zu prüfen, ob etwa eine Bereitschaftserklärung, als Landarzt tätig zu werden, die Studienchance verbessern kann. Dies ist nicht einfach, weil man objektive Kriterien finden muß. Die Abgrenzung wird dann sehr schwierig werden. Es liegt aber in unserer Intention — so steht es auch in der Begründung des Hochschulrahmengesetzes —, dies zu versuchen. Das endgültige Ergebnis dieses Versuchs kann ich jetzt noch nicht vorwegnehmen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, können Sie den Zeitpunkt nennen, zu dem diese Neuordnung in etwa eine Chance hat, in Kraft zu treten, und würden diejenigen, die seit Jahren auf eine Zulassung warten, über die neuen Modalitäten unterrichtet werden, so daß sie sich, gerade weil sie die Schule schon seit langem verlassen haben, auf die neue Situation vorbereiten können?
Herr Abgeordneter, wir hoffen, daß wir das Hochschulrahmengesetz noch in diesem Jahr im Bundestag verabschieden. Ich weiß nicht, wie lange es dann dauern wird, bis das Gesetz endgültig rechtskräftig wird, da ich Ihnen noch nicht sagen kann, ob der Bundesrat — dieses Gesetz ist ja zustimmungsbedürftig — Einspruch erheben wird und wie lange dann ein eventuelles Vermittlungsverfahren dauern würde. Wir können jedenfalls davon ausgehen, daß ein endgültiges Ergebnis irgendwann im Frühjahr des Jahres 1975 vorliegt. Dann werden einzelne Elemente sofort rechtskräftig, beispielsweise die Abschaffung des Wartestudiums. Andere Elemente so die Tests — müssen ausgearbeitet werden. Ich schätze, daß es zwei Jahre dauern wird, bis die Tests auch in einem Vorlauf so ausprobiert sind, daß sie auf breiter Front, d. h. überall eingesetzt werden können. Die Informationen werden wir, wenn das Gesetz rechtskräftig ist, noch stärker geben als jetzt. Auch jetzt schon bemüht sich die Bundesregierung, immer darauf hinzuweisen, daß das Problem einer gerechten oder zumindest einer sozial gerechteren Zulassungsregelung das entscheidende Problem des Hochschulrahmengesetzes ist. Wir versuchen, dabei auch die Einzelregelungen darzustellen.
Keine weiteren Zusatzfragen. Wir sind damit am Ende der Fragen angelangt, die zu diesem Geschäftsbereich eingereicht worden sind. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung!
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Ich rufe die Frage 5 des Herrn Abgeordneten Windelen auf:
Trifft es zu, daß in Warschau akkreditierten Journalisten von offizieller oder offiziöser Seite Bücher übergeben wurden, die den Anspruch erheben, die deutscherseits amtlich ermittelte Zahl der Vertreibungstoten mit wissenschaftlichen Methoden als Fälschung nachzuweisen?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Schmude zur Verfügung.
Herr Kollege Windelen, die Presseagentur „Interpress" hat den in Warschau akkreditierten Journalisten aus der Bundesrepublik Deutschland und aus anderen westlichen Ländern kürzlich das Buch von Stanislav Schimitzek „Vertreibungsverluste? — Westdeutsche Zahlenspiele" übergeben. Schimitzek, Jurist und Diplomat, zuletzt Leiter der Auslandsabteilung der Presseagentur
8512 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Parl. Staatssekretär Dr. Schmude
West, versucht in diesem Buch zu beweisen, daß die in der Bundesrepublik Deutschland angestellten Berechnungen über Vertreibungsverluste zu hoch seien.
Das Buch von Schimitzek ist nicht neu. Es ist bereits im Jahre 1966 — auch in deutscher Sprache — erschienen und in der Bundesrepublik vertrieben worden. In der Bibliothek des Deutschen Bundestages z. B. steht es seit 1969 zur Verfügung, in der Bücherei des damaligen Bundesvertriebenenministeriums seit 1967. Eine Reaktion der Bundesregierung oder des zuständigen Ministers auf das Erscheinen des Buches hat es nicht gegeben.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Windelen.
Hält es die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, angesichts der aktuellen Diskussion nicht für geboten, den Vorwurf der Fälschung, der hier dem Statistischen Bundesamt und den Heimatauskunftsstellen gemacht wird, zu überprüfen und ihn gegebenenfalls zurückzuweisen?
Die Bundesregierung, Herr Kollege Windelen, geht davon aus, daß dieses, wie ich schon sagte, seit 1967 bei uns verfügbare Buch seit langem zur Kenntnis genommen ist und daß es keinen Anlaß gibt, darin enthaltene Behauptungen erneut zu überprüfen und zurückzuweisen. Ich kann Ihnen aber zusätzlich berichten, daß dieses Buch auch zum Arbeitsmaterial derjenigen gehört, die sich bei uns mit Berichten in diesem Sachbereich beschäftigen.
Eine weitere Zusatzfrage, der Abgeordnete Windelen.
Wäre es nicht, Herr Staatssekretär, angesichts dieser Situation am zweckmäßigsten, die Dokumentation über die Vertreibungsverbrechen zu veröffentlichen, um der polnischen Seite die Möglichkeit zu geben, diese nachzuprüfen?
Herr Kollege Windelen, die Bundesregierung hat in der Fragestunde des Bundestages in den letzten zwei Monaten mehrfach deutlich gemacht, weshalb eine Veröffentlichung des Berichts, den Sie ansprechen, nicht in Betracht gezogen wird. Auch dieses Buch gibt keine Veranlassung, von dieser Haltung abzugehen, zumal es — ich wiederhole dies — nicht erst seit heute, sondern seit sieben Jahren vorliegt.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, können Sie mir darin zustimmen, daß dieses Buch gerade jetzt eine besondere Aktualität hat, und ist aus
Ihren Ausführungen zu schließen, daß diese Zahlenangaben, die bekanntlich falsch sind, von Ihnen unwidersprochen hingenommen werden?
Herr Kollege Dr. Hupka, zunächst kann ich Ihnen bestätigen, daß offenbar die polnische Seite meint, diesem Buch jetzt eine besondere Aktualität geben zu sollen. Dies nötigt die Bundesregierung noch nicht zu irgendwelchen Reaktionen. Die Zahlen, die in dem Buch angegeben werden, sind in der Tat umstritten und stimmen nicht mit den bei uns auf wissenschaftlicher Grundlage ermittelten Zahlen überein. Aber auch die bei uns festgestellten Zahlen sind nicht in allen Fällen identisch. Es gibt hier unterschiedliche Angaben.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, nachdem nunmehr öffentlich, und zwar gegenüber allen in Warschau akkreditierten Journalisten, der Vorwurf und die Beschuldigung geäußert worden sind, eine oberste Bundesbehörde, das Statistische Bundesamt, habe falsche Angaben gemacht, frage ich Sie, ob das Ihrer Meinung nach mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen werden kann, daß dieses Buch schon 1966 erschienen ist und seit 1969 in der Bibliothek des Bundestages steht, ob Sie nicht vielmehr der Meinung sind, daß man sich angesichts dieses Fälschungsvorwurfs unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Aussagen schützend vor diese oberste Bundesbehörde stellen müßte, und ob Sie in diesem Sinne etwas unternehmen werden.
Herr Kollege Dr. Czaja, ich bin in der Tat der Meinung, daß der Vorgang, über den ich hier in der Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Windelen berichtet habe, nicht eine öffentliche Bedeutung hat, die es geraten oder gar geboten erscheinen ließe, daß sich die Bundesregierung offiziell mit diesem Buch auseinandersetzt.
Keine weiteren Zusatzfragen. Die Fragen 6 des Abgeordneten Dr. Evers, des Abgeordneten Dr. Evers, 8 des Abgeordneten Gerlach , 9 des Abgeordneten Dr. h. c. Wagner (Günzburg), 10 des Abgeordneten Franke (Osnabrück) und 11 des Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Windelen auf.Wurde einem beim Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen tätigen amerikanischen Wissenschaftler, der an einem wissenschaftlichen Werk über die Vertreibung der Ostdeutschen arbeitet, vom Bundesarchiv Koblenz die Einsichtnahme in die Dokumentation der Vertreibungsverbrechen verweigert, obwohl diese nach Auskunft der Bundesregierung in der Fragestunde vom 25. September 1974 der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung steht, und wenn ja, aus welchem Grunde?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8513
Vizepräsident von HasselZur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schmude.
Herr Kollege Windelen, das Bundesarchiv vermutet — so lautet die uns erteilte Auskunft —, daß es sich bei dem von Ihnen namentlich nicht genannten Antragsteller um einen amerikanischen Wissenschaftler handelt, der mit dem Bundesarchiv seit November 1973 in schriftlicher Verbindung steht. Ihm wurde im Zusammenhang mit Recherchen nach Quellenmaterial zu seinem Arbeitsvorhaben „Völkerrechtliche Aspekte der Vertreibung" seit November 1973 wunschgemäß eine bestimmte Auswahl von Erlebnis- und Gemeindeschicksalsberichten über das staatliche Archivlager in Göttingen zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Im September und Oktober 1974 hat der Wissenschaftler um Einsichtnahme in den innerdienstlichen Bericht des Bundesarchivs über die Materialsammlung gebeten. Dieser Antrag wurde abgelehnt.
Wie die Bundesregierung in der Fragestunde des Deutschen Bundestages mehrfach deutlich gemacht hat, gehört der Bericht nicht zum Quellenmaterial und ist nicht öffentlich zugänglich. Der amerikanische Wissenschaftler hat somit die beim Bundesarchiv entstandene Dokumentation entsprechend der Aussage der Bundesregierung vom 25. September 1974 eingesehen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Windelen.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie nach diesen Ausführungen fragen — es handelt sich bei meiner Frage in der Tat um den von Ihnen zitierten Fall —, wer denn überhaupt in die Dokumentation Einsicht nehmen kann und an welche Stelle er sich zwecks Genehmigung wenden muß.
Herr Kollege Windelen, zunächst darf ich in Erinnerung rufen, daß wir hier in der Fragestunde des Bundestages mehrfach deutlich gemacht haben, daß dieser Bericht nach seiner Zweckbestimmung, nach seiner Anlage und nach seinem Inhalt nicht dazu bestimmt ist, öffentlich zugänglich gemacht zu werden, und daß es sich um einen innerdienstlichen Bericht zur Unterrichtung der Behörden der Bundesrepublik Deutschland handelt. Insofern ist auch nicht beabsichtigt, diesem Wissenschaftler den Bericht auf anderem Wege zugänglich zu machen.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Windelen.
Herr Staatssekretär, diese Feststellung weicht von Auskünften ab, die in diesem Hause zu einem früheren Zeitpunkt gegeben worden sind und die auch mir auf meine Frage vom Herrn Bundesinnenminister gegeben wurden. Dort hieß es, daß diese Dokumentation für wissenschaftliche Zwecke und für spätere Verhandlungen vorgesehen sei. Ich frage Sie also: Ist bisher überhaupt schon einem Wissenschaftler Einblick in diese Dokumentation gegeben worden oder haben alle, wie der erwähnte Wissenschaftler, auf einem vorgedruckten Formular einen Ablehnungsbescheid bekommen?
Ob andere Antragsteller einen Ablehnungsbescheid bekommen haben, kann ich Ihnen insofern nicht beantworten, als ich jetzt nicht weiß, inwieweit es andere Antragsteller gibt.
— Ich halte es für möglich, daß es sich um ein Formular auch für andere Fälle handelt, nicht nur für die Ablehnung zur Einsichtnahme.
Was aber die Dokumentation anbelangt, Herr Kollege Windelen, so verweise ich darauf, daß es sich nach dem Sprachgebrauch, den auch die Bundesregierung bisher konsequent eingehalten hat, bei der Dokumentation um die mehrere tausend Blatt Quellenmaterial handelt, die in diesem Bericht zusammengefaßt bzw. ausgewertet worden sind. Die Dokumentation steht nach der Benutzungsordnung des Bundesarchivs zur wissenschaftlichen Benutzung zur Verfügung, der innerdienstliche Bericht, der gewisse Folgerungen aus der Dokumentation, aus den vorliegenden Darstellungen zieht, nicht.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, können Sie das Hohe Haus darüber aufklären, warum seitens des Innenministeriums nun plötzlich der Ausdruck „innerdienstlicher Bericht" verwendet wird, nachdem zuvor und auch in der Fragestunde im September 1974 immer nur von der neuerstellten Dokumentation die Rede war?
Herr Kollege Hupka, ich kann Ihre Auslegung des Sprachgebrauchs in der Fragestunde, etwa am 25. September 1974, nicht teilen und rege an, daß das, was Sie hier vortragen, noch einmal nachgeprüft wird.
Nach meiner Erinnerung und auch nach der von mir noch gestern vorgenommenen Überprüfung ist von einem Bericht gesprochen worden und ist der Begriff „Dokumentation" ausschließlich für die Bezeichnung des Quellenmaterials, das in diesem Bericht ausgewertet wurde, verwendet worden.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Freiherr von Fircks.
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8514 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Herr Staatssekretär, entspricht die Erstellung eines nur innerdienstlichen Berichts dem Auftrag, den die Bundesregierung seinerzeit dem Bundesarchiv zu erteilen beschlossen hat?
Diese Frage kann ich in vollem Umfang bejahen, Herr Kollege von Fircks. Denn wie Sie sich erinnern werden, ist dieser Auftrag von vornherein in der erklärten Absicht erteilt worden, den Bericht nicht zu veröffentlichen, sondern ihn zur eigenen, d. h. innerdienstlichen Verwendung der Bundesregierung und gegebenenfalls anderer Behörden zu erstellen.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, können Sie leugnen, daß in den Fragestunden, auf die Sie Bezug nehmen, seitens Ihres Hauses ausdrücklich davon die Rede war, daß dieser Bericht — nicht die zugrunde liegenden Blätter — Wissenschaftlern zur wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung gestellt wird, und womit begründen Sie eigentlich die Auffassung, daß dieser Bericht plötzlich nur inner-dienstlich, wie Sie sich ausdrücken, verwendet werden und nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll? Auf welche gesetzlichen Grundlagen stützen Sie sich dabei angesichts des allgemeinen Informationsrechts, das im Grundgesetz verankert ist?
Herr Kollege Dr. Czaja, was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht, so kann ich auf die soeben gemachte Aussage verweisen, in der ich erläutert habe, weshalb die Bundesregierung von einem innerdienstlichen Bericht spricht.
Was den ersten Teil Ihrer Frage, nämlich den Hinweis auf frühere Fragestunden hier im Bundestag, angeht, so muß ich Sie schon darum bitten, wörtlich zu zitieren, wenn Sie erreichen wollen, daß ich die von mir gemachte Aussage überprüfe. Denn, wie gesagt, ich habe mich gestern noch davon überzeugt, daß der Sprachgebrauch nicht der ist, den Sie hier zitieren oder darstellen.
Können Sie leugnen, daß der Bericht für wissenschaftliche Zwecke bereitgestellt werden sollte? Das können Sie doch nicht leugnen!
Es handelt sich nicht um den Bericht, der dafür bereitgestellt werden sollte!
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Böhm.
Wie kann ein Wissenschaftler vom gegenwärtigen Stand der Dokumentation überhaupt Kenntnis erhalten, wenn das Ganze nur für den innerbetrieblichen Gebrauch gedacht ist?
Auch dazu hat die Bundesregierung in früheren Fragestunden ausführlich dargelegt, daß es eine Fülle wissenschaftlichen Materials, auch bereits veröffentlichter Dokumente und Dokumentationen, gibt, aus dem Wissenschaftler die von ihnen für erforderlich gehaltenen Erkenntnisse beziehen können. Des Berichtes, über den hier gesprochen wird, bedarf es dazu nicht.
Eine Zusatzfrage hat der Herr Abgeordnete Ey.
Herr Staatssekretär, warum ist diese Dokumentation plötzlich zur Verschlußsache geworden?
Ich darf noch einmal erklären, daß nicht die Dokumentation zur Verschlußsache geworden ist, sondern daß der Bericht von vornherein nicht zur Veröffentlichung oder zum öffentlichen Zugang bestimmt war.
Soweit es sich um die dort liegenden und in diesem Bericht ausgewerteten Dokumente handelt, stehen sie zur wissenschaftlichen Benutzung nach der Benutzungsordnung des Bundesarchivs zur Verfügung.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 13 des Herrn Abgeordneten Freiherr von Fircks auf:
Kann die Bundesregierung Pressemeldungen des Organs der Polnischen Volkspartei in London — „Jutro Polski" — sowie des Organs der Polnischen Europa Union in Paris — „Polska w Europie” — bestätigen, die über eine zunehmende Infiltration westlicher polnischer Zentren durch polnische Geistliche berichten, die auf Sonderkursen von kommunistischen Staatsfunktionären ausgebildet werden sollen und auf deren Auswahl der Primas von Polen keinen Einfluß hat, und sind in der Bundesrepublik Deutschland bei den hier vorhandenen polnischen Vereinigungen und den hier tätigen polnischen Geistlichen gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht worden?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Herr Kollege von Fircks, der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor, die die von Ihnen angesprochenen Pressemeldungen über eine zunehmende Infiltration westlicher polnischer Zentren durch kommunistisch geschulte polnische Geistliche bestätigen.Eine Antwort auf den zweiten Teil Ihrer Frage entfällt damit.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8515
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, kann daraus geschlossen werden, daß alle Pressemeldungen, die darüber verlautbart worden sind, jeglicher Grundlage entbehren?
Zunächst, Herr Kollege von Fircks, ist meines Wissens nur von einer einzigen Pressemeldung die Rede, die in London erschienen sein soll.
In der Tat kann im übrigen aus der von mir erteilten Antwort geschlossen werden, daß nach den der Bundesregierung vorliegenden, sorgfältig erarbeiteten Erkenntnissen diese Meldung nicht zutrifft.
Keine Zusatzfrage.
Die Frage 14 des Herrn Abgeordneten Gierenstein
wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 15 des Herrn Abgeordneten Gerster auf:
Ist die Bundesregierung bereit und in der Lage, noch vor der Durchführung der Volksentscheide in Rheinland-Pfelz und Niedersachsen einen Gesetzentwurf Tiber die nach Artikel 29 des Grundgesetzes vorgeschriebene Gesamtneugliederung des Bundesgebiets vorzulegen?
Bitte, zur Beantwortung, Herr Staatssekretär!
Wegen des Zusammenhangs der Fragen 15 und 16 würde ich sie mit Genehmigung des Fragestellers gern gemeinsam beantworten.
Einverstanden. Dann rufe ich auch Frage 16 des Herrn Abgeordneten Gerster auf:
Teilt die Bundesregierung meine Auffassung, daß die zu Volksentscheiden aufgerufenen Bürger in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen vor Abgabe ihrer Stimme zumindest darüber Kenntnis haben sollten, oh und in welcher Weise die Bundesregierung die Gesamtneugliederung des Bundesgebiets durchzuführen gedenkt?
Herr Kollege Gerster, die Bundesregierung hält es nicht für sachgemäß, noch vor der Durchführung der Volksentscheide in den Ländern Rheinland-Pfalz und Niedersachsen einen Gesetzentwurf über die Gesamtneugliederung des Bundesgebietes vorzulegen. Nach wie vor ist sie der hier mehrfach vorgetragenen Auffassung, daß ein von ihr zu unterbreitender Vorschlag einer Gesamtneugliederung die Billigung einer überwiegenden Mehrheit der politischen Öffentlichkeit zur Voraussetzung haben sollte.
Wie der Bundesminister des Innern vor dein Plenum des Bundesrates am 12. Juli 1974 ausgeführt hat, müßte eine von oben in Gang gesetzte Neugliederungsbewegung ohne den ehrlichen Willen der Mehrheit innerhalb der Parteien und innerhalb unserer Bevölkerung nach Auffassung der Bundesregierung unsere Demokratie zur Farce machen und nach Scheingeschäftigkeiten wie das Hornberger Schießen enden. Nach dein gegenwärtigen Stand der Meinungslage ist mit dem erforderlichen Mindestkonsens nicht zu rechnen.
Aus diesen soeben vorgetragenen Gründen hat sich die Bundesregierung bisher nicht für ein konkretes Konzept der Gesamtneugliederung des Bundesgebietes entschieden. Eine solche Absicht könnte demnach den zu Volksentscheiden aufgerufenen Bürgern nicht bekanntgegeben werden.
Die Bundesregierung geht im übrigen davon aus, daß die in der Diskussion stehenden Neugliederungsvorschläge für den mittelwestdeutschen Raum, die sämtlich den Bestand des Landes Rheinland-Pfalz berühren, der Bevölkerung in den Abstimmungsgebieten bekannt sind oder ihr bis zum Abstimmungstermin noch bekannt werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Gerster.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß Art. 29 Abs. 3 des Grundgesetzes, der die Durchführung der Volksentscheide bis zu einem bestimmten Termin, nämlich bis zum 31. März 1975, vorschreibt, im Hinblick darauf geschaffen wurde, mit Hilfe der Volksentscheide die Gesamtneugliederung voranzutreiben?
Diese Auffassung kann ich nicht teilen, Herr Kollege Gerster. Je nach dem Ergebnis der jetzt durchzuführenden Volksentscheide werden sich weitere Notwendigkeiten einer baldigen Neugliederung ergeben oder nicht ergeben.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerster.
Gerster (CDU 'CSU) : Herr Staatssekretär, kann ich dann, wenn die Bundesregierung bis zur Durchführung der Volksentscheide kein Gesamtkonzept vorlegt oder vorlegen kann, davon ausgehen, daß bei einem positiven Verlauf auch nur eines Volksentscheids die Bundesregierung verfassungsgemäß an eine Teilneugliederung denkt?
Wie ich eben schon dargelegt habe, Herr Kollege Gerster, hat sich die Bundesregierung bisher noch nicht für ein konkretes Konzept der Neugliederung — oder auch einer Teilneugliederung - entschieden. Wenn einer der Volksentscheide den von Ihnen jetzt angesprochenen Verlauf haben sollte, werden daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen sein. Welcher Art diese Folgerungen sein werden, kann ich hier noch nicht sagen; insoweit kann ich der Entscheidung der Bundesregierung nicht vorgreifen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerster.
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8516 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß nach Art. 29 des Grundgesetzes dann, wenn ein Volksentscheid positiv verläuft, wenn also von der Bevölkerung eine Veränderung gewünscht wird, der Bundesgesetzgeber grundsätzlich verpflichtet ist, innerhalb eines Jahres dem Votum der Bevölkerung entsprechend eine Teilneugliederung vorzunehmen, und muß nicht unter diesem Gesichtspunkt dann zumindest ein Konzept der Bundesregierung vorliegen, damit nicht etwa im Jahre 1976 eine Teilneugliederung notwendig wird, die später möglicherweise bei einer Gesamtneugliederung wieder über den Haufen geworfen wird?
Wenn Sie den Begriff der Teilneugliederung, Herr Kollege Gerster, so einschränken, wie Sie es jetzt tun, nämlich auf das beschränken, was sich aus dem Votum beim Volksentscheid unmittelbar ergibt, so stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Was die Weiterungen betrifft, die sich aus einem solchen Teilneugliederungsentwurf ergeben könnten, so kann ich, wie gesagt, weiteren Entscheidungen der Bundesregierung jetzt noch nicht vorgreifen. Die Bundesregierung bedauert selbst, daß die bisher diskutierten Möglichkeiten und Vorschläge nicht in weiteren Bereichen zu einer einheitlichen Meinungsbildung geführt haben.
Eine letzte Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir dann sagen, warum die Bundesregierung seit Vorlage des Ernst-Gutachtens, also des Ergebnisses der Ernst-Kommission, worin ja Vorschläge zu einer Gesamtneugliederung unterbreitet werden, nicht die Diskussion zumindest in den zuständigen Gremien, etwa im Innenausschuß des Bundestages, begonnen hat, um wenigstens in dieser Frage voranzukommen, und kann ich aus dieser Nichttätigkeit schließen, daß die Bundesregierung derzeit kein aktuelles und konkretisiertes Interesse an einer Gesamtneugliederung hat?
Die Bundesregierung hat durchaus ein Interesse daran, dem Verfassungsgebot des Art. 29 auch insoweit nachzukommen, als sich diese Verfassungsvorschrift über den Bereich der jetzt durchgeführten Volksentscheide hinaus erstreckt. Die Bundesregierung hat demgemäß die Neugliederungsvorschläge der von Professor Ernst geleiteten Sachverständigenkommission bereits im Frühjahr 1973 allen beteiligten Stellen im Bund und in den Ländern sowie der gesamten Öffentlichkeit zur Stellungnahme unterbreitet. Diese Vorschläge fanden bei der Presse, bei der betroffenen Bevölkerung und insbesondere bei den betroffenen Ländern ein überwiegend negatives Echo. Die Haltung der politischen Parteien ist je nach der lokalen Interessenlage verschieden. Eine einheitliche Stellungnahme der Parteien auf Bundesebene liegt nicht vor. Dies ist die Ausgangssituation, in der die Bundesregierung bisher davon abgesehen hat, einen größeren Neugliederungsentwurf vorzulegen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Jäger .
Herr Kollege Schmude, Sie sprachen, wenn ich Sie recht verstanden habe, in Ihrer ersten Antwort von einem gewissen politischen Mindestkonsens in der deutschen Öffentlichkeit, ohne den die Bundesregierung keinen umfassenden Neugliederungsentwurf vorlegen wird. Mich würde interessieren, welche Anforderungen die Bundesregierung an einen solchen Mindestkonsens stellt, damit diese Voraussetzung ihrer Politik überhaupt eintreten kann.
Ich habe versucht, Herr Kollege Jäger, in der ersten Antwort, die ich Herrn Kollegen Gerster gegeben habe, deutlich zu machen, daß die Bundesregierung der Auffassung ist, daß ein von ihr zu unterbreitender Vorschlag einer Gesamtneugliederung die Billigung einer überwiegenden Mehrheit der politischen Öffentlichkeit zur Voraussetzung haben sollte. Die Bundesregierung, ob sie es bedauert oder nicht, muß zur Kenntnis nehmen, daß ein ohne diese Voraussetzung vorgelegter Vorschlag zum Scheitern verurteilt wäre und eine Geschäftigkeit vortäuschen würde, die in Wirklichkeit zu keinem Ergebnis führen kann.
Keine weiteren Zusatzfragen. Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Dr. Hupka auf:
Welchen Inhalt hat die Formulierung gesamtstaatliche Selbstdarstellung", die von Bundeskanzler Schmidt als Auftrag der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in seiner Erklärung vom 18. Oktober 1974 gebraucht wurde, und soll diese Formulierung ein neues Ersatzwort für gesamtdeutsch sein, um diesen Ausdruck vermeiden zu können?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schmude!
Herr Kollege Dr. Hupka, der Bundeskanzler hat es beim Austausch der Urkunden über das Bund-Länder-Abkommen über die gemeinsame Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz begrüßt, daß künftig alle Länder die Stiftung mittragen und ihren Anteil an der „gesamtstaatlichen Selbstdarstellung" übernehmen. Der Begriff bezeichnet ein über die Grenzen einzelner Bundesländer hinaus bedeutsames gemeinschaftliches Anliegen aller Länder und des Bundes. Um ein Ersatzwort für „gesamtdeutsch" handelt es sich also nicht.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, kurz zuvor sagte aber der Bundeskanzler, das in der Stiftung verkörperte Erbe gehöre mit zur Aufgabe dieser Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und bei die-
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Dr. Hupkasem Erbe innerhalb dieser Stiftung kann es sich ja nicht nur um das handeln, was aus der Bundesrepublik Deutschland kommt, sondern es kann sich nur um ein gesamtdeutsches Erbe handeln. So ist ja die Stiftung angelegt.
Es trifft zu, Herr Kollege Dr. Hupka, daß es eine der vornehmsten Aufgaben der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist, das in ihren Sammlungen verkörperte Erbe zu bewahren und zu pflegen. Daß dies den Interessen der ganzen deutschen Nation unabhängig von ihrer staatlichen Ordnung dient, liegt auf der Hand. Bei dem Vorgang, anläßlich dessen der Bundeskanzler den von Ihnen in Frage gestellten Begriff verwendet hat, ging es jedoch in erster Linie nicht um die Aufgaben der Stiftung, sondern um die Finanzierung der von ihr geleisteten Arbeit.
Eine weitere Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Hupka.
Hier war aber, wenn ich recht lesen kann, Herr Staatssekretär, nicht mehr von der Finanzierung die Rede — das war gleichsam die Ouvertüre —, sondern von der gesamtstaatlichen Selbstdarstellung als Aufgabe dieser Stiftung, und vielleicht können Sie uns erklären, was unter „gesamtstaatlich" nun tatsächlich zu verstehen ist, oder soll das nur die Addierung der Bundesländer sein?
Herr Kollege Hupka, ich darf noch einmal daran erinnern, daß dieser Begriff vom Herrn Bundeskanzler verwendet worden ist aus Anlaß des Austausches der Urkunden über das Bund-Länder-Abkommen über die gemeinsame Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Wegen dieser gemeinsamen Finanzierung waren sehr langfristige Verhandlungen erforderlich. Es wurde allgemein — wie die Bundesregierung glaubt mit Recht — als Erfolg gewertet, daß nun endlich ein solches Abkommen über die Finanzierung zustande gekommen ist. Bei dieser Gelegenheit hat der Bundeskanzler es positiv gewürdigt, daß nunmehr alle Länder das in der Stiftung verkörperte Erbe sichtbar mittragen, daß heißt auch finanziell mittragen und ihren Anteil an der gesamtstaatlichen Selbstdarstellung übernehmen. Diesen Begriff hatte ich in der Ihnen zuerst erteilten Antwort erläutert.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Böhm.
Herr Staatssekretär, darf ich dann nach den von Ihnen bisher gegebenen Antworten davon ausgehen, daß die Stiftung nach dem Willen der Bundesregierung die Aufgabe hat, das gemeinsame gesamtdeutsche Erbe zu pflegen?
Herr Kollege Böhm, Sie können nach den bisher von mir erteilten Antworten davon ausgehen, daß sich an der Aufgabe der Stiftung, von der eben auch schon deutlich die Rede war, durch diesen Vorgang, über den wir hier sprechen, nichts ändert, wohl aber an der Finanzierung. Nur darum ist es gegangen.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Freiherr von Fircks.
Herr Staatssekretär, die volle Aussage des Bundeskanzlers lautet doch: „Mindestens ebenso wichtig ist, daß alle Länder das in der Stiftung verkörperte Erbe nun auch äußerlich sichtbar mittragen und ihren Teil an der gesamtstaatlichen Darstellung übernehmen." Zu dem Zusammenhang zwischen dem Erbe und dem Begriff der gesamtstaatlichen Darstellung frage ich Sie: Ist das identisch mit der Aufgabenstellung, wie sie bisher bestand, die in dem Begriff „gesamtdeutsch" zum Ausdruck kam?
Ich kann nur wiederholen, Herr Kollege von Fircks, daß sich an der Aufgabenstellung der Stiftung nicht das Geringste geändert hat, daß aber der Bundeskanzler in seinen Ausführungen es ausdrücklich begrüßt hat, daß sich nun alle Länder auch finanziell an dieser Aufgabenbewältigung beteiligen, die nach unserer Auffassung eine gemeinsame Sache des Bundes und der Länder ist.
Eine Zusatzfrage hat der Abgeordnete Jäger .
Herr Staatssekretär, nachdem Sie sich nun die ganze Zeit auf die Fragen des Kollegen Böhm und des Kollegen von Fircks wie die Katze um den heißen Brei um den Begriff „gesamtdeutsch" herumzuschleichen versuchen, frage ich Sie: Hat nicht der Kollege Hupka mit seiner Befürchtung im Grunde recht?
Entschuldigung, Herr Kollege Jäger, könnten Sie den letzten Halbsatz Ihrer Frage noch einmal wiederholen?
Der letzte Halbsatz bestand darin, ob der Kollege Hupka mit seiner Befürchtung, die in seiner Frage zum Ausdruck kommt, durch Ihr eigenes Vorgehen nicht im Grunde bestätigt worden ist.
Herr Kollege Jäger, ich nehme die Kritik an den Antworten, die ich hier erteile, zur Kenntnis. Ich kann aber nur darauf verweisen, daß ich mit diesen Antworten genau bei dem Gegenstand bleibe, um den es in der Frage und bei dem mit der
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8518 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Pail. Staatssekretär Dr. SchmudeFrage angesprochenen Vorgang geht. Wenn andere Fragen zu stellen sind, insbesondere nach den Aufgaben oder etwa, ob sich die Aufgaben der Stiftung jetzt ändern sollen, dann rege ich an, daß Sie entsprechende Fragen stellen. Dann wird Ihnen mit noch größerer Deutlichkeit, als ich es getan habe, die Antwort dazu gegeben.
Ich rufe auf die Frage 18 des Abgeordneten Josten:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die Dokumentation „Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs" alle wesentlichen Aspekte des Problems ausreichend berücksichtigt, oder wäre nicht — wie bei der Dokumentation der Vertreibung - eine spezielle Dokumentation der an Kriegsgefangenen in Ost und West begangenen Verbrechen insbesondere auch deshalb erforderlich, weil die Konferenz der Justizminister 1965 einstimmig die Strafverfolgung der an Deutschen im Zusammenhang mit dem Krieg begangenen Verbrechen beschlossen hat?
Zur Beantwortung bitte, Herr Staatssekretär!
Herr Kollege Josten, das Schicksal von 11 bis 12 Millionen deutschen Kriegsgefangenen in mehr als 20 Gewahrsamsstaaten von den Kriegsjahren bis zum Jahre 1956, als die letzten heimkehrten, in seinem ganzen Umfang und in der ganzen Vielfalt als ein Stück deutscher Zeitgeschichte zu erfassen, ist die Aufgabe der Dokumentation „Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges". Nach der Anlage der von einer 1957 begründeten wissenschaftlichen Kommission unter Leitung von Professor Erich Maschke, Heidelberg, erarbeiteten 18 Bände von insgesamt 22 Bänden möchte ich Ihre Frage, ob dabei alle wesentlichen Aspekte des Problems ausreichend berücksichtigt werden, bejahen.
Sie bringen Ihre Frage auch in Zusammenhang mit einer Entschließung der Konferenz der Justizminister der Länder vom 27. bis 29. Oktober 1965 über die Verfolgung von Verbrechen, die an Deutschen begangen worden sind. Das veranlaßt mich, an die Problematik solcher Strafverfolgungen zu erinnern. Bei den Verbrechen gegen Deutsche während des Krieges und im zeitlichen Zusammenhang mit dem Krieg handelt es sich regelmäßig um Taten, die nicht erreichbare Täter im Ausland begangen haben. In diesen Fällen werden Ermittlungen praktisch ins Leere geführt. Dementsprechend haben sich die Justizminister der Länder in ihrer Entschließung für eine Verfolgung von Verbrechen, die im Zusammenhang mit dem letzten Krieg, namentlich bei der Vertreibung an Deutschen, begangen worden sind, nur in den Fällen ausgesprochen, in denen die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen hierzu gegeben sind. Damit vergleichbar sind Verbrechenstatbestände in Ost und West, die deutsche Kriegsgefangene betreffen.
Bei der Erstellung einer entsprechenden Dokumentation stünde allerdings der Aufwand in keinem Verhältnis zu dem Ergebnis. Diese Erkenntnis lag der Entschließung der Justizminister der Länder schon vor rund zehn Jahren, also in größerer zeitlicher Nähe zum Kriegsende, zugrunde. Die gleiche Erkenntnis hat heute noch mehr Gewicht als damals.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Josten.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie recht verstanden, daß Sie meine Meinung teilen, die Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges wäre nicht vollständig, würde man die an unseren Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen verschweigen oder verharmlosen, jedenfalls insoweit, als man sie noch feststellen kann?
Herr Kollege Josten, ich habe Ihrer Frage eine derartige Fragestellung nicht entnommen. Ihre Frage richtet sich vielmehr darauf, ob die vorliegende Dokumentation vollständig ist. Nachdem ich auf den Zweck der Dokumentation eingegangen bin, habe ich diese Frage bejaht. Daß auch die an Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen in den Zusammenhang dieser Dokumentation gehören, halte ich für selbstverständlich. Eine andere Frage ist, ob zusätzlich eine besondere Dokumentation über solche Verbrechen erstellt wird. Dies habe ich als nicht angemessen bezeichnet.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Josten.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, mir gegebenenfalls schriftlich die Frage zu beantworten, ob die Bundesregierung mit mir der Ansicht ist, daß bei der Erstellung der Dokumentation zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges nur die Wahrheit Verwendung finden darf und daher auch Verbrechen an deutschen Kriegsgefangenen genauso festgehalten werden müssen wie Verbrechen von Angehörigen unseres Volkes, welche in Dokumentationen und Schriften festgehalten wurden?
Herr Kollege Josten, ich kann Ihnen schon heute hier bestätigen, daß nach Auffassung der Bundesregierung auch die von Ihnen angesprochenen Vorgänge in dieser Dokumentation festzuhalten sind, soweit das in den Rahmen und in die Anlage der Dokumentation paßt. Es ist eben nur eine andere Frage — und insoweit weiß ich nicht, ob ich Sie zuletzt noch richtig verstanden habe —, ob eine besondere Dokumentation über die an Kriegsgefangenen verübten Verbrechen erstellt werden soll.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Czaja.
Herr Staatssekretär, ich wollte Sie fragen, warum Sie eigentlich den zweiten Teil der Frage des Herrn Kollegen Josten nicht beantwortet haben, in dem er sich darauf beruft, daß die Konferenz der Justizminister einstimmig die Strafverfolgung hinsichtlich der an Deutschen im Zusammenhang mit dem Krieg begangenen Verbrechen beschlossen hat, und ich wollte Sie fragen,
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Dr. Czajawarum Sie nicht schon auf Grund des Legalitätsprinzips, also auf Grund der gesetzlichen Pflicht zur Verfolgung insbesondere von Mord innerhalb von 30 Jahren — auch wenn der Mord außerhalb des Bundesgebiets an Deutschen begangen worden ist —, die Notwendigkeit dieser Dokumentation und der Sammlung des Beweismaterials bejahen.
Herr Kollege Dr. Czaja, ich muß darauf verweisen, daß ich über die Entschließung der Justizminister der Länder aus dem Jahre 1965 hier ausdrücklich gesprochen und aus dieser Entschließung zitiert habe. Insbesondere habe ich zitiert, daß sich die Justizminister der Länder für eine Verfolgung von Verbrechen, die im Zusammenhang mit dem letzten Krieg, namentlich bei der Vertreibung, an Deutschen begangen worden sind, nur in den Fällen ausgesprochen haben, in denen die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen hierzu gegeben sind. Ich habe damit deutlich gemacht, daß schon die Justizminister der Länder bei dieser von Ihnen angeführten Entschließung 1965 die tatsächlichen Grenzen solcher Verfolgungsmöglichkeiten gesehen und berücksichtigt haben.
Im übrigen gehe ich davon aus, daß unabhängig von einer besonders erstellten Dokumentation deutsche Strafverfolgungsbehörden, wo immer tatsächliche und rechtliche Anhaltspunkte vorliegen, ein Strafermittlungsverfahren einleiten. Ich meine, daß eine zusätzliche Dokumentation, wie sie hier von Herrn Kollegen Josten angeregt worden ist, dazu nicht mehr viel beitragen könnte, insbesondere wenn man den Kostenaufwand berücksichtigt.
Ich rufe die Fragen 19 und 20 der Abgeordneten Frau Däubler-Gmelin auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß einzelne Bundesländer bei der Erteilung von Fremdenpässen an südvietnamesische Studenten, deren Reisepässe durch die südvietnamesische Auslandsvertretung aus südvietnamesischen innenpolitischen Gründen nicht verlängert werden, sehr unterschiedlich verfahren, und worauf führt die Bundesregierung dies zurück?
Sind derartige Differenzierungen auch in anderen, und gegebenenfalls in welchen vergleichbaren Fällen an der Tagesordnung?
Frau Kollegin, der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß einzelne Länder gegenüber südvietnamesischen Studenten, deren Pässe von den Heimatbehörden nicht verlängert werden, unterschiedliche ausländerrechtliche Maßnahmen treffen.
Zwischen Bund und Ländern besteht Übereinstimmung, daß Studenten aus Entwicklungsländern, die in der Bundesrepublik Deutschland studieren, Gelegenheit gegeben werden sollte, ihr Studium mit einem entwicklungspolitisch sinnvollen Abschluß zu beenden. Bei einem vorzeitigen Rückruf dieser Studenten durch ihren Heimatstaat soll deshalb das mit einer Nichtverlängerung des Passes verbundene Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung von Härtefällen nicht zu einer Beendigung des Aufenthaltes der betroffenen Studenten im Bundesgebiet führen. Vielmehr soll in diesen Fällen der weitere Aufenthalt der ausländischen Studenten in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Abschluß ihres Studiums ohne Erteilung eines fremden Passes geduldet werden. Es handelt sich dabei um das Instrument der ausländerrechtlichen Duldung. Nach dieser Regelung ist, soweit ich es übersehen kann, in den letzten Jahren in den Ländern, die das Ausländergesetz in eigener Zuständigkeit und Verantwortung ausführen, allgemein verfahren worden.
Zu einer Zusatzfrage Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin.
Herr Staatssekretär, die Tatsache, daß nicht nur in den von mir in der schriftlichen Frage 19 angesprochenen Fällen aus dem Jahre 1974, sondern bereits im Jahre 1970 durch das Land Nordrhein-Westfalen koreanischen Staatsbürgern dankenswerterweise Fremdenpässe erteilt wurden, veranlaßt mich zu folgender Zusatzfrage: Wird sich die von Ihnen festgestellte einheitliche Praxis so auswirken, daß auch das Innenministerium des Landes Baden-Württemberg seinen aus humanitären Gründen beklagenswerten Standpunkt aufgeben wird?
Frau Kollegin, Sie werden von mir nicht erwarten, daß ich den Standpunkt oder die Praxis des Innenministeriums von Baden-Württemberg hier in irgendeiner Form bewerte. Nach den Darlegungen, die ich als Antwort auf Ihre Frage soeben gegeben habe, geht das Bundesministerium des Innern davon aus, daß die vereinbarte einheitliche Praxis auch tatsächlich so durchgeführt wird. Wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, daß diese Annahme täuscht, sind wir gern bereit, ihnen nachzugehen. Wir wären dann für eine datailliertere Unterrichtung dankbar.
Ich rufe die Frage 21 des Abgeordneten Lagershausen auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daft die „Erklärung zu Protokoll über die Aufgaben der Grenzkommission durch die beiden Delegationsleiter" vom 21. Dezember 1972 die alleinige Rechtsgrundlage für die Arbeit der Grenzkommission ist?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Schmude, bitte!
Herr Kollege Lagershausen, die Antwort auf die Frage 21 lautet: Diese Rechtsauffassung ist zutreffend. Dies teile ich gleichzeitig in einer schriftlichen Antwort auf eine Frage des Herrn Kollegen Wagner mit.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Lagershausen.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, welche ursprünglichen Vereinbarungen der britischen und der sowjetischen Besat-
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8520 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Lagershausenzungsmacht die Mitte der Elbe als Grenze beider Besatzungsgebiete festlegten?
Herr Kollege Lagershausen, Sie wissen, daß sich die Schwierigkeit der Rechtsproblematik der Grenzfeststellungen in dem von Ihnen angesprochenen Bereich daraus ergibt, daß sich manche Einzelfragen, bei deren Bewertung die Grenzkommission an das Londoner Protokoll und die späteren Vereinbarungen zwischen den Besatzungsmächten gebunden ist, nicht alsbald mit letzter Sicherheit klären lassen und daß hier eine Klärung und eine Feststellung gesucht werden müssen. Ich bitte Sie, es mir angesichts der in der Grenzkommission derzeit laufenden Gespräche zu ersparen, hier Einzelheiten oder gar einzelne Bewertungen der Rechtsstandpunkte, wie sie hier oder in der DDR eingenommen werden, vorzutragen.
Eine zweite Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Lagershausen.
Trotz dieser Umschreibung, Herr Staatssekretär, möchte ich Sie fragen: Welche späteren Vereinbarungen der damaligen Besatzungsmächte legen die Mitte der Elbe als Grenze der beiden Besatzungsgebiete fest?
Es gibt, Herr Kollege, wie Sie wissen, eine Vereinbarung zwischen der britischen und der sowjetischen Besatzungsmacht aus dem Jahre 1945, die für gewisse Elbabschnitte den Fluß als Grenze festlegt. Wie konkret solche Vereinbarungen sind und welche Folgerungen heute aus ihnen herzuleiten sind, sind Rechtsfragen sehr schwieriger Art, um deren Klärung sich unsere Delegation in der Grenzkommission intensiv bemüht. Die Bundesregierung ist nicht der Meinung, daß es diesem Bemühen hilfreich ist, wenn wir dazu hier detailliert öffentlich Stellung nehmen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Abelein.
Herr Staatssekretär, bedeutet Ihre Antwort, daß die Bundesregierung von der Rechtsauffassung, an der sie zumindest bis zum Jahre 1964 festgehalten hat, und die in einem Rechtsgutachten der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, wonach die Elbe zwischen Schnackenburg und Lauenburg in ihrer ganzen Breite zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gehört, jetzt abgeht?
Herr Kollege Dr. Abelein, Sie haben die Frage, die Sie jetzt gestellt haben, ungefähr inhaltsgleich als besondere Frage eingebracht. Ich werde nachher darauf genau antworten.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jäger .
Herr Staatssekretär, bedeutet Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Lagershausen, daß die Bundesregierung den präzisierten DDR-Standpunkt ablehnt, wonach die Findung der beiderseitigen Grenzlinie in diesem Gebiet nicht auf Dinge, die die Ellenbogenfreiheit einschränken können, sondern auf die Souveränität zurückgreifen müsse, wie sich Herr Fenzlein laut Presseberichten im Juli in Schwerin geäußert hat?
Herr Kollege Jäger, zunächst ist es mir bei allen bisher erteilten Antworten darum gegangen, deutlich zu machen, daß es die Bundesregierung für sachlich geboten hält, angesichts der derzeit geführten Gespräche mit öffentlichen Äußerungen und Wertungen aller Art zurückhaltend zu sein. Darüber hinaus kann ich Ihre jetzige Zusatzfrage mit der positiven Erklärung beantworten, daß nach Auffassung der Bundesregierung, die diese auch in keiner Weise als strittig ansieht, Grundlage der Arbeit der Grenzkommission das Londoner Protokoll vom 12. September 1944 und die später zwischen den Besatzungsmächten getroffenen Vereinbarungen sind. Das schließt weitere Rechtsgrundlagen oder Kompetenzen aus.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes .
Herr Staatssekretär, worin liegt denn nach Auffassung der Bundesregierung der Rechtsgrund für die Annahme, die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR liege in der Mitte der Elbe oder sei dort zu suchen, wenn es so ist, wie Sie eben gesagt. haben?
Herr Kollege Mertes, dies ist eine Frage, die nun geradezu mitten in den Verhandlungs- und Gesprächsgegenstand trifft, der in der Grenzkommission in diesen Tagen von unserer Delegation unter dem intensiven Bemühen um Wahrung unseres Rechtsstandpunktes behandelt wird. Insofern möchte ich zu Ihrer Frage ganz klar erklären, daß ich auf die Einzelheiten nicht eingehe und auf den Inhalt Ihrer Frage hier nicht antworte.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja.
Herr Staatssekretär, da Sie ja dauernd von den schwierigen Rechtsfragen sprechen, die hier eine Rolle spielen, möchte ich Sie fragen: Warum legen Sie eigentlich nicht in der Öffentlichkeit und unter Berücksichtigung auch des Informations- und Kontrollrechts des Parlaments und des einzelnen Abgeordneten in der Fragestunde den Rechststandpunkt der Bundesregierung in dieser für die Deutschen, für die Rechte Deutschlands und der Bundesrepublik äußerst wichtigen Frage vor?
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Herr Kollege Dr. Czaja, ich nehme an, daß diejenigen Ihrer Kollegen, die jetzt applaudiert haben, nicht den Ausschüssen des Bundestages angehören, welche die Bundesregierung intern und recht ausführlich über diese Probleme unterrichtet hat, daß diese Kollegen auch nicht zu den Abgeordneten aus den betroffenen Gebieten gehören, die ebenfalls von der Bundesregierung von Zeit zu Zeit nichtöffentlich ausführlich unterrichtet werden.
Die Bundesregierung bietet aber an, diese Form der Unterrichtung des Deutschen Bundestages und seiner Abgeordneten fortzusetzen. Dies ist ein ausdrückliches Angebot. Nur bitte ich hier um Ihr Verständnis, daß es nicht möglich ist, hier in aller Öffentlichkeit bestimmte Ergebnisse vorwegzunehmen oder in Frage zu stellen — wie immer man es sehen mag —, wenn gleichzeitig Gespräche laufen.
Eine Zusatzfrage die letzte, die ich zulasse — des Abgeordneten Böhm.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der zuständige innerdeutsche Ausschuß dieses Hauses bisher von der Bundesregierung über diese Fragen noch nicht informiert worden ist?
Herr Kollege Böhm, ich darf Sie daran erinnern, daß, wie ich glaube, Anfang September oder war es schon im Juni? — der innerdeutsche Ausschuß des Deutschen Bundestages eine Fahrt entlang der Grenze zur DDR unternommen hat. Während dieser Fahrt ist eine ausführliche Information durch den Leiter unserer Delegation in der Grenzkommission erfolgt. Wenn Sie der Auffassung sind, die Sie jetzt hier zum Ausdruck bringen, daß diese Information unzureichend gewesen sei, dann hätte es doch nahegelegen, bei dieser Gelegenheit ohne das Forum einer breiten Öffentlichkeit ergänzende Fragen zu stellen.
Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Lagershausen auf:
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in nichtöffentlicher Sitzung unterrichtet werden und daß auch die Abgeordneten aus den betroffenen Gebieten sehr viel weitergehend unterrichtet werden, als dies in der öffentlichen Fragestunde möglich ist.
Wenn Sie in der Tat die Auffassung vertreten, daß zu jedwedem Gegenstand, der in den Arbeitsbereich der Bundesregierung fällt, hier auch in öffentlicher Fragestunde ohne Zurückhaltung Auskunft gegeben werden muß, dann bitte ich Sie, dies einmal in geeigneter grundsätzlicher Form voranzutreiben. Bisher ist dies weder Praxis noch Auffassung in diesem Hause.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka.
Herr Staatssekretär, ist es dem Rechtsstandpunkt des deutschen Volkes nicht dienlicher, daß dieser in der Öffentlichkeit vertreten wird, als daß Sie hier Indiskretionen zurückweisen müssen und dann darauf verweisen, darüber könne im Ausschuß gesprochen werden?
Herr Kollege Hupka, es gibt Zeiten, in denen es geboten ist, solche Darlegungen in der Öffentlichkeit vorzutragen, und es gibt Zeiten, in denen es zweckmäßiger und im Sinne eines zu erzielenden Ergebnisses dienlicher ist, dies nicht zu tun, sondern dies an der Stelle zu tun, wo gesprochen und verhandelt wird.
Die letzte Zusatzfrage stellt der Herr Abgeordnete Jäger .
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich vorstellen, daß es auch in dieser Phase der Unterhandlungen eine ausgesprochene Rückenstärkung für unsere Vertreter in der Grenzkommission bedeutet, wenn Sie sie darauf hinweisen können, daß das Parlament in Ausübung seiner Aufsichts- und Kontrollpflicht in dieser Frage außerordentlich wachsam ist?
Herr Kollege Jäger, dies kann ich mir in dem von Ihnen gemeinten Sinne kaum vorstellen. Ich meine, mich daran zu erinnern, daß es sich dann, wenn Verhandlungen und Gespräche mit anderen Partnern zu führen waren, immer eher hinderlich ausgewirkt hat, wenn bestimmte Gegenstände und Fragen, die eigentlicht in diesen Verhandlungen zu behandeln wären, statt dessen irgendwoanders öffentlich behandelt und mit Nachdruck versehen wurden.
Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Dr. Abelein auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung Berichte zu entkräften, die besonders die Bevölkerung im Zonenrandgrenzgebiet an der Elbe beunruhigen, daß nämlich die Bundesregierung willens sei, der DDR die Hoheitsgewalt und das Hoheitsrecht auf der Hälfte der Elbe entgegen der bisherigen Rechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland einzuräumen?
Zur Beantwortung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Schmude, bitte!
Herr Kollege Dr. Abelein, ich verweise auf die im Bulletin vom 29. Oktober 1974 abgedruckte Mitteilung der Bundesregierung vom 24. Oktober, in der es heißt:Zu Pressemeldungen über die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR anstehenden Verhandlungen der Grenzkommission und der Verkehrskommission im Elbe-Bereich stellt die Bundesregierung zur Vermeidung von Mißverständnissen fest:1. Die Verhandlungen der Grenzkommission und der Verkehrskommission über die Lösung mit dem Grenzverlauf im Zusammenhang stehender Fragen, wie z. B. die Ausübung der Fischerei auf der Elbe, die Regelung von Schiffahrtsfragen, darunter auch die Sportschiffahrt, einerseits und die Verhandlungen der Grenzkommission über die Grenzfeststellung andererseits stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang.2. Die Verhandlungen sind in keinem Bereich abgeschlossen.3. Allen Verhandlungen der Grenzkommission liegen gemäß dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 21. Dezember 1972 die Festlegungen des Londoner Protokolls vom 12. September 1944 und spätere Vereinbarungen der USA, Großbritanniens und der UdSSR zugrunde. Andere als alliierte Grundlagen sind für die Bundesrepublik Deutschland für die Verhandlungen nicht gegeben.4. Die Verhandlungsrichtlinien für die Delegationen der Bundesrepublik Deutschland in den Kommissionen sind auf eine vertragliche Absicherung unserer Interessen auf der Elbe ab-
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Parl. Staatssekretär Dr. Schmudegestellt, die erst durch die Vertragspolitik der Bundesregierung möglich wurde.5. Eine Unterrichtung des Bundestagsausschusses für innerdeutsche Beziehungen über Probleme der Verhandlungen im Elbe-Bereich hat zuletzt am 11. September 1974 an Ort und Stelle stattgefunden.6. Die Verhandlungen der Delegationen der Bundesrepublik Deutschland in beiden Kommissionen werden in Abstimmung und in der Grenzkommission darüber hinaus unter Beteiligung des Landes Niedersachsen geführt.Die Bundesregierung, Herr Kollege Abelein, hält es für sachlich geboten, in der Öffentlichkeit nicht auf Einzelheiten einzugehen, die Gegenstand der angesichts der komplizierten Rechts- und Sachlage schwierigen Gespräche in der Grenzkommission und in der Verkehrskommission sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Abelein.
Herr Staatssekretär, darf ich meine in der Zwischenzeit erneut nicht beantwortete Frage an dieser Stelle wiederholen: Bedeuten Ihre Ausführungen, daß die Bundesregierung von ihrer bisherigen Rechtsauffassung, wonach die Elbe zwischen Schnackenburg und Lauenburg in ihrer ganzen Breite zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gehört — diese Auffassung war, wie sich in einem Rechtsdokument, in einem Gutachten, aus dem Jahre 1964 zeigt, eindeutig —, jetzt abgeht?
Herr Kollege Abelein, ich bin nicht bereit, die von Ihnen begehrte Antwort hier an dieser Stelle öffentlich zu geben.
Herr Staatssekretär, läßt sich daraus schließen, daß Sie sich noch mit der Absicht tragen, im Zuge der Verhandlungen eventuell Konzessionen zu machen, die in dem genannten Elbabschnitt dazu führen, daß die Grenze auf die Mitte des Stromes festgelegt wird?
Meine wiederholte Weigerung, über Einzelheiten des Gesprächs- und Verhandlungsgegenstands der Grenzkommission hier zu berichten, läßt eine Schlußfolgerung, wie Sie sie jetzt in Frage stellen, nicht zu.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 24 des Abgeordneten Dr. Abelein auf:
Stand die bisherige Handhabung der Rechtsauffassung an der Zonengrenze im Bereich der Elbe zwischen Schnackenburg und Lauenburg durch die Bundesrepublik Deutschland im Einklang mit den Bestimmungen des Londoner Protokolls von 1944 einschließlich der betreffenden bilateralen sowjetisch-britischen Abmachungen von 1945 und der bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland geübten Praxis beider Besatzungsmächte im genannten Zonengrenzabschnitt?
Zur Beantwortung, bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schmude.
Herr Kollege Abelein, in Übereinstimmung mit dem Londoner Protokoll vom 12. September 1944 und späteren Vereinbarungen zwischen den Besatzungsmächten über die Grenze zur damaligen sowjetischen Besatzungszone waren in der Vergangenheit alle Bundesregierungen bemüht, unsere Interessen auf der Elbe im Rahmen der jeweils bestehenden Möglichkeiten zu wahren. Die jetzige Bundesregierung setzt dieses Bemühen fort.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Professor Abelein.
Hat die Bundesregierung die Absicht, in eindeutiger Weise alle Pressemeldungen, die in letzter Zeit über Absichten und Verhandlungsmethoden der Bundesregierung erschienen sind, zu dementieren?
Die Bundesregierung hat weder die Absicht, wie ich soeben deutlich gemacht habe, diese Meldungen zu bestätigen, noch hat sie die Absicht, das eine oder andere zu dementieren. Die Bundesregierung hat zu den ersten Pressemeldungen, auf die Sie sich beziehen, jene Mitteilung in ihrem Bulletin veröffentlicht, die Hauptinhalt der Antwort auf die erste von Ihnen gestellte Frage gewesen ist.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Abelein.
Hält es die Bundesregierung nicht für notwendig, in diesem speziellen Fall den Protokollsatz, in dem der Leiter der Verhandlungsdelegation der DDR gegenüber dem Vertreter der Bundesregierung erklärt hat: „Sie haben bisher mündlich erklärt, daß wir ausgehen sollten von der Mitte des Flusses als Demarkationslinie", zu dementieren, wenn sie sich nicht dem Verdacht aussetzen will, daß sie tatsächlich die Absicht hat, sich auf die Strommitte zurückdrängen zu lassen?
Die Bundesregierung bedauert, wie ich soeben schon gesagt habe, diese Veröffentlichung sehr, weil sie für die derzeit geführten Verhandlungen nicht hilfreich ist. Sie ist darüber hinaus nicht bereit, das Gewicht dieser Veröffentlichung noch dadurch zu erhöhen, daß sie einzelne Mitteilungen daraus dementiert oder bestätigt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Mertes .
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Herr Staatssekretär, nachdem Sie der von mir beschriebenen Qualifikation der Grenze zwischen den beiden Staaten in Deutschland als Demarkationslinie zugestimmt und lediglich die Notwendigkeit der Notifizierung dieses unseres Rechtsstandpunktes gegenüber der DDR verneint haben, darf ich Sie fragen, ob Sie meine Auffassung teilen, daß in Fällen wie in den gegenwärtigen Grenzverhandlungen die Gefahr einer Aushöhlung durch konkludentes Verhalten der Bundesregierung besteht und daß es nach den Erfahrungen der letzten Jahre im innerdeutschen Bereich höchst zweckmäßig ist, den eigenen Standpunkt der anderen Seite unmißverständlich rechtzeitig klarzumachen?
Ich kann Ihre Auffassung nicht teilen, Herr Kollege Mertes, daß die Gefahr bestünde, daß die Rechtspositionen der Bundesrepublik Deutschland durch ein bestimmtes Verhalten der Bundesregierung ausgehöhlt würden oder ausgehöhlt worden wären. Darüber hinaus finde ich es auch recht unglücklich, daß Sie eine derartige Auffassung hier in Frageform vertreten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kunz .
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung auf bestimmte Presseorgane eingewirkt, um in der Frage der Grenzfeststellung zwischen Schnackenburg und Lauenburg eine ihr wohlwollendere Berichterstattung zu erreichen? Auf welche Presseorgane ist eingewirkt worden und mit welcher konkreten Zielsetzung?
Wenn Sie, Herr Kollege Kunz, eine derartige Frage ausdrücklich gestellt hätten, statt sie jetzt hier als Zusatzfrage anzubringen, ohne einen für mich erkennbaren Zusammenhang, dann hätte ich mich darauf besser vorbereiten können. Schon jetzt kann ich Ihnen aber sagen, daß in keiner Weise der Versuch einer Manipulation von Presseberichterstattung gemacht worden ist. Eine entsprechende Vermutung weise ich hier namens der Bundesregierung zurück.
Es ist allerdings ein von jeher üblicher Brauch, daß bei Informationen, die an Journalisten erteilt werden, zuweilen auch solche Details durchschimmern, die im gegenseitigen Einvernehmen nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind.
Zu einer letzten Zusatzfrage der Herr Abgeordnete Czaja.
Haben Sie, Herr Staatssekretär, eigentlich eine im Gesetz verankerte Grundlage dafür, in der Fragestunde einen nicht geheimen Rechtsstandpunkt der Bundesregierung nicht präzise darzulegen, da doch das Recht auf Information, das dem Abgeordneten bei nicht geheimen Sachen zusteht, nicht von Ihnen durch eine persönliche oder sonstige Erklärung ausgeschlossen werden kann?
Herr Kollege Czaja, Sie verweisen mit Recht auf den Unterschied, der zwischen geheimhaltungsbedürftigen und anderen Mitteilungen zu machen ist. Ich habe wiederholt deutlich zu machen versucht, daß angesichts der derzeitigen Verhandlungssituation die Einzelheiten in dem von Ihnen angesprochenen Bereich geheimhaltungsbedürftig sind; ich sehe mich mit Ihnen in Übereinstimmung darin, daß solche Einzelheiten hier nicht zu erörtern sind.
Ich rufe auf die Frage 25 des Abgeordneten Dr. Czaja:
Hat der Bundesinnenminister, dessen Ablehnung jeder Aufrechnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit moralisch und rechtlich voll zu billigen ist, bei der Versagung der verbesserten Beweissicherung und Veröffentlichung der Vertreibungsverbrechen an Deutschen in politischer Hinsicht berücksichtigt, daß die Ostblockstaaten die politische Propaganda gegen die Verbrechen der Deutschen ständig ausweiten, einen Straffrieden gegen Deutschland und die Deutschen sowie die Landnahme und die Massenvertreibung Deutscher mit diesen Verbrechen politisch zu rechtfertigen suchen, und hat er in rechtlicher Hinsicht berücksichtigt, daß die Beweissicherung wegen Mordes an Deutschen legitime Pflicht der innerstaatlichen Rechtsfindung ist?
Herr Kollege Czaja, ich darf zunächst daran erinnern, daß Sie und der Kollege Dr. Becher in der Fragestunde am 25. Oktober 1967 schon ähnliche Fragen an die Bundesregierung gerichtet hatten, die vom damaligen Bundesminister der Justiz, Dr. Heinemann, beantwortet wurden. In einer Zusatzfrage sprachen Sie sich damals selbst dafür aus, daß die noch unvollständige Materialsammlung im Bundesarchiv auszubauen sei. Dies ist in der Zwischenzeit geschehen.
Das Bundesarchiv hat seine Materialsammlung in den letzten Jahren systematisch vervollständigt und erweitert. Das Archiv hat den Auftrag, auch weiterhin Unterlagen aller Art in der gleichen Weise zu sammeln. Die Materialsammlung umfaßt zur Zeit rund 40 000 Einzelstücke. Sie steht den Staatsanwaltschaften und Gerichten zur Einsichtnahme und Auswertung zur Verfügung. Darüber hinaus ist das Bundesarchiv verpflichtet, diesen Stellen Rechts- und Amtshilfe zu leisten.
Sie erkennen daraus, daß die Ihrer Frage zugrunde liegende Annahme, die Beweissicherung wegen Mordes werde vernachlässigt, nicht zutrifft. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Archivalien des Bundesarchivs stehen außerdem auch zur Wahrung berechtigter persönlicher Belange zur Verfügung. Weiterreichende Veröffentlichungen, als sie bisher schon erfolgt und nach der Benutzungsordnung des Bundesarchivs auch weiterhin möglich sind, wären auf die Beweissicherung ohne jede Auswirkung.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Czaja.
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8526 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Herr Staatssekretär, welcher von den beiden Gründen ist eigentlich entscheidend dafür, daß Sie die Zusammenfassung des bisherigen Dokumentationsmaterials, das hier im Bundestag mit 60 Seiten angekündigt worden ist, mit einer solchen Geheimniskrämerei oder solchen zu widerlegenden Interpretationskunststücken umgeben: Entweder ist die Zusammenfassung unzureichend und Sie befürchten, daß sie zerrissen wird, oder Sie wollen Verbrechen, die Deutsche begangen haben, öffentlich behandelt wissen, aber nicht Verbrechen, die an Deutschen begangen worden sind. Für welchen der zwei Gründe wollen Sie sich in dieser Frage eigentlich entscheiden?
Der zweite Grund, den Sie anführen, Herr Kollege Czaja, hat hier mehrfach den Widerspruch der Bundesregierung gefunden, wie überhaupt die von Ihnen gestellte Frage bereits Gegenstand sehr ausführlicher Erörterungen an dieser Stelle gewesen ist.
Die Bundesregierung hat dabei immer wieder darauf hingewiesen, daß dieser Bericht von seiner Zweckbestimmung, von seiner Anlage und von seinem Inhalt her zur Veröffentlichung oder zum öffentlichen Zugang nicht bestimmt gewesen ist und sich dazu nicht eignet. Sie sieht auch heute keine Veranlassung, anders zu antworten, als indem auf die mehrfach erteilten Antworten verwiesen wird.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Czaja.
Da Sie vorhin, Herr Staatssekretär, sozusagen uns die Beweislast zugeschoben haben, indem Sie gesagt haben, wir sollten aus der in der Fragestunde vom 25. September gegebenen Antwort zitieren, habe ich mir die Antwort beschafft — 118. Sitzung des Deutschen Bundestages, Seite 7908. Es heißt da ausdrücklich:
Das im Bundesarchiv liegende Dokumentationsmaterial steht der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung.
Ich frage Sie unter Hinweis auf die Frage des Herrn Abgeordneten Windelen hin, wie es um die zusammenfassende Darstellung im Zusammenhang mit den Verbrechen an Deutschen steht.
Sie haben vorhin dargelegt, daß dies im Bundesarchiv liegende Dokumentationsmaterial der wissenschaftlichen Forschung in Göttingen nicht zur Verfügung steht, und Sie verweigern dies auch weiter den Abgeordneten, die auf Grund ihres Informationsrechtes einen Anspruch darauf hätten, und verweisen, was gegenüber dem Abgeordneten überhaupt nicht vertretbar ist, auf die Benutzungsordnung, statt die Informationspflicht der Bundesregierung anzusprechen.
Herr Kollege Czaja, wenn ich es richtig sehe, war hier von einem Informationsanspruch von Abgeordneten, die den innerdienstlichen Bericht einsehen wollten, bisher nicht die Rede.
Das bringen Sie erstmalig ins Gespräch.
Dazu darf ich darauf verweisen, daß die Bundesregierung von dieser Stelle bereits ausdrücklich angeboten hat, mit Vertretern aller Fraktionen über diesen Vorgang ein klärendes Gespräch zu führen und dabei auch weitestmögliche Einsicht zu gewähren.
Im übrigen bestätigt Ihr Zitat meine vorherigen Darlegungen: daß nämlich die Bundesregierung zu keiner Zeit die Bereitschaft erklärt hat, den Bericht zugänglich zu machen — sei es auch zur wissenschaftlichen Bearbeitung , wohl aber das Dokumentationsmaterial, das aus mehreren tausend Blatt Quellenmaterial besteht. Ich stelle fest, Herr Kollege Czaja, daß Sie diese meine Aussage durch Ihr Zitat bestätigen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 26 des Herrn Abgeordneten Dr. Franz auf:
Hält die Bundesregierung die Bestimmungen des Ordensgesetzes, mit denen das Tragen ungenehmigt angenommener Orden, die von Staaten außerhalb des Geltungsbereichs des Ordensgesetzes verliehen worden sind, unterbunden werden soll, für ausreichend und in welcher Hinsicht für novellierungsbedürftig im Hinblick darauf, daß offensichtlich mit Erfolg die Bestimmungen des Ordensgesetzes öfter übertreten werden wie z. B. durch den Ehrenvorsitzenden der DKP und früheren KPD-Vorsitzenden ausweislich der Abbildung im „Spiegel" vom 14. Oktober 1974?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schmude!
Herr Kollege Dr. Franz, nach § 15 des Ordensgesetzes wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft, wer unbefugt, d. h. auch ohne die erforderliche Annahmegenehmigung, einen ausländischen Orden oder einen solchen der DDR trägt. Am 1. Januar 1975 tritt Artikel 33 des von diesem Bundestag fast einstimmig beschlossenen Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch in Kraft, der die genannte Vorschrift des Ordensgesetzes dahin gehend ändert, daß das unbefugte Tragen von Orden- und Ehrenzeichen als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße geahndet werden kann.Die Bundesregierung hält diese Bestimmungen für angemessen und ausreichend. Die Verletzung von Straf- oder Ordnungswidrigkeitsbestimmungen in Einzelfällen rechtfertigt für sich allein noch nicht deren Novellierung.Sowohl nach gegenwärtig geltendem als auch nach künftigem Recht obliegt die Verfolgung von Verstößen gegen die genannten Vorschriften des Ordensgesetzes den Behörden der Länder. Auch von dieser Seite her ist ein Bedürfnis zur Novellierung nicht erkennbar geworden.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8527
Keine Zusatzfrage.
Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich darf Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen danken.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen.
Die Frage 27 des Herrn Abgeordneten Schröder wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 28 des Herrn Abgeordneten Thürk auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die durch die Einführung des steuerfreien Kindergelds und die gleichzeitige Abschaffung der Kinderfreibeträge für getrennt lebende oder geschiedene Ehegatten verursachte Ungerechtigkeit zu beheben, die darin liegt, daß der getrennt lebende unterhaltsverpflichtete Ehegatte den Unterhalt weiterhin zahlen muß, den Kinderfreibetrag hierfür aber künftig nicht mehr in Anspruch nehmen kann, gleichwohl aber das Kindergeld an den unterhaltsberechtigten Ehegatten, der die Kinder versorgt, ausgezahlt wird, und wenn ja, in welcher Weise?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Haehser.
Herr Kollege Thürk, nach geltendem Recht erhalten zusammenlebende Ehegatten für dasselbe Kind den steuerlichen Freibetrag nur einmal, während geschiedenen und getrennt lebenden Ehegatten der Kinderfreibetrag doppelt zuerkannt wird.
Diese Regelung widerspricht dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen. Die neue Kindergeldregelung im Rahmen der Steuerreform sieht deshalb vor, daß für jedes Kind künftig nur einmal Kindergeld gewährt wird. Leben die Eltern der Kinder getrennt oder sind sie geschieden, wird das Kindergeld dem Elternteil gezahlt, in dessen Haushalt das Kind lebt.
Was nun die Auswirkung der neuen Regelung auf die Unterhaltspflicht des getrennt lebenden Ehegatten betrifft, bemerke ich im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Justiz folgendes. Für eheliche Kinder ist eine ausdrückliche gesetzliche Regelung über die Berücksichtigung von Kindergeld nicht vorgesehen. Für sie gilt § 1606 Abs. 3 des BGB, wonach für den Unterhalt eines gemeinschaftlichen Kindes die Eltern anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen haften, die Mutter jedoch ihre Verpflichtung „in der Regel" durch die Pflege und Erziehung des Kindes erfüllt. Erhält bei Getrennt-leben oder nach Scheidung der Eltern die sorgeberechtigte Mutter Kindergeld, so handelt es sich rechtlich um Einkommen der Mutter. Wegen seiner Zweckbestimmung wird das Kindergeld aber bei der Bemessung des vom Vater zu leistenden Unterhalts angemessen zu berücksichtigen sein, was zu einer Verminderung seiner Unterhaltsverpflichtung führen kann.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Thürk.
Herr Staatssekretär, geben Sie zu, daß durch diese neue Regelung die Unterhaltsverpflichtung z. B. des getrennt lebenden Ehemannes gegenüber dem vorher vorhandenen Stand erhöht wird, weil die Mutter das Kindergeld zusätzlich erhält, eine Anrechnungspflicht bisher nicht besteht und auch nicht möglich ist, und würden Sie eine Abänderungsklage hier für möglich und angängig halten?
Herr Kollege Thürk, dem Bundesjustizministerium — auf das ich mich jetzt berufen muß, da es mir einen Antwortvorschlag gegeben hat — erscheint es nicht ratsam, in diesem Zusammenhang Rechtsänderungen auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts vorzunehmen. In Fällen, in denen der nicht sorgeberechtigte Elternteil von dem die Kinder betreuenden Elternteil beim Kindergeldbezug sozusagen verdrängt wird, liegt es zwar nahe, § 1615 g Abs. 1 BGB sinngemäß anzuwenden; das Justizministerium hält es aber wegen der Vielgestaltigkeit der Fälle nicht für angemessen, eine solche Anrechnung zur Hälfte im Gesetz für alle Fälle zwingend vorzuschreiben.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Thürk.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß dann also de facto der getrennt lebende Ehemann heute schlechter steht als vor dieser gesetzlichen Neuregelung des Kindergeldes?
Ich kann dieser weitergehenden Schlußfolgerung nicht zustimmen, Herr Kollege, möchte Sie aber daran erinnern, daß wir die gesetzliche Regelung, die wir jetzt gefunden haben, miteinander gefunden haben.
Ich rufe Frage 29 des Herrn Abgeordneten Thürk auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die durch die Einführung des steuerfreien Kindergelds und die gleichzeitige Abschaffung der Kinderfreibeträge für Bezieher von Erwerbsunfähigkeitsrente, von Berufsunfähigkeitsrente und von Altersruhegeld verursachte Ungerechtigkeit zu beheben, die darin liegt, daß diese Personengruppen aus anderen Rechts- und Sachgründen schon bisher steuerpflichtige Sonderbezüge für Kinder erhielten, deshalb vom Bezug des steuerfreien Kindergelds ausgeschlossen worden sind, gleichwohl aber keine Kinderfreibeträge mehr erhalten, und wenn ja, in welcher Weise?
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Haehser.
Herr Kollege, Ihre zweite Frage ist, wie wir auch vorhin besprochen haben, schon früher durch meinen Kollegen Porzner beantwortet worden; ich will aber gern noch einmal auf diese Antwort zurückgehen und will auch noch etwas weiter ausholen.Der Ersatz der bisherigen steuerlichen Kinderfreibeträge, der Kinderzuschläge des öffentlichen Dienstes und des bisherigen Kindergeldes durch die Gewährung eines allgemeinen erhöhten Kindergeldes
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8528 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Parl. Staatssekretär Haehserführt zu einer gleichmäßigen Entlastung von kinderbedingten Aufwendungen für alle Einkommensbezieher und damit zu einer Vereinheitlichung des zur Zeit stark zersplitterten Familienlastenausgleichs.Bei der Vereinheitlichung des Kinderlastenausgleichs hat der Gesetzgeber auf Vorschlag der Bundesregierung davon abgesehen, die nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen gewährten Kinderzuschüsse in den Kinderlastenausgleich einzubeziehen. Ausschlaggebend dafür war der Umstand, daß die sozialversicherungsrechtlichen Kinderzuschüsse regelmäßig wesentlich höher sind als die neuen Kindergeldsätze nach dem Bundeskindergeldgesetz und daß sie außerdem an der jährlichen Erhöhung der Sozialrenten teilnehmen. Die Kinderzuschüsse betragen bei der knappschaftlichen Rentenversicherung 125,30 DM pro Monat, bei der Angestellten- und der Arbeiterrentenversicherung 124 DM pro Monat und Kind. Soweit die Kinderzulagen der gesetzlichen Unfallversicherung die Höhe des neuen staatlichen Kindergeldes noch nicht erreichen, wird im Einführungsgesetz zum Einkommensteuerreformgesetz vorgesehen, daß sie künftig mindestens dem nach dem Bundeskindergeldgesetz zu gewährenden Kindergeld entsprechen. Zur Beurteilung der steuerlichen Lage der Rentner dürfen im übrigen die als Folge der Einkommensteuerreform anfallenden allgemeinen Steuerentlastungen nicht unberücksichtigt bleiben.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Thürk.
Stimmen Sie mir zu, Herr Staatssekretär, daß auch hier faktisch die Rentner schlechter stehen als vor Einführung der gesetzlichen Regelung über das Kindergeld, weil die Kindergeldzuschläge, die sie bisher bekommen haben, auf ganz anderen gesetzlichen Grundlagen beruhen, und sie vom steuerfreien Kindergeld, das aus allgemeinen Steuermitteln bezahlt wird, ausgeschlossen sind, gleichwohl aber ihnen der Kinderfreibetrag entzogen worden ist?
Herr Kollege Thürk, aus meinen Antworten ergibt sich, daß das gemeinsam — auch mit Ihrer Stimme — beschlossene Gesetz Schlußfolgerungen der Art nicht zuläßt, wie Sie sie angestellt haben.
Letzte Zusatzfrage, Herr Thürk.
Schließen Sie also damit aus, daß wir effektive Schlechterstellungen dieses Personenkreises durch weitere gesetzliche Maßnahmen, nachdem wir diese Situation erkannt haben, beheben?
Ich ginge zu weit, wenn ich irgend etwas ausschließen würde, Herr Kollege Thürk.
Die für die Fragestunde vorgesehenen 90 Minuten sind abgelaufen. Ich schließe die Fragestunde und rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gemeinsam mit dem Bundesminister des Auswärtigen habe ich vom 28. bis 31. Oktober eine Reise in die Sowjetunion unternommen. Wir haben damit den Besuch erwidert, den Generalsekretär Breschnew und Außenminister Gromyko im Mai vergangenen Jahres der Bundesrepublik Deutschland abgestattet hatten.Die Gespräche in Moskau dienten dazu, der sowjetischen Führung den in der Regierungserklärung vom Mai 1974 erklärten Willen zur Kontinuität zu verdeutlichen. Diese Bundesregierung mißt genau wie ihre Vorgängerin guten Beziehungen zur Sowjetunion eine erhebliche Bedeutung zu, denn ohne die Sowjetunion oder an ihr vorbei lassen sich Fortschritte in Richtung auf einen solchen Zustand des Friedens nicht erreichen, der allein es erlauben wird, die deutschen Interessen zur Geltung zu bringen.Über den Ablauf und die Ergebnisse des Besuchs habe ich nach meiner Rückkehr gemeinsam mit dem Außenminister den Führer der Opposition unterrichtet. Herr Kollege Genscher wird außerdem heute im Auswärtigen Ausschuß darüber sprechen. Uns liegt aber auch daran, dem Plenum des Deutschen Bundestages eine Bewertung zu geben.Unsere Gastgeber in Moskau haben es nicht an Bemühungen fehlen lassen, den Besuch mit einem glanzvollen protokollarischen Rahmen zu umgeben. Damit meine ich keineswegs nur die Äußerlichkeiten. Mir genügt der Hinweis darauf, daß zum erstenmal ein Bundeskanzler über das Fernsehen direkt und ausführlich zu den Bürgern der Sowjetunion sprechen konnte, um ermessen zu können, welcher Wandel seit 1969 in den deutsch-sowjetischen Beziehungen eingetreten ist.In den acht Gesprächsrunden in Moskau wurde eine breite Palette politischer und wirtschaftlicher Themen behandelt. Ich selbst habe knapp fünf Stunden mit Generalsekretär Breschnew gesprochen, der Außenminister hat noch länger mit seinem sowjetischen Kollegen verhandelt. Mit Ministerpräsident Kossygin habe ich, unterstützt von unseren Sachverständigen, vor allem die Wirtschaftsfragen ausführlich erörtert. Ich habe eben in dieser Aufzählung die Plenarsitzungen der beiderseitigen Delegationen nicht mit einbezogen.Für den politischen Bereich ist festzustellen, daß beide Seiten im Vertrag vom August 1970, im sogenannten Moskauer Vertrag, eine tragfähige
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8529
Bundeskanzler SchmidtGrundlage sehen, auf der die Beziehungen weiter positiv entwickelt werden können. Wir waren uns einig, daß keiner gezwungen werden kann oder soll, sein System zu ändern, seinen Freunden abzuschwören oder seine Ziele zu verleugnen. Bei aller Unterschiedlichkeit muß es aber im Interesse der Festigung des Friedens zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und zu mehr Zusammenarbeit in Europa kommen. Darin haben wir gemeinsam in der letzten Woche deutliche Fortschritte gemacht.
Ich habe dabei gegenüber meinen Gesprächspartnern Wert darauf gelegt, einige der Auffassungen und Ideen zu relativieren, die es dort wie in anderer Form auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach einer jahrzehntelangen Konfrontation verständlicherweise immer noch gibt. So habe ich z. B. dem Generalsekretär im einzelnen erläutert, warum die Bundeswehr auf Grund ihrer Gliederung, ihrer Bewaffnung, ihrer Einbindung in die Allianz gar keine Angriffshandlungen begehen könnte, selbst wenn man ihr den Willen dazu fälschlich unterstellen wollte. Wir waren uns einig, daß ein besseres gegenseitiges Kennenlernen auch in diesem Bereich nützlich ist, wenn man ernsthaft Entspannung will.Die Probleme Berlins haben bei fast allen Gesprächen eine große Rolle gespielt. Ich habe dem Generalsekretär noch einmal erläutert, daß die volle Anwendung des Viermächteabkommens für uns ebenso wichtig ist wie die strikte Einhaltung. Uns ist bewußt, daß bestimmte Rechtsauffassungen der Sowjetunion nicht übereinstimmen mit denen der Drei Mächte, die wir voll teilen. Sinn des Viermächteabkommens war es ja gerade, praktische Lösungen für Berlin zu erreichen trotz der Verschiedenheit der Rechtspositionen. Uns geht es um die Beseitigung von Schwierigkeiten der praktischen Anwendung auf Teilgebieten, und zwar mit zweifacher Zielrichtung: zum einen Berlin an der deutschsowjetischen Zusammenarbeit voll teilhaben zu lassen und zum anderen die Beziehungen zwischen uns und der Sowjetunion von vermeidbaren Belastungen freizuhalten.Die Bundesregierung trägt unter anderem die Verantwortung für die Lebensfähigkeit West-Berlins, so wie sie ihr von den Drei Mächten übertragen worden ist. Dabei ist ein wichtiger Aspekt die Versorgung der Stadt, ihrer Bürger, die Versorgung ihrer Industrie mit Rohstoffen und Energie. Ich habe meinen Gesprächstpartnern dargelegt, welchen Wert die Bundesregierung gerade auf diesen Punkt legt und daß sie auch in diesem Punkt eine enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion begrüßen würde. Diese Darlegungen sind auf fruchtbaren Boden gefallen, wenn auch noch vielerlei weitere Gespräche notwendig bleiben, ehe komplizierte Projekte verwirklicht werden können.In den Gesprächen des Bundesministers des Auswärtigen mit Außenminister Gromyko ging es um Einzelheiten der Einbeziehung Berlins in einige beabsichtigte Verträge und Abmachungen zwischen uns und der Sowjetunion. Dabei ist es nicht so, wie gelegentlich behauptet wird oder zu lesen ist, daß die Sowjetunion diese Einbeziehung verweigerte. Es geht um das Wie, es geht nicht um das Ob. Ich möchte dem Kollegen Genscher hier ausdrücklich für seine Verhandlungsführung danken, die mit Geduld und Festigkeit einen Fortschritt erbracht hat, der eine erfolgversprechende Fortsetzung der Verhandlungen möglich macht. Diese letztere Feststellung ist durch den jetzt erreichten Stand gerechtfertigt.
Ein anderer zentraler Punkt meiner Gespräche mit dem Generalsekretär wie auch mit dem Vorsitzenden des Ministerrates war die weitere Entwicklung der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet. Hier ist ein Feld, auf dem Fortschritte auch den politischen Beziehungen zugute kommen werden. In Zeiten der Energieverteuerung und der Rohstoffverknappung gewinnt die sowjetische Bereitschaft zur Kooperation gerade in diesen Bereichen für uns ein erhöhtes Interesse.Das Ergebnis unserer Gespräche in diesem Punkt fand seinen konkreten Niederschlag in einem Abkommen über die weitere Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, das der Bundesminister des Auswärtigen und ich für die Bundesregierung am 30. Oktober in Moskau unterzeichnet haben. Berlin ist in dieses Abkommen voll einbezogen.
Dieses neue Abkommen tritt neben das Zehnjahresabkommen über die wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit vom 19. Mai des vorigen Jahres. Dieses Abkommen betrifft speziell die Förderung der langfristigen Rohstoff- und Energiekooperation und berücksichtigt insbesondere auch die Interessen mittlerer und kleinerer Unternehmen neben der Unterstützung von Großprojekten.Zur Finanzierung der Projekte im Einzelfall — diese Projekte müssen natürlich alle im Einzelfall ausgehandelt und zwischen den Behörden der Sowjetunion auf der einen Seite und den Firmen oder Firmenkonsortien auf der deutschen Seite vertraglich geregelt werden stellt das Abkommen klar, daß Kredite nur im Rahmen der Regelungen in Frage kommen, die in jedem der beiden Staaten bestehen. Mit dieser Einschränkung sollen die Kredite zu möglichst günstigen Bedingungen gewährt werden. Ich habe meinen Vertragspartnern eindringlich vor Augen geführt, daß Zinssubventionen für unsere Exporte aus Mitteln des Steuerzahlers nicht in Betracht kommen. Wir bleiben bei der kommerziellen Kreditgewährung.Dieser Standpunkt ist auf sowjetischer Seite verstanden worden. Dies wird auch durch die gerade in jüngster Zeit von unseren Wirtschaftsunternehmen abgeschlossenen neuen Verträge eindrucksvoll belegt. Ich erwähne nur das während unseres Aufenthalts in Moskau unterzeichnete Dritte Erdgas/Röhren-Abkommen über die Lieferung von etwa 60 Milliarden Kubikmeter sowjetischen Erdgases in die Bundesrepublik im Zeitraum zwischen 1978 und dem Jahre 2000 im Austausch gegen Großröhren und gegen Ausrüstung für die Erdgasindustrie aus deutscher Produktion. Ich erwähne ferner den Vertrag über die Lieferung von 9 000 Schwerlastkraftwagen
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8530 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Bundeskanzler Schmidtvon Klöckner-Humboldt-Deutz in die Sowjetunion. Auch andere Projekte sind auf der unserer Moskaureise unmittelbar vorangegangenen 4. Tagung der Deutsch-Sowjetischen Wirtschaftskommission weiter gefördert worden, bei der ja die deutsche Delegation unter der Leitung des Bundeswirtschaftsministers gestanden hat. Wir konnten bei unserem Besuch unmittelbar an diese Arbeiten der Kommission anknüpfen und weitere Klärungen, insbesondere auch im Hinblick auf ein wichtiges Projekt, erzielen, im Hinblick auf das Projekt eines Atomkraftwerks in der Sowjetunion, welches Strom über Berlin in die Bundesrepublik Deutschland liefern soll. Soviel zu den Rohstoff- und Energiefragen.Ein anderer, uns besonders am Herzen liegender Gegenstand des neuen Abkommens mit der Regierung der Sowjetunion betrifft die Erleichterung von Geschäftskontakten zwischen unseren Firmen und den zuständigen Stellen dort. Die Verschiedenheit der Systeme bringt es mit sich, daß unsere freien Bewegungsspielraum gewöhnten Unternehmen sich in mancherlei Weise beengt fühlen. Deshalb soll das Abkommen künftig auf vielseitige Weise die Geschäftskontakte praktisch erleichtern, und ich hoffe, daß auch kleinere und mittlere Firmen unserer Volkswirtschaft künftig davon Gebrauch machen.Im übrigen wahrt natürlich das Abkommen voll die handelspolitischen Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft. Es enthält keine handelspolitischen Elemente.In einem das Abkommen begleitenden Brief von unserer Seite wird bestätigt, daß auch nach dem 31. Dezember dieses Jahres die Prinzipien des Handelsabkommens von 1958 wie bisher angewandt werden, um die Beibehaltung der derzeit geltenden allgemeinen Prinzipien der wirtschaftlichen Beziehungen in Übereinstimmung mit den internationalen Verpflichtungen beider Seiten sicherzustellen. Ich füge in Klammern das Stichwort „Meistbegünstigung" hinzu und schließe die Klammer wieder. Diese Formulierung, die wir gewählt haben, ist wie auch das ganze Verfahren natürlich vorher mit der Kornmission der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel abgestimmt worden. Im übrigen ist in der gemeinsamen Erklärung die Aufnahme formeller Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem RGW ausdrücklich begrüßt worden.Natürlicherweise haben unsere Gespräche auch viele der internationalen Probleme berührt: SALT, die Genfer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Probleme der Wiener Konferenz über die beiderseitige ausbalancierte Verringerung von Streitkräften, die Situation im Nahen Osten, die Situation im Fernen Osten usf. Darüber wird vielleicht im Auswärtigen Ausschuß zu berichten sein.Unter den bilateralen Fragen, die hier heute ebenfalls nicht alle ausgebreitet werden können, möchte ich hervorheben, daß das humanitäre Problem der Ausreise von Deutschen aus der Sowjetunion natürlich eine besondere Rolle gespielt hat. Wir können hier für die nächsten Jahre auf die Beibehaltung der zuletzt erfolgten durchschnittlichen jährlichen Ausreisezahlen rechnen.Lassen Sie mich abschließend, meine Damen und Herren, dies feststellen: Der Erfolg des Besuchs war befriedigend. Die Gespräche und Verhandlungen waren sachlich und konstruktiv. Keine Seite verschweigt, daß es noch Schwierigkeiten gibt. Aber die beiderseitige Offenheit auch darüber hat nicht nur das gegenseitige Verständnis, sondern auch das gegenseitige Vertrauen in den Friedenswillen der anderen Seite gefördert. Was wir uns vorgenommen hatten, haben wir mit diesem Besuch erreicht. Was wir in Moskau gesagt haben, stand in Übereinstimmung mit den Zielen, die wir uns in der Europäischen Gemeinschaft und im westlichen Bündnis gemeinsam gesetzt haben. Es bleibt dabei, daß unsere Ostpolitik in unserer Westpolitik ihre Grundlagen hat.Der heutige Bericht zeigt, was Konzentration und Kontinuität für diese Bundesregierung bedeuten. Regelmäßige gegenseitige Konsultationen und Besuche werden in Zukunft etwas Normales sein, so wie auch dieser Meinungsaustausch dazu beigetragen hat, daß Meinungsaustausch zwischen unseren beiden Staaten als etwas Normales und nicht als etwas Außergewöhnliches angesehen wird.
Ich danke dem Herrn Bundeskanzler und eröffne die Aussprache. — Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Carstens.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben die Regierungserklärung des Bundeskanzlers über seine und des Außenministers Gespräche mit den Führern der Sowjetunion in Moskau gehört. Lassen Sie mich dazu einige Bemerkungen machen. Ich möchte mit einigen positiven Bemerkungen beginnen.Die CDU/CSU hat gegen die beabsichtigte Reise nach Moskau keine Einwendungen erhoben.
— Sie werden es der Opposition nicht verbieten können, meine Damen und Herren, gegen solche Unternehmungen Einwendungen dann zu erheben, wenn sie es für richtig hält.
Sie ist weiterhin der Meinung, daß es richtig ist, daß die Bundesregierung die Möglichkeit zu Gesprächen mit den Führern der Sowjetunion nutzt, auch wenn — wie in diesem Fall — das Ergebnis mager bleibt.
Die CDU/CSU begrüßt, daß Bundeskanzler und Außenminister in der Berlin-Frage festgeblieben sind. Dies hat allerdings zur Folge gehabt, daß vier Abkommen, über deren Inhalt seit langer Zeit Einigkeit bestand, mangels einer Einigung über die Berlin-Klausel wiederum nicht abgeschlossen werden konnten.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8531
Dr. Carstens
Ich werde darauf zurückkommen. Schließlich begrüßt es die CDU/CSU-Fraktion, daß der Bundeskanzler die unqualifizierten Angriffe seiner sowjetischen Gesprächspartner gegen unseren Kollegen Franz Josef Strauß zurückgewiesen hat.
Der Bundeskanzler zeigt sich über das Ergebnis seiner Gespräche befriedigt und verweist dazu auf das, was er die Erfolge nennt, die er aus Moskau mitgebracht habe. Hierzu sind allerdings einige kritische Anmerkungen nötig. Die Vereinbarung über die Errichtung eines nuklearen Kraftwerks in Ostpreußen und damit im Zusammenhang stehende Stromlieferungen nach West-Berlin und in die Bundesrepublik Deutschland stellt, soweit ich sehe, bisher lediglich eine Grundsatzentscheidung dar. Die wichtigsten Einzelheiten, insbesondere die Frage der Trassenführung durch das Gebiet der DDR, bedürfen noch der Klärung. Man kann sich angesichts der Haltung Ostberlins zu den Fragen der Kooperation zwischen beiden Staaten in Deutschland vorstellen und ausmalen, daß es hier noch zu Schwierigkeiten kommen könnte.Um bei den wirtschaftlichen Fragen zu bleiben, so ist eine Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland auch nach Auffassung der CDU/CSU richtig, wenn drei wichtige Kautelen beachtet werden. Für die Lieferungen aus der Bundesrepublik dürfen weder staatliche Kredite noch staatliche Subventionen für Zinsen bereitgestellt werden.Hier muß die Bundesregierung in Einklang mit den Grundsätzen der deutschen Außenwirtschaftspolitik bleiben. Der Herr Bundeskanzler hat soeben gesagt, daß dies auch die Auffassung der Bundesregierung sei.Die EWG muß im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik konsultiert werden. Es darf nichts vereinbart werden, was mit den Regeln der EWG nicht im Einklang steht oder was faktisch zu einer Aushöhlung der gemeinsamen Kompetenz für Handelspolitik führen könnte.
Bei den Energielieferungen ist zu beachten, daß, so wünschenswert die Erschließung zusätzlicher Energiequellen ist, eine einseitige Abhängigkeit von den östlichen Partnern vermieden werden muß.
Ich sage nicht, daß die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen in Moskau gegen diese Grundsätze verstoßen hat; ich möchte sie doch nur noch einmal in die Erinnerung rufen.Der Bundeskanzler meint, daß die Vereinbarung künftiger regelmäßiger Konsultationen zwischen der Bundesregierung und der sowjetischen Regierung ein weiterer Erfolg seiner Moskaureise gewesen sei. Hier allerdings muß ich darauf hinweisen, daß eine entsprechende Vereinbarung schon bei dem Besuch des damaligen Bundeskanzlers Brandt in Oreanda im September 1971 getroffen wurde. In dem damaligen Kommuniqué heißt es — ich zitiere wörtlich —:W. Brandt und L. I. Breschnew vertraten die Ansicht, daß die entstehende Praxis des Meinungsaustauschs und der Konsultationen auf verschiedenen Ebenen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland sowohl über bilaterale Beziehungen wie internationale Probleme nützlich ist und fortgesetzt werden soll.Konsultationen auf verschiedenen Ebenen! Es ist nichts dagegen einzuwenden, meine Damen und Herren, wenn früher getroffene Absprachen in spateren Kommuniqués wiederholt werden. Aber es ist schwerlich angängig, das jedesmal als einen neuen Erfolg zu feiern.
Auch in einigen anderen Punkten sind kritische Anmerkungen gegenüber dem Moskauer Kommuniqué vom 30. Oktober zu machen. In der Passage, die sich auf die Wiener Verhandlungen über Truppenreduzierung bezieht, fehlt der Hinweis, daß es sich um ausgewogene Reduzierungen handeln muß. Dies ist um so erstaunlicher, als der Bundeskanzler in der Zeit, als er noch Verteidigungsminister war, selbst immer besonders eindringlich für das Prinzip der Ausgewogenheit der Truppenreduzierungen plädiert hat.Schließlich fällt auf, daß bei der Behandlung des Nahostkonflikts wohl von den legitimen Rechten des palästinensischen Volkes die Rede ist, aber nicht auf die legitimen Rechte Israels Bezug genommen wird.
Hier handelt es sich um Unausgewogenheiten, um Versäumnisse, die bei der Abfassung der gemeinsamen Erklärung unterlaufen sind.Aber alle diese Mängel oder, wenn Sie wollen, Negativposten der Moskauer Bilanz werden bei weitern in den Schatten gestellt durch die Schwierigkeiten, auf welche die deutsche Delegation stieß, als sie sich um die Durchsetzung des Deutschen Standpunkts in der Berlin-Frage bemühte. Hier ist es nicht zu einer Lösung gekommen. Um diese Feststellung kommt man nicht herum, auch wenn der Bundeskanzler hier soeben Hoffnungen auf den Beginn einer solchen Lösung ausgesprochen hat.Der sowjetische Parteisekretär Breschnew hat in einer Ansprache während des Besuchs von der Notwendigkeit gesprochen, das Viermächteabkommen von 1971 strikt einzuhalten, aber die vereinbarte zweite Hälfte der Formel, nämlich daß das Abkommen auch voll angewendet werden müsse, hat er weggelassen.Es ist richtig — der Bundeskanzler hat es hervorgehoben —, daß das in Moskau unterzeichnete deutsch-sowjetische Abkommen über wirtschaftliche Kooperation eine Berlin-Klausel enthält. Es ist dieselbe Klausel, die sich auch im deutsch-sowjetischen Kulturabkommen findet.Aber gerade hier werden die Fallstricke dieser Klausel deutlich. Im deutsch-sowjetischen Kulturaustausch kommt es immer wieder zu Störungen, weil die Sowjets nicht bereit sind, die Klausel im
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8532 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Dr. Carstens
Einzelfall so anzuwenden, wie die deutsche Seite es fordert und in Übereinstimmung mit ihrer Interpretation und der Interpretation der drei Westmächte bezüglich des Viermächteabkommens auch fordern muß.So treten z. B. bei Ausstellungen oder bei der Zusammensetzung und Zusammenstellung von Delegationen im Bereich des kulturellen Austauschs immer wieder Schwierigkeiten auf. Wir haben keine Gewähr dafür, daß nicht die gleichen Schwierigkeiten bei der praktischen Anwendung des Abkommens über die wirtschaftliche Zusammenarbeit auftreten werden; denn auch dieses Abkommen ist ein reines Rahmenabkommen, welches durch entsprechende weitere Abkommen und Vereinbarungen konkretisiert werden muß.Alles dies ereignet sich gegen den Hintergrund fortgesetzter Störungen der DDR-Behörden im Berlin-Verkehr auf den Transitwegen. Deswegen muß an dieser Stelle noch einmal mit großem Nachdruck erklärt werden: Es kann keine Fortsetzung der Entspannungspolitik geben, weder in Genf noch in Wien, noch in Moskau, noch in Ost-Berlin, wenn nicht die osteuropäischen Partner bereit sind, West-Berlin in diese Entspannungspolitik voll mit einzubeziehen
und das ihrige dazu beizutragen, daß sich Berlin, seine Bevölkerung, seine Wirtschaft, voll entwickeln und entfalten kann. Ich möchte dies mit allem Ernst sagen.Dabei verkenne ich nicht, daß die Chancen für die Durchsetzung dieser Forderung heute schlechter geworden sind, als sie es vor fünf, vier, drei oder zwei Jahren waren. Es bleibt das schwere, nicht wiedergutzumachende Versäumnis der Politik dieser aus SPD und FDP zusammengesetzten Regierung, daß sie im Zuge einer unausgewogenen, übereilten und zeitweilig auf Täuschung der Öffentlichkeit in unserem Lande angelegten Entspannungspolitik
die Wahrung der Interessen Berlins vernachlässigt hat.
SPD und FDP haben bei Abschluß des Berlin-Abkommens 1971 den Eindruck erweckt, als wenn nunmehr die Wahrung der Berliner Interessen gesichert sei. Der damalige Bundeskanzler Brandt erklärte am 3. September 1971 über alle Rundfunk- und Fernsehanstalten:Nun, ich meine, die eigentliche Bedeutung liegt darin, daß es in Zukunft keine Berlin-Krisen geben soll. Das wäre viel nach all den Jahren der Unsicherheit .. .Zum anderen wird die Zusammengehörigkeit West-Berlins mit unserer Bundesrepublik nicht mehr umstritten sein . . .Es bleibt dabei, daß West-Berlin durch die Bundesregierung nach außen vertreten wird, in Zukunft aber auch im Osten.
Wenige Tage danach sagte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Herr Schütz, vor dem Berliner Abgeordnetenhaus:West-Berlins Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland sind nunmehr unbestritten und werden weiterentwickelt. Seine Vertretung nach außen wird durch die Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen.
Heute müssen wir erkennen, daß diese damaligen Erklärungen falsch waren, sei es, daß diejenigen, die sie abgaben, sich in Illusionen bewegten, sei es, daß sie die deutsche Öffentlichkeit bewußt täuschen wollten. Jedenfalls hat die Bundesregierung in den entscheidenden Phasen der von ihr zu verantwortenden Ostpolitik die angemessene und nachdrückliche Wahrung der Interessen Berlins unterlassen.
Weder bei Abschluß des sogenannten Bahr-Papiers im Mai 1970 noch bei Abschluß des Moskauer Vertrages noch bei Abschluß des Grundvertrages und der sich dann aus dem Grundvertrag ergebenden weiteren Schritte hat die Bundesregierung es für nötig gehalten, ihre östlichen Partner auf diejenige Interpretation des Viermächteabkommens festzulegen, die den Interessen Berlin allein gerecht wird.Lassen Sie mich hier noch mit einem Satz auf das Pseudoargument eingehen, das von den Verfechtern der Regierungspolitik zur Entschuldigung ihres Versagens immer wieder ins Feld geführt wird. Sie sagen, man habe Berlin in die Absprachen des Jahres 1970 nicht einbeziehen können, weil das Viermächteabkommen erst 1971 unterzeichnet worden sei. Dieses Argument, meine Damen und Herren, ist haltlos, denn natürlich hätte man in die 1970 geschlossenen Vereinbarungen einen Berlinvorbehalt des Inhalts aufnehmen können, daß die Verwirklichung dieser Vereinbarungen von einer ausreichenden Sicherung der Stellung Berlins abhängig sei.
Statt dessen kommt, wie Sie wissen, im Bahr-Papier von 1970 das Wort Berlin überhaupt nicht vor. Jemand, der nach einigen Jahren dieses Papier liest, wird gar nicht auf die Idee kommen, daß es im Jahre 1970 so etwas wie ein Berlinproblem im Verhältnis der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, und das ist ein fundamentaler Fehler und eine fundamentale Unterlassung, für die diese Regierungskoalition von SPD und FDP die alleinige Verantwortung trägt.
Als Folge dieser schwerwiegenden Unterlassungen in der Vergangenheit hängen jetzt vier Verträge mit der Sowjetunion und sechs Verträge mit der DDR in der Luft, weil es nicht gelingt, eine Einigung über die Einbeziehung Berlins herbeizuführen. Dazu hören wir, daß sich Jugoslawien neuerdings weigert, in dem Kapitalhilfeabkommen eine Klausel zu akzeptieren, wonach bei Abwicklung des Kredits die
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8533
Dr. Carstens
Berliner Wirtschaft besonders berücksichtigt werden soll.
Wenn man bedenkt, daß die Bundesregierung hier einen Kredit von einer Milliarde D-Mark
mit 30jähriger Laufzeit und zweiprozentiger Verzinsung gewähren will,
kann man sich, glaube ich, kaum einen stärkeren Beweis für die Unfähigkeit der Bundesregierung vorstellen,
die Berliner Interessen sachgerecht wahrzunehmen.Ich könnte diese meine Ausführungen ergänzen, wenn ich die anderen Bereiche in die Betrachtung einbeziehen würde, um die es in der Ostpolitik ebenfalls ging, nämlich die humanitären Fragen und die menschlichen Erleichterungen. Was ist das für eine Politik, meine Damen und Herren, die im Warschauer Vertrag 1970 die polnischen Forderungen in bezug auf die Oder-Neiße-Grenze erfüllt, aber die einzige daran geknüpfte Bedingung, nämlich die Aussiedlung von Deutschen aus Polen, nicht so absichert, daß man sich wirklich darauf verlassen kann.
Dazu nur zwei Zahlen, meine Damen und Herren. In den Jahren 1956 bis 1970 sind im Jahresdurchschnitt 22 000 deutsche Aussiedler aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Im Jahre 1974 werden es 6 000 sein!
Und jetzt sieht sich die Bundesregierung einem Junktim zwischen polnischen Wiedergutmachungsforderungen und der Aussiedlungsfrage gegenüber.
Ich kann es verstehen, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesminister des Auswärtigen, daß Sie es gerne sehen würden, wenn man alle diese Fehler der Ostpolitik Ihren beiden Vorgängern anlasten und Ihnen die Chance geben würde, sozusagen mit einer neuen Stunde Null auf der Grundlage dessen zu beginnen, was bisher geschehen ist.
Aber so leicht können Sie es sich nicht machen, so leicht wird es Ihnen die CDU/CSU nicht machen, und so leicht wird es Ihnen auch der deutsche Wähler nicht machen.
Sie gehörten dem Kabinett an, welches für alle diese Fehler der vergangenen Jahre verantwortlich ist. Sie betonen immer wieder, daß Sie die Politik Ihrer Vorgänger fortsetzen wollen. Sie tragen die volle Mitverantwortung für den gegenwärtigen Zustand.Wenn Ihnen und Ihren Parteien die Wähler in Bayern und in Hessen am vorvergangenen Sonntag eine so klare Absage erteilt und der CDU und der CSU einen so klaren Vertrauensbeweis gegeben haben, dann liegt das nicht zuletzt daran, daß ein großer Teil der Menschen in unserem Lande sich durch die Ostpolitik von SPD und FDP schlecht beraten und schlecht vertreten fühlt,
während immer deutlicher wird, daß die Forderungen der CDU/CSU voll berechtigt waren, nämlich eine ausgewogene Ostpolitik zu betreiben, bei der verbindliche Zusagen der jeweils anderen Seite den von unserer Seite gemachten Konzessionen gegenüberstehen.Während der hoffentlich nur noch kurz bemessenen Zeit, in der SPD und FDP die Verantwortung für die Regierungspolitik in unserem Lande tragen,
wird die CDU/CSU bemüht sein, die in den Ostverträgen liegenden Ansätze für eine deutschen Interessen gerecht werdende Politik zu nutzen. Sie wird aber immer wieder mit großem Nachdruck und großer Beharrlichkeit darauf hinweisen, daß die entscheidenden Fehler, die die Wahrnehmung unserer Interessen jetzt so außerordentlich erschweren, von SPD und FDP und von den von ihnen gestellten Bundesregierungen zu verantworten sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wehner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte mir sozusagen der Neugierde halber mitgenommen, was der Herr Kollege Dr. Carstens gleich am 31. niedergeschrieben hat, um einmal zu sehen, ob es, nachdem er mehr als nur durch die Presse unterrichtet worden ist und auch durch diese Regierungserklärung zusätzlich die politische Unterrichtung bekommen hat, einige positivere Bemerkungen gibt. Ich bedanke mich. Es gibt, was dies betrifft, tatsächlich einige positivere Bemerkungen. Dafür hat er am Schluß dann kräftig in die Tasten der Innenpolitik und Ihrer eigenen Hoffnungen gegriffen;
aber das sei Ihnen völlig unbenommen.
Wissen Sie, die Sache ist es wert, daß man gründlich darüber redet. Wir werden über diese Dinge noch wiederholt reden und werden, ohne daß man jetzt alles mit diesem Moskau-Besuch zusammenbringt, die Beziehungen zu Polen, die Beziehungen zur DDR, auch immer wieder von diesen Punkten aus auf die grundlegende Bedeutung des Moskauer Vertrages für unsere Beziehungen sowohl mit jenem großen Land als auch mit den Ländern, die mit ihm verbündet sind, zu sprechen kommen. Ich jedenfalls
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8534 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Wehnersage dem Herrn Bundeskanzler und dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion unseren herzlichen Dank für den Bericht und die geleistete Arbeit.
Ich habe einmal in diesem Bundestag gesagt, daß die Westverträge für Jahrzehnte — ich sagte: für Jahrzehnte — die Grundlage und der Rahmen für die Politik der Bundesrepublik Deutschland sein würden. Das war meine Überzeugung, und das ist nach wie vor meine Überzeugung.
— Sie waren damals noch nicht dabei. Ich nehme es Ihnen nicht krumm, daß Sie nur das wissen, was Sie, und zwar illustriert, gesehen haben.
Die Westverträge sind nach harter Auseinandersetzung, die ihren Sinn gehabt hat, von der klassischen Opposition der Sozialdemokraten
— ja, sicher — damals, nachdem sie Verträge geworden waren, als Verträge, die für Jahrzehnte Grundlage und Rahmen für die Politik der Bundesrepublik Deutschland darstellen werden, akzeptiert worden.Die Ostverträge, meine Damen und Herren, sind die notwendige Ergänzung zu unseren Westverträgen.
— Ja, sicher! Sie können auf einem Bein bestenfalls stehen, aber nicht gehen. Das wissen Sie doch auch, sogar Sie.
Daß die einen Verträge, die Westverträge, kein Ersatz für die anderen Verträge, die Ostverträge, sind, und umgekehrt, das ist, meine Damen und Herren, auch wenn Sie sich Ihrer Allwissenheit sicher zu sein scheinen, des Nachdenkens auf allen Seiten unserer innenpolitischen Auseinandersetzung über Außen-und Sicherheitspolitik wert. Ich sage: es ist des Nachdenkens und dann auch des allmählichen Aufeinanderzukommens wert.Der Herr Kollege Strauß, der ja sicher zu den Prominenten in diesem Hause gehört, modelliert auf seine Weise an den Westverträgen herum. Ich zitiere ihn aus einer Zeitung, die ihm bestimmt nicht übel will, aus der „Welt" vom 6. November, also von heute früh. Ich finde diese Meditationen hochinteressant. Deutschland spiele noch immer die amerikanische Karte, ist ihm von einem französischen Gesprächspartner beinahe vorgeworfen, jedenfalls fragend entgegengehalten worden. Er hat darauf geantwortet:Wissen Sie, wenn Sie einen Rock haben, kann es sein, daß Sie auch einen Mantel brauchen. Für uns ist der Mantel Amerika. Und der Rock, das ist Europa. Man kann nicht von den Amerikanern verlangen, daß sie für alle Ewigkeit die politische und militärische Verantwortung für Europa tragen. Die beste Lösung wäre unserer Meinung nach eine politische Union Europas, die Hand in Hand mit der Unterteilung der NATO in zwei Zweige ginge: einen amerikanischen und einen europäischen.
— Daß Sie Strauß applaudieren würden, habe ich erwartet. Der Applaus war dünn. Tut mir leid, Herr Strauß. Aber er ist ja nicht hier.
Die einzige Macht, die der Sowjetunion imponiert, sind die Amerikaner. Wir, wir unterhalten Operettenarmeen. Es ist nicht normal, daß die europäischen Zwerge die einen in Konflikt mit Größenwahn, die anderen in weinerlicher Art — sich ständig an die amerikanischen Rockschöße anhängen.Sie können sich nun aussuchen, ob wir zu den Zwergen der weinerlichen Art oder zu denen „in Konflikt mit Größenwahn" gehören. Eine dritte Möglichkeit gibt es hier nicht. Aber der Herr Kollege Strauß hat sich außerdem in einem Interview des Zweiten Deutschen Fernsehens noch einmal der Frage der Europäer gewidmet und gesagt:Die Europäer können doch nicht darauf warten, daß die Amerikaner auf unbegrenzte Zeit — sagen wir, für den Rest des Jahrhunderts und vielleicht noch für das nächste Jahrhundert — die alleinige Verantwortung für Europa übernehmen. Das ist zwischen uns und den Amerikanern und auch zwischen Herrn Kissinger und mir schon oft besprochen worden.So weit Herr Strauß. Das ist sicher, jeder macht sich auf seine Weise Gedanken über die Westverträge, weil sie ja für Jahrzehnte die Grundlage und der Rahmen unserer deutschen Politik sind.
Bei den Ostverträgen sind Sie, meine Damen und Herren, noch nicht so weit, jedenfalls nicht so weit, daß Sie sich imstande fühlten, mit ihnen realistisch umzugehen,
obwohl es von Ihrer Seite oft beteuert wird, wobei Sie allerdings gleichzeitig, jedenfalls bis heute — bei Herrn Carstens war es ein wenig im Hintergrund —, immer noch die Verträge selbst im Wert herabsetzen. Was Sie sich, die Sie meinen, einmal wieder Regierungspartei zu werden — und warum denn nicht in diesem Lande mit demokratischen Wechselmöglichkeiten —, damit selbst antun, das werden Sie noch merken, sogar noch im Laufe Ihrer Oppositionszeit. Das liegt meines Erachtens daran, daß Sie eine andere Vorstellung von der Dynamik der Westverträge gehabt haben und daß Sie, nicht alle unisono, aber doch gern und oft diese alte Vorstellung von der Dynamik wieder zur Geltung bringen möchten. Das ist eine andere Dynamik, sagte ich, als die, die diesen Verträgen zugekommen ist und zu-
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Deutscher Bundestag - 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8535
Wehnerkommen kann, so bedeutend sie für die nächsten Jahrzehnte unserer Politik bleiben werden, weil es keine Alternative für sie gibt.Da hat es mich interessiert, daß Ihr Generalsekretär, der Herr Professor Biedenkopf, in einem nachdenklichen Rückblick auf die Zeit der „Einfachheit" d. h.
— wir kommen noch dazu, Herr Baier — auf die Zeit des kalten Krieges zurückkam, in der es, wie er selber sagt, „einfach" war, weil das militärische und das ideologische „Feindbild" übereinzustimmen schienen. Weiter meditierte er, es könnte so sein oder es könnte so ausgelegt werden, daß der Westen auf die ideologische Konfrontation verzichten müsse, wenn er mit seiner Entspannungspolitik Fortschritte erzielen wolle. Das kommt alles aus der Vorstellung, daß militärische Entspannung und Entspannung auch in dem, was er ideologisch nennt, eben so nicht geht; es war „einfacher" in der Zeit, in der es ein „Feindbild" militärisch und ideologisch gegeben hat.Nun, wie wäre es denn, in Ihrer Betrachtung, die doch sicherlich noch eine ganze Weile im Gange sein wird, wie man Sie kennt, statt dessen alternativ Verträge zum beiderseitigen Nutzen einzubringen als etwas, das mit unseren Interessen übereinstimmt, und dies auch als Ihre Politik anzuerkennen? Sie können ja an den Verträgen Kritik üben, Sie können an der Handhabung der Verträge Kritik üben, warum denn nicht, natürlich ist das Ihr gutes Recht; aber Sie sind als Opposition in einer seltsamen Situation, weil Sie immer wieder versucht sind, die Verträge selbst als Nichtverträge abzuwerten.
Das ist Ihre Situation.
Aber hier geht es um Verträge zum beiderseitigen Nutzen, die mit unseren Interessen übereinzustimmen haben; andere Verträge wären keine Verträge, die unsere Zustimmung haben könnten.Ich komme auf Herrn Strauß zurück, es tut mir leid. Er hat statt dessen inzwischen noch einmal mit der Dynamik der Westverträge zu operieren versucht und hat hypothetische europäische Möglichkeiten in die Debatte gebracht. Es geht bei diesem West/Ost um unsere Interessen, das können Sie nicht voneinander trennen, es tut mir leid. Herr Strauß weiß das besser als Sie; er ist aber heute nicht hier. Herr Strauß hat also z. B. auf die Frage, wie er sich eine Verantwortlichkeit in Europa und im Westen vorstelle, gesagt:Wir haben im Wahlkampf — auch da Wahlkampf —das Thema Gebietsreform gehabt. Und da redet man über Gemeindereform, Landkreisreform, Länderreform usw. Das Wesentlichste wäre die europäische Gebietsreform.
— Lassen Sie das bitte auf der Zunge zerschmelzen, Sie Diplomat: „die europäische Gebietsreform."Aus der Vielzahl kleiner und mittlerer selbständiger europäischer Staaten mit protokollarischer Souveränität und politischer Bedeutungslosigkeit— sehr freundlich gegenüber den Nachbarn —und militärischer Ohnmacht einen europäischenBundesstaat zu schaffen, mit einer Armee. Unddieser könnte dann den Partner Europa gegenüber dem Partner USA im Rahmen einer nachwie vor zusammenhaltenden NATO darstellen.
— Sehen Sie, es läßt sich einfach darüber klatschen, wenn auch durch eine Minorität. — Wenn es so einfach wäre, ließe sich darüber reden. Nur, das ist die alte Dynamik-Vorstellung in einer neuen Aufzäumung. In der Zeit der Gemeinde- und der sonstigen Gebietsreformen ist es verständlich, greift man auch gerne einmal über die eigenen Gebiete hinaus.
Nur, da gehören einige dazu.Nun komme ich noch einmal zu den Bemerkungen von Herrn Biedenkopf über gemeinsames Bemühen um die Bewältigung gesellschaftlicher, geistiger und wirtschaftlicher Aufgaben, von denen er sagt, daß sich die Partner der NATO damit als Gegenstand eines gemeinsamen Zieles des Bündnisses in stärkerer Weise als bisher befassen sollten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Jäger ?
Ich will das erst darlegen; er wird dann sicher noch einmal darauf zurückkommen. - Nehmen Sie Griechenland, nehmen Sie Portugal, nehmen Sie die Türkei — alles NATO-Partner — und nehmen Sie den Zypern-Konflikt! Ich kann das nur stichwortartig sagen. Überall dort wird jetzt eine so hohe Aufgabe wie die „Bewältigung gesellschaftlicher, geistiger und wirtschaftlicher Aufgaben" auf den Tisch gelegt. Daß Sie das fordern, ist das Ergebnis der Tatsache, daß Sie bisher nicht übereinstimmend bereit sind, zu erkennen — und auch die Politik entsprechend zu richten —, daß die Westverträge der Ostverträge bedürfen und daß die einen nicht die anderen ersetzen können.Warum kommt aber denn der verehrte Herr seinerzeitige Bundeskanzler, Kollege Kurt Georg Kiesinger, so kurz weg, der ja das ausgezeichnete Wort vom Interessenausgleich zwischen den Bündnissen von West und Ost am 17. Juni des Jahres 1967 in einer auch heute noch sehr beachtlichen Rede geprägt hat? Den haben Sie dabei vergessen; das ist schade, er verdiente das nicht.
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8536 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
WehnerAber nehmen Sie im Ost-Zusammenhang auch noch etwas ganz Aktuelles. Ich habe mit Interesse gelesen, was einer der superkritischen Betrachter all dessen, was mit dem Osten zusammenhängt, der Herr Dieter Cycon, in einem Artikel in der „Welt" vom 2. November unter der Überschrift „Wirtschaftliche Partner mit begrenztem Nutzen" —denen dort werden die Ohren klingen — dargestellt und abgehandelt hat. Würde ich meine Zeit dabei nicht überziehen, würde ich Ihnen auch das Ringen eines solchen Mannes, der nun allem, was mit „Ostpolitik" bezeichnet werden kann, superskeptisch gegenübersteht, darlegen. Er sagt am Schluß immerhin:Eine verläßliche Prognose läßt sich kaum stellen, und kein Weg ist ohne Risiko. Am Ende gebührt wohl der Vorrang dem Gedanken, daß dieser Planet ein schrecklich gefährlicher Ort geworden ist und daß es Chancen für die deutschen Anliegen nur noch im Falle einer Lockerung des sowjetischen Systems geben kann. Schmidts nüchternes Vorantasten auf einem glitschigen Weg zu einem fernen Ziel hätte dann seine Meriten — vorausgesetzt freilich, das Prinzip des do ut des halten, und daß die Entwicklung des wirtschaftlichen Verhältnisses mit den Russen nicht ablenkt von den Bemühungen um die Entwicklung westeuropäischer Zusammenarbeit.Ich sehe, es ist bei Ihnen ein Denkprozeß, sogar schon ein Schreibprozeß im Gange, und dabei werden wir einander noch häufig begegnen.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Der Herr Generalsekretär Biedenkopf —
Keine Zwischenfrage!
— hat kritische Bemerkungen gemacht über die unterschiedlichen Bewertungen, wo wirtschaftliche Beziehungen zwischen den westlichen Ländern und dem Ostblock einerseits von den Vereinigten Staaten von Amerika, andererseits von uns miteinander abgewogen werden.
— Ach, ich werde eben durch den Herrn Professor darauf aufmerksam gemacht, daß ich Ihnen zu antworten habe. Bitte!
Herr Abgeordneter, wahrscheinlich haben Sie mich nicht gehört.
Nein! Präsident Frau Renger: Der Abgeordnete Jäger wünscht eine Zwischenfrage zu stellen. Gestatten Sie diese Zwischenfrage?
Sehr gern! Was sollte ich denn Besseres?
Bitte, Herr Abgeordneter Jäger !
Herr Kollege Wehner, darf ich daraus, daß Sie sich in den letzten zehn Minuten so breit mit Franz Josef Strauß und Professor Biedenkopf und jetzt auch noch mit Dieter Cycon beschäftigt haben, schließen, daß Ihnen das Ergebnis dessen, was der Bundeskanzler hier in seiner Regierungserklärung gesagt hat, nicht so bedeutend und wichtig zu sein scheint, daß es sich lohnt, darüber den Hauptteil Ihrer Rede zu halten?
Herr Kollege, unter der Voraussetzung, daß mir die Zeit Ihrer langen Frage nicht auf meine Redezeit angerechnet wird, muß ich mein Bedauern darüber ausdrücken, daß ich Sie noch nicht zitieren kann; so weit ist es noch nicht.
Der Bundeskanzler kommt noch zu seinem Recht.Wissen Sie, alle sagen von sich, gerade sie selbst bemühten sich darum, realistisch Beziehungen zwischen uns und der UdSSR zustande zu bringen. Ich habe mir Herrn Carstens Versuche auf diesem Wege auch noch einmal angesehen und durch den Kopf gehen lassen. Vor nunmehr fast zehn Jahren, als er damals von einem Moskau-Aufenthalt mit interessanten Erörterungen zurückkam, schrieb ein ihm sicher nicht unfreundlich gesonnenes Blatt wie die „Neue Zürcher Zeitung" in einer Summe seiner eigenen Darlegungen und auch der des damaligen Pressesprechers der Bundesregierung und jetzigen Botschafters Herrn von Hase:Auch in Bonn neigt man dazu, nicht wieder zehn Jahre vergehen zu lassen, bis ein hoher Vertreter der Bundesregierung nach Moskau reist. Zwischen der Aufnahme diplomatischer Beziehungen durch Bundeskanzler Adenauer im Jahre 1955 und dem Besuch von Herrn Carstens war kein Bundesminister oder Staatssekretär aus Bonn in Moskau gewesen.
Das ist auf zehn Jahre zurück bezogen. Inzwischen waren es wieder fast zehn Jahre. Herr Carstens, ich nehme an — ich habe das im vorigen Jahr gehört —, daß Sie eine besondere Gelegenheit suchen werden oder geboten haben wollen, nach dort zu reisen. Nur, was das Hinreisen von Repräsentanten unseres Staates betrifft, so ist ja Ihrem damaligen Vorsatz gefolgt worden, wenn auch nicht durch Sie selbst, sondern durch andere.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8537
WehnerDer Herr Professor Carstens hat damals immerhin auch gesagt:Wir sind der Überzeugung, daß eine Intensivierung des beiderseitigen Warenaustauschs nicht nur im Interesse unserer beiden Länder liegt, sondern daß gute Handelsbeziehungen sich auch günstig auf die allgemeinen Beziehungen auswirken werden.Herr Carstens wird es mir nicht verübeln, wenn ich sage: wir werden sehen. Denn er selber will ja auch umgekehrt sagen: Sie haben das noch nicht. Nur, die wirtschaftlichen Beziehungen oder die Hoffnungen, die man daran knüpft, habe ich auch bei Ihnen gefunden, Herr Professor Carstens.
Allmählich scheint vielleicht doch ein Abbau vorgefaßter Meinungen vor sich zu gehen. Herr Carstens hatte ja 1970 — damals im Zusammenhang mit dem Vertrag, von dem heute hier die Rede ist, und mit dem Besuch des Bundeskanzlers und seines Außenministers — geschrieben:Vorweg sei gesagt, daß der Vertrag auch einige begrüßenswerte Elemente enthält. Begrüßenswert erscheint, daß es zu einer deutsch-sowjetischen Gewaltverzichtsvereinbarung gekommen ist, um die sich die Bundesregierungen seit langem bemüht haben.Und dann hat er nachgewiesen, welche Ansätze dazu geschaffen worden sind. Es war also etwas Begrüßenswertes an diesem Vertrag, genauso — zugegeben — wie an den früheren Bemühungen. Und dann weiter:Begrüßenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß es den deutschen Unterhändlern gelungen ist, den angeblichen Interventionsanspruch zurückzudrängen, den sich die sowjetische Regierung gegenüber der Bundesrepublik unter Berufung auf das Potsdamer Abkommen und die Artikel 53 und 107 der UN-Charta angemaßt hatte.Ich kann das jetzt hier nicht vertiefen. Viele, die an solchen Debatten teilgenommen haben oder teilnehmen mußten oder durften, werden wissen, wie heftige Streite es hier vor dem Vertrag darüber gegeben hat, und dann haben sie diese begrüßenswerte Tatsache von sich aus festgestellt.Herr Kollege Bar z e 1 , den ich heute leider auch nicht auf seinem gewohnten Platz sehe — man kann sich ja irren —, hat im Jahr darauf auch wieder im Zusammenhang mit diesem Vertrag gesagt — es war im Dezember 1971 —:Wir sehen durchaus Möglichkeiten, die wirtschaftliche Kooperation zwischen der Sowjetunion und uns sowie zwischen der Sowjetunion und der Europäischen Gemeinschaft noch zu verstärken. Zwar setzen hier wirtschaftliche Sachzwänge — ich denke beispielsweise an Lieferungs- und Finanzierungsschwierigkeiten — trotz guten Willens auf beiden Seiten Grenzen. Dennoch, so meine ich, sollten wir noch intensiver als bisher prüfen, auf welche Weise wirund die Sowjetunion zum gegenseitigen Nutzen wirksamer zusammenarbeiten können.Wenn ich nun meine, daß jetzt vielleicht sogar der Abbau vorgefaßter Meinungen bezüglich langfristiger Kredite mit Sonderzinssätzen zugunsten der UdSSR allmählich in Gang kommen wird, so zitiere ich Herrn Stückle n. Der hatte noch unmittelbar vor der Reise der beiden Herren und ihrer Begleiter in einer Sendung des Saarländischen Rundfunks erklärt:Die Gefahren — in diesen Wirtschaftsfragen — liegen in zweierlei Richtung: einmal will die Sowjetunion — und das habe ich ja selbst erlebt —— er sei ja einmal ein Jahr vorher bei einer Reise dabeigewesen —große Kredite, und zwar von Jahr zu Jahr, und die noch zu einem günstigen Zinssatz. Ich glaube, da führt kein Weg hin. Wir können die Sowjetunion nicht anders behandeln wie jeden anderen Außenhandelspartner in der übrigen Welt. Die zweite Gefahr liegt darin, daß wir auf der einen Seite nun erkannt haben, wie abhängig wir sind, z. B. vom 01, ob die Scheichs den Hahn zudrehen— da meint er aber die anderen Scheichs —oder nicht. Und nun Atomreaktoren auf sowjetischem Gebiete bauen— er hebt bildlich beide Hände hoch —mit der Auflage, daß sie uns Strom liefern müssen?Großes Fragezeichen, selbstverständlich! Und dann kam also sein Lösungsversuch.
— Ach so, wunderbar! Ich freue mich, daß Sie sich noch gerne hören, auch wenn ich es vorlese.
Diese Abhängigkeit darf nicht eintreten. Ich würde sagen,— „würde sagen", das ist die modische Phrase —daß es eine Überlegung wert wäre, wenn die Sowjetunion oder die „DDR" Strom nach West-Berlin liefern, sollten wir den Strom liefern für Magdeburg, Erfurt oder Leipzig.
— Also ich bitte Sie! Da habe ich nun schon eine ganze Menge vorgelesen. Nun lassen Sie sich doch auf die Rednerliste Ihrer Fraktion setzen! Sie sind doch der zweite Mann in der Fraktion, wenn ich andere damit nicht beleidige.
Da gibt es also etwas sehr Konkretes, was Sie von dort mitgebracht haben, worüber verhandelt werden muß. Was würden wir denn sagen, wenn zwischen Großmächten darüber geredet würde — das würden wir für unzumutbar halten —, daß man, wie man
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8538 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Wehnersagt — ich bin ein Laie —, Trassen durch anderer Leute Länder legt? Natürlich muß man mit denen darüber sprechen. Nur: wenn zwei — in diesem Fall eine große und wir, eine mittlere Garnitur — so etwas für richtig halten und dabei der Große eine der vier Unterzeichnermächte des Berlin-Abkommens ist, dann dürfte wohl damit das, was ein Einstieg auch in die Erörterungen mit der DDR genannt werden kann, nicht unmöglich erscheinen.Aber nehmen Sie nun einen Fachmann — wieder „Die Welt", zum drittenmal; es tut mir leid —; das ist der Herr Mommsen. Sie haben ihn wahrscheinlich alle gelesen, und mancher hat gesagt: Donnerwetter, daß der Schmidt sich den gekapert hat! Was Mommsen da über die Zinsen schreibt, würde ich, wenn ich nicht Gefahr liefe, meine Redezeit zu überziehen, ganz vorlesen. Eines will ich immerhin zitieren:Das Thema ist vom Tisch. Die Russen werden künftig Marktzinsen zahlen.Dann hat er gesagt, welches unumstößliche Argument das Zinsproblem aus der Welt geschaffen habe:Was sollen die Entwicklungsländer sagen, wenn wir ihnen den Marktzins berechnen, der Sowjetunion aber zumindest optisch ein Privileg einräumen?Das habe zum Umstimmen beigetragen, und umgestimmt habe die Herren dort auch — so meint Herr Mommsen —, daß der Bundeskanzler ehrlich genug und geschickt genug war, zu erklären, daß er selbst auch für Haushaltskredite des Bundes Marktzinsen entrichten müsse. Deshalb sei unerfindlich, wie ein Handelspartner auf Sonderkonditionen bestehen könnte. Also, es kann sich klären.Bleibt ernsthaft Berlin. Dazu hat Herr Carstens einiges gesagt, das nicht — zumindest akzentuiert — unwidersprochen bleiben soll. Ich habe mit großem Interesse gelesen, was Herr Kollege Leisler Kiep in der gestrigen Nummer des „Deutschland-Union-Dienstes" über „Perspektiven der Ostpolitik nach dem Treffen in Moskau" geschrieben hat. Warum klatschen Sie da nicht auch einmal, wenn Sie bei Strauß klatschen? Es ist ja Ihr eigener Dienst und Ihr eigener Kiep! Er sagte:Das Treffen zwischen der sowjetischen und der deutschen Führung in Moskau signalisiert im Stile positiver Sachlichkeit die notwendige Fortsetzung der Ostpolitik. Die CDU begrüßt in diesem Zusammenhang den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion, insbesondere die Tatsache, daß grundsätzliche Einigung mit der Sowjetunion erzielt werden konnte, West-Berlin in den Stromverbund des geplanten Atomkraftwerks direkt einzubeziehen. Damit ist zugleich eine wichtige praktische Bindung West-Berlins an die Bundesrepublik Deutschland geschaffen und ein Schritt für den Ausbau der Beziehungen zwischen beiden Staaten getan worden. Die Bundesrepublik Deutschland muß angesichts der weltweiten Rohstoffkrise alle Quellen und Möglichkeiten zur Dekkung ihres Energiebedarfs nutzen, dazu gehört auch die Sowjetunion.Dann kommt seine starke Mahnung:Wirtschaftliche Prosperität West-Berlins und europäische Entspannung sind untrennbar miteinander verbunden.Ich habe einen Anklang davon heute auch bei Herrn Professor Carstens gefunden und mir mitgeschrieben; und das ist ja ganz verständlich.Nun, es gibt dann drei Forderungen, die Herr Kollege Leisler Kiep aufstellt:Solange die Sowjetunion unter „strikter Einhaltung des Berlin-Abkommens" eine 'Aushöhlung unserer Rechte in Berlin verfolgt und die Möglichkeit der „vollen Anwendung" weiter mißachtet, gefährdet sie nicht nur die Entwicklung ihrer Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch den europäischen Entspannungsprozeß.Es steht bei Ihnen, das so zu schreiben, wie Sie es für richtig halten.Es wäre klüger — ohne daß ich Ihnen vorschreibe, da Sie die Opposition sind, wie Sie es eigentlich sagen müßten —, wenn man davon ausginge: Wenn die Sowjetunion unter strikter Einhaltung des Berlin-Abkommens etwa eine Aushöhlung von Rechten Berlins und in Berlin verfolgen würde und wenn die Möglichkeit der vollen Anwendung mißachtet würde, dann würde gefährdet, und zwar nicht nur die Entwicklung der Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch der europäische Entspannungsprozeß.Berlin, hat Herr Leisler Kiep gesagt, ist „unsere Realität". Nun, ich möchte sagen, wir sollten deutlich machen: Das Abkommen, das Berlin betrifft und von Vieren unterzeichnet ist, müssen wir und wollen wir selbst, soweit es an uns liegt, hüten und vor Beschädigung nach allen Seiten zu bewahren suchen. Das steht uns besser an, als wenn wir von vornherein jemanden dafür schuldig erklären.
Herr Leisler Kiep sagt zweitens:
Deshalb fordert die CDU auf der Grundlage des Viermächteabkommens von Berlin eine prinzipielle Regelung, die West-Berlin in alle Verträge der Bundesrepublik mit der Sowjetunion mit einschließt.Ich sage, wenn die Opposition so etwas fordert, ist das ihr gutes Recht. Und wenn die parlamentarische Opposition — er hat noch einiges dazu ergänzend geschrieben dies fordert, wird sie gerechterweise ihren Gradmesser an die Praxis der Regierung ansetzen können, ob sich diese im Rahmen des Abkommens und damit im Rahmen des Möglichen bemüht bzw. worauf die Opposition bestehen muß, ob das so ist. Da haben Sie dann Ihr Kriterium. Das ist eine Sache, über die geredet werden kann.Die dritte Forderung:Die Interessen der Sowjetunion nach einerneuen Dimension der wirtschaftlichen Zusam-
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8539
Wehnermenarbeit könnten leichter verwirklicht werden, wenn das Ziel der europäischen Entspannung um eine neue Dimension der Freizügigkeit und der militärischen Sicherheit bereichert würde.Aber auch in Sachen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit und in Sachen Rüstungsbegrenzungs- und Truppenverminderungsverhandlungen auf lange Sicht in Wien seien in Moskau leider keine Zeichen gesetzt worden. — Ich meine deshalb: Wir werden von uns aus keine Mühe scheuen, es damit so weit wie möglich zu bringen, statt das negativ auf die Seite zu legen.Zu dem Berlin-Abkommen zwischen vier Partnern mit sehr unterschiedlichen Auffassungen — nicht nur zwei, sondern auch graduell sonst noch unterschiedlichen — über die Rechtsgründe ihres Dort-seins, ihrer Möglichkeiten, ihrer Rechte und der Anwendung ihrer Rechte: Daß dieses Berlin-Abkommen dennoch zustande gekommen ist, ist nur denkbar gewesen, weil hier ein übergeordnetes Interesse dieser Mächte an einer langen Phase, die sie „Entspannung" nennen, bestanden hat und besteht. Das sollten wir nützen,
statt dieses sehr fragile Gebilde in Gefahr zu bringen. Darüber könnte man konkret reden, und es wird ja auch die Zeit dazu kommen im Zusammenhang mit der Debatte über die Große Anfrage zur Deutschlandpolitik. Sie und auch wir werden also demnächst noch breiter darauf zurückzukommen haben.Bei alledem geht es auch darum — und das betrifft auch diesen Vertrag, hinsichtlich dessen Bundeskanzler Schmidt und Außenminister Genscher dort verhandelt haben —: Die Verträge der Bundesrepublik Deutschland werden zwar von ihr im eigenen Namen geschlossen, aber die Bundesrepublik ist dabei immer die Bundesrepublik Deutschland, die unter den Vorbehaltsrechten der Drei Mächte steht, abgeleitet aus den Vorbehaltsrechten der Vier, die auch in der Charta der United Nations ihre besondere Verpflichtung haben gegenüber dem, was „Deutschland als Ganzes" heißt. Das bleibt doch. Das brauchen wir uns doch nicht gegenseitig zu versichern!
— Das hat damit sehr zu tun. Wenn Sie das als eine Quantité négligeable behandeln würden — was ich Ihnen nicht vorwerfen möchte, weil Sie bei genauerem Überlegen sicher mit Recht sagen würden: so war das nicht gemeint —, wären wir in einer anderen Situation.Ich komme noch einmal zurück auf die Westverträge, weil ich hier am 30. Juni 1960 Gelegenheit genommen hatte, mich mit Voraussetzungen— „Voraussetzungen" als Begriff, der damals von Ihnen geprägt worden war — zu befassen, die Ihrerseits als notwendig erachtet wurden, um — wie es dann wörtlich hieß — eine angestrebte „gemeinsame Außenpolitik von Regierung und Opposition" zu bekommen, von der einer Ihrer Herren — es warHerr Strauß — damals gesagt hatte, sie sei eine Frage von großer politischer Bedeutung, denn — und ich zitiere wieder wörtlich — sie würde nicht nur der jetzt amtierenden Regierung, sondern auch künftigen Regierungen die politische Freundschaft der Verbündeten garantieren. Auf diese „Voraussetzungen", die damals genannt worden sind, habe ich geantwortet.Da ging es erstens um die Forderung, die Sozialdemokraten müßten gemeinsam mit der CDU anerkennen, daß die europäische Einheit, die atlantische Allianz, Voraussetzungen für die Erhaltung der Freiheit und für die Erlangung der deutschen Wiedervereinigung sind. Damals gab es noch „Sehr richtig! bei der CDU/CSU" im Protokoll. Ich habe zu jedem dieser Punkte Stellung genommen.Der zweite Punkt war, die Sozialdemokratische Partei müsse sich von der alten These distanzieren, daß die Wiedervereinigung nur möglich sei, wenn die Bundesrepublik Deutschland aus der NATO und aus den europäischen Bündnissystemen ausscheide.Der dritte war, die Sozialdemokraten müßten nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat bereit sein, mit den Unionsparteien die Lasten und Bürden der Landesverteidigung zu tragen — gleichgültig, wer in der Regierungsverantwortung und wer in der Opposition steht.Und dann gab es da noch ein Einschiebsel: Die Sozialdemokraten müßten alle irgendwie gearteten Disengagementpläne aufgeben.Und schließlich die vierte Voraussetzung: Die Sozialdemokraten müßten den Begriff des Selbstbestimmungsrechts für ganz Deutschland, d. h. nach freien Wahlen, für die Wiedervereinigung uneingeschränkt anerkennen.Das waren die Voraussetzungen, die damals Herr Kollege Strauß, der seinerzeit Verteidigungsminister war, formulierte und publizierte und auf die wir hier eingegangen sind und mit denen wir uns befaßt haben. Ich habe damals erklärt:Zu 1: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands geht davon aus, daß das europäische und das atlantische Vertragssystem, dem die Bundesrepublik angehört, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik ist.Zu 2: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat nicht gefordert und beabsichtigt nicht, das Ausscheiden der Bundesrepublik aus den Vertrags- und Bündnisverpflichtungen zu betreiben. Sie ist der Auffassung— das war damals das Problem —,daß ein europäisches Sicherheitssystem die geeignete Form wäre, den Beitrag des wiedervereinigten Deutschlands zur Sicherheit in Europa und in der Welt leisten zu können.Zu 3: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bekennt sich in Wort und Tat zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundrechte und der Grundordnung und bejaht die Landesverteidigung.
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8540 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
WehnerDas war damals, und das war ein Jahr und 44 Tage, bevor jene schreckliche Besiegelung der deutschen Trennung durch die Errichtung dessen, was man jetzt die Mauer nennt, geschehen ist. Ein Jahr und 44 Tage zuvor! Das war unser Ruf danach, eine Bestandsaufnahme zu machen und miteinander zu reden, wie Schlimmeres, Einseitiges verhütet werden kann.Daß es unterschiedliche Auffassungen z. B. über die Praxis der Landesverteidigung gibt, ist hin und her immer der Fall.
— Das hat etwas damit zu tun. Hier geht es um die Grundsätze, hier geht es um die Grundlagen der Politik. Bei Ihnen gibt es ja den Soupçon — und manchmal nicht nur den Soupçon —, daß bei uns keine Westvertragsgrundlage bestünde; wir wären sozusagen nicht nur frei schwebend in der Luft.
— Wenn Sie das bestreiten, um so lieber; dann habe ich bei Ihnen eine offene Tür eingerannt.Was die Disengagement-Pläne betrifft, so haben wir damals erklärt —
— Nein, nein! — Damals habe ich mich wieder auf Herrn Strauß berufen. Er hat wörtlich gesagt:Wir Deutschen wollen nicht als Störenfriede auf dem Wege zur Abrüstung erscheinen. Wir halten auch die Abrüstung für ein essentielles Moment auf dem Weg zur Entspannung. Es wäre selbstverständlich unehrlich, zu sagen, es mag kontrolliert und inspiziert werden auf der Welt, nur nicht bei uns, sondern wir müssen hier. das gute Beispiel geben und wir sind bereit, die Bundesrepublik ganz oder teilweise zu einem Bestandteil einer Kontroll- und Inspektionszone zu machen. Das heißt nicht, daß die Kontroll- und Inspektionszone identisch ist mit den geographischen Grenzen der Bundesrepublik, aber die Bundesrepublik ganz oder teilweise zu einem Bestandteil einer Kontrollzone zu machen nach den Vorschlägen, die zwischen den Großmächten vereinbart werden können. Das heißt es. Einigen sich die Großmächte nicht, wäre ein solcher deutscher Vorschlag von sich aus wohl nicht von weit entscheidender Bedeutung. Einigen sich die Großmächte jedoch, so stehen wir nicht durch irgendwelche deutschen Sonderwünsche dieser Einigung im Weg.Auf diese Erklärung des damaligen Bundesministers der Verteidigung vom Oktober 1959 nach seiner Rückkehr von einer Kanada-Reise habe ich mich bei der Behandlung der Fragen nach dem Disengagement berufen.Nein, nein, es kann Ihnen nicht schaden, wenn Sie nicht nur Schmuck-Jubiläumsbände angucken, sondern bei 25 Jahren Bundestag auch einige dieser grundlegenden Debatten wenigstens nachzuvollziehen versuchen.
Sie können sich Ihre eigene Meinung dabei bilden. Das waren nämlich nicht die Geschichten über diese Verträge, sondern es gehört zur Geschichte dieser Verträge. Da haben wir unseren Beitrag geleistet. Ich streite Ihren Beitrag nicht ab. Wir haben ja hart miteinander gerungen.Als die Frage gestellt wurde, ob wir die Verträge denn auch wirklich so halten wollten, wie sie geschrieben sind, ob wir als loyale Vertragspartner diese Verträge einhalten würden oder nicht, habe ich gesagt: Für Sozialdemokraten kommt nur dies in Frage.Ich habe aber damals gefragt: Warum wird diese Frage auf solche Weise gestellt? Etwa, damit im Ausland Zweifel an der Vertragszuverlässigkeit der Deutschen oder wenigstens eines großen Teils der Deutschen erweckt oder gar genährt würden? Ist das richtig, ist das klug? So habe ich gefragt. Das frage ich auch heute. Ich frage umgekehrt: Ist das etwas, was der Lage entspricht?Ich meine, Bundeskanzler Schmidt hat dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Regierungspartei der UdSSR gesagt, es sei Unrecht, Ihren Herrn Strauß als einen „Revanchisten" zu bezeichnen. Bei der Gegensätzlichkeit, die zwischen dem sozialdemokratischen Bundeskanzler und dem Vorsitzenden der CSU in hauptsächlichen politischen Grundauffassungen besteht, erscheint mir des Bundeskanzlers Geste nicht nur nobel, sondern auch vernünftig und fair;
vernünftig, weil es den deutschen Interessen abträglich wäre, noch so tiefgehende politische Gegensätzlichkeiten zwischen uns als Gegensätzlichkeiten mit „Revanchisten" abzustempeln und damit die deutschen Fragen simplifizieren zu lassen.
So sind Sie nicht. Aber es liegt weitgehend an Ihnen, daß Sie so verstanden werden, meine Damen und Herren.
Das sollten Sie dabei, auch wenn Sie manche Fragestunde bedenken, nicht völlig aus Ihren eigenen Betrachtungen, die Ihre eigenen bleiben müssen, herausnehmen.
Und fair, vorbildlich fair war es, weil sich unsere innenpolitische Gegenseite bisher nicht zu solcher Art und Weise hat durchringen können. Ich muß sagen: leider im Gegenteil; sie hat das nicht tun können.Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen, von denen Sie zwischendurch mit Unzufriedenheit festgestellt haben, ich hätte nicht einfach nur buchhalterisch den Bericht behandelt. Sie haben das ja auch nicht getan, sehr verehrter Herr Carstens. Nur haben Sie andere Konten beigezogen, auf die wir
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8541
Wehnerauch noch bei einer nächsten Gelegenheit zu sprechen kommen werden.Diese Reise galt dem Vertrag, der bei Ihnen noch so wenig abgeklärt ist, daß Sie leider immer noch keine ernsthafte parlamentarische Oppositionsrolle übernehmen können, weil Sie nämlich selbst den Vertrag, dessen Einhaltung Sie verlangen, in Frage stellen. Hier liegt doch Ihre Bruchstelle, Ihre schwache Stelle.
Es ist Ihre Sache, wie Sie sich in diesen Fragen zu einer anderen Haltung durchringen. Ich verlange ja keine Haltung, die mit unserer identisch zu sein hätte. Ich wünsche nur, daß es etwas wird, worüber wir uns dann sachlich, wenn auch scharf auseinandersetzen können.Ich wiederhole am Schluß meinen Dank an den Bundeskanzler und seinen Außenminister im Namen der Sozialdemokratischen Fraktion.
Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Rückblick auf die Gespräche, die der Herr Bundeskanzler und der Bundesaußenminister in Moskau geführt haben, scheinen mir einige Punkte der Erwähnung wert. In der Auswahl dieser Punkte, Herr Professor Carstens, besteht zwischen uns beiden Übereinstimmung, wenngleich in der Beurteilung — —
Das gilt nicht Ihnen; das gilt dem Plenum. Es möchte sich bitte setzen.
Bitte, Herr Kollege, fahren Sie fort.
— — wenngleich in der Beurteilung und Wertung dieser einzelnen Punkte sich erhebliche Unterschiede herausstellen werden.Eine weitere Gemeinsamkeit würde ich allerdings gern gleich am Anfang meiner Ausführungen nennen, Herr Professor. Das sind die Kautelen, die Sie für eine Ausweitung des deutsch-sowjetischen Handels und der deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen genannt haben. Wenn Sie mir eine etwas riskante Formulierung nicht übelnehmen, dann würde ich sagen: Es könnte der Eindruck entstehen — ich will es gar nicht unterstellen —, als hätten Sie die Veröffentlichungen der Bundesregierung über diese Gespräche gelesen und nach denen festgestellt, auf welche Bedingungen man sich denn wohl festlegen könnte. Unmittelbar vor Ihnen, Herr Professor, hatte ja der Bundeskanzler ausdrücklich darauf Bezug genommen, daß dies Grundlage für diese Ausweitung sei. Insofern scheint es mir zumindest etwas fragwürdig, wenn man dann dasselbe als Bedingungen noch einmal hinterherschiebt.Zu diesen genannten Punkten: Ich meine, wesentlich ist das, was gesagt und praktiziert worden ist bezüglich der Kontinuität der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, weiterhin der Nachweis der Geduld und Zähigkeit bei der Ausfüllung des Gesamtvertragswerks, des durch dieses Vertragswerk geschaffenen Rahmens und die Stellung Berlins im Gesamtzusammenhang der zu lösenden Probleme, die Absicherung der Entspannung durch den Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation, das Moment der Verabredung über den ständigen Meinungsaustausch und schließlich die humanitären Fragen.Ich meine — zunächst einmal zur Frage der Kontinuität —, es war nicht nur gegenüber diesem Hause und nicht nur innenpolitisch wichtig, daß der Bundeskanzler und der Außenminister dargestellt haben, daß sie diese Außenpolitik kontinuierlich fortzuführen wünschen, die seit 1969 als Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition geführt wird, und zwar in absoluter Übereinstimmung nicht nur zwischen dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister, sondern auch in Übereinstimmung, meine Damen und Herren von der Opposition, mit der politischen Grundlinie unserer Bündnispartner im Westen. Ich meine, darüber kann nach diesen Gesprächen in Moskau nun wirklich kein Zweifel mehr bestehen, weder bei unserem Gesprächspartner in Moskau, noch etwa in den Reihen der Opposition dieses Hauses, auch wenn man gelegentlich etwas anderes hört oder liest.Ich halte es aber auch für notwendig, darauf hinzuweisen, daß, ebenso wie diese Ostpolitik kontinuierlich fortgeführt wird, die Grundlage, die Voraussetzung und die Zielsetzung auch dieser Ostpolitik die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnis gewesen ist, bleibt und in Zukunft sein wird. Ich verweise in diesem Zusammenhang gerade auf die aktuellen Gespräche des Bundesverteidigungsministers mit Herrn Schlesinger, dem Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, und ich verweise auf das, was Herr Schlesinger über die Stellung der Bundesrepublik Deutschland in der NATO und über die Wichtigkeit des deutschen Beitrags zur Gesamtsituation und zur Erfüllung der Aufgaben der NATO gesagt hat.Ich komme zu dem zweiten Punkt, nämlich der Frage nach der Geduld und der Zähigkeit, die in der gegenwärtigen Situation angewandt werden muß, um den Rahmen des Vertragswerkes auszufüllen. Dazu nur folgende Bemerkungen. Es ist wohl keine Frage, daß der Zeitraum der Vertragsabschlüsse vom Moskauer bis zum Prager Vertrag mit dem durch diese Politik ermöglichten Berlin-Abkommen ein Zeitraum sehr viel spektakulärerer Ereignisse gewesen ist, als es dieser Zeitraum sein kann, in dem im Detail diese Vertragswerke mit Einzelvereinbarungen ausgefüllt werden müssen.Ich möchte noch einmal, Herr Professor Carstens, auf den Zusammenhang zwischen dem Viermächteabkommen und dem Gesamtvertragswerk hinweisen, ein Zusammenhang, der ja nicht zuletzt auch deutlich wird, daß der Austausch der Ratifikationsurkunden über den Moskauer Vertrag mit dem Inkrafttreten des Berlin-Vertrags zusammenfiel. Ich
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Ronneburgermeine, dieser zeitliche Zusammenhang ist deswegen wichtig, weil die immer wiederholte Unterstellung und Behauptung, die Verträge — z. B. der mit Moskau geschlossene Vertrag — hätten die Möglichkeiten des Viermächteabkommens nicht ausgefüllt, es seien hier die Interessen Berlins sträflich vernachlässigt worden — so doch wohl wörtlich Ihre Formulierung —, sich angesichts des zeitlichen Zusammenhangs einfach nicht aufrechterhalten läßt.
Ich möchte dazu noch etwas anderes sagen. Wenn hier von einer sträflichen Vernachlässigung der Interessen West-Berlins und von Krisen die Rede ist, Herr Professor Carstens, dann frage ich mich wirklich, ob Sie mit diesem einen Wort eigentlich immer dasselbe meinen, nämlich Krisen vor dem Viermächteabkommen und Krisen nach dem Viermächteabkommen. Sie haben den damaligen Bundeskanzler, Herrn Brandt zitiert. Sie haben ihn zwar zitiert; aber Sie haben ihn falsch ausgelegt. Sie haben zitiert, Herr Brandt habe damals gesagt, das Wesentliche an diesem Abschluß des Viermächteabkommens sei, daß es jetzt keine Krisen um Berlin mehr geben solle. Wenn ich den Verlauf der Geschichte Berlins nach diesem Viermächteabkommen verfolge, kann ich mit Sicherheit feststellen, daß es das, was es vor dem Viermächteabkommen ständig und wiederholt an Krisen um Berlin gegeben hat, nach diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben hat.
Lassen Sie mich darüber hinaus folgendes sagen. Hier wird doch immer wieder der Eindruck erweckt, als sei die Lage Berlins durch diese Vertragsabschlüsse nicht verbessert worden. Dieser Behauptung könnte man mit Zahlen entgegentreten — Besucherzahlen; Sicherheit der Transitwege; Wiederherstellung der Telefonverbindungen zwischen West- und Ost-Berlin usw. —; man könnte diese Dinge bis zum Überdruß wiederholen.Aber das eine lassen Sie mich hier zusammenfassend feststellen, daß doch nun wirklich Berlin in einer anderen Situation ist, nachdem diese Politik betrieben worden ist und nachdem diese Politik das Viermächteabkommen überhaupt erst möglich gemacht hat.
Denn will im Ernst jemand behaupten, es wäre zum Viermächteabkommen über Berlin gekommen, wenn die Ostpolitik und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition nicht betrieben worden wäre? Diese Frage sollte auch einmal nüchtern gestellt und beantwortet werden.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend zu diesem Punkt möchte ich mit Respekt und Anerkennung und auch mit Dank zum Ausdruck bringen, daß der Bundeskanzler und der Außenminister bei ihren Gesprächen in Moskau jene Geduld, jene Beharrlichkeit und jene Zähigkeit gezeigt haben, die in dieser Phase der Ostpolitik allerdings an die Stelle der Vertragsabschlüsse, der spektakuläreren Ereignisse, getreten ist.
Diese Zähigkeit ist nicht nur in der allgemeinen öffentlichen Wertung — sofort, Herr Kollege, ich möchte den Satz gerne zu Ende führen —, und Anerkennung der Verhandlungsführung in Moskau, sondern auch in dem Ergebnis sichtbar geworden. Wenn Sie mir gestatten, den Gedankengang eben zu Ende zu führen: Denn unter Bezugnahme auf dieses Ergebnis meine ich jetzt auch den Tatbestand, daß gewisse Abkommen noch nicht abgeschlossen worden sind, ebenso wie die unbezweifelbaren Erfolge, die auf anderen Gebieten während dieses Moskaubesuches herbeigeführt worden sind.
Sie haben eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Ronneburger, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß im Jahre 1972 die Mehrheit in diesem Hause sicherlich nicht angenommen hat, daß im Jahre 1974 in dieser zähen Form noch einmal neu um Vorteile aus dem Berlin-Abkommen verhandelt werden muß, die doch hierzulande als durch das Abkommen erreicht und gesichert angesehen worden waren?
Herr Kollege Dr. Mertes, ich glaube, wenn Sie die Äußerungen in diesem Hause aus jener Zeit einmal verfolgen, werden Sie auf seiten der Koalition eine ganze Fülle von Bemerkungen und Ankündigungen in den Protokollen auch dieses Hauses und in den Zitaten aus Reden, die draußen gehalten worden sind, darüber finden, daß der Zeit der Vertragsabschlüsse eine Zeit zäher und nüchterner Verhandlungen zur Ausfüllung dieses Gesamtvertragswerkes folgen würde.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich weiß, daß immer wieder der Versuch unternommen wird, die Dinge so darzustellen, als seien hier Illusionen aufgebaut worden,
und zwar um kurzfristiger innenpolitischer Erfolge willen, und genau das, Herr Kollege Reddemann, ist falsch
und sollte nicht wiederholt werden, weil es schon einige Male widerlegt worden ist.
— Sie mögen sich über die Größe meiner Illusionen Ihren Kopf nicht zerbrechen. Ich habe von solchen Illusionen zu keinem Zeitpunkt gesprochen, Herr Reddemann, tue es heute nicht, und werde es auch in Zukunft nicht tun. Ich werde aber trotzdem nicht
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Ronneburgerdavon ablassen zu sagen, daß diese Politik eine notwendige Politik für Deutschland in seinen beiden Teilen gewesen ist.
Ich will Ihnen auch dafür einen Nachweis führen. Sie, die Sie in Ihrer Fraktion den Begriff der deutschen Nation so oft im Munde führen, sollten sich darüber im klaren sein, daß der Begriff Nation kein statischer, sondern ein dynamischer Begriff ist und daß es darauf ankommen wird, ihn bei allen äußeren und inneren Gemeinsamkeiten durch den Willen zur Zusammengehörigkeit in beiden Teilen zu ergänzen.
— Nein, genau das ist nämlich nicht der Fall. Vielleicht sollten Sie öfter einmal mit Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik sprechen, um zu wissen — —
Herr Abgeordneter, fahren Sie doch in Ihrer Rede fort.
Sie werden mir doch nicht verwehren wollen, dem Staatsgebilde, das jenseits unserer Ostgrenze besteht, den Namen zu geben, den es sich selbst beilegt, ohne daß ich mich deswegen mit dieser Aussage identifiziere.
— Aber Herr Reddemann, ich habe jetzt nicht die Absicht, meine Redezeit dadurch auszufüllen, daß ich mich mit Ihnen in eine derartige Auseinandersetzung begebe. Glauben Sie mir eines: Es wäre ein ganz entscheidender Fehler bei allem unserem Streben nach Wiedervereinigung der Deutschen in einem Staat, wenn wir den Bürgern der DDR nicht den Nachweis geliefert hätten, daß ihr Schicksal uns mehr wert ist als das Festhalten an gewissen starren Richtlinien, die sich heute noch etwa in den Anführungsstrichen bei dem Namen DDR ausdrücken.
— Nein, das ist genau die richtige Alternative, Herr Reddemann; Sie wollen es bloß nicht erkennen.Ich möchte weiter darauf hinweisen, daß nach dein Ergebnis dieser Verhandlungen Berlin nach wie vor im Mittelpunkt dieser Entspannungspolitik steht und daß die Sicherung seiner Existenz und die Wahrung seiner Rechte unaufgebbares Ziel auch dieser Politik ist. Dies ist in Moskau offenbar unmißverständlich dargestellt worden. Wenn sich in bezug auf die nicht abgeschlossenen Verträge, die ich im einzelnen nicht aufzuführen brauche, in der Abschlußveröffentlichung z. B. die Formulierung von der erfolgversprechenden Weiterführung der Verhandlungen findet und wenn in bezug auf die Rechtshilfe gesagt worden ist, daß in Fragen der Gewährung von Rechtshilfe in Übereinstimmung beider Gesprächspartner günstige Ergebnisse möglich seien, so wird hier zweierlei deutlich: erstens, daß die Dinge in Bewegung gekommen sind, und zweitens, daß mit aller Intensität an den Interessen West-Berlins festgehalten worden ist.
Das gilt doch auch für die Entscheidungen im wirtschaftlichen Bereich, die neue Vorteile für West-Berlin bringen.Herr Professor Carstens, ich erinnere noch einmal an das, was Sie über die Störungen auf den Transitwegen gesagt haben. Sie vergleichen diese Störungen fälschlicherweise mit dem, was wir in der Vergangenheit an Krisen auf diesen Transitwegen gehabt haben. Sie haben von einer Ostpolitik gesprochen, die unter Täuschung der Öffentlichkeit die Wahrung der Interessen West-Berlins gröblich vernachlässigt habe. Ich weise noch einmal darauf hin, daß eben diese Situation West-Berlins heute sehr viel besser ist als zu der Zeit, bevor diese Politik begonnen worden ist, und daß es darauf ankommen wird, auf diesem Wege mit eben dieser Nüchternheit und Zähigkeit, die jetzt in Moskau gezeigt worden sind, weiterzugehen.Nach dem, was hier inzwischen gesagt worden ist, kann ich mich zur Frage der wirtschaftlichen Kooperation auf einige ganz kurze Bemerkungen beschränken. Neben dem Hinweis auf den Abschluß des Kooperationsabkommens, die erfolgversprechenden Gespräche über das Kernkraftwerk und die Trassierung der Leitung über West-Berlin in die Bundesrepublik mit der direkten Möglichkeit, West-Berlin an das Verbundnetz der Bundesrepublik anzuschließen, und neben dem Hinweis auf das Röhrenerdgasabkommen erscheint es mir wichtig, noch darauf hinzuweisen, daß ein Passus in der gemeinsamen Abschlußerklärung meiner Meinung nach viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Ich meine den Passus, in dem gesagt wird, daß die offiziellen Kontakte zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Comecon im Interesse der Vertiefung und der Ausweitung der wirtschaftlichen Beziehungen lägen. Ich meine, die gemeinsame Erwähnung eben dieser Beziehungen ist im Gespräch mit dem Ostblock etwas so grundlegend Neues — ich erinnere an die Befürchtungen, die gerade aus den Reihen der Oppositionsfraktion in diesem Hause in bezug auf die Stellung der Sowjetunion zur Europäischen Gemeinschaft in den vergangenen Jahren geäußert worden
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8544 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Ronneburgersind —, daß hierauf doch einmal ganz ausdrücklich hingewiesen werden sollte.
Lassen Sie mich weiter sagen, daß die bilateralen wirtschaftlichen Interessen natürlich nur dann von Erfolg sein können, wenn sich für beide Seiten Vorteile ergeben. Es sollte aber auch nicht die entspannungsfördernde und damit friedenssichernde Wirkung einer solchen Zusammenarbeit übersehen werden.Ganz und gar nicht Ihrer Meinung, Herr Professor Carstens, bin ich in der Frage des ständigen Meinungsaustauschs. Sie haben darauf hingewiesen, daß es schon einmal ein Abschlußkommuniqué über einen Meinungsaustausch gegeben habe.
Was dies angeht, so wundere ich mich immer, daß Sie zwar zitieren, aber aus den Zitaten andere Folgerungen ziehen, als sie eigentlich möglich sind. In dem Zitat, das Sie vorhin gebracht haben, war zwar von der Nützlichkeit bilateraler Gespräche, aber in keiner Weise von einer Vereinbarung immer wiederkehrender, regelmäßiger Gespräche die Rede. Hierin liegt das entscheidende Moment, Herr Professor Carstens, nämlich daß der Meinungsaustausch zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland durch die Vereinbarung über einen ständigen Meinungsaustausch aus dem Bereich des Spektakulären herauskommt und daß damit eine Abkehr vom Sensationellen und eine Hinwendung zur sachlichen Abstimmung gegenseitiger Interessen als Basis für friedliche Beziehungen erfolgt. Man sollte dies nicht unterschätzen. Hierin findet zwar der Alltag politischer Arbeit seinen Ausdruck; ebenso wird aber auch der Wille, täglich um Gemeinsamkeit bemüht zu sein, deutlich.Schließlich ein Wort zur Behandlung der humanitären Fragen. Die Zahl derjenigen, die aus der Sowjetunion nach Deutschland ausreisen konnten, ist in diesem Jahr erheblich angestiegen. Hier ist deutlich die Bereitschaft erklärt worden, auf diesem Wege gemeinsam weiterzuarbeiten. Die Wichtigkeit der humanitären Fragen ist ausdrücklich betont worden.Der Gesamtrückblick auf diese Gespräche und damit auf einen bestimmten Passus der Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland zeigt meiner Meinung nach sehr wohl, daß der Vertrag von Moskau und das gesamte Vertragswerk eine tragfähige Grundlage für die Weiterführung dieser Politik darstellen. Ich möchte abschließend aus der Tischrede, die Herr Breschnew bei dem Abendessen im Kreml gehalten hat, einen kurzen Satz zitieren. Dieser Satz, meine Damen und Herren, lautet:Das nächste Kapitel in den gegenseitigen Beziehungen zwischen unseren Staaten aufzuschlagen und es mit neuem, positiven Inhalt zu füllen, das bedarf auch vieler Kräfte, der Beharrlichkeit und, ich würde sagen, des politischen Mutes.Es hat politischer Mut dazu gehört, die Ost-, Entspannungs- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition zu beginnen und sie durchzuführen. Sie ist noch nicht am Ende. Auch die Gespräche, die jetzt in Moskau stattgefunden haben, haben noch nicht zu dem Ziel dieser Politik geführt. Solange wir uns über dieses Ziel einig sind, sollte der Appell an alle Fraktionen dieses Hauses die Wirkung zeitigen, daß wir auch in Zukunft den Mut und die Zähigkeit aufbringen, sie weiterzuführen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte i mit ein paar Bemerkungen zu den Passagen in der Rede des Herrn Kollegen Carstens Stellung nehmen, die der Richtigstellung und auch der Zurückweisung bedürfen.Herr Kollege Carstens hat beklagt, daß im Zusammenhang mit den MBFR-Verhandlungen in Wien nicht von einer Ausgewogenheit der Abrüstung die Rede sei. Ich darf zunächst darauf hinweisen, daß der Bundeskanzler dort, wo es geboten war, das zu sagen, nämlich in seiner Tischrede, davon gesprochen hat, daß es um die beiderseitige und gleichgewichtige Reduzierung von Streitkräften in Europa gehe. Genau das ist der Grundsatz unserer Politik. Im Kommuniqué ging es darum, Herr Kollege Carstens, das noch einmal festzuhalten, was nach Abstimmung in der NATO mit den östlichen Verhandlungspartnern in Wien schon zum Abschluß der ersten Phase abgestimmt worden ist. Dort heißt es, daß man zu Verhandlungen beitragen wolle, deren Ergebnis dem Prinzip der unverminderten Sicherheit aller Beteiligten Rechnung tragen und dem Ziel der Herstellung stabilerer Beziehungen und der Festigung von Frieden und Sicherheit in Europa dienen soll. In der Formulierung „dem Prinzip der unverminderten Sicherheit aller Beteiligten Rechnung tragen" liegt ja gerade die Ausgewogenheit, die für uns die Voraussetzung für eine Zustimmung zu den Verhandlungsergebnissen in Wien darstellt.Was schließlich, meine Damen und Herren, die Kritik an der Nahostpassage des gemeinsamen Kommuniqués angeht, so ist hierzu zu bemerken, daß wir Wert darauf gelegt haben — und das ist eingegangen in diese Passage —, davon zu sprechen, daß eine dauerhafte Regelung in diesem Gebiet nur auf der Grundlage der Durchführung der bekannten Entschließungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen erfolgen kann, und dazu gehört auch jene Entschließung Nr. 242, in der ausdrücklich hervorgehoben wird, daß die Souveränität und territoriale Integrität und die Unabhängigkeit sowie das Lebensrecht für jeden Staat in der Region, also für Israel, garantiert sein muß. Das ist die Wahrnehmung der berechtigten Interessen Israels in dieser Frage, und dies noch einmal in dem Kommuniqué festzuschreiben, war für uns von besonderem Wert.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8545
Bundesminister GenscherNun hat Herr Kollege Carstens davon gesprochen, wir hätten bei diesen Verhandlungen und Gesprächen in Moskau uns auch auseinandersetzen müssen mit den Folgen einer Politik, die er als eine auf Täuschung der Öffentlichkeit angelegte Entspannungspolitik bezeichnete. Diese Feststellung in seiner Rede bedarf der entschiedenen Zurückweisung durch die Bundesregierung.
Ich wiederhole hier, meine Damen und Herren, was ich bei anderer Gelegenheit vor einiger Zeit gesagt habe. Wenn ich die Diskussion über die Ergebnisse der Entspannungspolitik beobachte, wie sie sich gerade in diesen Monaten abspielt, dann wird bei mir immer mehr der Eindruck verstärkt, daß offensichtlich die größten Erwartungen in diese Entspannungspolitik diejenigen gesetzt haben, die sie hier im Parlament mit allem Nachdruck bekämpft haben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte jetzt meinen Gedanken fortführen. Sie können ja nachher sprechen.
Meine Damen und Herren, wenn man die Fortschritte der Entspannungspolitik würdigt, wird jeder seine Meinung haben über das Erreichbare, das nicht Erreichte und über den Wert des Erreichten. Wenn die Opposition bei der Würdigung dieser Fortschritte der Meinung ist, es sei im Rahmen einer entschlossenen Politik gegenüber den Staaten Osteuropas mehr erreichbar gewesen, dann muß allerdings auch der Regierungsseite die Gegenfrage erlaubt sein, warum CDU und CSU in den 20 Jahren, in denen sie Regierungsverantwortung getragen haben, eben diese angeblich erreichbaren Fortschritte nicht durchgesetzt haben.
Natürlich, meine Damen und Herren, stehen der Bundeskanzler und der jetzige Außenminister in der Kontinuität der Verantwortung für die Politik dieser Regierung seit 1969, aber ich denke, daß auch die Opposition in der Kontinuität ihrer Verantwortung für die Ablehnung dieser Politik seit 1969 steht,
und daß sie auch in der Kontinuität der Verantwortung für die Politik davor steht. Denn eines wollen wir nicht übersehen: Wenn wir heute zum Beispiel über die Probleme der Einbeziehung Berlins in die Verträge sprechen, so werden ganz sicherlich die Beratungen darüber — hier freuen wir uns über die Unterstützung bei der Durchsetzung dieses Anliegens durch alle Fraktionen dieses Hohen Hauses — nicht durch den Umstand erleichtert, sondern eher erschwert, daß im Jahre 1959 zum Beispiel, also, als Sie allein die Verantwortung für die Politik der
Bundesregierung getragen haben, ein Kulturabkommen ohne Berlin-Klausel abgeschlossen worden ist.
Das ist auch ein Faktum, und ich denke, es wäre gut gewesen, wenn die richtigen Anforderungen, die heute an die Politik der Bundesregierung gestellt werden, schon immer an diese Politik gestellt worden wären.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mertes ?
Bitte, Herr Kollege!
Herr Minister, da Sie auf das Kulturaustauschabkommen von 1959 eingegangen sind: Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß seinerzeit die Bundesregierung Brandt/ Scheel die Ostverträge und die darin enthaltenen deutschen Leistungen in ganz wesentlichem Maße auch so gerechtfertigt hat, daß im Viermächteabkommen endlich eine Berlin-Regelung erfolgt sei, welche die früheren Schwierigkeiten bezüglich der Einbeziehung Berlins in Verträge und Abkommen mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten nicht mehr zeitigen werden?
Es ist hier soeben vom Herrn Kollegen Carstens die Feststellung des früheren Bundeskanzlers, es werde keine Berlin-Krisen mehr geben und das sei ein Erfolg, zitiert worden. Wer die jetzige Lage auf den Verbindungswegen, auch dann, wenn es gelegentlich berechtigterweise Kritik geben mag, mit der Situation vorher vergleicht, wird doch den darin liegenden Fortschritt wirklich nicht bestreiten können.
Meine Damen und Herren, wenn man von der Kontinuität der Verantwortung des Ja oder Nein zur Entspannungspolitik der Bundesregierung spricht, dann wird man feststellen können, daß in dem Falle, in dem sich eine Ablehnung dieser Entspannungspolitik durchgesetzt hätte, das Viermächteabkommen für Berlin z. B. nicht möglich geworden wäre. Und ich möchte Herrn Kollegen Carstens ausdrücklich in der Feststellung zustimmen, die er unlängst, als wir gemeinsam in einer Fernsehsendung auftraten, getroffen hat, als er sagte, das Viermächteabkommen sei das beste, was unter den seinerzeit gegebenen Umständen erreichbar erschien. Unser gemeinsames Anliegen, meine Damen und Herren, sollte es sein, den Versuch zu unternehmen, aus diesem Viermächteabkommen jetzt auch das Beste für Berlin zu machen.
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8546 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Carstens?
Herr Bundesminister, da Sie mich schon auf Grund der gemeinsamen Fernsehsendung, die wir gemacht haben, zitieren, möchte ich Sie fragen: Würden Sie bereit sein, zu bestätigen, daß ich in der gleichen Sendung gesagt habe, daß es die Bundesregierung aber unterlassen habe, den vom Viermächteabkommen gesetzten Rahmen so auszufüllen, wie es dem deutschen Interesse entsprach?
Herr Kollege Carstens, es ist doch ganz selbstverständlich, daß es eine Überforderung des Vorsitzenden der Oppositionsfraktion wäre, wenn er in einer solchen Sendung nur Lobenswertes über die Bundesregierung sagen würde.
Das Wort hat der Herr Abgeordneter Dr. Jaeger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von den Reden des heutigen Nachmittags war wieder einmal die Rede des Herrn Wehner die wenigstens relativ bedeutsamste — hier meine ich natürlich die Reden unserer Gegner, nicht unsere eigenen —,
also des Mannes, der der wirkliche Herr der Regierungskoalition in Bonn ist. Sie war nicht zuletzt durch das bedeutsam, was er zitiert, und durch das, was er nicht gesagt hat.
Zitiert hat er nämlich die ganze Palette der CDU/ CSU, von Leisler Kiep bis Franz Josef Strauß. Damit kam er zu vielen beachtlichen Erkenntnissen, die ihm sonst ferngeblieben wären.
Doch mit den Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers, die er offenbar für recht dürftig gehalten hat — für dürftiger, als wir es in unserer Höflichkeit gesagt hätten —, hat er sich kaum befaßt.
Aber das täuscht ja nicht darüber hinweg, nein, es bestätigt vielmehr, daß das Ergebnis der Moskauer Verhandlungen doch recht mager gewesen ist. Ich frage mich immer wieder, warum vier Abkommen, die schon beim Breschnew-Besuch in Bonn zur Unterzeichnung reif waren, nur wegen der Berlin-Frage nicht unterzeichnet werden konnten und auch noch eine negative Bewertung durch Herrn Breschnew erfahren haben.Die Fortschritte, die der Herr Bundesaußenminister in der Öffentlichkeit immer wieder behauptet, sind ein Wechsel auf die Zukunft, so wie die Wechsel seines Amtsvorgängers, der im November 1973 auch von Fortschritten sprach und im Hinweis auf ein Abkommen über den Rechtshilfeverkehr, das er abschließen wollte, dieses sogar in die Prager Verhandlungen eingeführt hat — eine völlige Illusion, eine Seifenblase, die geplatzt ist.
Denn wir wissen, wie es heute steht.Es soll keiner sagen, daß wegen des einen Abkommens über wirtschaftliche Zusammenarbeit nun ein großer Fortschritt hinsichtlich Berlin erzielt sei. Denn die sogenannte Falin-Frank-Formel findet sich ja auch bereits im Kulturabkommen des Mai 1973. Aber daraus ist nicht das mindeste geworden, weil das Kulturaustauschprogramm, die Durchführung also, an der Berlin-Frage gescheitert oder jedenfalls bis zum heutigen Tage gestoppt ist, so daß wir nun bei der Durchführung der einzelnen wirtschaftlichen Maßnahmen dasselbe wie auf dem Gebiet des Kultursektors befürchten müssen. Wenn es an operative Abkommen geht, wenn es an die Durchführung geht, wenn es zum Schwur kommt, dann bildet Berlin ein offenbar unüberwindliches Hindernis, über das sich die Sowjets mit uns immer noch nicht einigen können.
Meine Damen und Herren, wenn ich mir überlege, daß des öfteren -- und zwar gerade während der Moskau-Reise des Herrn Bundeskanzlers — auf den Autobahnen nach Berlin die Ampeln auf Rot gestellt worden sind — „rot" ist hier im wörtlichen und im doppelten Sinne sehr symbolisch, wenn Sie so wollen dann frage ich mich, ob es nicht auch wichtig gewesen wäre, die Sowjetunion als Signatarmacht des Berlin-Abkommens an ihre Pflicht zu erinnern, solche Störungsmaßnahmen der DDR zu verhindern,
denn diese sind erstens eine Verletzung des Vertrages und zweitens gerade dann, wenn der Kanzler in Moskau ist, eine Brüskierung dieses Kanzlers und seiner Verhandlungen mit den Herren in Moskau.
Es war mir nach so vielen Mißerfolgen dieser Regierung. recht bezeichnend, daß es Herr Kollege Wehner — äußerlich eigentlich ganz unmotiviert — für notwendig hielt, darauf hinzuweisen, die deutsche Sozialdemokratie sei hier 16 Jahre lang eine klassische Opposition gewesen. Ja, meine Damen und Herren, darüber wollen wir uns nicht streiten; den Ruf lassen wir Ihnen. Wir wünschen Ihnen nur, daß Sie recht bald wieder eine klassische Opposition werden!
Um bei Herrn Wehner zu bleiben: Er hat gemeint, wir wollten die Ostverträge als Nicht-Verträge abwerten.
Dr. JaegerSie haben überhört, Herr Kollege Wehner, daß wir als verfassungstreue Demokraten Verträge, die zustande gekommen sind, einhalten werden, auch wenn wir an die Regierung kommen.
Aber, meine Damen und Herren, uns geht es doch nicht darum, Verträge abzuwerten, sondern uns ging es darum, die Abwertung des Grundgesetzes zu verhindern, und dabei hat uns das Bundesverfassungsgericht maßgebend geholfen.
Was sind das denn überhaupt für Verträge, die sich doch selbst abwerten, wenn sie zum größten Teil einseitige Maßnahmen zugunsten des östlichen Partners sind? Denn was haben wir denn mit diesem Warschauer Vertrag — um ihn gerade einmal herauszugreifen — erreicht? Wir haben in der Grenzfrage Verzichte geleistet, die schwerwiegend und für die Polen höchst wichtig sind, aber wir haben nicht einmal erreicht, daß die Deutschen aus Polen rückgesiedelt werden können. Und es ist doch so, Herr Bundesaußenminister: Wenn Sie fragen, was wir in 20 Jahren erreicht hätten, kann ich Ihnen nur sagen, seit der von Ihrer Regierung abgeschlossene Warschauer Vertrag in Kraft ist, kommt im Jahr nur noch ein Viertel der Rücksiedler zu uns, die ohne Vertrag gekommen sind. Das heißt doch, daß unsere Erfolge viermal so groß waren wie die Erfolge dieser Regierung!
Das ist kein Vorwurf, den ich an die Polen richte, es ist ein Vorwurf an diese Regierung oder an ihre Vorgängerin, daß sie nicht so verhandelt hat, daß sie eine rechtsverpflichtende Zusage Polens erhalten hat. Wenn von polnischer Seite nunmehr die Rücksiedlung gegen neue Forderungen — diesmal auf dem Gebiet der Wiedergutmachung — angekündigt wird, dann kann ich nur sagen: Über die Moral mag man streiten, aber jedenfalls die Politik der Polen ist wesentlich intelligenter und wesentlich zielstrebiger, als es die der Regierung Brandt gewesen ist.
Wenn uns damals im Ausschuß der damalige Außenminister sagte, wenn man von den Polen die Verpflichtung zur Rücksiedlung verlangt hätte, wäre es zu keiner Unterzeichnung gekommen — ja, wie fürchterlich für uns Deutsche, wenn wir keinen Grenzverzicht geleistet hätten! —, kommt mir das, meine Damen und Herren, so vor wie jetzt, wo die Jugoslawen eine Milliarde nicht annehmen wollen, wenn wir nicht auf ihre Bedingungen eingehen, den Ausschluß Berlins zu erreichen.
Ja, werfen wir denn das, was wir an Rechten und an Geld haben, einfach zu den Bedingungen weg, die die anderen stellen? Das ist doch die Vertragspolitik der Herren Brandt und Bahr, der Herren Schmidt und Genscher!
Das Musterbeispiel dafür, wie man es machen soll, haben Sie in der Person Konrad Adenauers gesehen, der anno 55 nach Moskau reiste, der wußte, daß die Sowjets diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik wollten, der selbst wahrscheinlich gar kein Gegner solcher Beziehungen war, weil diplomatische Beziehungen zu jeder Macht im allgemeinen besser sind als keine diplomatischen Beziehungen, der sich aber, meine Damen und Herren, weigerte, bis er erreicht hatte, was er wollte — die 10 000 Kriegsgefangenen , der mit der Abreise gedroht und damit dann seinen Erfolg erzielt hat.
Wenn man ohne Termindruck, wenn man ebenso fest verhandelt hätte, hätte man sicherlich mehr erreicht. Eine CDU/CSU-Regierung jedenfalls hätte für Verträge längere Zeit gebraucht, hätte aber wesentlich bessere Verträge erzielt.
Es mag sein, daß ich hier vor allem und in erster Linie von den Fehlern des verflossenen Bundeskanzlers, des gescheiterten Bundeskanzlers Brandt und seiner Regierung spreche. Aber es ist ja nicht nur so, daß Herr Bundeskanzler Schmidt und Herr Außenminister Genscher in höchst wichtigen Positionen der Regierung Brandt angehört haben — wie heute schon gesagt wurde —, sondern der Herr Bundeskanzler — der im Augenblick, wie mir scheint, leider fehlt — hat in einem der ersten Sätze seiner heutigen Regierungserklärung auf die Kontinuität der Außenpolitik seiner Regierung und der des Herrn Brandt abgehoben; also muß er sich das auch alles in vollem Umfang vorhalten lassen.
Es mag dabei vielleicht so sein, wie es die „Frankfurter Rundschau" — ich zitiere nicht den „Bayernkurier", Herr Wehner, ich zitiere die „Frankfurter Rundschau", die Ihnen ja näher steht — am 31. Oktober, also vor wenigen Tagen, in einem Leitartikel geschrieben hat:Für Helmut Schmidt wurde in Moskau der Verdacht zur Gewißheit, daß er vor Übernahme des Kanzleramtes in Bonn nicht voll über die Grauzonen und schwachen Stellen des Viermächteabkommens über Berlin unterrichtet worden ist. Nun muß er das beste aus einer verfahrenen Situation machen.
Aber, meine Damen und Herren, es enthebt Herrn Bundeskanzler Schmidt nicht seiner Verantwortung, ob er falsch unterrichtet war oder ob er selbst ein falsches Urteil gefällt hat. Ich zitiere eine Rede, die er als Verteidigungsminister, also als der für die Sicherheit zuständige Minister, im Deutschen Bundestag bei der großen Ost-Debatte im Februar 1972 gehalten hat. Damals hat Herr Schmidt gesagt:
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8548 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Dr. JaegerUnter dem Aspekt der Sicherheit auf dem ganzen Erdball ist die Befriedung des Krisenherds zwischen den beiden Supermächten, die Befriedung Berlins durch das Viermächteabkommen, das an erster Stelle zu nennende Ergebnis unserer Ostpolitik.Meine Damen und Herren, ein Berlin-Abkommen, in dessen Folge immer noch die Ampeln auf Rot gestellt werden können, und ein Berlin-Abkommen, in dessen Folge man immer wieder und immer erneut um die Einbeziehung Berlins verhandeln muß und diese meistens nicht erreicht, kann ich noch nicht als Befriedung ansehen, und ich wundere mich, daß Herr Schmidt, der doch sonst ein ganz kluger Mann ist, hier in demselben unverantwortlichen Optimismus gemacht hat wie die Herren Brandt und Bahr.Wir jedenfalls, die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union, möchten heute an dieser Stelle dieser Bundesregierung ganz deutlich sagen: Die Stellung Berlins ist für uns der erste Prüfstein für die Politik der Entspannung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Jaeger hat mit großem Genuß das Wort „klassische Opposition" ausgesprochen — sicher, weil Sie meinen, daß Ihnen jetzt bald wieder die Rolle der klassischen Staatspartei zukomme. Ich meine, daß dies in den kommenden Jahren das große Problem unserer Demokratie wird: Wir Sozialdemokraten haben Opposition — wir haben das lernen müssen, auch durch bittere Oppositionserfahrungen — immer verstanden als Pflicht zur Alternative. In der ganzen Debatte hier ist kein Hauch von Alternative von der Oppositionsseite her sichtbar geworden. Hier sind Sie die Antwort schuldig geblieben.
Sie sagen ja aus Ihrer Rolle als Staatspartei heraus nicht, wofür Sie sind, sondern, wogegen Sie sind; da Sie sich nur als Staatspartei verstehen, kommt es Ihnen allein darauf an, zu beweisen, daß der Staat zugrunde geht, wenn Sie nicht regieren. Das haben wir in den letzten Monaten wieder im Wahlkampf feststellen müssen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Jaeger?
Herr Kollege Friedrich, würden Sie mir nicht nach den Ergebnissen der Wahlen vom 27. Oktober bestätigen, daß CDU und CSU viel weniger klassische Staatspartei als klassische Volkspartei sind?
Herr Kollege Jaeger, wenn ich daran denke, daß Ihr Parteivorsitzender, so wie ich seine Reisen verfolgen konnte, von Versammlung zu Versammlung seine politischen Gegner als „rote Ratten" bezeichnet hat und in Angst gemacht hat, so muß ich sagen: ich bin daran erinnert worden, daß Arbeitslose vor 1933, als sie Hitler wählten, auch keine Nationalsozialisten waren.
Dies muß ich Ihnen nach dem Wahlkampf, den ich bei uns erlebt habe, antworten. Ich halte es aber für besonders gefährlich, wenn die Opposition nach wie vor die Außenpolitik allein aus innenpolitischem Parteiinteresse heraus betreibt.
— Ich habe nur 15 Minuten angemeldet, Herr Kollege Mertes.Was wir heute feststellten, ist doch die große Diskrepanz — Sie werden auf die Dauer nicht mit einem Pantoffel und einem Stiefel in der Ostpolitik laufen können — zwischen dem, was wir von Herrn Marx und Herrn Kiep und Herrn Mertes in der KSZE-Debatte gehört haben, und dem, was wir heute hier hören mußten.Wenn Sie z. B., Herr Kollege Carstens, an die Verpflichtung in der EG erinnern: Wann erinnert sich denn die Opposition einmal daran, daß sie in der internationalen Politik endlich auch mit unserem stärksten Verbündeten, mit den USA, übereinstimmt? Wenn im „Bayernkurier" zu lesen war, daß der Kanzler „zum Befehlsempfang" nach Moskau gefahren sei, dann muß ich mich fragen: Was hat eigentlich Herr Kissinger drei Tage vorher in Moskau gemacht? Hier ist doch die Absurdität Ihrer innenpolitischen Position in der Außenpolitik sichtbar geworden.
So kann man einfach nicht vor der internationalen Welt Außenpolitik machen.Um eine Frage werden Sie nicht herumkommen. Ich möchte jetzt nicht jene zitieren, die da immer nur innenpolitischen Wahlkampf mit der Außenpolitik machen, sonder den Herrn Kollegen Schröder, der in der Diskussion um die Ostverträge in einem hochinteressanten Artikel in der „Zeit" die Vorbehalte der Union dargelegt hat. Sie sagten damals, Herr Kollege Dr. Schröder, daß wir davon ausgehen müßten, daß in der Mitte Europas immer ein Spannungszustand sein müsse, wenn wir hofften und wünschten, daß auch die Amerikaner in Europa blieben. Auf diesen Gegensatz Ihrer Position — der in Ihrer Fraktion und Partei noch lebendig ist — zu dem, was die USA heute tun, möchte ich Sie hinweisen. Sie werden sich entscheiden müssen, ob Sie die damalige Position aufrechterhalten wollen oder ob Sie sich der Außenpolitik der Verbündeten anschließen. Darum geht es.Sie reden jetzt von einer baldigen Unionsregierung. Ich fürchte, daß bei dieser Politik die nationalen Interessen der Bundesrepublik Deutschland schlecht vertreten wären.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8549
FriedrichNun, Herr Kollege Carstens, es kam da ja auch noch einiges von Ihrer Frustration hoch. Sie sind noch ein bißchen frustriert vom Wahlergebnis 1972.
Sie sind sich doch nicht sicher, wie lange das hält. Das haben doch Ihre eigenen führenden Leute gesagt.
— Dazu kann ich Ihnen sagen, daß es z. B. eine Großstadt Nürnberg gibt; da haben wir nichts verloren. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Da bin ich Vorsitzender. So schnell gehen Sozialdemokraten nicht in die Knie. Deswegen sind wir nämlich 111 Jahre alt geworden. Das sollten Sie sich merken.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Graf Stauffenberg?
Ja, bitte.
Herr Kollege, ist es richtig, daß die SPD in Nürnberg einen Wahlkreis verloren hat?
Ja, natürlich,
aber sie hat in den Gesamtstimmen um 0,1 % zugenommen. Wenn Sie meinen, Sie könnten sich in einer solchen Debatte mit Landtagswahlarithmetik um eine Aussage zur Außenpolitik herumdrücken, dann kann ich Sie nur bedauern, dann kann man mit Ihnen nur Mitleid haben, weil Sie so in der Tat unfähig sind, dieses Land in der internationalen Politik zu vertreten!
Um eines möchten wir Sie bitten, Herr Kollege Carstens: Wenn Sie schon sagen, bei wieviel Verträgen und Abkommen im Augenblick die Frage der Berlin-Klausel erörtert wird — wo ganz zäh verhandelt wird —, dann sollten Sie hier auch einmal sagen, daß durch die Unterschrift in Moskau inzwischen das 18. Abkommen unterzeichnet worden ist, in dem die Interessen Berlins gesichert sind.
Dies muß man hier auch einmal hinzufügen, und insoweit sollten Sie sich im Interesse der Berliner darum bemühen, die Berlin-Frage in diesem Hause nicht als Landtagswahlkampf der Stadt Berlin zu behandeln.
Herr Abgeordneter Dr. Bangemann hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist ganz nützlich, sich daran zu erinnern, daß wiruns hier in einer außenpolitischen Debatte befinden.
— Das sage ich aber nicht zu meinem Vorredner, sondern insbesondere zu der Reaktion, die auf Verschiedenes bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, zu bemerken war.
Denn es ist doch ganz offensichtlich, daß ein Mann, der nicht einmal anwesend ist, die Linie Ihrer Darstellung heute hier so beeinflußt, daß darunter in der Tat nicht nur die CDU/CSU zu leiden hat — was mich nicht bekümmern würde —, sondern auch unsere außenpolitische Position. Deswegen sollte man das vielleicht einmal in Ihre Erinnerung zurückrufen.
— Sie sind ja anwesend, Herr Stücklen; Sie meine ich nicht.
Herr Carstens hat davon gesprochen, daß das Ergebnis mager sei. Ich frage Sie: Was haben Sie denn eigentlich erwartet? Haben Sie erwartet, daß der Bundeskanzler und der Außenminister nach Moskau fahren und auch die übrigen Abkommen, in denen die Berlin-Position nicht gesichert ist, unterschreiben? Daran können Sie doch keine Kritik üben, daß diese Abkommen genau in dem Sinne behandelt worden sind, wie Sie es verlangt haben: daß man verantwortlich prüft, ob man ein solches Abkommen unterzeichnen kann oder nicht. Wenn es nicht unterzeichnungsreif war, ist es nicht unterzeichnet worden. Das ist doch die schlichte Tatsache.
Dann hat Herr Carstens gesagt, das einzige Abkommen, das unterzeichnet worden ist, das Abkommen über die wirtschaftlichen Beziehungen, sei richtig unter drei Voraussetzungen. Voraussetzung Nr. 1: es dürften keine Zinssubventionen vereinbart werden, Voraussetzung Nr. 2: die Europäische Gemeinschaft sei zu konsultieren oder jedenfalls in den Bedingungen nicht zu affizieren, und drittens: es dürften keine einseitigen Abhängigkeiten von osteuropäischen Lieferungen entstehen. Meine Damen und Herren, in allen drei Punkten haben Sie selber eingeräumt, daß diese Bedingungen erfüllt sind. Ich frage Sie also: Was wollen Sie dann in der Sache gegen dieses Abkommen vorbringen, wenn Sie eben nicht immer wieder von Ihrer alten Argumentationsebene ausgehen, die Sie verlassen sollten, wenn man einmal konkret Ergebnisse beurteilt? Da ist die Frage nicht, welche Erwartungen Sie haben, sondern was Sie zu den konkreten Ergebnissen sagen. Und zu diesen konkreten Ergebnissen müssen Sie eben eingestehen, daß es sich weder um unaus-
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8550 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Dr. Bangemanngewogene noch um übereilte und schon gar nicht um Ergebnisse handelt, die auf einer Politik beruhen, welche zeitweise auf Täuschung der Öffentlichkeit angelegt war.Wenn das nicht Herr Professor Carstens gesagt hätte, müßte man darauf vielleicht etwas schärfer eingehen. Das ist ja ein Wort, an das er sich wahrscheinlich lange Zeit nur mit Unbehagen erinnern wird. Denn ein solcher Vorwurf gegenüber jeder Bundesregierung — ganz gleich, wer im einzelnen die Politik der Bundesregierung zu verantworten hat — ist doch etwas, was zu belegen wäre. Das kann ja nicht bloß einfach so gesagt werden, sondern da muß man doch sagen, wo, wann, durch wen und wie die Öffentlichkeit in dieser Entspannungspolitik getäuscht worden ist.
Dies, meine Damen und Herren, ist ein Vorwurf, der so nicht stehenbleiben kann, vor allen Dingen dann nicht, wenn er sich im Verhältnis zum Berlin-Abkommen gar nicht einmal gegen diese Bundesregierung richten kann, wenn er sich gegen gar keine Bundesregierung richten kann. Dieser Vorwurf muß sich ja in diesem Verhältnis offensichtlich gegen die Politik der Drei Mächte richten. In diesem Punkt, wo Sie das Berlin-Abkommen kritisieren, sollten Sie einmal ein bißchen gründlicher nachdenken, als Sie das bisher getan haben, und Sie sollten einmal über die Bemerkung Ihres abwesenden Kollegen Strauß über die Zweiteilung der NATO und darüber nachdenken, was denn damit eigentlich gemeint sein kann. Ich möchte wirklich einmal wissen, was Sie, meine Damen und Herren, gesagt hätten, wenn ein Juso in München oder wo auch immer aufgestanden wäre und gesagt hätte: wir wollen die NATO zweiteilen, und wir unterhalten hier Operetten-Armeen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?
Bitte sehr!
Herr Kollege Bangemann, ist Ihnen das Wort des Präsidenten Kennedy bekannt, daß die NATO in Zukunft auf zwei Säulen stehen solle, und würden Sie mir einräumen, daß das Zitat des Kollegen Strauß damit nahtlos übereinstimmt?
Nein. Also entschuldigen Sie, Herr Kollege Mertes, Sie wissen doch genau, daß das eine ganz andere Akzentuierung darstellt.
Also von zwei Säulen und einer Zweiteilung zu reden, davon zu sprechen, daß wir hier Operettenarmeen — —
Ich darf Sie einmal fragen: Wie wollen Sie denn die Auskunft, daß Sie dem Verteidigungsetat mit Regelmäßigkeit zugestimmt haben, dem jeweiligen Verteidigungsminister Reverenz erwiesen und gesagt haben, die Verteidigungspolitik sei das einzige, was man von der Bundesregierung anerkennen könne, in Übereinstimmung damit bringen, daß jetzt Herr Strauß von Operettenarmeen spricht?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? — Bitte, Herr Abgeordneter Czaja!
Herr Kollege Bangemann, können Sie belegen, wo in dem Interview von Herrn Strauß von einer Zweiteilung der NATO die Rede war?
Schauen Sie doch dieses Zitat in „Le Point" nach! Da ist von der Zweiteilung der NATO in einen atlantischen und einen europäischen Bereich die Rede, wobei der europäische Bereich zu einer wahrhaften, intensiven Verteidigungspolitik nach der Meinung von Herrn Strauß erst noch kommen muß.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage . . .
Nein!
... des Herrn Abgeordneten Jung?
Bitte sehr!
Herr Kollege Bangemann, würden Sie mir zustimmen, daß ein fundamentaler Unterschied besteht zwischen der Aussage Kennedys, mit der ausdrücklich die zwei Pfeiler über den Atlantik — einmal drüben in Amerika und einmal hier in Europa — gemeint waren, und dem, was Herr Kollege Strauß hinsichtlich der Zweiteilung gesagt hat?
Selbstverständlich besteht ein fundamentaler Unterschied. Ich hatte angenommen, daß Herr Kollege Mertes dies einzusehen in der Lage ist, da ich ihn bisher für einen Menschen gehalten habe, der das sehen kann.
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8551
Dr. BangemannAber das ist das Gefährliche an dem Wahlergebnis von Bayern und Hessen - nicht für uns, sondern für die CDU —,
daß sich die zunehmende bayerische Blindheit ausbreitet und auf diese Weise selbst CDU-Abgeordnete nicht mehr in der Lage sind, zu erkennen, was ein CSU-Standpunkt ist und was ihr eigener Standpunkt ist.
Das ist doch das Problem.
— Lassen Sie mich jetzt mal fortfahren, Herr Kollege Jaeger!Es ist aber, glaube ich, zunächst einmal ganz ernsthaft etwas auszuräumen, was ich jenseits jeglicher parteipolitischer Auseinandersetzung zu sehen bitte. Sie haben gesagt, wir hätten bei dem Moskauer und dem Warschauer Vertrag auf etwas verzichtet, was zum Gegenstand einer jeden vertraglichen Auseinandersetzung und Ausarbeitung gehört, nämlich ein wenig auf das Prinzip des „do ut des", also unseren Konzessionen hätten nicht genügende Konzessionen der anderen Seite gegenübergestanden. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich darf Sie darauf aufmerksam machen — Herr Außenminister Genscher hat davon gesprochen —, daß in diesen beiden Verträgen ein Argument eine Rolle gespielt und eine Auseinandersetzung stattgefunden hat, die mit diesen Definitionen und Merkmalen der Händlersprache nur sehr wenig zu tun haben. Das ist die Kontinuität der Geschichte, die von uns mit verantwortet werden mußte und die in diesen beiden Verträgen eine Rolle gespielt hat.Wer für einen Gewaltverzicht, für einen Verzicht darauf, Grenzen gewaltsam zu verändern, eine Konzession erwartet, gesteht damit unausgesprochen zu, daß wir dazu eigentlich nur dann bereit sind, wenn wir dafür etwas bekommen. Das ist doch die geschichtliche Dimension dieser beiden Verträge, die Sie sehen müssen. Wir können doch den Verzicht auf Gewalt und gewaltsame Veränderungen von Grenzen nicht mit der Forderung verbinden, daß man uns dafür etwas zahlt. Denn das sind die Selbstverständlichkeiten eines demokratischen Miteinanderlebens in jedem Land der Welt. Dafür etwas zu verlangen, untergräbt eine moralische Position, die wir bei weitem erst dann erlangt haben, wenn wir uns dieser beiden Verträge und auch ihres moralischen Anspruchs bewußt geworden sind und ihnen entsprochen haben. Dann kann man diese Kategorien vielleicht einführen. Aber man kann nicht' verlangen, daß wir, wenn wir auf Gewalt und darauf verzichten, Grenzen gewaltsam zu ändern, dafür etwas bekommen.
Das ist das selbstverständliche moralische Recht,das andere uns gegenüber ausgeübt haben, geradeuns gegenüber. Da sind Sie in der Loyalität der Geschichte, in der Verantwortung der Geschichte. Diese Kontinuität müssen Sie erst einmal sehen, wenn Sie von Nation und Vertretung nationaler Interessen überhaupt sprechen wollen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger ? — Bitte!
Herr Kollege Bangemann, würden Sie mir nicht zugeben, daß die Hauptcrux dieser beiden Ostverträge, von denen Sie eben reden, darin besteht, daß sich die Bundesregierung nicht an die Zusage Ihres früheren Parteivorsitzenden und jetzigen Bundespräsidenten Scheel gehalten hat, der vor dem Deutschen Bundestag erklärt hat, es werde kein Vertrag unterschrieben, der unklare und mehrdeutige Begriffe enthalte, während die Regierung nachher genau das Gegenteil dieser Zusage gemacht hat?
Nein, Herr Kollege Jäger, das ist nicht das Problem der Verträge. Das Problem der Verträge besteht darin, daß wir auch von einer Opposition, die selbstverständlich das Recht in Anspruch nehmen muß, die Regierung zu kritisieren, erwarten müssen, sich daran zu beteiligen, was ich einmal — etwas salopp formuliert — so nennen möchte: den Schutt unserer Geschichte wegzuräumen.
Wenn Sie sich daran beteiligt hätten, dann hätten Sie das Recht, daran auch Kritik zu üben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Mertes?
Nein, ich möchte das jetzt zu Ende führen.
Keine weiteren Zwischenfragen?
Vielen Dank, nein.
Sie sehen auch an dem Argument Jugoslawien, das Sie gebracht haben, daß Sie hier etwas tun, was man außenpolitisch nicht tun sollte. Sie unterstellen mit Ihrer Kritik der Regierung, daß sie auf die jugoslawischen Forderungen eingehen wolle. Dabei hat die Regierung mehrfach erklärt, daß sie das nicht tun werde, daß sie in diesem Punkt eben nicht den jugoslawischen Forderungen nachkommen werde. Sie sollten davon dann auch einmal Kenntnis nehmen.
Wenn Sie davon sprechen — ich weiß nicht, wer von Ihnen es war —, daß die vier Verträge mit der Sowjetunion und die drei Verträge mit der DDR in
Dr. Bangemann
der Luft hängen, dann sollten Sie sich daran erinnern, daß wir zu solchen Verträgen überhaupt nicht gekommen wären, wenn wir nicht in dem Moskauer und dem Warschauer Vertrag bereit gewesen wären, die Möglichkeit zu eröffnen, überhaupt in ein solches Gespräch zu kommen.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, stellen sich auf eine Ebene, die wir erst geschaffen haben, und kritisieren dann — um bei dem Beispiel des Schuttwegräumens zu bleiben —, daß wir noch nicht in der Lage waren, ein Haus zu bauen, beteiligen sich an den Hausbauarbeiten aber nicht, sondern orientieren diese Bemühungen der Regierung, die ernsthaft und mit großem Realitätssinn unternommen werden, an Ihren eigenen Erwartungen. Sie machen Ihre Erwartungen zum Maßstab dessen, was die Regierung tun soll, und von daher kritisieren Sie dann.
Wenn Sie dann noch, Herr Professor Carstens, in der Tonart und mit den Argumenten des CSU-Vorsitzenden kritisieren, muß ich Ihnen sagen: Dann ist vieles von dem, was Sie zur Gemeinsamkeit der außenpolitischen Positionen in der Vergangenheit gesagt haben, in den Wind gesprochen. Gemeinsame Außenpolitik kann man doch nur betreiben, wenn man davon ausgeht, daß diese Entspannungspolitik fest verwurzelt ist in einer Westpolitik, in einer Position zu unseren Verbündeten, die man auch nicht verbal antasten darf, die man auch nicht dadurch antasten darf, daß man von einer Zweiteilung der NATO und davon spricht, daß wir hier zu einer europäischen Verteidigungsarmee kommen müssen.
Sie wären auch gar nicht in der Lage, hier zu beklagen, daß Ihren Erwartungen nicht entsprochen worden wäre, wenn Sie die Realitäten, von denen die Regierung ausgeht, mit vollzögen, wenn Sie sich mit auf den Boden dieser schwierigen Verhandlungen begäben.
Sie sagen immer: Die Verhandlungen sind schwierig. Nun, beteiligen Sie sich doch einmal daran! Verlassen Sie doch diese Hybris, von der Sie immer ausgehen, diese Überschätzung der eigenen Position.
Ich bin der letzte, der nicht z. B. die Äußerung des Herrn Bundeskanzlers mit großer Befriedigung gehört hat, daß die europäische Position, insbesondere was die Handelsabkommen angeht, durch diese Abkommen in gar keiner Weise tangiert worden ist und daß die Bundesregierung — der Bundeskanzler und der Außenminister — darauf großen Wert gelegt hat. Ich glaube, das ist ein Nebeneffekt europäischer Politik, der nicht gering bewertet werden darf.
Aber, meine Damen und Herren, wir können Europa auch nicht überbewerten in dem Sinne, daß man nun davon spricht: Wir sind hier bereit und in der Lage, eine europäische Position aufzubauen, die an die Stelle der NATO oder eines Teiles der NATO treten kann. Dies, meine Damen und Herren, ist eine Politik des Abenteuers,
die Sie da betreiben, und auf diesen Weg werden wir uns nicht gemeinsam begeben können. Dann gibt es eben keine gemeinsame Außenpolitik.
Die Außenpolitik dieser Regierung ist eine Außenpolitik realer Versuche, mit der Entspannung fertig zu werden. Aber diese realen Versuche können nur dann gelingen, wenn Sie selbst diese Versuche ernsthaft mit unternehmen. Darüber sind wir uns doch alle im klaren: Positionen, die die Regierung in diesen Verhandlungen mühsam aufrechterhält, können natürlich auch von innen her, können auch von einer Opposition unterminiert werden, ohne daß Sie das wollen; nachher beklagen Sie dann aber den Mißerfolg.
Ich darf Sie an das Wort erinnern, Herr Professor Carstens, das Sie hier vor nicht allzu langer Zeit einmal geprägt haben, nämlich daß eine vernünftige Regierung die Positionen, die die Opposition ihr liefere, und die Argumente, die sie ihr liefere, in ihre außenpolitischen Bemühungen einbeziehen sollte — im Interesse des gesamten Landes. Das setzt voraus — das habe ich damals gesagt, und ich wiederhole es hier —, daß die Opposition auch vernünftige Positionen bezieht, setzt aber nicht voraus, daß die Opposition aus vordergründigen Wahlüberlegungen, um Triumphe im Innern zu feiern und um sich daran zu berauschen, außenpolitische Positionen verläßt, die im gemeinsamen Interesse auch von der Opposition mitgetragen werden müssen.
Solange Sie das nicht anerkennen, kann eine gemeinsame Politik mit Ihnen überhaupt nicht in Frage kommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mertes .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Bangemann machen eine Korrektur dringend notwendig. Das Zitat des Kollegen Strauß heißt:Die beste Lösung wäre unserer Meinung nach eine politische Union Europas, die Hand in Hand mit der Unterteilung der NATO in zwei Zweige ginge, einen amerikanischen und einen europäischen.
Herr Kollege, sind Sie mit dieser Feststellung des Kollegen Strauß einverstanden, oder sind Sie damit nicht einverstanden?
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Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8553
Dr. Mertes
— Das Zitat ist zu Ende. Es mußte nach der Rede von Herrn Bangemann korrekt vorgetragen werden.Eine zweite Korrektur ist notwendig. Herr Kollege Bangemann, das Problem beim Moskauer Vertrag ist doch nicht, daß wir für unseren Gewaltverzicht gegenüber der Sowjetunion etwas anderes haben wollten als einen ebenso uneingeschränkten sowjetischen Gewaltverzicht uns gegenüber; das Problem bestand und besteht vielmehr doch darin, daß wir immer einen reinen Gewaltverzichtsvertrag gefordert haben, daß die Bundesregierung und erfreulicherweise auch Sie sagen: „Der Moskauer Vertrag ist ein reiner Gewaltverzichtsvertrag", während die Sowjetunion dem nicht zustimmt; sie hat uns — im Gegenteil — kurz vor der Ratifikation ausdrücklich notifiziert, dieser Vertrag sei nicht ein reiner Gewaltverzichtsvertrag, sondern ein viel weitergehender, in die Substanz der bisher strittigen Fragen eingreifender Vertrag. Wir haben der Sowjetunion eine fundamentale Zweideutigkeit hinsichtlich der Rechtsnatur des Vertrages konzediert. Diese Richtigstellung des Kollegen Bangemann war unerläßlich.
Herr Abgeordneter Dr. Bangemann!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann überhaupt nicht sehen, worin da eine Korrektur bestehen soll, denn nichts anderes habe ich zitiert als das, was Sie jetzt hier
ausgeführt haben.
— Entschuldigen Sie bitte, Herr Mertes. Wenn Sie von dieser Unterteilung der NATO in einen europäischen und einen atlantischen Zweig sprechen, was habe ich denn — ich bitte Sie! — anderes gesagt? Das ist doch genau das, was ich kritisiere.
Darf ich Sie einmal fragen, Herr Kollege Mertes: Halten Sie denn dieses Konzept des Herrn Strauß, insgesamt gesehen, für real? Halten Sie das denn für nachvollziehbar? Meine Damen und Herren von der Opposition, sind Sie denn in diesem Sinne, wie Herr Mertes das zitiert hat, bereit, die NATO in zwei Teile zu teilen? Wollen Sie das denn wirklich machen? Glauben Sie denn nicht, daß man damit eine Position der Entspannungspolitik untergräbt, die eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß man überhaupt Entspannungspolitik betreiben kann?
— Ach, jetzt geben Sie das doch mal zu!
Nehmen Sie doch einmal an, im bayerischen Wahlkampf wären Herr Schöfberger oder Herr Geislberger oder was wir da sonst noch an folkloristischen bayerischen Figuren haben — das sind sogar Bayern, das muß man einmal dem Herrn Jaeger sagen; es sind ja gar keine Niedersachsen etwa, sondern vollblütige, eingewachsene, dort geborene Bayern —, aufgestanden und hätten in diesem Sinne davon gesprochen, wir wollten — ich darf es jetzt einmal so ausdrücken, um es ein bißchen farbiger zu sagen — eine europäische Filiale,
meinetwegen einen europäischen Zweig der NATO aufmachen. Was hätten Sie dann im Wahlkampf gesagt?
Sie hätten gesagt: Hier vollzieht sich die sozialistische Gedankenwelt sogar schon in der NATO. Das
ist doch Ihr Problem; das ist nicht unser Problem.
Ich darf noch etwas zu Ihrer zweiten Bemerkung sagen, Herr Mertes. Wenn Sie sagen, hier werde nicht ein Gewaltverzichtsvertrag abgeschlossen, dann richtet sich dieser Vorwurf an die Moskauer Adresse; denn so haben Sie ihn ja formuliert.
Nun frage ich Sie aber: Was soll denn dieses Argument, wenn es an die Bundesregierung gerichtet wird? Sie gehen davon aus und Sie bestätigen ausdrücklich, daß die Bundesregierung dieses noch einmal bekräftigt hat, daß sie einen Gewaltverzichtsvertrag und nichts anderes abgeschlossen hat. Im gleichen Atemzug kritisieren Sie die Bundesregierung. Das, meine Damen und Herren, nenne ich — wenn Sie schon von der „Täuschung der Öffentlichkeit" gesprochen haben — unredliche Politik. Diese Politik ist deshalb unredlich, weil Sie der Bundesregierung etwas vorwerfen, von dem Sie selbst sehr gut wissen, daß Sie es ihr nicht vorwerfen können. Das ist doch das Problem.
Sind Sie fertig?
Ich bin an sich fertig, aber ich möchte dem Kollegen keine Zwischenfrage abschneiden. — Bitte sehr!
Herr Kollege Bangemann, würden Sie jetzt noch einmal sehr deutlich bestätigen — auch als Sprecher der Koalitionspartei —, daß der Warschauer Vertrag ausschließlich ein Vertrag über den Verzicht auf militärische Gewalt oder Bedrohung der Grenzen Polens ist?
Das habe ich so gar nicht gesagt, Herr Czaja.
— Nein, bitte, wir müssen jetzt einmal ganz genau aufeinander hören, wenn wir miteinander reden wollen.
— Ich habe davon gesprochen, Herr Czaja, daß es sich in diesen Verträgen darum gehandelt hat, auf
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8554 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974
Dr. BangemannGewalt zu verzichten und auf die gewaltsame Veränderung von Grenzen zu verzichten,
einschließlich der Drohung mit Gewalt.
Dieses, Herr Czaja, sollten Sie zur Kenntnis nehmen, denn es bedeutet eine Verpflichtung unserer gemeinsamen Geschichte.
Gar nicht einmal der Geschichte der CDU/CSU, gar nicht der Geschichte der SPD und auch nicht der Geschichte der FDP.
Erst dann, wenn Sie das zur Kenntnis genommen haben, haben Sie das Recht, von der deutschen Nation, von der Frage der deutschen Nation in diesen Ostverträgen zu sprechen. Solange Sie sich aber an dieser Aufgabe nicht beteiligen, so lange sprechen Sie mit gespaltener Zunge, so lange gehen Sie von Voraussetzungen aus, die andere geschaffen haben, wollen Sie die Früchte ernten, beteiligen sich aber nicht an der Arbeit. Das ist Ihr Problem, nicht meines.
Meine Damen und Herren, verzeihen Sie. Wir haben im Ältestenrat eine gewisse Reihenfolge der Aussprache beschlossen. Ich muß jetzt wirklich fragen, ob wir davon völlig abweichen wollen. — Dann hat sich zunächst der Abgeordnete Dr. Wörner zu Wort gemeldet.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Unter die wenigen Positionen, die seither in diesem Hause einverständlich waren und bis heute sind, reiht sich das Konzept der atlantischen Partnerschaft ein. Ich wäre nicht hier auf diese Rednertribüne gegangen, wenn ich nicht den Eindruck gehabt hätte, daß hier ein nicht unmaßgeblicher Vertreter der Freien Demokratischen Partei den Versuch macht, durch Wortklauberei die Basis dieser Gemeinsamkeit zu zerreden.
Ich kann nur sagen, das Konzept der atlantischen Partnerschaft gründet im amerikanischen wie im europäischen Verständnis darauf, daß unter dem Dach dieser atlantischen Allianz zwei Säulen in der Zukunft tragen sollten. Das sind zum einen die Vereinigten Staaten von Amerika, eingeschlossen Kanada, zum anderen aber ein vereinigtes Europa. Das war das Ziel, das Kennedy für die Amerikaner ausgesprochen hat, das war das Ziel, das Kissinger wiederholt hat, das war, wenn ich recht verstanden habe, auch der Sinn mancher Regierungserklärungen dieser und der vorhergehenden Regierungen, und das ist bis heute noch die gemeinsame Politik
der CDU/CSU, auch der Sinn der Äußerungen von Franz Josef Strauß.
Verzeihen Sie, Herr Dr. Czaja, nach unserer Geschäftsordnung gehen wir nach Rede und Gegenrede vor.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Dr. Wörner! Sie haben hier unterstellt, daß von einem Redner meiner Fraktion die gemeinsame Basis in bezug auf die NATO in Zweifel gestellt werden sollte. Das ist nicht der Fall. Wir haben die Sorge geäußert, daß das, was Franz Josef Strauß gesagt hat, ein Rückfall auf Positionen ist, die wir bereits 1964 und 1966, nachzulesen z. B. in einem „Zeit"-Interview über diese Fragen, zur Kenntnis nehmen mußten. Wenn Sie hier klarstellen, daß Sie diese Gemeinsamkeit nicht in Frage stellen, ist es Ihre Sache, sich in Ihrer Fraktion darüber auseinanderzusetzen, wieweit hier unterschiedliche Meinungen in Ihrem Bereich vorhanden sind.
Das zweite: Ich kann nur sagen, es dient weder dieser Bundesrepublik Deutschland noch der Bundeswehr, wenn man in einem solchen Interview von „operettenhaften Armeen" spricht.
Ich hätte erwartet, daß Sie, Herr Kollege Wörner, als der Sprecher Ihrer Fraktion in diesen Fragen hier ein klares Wort gegen diese Bezeichnung gesagt hätten. Das wäre der Sache dienlicher gewesen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czaja.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Schlußerklärung des Herrn Abgeordneten Bangemann macht es erforderlich, daß ich einige wenige Sätze zum Problem der Gewaltanwendung sage. Ich stimme mit dem Kollegen Bangemann — das möchte ich ausdrücklich erklären, weil es schien, daß seine Schlußerklärung das in Frage stellt — ausdrücklich darin überein, daß eine Gewaltanwendung gegen Grenzen für freiheitlich demokratische Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland und auch für mich völlig ausgeschlossen ist. Ich meine allerdings, daß dazu der Warschauer Vertrag nicht allein nötig war, daß dies bereits allgemeines Völkerrecht, uns bindend durch Art. 25 des Grundgesetzes, war, und daß dies ja auch in den Westverträgen, in bilateralen und multilateralen Verträgen, für uns verbindlich noch einmal festgelegt worden ist. Ich habe auch gar nichts dagegen, daß dies noch einmal im Warschauer Vertrag verankert worden ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 127. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. November 1974 8555
Dr. CzajaAber, Herr Kollege Bangemann, ich habe aus Ihren Ausführungen — und hier habe ich keine Antwort erhalten — eine außerordentlich interessante Feststellung, die vielleicht manches für die Zukunft eröffnen würde, gehört, indem Sie sagten, daß der Warschauer und der Moskauer Vertrag — Sie bezogen sich ja wörtlich, ich bitte im Protokoll nachzusehen, auf den Warschauer und Moskauer Vertrag — eigentlich nichts anderes enthielten als einen Verzicht auf Gewaltanwendung gegen Grenzen. Herr Kollege Bangemann, das wäre eine Interpretation, der man auf breiter Grundlage zustimmen könnte. Ich habe Sie aber gefragt, ob der Warschauer Vertrag ausschließlich dies enthält, und die Antwort auf diese Frage sind Sie, das muß ich sagen, leider schuldig geblieben. Ich möchte noch einmal sagen: Wenn der einzige — und es scheint mir so auch nach Ihren Ausführungen — tatsächliche gemeinsame Vertragswille des Warschauer Vertrages dies wäre, was Sie sagten, Ausschluß von Gewaltanwendung gegen Grenzen, dann wäre dies eine hochinteressante Entwicklung der Politik zumindest der FDP.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es liegt in der Natur parlamentarischer Debatten, daß sie sich zwangsläufig über viele Felder ausbreiten und sich weit entfernen vom Gegenstand, der die Debatte ausgelöst hat
und der in ihrem Kern steht, bis hin zu der Zwei-
Säulen-Rede von Kennedy in Philadelphia und bis hin zu Operettenarmeen. Ich halte das für legitim und natürlich und will es nicht kritisieren.
Nur liegt mir am Herzen, am Schluß dieser Debatte doch zurückzukommen auf den eigentlichen Anlaß und den eigentlichen Gegenstand. Gegenstand war eine Erklärung der Bundesregierung über Gespräche und Verhandlungen, die sie in der vorigen Woche mit der politischen Führung der Sowjetunion gehabt hatte. Wenn ich mir erlauben darf zu subsumieren, was dazu hier gesagt worden ist, so ist, abgesehen von den positiven Bemerkungen der beiden Regierungsfraktionen und auch des Herrn Oppositionsführers, an negativen Bemerkungen dreierlei nachgeblieben: Zum einen eine ins tief Grundsätzliche und Historische gehende Kritik des Herrn Oppositionsführers, die gegenwärtige Ergebnisse mißt an Erwartungen, die, wie er meinte, früher entstanden — er hat sogar gesagt: erzeugt, er hat sogar dem Sinne nach gesagt: wider besseres Wissen erzeugt worden — sind. Daraufhin ist eine gebührende Antwort ergangen.
Sodann sind zwei kleinere Punkte kritischer Art nachgeblieben, die sich nicht auf das Ergebnis der Gespräche und Verhandlungen bezogen, sondern auf zwei nicht gerade sehr bedeutende Punkte in der gemeinsamen Erklärung. Auf die hat der Außenminister, wie ich meine, in einer überzeugenden Form geantwortet.
Mir liegt am Herzen, festzustellen, daß die Sprecher der Opposition ansonsten offensichtlich einverstanden waren. Das sollten Sie bitte nicht übertünchen mit allen möglichen Bemerkungen, die nicht zur Sache gehören.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Ich schließe die Sitzung und berufe den Bundestag auf Donnerstag, den 7. November 1974, 9 Uhr ein.