Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Wir beginnen mit dem Zusatzpunkt:
Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Sozialberichts 1971
— Drucksache VI /2155 —
Zur Einbringung Herr Bundesminister Arendt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich hätte es sehr begrüßt, wenn wir in diesem Hohen Hause die Debatte über den Sozialbericht 1971 noch vor Eintritt in die Sommerpause hätten durchführen können.Leider war das nicht möglich. Dennoch, davon bin ich überzeugt, wird die Aussprache zeigen, daß der bereits im Frühjahr vorgelegte Sozialbericht 1971 keineswegs an Bedeutung und Aktualität verloren hat. Wir treten in der Sozialpolitik nicht auf der Stelle. Wir haben weitergearbeitet. Auch auf diese inzwischen eingetretenen Entwicklungen werde ich kurz eingehen.Der Sozialbericht 1971 ist nicht die unveränderte Neuauflage eines erfolgreichen Buches, sondern die Vorlage einer erfolgreichen Leistungsbilanz. Der Sozialbericht für das Jahr 1970 war ein Programmbericht. Er war das sozialpolitische Kursbuch dieser Bundesregierung für diese Legislaturperiode. Mit diesem Kursbuch, meine Damen und Herren, haben wir den Weg einer gestaltenden Sozialpolitik markiert.Inzwischen sind wir ein gutes Stück auf diesem Weg vorangekommen. Die Leistungsbilanz der Bundesregierung macht deutlich, daß wir schon in der ersten Hälfte dieser Legislaturperiode mehr sozialpolitische Vorhaben verwirklicht oder eingeleitet haben als frühere Bundesregierungen in einer ganzen Legislaturperiode.Natürlich machen wir nur das, was wir bezahlen können. Das gilt heute und das gilt morgen.
Aber auch das zeigt dieser Sozialbericht. Mit seinem umfangreichen Sozialbudget steckt er den Rahmen unserer finanziellen Leistungsfähigkeit ab. Diese Rechnung ist solide; sie sichert die Verwirklichung unserer Vorhaben.Wir verstehen Sozialpolitik als Kern einer umfassenden Gesellschaftspolitik. Der Staat ist längst nicht mehr nur die Feuerwehr, die nur soziale Brandherde nachträglich bekämpft. Wir müssen zunehmend die sozialen Lebensbedingungen der Menschen vorausschauend mitgestalten. Dazu gehört auch, daß wir uns mehr und mehr aus dem eng begrenzten Kästchendenken konkurrierender Gruppenwünsche befreien müssen, wenn wir unsere Verantwortung gegenüber der Gesamtheit aller Bürger erfüllen wollen.Wir wissen, daß wirtschaftliches Wachstum nicht von selbst mehr Sicherheit schafft. Der durch menschliche Arbeit in Gang gesetzte wirtschaftliche, soziale und technische Wandel darf nicht über den Menschen hinweggehen, weder vor noch während, noch nach dem Arbeitsleben.Aus diesen Überlegungen leiten sich die Grundsätze unserer Sozialpolitik ab.1. Das System der sozialen Sicherung soll in zweifacher Hinsicht weiterentwickelt werden. Wir müssen für bestimmte Personenkreise Lücken in der sozialen Sicherung schließen. Das ist das eine. Zum anderen müssen wir der engen Verflechtung von Sozialbereich und wirtschaftlicher Entwicklung dadurch entsprechen, daß wir durch stetige Anpassungen die Teilhabe am Wirtschaftswachstum gewährleisten.2. Sozialpolitik ist zukunftsichernde Politik. Ihr vorsorgender Charakter soll dazu beitragen, soziale Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen zu beseitigen. Neue Mißstände sollen gar nicht erst aufkommen.3. Sozialpolitik soll den Ausbau der Demokratie durch Freiheitsräume und Mitbestimmungsrechte fördern.Das sind die Grundgedanken, die auch die Maßstäbe für den Sozialbericht 1971 setzten.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst einige Bemerkungen zu der Frage der Ausdehnung der sozialen Sicherung auf weitere Personenkreise machen. Über 10 Millionen Schüler, Studenten und Kinder in Kindergärten sind seit dem
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Bundesminister Arendt1. April 1971 in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen. Weitere 4 Millionen Angestellte haben vom 1. Januar 1971 an einen zusätzlichen Rechtsanspruch auf den Beitragsanteil des Arbeitgebers zur Krankenversicherung — und zwar unabhängig von der Höhe ihres Gehaltes — erworben. Berufsanfänger können sich ebenfalls unabhängig von der Gehaltshöhe für den Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden. Die Landwirte, ihre Familienangehörigen und die Altenteiler werden in den Schutz der Krankenversicherung einbezogen. Der Gesetzentwurf hierfür ist fertiggestellt. Er wird in Kürze vorgelegt.Meine Damen und Herren, Sie sehen an dieser Aufzählung, daß sich die soziale Sicherung erweitert und verbessert hat. Damit sind natürlich nicht alle Fragen gelöst. Das gilt insbesondere für die Rentenversicherung. Hier stehen immer noch einige Gruppen vor der Tür. Andere erwarten, daß ihre Position in der Rentenversicherung verbessert wird.Diese Probleme sind zweifellos ein Erbe der Vergangenheit. Die Bundesregierung hat sie aus dem sozialpolitischen Wartezimmer geholt und begonnen, sie aufzuarbeiten. Wir haben uns vorgenommen, sie Schritt für Schritt zu bewältigen. Das ist gar keine leichte Aufgabe. Das wissen wir alle; denn wir alle kennen die Härten der Einzelschicksale. Arbeitslosigkeit, Krieg und Gefangenschaft, die Wirren der Nachkriegszeit haben in vielen Fällen die Kontinuität des Arbeitslebens gestört. Das alles wirkt sich negativ aus. Und hier müssen wir helfen. Dennoch möchte ich einmal in aller Deutlichkeit sagen: Zu unserer Rentenversicherung gehört das Prinzip der persönlichen Beitragsleistung. Das heißt: Wer tagein, tagaus seine Arbeitskraft in den Betrieben zur Verfügung stellt und Beiträge an die Rentenversicherung bezahlt, der besitzt am Ende seines Arbeitslebens einen entsprechenden Rentenanspruch. Das sollte nicht vergessen werden.Wir messen der Beseitigung von Benachteiligungen ein ganz großes Gewicht bei. Aber wir wollen nicht mit der Gießkanne über Land gehen und alte Ungerechtigkeiten vergrößern, sondern gezielt die Rentenversicherung weiterentwickeln.
Wir erfüllen den Auftrag, den uns der Deutsche Bundestag mit seiner Entschließung vom 23. Junid. J. erteilt hat. Wir werden ein 2. Rentenreformgesetz vorlegen. Ich habe inzwischen ein entsprechendes Programm ausgearbeitet. Jetzt erörtern wir mit den gesellschaftlichen Gruppen, mit den Institutionen und Ländern unser Programm.Dieses Programm sieht vor:1. Alle Versicherten mit mindestens 35 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren sollen nach Vollendung des 63. Lebensjahres frei entscheiden können, ob sie in die Rente gehen oder noch weiter arbeiten wollen.2. Rentnern, die trotz 35 oder mehr anrechnungsfähigen Versicherungsjahren eine kleine Rente haben — ich habe einige Gründe angeführt —, soll gezielt geholfen werden.3. Mütter mit einer eigenen Rentenversicherung sollen vom Jahre 1973 an für jedes Kind ein Versicherungsjahr zusätzlich angerechnet erhalten.4. Alle nicht erwerbstätigen Hausfrauen, alle selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen sollen künftig der gesetzlichen Rentenversicherung freiwillig beitreten können.Dieses Programm ist durchgerechnet; die Finanzierung ist gesichert. Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen sind geprüft.Es ist ein anspruchsvolles, aber ein ausgewogenes Programm und will den Rentnern, aber auch den 24 Millionen Beitragszahlern gerecht werden. Jeder Punkt hat sein Gewicht und seine Bedeutung. Hier kann man nicht einen Punkt gegen einen anderen austauschen oder gar zurückstellen. Hier muß man Farbe bekennen.Meine Damen und Herren! Wir entsprechen dem sozialpolitischen Auftrag, alle Gruppen in unserer Gesellschaft auf Dauer am steigenden Lebensstandard teilhaben zu lassen. Die Dynamisierung sozialpolitischer Leistungen hat sich bewährt und weiter durchgesetzt.Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß die erste Vorlage dieser Bundesregierung ein sozialpolitisches Gesetz war. Es beendete das immer wiederkehrende Tauziehen um die Erhöhung der Kriegsopferrenten und brachte die Dynamisierung auch dieser Leistungen.
Zusammen mit der letzten, erst kürzlich vom Kabinett verabschiedeten Anpassung werden im Jahr 1972 gegenüber dem Beginn dieser Legislaturperiode die versorgungsberechtigten Beschädigten, Waisen und Eltern durchschnittlich 30 %, die Witwen sogar 40 % mehr Rente erhalten.Meine Damen und Herren, wir haben auch die Rentenkürzung in Form des Krankenversicherungsbeitrages der Rentner rückgängig gemacht. Die 10 Millionen Rentner erhalten seit dem 1. Januar 1970 wieder ihre ungekürzte Rente ausgezahlt. Das war eine Anhebung des Rentenniveaus, auch wenn es heute so scheint, als hätten es viele vergessen. Damit wurde ein früherer Eingriff in das System der jährlichen Rentenanpassungen korrigiert und die volle Geltung der Rentenformel wiederhergestellt. Ich warne vor neuen Eingriffen! Die Rentner müssen sich auch in der Zukunft auf die kontinuierliche Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum verlassen können.Meine Damen und Herren, ich habe eingangs darauf hingewiesen, daß Sozialpolitik einen vorausschauenden, vorbeugenden und gestaltenden Charakter haben muß. In diesem Sinne hat sie eine doppelte Aufgabe. Zum einen soll sie negative Auswirkungen des wirtschaftlichen und technischen Wandels verhindern und beseitigen, zum anderen soll sie aber auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen im Interesse der Menschen aktiv beeinflussen.Die im Juni eingeführten Vorsorgeuntersuchungen sind ein Beispiel dafür.
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Bundesminister Arendt
- Sie müssen mal die Protokolle des Bundestagesnachlesen, dann würden Sie einen solchen Zwischenruf nicht machen.
— Sie müssen das Protokoll lesen, dann werden Sie feststellen, daß wir angekündigt haben, eine Kommission mit dieser Aufgabe zu betrauen und im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens diesen Punkt einzuarbeiten. Das haben wir getan.
Schon heute, das zeigt eine soeben veröffentlichte Umfrage, wird dies von 92 % der Bevölkerung als wichtige Neuerung aufgenommen. Mehr als 16 Millionen Frauen, 8 Millionen Männer und 2,5 Millionen Kleinkinder haben jetzt einen gesetzlichen Anspruch auf kostenfreie Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von bestimmten Krankheiten.Aber, meine Damen und Herren, eine vorbeugende Sozialpolitik kann nicht vor den Fabriktoren halt machen. Sie muß die Herausforderung einer Arbeitswelt aufnehmen, die immer stärker in das Leben der Menschen eingreift. Der Einsatz immer modernerer Produktionsmethoden ohne ausreichende Beachtung ihrer Folgewirkungen macht die Fabriken zu einer für Gesundheit und Leben gefährlichen Umwelt für die dort arbeitenden Menschen.Wenn wir vom Umweltschutz reden, dann sagen wir auch, wo er anfangen muß: in den Fabriken, wo der Mensch täglich in eine technisierte Arbeitswelt eingespannt wird.
Ich meine, daß die Zahl von 2,7 Millionen angezeigten Arbeitsunfällen allein im Jahre 1970 ein zu hoher Preis war.Umweltschutz — so meinen wir — beginnt mit dem Arbeitsschutz.Deshalb hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung einen Gesetzentwurf vorbereitet, der durch den Ausbau des arbeitsmedizinischen und technischen Gesundheitsschutzes mehr Sicherheit bei der Arbeit bringen soll. Wir diskutieren diesen Gesetzentwurf gegenwärtig mit den Beteiligten, um die Erfahrungen vor Ort zu nutzen.Wenn es hier wirkliche Fortschritte geben soll, dann muß dieses Gesetzesvorhaben durch gründliche Unfallforschung ergänzt werden. Die Errichtung einer Bundesanstalt für Unfallforschung und Arbeitsschutz dient diesem Ziel.Dies sind, meine Damen und Herren, Beiträge für eine notwendige Humanisierung des Arbeitslebens, wie sie der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung angekündigt hat.Aber unsere besondere Aufmerksamkeit gehört den älteren Arbeitnehmern, die mehr Schutz brauchen. Das Arbeitsförderungsgesetz gibt uns schonMöglichkeiten. Aber weitere Maßnahmen müssen das Leben der Alteren sicherer machen.Wir haben auf mehreren Gebieten die Initiative ergriffen.Zunächst haben wir das getan im Regierungsentwurf zum Betriebsverfassungsgesetz. Hier werden die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates zum Schutz der älteren Arbeitnehmer erweitert.Wir haben die Initiative ergriffen in der Förderung der betrieblichen Personalplanung. Arbeitgeber und Gewerkschaften haben in der „Sozialpolitischen Gesprächsrunde" meines Hauses erste Ergebnisse erzielt.Drittens haben wir die Initiative ergriffen in der betrieblichen Altersversorgung. Auch hier hat die „Sozialpolitische Gesprächsrunde" gute Dienste geleistet.Schließlich muß man an dieser Stelle ein Wort zu der flexiblen Altersgrenze sagen. Sie hat für die älteren Arbeitnehmer eine besondere Bedeutung und eine hohe Dringlichkeit. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß gerade die jetzt rentennahen Jahrgänge besonders starken Belastungen in der Nachkriegszeit ausgesetzt waren.Wir widmen uns auch den Behinderten. Sie dürfen nicht im Schatten unserer Gesellschaft leben. Ihre Chancen, ein erfülltes Leben zu führen, das ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht, sind ohne unsere Hilfen gering.Die Bundesregierung fördert in verstärktem Maße Einrichtungen auf allen Gebieten der Rehabilitation. 1970 wurden 31 Einrichtungen der medizinischen, der beruflichen und sozialen Rehabilitation aus Bundesmitteln gefördert. Wir sind da auf einem guten Wege.Unverständnis, Vorurteile und Gedankenlosigkeit erschweren das Leben der behinderten Menschen. Ich stelle das mit Sorge fest. Wir wirken deshalb in der Öffentlichkeit aufklärend, damit jeder Behinderte seinen Platz in der Gesellschaft finden kann.Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen einige Beispiele für eine vorausschauende und gestaltende Sozialpolitik vorgetragen. Ich könnte sie erweitern, indem ich über die Aktivitäten der Bundesregierung auf dem Gebiete der beruflichen Bildung berichtete. Einzelheiten finden Sie im vorliegenden Sozialbericht.Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zum dritten Leitgedanken unserer Sozialpolitik, nämlich zum Ausbau des Freiheitsraumes und der Mitbestimmungsrechte in unserer Gesellschaft.Zwei Bereichen messe ich dabei eine große Bedeutung zu, nämlich der Neuordnung des Betriebsverfassungsrechtes und der Vermögensbildung.Unser Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes hat in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion ausgelöst. Alle Beteiligten haben zum Meinungsbildungsprozeß beigetragen. Die unterschiedlichen Erfahrungen konnten verarbeitet werden. Das entspricht demokratischer Tradition und einer offenen
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Bundesminister ArendtGesellschaftsordnung, in der das Bessere immer der Feind des Guten ist. Der Stand der Beratungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung berechtigt zu der Erwartung, daß die Betriebsrätewahlen im Frühjahr 1972 auf der Grundlage eines neuen Gesetzes durchgeführt werden können.In der Vermögensbildung haben wir einen bedeutsamen Schritt getan, indem wir die Ungerechtigkeiten des 312-DM-Gesetzes beseitigt haben. Wir haben nicht nur einfach den Begünstigungsrahmen von 312 auf 624 DM verdoppelt, wir haben vielmehr an Stelle der ungerechten Steuer- und Sozialabgabenbefreiung das gerechtere Zulagensystem eingeführt.Das Dritte Vermögensbildungsgesetz brachte innerhalb kurzer Zeit einen ganz entscheidenden Durchbruch: Mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmer nehmen die staatliche Vermögensförderung in Anspruch. Während es bis 1969 nur rund 5,7 Millionen Arbeitnehmer waren, werden es ab Ende dieses Jahres rund 14 Millionen Arbeitnehmer sein. Davon erhalten 10 Millionen Arbeitnehmer vermögenswirksame Leistungen auf Grund von Tarifverträgen zusätzlich zu ihrem Lohn.
Meine Damen und Herren, noch ein kurzes Wort zum Sozialbudget, dem zweiten Teil des Sozialberichts. Es ist das am weitesten ausgebaute und wichtigste Planungs- und Informationsinstrument. Wir haben es weiter verbessert. Anregungen und Hinweise aus der Debatte des Vorjahres haben wir aufgenommen und verarbeitet. Die wirtschafts- und finanzpolitische Abstimmung ist gewährleistet sowohl mit dem Jahreswirtschaftsbericht, der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes und mit dem Rentenanpassungsbericht.Meine Damen und Herren, auf dem Felde der Sozial- und Gesellschaftspolitik müssen wir vieles gleichzeitig anpacken, um die Lebens- und Arbeitssituation der Menschen in der Bundesrepublik zu verbessern. Wir wollen uns nicht auf den Erfolgen der ersten zwei Jahre dieser Legislaturperiode ausruhen. Wir können aber auch nicht die Arbeit der ersten Halbzeit isoliert betrachten. Alle abgeschlossenen Maßnahmen und eingeleiteten Vorhaben fügen sich nahtlos zusammen zu einer konkreten Politik, die in unserer Gesellschaft mehr soziale Gerechtigkeit schafft. Der Sozialbericht 1971 beweist es.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Götz.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für mich ist eine Redezeit von 45 Minuten beantragt worden. Aber ich hoffe sehr, daß ich darunter bleiben kann. Die Besetzung des Hauses ermuntert ohnehin nicht zu einer langen Rede.Ich bedaure es sehr, Herr Bundesminister, daß ich gleich zu Beginn meiner Ausführungen ein hartes Wort der Kritik an Ihren Ausführungen anbringen muß. Ihre Rede, mit der Sie den Sozialbericht eingebracht haben, entsprach genau der von Ihnen so betont herausgestellten, aber den Tatsachen nicht entsprechenden Erfolgsbilanz, nämlich: viele Worte, aber wenig Konkretes.
Sie sagten hier erneut — der Satz ist nicht neu; man kann ihn in Ihren Leistungsbilanzen nachlesen , daß Sie in den vergangenen zwei Jahren mehr sozialpolitische Initiativen entwickelt hätten als frühere CDU/CSU-Regierungen in einer ganzen Legislaturperiode. Herr Minister, das ist — schlicht gesagt — einfach vermessen, und Sie sind den Beweis dafür schuldig geblieben.
Ich bewundere Ihren Mut, mit dem Sie versucht haben, eine magere Bilanz mit vielen Worten zu vernebeln. Ich werde auf einzelne Punkte Ihrer Ausführungen eingehen.Was Sie zu Beginn als Ihre Grundgedanken einer fortschrittlichen, zukunftsorientierten sozialen Gesellschaftspolitik herausgestellt haben — Herr Bundesarbeitsminister, Sie werden nicht leugnen, daß das keine neuen Erkenntnisse sind. Sie können sie im ersten Sozialbericht Ihres Amtsvorgängers, meines Kollegen Katzer, nachlesen, z. B. die notwendige Verzahnung zwischen Sozialpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik und einige andere wichtige fundamentale Erkenntnisse für die Weiterführung unserer sozialen Gesellschaftspolitik. Ich nehme an, Sie haben sie nachgelesen und in Ihre heutige Rede eingeführt.
— Das haben Sie gesagt; soweit wollte ich nicht gehen.
— „Abgeschrieben" !
Die Bundesregierung hat den Sozialbericht am 12. Mai dieses Jahres vorgelegt. Er ist, was die Seitenzahl betrifft, umfangreicher und umfassender geworden. Ich gebe zu, dies ist ein Vorzug, Herr Bundesarbeitsminister. Trotzdem muß gesagt werden, daß Umfang und Seitenzahl allein noch nichts über die Bedeutung dieses Sozialberichts aussagen. Sie haben gesagt — hier bin ich etwas anderer Mei-
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nung als Sie —, der Sozialbericht habe inzwischen nichts von seiner Bedeutung verloren. Ich finde vor allem, daß er als Orientierungshilfe für künftige sozialpolitische Entscheidungen -- und das soll er ja sein — wenig aussagefähig ist. Das gilt insbesondere für das Sozialbudget. Ich möchte allerdings nicht versäumen, den Beamten, die diesen Bericht und insbesondere die im zweiten Teil enthaltenen Tabellen erstellt haben, für diese mühevolle Arbeit Dank und Anerkennung zu sagen.
Mir scheint aber, Herr Bundesarbeitsminister, daß der Sozialbericht 1971 in der Öffentlichkeit nicht das Echo gefunden hat, daß Sie und Ihre Kabinettskollegen sicher erwartet haben. Soweit er überhaupt ein Echo gefunden hat, war es — wer wollte es leugnen; man braucht ja nur die Presse zu lesen — ein Echo der Ernüchterung und der Enttäuschung.Sie sprachen von der Leistungsbilanz im Teil A Ihres Sozialberichts. Wir sind der Meinung, daß diese Leistungsbilanz nicht das gehalten hat, was zu Beginn dieser Legislaturperiode versprochen worden ist. Worin mag wohl die Ursache für das geringe Echo liegen, daß dieser Sozialbericht in der Öffentlichkeit gefunden hat? Ich bin der Meinung, die Ursache liegt darin, daß die an einer Politik der sozialen Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit besonders interessierten Personengruppen, vor allem die sozial schwächeren Bevölkerungsschichten — aber nicht nur sie —, von der Preissteigerungswelle, Herr Bundesarbeitsminister, und von der damit verbundenen Geldentwertung stärker betroffen werden und sie dies stärker beschäftigt als die — entschuldigen Sie, wenn ich das so sage — etwas auffrisierte Leistungsbilanz in Ihrem Sozialbericht. Es kommt hinzu, daß der im Teil A enthaltene lange Katalog von Ankündigungen und Versprechungen auf Grund der in den vergangenen zwei Jahren gemachten Erfahrungen von der Öffentlichkeit einfach skeptisch beurteilt wird.Wie war es denn, und wie ist es denn? Statt Steuersenkungen Steuererhöhungen! Die Verdoppelung des Steuerfreibetrags für Arbeitnehmer unterblieb. Statt sozialen Fortschritts sozialer Abbau! Ich verweise auf das Rentenniveau. Statt wirtschaftlicher Sicherheit und Preisstabilität ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Instabilität und Preissteigerung!Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute weiß doch jeder Bürger in unserem Lande, daß die Grundvoraussetzung für die Erhaltung unseres sozialen Sicherungssystems und die Voraussetzung für eine zukunftsorientierte Sozial- und Gesellschaftspolitik die Sicherung der Stabilität von Wirtschaft und Währung sind. Daher betrachtet es jeder Bürger als die vordringlichste Aufgabe der Regierung, erst einmal dafür zu sorgen, daß die inflationäre Entwicklung möglichst bald gestoppt wird, damit das bisher im sozialpolitischen Bereich Erreichte nicht weiter gefährdet und die Fortentwicklung unseres sozialen Sicherungssystems nicht in Frage gestellt wird.
Auch wir, meine Damen und Herren, bedauern es, daß wir erst heute den Sozialbericht diskutieren können. Inzwischen sind seit der Einbringung vier Monate vergangen.
—Machen Sie es sich ruhig, Herr Kollege Wehner. Solange Sie es für sich behalten, brauche ich nicht dazu Stellung zu nehmen.
— Na, jetzt kommt einer der üblichen Zwischenrufe, auf die ich nicht eingehen möchte. — Ich hoffe, daß die Frau Präsidentin mir das nicht von der Redezeit abzieht.Aber Sie werden nicht bestreiten können, Herr Minister, daß seit der Aufstellung Ihres Sozialberichts und des Sozialbudgets eine Zeit vergangen ist, in der sich einige Voraussetzungen entscheidend verändert haben.Das Zahlenwerk, das in Ihrem Sozialbudget enthalten ist, entspricht heute nicht mehr den Tatsachen. Daher stellt sich die Frage: Ist dieses gesamte Zahlenwerk, das imponierend ist, eigentlich heute noch von aktuellem Wert? Sie sprachen vom Kursbuch des Handelns. Ich will im Bild bleiben und hinzufügen: Der Fahrplan, den Sie hier aufgestellt haben, stimmt einfach nicht mehr, und Reisende, die nach diesem Fahrplan ihre Reise antreten, kommen entweder überhaupt nicht ans Ziel oder nur mit einer großen Verspätung.Das Sozialbudget kann doch seine Aufgabe als Entscheidungs- und Orientierungshilfe nur dann erfüllen, wenn es mit der aktuellen mittelfristigen Finanzplanung, der aktuellen wirtschaftlichen Zielprojektion und der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verzahnt ist, und das ist hier nicht mehr der Fall. Ein entscheidender Mangel des vorliegenden Sozialbudgets besteht darin, daß es noch von den Daten einer inzwischen überholten mittelfristigen Finanzplanung und Zielprojektion ausgeht. Daher kann es seine Aufgabe als Orientierungs- und Entscheidungshilfe nicht mehr erfüllen. Ich bin der Meinung, es ist nur noch ein statistisches Handbuch für Sozialpolitiker und Sozialwissenschaftler.Meine Damen und Herren, ich sage dies nicht als Vorwurf, sondern nur als eine Feststellung. Ich möchte mir die Anregung erlauben, daß in Zukunft die Termine für die Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung, für die Wirtschaftsprojektion und die Abgabe des Sozialberichts so festgelegt werden, daß das ihnen gemeinsam zugrundeliegende Zahlenwerk auch der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung möglichst voll entspricht; denn nur so kann das Sozialbudget seiner eigentlichen Funktion als Informationsquelle und als Orientierungshilfe gerecht werden. Was den vorliegenden Sozialbericht 1971 betrifft, fordern wir die Bundesregierung auf, einen Nachtrag vorzulegen, in dem genaue Angaben über die Finanzierung der im Teil A aufgeführten Reformvorhaben unter Berücksichtigung der mit-
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Dr. Götztelfristigen Finanzplanung 1971 bis 1975 enthalten sind.Einen weiteren Mangel des Sozialbudgets sehen wir in dem Fehlen jeglicher Alternativrechnungen. Prognosen sollten nicht immer nur vom geltenden Recht ausgehen, sondern auch die wichtigsten künftigen sozialpolitischen Maßnahmen und Vorhaben für einen mittelfristigen Zeitraum aufzeigen. Was im Rentenbericht für die Rentenversicherung möglich war, sollte auch hier möglich sein. Denn nur dann hat das Sozialbudget einen Aussagewert für die Zukunft und wird seiner Funktion als Entscheidungshilfe gerecht.Aussagefähig ist der vorliegende Sozialbericht in der Tat für die Vergangenheit. Die in ihm enthaltenen Tabellen vermitteln in der Tat ein objektives Bild über die Entwicklung der Sozialpolitik von 1950 bis heute. Meine Damen und Herren, ich möchte hier auf Grund dieser Übersichten — ich tue dies nicht ohne Genugtuung und möchte damit auch einige Ihrer Ausführungen wieder zurechtrücken — einmal feststellen, daß die aus diesen Tabellen abzulesende Entwicklung der sozialen Leistungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten die nicht selten zu hörende, aber doch recht vermessene und polemische Behauptung, durch die inneren Reformen dieser Regierung müßten die sozialpolitischen Versäumnisse früherer CDU-Regierungen erst einmal ausgeglichen werden, eindeutig widerlegt. Es stimmt einfach nicht, Herr Bundesarbeitsminister, daß die Zeit der großen Reformen erst mit dem Amtsantritt dieser Regierung begonnen habe. In der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 steht zwar der Satz: „In der Bundesrepublik stehen wir vor der Notwendigkeit umfassender Reformen", aber diese Aussage könnte, vielleicht sollte sie es sogar, in dem unkritischen Teil der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei auf dem Gebiet der Sozial- und Gesellschaftspolitik vieles versäumt worden. Es kann doch nicht bestritten werden, daß in den zwei Jahrzehnten, die nun hinter uns liegen, ein System der sozialen Sicherheit entwickelt wurde, das seine Bewährungsprobe bestanden hat und das wesentlich dazu beigetragen hat, daß sich der deutsche Arbeitnehmer heute mit unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung identifiziert.Damit, meine Damen und Herren, soll nicht gesagt sein, daß dieses imponierende Gebäude unserer sozialen Sicherung bereits vollkommen ist. So vermessen sind wir nicht. Natürlich gibt es noch weiße Flecken auf der sozial- und gesellschaftspolitischen Landkarte, die es auszufüllen gilt, aber diese Feststellung berechtigt doch nicht dazu, in der Weise, wie es oft geschieht, von Versäumnissen zu sprechen. Der Begriff Versäumnis kann nur das umfassen, was zwar als notwendig erkannt, aber nicht getan wurde, obzwar die finanziellen und anderen notwendigen Voraussetzungen gegeben waren. Jeder in diesem Hause weiß doch auf Grund eigener Erfahrungen, daß in den fünfziger und sechziger Jahren die sozialpolitischen Aufgaben andere waren als heute und daher die Prioritäten auch entsprechend anders gesetzt werden mußten.Es kommt hinzu, daß uns der sich in einer modernen Industriegesellschaft ständig vollziehende Wandlungsprozeß immer wieder vor neue Probleme stellt, die neue Lösungen erfordern. Probleme, die es heute zu lösen gilt, hatten vor 10 oder 15 Jahren nodi nicht die Aktualität, die sie heute haben.Es wird heute viel von Reformen geredet, auf der Regierungsseite meist in der Form von Absichtserklärungen, von Ankündigungen, die den unbefangenen Beobachtern den Eindruck vermitteln, als ob eine bessere Welt mit einem Optimum an sozialer Sicherheit, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand ziemlich rasch von heute auf morgen verwirklicht werden könnte. So einfach ist dies aber nicht. Wir erleben es doch jetzt, daß die Diskrepanz zwischen den Versprechungen, die sich beinahe schon zu einer Reformeuphorie entwickelt haben, und den realistischen Möglichkeiten ihrer Verwirklichung Ihrer Regierung erheblich zu schaffen macht.Meine Damen und Herren, es genügt nicht, nur von Reformen zu reden, sie anzukündigen, zu plakatieren. Bevor man viel und lauthals von Reformen redet, sollte man erst einmal über Ziel und Auswirkungen Klarheit schaffen. Soweit es darum geht, meine Damen und Herren von der Koalition, Bewährtes fortzuentwickeln und notwendige Korrekturen an unserem bestehenden sozialen Sicherungssystem vorzunehmen oder sich neuen Problemen zu stellen und eine vernünftige Lösung dieser Probleme zu suchen, ohne bewährte Systeme durch Korrekturen zu sprengen, wird uns die Regierung jederzeit zur Mitarbeit bereitfinden.
Das haben wir in den vergangenen zwei Jahren unter Beweis gestellt. Der gelegentlich zu hörende Vorwurf der Obstruktion, bezogen auf die vergangenen zwei Jahre, ist genauso albern,
ist genauso albern, Herr Wehner, wie der von den Versäumnissen in bezug auf die zwei Jahrzehnte.
Ich will zum Teil A, zu den politischen Aussagen etwas sagen. Sie unternehmen im Teil A des Sozialberichts große Anstrengungen, Ihrer sozialpolitischen Aktivität in der ersten Halbzeit dieser Legislaturperiode besonderen Glanz zu verleihen, nur bin ich der Meinung, dies ist Ihnen nicht gelungen, trotz allen propagandistischen Wirbels, den Sie mit den popfarbig aufgezogenen Zwischenbilanzen und Berichten des Presse- und Informationsamtes gemacht haben. Herr Minister, diese Zwischenbilanzen bleiben hinter den von Ihnen geweckten Erwartungen zurück. Vieles, was darin steht, verdient auch nicht die anspruchsvolle Bezeichnung „Reform", da es sich lediglich um eine Fortentwicklung und Ausweitung des bisherigen sozialen Sicherungssystems handelt.
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Dr. GötzDie politischen Aussagen in Teil A veranlassen uns zur Kritik in zweifacher Hinsicht. Erstens haben wir den Eindruck, daß die Bundesregierung erneut einen Wunschkatalog zusammengestellt hat, in dem die weiteren geplanten Vorhaben aneinandergereiht aufgeführt worden sind. Es ist aber wiederum versäumt worden, klare Prioritäten zu setzen, geschweige denn die finanziellen Größenordnungen der einzelnen Maßnahmen darzulegen.Der zweite Punkt unserer Kritik wendet sich gegen die Tatsache, daß die Bundesregierung — Sie haben es auch heute wieder hier getan den Eindruck zu erwecken versucht, als sei alles, was sie als Erfolge herausstellt, einzig und allein auf ihre Initiative oder auf die Initiative der Regierungskoalition zurückzuführen.Ich möchte dazu nur wenige Beispiele nennen und komme dabei auch auf die von Ihnen angesprochene Frage der generellen und strukturellen Verbesserung der Kriegsopferversorgung, die Sie ja immer als ein große Leistung der Regierung herausstellen. Was ist denn die Tatsache, meine Herren? Lassen Sie mich dies in aller Ruhe und in aller Nüchternheit einmal sagen: Tatsache ist, daß zu Beginn dieser Legislaturperiode von der Opposition ein Entwurf zur Verbesserung der Kriegsopferversorgung eingebracht wurde, dem im wesentlichen der unter dem vorangegangenen Kabinett bereits ausgearbeitete Referentenentwurf zugrunde lag, welcher wesentliche Verbesserungen vorsah.
Aber hier wird immer auf die Dynamisierung abgehoben, und Sie, Herr Bundesarbeitsminister, lassen sich immer gern als „der Vater der Dynamisierung" feiern. Nun, wie ist auch hier der Verlauf gewesen? Ich darf doch einmal feststellen, daß weder der Regierungsentwurf noch der Koalitionsentwurf, Herr Professor Schellenberg, die Dynamisierung der Kriegsopferleistungen enthielt. Wenn hier schon jemand als „Vater der Dynamisierung" bezeichnet werden soll, dann kommt dies nicht Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, sondern Herrn Professor Schellenberg zu,
der während der Beratungen des Ausschusses die Dynamisierung in die Debatte eingeführt hat.
Heute wird allerdings von dem Vater der Dynamisierung gesagt — auch von ihm leider, ich bedauere dies —, daß uns die Dynamisierung hätte abgerungen werden müssen, weil wir im Ausschuß lediglich die Frage nach der finanziellen Deckung aufgeworfen haben,
weil wir der Meinung sind, daß eine fortschrittliche Sozialpolitik auch eine solide finanzielle Grundlage haben muß.
Aber Herr Professor Schellenberg wird sich erinnern, daß damals selbst der Vertreter der Bundesregierung — nämlich der des Bundesfinanzministeriums — von der Zeugung der Dynamisierung so überrascht gewesen ist, daß er über die finanziellen Auswirkungen keine Auskunft geben konnte. Erst als nach einer Unterbrechung der Sitzung Herr Finanzminister Möller erklären ließ, daß die finanzielle Deckung da sei, hat auch die CDU/CSU sich für die Dynamisierung ausgesprochen und sie mit getragen, und daher, Herr Professor, können wir für uns zumindest die Patenschaft bei diesem Kind in Anspruch nehmen.
Aber ich möchte noch ein zweites Beispiel anführen, Herr Bundesarbeitsminister, das noch deutlicher macht, wie sehr sich diese Bundesregierung bemüht, sich mit fremden Federn zu schmücken. Ich komme auf Ihr Interview vom 18. Juli 1971, in dem Sie übrigens nicht nur dort, sondern auch bei anderen Gelegenheiten — im Zusammenhang mit dem Zweiten Krankenversicherungs-Änderungsgesetz als einen bedeutenden Erfolg den darin fixierten Anspruch auf die Vorsorgeuntersuchung herausgestellt und dazu erklärt haben -- ich darf mit Erlaubnis der Frau Präsidentin zitieren —, daß dies „einen ganz großen Durchbruch zur Gesundheitssicherung und zur Gesundheitsvorsorge darstellt". Das ist richtig, Herr Bundesarbeitsminister. Aber zeigen Sie mir in dem Regierungsentwurf zum zweiten Neuordnungsgesetz die Stelle, in der die Vorsorgeuntersuchungen vorgesehen sind!
Sie werden sie mir nicht zeigen können. Denn Tatsache ist, daß die Vorsorgeuntersuchungen nicht im Regierungsentwurf, sondern in dem bereits vorher von der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf enthalten waren. Tatsache ist, daß die Koalition sogar noch während der Ausschußberatungen versucht hat, diese Bestimmung wieder zu eliminieren. Sie hat sich dann eines besseren belehren lassen.
Tatsache ist, daß nicht nur die Bestimmung über die Früherkennung bestimmter Krankheiten in dieses zweite Neuordnungsgesetz Eingang gefunden hat, sondern auf unsere Initiative hin auch die Anhebung des Krankengeldes und die nochmalige Öffnung der Krankenversicherung für Rentner.Aber, Herr Bundesarbeitsminister, bemerkenswert — allerdings im negativen Sinn — sind Ihre Aktivität und die Aktivität der Bundesregierung und der Regierungskoalition auf dem Gebiet der Vermögensbildung. Sie haben auch dieses Gebiet angesprochen und Ihre Initiative als einen großen Erfolg herausgestellt. Aber das Dritte Vermögensbildungsgesetz brachte doch lediglich eine Verdoppelung des Vergünstigungsrahmens und die Einführung einer Arbeitnehmersparzulage. Beides war nach meiner Erinnerung doch bereits in den von der Großen Koalition unter Beteiligung Ihres Amts-
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Dr. Götzvorgängers, meines Kollegen Katzer, entwickelten vier Modellen zur Vermögensbildung enthalten. Wenn heute auf die erhebliche Erhöhung der Zahl der Tarifabschlüsse über vermögenswirksame Leistungen hingewiesen wird, dann kann das die Bundesregierung nicht als ihr Verdienst in Anspruch nehmen; denn es ist das Verdienst der Tarifpartner, die, aus welchen Gründen auch immer, dieser Art der Vermögensbildung nun plötzlich Geschmack abgewonnen haben.. Herr Wehner, Sie können es nicht bestreiten.
— Dann scheine ich von Ihnen etwas gelernt zu haben.
— Aber alles andere will ich von Ihnen nicht lernen.Sie wissen genau, daß die Industriegewerkschaft Metall am 9. Mai einen Tarifvertrag abgeschlossen hat, der wesentlich dazu beigetragen hat — andere folgten dann ---, die Zahl der vermögenswirksamen Tarifabschlüsse zu erhöhen. Dies geschah aber doch vor der Einbringung Ihres Entwurfs zum Dritten Vermögensbildungsgesetz, das allerdings nicht eine Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital angeregt hat. Gerade dies muß jedoch, so meinen wir, das eigentliche Ziel jeder modernen Vermögensbildungspolitik sein. Dazu hat die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion mit ihrem Beteiligungslohngesetzentwurf einen Anstoß gegeben und nach unserer Meinung ein ausgereiftes Vermögensbildungskonzept vorgelegt.Meine Damen und Herren, aus den vielen Erklärungen des Herrn Bundesarbeitsministers zur Zwischenbilanz seines Hauses möchte ich nur zwei Sätze zitieren:Viele Punkte der vom Bundeskanzler in der Regierungserklärung angesprochenen Punkte sind realisiert worden. Viele Menschen in unserem Lande spüren die Auswirkungen der Reformpolitik am eigenen Leibe.So Herr Bundesarbeitsminister Arendt!Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben recht, aber nicht in dem Sinne, wie es von Ihnen wohl gemeint war, sondern in der Weise, daß in der Tat vor allem die 9 1/2 Millionen Rentner, die Kriegsopfer, die Sparer und die kinderreichen Familien die Fehlleistungen der gegenwärtigen Regierung jetzt am eigenen Leibe zu spüren bekommen haben.
Die von mir genannten Personengruppen haben durch die inflationäre Entwicklung der letzten beiden Jahre ein Absinken ihres Rentenniveaus, einen Vermögensverlust und eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage bis nahe an das Sozialhilfeniveau hinnehmen müssen. Wir haben gewarnt. Wir haben durch konkrete Initiativen versucht, diese Entwicklung aufzuhalten, aber wir stießen dabei nur auf taube Ohren.Lassen Sie mich ein paar Sätze zu Ihrem FünfPunkte-Programm sagen. Ich möchte zunächst feststellen, daß dieses Programm jedenfalls zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung vom Kabinett noch gar nicht beraten und gebilligt war. Dieses vorgelegte Konzept stimmt auch nicht mit Erwägungen überein, die im Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen hinsichtlich der mittelfristigen Finanzplanung bzw. der mittelfristigen Finanzierung von Bundesausgaben angestellt wurden. Es bleibt also noch abzuwarten, ob es bei der Fortschreibung der mittelfristigen Finanzplanung in vollem Umfang Berücksichtigung finden wird. Herr Bundesarbeitsminister, man sollte eigentlich annehmen, daß Sie auf Grund Ihrer für Sie sicherlich bitteren Erfahrungen in der Vergangenheit ich denke an das Weihnachtsgeld — mit Ankündigungen etwas vorsichtiger geworden sind. Die Eile, mit der Sie jetzt dieses Fünf-Punkte-Programm vorgelegt haben, scheint mir ein Ausfluß des schlechten Gewissens auf Grund Ihrer sturen Haltung bei der Ablehnung unserer Anträge zum Vierzehnten Rentenanpassungsgesetz zu sein. Die Vermutung liegt auch nahe, daß bei der voreiligen Ankündigung eben nicht nur das schlechte Gewissen mit am Werke war, sondern daß Sie Ihr Kabinett etwas unter Zugzwang setzen wollten.Solange dieses Fünf-Punkte-Programm noch nicht endgültig vom Kabinett beschlossen ist und in die mittelfristige Finanzplanung Eingang gefunden hat, ist es, Herr Bundesarbeitsminister, nicht mehr als ein weiteres Glied in der langen Kette von Ankündigungen und Versprechungen, die Hoffnungen erwecken, deren Verwirklichung aber noch unsicher ist.Meine Damen und Herren, die Opposition wird sich selbstverständlich einer weiteren Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung, die ja ihr Werk war und ihr Werk ist, nicht verschließen. Im Gegenteil! Wir arbeiten intensiv an einer Weiterentwicklung des Rentenrechts mit. Wir haben dazu z. B. mit dem heute noch zu beratenden Gesetzentwurf über die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige bereits einen Vorschlag gemacht. Heute findet die erste Lesung statt. Wir haben, wie Sie wissen, in dieser Woche zwei weitere Initiativen zur Weiterentwicklung des Rentenrechts eingebracht. Ausgangspunkt für jede solide und konsequente Weiterentwicklung des Rentenrechts bleibt für uns aber die Anhebung des Rentenniveaus und damit die Teilhabe der Rentner am Produktivitätsfortschritt.
Daß es die CDU/CSU damit ernst meint, hat sie mit ihren Vorschlägen zum Vierzehnten Rentenanpassungsgesetz bewiesen.Meine Damen und Herren, der Bundesarbeitsminister bezeichnete in den Presseveröffentlichungen sein Fünf-Punkte-Programm, das offensichtlich zum Wahlschlager des Kabinetts der inneren Reformen werden soll, als die zweite Rentenreform.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7873
Dr. GötzWenn ich mich recht erinnere, hat auch Kollege Wehner diese Bezeichnung aufgegriffen. Diese Formulierung ist sicherlich geeignet, Schlagzeilen zu machen. Aber bei näherem Hinsehen wird doch die Diskrepanz zwischen dem propagandistischen Aufwand, mit dem dieses Konzept an den Mann gebracht wird, und dem, was wirklich dahintersteckt, deutlich. Das beste Beispiel hierfür ist, was sich hinter der angekündigten Reform der Einführung der flexiblen Altersgrenze verbirgt. Ohne hier und heute näher auf die Einführung der flexiblen Altersgrenze einzugehen, möchte ich doch zumindest einmal festhalten, daß nach Ihren Vorstellungen, Herr Bundesarbeitsminister, nur etwa ein Zehntel der 1973 63- bis 65jährigen versicherungspflichtigen Erwerbstätigen von dem Angebot des früheren Rentenbezugs wird Gebrauch machen können. Unter Einbeziehung der freiwillig Versicherten, die die willkürlich gesetzten Bedingungen der flexiblen Altersgrenze erfüllen, ergibt sich ein Potential von maximal 190 000 Personen, die die Arbeit zwei Jahre früher niederlegen können. Die Kosten hierfür — rund 2,5 Milliarden DM — erscheinen mir unangemessen hoch.Ich komme zum Schluß. Damit nütze ich, wie ich sehe, die von mir beantragte Redezeit doch nicht aus; ich halte also mein Versprechen, wie es sich für ein Mitglied der Opposition gebührt.Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor. Eine solide Reformpolitik ist nur möglich, wenn sie auch den volkswirtschaftlichen und den finanzpolitischen Realitäten Rechnung trägt und wenn sie die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit der erwerbstätigen Bevölkerung nicht überfordert. Das gilt allgemein. Das gilt aber im besonderen für die Sozial- und Gesellschaftspolitik. Die Regierung sollte auch die Popularität finanziell aufwendiger und zum jeweiligen Zeitpunkt nicht unbedingt notwendiger Reformen nicht überschätzen, denn in unserem Volk besteht ein waches Bewußtsein dafür, daß Reformen, die übersteigerte Anforderungen an die Volkswirtschaft und an die Belastbarkeit des Bürgers stellen, nicht immer nur ein Segen sind. Die Masse der Arbeiterbevölkerung weiß, daß sie letzten Endes alle Ausgaben zur sozialen Sicherung und alle Reformen über Steuern und Abgaben selbst finanzieren muß. Daher richten wir an die Bundsregierung die dringende Mahnung, künftig nicht mehr wie bisher vor der Öffentlichkeit laut zu denken, sondern erst dann mit Plänen an die Öffentlichkeit zu treten, wenn sicher ist, daß ihre Überlegungen nicht abseits des Realisierbaren liegen. Wenn geweckte Erwartungen in Enttäuschungen umschlagen, Herr Bundesarbeitsminister, dann steht hier nicht nur das Ansehen der Regierung auf dem Spiel, nicht nur das Ansehen der Organe der Gesetzgebung, sondern auch das Vertrauen in unsere demokratische Ordnung. Die großen Aufgaben, die uns die dem ständigen Strukturwandel unterworfene Massengesellschaft stellt, können nur bewältigt werden, wenn Regierung und Opposition gemeinsam einen Weg suchen, der von den Sachnotwendigkeiten bestimmt wird. Spektakuläre, nur auf die Wünsche großer Massen abgestimmte Programme durchzuführen, ist für einen kurzfristigen Zeitraum sicherein leichter Weg für die Regierung, Popularität zu erlangen; aber es zahlt sich nicht aus, wenn dadurch nicht nur das errungene soziale Sicherheitssystem, sondern auch seine sinnvolle und notwendige Weiterentwicklung in Frage gestellt wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Nölling. Es sind 45 Minuten beantragt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Götz haben zum Schluß den Pferdefuß deutlich gemacht, den die CDU-Sozialpolitik eigentlich immer gehabt hat, nämlich zu unterscheiden zwischen Reformen, die unbedingt notwendig sind, und solchen, die nicht unbedingt notwendig sind.
Hier ist meines Erachtens wieder einmal deutlich geworden, daß Sie bei Ihrer Sozial- oder Gesellschaftspolitik immer wieder fragen: „Müssen Reformen überhaupt sein, und in welchem Maße müssen sie sein?" und nicht die Frage stellen, ob Reformen im Interesse der Weiterentwicklung unserer Sozialordnung tatsächlich notwendig sind. Deutlicher als zum Schluß konnten Sie gar nicht zeigen, wo die entscheidenden Unterschiede zur gesellschaftspolitischen Auffassung der Bundesregierung liegen. Siehaben, Herr Kollege Götz - ich glaube, das warnicht anders möglich -, im wesentlichen unvollständig berichtet. Das darf ich vielleicht vorweg sagen. An einigen Stellen möchte ich gezielt auf das eingehen, was Sie hier an Vorwürfen aufgefahren haben. Sie haben häufig einseitig berichtet. Diesen Vorwurf, meine ich, könnte man anbringen, und ich möchte hinzufügen, daß Sie oft auch unrichtig über das informiert haben, was in der Vergangenheit geschehen ist.
--- Ich werde versuchen, Herr Kollege Ruf, das darzustellen.Sie haben häufig ohne Bezug auf das Panorama, das in diesem Sozialbericht gezeigt wird, gesprochen. Dafür habe ich eigentlich nur eine Erklärung, nämlich die, daß Sie entweder den Sozialbericht in seiner ganzen Breite seit Mai nicht mehr gelesen haben — dann haben Sie vielleicht vieles vergessen — oder daß Sie es in letzter Zeit nur noch sehr unvollständig haben tun können.
Aber ich möchte hinzufügen, Herr Kollege Götz, daß Sie nichts dazu beigetragen haben, die Atmosphäre im Parlament und draußen in der sozialpolitischen Auseinandersetzung zu vergiften. Dazu
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7874 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Dr. Nöllinghaben Sie heute erfreulicherweise in Ihrer sachlichen kritischen Art nichts beigetragen.
— Das bringt mich zu Ihnen, Herr Kollege Katzer. Gestern war in der „Bonner Rundschau" nachzulesen, daß der ehemalige Bundesarbeitsminister die Situation der Rentner in der Bundesrepublik wie folgt beurteilt. Als indirektes Zitat berichtete die Zeitung — ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin —:Es sei zudem im Zuge der Ostöffnung dringend erforderlich, daß die Bundesrepublik deutlich mache, daß bei ihr nicht wie in der DDR Rentner nach dem Nutzwert eingeschätzt werden.
Herr Kollege Katzer, wenn Sie das wirklich gesagt haben, dann ist das eine solche Ungeheuerlichkeit, daß ich der Meinung bin, Sie sollten sich hier im Parlament dafür entschuldigen.
Welche parteipolitische Verblendung hat Sie eigentlich dahin gebracht, Ihre Auseinandersetzungen, die Sie innerhalb der Partei haben und die Sie brauchen, um Ihr Image aufzuwerten, zu verwenden, um das traurige Los — das wollen wir hier bestätigen — der Rentner in der DDR heranzuziehen?Ich wundere mich, meine Damen und Herren, wo eigentlich der Herr Kollege Strauß ist. Er möchte doch so gerne wissen, wie es mit dem Reformprogramm aussieht. Wäre er heute gekommen, hätte er schnell und unverzüglich Antwort darauf bekommen können. Aber es ist ja so bei der Opposition im allgemeinen: die Regierung kann tun, was sie will, sie kann sagen, was sie will, es wird von der Opposition weder gelesen noch wird zugehört. Das erleben wir jetzt seit zwei Jahren. Wir haben heute im Grunde durch das, was der Kollege Götz als Grundsatzkritik hier vorgebracht hat, nur erneut den Beweis dafür geliefert bekommen.Wenn ich Minister Ehmke wäre, würde ich die Anfrage in bezug auf Gesellschaftspolitik wie folgt beantworten: erstens, siehe Sozialbericht vom 8. Mai, Seite 1 bis 351, zweitens, siehe Protokoll des Deutschen Bundestages vom 23. September. Das wäre die Antwort.
Was hier in konzertierter Aktion zwischen allen Flügeln der Opposition gespielt wird, meine Damen und Herren, was wir in diesen letzten Tagen erleben, ist nichts anderes als die aus Verzweiflung geborene Sucht,
durch ein Ablenkungsmanöver von den Schwierigkeiten der Opposition abzulenken. So ist es!
Es ist doch der deutschen Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben, meine Damen und Herren, wie führungslos sowohl Parteispitze als auch Fraktion in den letzten Monaten agierten, wie führungslos und praktisch handlungsunfähig Sie sind.
Nur so können wir uns erklären, mit welcher Hektik, mit welcher Unausgegorenheit, ja, um auf den Kollegen Katzer zurückzukommen — ich hoffe ja, daß er sich hier noch entschuldigt —, mit welch einer Sucht, den politischen Gegner auch zu diffamieren, in die Debatte eingegriffen worden ist.Meine Damen und Herren, wer nun nicht hören will, was wir getan haben, wer das auch nicht richtig einschätzt und es nicht würdigen will, der muß auch heute in dieser Debatte einfach noch einmal eingerieben bekommen, was tatsächlich geschehen ist. Das müssen wir dann halt immer wieder machen, obwohl ich mir auch im klaren darüber bin, daß das wahrscheinlich bei der Opposition nicht sehr viel Sinn hat.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Dr. Nölling, würden Sie mir zugeben, daß die fünf Minuten Rede und Giftverstreuen gegen die Opposition sich in der Allgemeinheit vielleicht doch als ein Zeichen dafür ausweisen lassen könnten, daß Sie selbst zur Sache zur Zeit auch nicht viel zu sagen haben?
Ihnen, Herr Kollege Böhme, möchte ich mehr Geduld empfehlen. Ich habe 45 Minuten bekommen. Im übrigen bin ich gar nicht ungezielt und generell gewesen, sondern ich war sehr konkret in bezug auf das, was ich an Ausführungen des ehemaligen Arbeitsministers meinte beanstanden zu müssen.
— Ich entnehme Ihren Zwischenrufen, daß Sie vielleicht sogar noch stolz darauf sind.
Meine Damen und Herren, die als Gesellschaftspolitik verstandene Sozialpolitik dieser Bundesregierung — ich will zu den grundsätzlichen Änderungen und zur Neuausrichtung der Sozialpolitik in dieser Legislaturperiode einiges sagen — ist in den letzten zwei Jahren mit Augenmaß für die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und des Staates
Dr. Nölling
betrieben worden. Sie hat ein spürbares Mehr an sozialer Gerechtigkeit gebracht, die Wachstumsgrundlagen der Wirtschaft verbessert, den sozialen Frieden erhalten und die Umstellung und Anpassung der arbeitenden Bevölkerung an neue Situationen gefördert und erleichtert. Es gelang in Wechselwirkung zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik, die Vollbeschäftigung zu wahren, die Produktivität der Arbeit auf einem nicht erwarteten hohen Niveau zu halten und die reale Lebenssituation der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung in der Bundesrepublik ganz bedeutend zu verbessern. Gegenüber den Angaben des Sozialberichts, die insofern überholt sind — Herr Kollege Götz, das ist richtig —; steigt das Einkommen der Arbeitnehmer in diesem Jahr real um 6 bis 7 %. Es ist im letzten Jahr real um 8 % gestiegen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön, Herr Kollege Franke!
Herr Kollege Nölling, würden Sie diesen Teil Ihrer Rede über die Vollbeschäftigungstheorie und über die Einkommen in Kürze einmal bei den 2100 Klöckner-Arbeitern in Osnabrück und in Hagen-Haspe halten, die von Kurzarbeit bedroht sind?
Wir haben — das ist unbestritten — in einigen Bereichen Schwierigkeiten. Das bedaure ich. Die Vollbeschäftigung ist insgesamt nicht bedroht. Herr Kollege Franke, wir stimmen überein, daß Grundlage unserer Sozialpolitik Vollbeschäftigung sein und bleiben muß. Diese Regierung wird die Vollbeschäftigung garantieren, wie sie es in den letzten zwei Jahren getan hat.
— Sie werden sehen, wo die Garantie ist. Diese Regierung ist bereit und fähig, die Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um genau das zu erreichen.
Das werden Sie sehen, Sie sind ja immer ungeduldig, Sie können ja nie abwarten!
Die mit dem Wirtschaftswachstum verbundenen hohen Lohnsteigerungen haben die Finanzlage der Sozialversicherungsträger in unerwarteter Weise in diesem Zeitraum konsolidiert. Damit werden nicht nur die gesetzlich vorgesehenen Rentensteigerungen auf Grund eingegangener und von uns erweiterter Dynamisierungsverpflichtungen auf Jahre hinaus garantiert, sondern auch Manövriermassen für sozialpolitische Verbesserungen zur Verfügung stehen.Die stärkere Heranziehung der arbeitenden Bevölkerung zu den Ausgaben der sozialen Sicherung — auch das zeigt ja das Sozialbudget — kann aber unseres Erachtens nur dann motiviert werden, wenn das System gezielte Leistungsverbesserungen bringt und so verteilt, daß daran auch die im häufig unbarmherzigen Leistungs- und Abnutzungsprozeß stehenden älteren Arbeitnehmer teilnehmen. Das ist eine der politischen Grundüberlegungen für das Rentenreformprogramm der Bundesregierung.Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Götz ist der Faszination des Sozialberichts nicht erlegen, was ich auch verstehe.
— Ich bin doch dieser Meinung, das sage ich ganz ehrlich. Ich bin fasziniert über das Panorama unserer Sozialordnung und über das, was in dieser Zeit, in diesen zwei Jahren angefangen und weiterentwickelt worden ist. Aber vielleicht muß man unbefangener sein, um das beurteilen zu können, oder man muß einfach Mitglied der Regierungskoalition sein, um das richtig sehen zu können.
Worauf beruht das? Meine positive Beurteilung unserer Sozialordnungsentwicklung beruht auf der Dynamik, mit der Sozialpolitik betrieben wird, und auf der breiten Anlage dieser Sozialpolitik. Ich möchte das an sechs Punkten ganz kurz deutlich machen und dann auf einige Schwerpunkte eingehen.Erstens. Nach zwei Jahren liegt bereits eine imposante Reihe von sozialpolitischen Leistungen vor, die sich teilweise schon seit geraumer Zeit auswirken. Es ist für die Objektivität meines Herrn Vorredners kennzeichnend, daß er darauf fast gar nicht eingegangen ist.Zweitens. Eine Fülle weiterer Maßnahmen wird vorbereitet oder steht kurz vor dem Abschluß. Bitte lesen Sie dazu die Seiten 48 bis 63 des Sozialberichts.Drittens. Die Sozialpolitik erhält durch den weiteren Ausbau des Sozialbudgets und die parallel dazu verlaufende Erarbeitung von Entscheidungshilfen und Entscheidungsgrundlagen vor allem für bisher wenig erforschte Gebiete einen hohen Grad an Rationalität und Effizienz, was nachher für die politische Durchsetzbarkeit entscheidend ist.Viertens. Die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Praxis und die Koordination der häufig nebeneinander laufenden Maßnahmen in der Sozialpolitik, beispielsweise bei der Rehabilitation, hat weitere Fortschritte gemacht.Fünftens. Die Regierung hat erkennbar konfliktbeladene oder nicht überall populäre Projekte in Angriff genommen und dabei vor allem den benachteiligten Randgruppen unserer Gesellschaft größere Aufmerksamkeit als je zuvor geschenkt. Im Sozialbericht wird dies deutlich an Hand der Überlegun-
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7876 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Dr. Nöllinggen zur Verbesserung der Situation der ausländischen Arbeitnehmer, der älteren Arbeitnehmer, der Strafgefangenen, der sozialen Sicherung der in Heimarbeit Stehenden, der Schwerbeschädigten und nicht zuletzt auch der in Berufsausbildung stehenden Jugendlichen.Sechstens. Das Sicherungssystem hat das wurdeaus dem ersten Sozialbericht bereits deutlich — stärkere Züge der Vorsorge erhalten. Die Ausrichtung auf das von uns für richtig gehaltene Finalprinzip hat ebenfalls weitere Fortschritte gemacht.Insgesamt stellen wir mit Befriedigung fest, daß die Sozialpolitik gründlich vorbereitet, umfassend betrieben und zügig durchgeführt wird. Das Regierungsprogramm wird erfüllt. Auch wenn Herr Kollege Götz heute wiederum meinte, hier große Skepsis zeigen zu müssen, wird es erfüllt werden.Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten sich eines merken. Herr Kollege Götz hat wieder nach Prioritäten gefragt. Er hat beklagt, daß wir nicht immer Kostenschätzungen oder Alternativrechnungen vorlegen.
Erstens stimmt das in dieser generellen Aussage nicht. Zweitens müssen wir einfach feststellen: während die Opposition diese Vorwürfe macht, wird die Reihe der von uns verabschiedeten Gesetze immer länger.Lassen Sie mich noch sagen — das klang eben auch an, wenn auch unrichtig —: wir als Sozialdemokraten stellen mit Befriedigung fest, daß durch dieMitarbeit des Parlaments, vor allem des zuständigen Ausschusses, Veränderungen und Verbesserungen fast aller Regierungsvorlagen zur Regel geworden sind. Ich hoffe, daß es dabei auch in Zukunft bleiben wird.
— Sicher ist es nötig, Herr Kollege Ruf. Aber Sie wissen doch, welche Presseerklärung von Ihrer Pressestelle oder von wem auch immer herausgegeben worden ist, als wir uns in die Beratungen zum Betriebsverfassungsgesetz begaben. Das war doch keine Achtung vor der Tätigkeit eines Parlamentsausschusses, wie hier kritisiert wurde, als dieser Ausschuß Änderungen vornehmen wollte. Genau das ist durch die CDU passiert.Welche Schwerpunkte, meine Damen und Herren, werden im Sozialbericht deutlich?Erstens. Wie das Sozialbudget zeigt, werden im Rahmen der vielfältigen sozialpolitischen Maßnahmen trotz der relativ stark steigenden Bruttosozialprodukte in den nächsten Jahren und auch in diesem Jahr die Sozialleistungen noch etwas stärker wachsen, so daß sich die Sozialleistungsquote erhöht, und zwar immerhin von 17,5% im Jahre 1960 auf 21,5 % im Jahre 1975. Diese Zahlen sind natürlich ohne die noch nicht verabschiedeten leistungswirksamen Sozialgesetze der nächsten Jahre errechnet worden.Selbstverständlich kann diese Quote nur das zeigen, was sozialpolitisch quantifizierbar ist. Aber immerhin wird im Zeitraum von 1970 bis 1975, gemessen am institutionellen Sozialbudget, die Leistung der sozialen Sicherung von 135 Milliarden auf 205 Milliarden DM, d. h. um über 50 %, steigen. Und dann sagt der Herr Kollege Götz zu einer solchen Bilanz, sie sei negativ, es habe kein Ausbau stattgefunden usw.
— Nun schön, daran können wir wenig ändern, Herr Kollege Härzschel.
— Das ist eine Unterstellung. Wir haben doch Gesetze beschlossen, Herr Kollege Härzschel — eben ist mit Stolz darauf hingewiesen worden —, die nicht nur zu höheren Kosten, sondern tatsächlich zu einem Ausbau der Pflichtleistungen führen. Daraus erklärt sich doch zu einem großen Teil — ich gebe zu, auch neben den Preissteigerungen — auch das Ansteigen dieser Sozialleistungen.
— Sehr gut, Sie haben ein gutes Gedächtnis, Herr Kollege.Nun etwas zum Sozialbudget als Planungsinstrument. Man kann nun einfach nicht bestreiten, daß die Verzahnung mit den volkswirtschaftlichen Daten außerordentlich weit vorangetrieben worden ist. Sie ist so gut wie vollkommen gelungen. Ich kann mich noch erinnern, daß der Kollege Götz hier im letzten Jahr ausführlich Kritik geübt hat. Heute hat er wieder Kritik geübt, ich meine, an einer bestimmten Stelle in einer sehr sachlichen Form. Ich würde Ihnen zugeben, daß man überlegen müßte, ob man die Abstimmung zwischen Jahreswirtschaftsbericht und den Grundannahmen für das Sozialbudget so gestalten könnte, auch mit der Veröffentlichung des Berichts, daß das alles etwas früher da ist. Aber wir sind uns darüber im klaren, daß diese Zahlen nach einem gewissen Zeitraum immer an Aktualität einbüßen und auch wieder nachvollzogen werden müssen.Aber, Herr Kollege Götz, Sie haben uns den Vorwurf gemacht, wir hätten im Grunde zwar die Verzahnung im Sozialbudget, aber bei unseren Maßnahmen sei sie nicht deutlich geworden. Dann muß ich Sie allerdings fragen: Wenn man die sozialpolitischen Initiativen der Opposition in den letzten zwei Jahren beurteilt, wo ist dabei die Verzahnung der Sozialpolitik mit wirtschaftspolitischen Erfordernissen geblieben? Sie haben doch in diesem Bundestag dauernd Anträge gestellt, die, hätten wir sie angenommen, unseren Staatshaushalt so überstrapaziert hätten, daß allein vom Staatshaushalt eine Welle von Preissteigerungen ausgegangen wäre.
— Das können Sie nicht bestreiten. Wir haben von Ihnen dauernd den Vorwurf gehört, daß der Bun-
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Dr. Nöllingdeshaushalt zu hoch, nicht konjunkturgerecht sei. Das haben Sie in den letzten Tagen auch gesagt.
Und nun kommen Sie mit Anträgen, beispielsweise zur Rentenverbesserung, von denen Sie wissen, daß der Bundeshaushalt dadurch mindestens mit einer halben Milliarde D-Mark zusätzlich belastet werden würde.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte das gern zu Ende bringen.
Würden wir das alles mitgemacht haben, von dem ich doch annehme, daß Sie es in großer Verantwortung getan haben, hätten wir in den Jahren 1970 und 1971 einen Staatshaushalt gehabt, der eine der wesentlichen Quellen für weitere Preissteigerungen gewesen wäre. — Bitte schön!
Herr Kollege Nölling, da Sie die Beweise schuldig geblieben sind, darf ich Sie fragen, ob Sie für die Ausweitung der Ausgaben etwa die von uns geplante Anhebung der Renten um ca. 2,3 Milliarden DM verantwortlich machen wollen. Ober glauben Sie etwa, daß die „staatliche" Ausgabensteigerung besonders durch die Freigabe des Konjunkturzuschlages größer gewesen ist?
Herr Kollege Franke, Sie wissen, daß man das eine nicht ohne das andere sehen kann. Ich habe noch im Ohr, wie Herr Kollege Ruf sich hier bei der letzten Debatte zur Rentenversicherung hingestellt und gesagt hat: Das ist uns völlig egal, darum haben wir uns nicht zu kümmern, das hat die Regierung zu überlegen in bezug auf die Herbeischaffung von Mitteln für die Erhöhung der Kriegsopferrenten. Das habe ich noch gut im Ohr.
Eine weitere Zwischenfrage.
Bitte schön!
Herr Dr. Nölling, Sie sprachen soeben davon, daß die CDU nicht die nötige Vorsorge getroffen habe, in Abstimmung mit der Wirtschaftspolitik Fragen der Sozialpolitik zu bearbeiten. Darf ich Sie in diesem Zusammenhang fragen, wie Sie den Gesetzentwurf ansehen, den wir erneut eingebracht haben, nach dem die Rente vorzeitig angehoben werden soll, weil der Kaufwert der Rente infolge der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung so sehr gefallen ist.
Herr Kollege Böhme, ob dies eine Folge der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung ist, ist die große Frage. Ich habe hier schon einmal behauptet, daß wir genug Anhaltspunkte dafür haben, daß wir im letzten Jahr und in diesem Jahr sehr viel höhere Preissteigerungen hätten, wenn wir Ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik verwirklicht hätten.
Das wiederhole ich hier noch einmal. Dafür haben Sie uns genug Beispiele gegeben.
— Bitte, wiederholen Sie dann die Frage!
Erstens war das keine Antwort, Herr Dr. Nölling,
und zum zweiten möchte ich noch eine Frage stellen: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß bei einem ca. 30%igen Exportanteil am Produktionsumsatz der Bundesrepublik die Frage der Aufwertung die Folgen gehabt hat, die sich hier zeigen, und daß diese Aufwertungspolitik die Politik der Bundesregierung war?
Entschuldigen Sie, die Aufwertung hat ja nun gerade dazu geführt, daß der Preisauftrieb in der Bundesrepublik in den bisherigen Grenzen gehalten werden konnte.
Das ist ganz klar. So funktioniert nun einmal eine Aufwertung. Aber ich verstehe genau, Herr Kollege Böhme: Das haben Sie schon im Jahre 1969 nicht begreifen wollen, und das begreifen Sie auch heute nicht.
— Entschuldigen Sie, das ist keine Arroganz, das ist wissenschaftliche Erkenntnis,
daß eine Aufwertung etwas Gutes ist und eine Abwertung etwas Schlechtes. Das ist keine Arroganz, das ist einfach eine Feststellung.
Zweitens wird man, wenn diese Legislaturperiode beendet sein wird, mit Sicherheit die Ausweitung des Personenkreises, der sozial gesichert ist, als eines der wahrscheinlich wichtigsten sozialpolitischen Ergebnisse feststellen können.Ich will es mir an dieser Stelle ersparen, auf die Einzelheiten einzugehen, die dazu geführt haben, daß viele Millionen Menschen in der Bundesrepublik in den Kreis der sozial Gesicherten einbezogen werden konnten. Sie kennen ja die Fälle im einzelnen. Ich will darauf einfach aus Zeitgründen nicht weiter eingehen.Ich will am Schluß nur eines betonen: Die Forderungen der Sozialdemokratischen Partei aus dem Jahre 1965 in bezug auf die Ausdehnung der Versicherungspflicht in dieser Gesellschaft werden spä-
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Dr. Nöllingtestens acht Jahre danach, d. h. am Ende dieser Legislaturperiode, erfüllt sein.Drittens. Die von dieser Koalition durchgesetzten Leistungsverbesserungen betreffen die Erhöhung und Dynamisierung der Kriegsopferrenten. Das gilt jetzt als selbstverständlich, und die Opposition sagt: Da muß noch mehr passieren. Aber ich kann nur noch einmal auf den Einwurf des Kollegen Schellenberg zurückkommen, daß diese Situation von Ihnen, Herr Kollege Götz, in der Tat falsch geschildert worden ist. Die Initiative ist vom Ausschuß ausgegangen, und insofern gebührt das Verdienst sicher Professor Schellenberg. Aber die Opposition hat sich in tagelangen Beratungen
wir sind in Berlin gewesen — nicht dazu durch-ringen können, — —
— Nun schön. Initiativen dazu hatten Sie gar nicht. Die haben wir gebracht, und da haben Sie nicht gewußt, wie Sie sich verhalten sollten. Als wir die Sache durchboxten, haben Sie sich dann angeschlossen, Herr Kollege Götz. Das ist allerdings richtig.
— Doch!
— Aber entschuldigen Sie einmal, wir haben doch die Entwicklung, die sich für 1970 anbahnte, vorausgeschätzt. Wir haben damals in Abstimmung mit dem Finanzminister gesagt, daß das möglich ist. Die Entwicklung des Jahres 1970 gibt uns voll recht, daß die Dynamisierung möglich war. Daß es notwendig war, bestreitet heute auch niemand mehr.Denken wir beispielsweise an die Abschaffung des Rentnerkrankenkassenbeitrages. Auf diese Weise sind allein in den letzten zwei Jahren 1,6 Milliarden DM mehr in die Rentnertaschen geflossen, als das sonst der Fall gewesen wäre.
— Entschuldigen Sie einmal, ich bestreite nicht die sozialpolitisch unerwünschten Wirkungen von Preissteigerungen.
Mein Vorwurf gegenüber der Opposition ist nur der, daß sie das mit ihrer Politik noch intensiviert hätte, hätten wir das nicht gestoppt. Das ist mein Vorwurf.
Bitte schön, Herr Kollege Katzer!
Herr Kollege Nölling, sind Sie bereit zuzugeben, daß unter der Verantwortung der CDU/CSU-Regierungen noch niemals Preissteigerungsraten in Höhe von 6 0/0 da gewesen sind, sondern daß das einzig und allein ein „Erfolg" Ihrer Regierungspolitik ist?
Herr Kollege Katzer — ich muß das mit aller Schärfe sagen —, warum sind Sie schon wieder einmal unsachlich, hier im Parlament zu behaupten, wir hätten Preissteigerungen von 6 %?
- Nein, die haben wir nicht.
— Entschuldigen Sie, dann verkennen Sie, wie ein Preisindex auf Jahresbasis ausgerechnet wird. Das ist ganz einfach. Die Berechnungen für dieses Jahr werden zwischen 4,8 und 5 % liegen. Das ist jetzt erkennbar und bis zum Jahresende extrapoliert.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Nölling, können Sie bestätigen, daß es gerade unter der Regentschaft des Herrn Katzer so gewesen ist, daß er mit seiner Fraktion die Rentner mit einem Krankenkassenbeitrag in Höhe von 4 % belegen wollte?
Ich bin damals nicht Mitglied dieses Hohen Hauses gewesen. Aber wir haben seiner Zeit mit großer Besorgnis zur Kenntnis genommen, daß solche Pläne innerhalb der Regierung, d. h. innerhalb eines Teiles der Regierung, so muß ich genauer sagen, entwickelt worden sind und — das darf ich auch gleich ergänzend hinzufügen — daß man damals in sehr starkem Maße versucht hat, die Rentenberechnung auf Nettobasis umzustellen. Sie, Herr Kollege Katzer, haben sich dagegen gewandt, soweit ich weiß.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Nölling, Sie sagten, Sie seien damals nicht im Kabinett gewesen. Das ist richtig. Darf ich Sie dann aber bitten, die Kabinettskollegen Ihrer Partei von damals — Herrn Brandt, Frau Strobel, Herrn Wehner; der ist ja hier, der kann das ja gleich sagen — zu fragen, ob es richtig ist, daß das Bundeskabinett mit den Stimmen all dieser Kabinettsmitglieder 4 % beschlossen hat? Alle diese Kollegen haben das mit beschlossen, verehrter Herr Kollege, was Sie soeben in einer Zwischenfrage angeschnitten haben. Würden Sie diese Kollegen bitte fragen, damit das im Deutschen Bundestag endlich einmal offen gesagt wird, statt daß draußen im Lande immer so getan wird, als wenn das unsere Erfindung gewesen wäre?
Mir ist bekannt, daß man 4 % beschließen wollte und daß man durch das Eingreifen der SPD auf 2 % heruntergegangen ist.
— Herr Kollege, das ist eine Tatbestandsfrage, die man im Moment nicht klären kann.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte schön!
Nur um das klarzustellen: An dem Volumen, das diese 4 °/o insgesamt ausmachten, ist nicht ein Pfennig eingespart worden. Statt 2 % haben Sie andere Maßnahmen — z. B. Hinausschiebung des Rentenbeginns, Verbot des gleichzeitigen Bezugs von Rente und Arbeitslosengeld — durchgedrückt.
— Nein, ich wollte nur sagen, daß Ihnen das bekannt sein müßte. Weil Ihnen Ihre Freunde das aber nicht sagen, möchte ich Ihnen das hier mitteilen, damit das endlich aus der Diskussion genommen wird.
Herr Kollege Katzer, wissen Sie, was mir bekannt ist? Zu dem Zeitpunkt, als wir die Abschaffung des Rentnerkrankenkassenbeitrags initiierten — daran haben Sie gar nicht gedacht, nicht wahr; Sie waren zu Anfang zu sehr in Oppositionsnöten, um sich neu zu orientieren —, sind im Ausschuß große Schwierigkeiten gemacht worden — beispielsweise von der Frau Kollegin Kalinke —, als wir mit dem Projekt kamen, als wir wiederum wie bei der Frage der Dynamisierung darauf vertrauten, daß die Wirtschaftsentwicklung positiv weiterginge, daß die Finanzierung der Staatsausgaben und der Sozialversicherung gesichert sein würde. Das ist von Ihnen um die Jahreswende 1969/70 voll und ganz bestritten worden.
Wir sind dadurch, daß wir diese Maßnahme durchgesetzt haben, in unserer Auffassung bestätigt worden, daß wir damals auf dem richtigen Kurs waren. Das wollen Sie heute gern ungeschehen machen.
Ich möchte gern zum Schluß kommen. Vielleicht noch eine Wortmeldung! Dann möchte ich zusammenfassend schließen.
Herr Kollege Nölling, darf ich Ihnen empfehlen, einmal den Leserbrief des damaligen Fraktionsvorsitzenden der SPD, des von Ihnen sehr geschätzten Herrn Helmut Schmidt, im „Spiegel" nachzulesen, worin er sich dazu bekannt hat, daß man von 4 % auf 2 % heruntergegangen ist, dafür selbstverständlich aber andere Nachteile für die Arbeitnehmer in Kauf genominen habe. Helmut Schmidt hat sich dazu in aller Öffentlichkeit bekannt.
Es geht, wenn es sich um andere Nachteile handelt, Herr Kollege Franke, nicht nur um Nachteile für die Rentner.
Das wollen wir bei diesem Programm aber auch einmal festhalten.
— Doch, ich weiß es sehr genau.
Aber es ging, wenn ich mich recht erinnere, nicht nur um die Rentner.Vierter Punkt, meine Damen und Herren! Nachdem die Dynamisierung durch diese Regierung auch auf weitere große Sozialleistungsblöcke ausgeweitet worden ist und die finanziellen Grundlagen dafür langfristig gesichert sind, richtet sich unser Augenmerk nunmehr auf die stärkere Individualisierung und Differenzierung der Leistungen und vor allem auch der Leistungsverbesserungen, d. h. auf die Ergänzung unseres Sicherungssystems durch gezielte gruppenspezifische Maßnahmen, die — das wissen wir — die notwendigerweise linearen Anhebungen und die damit verbundene undifferenzierte Wirkungsweise ergänzen und ergänzen müssen. Im Mittelpunkt — das ist heute durch das, was der Herr Bundesarbeitsminister angekündigt hat, angeklungen — wird in den kommenden Wochen zweifellos das schon mehrfach erwähnte Rentenreformprogramm stehen. Ich habe noch im Ohr, wie Sie im Juni, als ein entsprechender Entschließungsantrag vorgelegt wurde — Sie haben als Opposition, soweit ich mich erinnere, sogar dagegen gestimmt, daß die Bundesregierung dazu aufgefordert werden sollte —, sagten, dazu werde sich diese Regierung nicht aufrappeln. Heute sind von Ihnen wieder Zweifel geäußert worden. Dazu kann ich nur sagen, Herr Kollege Götz: Sie haben sich in der Opposition nun schon zwei Jahre in Geduld geübt und werden sich weiter darin üben.
Sie werden sehen, daß die Ankündigungen realisiert werden.
Vielleicht noch ein paar Worte zu dem Programm der Bundesregierung, den arbeitenden Menschen vor vielfältigen Abhängigkeitsverhältnissen und Gefahren zu schützen. Ich will das jetzt nicht weiter ausführen, meine Damen und Herren. Aber wer von Ihnen hat sich beispielsweise daran erinnert, daß diese Regierung mit Hilfe der Koalitionsfraktionen innerhalb eines Jahres das Betriebsverfassungsgesetz, das wir demnächst verabschieden werden, durchgesetzt hat? Wer hat an diesem Pult hier gestanden und bestritten, daß die Koalition in der Lage sein würde, dieses Gesetz zügig und um-
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Dr. Nöllingfassend zu beraten und zeitgerecht zu verabschieden?
Das sind Sie von der Opposition gewesen. Deshalb haben Sie das Fortgeltungsgesetz damals abgelehnt. Der Kollege Müller hat hier ausführlich begründet, warum.
- Wir werden darüber noch ausführlich debattieren, Herr Kollege Katzer. Sie waren nie im Ausschuß; Sie können das gar nicht wissen.
Sie hüpfen von einem Fernsehschirm zum anderen
- das muß sein , aber im Ausschuß für Arbeitund Sozialordnung haben Sie sich in den vergangenen zwei Jahren noch nicht ein einziges Mal blicken lassen.
Also Sie können doch gar nicht wissen, Herr Kollege Katzer, wie es dort zugegangen ist. Diejenigen Kollegen von der Opposition jedoch, die dabei waren, werden bestätigen, daß wir keine Abstimmungsmaschine betätigt, sondern zügig beraten und Ihre Anträge sachgerecht beraten haben.
— Doch! Das, meine ich, müßte man um der Objektivität willen zugeben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch ein Wort zur Frage der Vermögensverteilung sagen. Hier ist wirklich Geschichtsklitterung betrieben worden, die ich mir, weil ich den Kollegen Götz viel zu gut zu kennen glaube, wirklich nur aus mangelnder Kenntnis des neuen Gesetzes erklären kann. Als der Gesetzentwurf vorgelegt wurde, hat er — da haben Sie recht — bestimmte Dinge nicht enthalten, die wir im Ausschuß hineingebracht hatten. Es waren acht wesentliche, grundsätzliche Verbesserungen im 624-DMGesetz gegenüber der vorhergehenden Fassung. Zu diesen Änderungen hat die Opposition erwiesenermaßen nicht einen einzigen Beitrag geleistet. Sie können doch jetzt nicht sagen, daß das Wesen dieses Gesetzes darin bestanden habe, den Rahmen zu verdoppeln. Das stimmt einfach nicht.
Der Durchbruch zum Erfolg ist dadurch gekommen, daß wir das, was den tarifvertraglichen Abschlüssen im Wege gestanden hat, beseitigt haben. Dadurch konnten die Gewerkschaften überhaupt zum erstenmal sinnvoll Vermögensbildungspolitik betreiben. Das war vorher, wie wir alle wissen, nicht möglich. Daß Einkommensgrenzen in das Gesetz gekommen sind, können Sie doch nicht bestreiten, Herr Kollege Götz. Daß wir das als sozialpolitischen Fort-schritt feiern müssen, können Sie auch nicht bestreiten, und daß wir das weiter ausdehnen müssen, ebenfalls nicht.
Das hat doch mit diesem Vermögensbildungsgesetz begonnen; eine völlig neue Konzeption über die Verteilung von Subventionen an einkommensschwache Bevölkerungskreise. Das hat keine CDU- Regierung vorher auch nur angepackt.
-- Herr Kollege Katzer, das ist nicht lächerlich. Es ist wahr, daß es kein Sozialgesetz gibt, das der Förderung der Vermögensbildung oder der Sparförderung dient, in dem es Einkommensgrenzen gibt, bis auf dieses Gesetz. Das hat es vorher nicht gegeben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön!
Herr Kollege Dr. Nölling, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß das 624-DM-Gesetz keinen Beitrag dazu leistet, die Verteilung des Produktivkapitals in der deutschen Wirtschaft zu verändern, daß im Gegenteil diese Form der Vermögensbildung nur die bestehende Verteilung erhärtet, und würden Sie mir auch zustimmen, daß der Gesetzentwurf der CDU/CSU über den gesetzlichen Beteiligungslohn seit über einem Jahr vorliegt, während die Regierung nur Absichtserklärungen abgegeben hat?
Herr Kollege Vogt, ob dieses Gesetz die bestehende Einkommensverteilung verhärtet, das will ich zunächst einmal dahingestellt sein lassen. Es soll vom Prinzip her, wenn es sich um zusätzliche Löhne handelt, die gespart werden, das Gegenteil bewirken. Ich sage: vom Prinzip her. Ob das in der Realität geschieht, werden wir noch sehen. Ich stimme Ihnen zu, daß man in bezug auf diese Frage, die Sie konkret gestellt haben, Beteiligung am Produktivvermögen, sehr wohl Zweifel haben kann und haben muß. Aber das hat uns in der Debatte im letzten Jahr auch dazu geführt, zu behaupten, daß wir mit dieser Novellierung einen ersten Schritt tun.
— Ja, in unserer Regierung. Herr Kollege Katzer, Sie wissen doch, damals ist nichts passiert. Das ist doch Augenwischerei gewesen.Herr Kollege Vogt, Sie wissen genausogut wie ich, daß in der Zeit, in der die CDU die Regierungsverantwortung gehabt hat, steuerpolitische Maßnahmen getroffen worden sind, die in der Tat die Vermögensverteilung unendlich verzerrt haben und
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Dr. Nöllingsie zuungunsten der Arbeitnehmer sich hat entwickeln lassen.
Das ist doch viel bedeutungsvoller gewesen. Das ist so, Herr Kollege Katzer. Wenn Sie demnächst Zeit haben, dann lesen Sie doch bitte den Vermögensbildungsbericht. -- Ach nein, den hat die Opposition längst; das ist ja so üblich. Dann lesen Sie bitte mal, was die neue Bundesregierung dazu sagt, was vorher in bezug auf Verteilungsgerechtigkeit in diesem Staat steuerpolitisch gesündigt worden ist. Dann haben Sie ein 312-DM-Gesetz gemacht, und das war absolut wirkungslos bis zum Gesetz aus dem Jahre 1970.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Urbaniak?
Ja, bitte schön!
Kollege Nölling, können Sie bestätigen, daß bei der Anhörung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung die Sachverständigen zur Vermögensbildung die Konzeption des Vermögensbildungsgesetzentwurfs der CDU/CSU überwiegend abgelehnt haben, weil sie zu nichts führt?
Ja, Herr Kollege Urbaniak, das ist ja klar. Der Gesetzentwurf trägt ja sozusagen den Stempel der Unsolidität auf der Stirn.
Dieser Gesetzentwurf ist nicht praktikabel. Wir können uns noch erinnern, wir debattierten über das 624-DM-Gesetz, und am Abend vorher — oder: zwei Abende vorher; ich will da genau sein — hatte sich Ihre Fraktion sehr schnell darauf geeinigt. Danach waren viele Kreise innerhalb Ihrer Fraktion der Meinung, daß diesem Gesetzentwurf Recht widerfahren sei, als er aus den Gründen, die wir kennen, nicht weiter behandelt wurde. Die ganzen Mittelstandsleute bei Ihnen sind z. B. der Meinung, daß das ein schlechter Gesetzentwurf ist.
Ich bin auch der Meinung, daß dieses Gesetz die Verteilung des Produktivvermögens in der Tat nicht wesentlich ändern würde.
-- Das ist strittig.
— Nun ja, ich habe Ihnen ja zugegeben, daß man da verschiedener Meinung sein kann. Aber es ist ein Schritt geworden, der dazu führen wird — —
— Nun unterbrechen Sie doch nicht immer, Herr Kollege Franke! — Ja, aber als ich das schrieb, war das Gesetz noch nicht novelliert, Herr Kollege Franke.
Bitte schön!
Herr Kollege Dr. Nölling, wie erklären Sie sich die Tatsache, daß die Bundesregierung bisher noch keinen Gesetzentwurf zur Veränderung der Verteilung des Produktivkapitals vorgelegt hat, obwohl in der Zeit der Großen Koalition unter den beteiligten vier Ministerien vier Modelle so konkret ausgearbeitet worden sind, daß damals die begründete Hoffnung bestand, daß 1970 ein Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag eingebracht werden könnte?
Nun, Sie haben auf die Modelle abgestellt, Herr Kollege Vogt. Das waren Denkmodelle, weil man überhaupt endlich einmal Alternativkonzeptionen erarbeiten wollte. Das ist in Zusammenarbeit geschehen. Mit den Modellen selbst ist aber damals keine politische Entscheidung verbunden gewesen.
— Ja, es war vorbereitet, und die Tatsache, daß das noch nicht viel weiter ist, hängt einfach damit zusammen, daß das Problem wirklich abgeklärt werden muß. Das ist schwierig; wir wissen es. Herr Kollege, Sie können natürlich darüber lachen, aber Sie werden sehen, daß Ihnen das Lachen vergehen wird. Diese Regierung wird demnächst einen Vermögensbildungsbericht vorlegen, und darin wird sehr konkret stehen, welche Initiative wir in der Vermögensverteilung ergreifen. Machen Sie uns doch bitte nicht den Vorwurf, wir hätten nun schon zwei Jahre daran gearbeitet, nachdem Sie in 20 Jahren auf diesem Gebiet überhaupt nichts getan haben.
Das ist einfach eine Tatsache, und daran können Sie nicht deuteln.
— Entschuldigen Sie, wenn ich darauf jetzt nicht weiter eingehe; ich möchte jetzt zum Schluß kommen.Meine Damen und Herren, die Debatte heute hat deutlich gemacht: wir haben nach wie vor unterschiedliche Meinungen über die Sozialpolitik, über das Gewicht der Sozialpolitik innerhalb unserer gesamten Regierungspolitik. Das ist deutlich geworden. Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, daß die Neuausrichtung der Sozialpolitik von uns eingeleitet wurde. Ich kann Ihnen versichern, meine Damen und Herren von der Opposition, diese Politik werden wir noch Jahre weiter betreiben,
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Dr. Nöllingund dann wird die Bundesrepublik schon bald vonkeinem Land der Welt auf irgendeinem wichtigenGebiet der Sozialpolitik mehr übertroffen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eine Feststellung treffen: Das Frage- und Antwortspiel der letzten 20 Minuten, das sich mit der besonders schwierigen sozialpolitischen Situation von 1967 bis 1969 befaßte, hat wohl deutlich bewiesen, wie gut es ist, daß wir heute wieder andere Situationen, daß wir andere Mehrheiten in diesem Hause haben, und hat wohl auch deutlich bewiesen,
deutlich bewiesen, Herr Kollege Müller, daß es jetzt wieder möglich ist — daraus rühren ja die Auseinandersetzungen über die Vergangenheit her —, in diesem Hause eine fortschrittliche Sozialpolitik zu machen. Ich darf gleich eingangs sagen, daß der vorliegende Sozialbericht das beste Material für die weitere Arbeit auf diesem Gebiet im Sinne der Regierungserklärung darstellt.
Herr Kollege Dr. Götz, wenn Sie vorhin zu Beginn Ihrer Ausführungen geäußert haben: „viele Worte, wenig Konkretes", so muß ich sagen, als Sie — ich gebe gern zu: unter Unterschreitung Ihrer Redezeit — endeten, mußte ich feststellen: keinerlei Alternativen, keinerlei Konkretes, was ja immerhin zu erwarten gewesen wäre. wenn man am Anfang die Behauptung aufstellt, der Bundesarbeitsminister habe bei seiner Vorlage, bei seiner Rede und auch im Sozialbericht nichts Konkretes aufgewiesen. Wo sind die Alternativen geblieben, wenn Sie eine solche Kritik hier von dieser Stelle äußern?
Das einzige, Herr Kollege Dr. Götz, was ich herausgehört habe, war der Vorschlag an die Bundesregierung, eine Denkpause einzuschalten, etwas länger nachzudenken.
— Nun, Herr Kollege Dr. Götz, ich habe es jedenfalls herausgehört. Mit Denkpausen haben wir so einige Erfahrungen. Es war ja der Vorgänger des Bundesarbeitsministers, der erst einmal eine Denkpause einschaltete, und am Ende einer Denkpause stand all das, was vorhin im Frage- und Antwortspiel als Problematik der Jahre 1967 bis 1969 aufgetaucht ist und bei dem sich die Bundesregierung und die jetzigen Regierungsfraktionen, Herr Kollege Katzer, bemühen, die Dinge wieder in einevernünftige Richtung zu bringen. In einigen Punkten ist das bereits geschehen.
— Wir haben aber schon damals diese Denkpause— das wissen Sie sehr genau, ich kann mich sehr genau daran erinnern — sehr kritisiert. Ich kann Ihnen die Rede gern zuschicken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Sozialbericht selbst zurückkehren. Herr Kollege Nölling ist auf eine ganze Reihe von Dingen eingegangen. Ich werde im Rahmen meiner Ausführungen noch einige Bemerkungen zu dem machen, was hier von der Opposition gesagt wurde. Zunächst einmal stellen wir Freie Demokraten fest, daß dieser Sozialbericht genau dem entspricht, was mit folgenden Worten in der Regierungserklärung steht:... durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.Diese Ankündigung in der Regierungserklärung ist mit dem vorliegenden Sozialbericht für uns Freie Demokraten hervorragend erfüllt. Denn er geht wesentlich detaillierter sowohl auf das Zahlenmaterial als auch auf die Vorhaben ein. Er gibt damit also den Betroffenen und allen, die sich mit Sozialpolitik besonders befassen, die Möglichkeit, sich in die Diskussionen einzuschalten, rechtzeitig die Dinge mitzugestalten und mit zu überlegen, die in der Entwicklung sind. Er beschränkt sich auch nicht auf Zahlen und Daten, sondern er legt auch die Tendenzen mit all ihrer Problematik vor, die diese Bundesregierung und die Regierungsfraktionen auf Grund dessen, was in der Regierungserklärung steht, in der Sozialpolitik in den nächsten Jahren vor sich sehen.Darüber hinaus ist er auch für die breite Öffentlichkeit, auch für alle, die draußen die sozialpolitischen Entwicklungen mit Sorge und mit Erwartungen betrachten, ein hervorragendes Nachschlagewerk. Es kann sich mit früheren nicht nur messen, sondern geht weit über das hinaus, was früher in dieser Richtung vorgelegt worden ist. Diese Feststellung treffen wir mit einer besonderen Genugtuung, auch deshalb, weil ja zum erstenmal bereits Geleistetes der letzten zwei Jahre, bereits im Gesetzgebungsverfahren Vorliegendes und weitere Vorhaben der Bundesregierung konkret angesprochen werden. Das stellt — da muß ich dem Kollegen Götz noch einmal widersprechen — zweifellos eine stolze Bilanz der zweijährigen sozial-liberalen Koalition dar, die sich wohl messen kann an 20 Jahren Sozialpolitik unter einem Minister der heutigen Opposition.
Hier ist, glaube ich, der Vergleich einmal zu ziehen: was ist in zwanzig Jahren geschehen, und was ist in zwei Jahren durch diese Koalition im
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Schmidt
sozialpolitischen Bereich geschehen? Da können Sie, Herr Kollege Franke, den Kopf schütteln.Nun, immerhin ist im Rahmen des Krankenversicherungs-Änderungsgesetzes endlich Gerechtigkeit bezüglich des Arbeitgeberanteils für Angestellte erreicht worden, Gerechtigkeit, die Sie immer versprochen haben, aber die unter einem von Ihrem Minister geführten Haus in dieser Frage nie herbeigeführt wurde, obwohl wir Freien Demokraten seit Jahren das als eine notwendige Lösung ansahen. Immerhin ist der Bereich der Vorsorge konkret, mit Gesetzesmaßnahmen angesprochen worden und nicht nur mit Rechtsverordnungen, die je nachdem, wie es gerade geht, laufen können. Immerhin ist und das muß noch einmal gesagt werden, weil vorhin wieder dieses Streitgespräch war: wie sah es denn nun zwischen 1967 und 1969 im Kabinett und da und dort aus —, immerhin ist einiges von dem sofort korrigert worden, was damals leider nicht gemacht werden konnte bzw. falsch gemacht wurde. Der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag ist abgeschafft worden, und die Rentnerversicherung ist deshalb nicht pleite gegangen, sondern hat im Gegenteil eine hervorragende Bilanz, über die wir uns ja heute vormittag noch beim nächsten Tagesordnungspunkt unterhalten werden. Im Bereich der Kriegsopferversorgung haben wir die Dynamisierung eingeführt, die dringend notwendig war und die Ihr Minister seinerzeit sozusagen abschreiben wollte, weil es die CDU/CSU war, die damals den § 56 am liebsten aus dem Bundesversorgungsgesetz herausgebrochen hätte, um Berichte und damit Anpassungsnotwendigkeiten in der Kriegsopferversorgung vor sich her zu schieben. Die Diskussion haben wir ja oft genug geführt; aber es muß im Rahmen der Bilanz vielleicht wieder einmal gesagt werden.Lassen Sie mich noch einen Punkt herausgreifen. Ich habe mir ja keine längere Redezeit erbeten; ich will also in fünfzehn Minuten fertig werden. Lassen Sie mich daher nur noch einen Punkt herausgreifen, nämlich den Bereich Vermögensbildung. Vorhin wurde von dem Kollegen Dr. Götz von dem „ausgereiften Plan" gesprochen, den die Opposition vorgelegt habe. Die „Reife" dieses Planes — oder die Überreife dieses Planes — scheint mir doch sehr problematisch. Denn von den Betroffenen, von der Wirtschaft bis zu den Gewerkschaften, vom Handwerk bis zu allen, die in irgendeiner Form betroffen gewesen wären, haben alle zu diesem Plan nein gesagt. Ich frage mich nur, wo da die „Reife" dieses Planes ist. Alle hatten nein gesagt. Wie der Beschluß zustande gekommen ist, dazu hat der Kollege Nölling vorhin schon etwas gesagt. Zu Stellungnahmen werden wir ja im Ausschuß noch Gelegenheit haben. Ob es nun die Vorstellungen des Zentralverbands des Handwerks oder der Bundes-Vereinigung der Arbeitgeber oder der Gewerkschaften sind, aus allem geht hervor, daß dieser Plan, der sogenannte Burgbacher-Plan, keine Lösung ist. Deshalb sollte man sehr vorsichtig sein, wenn man so etwas eine „ausgereifte Vorlage" nennt.Ich will es mir versagen, auf das Fünf-Punkte-Paket zur Rentenversicherung einzugehen, weil wir anschließend eine Debatte zur Rentenversicherunghaben und dann dazu sicher noch etwas zu sagen sein wird; wir müßten uns dann nur wiederholen.Kurz möchte ich aber noch zu einem Vorwurf etwas sagen, der auch immer wieder kommt. Einmal heißt es: Ihr habt 1969 Reformen versprochen, aber sie kommen nicht. Dann heißt es: Ihr seid in den Beratungen so hektisch. Nun, der Sozialbericht zeigt deutlich die Möglichkeiten und die notwendigen Überlegungen auf, die von Fall zu Fall angestellt werden müssen, um das konkret durchzuführen und zu erfüllen, was in der Regierungserklärung nicht nur versprochen, sondern als zu erfüllende Aufgabe vorgesehen ist. Wir Freien Demokraten jedenfalls vertreten keine Gesetzgebung im Hoppla-hopp- oder im Hauruck-Verfahren, gerade im sozialpolitischen Bereich nicht. Aber wir lassen uns auch nicht von einer systematischen und zügigen Gesetzgebungsarbeit mit dem Vorwurf der Hektik von denen abbringen, die in der Sache dagegen sind und auf diese Weise entsprechende Lösungen verhindern wollen. So, meine sehr geehrten Damen und Herren, muß ich diesen Vorwurf der Hektik, der manchesmal kommt, sehen, und so gedenken wir Freien Demokraten ihn zu erwidern.Wir begrüßen es auch ganz besonders — und ich stimme zu, daß das im Bericht kein Novum ist —, daß der Bericht die Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik deutlich wieder aufzeigt, daß er natürlich auch deutlich davon ausgeht, daß alles, was im gesellschafts- und im sozialpolitischen Bereich von uns an Vorstellungen und Reformen gewünscht wird und vorgesehen ist, auch in den materiellen Rahmen hineinpassen muß, ob das jetzt der Bereich der Rentenversicherung ist, ob es die Bereiche sind, die den Haushalt stärker tangieren oder nicht.Auf alle Fälle — damit darf ich schließen, meine sehr geehrten Damen und Herren — stellen wir Freien Demokraten mit Befriedigung fest, daß sich der Sozialbericht sowohl in seiner inneren als auch in seiner äußeren Darstellung wohltuend von manchen der Vergangenheit abhebt, daß er die Dinge wesentlich detaillierter anspricht. Ich möchte namens meiner Fraktion dem Bundesarbeitsminister und seinem Haus für diese hervorragende Materialzusammenstellung für die künftige Sozialgesetzgebung und die künftigen Überlegungen danken und nur bitten, daß der nächste Sozialbericht die Fortschreibung der Entwicklung in ähnlicher Form darstellt. Sie dürfen sicher sein, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß dann der Erfolgskatalog nach dem dritten Jahr dieser Bundesregierung noch um ein Erkleckliches weiter sein wird, als es erfreulicherweise schon für zwei Jahre im Bericht nachzulesen ist.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Kalinke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wer die Debatte bis jetzt mit angehört hat, muß eigentlich tief ent-
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Frau Kalinketäuscht und ein wenig erschüttert sein über das Niveau, über die Vorwürfe, aber auch über die Eitelkeiten mancher Regierungssprecher. Wenn die jetzige Regierung meint, wir hätten hier eine Stunde der Diskussion über Sozialpolitik wie etwa in jenen dunklen Tagen des Zusammenbruchs, als wir am Tage null mit der Debatte über soziale Sicherheit angefangen hatten, muß daran erinnert werden, daß immerhin nicht diese Regierung, sondern die Regierungskoalition unter der Führung der CDU vorher zwei Jahrzehnte lang erst die Grundlage der sozialen Reformen geschaffen hat.
Es sollte der gute Stil in dieses Haus wieder einkehren, daß große Fragen der sozialen Sicherung unseres Volkes wie der Kriegsopferversorgung oder der Sicherung des Niveaus der Renten mit der Zustimmung aller Fraktionen hier besprochen und beschlossen werden. Es sollten nicht Empfindlichkeiten auftreten, die darin zum Ausdruck kommen, daß der eine sagt, er sei früher dagewesen, der andere sei erst später gekommen, er habe einen besseren Gedanken. Die Regierung sollte nicht sagen, daß alles, was von der Opposition kommt, tabu sei und alles, was von ihr komme, besser sei. Es ist nicht richtig, Herr Nölling, dafür zu sorgen, daß die Vorschläge der Opposition, die dem Ausschuß vorliegen, zurückgestellt und nicht beraten werden, bis die Regierung mit ihren Vorschlägen kommt.Ich will mich weder in das Niveau noch in die demagogische Form der Auseinandersetzung einschalten, sondern einige grundsätzliche Bemerkungen zu dem machen, was der Herr Minister gesagt hat und was hier in der Debatte ausgeführt worden ist.
Frau Abgeordnete, gestatten sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich habe eine sehr kurze Redezeit; hinterher gern. Herr Schmidt, jetzt nicht. Es wird nicht so wichtig sein; Sie können mich später fragen.
Meine sehr verehrten Herren und Damen, wir stehen doch alle vor der Notwendigkeit, in einer sich täglich wandelnden Welt über Reformen zu sprechen. Darüber gibt es doch überhaupt keinen Streit. Ich stimme Ihnen, Herr Minister, darin zu, daß Sozialpolitik natürlich einen vorausschauenden, vorbeugenden und gestaltenden Charakter haben muß. Darüber sollte es bei Kennern der Materie und bei verantwortungsbewußten Sozialpolitikern keinen Streit geben.
Es sollte auch keinen Streit darüber geben, daß sozialpolitische Reformen eine permanente Aufgabe sind. Wenn Sie von der doppelten Aufgabe der Reformen sprechen, so erinnert mich das an Formulierungen, die ich früher schon einmal gelesen habeund hinsichtlich derer wir mit Sicherheit übereinstimmen: Sozialpolitik soll negative Auswirkungen des wirtschaftlichen und technischen Handelns verhindern und beseitigen. Das ist nicht neu. Weil ich hier einen Diskussionsbeitrag leiste, habe ich kein Material über solche Formulierung mitgebracht. Sonst könnte ich Ihnen vorlesen, wann und wo ich das schon einmal gelesen habe.
Der Unterschied scheint doch nur darin zu bestehen, daß wir über das, was sofort oder vorab geschehen muß, über die Mittel, die Eile, die Wege zum Ziele hin, die Kosten und die Auswirkungen sehr unterschiedliche Auffassungen haben. Und über diese unterschiedlichen Auffassungen muß man ohne jede Demagogie diskutieren können.Der Kollege Nölling hat hier von „Pferdefüßen" gesprochen mit Bezug auf unseren Hinweis, daß es Reformpläne gibt, die man jetzt erledigen muß oder kann, aber auch solche, die man danach erledigen muß oder kann. Nun ist es ja nicht so, daß man der CDU, wie es jetzt in vielen Diskussionen draußen und auch mit Besuchern dieses Hauses tagtäglich geschieht, sagen kann: Wir, die Regierungsparteien, wollen Reformen, die CDU ist gegen Reformen. Die CDU hat als Regierungspartei in diesem Hause zwei Jahrzehnte lang Reformpolitik betrieben. Ich frage mich, woher die FDP den Mut nimmt, hier fortgesetzt zu sagen: Sehr richtig, Herr Nölling, sehr richtig, Herr Schellenberg, sehr richtig, Herr Kollege, sehr richtig, Herr Minister — wir unterstützen alles, was Sie sagen. Ich habe es noch ganz anders im Ohr.
Deshalb möchte ich hier nur folgendes sagen. Gerade in der Prüfung von Prioritäten bzw. in der Entscheidung über Prioritäten oder über notwendige Voraussetzungen der Reformen liegt doch das Problem unserer Auseinandersetzung. Hier geht es doch um ein Stück dessen, was für die künftige Sozialpolitik um der Menschen in unserem Land willen, um der Steuerzahler, um der Beitragszahler, vor allem aber um der Alten und der Rentner willen so dringend nötig ist, nämlich um das Stück Solidität, das die Voraussetzung für alle Berechnungen im Hinblick auf sozialpolitische Maßnahmen ist. Es ist auch eine seltsame Auffassung von Demokratie, wenn man sagt, daß eine sozialdemokratische Opposition, wenn sie Anträge zur Verbesserung stellt, sozialpolitisch höchst verantwortlich handelt, daß aber eine christlich-demokratische Opposition, wenn sie Anträge zur Verbesserung stellt, den sozialen Fortschritt stört oder die Ruhe, die für die ungestörte Erreichung eines geplanten Zieles notwendig ist, ein wenig unterbricht.Ich bin hier an dieses Rednerpult getreten, weil ich ein ernstes Wort der Warnung an alle, besonders aber an die Regierung richten möchte. Ich warne davor, mit Schlagworten soziale Enttäuschungen zu erzeugen.Ich will das an wenigen Beispielen erläutern. Es wird fortgesetzt von der flexiblen Altersgrenze gesprochen und geschrieben. Der Herr Minister hat uns dankenswerterweise wieder ganz deutlich be-
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Frau Kalinkestätigt: Es geht gar nicht um flexible Altersgrenzen, es geht um die Vorziehung der Altersgrenze auf 63 Jahre. Das ist ein erster Schritt, den wir durchaus positiv bewerten, wobei wir aber sehr sorgfältig abwägen werden, wem diese Maßnahme wirklich zugute kommt und was sie wirklich kostet.Ein zweites Beispiel. Es wird immer wieder von „Hausfrauenrenten" geredet, obwohl doch kein Sozialpolitiker dieses Wort in den Mund nehmen sollte. Auch wir haben es immer für notwendig gehalten und wir sagen es heute wieder —, daß auch die nicht berufstätige Frau eine eigenständige soziale Sicherung haben muß. Unendlich viele haben sie dank der Verantwortung des Ehemannes, der eine Lebensversicherung für seine Frau abgeschlossen hat oder ausreichende freiwillige Weiterversicherungsbeiträge bezahlt. Viele haben sie nicht, weil diese Planung für die soziale Sicherung der Ehefrau weder in der jungen noch in der älteren Ehe schon in dem Maße geschieht, wie es nötig ist. Darum darf ich Sie bitten, nicht mehr von „Hausfrauenrenten" zu reden und nicht Versprechungen zu machen, von denen sich alle Frauen nun eine Staatspension erwarten, während sie doch in Wirklichkeit — darin stimmen wir wohl auch überein — nur eine Rente bekommen können, wenn sie lange Jahre hindurch ausreichende Beiträge bezahlen.Ein drittes Beispiel. Sprechen Sie doch nicht von einer „totalen sozialen Sicherheit" für die armen Frauen, die als geschiedene Frauen unversorgt sind! Glauben Sie doch nicht, daß ein Rentensplitting das Problem der Versorgung der geschiedenen Frauen lösen kann!
Es ist ein Teilstück auf dem Wege zur Lösung dieses Problems.Ich werde mich nicht verleiten lassen, diese Themen jetzt hier abzuhandeln. Aber im Interesse vieler Staatsbürger, im Interesse unserer sozialen Sicherheit und auch im Interesse der demokratischen Glaubwürdigkeit möchte ich Sie wirklich bitten: Informieren Sie auch über die Mittel der Regierung, die ja. Mittel der Steuerzahler sind! Informieren Sie seriös! Informieren Sie Rentner und Beitragszahler so, daß nicht aus falschen Vorstellungen größte soziale Enttäuschungen kommen, deren Folgen wir alle tragen müssen, wenn darunter die Demokratie und die Glaubwürdigkeit von Parlamentarierern und politischen Parteien leiden.Auch hierzu will ich Ihnen ein Beispiel sagen. Mir ist in diesen Tagen mit vielen Briefen das Rentnerflugblatt, das Sie hier in Bonn bei der SPD gedruckt haben und von dem ja sicher der Minister etwas weiß — wenn nicht, sollte er ihm sofort ein aufklärendes, richtiges Flugblatt folgen lassen —,
zugestellt worden. Ich will Ihnen dazu nur einige Worte sagen: Der CDU wird darin unterstellt: Das System der regelmäßigen Rentenanpassung an die Gehälter darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. — Wer will denn diese Anpassung aufs Spiel setzen? Wir wollen sie doch verbessern! Wir möchten gerndie Wahlversprechen beider großer Parteien von 1957 erfüllen und dem näherkommen.Gestern hat der Kollege Killat in einer Diskussion vor einem Kreis von Gewerkschaftlern erklärt: „Die CDU hat ja 20 Jahre Zeit gehabt!" — Das hören wir nun landauf, landab. Die CDU hat in 20 Jahren leider auch manchen vernünftigen Antrag der SPD nicht verwirklichen können und manchen vernünftigen Antrag aus den eigenen Reihen zurückstellen müssen, weil damals die Kassen der Rentenversicherungsträger leer waren. Wir haben uns bei den Finanzänderungsgesetzen gemeinsam um eine solide Grundlage für die Finanzierung der Rentenansprüche von morgen bemüht. Diese solide Grundlage sollte die Ausgangsbasis der Diskussionen nicht nur hier im Hause, sondern auch draußen sein.
Ein Zweites aus Ihrem Flugblatt. Dort heißt es: „CDU und CSU wollen das Finanzsystem der Rentenversicherung leichtfertig aufs Spiel setzen. Die Opposition muß ja auch nicht bezahlen!"
Meine Herren von der Regierung, bezahlen müssen die Beitragszahler und ihre Arbeitgeber!
Bezahlen müssen die Steuerzahler! Aber Sie bezahlen doch nicht als SPD /FDP-Koalition! Wer von Ihnen und von uns Beitrags- und Steuerzahler ist — ich z. B. bin beides —, der weiß das. Wir bezahlen die Zeche für Plane, von denen wir wissen möchten, was dabei herauskommt.Sie sprechen in diesem Flugblatt von „Oppositionstricks". Für einen ernsthaften Politiker sollte es viel zu billig sein, sich mit solchen Trick-Methoden zu befassen. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, ein solches „billiges Flugblatt" ist bei dem großen Mangel an Information über sozialpolitische Zusammenhänge und Hintergründe in unserem Lande ein Flugblatt, das Gift sät, und in einer Zeit, in der schon genug Mißtrauen in unserem Volke wegen unklarer politischer Wege und Ziele innen und außen — aus vielen Gründen — vorhanden ist, sollte nicht noch mehr Gift gesät werden. Hier geht es nicht um Tricks der Opposition! „Tricks" nenne ich, wenn im Flugblatt der SPD folgendes steht: „Viele Renten sind einfach zu niedrig, z. B. die Mindestrenten für Frauen, die jahrelang ihre Kinder erzogen haben und deshalb nur wenige Jahre im Beruf Rentenversicherungsbeiträge zahlen können." Seriös nenne ich das, was der Minister heute im Gegensatz zum Flugblatt seiner Partei gesagt hat, nämlich daß er nur den Versicherten mehr versprechen kann, die 35 anrechnungsfähige Versicherungsjahre haben. Wir können darüber reden. Meine Freunde meinen, 25 Jahre sind genug. Ich glaube, daß gerade die Frauen, die berufstätig sind, die 35 Jahre kaum erreichen können, weil es ja Versicherungsjahre sein müssen, die mit Beiträgen gedeckt sind. Darüber kann man doch sachlich und verantwortungsbewußt diskutieren. Aber man kann und darf heute nicht sagen: Alle, die kleine Renten kriegen, weil sie keine Versicherungsbeiträge zah-
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Frau Kalinkelen konnten, warum auch immer, werden jetzt mehr bekommen, wobei man gleichzeitig verschweigt, was man später sagt: wenn sie 35 Jahre gezahlt haben. Wer soll ihnen denn die 35 Beitragsjahre zahlen? Der Steuerzahler, der Staat, der Nachbar an der Ecke, wer denn? Dazu würde ich sehr gern etwas von Ihnen hören.Als in Fach- und Wirtschaftskreisen der CDU, aber auch von Professoren für die ich keine Sprecherin bin — sehr ernsthaft die Frage des Bezuges von Netto- und Bruttorenten diskutiert wurde, hat man sich auf der Linken überschlagen; daß überhaupt jemand es wagte, vom Wert einer Nettorente zu sprechen, während heute der DGB und sozialdemokratische Kollegen in aller Öffentlichkeit anderes sagen, wir erleben zur Zeit manch sehr interessantes Spiel mit Brutto- und Nettorenten, „höhere Beiträge sind nicht mehr tabu" und „Nettorenten seien ja viel höher". Früher las man es anders und hörte man es anders. Ich würde mich immer dieser Diskussion stellen, weil in unserer sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Wirklichkeit der Begriff des Nettoeinkommens und der Nettorente vor allem aber der Kaufwert aller Einkommen — ja nun einmal ein sehr aktueller Begriff ist. Aber dann muß man den Mut haben, mit einer Zunge zu sprechen und nicht mal so, mal so, wie und wo es gerade zweckmäßig erscheint.Es ist unbestritten, daß das allgemeine Rentenniveau niemanden befriedigen kann. Das gilt auch für die Tatsache, die sich auch in jeder Berechnung der Bestandsrenten zeigt, daß sogar weibliche Versicherte und Arbeitnehmer mit 40 Versicherungsjahren gerade noch 40 % des vergleichbaren Bruttoarbeitsentgelts bekommen. Ich wiederhole, was ich hier schon einmal gesagt habe: es ist auch kein Trost für alte Rentner und für alte Kranke, wenn man ihnen sagt: 1973 werdet ihr mehr haben, oder 1974 werdet ihr mehr haben, und die nächste große Lohnwelle beschert euch das. Jetzt, da zum erstenmal die Kassen der Rentenversicherungsträger voll sind, sollten wir nicht zugunsten irgendwelcher Wahlversprechen, sondern zunächst zugunsten des Rentenniveaus das Nötige tun. Die übrigen Dinge, Herr Minister, lehnen wir dann nicht ab, sondern wollen wir dann mit Ihnen gemeinsam sorgfältig beraten und verwirklichen.
Sie sollten uns auch nicht unterstellen, wir sähen das Thema der vorgezogenen Altersgruppen nicht ernst. Ich stehe hier als Zeugin dafür; denn ich habe damals in diesem Hause mit dafür gekämpft, daß wir gemeinsam das vorgezogene Altersruhegeld für Frauen durchgesetzt und das vorgezogene Altersruhegeld für Arbeitslose, die ein Jahr arbeitslos waren, erhalten haben. Schon morgen könnte bei einer nicht sorgfältigen Wirtschafts- und Konjunkturpolitik diese Frage wieder von großer Bedeutung sein. Darum halte ich es auch für positiv, daß die Regierung dieses Problem der Altersgrenzen im Zusammenhang mit dem von bisher geltenden Grenzen für vorgezogenes Altersruhegeld sieht. Wir werden bei der Debatte auf die einzelnenZusammenhänge eingehen. Aber wir dürfen nicht Zusagen machen, mit denen wir die Illusion erwecken, alle nicht berufstätigen Frauen — heute ist ja nicht schon jede zweite Frau berufstätig; das ist ja ein Modell von morgen — erhielten schon ausreichende Renten, wenn wir ihnen die Möglichkeit der Nachversicherung oder andere Möglichkeiten der Beitragszahlung eröffneten. Kaum eine berufstätige Frau, keine Arbeiterin und keine Angestellte mit durchschnittlichem Einkommen dürfte als verheiratete Frau in der Lage sein, 30 000 DM oder mehr für die Nachversicherung einzuzahlen. Das kann vielleicht ein Selbständiger, der gut rechnen kann, aber ganz gewiß in den seltensten Fällen eine Ehefrau.
Frau Abgeordnete, Sie sind am Schluß Ihrer Redezeit.
Frau Kalinke Diese Frage werden wir sorgfältig prüfen. Das Versprechen der Öffnung der Rentenversicherung oder andere soziale Versprechungen sollten wir gemeinsam in diesem Hause nach gründlicher Prüfung der Kosten und der Leistungsmöglichkeiten diskutieren und dann beschließen.
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bitte meinen Kollegen, der nach mir spricht, mir noch zwei Minuten zu geben. Ich glaube, er tut das gern.
Ich möchte noch zwei Gedanken aussprechen dürfen. Zur Inanspruchnahme der berufstätigen Frauen und zur Inanspruchnahme der Beitragszahler von heute und der Steuerzahler von morgen haben Sie leider nichts gesagt. Auch nichts über die Grenzen der Solidarität!Dem Kollegen Schmidt und damit an die Adresse der Freien Demokraten möchte ich folgendes sagen: Ich weiß, wie schwer Sie es haben. Ich weiß, daß die Koalition es zwischen Liberté und Egalité in der Gesellschaftspolitik schwerer hat, als sie es je gehabt hat. Ich weiß, daß es auch nicht allein auf Ihre Initiativen ankommt, mit denen Sie kleine Verbesserungen erreichen und dafür große Preise bezahlen müssen. Es kommt auch weniger auf Versprechungen an, die schon jetzt den Wählern positive Eindrücke vermitteln sollen. Ich kann nur wünschen, daß große soziale Reformpläne nicht das Schicksal haben, das die Steuerreformpläne im Augenblick zu haben scheinen, und nicht zu früh in den „Wahlkampf" geraten!Ich befürchte faule Kompromisse, wenn man allen alles geben und klaren Entscheidungen ausweichen will, wie etwa bei dem sehr heißen Eisen der Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung und bei ähnlichen Problemen, die offen sind und in denen der Streit um das Pro und Kontra bisher nicht dazu geführt hat, daß Regierung und Regiernugsparteien Farbe bekannt und klare Aus-
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Frau Kalinkesagen gemacht haben. Wenn man den Ausbau des Freiheitsraumes und unserer Gesellschaft will, Herr Minister — wir begrüßen diese liberale Aussage —, haben wir bei diesem Thema, Ausbau des Freiheitsraums mit Selbstverantwortung und nahtlosem Anschluß an eine konkrete solide Basis der Politik, die Sie vorgefunden haben — ich meine eine Sozialpolitik, die Ihnen überhaupt erst die Grundlagen gegeben hat, um heute von Reformen zu sprechen —, keinen Anlaß, verlegen zu sein. Wir haben vielmehr Anlaß zu sagen, daß diese Regierung und diese Koalitionsparteien nicht mit dem Versprechen, immer weiteren Gruppen in der Sozialversicherung mehr für billige Preise zu geben, beginnen können. Sie werden mehr Freiheit nur dann in die Wirklichkeit umsetzen, wenn sie das Notwendige zuerst tun und die Grenzen erkennen.Sie, Herr Minister, sprechen von der Einbeziehung der Landwirtschaft in die gesetzliche Krankenversicherung. Sorgen Sie doch dafür, daß der Antrag der CDU/CSU im Ausschuß behandelt wird, und Sie können der Landwirtschaft mehr soziale Sicherung geben! Mit dem Gesetzentwurf der CDU kann den Altenteilern sofort geholfen werden. Die Versicherungsberechtigung gibt mehr Freiheit als Zwang und die Schaffung neuer Einheits-Institutionen! Sie sollten auch nicht mit dem Köder billiger Beiträge und leichtfertiger Leistungsversprechen neue Gruppen locken, die Sie hinterher nur enttäuschen werden!
Frau Abgeordnete, Sie müssen zum Schluß kommen!
Herr Präsident! Erregen Sie sich nicht, das tut nicht gut! Ich höre gleich auf.
Die soziale Sicherung aus einer Hand bleibt in diesem Hause in der gemeinsamen Verantwortung von Regierung und Opposition. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir führen ja in diesem Hause immer wieder neue Methoden ein. Die Methode der Kontokorrentverrechnung unter den Rednern einer Fraktion möchte ich nicht mit einführen helfen.
Ich war nachsichtig zu Ihnen, Frau Abgeordnete Kalinke. Wir kennen uns schon sehr lange und hatten beide schon oft Gelegenheit, gegenseitig nachsichtig zu sein. Ich war es heute wieder. Ich hoffe, Sie werden mir keine Gelegenheit mehr geben, es wieder sein zu müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Kalinke undHerr Kollege Götz haben davon gesprochen, daß es für unsere Demokratie gefährlich ist, in der sozialen Sicherung Erwartungen zu wecken, die finanzpolitisch nicht abgesichert sind. Dazu möchte ich einige Feststellungen treffen; denn was die CDU in den letzten Tagen und Wochen im Bereich der sozialen Sicherung vorgeschlagen hat, ist für den Bundeshaushalt abenteuerlich.Erstens: Wir Sozialdemokraten warnen vor finanzpolitischen Abenteuern mit der sozialen Sicherung.
Die Bundesregierung hat gerade in diesen Tagen nach schwierigen Beratungen einen Haushalt der Konsolidierung erarbeitet. Sie hat damit einen entscheidenden Beitrag zu den Bemühungen um Stabilität und zum planvollen Ausbau des Sozialbereichs geleistet.
Die verschiedenen CDU-Anträge zur sozialen Sicherung, die gestern angekündigt worden sind, und auch der, der heute zur Beratung ansteht, belasten den Haushalt für 1972 mit rund 900 Millionen D-Mark. Während die finanzpolitischen Sprecher der CDU die Zuwachsrate des Bundeshaushalts als überhöht bezeichnen, erwecken die Sozialpolitiker der CDU mit enormen zusätzlichen Anforderungen an den Haushalt Hoffnungen bei der sozialschwachen Bevölkerung, die finanzpolitisch unerfüllbar sind.Hierfür ein Beispiel. Im Sinne des Sozialberichts hat die Bundesregierung das Dritte Anpassungsgesetz für die Kriegsopferversorgung verabschiedet. Hierdurch werden im Wege der Anpassung und der strukturellen Verbesserungen die Aufwendungen für die Kriegsopferversorgung im Haushaltsjahr 1972 um rund 450 Millionen D-Mark erhöht. Jedoch gestern hat Herr Kollege Katzer auf einem Kriegsopferkongreß eine zweite Anpassung der Kriegsopferversorgung für das Jahr 1972 angekündigt. Dadurch würden gegenüber dem Stande von Ende 1969 alle Kriegsbeschädigtenrenten um 42 % und alle Witwenrenten um 53 % erhöht.
Meine Damen und Herren, ungeachtet der besonderen Verantwortung, die wir alle für die soziale Sicherung der Kriegsopfer tragen, kann eine solche Initiative der CDU doch nur als ein leichtfertiges Propagandamanöver bezeichnet werden.
Eine zweite Bemerkung. Wir Sozialdemokraten warnen vor Manipulationen mit der Rentenautomatik. Die Automatik der Rentenanpassung hat sich bewährt. Seit der Rentenreform sind die Renten fast dreimal so stark gestiegen wie die Preise. Das wirtschaftliche Wachstum ist also auch dem Rentner zugute gekommen.
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Dr. SchellenbergZwar ist, meine Damen und Herren, der Anpassungssatz für 1972 nicht sehr hoch. Aber Sie wissen, daß das eine Spätfolge der Rezession ist,
von der die CDU jetzt durch Propagandamanöver ablenken will.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU hat jetzt wieder einen Rentenzuschlag gefordert. Die gesetzgebenden Körperschaften haben diesen Zuschlag kürzlich nach eingehenden Beratungen abgelehnt. Nun fordert die CDU/CSU eine zweimalige Anpassung für 1972, zusätzlich zu den 6,3 % für 1972 sollen ab 1. Juli 1972 noch 9,3 % gewährt werden. Das würde bedeuten, daß in einem dreiviertel Jahr alle Renten der Rentenversicherung um 16,4 % höher wären als gegenwärtig. Solche Zuschläge sind sicher sehr populär, aber sie sind sozialpolitisch ein gefährliches Instrument.
Denn wer „Z" sagt, muß auch „A" sagen, wer Zuschläge fordert, der muß auch Abschläge einführen, wenn Ihnen das politisch opportun erscheint. Der Rentnerkrankenversicherungsbeitrag ist dafür ein warnendes Beispiel.
Im Interesse der Sicherung des stetigen Wachstums der dynamischen Rente wehren wir uns gegen die erneuten Versuche, die Rentenautomatik zu manipulieren. Wer in der Rentendynamik mal so, mal so manövriert, schadet auf Dauer den Interessen der Rentner. Nichts wäre verhängnisvoller für die Rentner, als wenn die Rentenautomatik von jeweiliger politischer Zweckmäßigkeit abhängig gemacht würde.
Eine dritte Feststellung im Zusammenhang mit dem Sozialbericht: Wir Sozialdemokraten lehnen ungezielte sozialpolitische Maßnahmen ab. Der geforderte Rentenzuschlag ab 1. Juli 1972 würde keine wirksame Verbesserung für die Kleinrentner bringen; die Unterschiede zwischen niedrigeren und höheren Renten würden sich dadurch nur vergrößern.
Das aber hat wenig mit sozialer Gerechtigkeit, aber viel mit politischer Propaganda zu tun.
Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß jede Rentenerhöhung, die über die Automatik hinausgeht, sozial ungerecht ist, weil sie die Schere zwischen hohen und niedrigen Renten in einem Ausmaß vergrößert, das wir nicht verantworten können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein; ich möchte im Augenblick keine Zwischenfrage zulassen; deshalb nicht, weil wir in der Zeit leider sehr fortgeschritten sind und noch einen anderen wichtigen Punkt auf der Tagesordnung haben.
Die Absicht der CDU, über die automatische Anpassung hinaus für alle Renten im Jahre 1972 eine zweite Anpassung vorzunehmen, würde den fünfzehnjährigen Deckungsabschnitt in der Rentenversicherung um rund 60 Milliarden DM belasten. Damit würde — und das ist politisch entscheidend — der Spielraum für eine gerechte und soziale Weiterentwicklung der Rentenversicherung im Sinne des Sozialberichts in bedenklicher Weise eingeschränkt werden.
Eine vierte Feststellung: Wir Sozialdemokraten verwahren uns gegen den Mißbrauch parlamentarischer Arbeit.
— Jawohl! Ich will Ihnen das beweisen.
Der von der CDU gestern eingebrachte Entwurf eines 15. Rentenanpassungsgesetzes ist nichts anderes als eine Neuauflage des von allen gesetzgebenden Körperschaften -- Bundestag, Bundesrat, Vermittlungsausschuß — vor zwei Monaten abgelehnten Antrags auf einen Rentenzuschlag.
Wir verurteilen die Versuche, mit solchen Methoden aus naheliegenden propagandistischen Gründen die parlamentarische Arbeit zu behindern.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Professor Schellenberg, nennen Sie es parlamentarischen Mißbrauch, wenn eine große Fraktion — ich möchte sagen: die größte Fraktion davon überzeugt ist, daß die Rentner im Nachteil sind, und nun das Recht in Anspruch nimmt, Anträge in diesem Plenum zu stellen?
Herr Kollege Müller, selbstverständlich sind Initiativen der Opposition erwünscht. Aber, meine Damen und Herren,
wenn Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuß über eine Sache nach hartem Ringen endgültig entschieden haben, halten wir es für einen Mißbrauch, wenn genau die gleiche Sache zwei Monate
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Dr. Schellenbergspäter wieder in beiden gesetzgebenden Körperschaften zur Beratung gebracht wird.
Wenn eine solche Praxis einreißt, wird eine sinnvolle Gesetzgebungsarbeit schwer behindert.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, ich möchte jetzt fortfahren.
Fünfte Feststellung: Wir Sozialdemokraten lehnen eine Hektik in der sozialen Sicherung ab. An Stelle einer planvollen Sozialpolitik im Sinne des Sozialberichtes legt die CDU/CSU überhastete Einzelanträge vor; einmal für die Kleinrentner in der Sozialhilfe, einmal für die Öffnung der Rentenversicherung der Selbständigen, dann die weitgehenden Änderungsanträge zum 14. Rentenanpassungsgesetz, dann das gleiche in einem 15. Rentenanpassungsgesetz, jetzt einen Gesetzentwurf angeblich zur Alterssicherung der Frauen und zum Thema der Kleinrentner. Diese Hektik der vielfachen Gesetzentwürfe zeigt, daß der CDU/CSU in der sozialen Sicherung eine Gesamtkonzeption fehlt
und daß sie statt dessen Propaganda einmal für die eine und dann wieder für die andere Gruppe betreiben will.
Im übrigen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Opposition mit dieser Hektik offenbar die Tatsache vergessen machen will, daß die CDU/CSU den von der sozialliberalen Koalition beschlossenen Gesetzesauftrag auf Vorlage eines Zweiten Rentenreformgesetzes, diesen Auftrag für eine umfassende Weiterentwicklung der Rentenversicherung, abgelehnt hat.
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu einer abschließenden Feststellung. Wir Sozialdemokraten wollen zusammen mit unserem Koalitionspartner eine systematische Weiterentwicklung der sozialen Sicherung. Das Gesamtkonzept für eine zweite Rentenreform wird mehr soziale Gerechtigkeit bringen für die Rentner, die von den Härten des Rentenrechts betroffen sind. Aber auch für die Arbeiter und Angestellten, die sich im Arbeitsleben verbraucht haben und denen wir einen größeren Freiheitsspielraum in bezug auf die Rente geben wollen.
Das Zweite Rentenreformgesetz wird auch neue Perspektiven für die soziale Sicherung der Hausfrauen, der Selbständigen, der mithelfenden Familienangehörigen bringen. Es wird Nachteile für die Mütter beseitigen, die durch die Erziehung der Kinder in ihrer sozialen Sicherung benachteiligt sind. Wir werden für die Versicherten und Rentner, die dem komplizierten Sozialrecht hilflos gegenüberstehen, einen Rechtsanspruch auf Beratung in ihren Rentenangelegenheiten sicherstellen.
Die sozialliberale Koalition wird bei diesem großen Konzept — darauf kommt es politisch an — die vielfältigen sozialen Interessen wohlausgewogen berücksichtigen. Sie wird die bedeutsamen Aufgaben der sozialen Sicherung systematisch und planvoll im Sinne des Sozialberichts der Bundesregierung bewältigen. Wir werden uns dabei von Ihren überhasteten CDU/CSU-Vorlagen, die finanziell völlig unausgegoren sind, nicht behindern lassen.
Kommen Sie bitte zum Schluß.
Entscheidend ist, daß der Deutsche Bundestag im nächsten Jahr das von der sozialliberalen Koalition einmütig getragene Zweite Rentenreformgesetz verabschieden wird.
Das wird ein Markstein für die soziale Sicherung sein und unseren Bürgern mehr soziale Sicherheit und mehr Gerechtigkeit bringen.
Das Wort hat der Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich komme für mich ganz überraschend hierher. Vor mir waren noch zwei Redner angemeldet.
Sie waren gemeldet.
Ja.
Ich habe, um den gewohnten Rhythmus beizubehalten, einen Redner der FDP zwischen einen SPD- und einen angemeldeten CDU/CSU-Redner eingeschoben.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die heutige Debatte über den Sozialbericht macht deutlich, daß manches von dem, was darüber in den Zeitungen zu lesen war — der Sozialbericht ist schon im Mai verteilt worden — längst wieder vergessen worden ist. Ich hätte eigentlich erwartet, daß sich der Sprecher der Opposition zumindest einmal die Zeit nehmen würde, die Seiten 47 bis 63 durchzusehen; denn dort ist über alle Maßnahmen Bericht erstattet worden, und dort sind die Zielsetzung, der Sachstand und die Zielgruppe sehr deutlich aufgezeigt. Ich brauche deshalb darauf nicht einzugehen. Jeder, der sich informieren will, kann dies durch die Lektüre des überzeugenden Berichts tun. Ich glaube, gerade die Ubersicht ist ohne jede Tendenz, weil sie das, was angestrebt wird, was durchgeführt wurde und was sich noch in der Beratung befindet, darstellt. Das ist
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Spitzmüller wohl ein überzeugender Beweis dafür, daß zur Halbzeit dieser Regierungskoalition vieles von dem, was in den Regierungserklärungen der ersten Stunden angekündigt wurde, in Gang gesetzt worden ist und daß der Arbeitsminister nicht aus parteiinternen oder koalitionsinternen Gründen eine Denkpause einlegen mußte, sondern an die Arbeit gehen konnte.
Meine Damen und Herren, aus den Ausführungen der Frau Kollegin Kalinke möchte ich zwei Punkte herausgreifen. Ich bin mit Ihnen, Frau Kollegin Kalinke, der Meinung, daß wir die Frage der Prüfung und des Setzens von Prioritäten sehr wohl in aller Breite in der Öffentlichkeit diskutieren sollten und daß bei dieser Prüfung die Solidität der Rentenversicherung unstrittig im Vordergrund stehen muß. Ich frage die Kollegen von der CDU/CSU, die im finanz- und wirtschaftspolitischen Bereich tätig sind, ob sie nach den Anträgen, die die CDU/ CSU vorgelegt hat, wirklich noch glaubhaft und mit voller Überzeugung sagen können, daß der erste Punkt des Setzens von Prioritäten noch mit der Solidität der Rentenversicherung zu vereinbaren ist. Ich sage nur: prüfen Sie sich!
Frau Kollegin Kalinke hat gesagt, viele vernünftige Anträge, die in den letzten zwanzig Jahren gestellt worden seien, hätten deshalb keine Mehrheit finden können, weil die Finanzlage der Rentenversicherung ihre Verwirklichung nicht ermöglicht habe. Ich stimme ihr darin voll zu.- Aber ich kann ihr nicht zustimmen, wenn sie sagt: Jetzt, da die Kassen der Rentenversicherung zum erstenmal voll sind, können wir alles Mögliche tun.
— Nein, aber Sie haben gesagt: einiges, das Notwendige reichlich. Aber bitte, wir wollen uns darum nicht streiten.Frau Kollegin Kalinke, die Kassen der Rentenversicherung scheinen doch nur voll zu sein. Im .Jahre 1985 hätten wir, wenn nichts geschähe, einen Überschuß von 137 Milliarden DM.
— 167 Milliarden! Die Drucksache VI/ 2014 ist auch schon wieder ein paar Monate alt. — Das würde bedeuten, daß wir eine Rücklage für 14 bis 15 Monate hätten. Das wäre also ein wenig mehr als das, was die CDU/CSU in den Jahren 1956/57 bei der Rentenreformgesetzgebung als unabdingbares Rücklagesoll für zwölf Monate in das Gesetz geschrieben hatte. Wir haben in der schwierigen Situation des Jahres 1967 gemeinsam dieses Rücklagesoll auf drei Monate beschränkt. In diesen 167 Milliarden DM sind aber 50 bis 60 Milliarden DM Zinsen und Zinseszinsen, die nicht auflaufen, wenn wir das Geld schon ausgeben, bevor es überhaupt eingegangen ist.
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Bitte schön.
Herr Kollege Spitzmüller, muß ich aus Ihren Ausführungen schließen, daß Sie besorgt sind, das Programm des Arbeitsministers angesichts der Finanzlage der Rentenversicherungsträger schon jetzt in vollem Umfang seiner Versprechen zu verwirklichen? Kann ich daraus schließen, daß Sie unter Umständen der Meinung sind, daß höhere Beiträge, höhere Steuern und höhere Staatszuschüsse nötig sind, um diese erste Senkung der Altersgrenze zu verwirklichen, die finanziell ja in die Zukunft wirkt, und könnten Sie mir darin zustimmen, daß die Vorschläge der CDU/CSU nicht, wie fälschlich hier gesagt worden ist, zum Verteilen des gesamten finanziellen Bestandes führen, sondern nur zum Sichern des Rentenniveaus und zur Nachholung der einmaligen Anpassung, die damals zurückgestellt wurde? Geben Sie zu, daß diese Verbesserungen ohne Gefahren für die künftige Rentenzahlung finanzierbar sind?
Frau Kollegin Kalinke, die Frage war sehr lang.
Ich möchte sie kurz beantworten. Ich bin überzeugt, daß die Eingänge der Rentenversicherung ausreichen, um das im Arbeitsministerium sorgsam abgewogene Programm eines Zweiten Gesetzes zur Rentenreform durchzuführen und zu finanzieren. Ich bin aber der Meinung, daß dieses Programm nicht durchgeführt werden könnte, wenn die Milliarden-Ausgaben, die die CDU im Bereich der Rentenversicherung beantragt hat, vorweg beschlossen würden, sondern daß dann viele dieser Vorhaben wieder an der Finanzfrage scheitern würden.
Ich habe keine besondere Redezeit angemeldet. Ich möchte aber noch auf eine Bemerkung des Kollegen Dr. Götz zur Frage der Vermögensbildung eingehen. Hier ist die Frage des sogenannten Beteiligungslohns angesprochen worden. Kollege Schmidt hat dazu schon einige Ausführungen gemacht. Aber ich glaube, man muß auch im Parlament noch einmal deutlich machen, was im öffentlichen Hearing, dem ich als Zuschauer beigewohnt habe, weil ich damals nicht Mitglied dieses Hohen Hauses war, der Vertreter der Bundesbank dazu gesagt hat, nämlich daß das nicht zu einer gerechteren Vermögensverteilung führen wird. Ich möchte darauf hinweisen, daß dieser CDU-Entwurf mehr als alle Überlegungen, die in dieser Koalition im Hinblick auf eine gesetzliche Regelung zur Vermögensbildung vorhanden sind, den lohnintensiven Bereich und damit insbesondere den mittelständischen Bereich unserer Wirtschaft belasten würde, weil nämlich der CDU-Entwurf auf die Arbeitskraft, auf den Lohn Bezug nimmt und nicht auf die Ertragslage des entsprechenden Unternehmens.
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SpitzmüllerIm übrigen kann ich mir den Hinweis nicht verkneifen, daß bei dieser öffentlichen Anhörung Herr Professor Föhl, der ja kein Unbekannter ist, erklärt hat, daß bei dem CDU-Entwurf und seiner Rechtfertigung nach seiner Meinung der gute alte Marx wieder deutlich zum Vorschein kommt. Ich glaube, Herr Föhl und Herr Marx sind bekannt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage mehr gestatten. Denn sonst wird mir meine Redezeit zu sehr begrenzt. Frau Kollegin Kalinke hat im Hinblick auf die begrenzte Redezeit auch keine Zwischenfragen zugelassen.
Meine Damen und Herren, zum vermögenspolitischen Teil möchte ich eine abschließende Bemerkung machen. Das Ziel der Vermögensbildung in breiten Schichten ist mit einer Maßnahme allein nicht zu treffen. Es gehören dazu drei tragende Säulen: die Sparwilligkeit des einzelnen, die Bereitschaft des einzelnen zur Vermögensbildung, d. h. die Eigentumsgesinnung, die Sparfähigkeit und die Förderung der Sparfähigkeit.
Dazu gehört auch die Stabilität, Herr Kollege Härzschel. Aber nun muß ich Ihnen eines sagen: Ich bedauere es immer wieder, wenn hier die schrecklichen Jahre 1966/67 hochkommen. Das war eine schwierige und eine tragische Zeit. Die Frage der Preissteigerungen ist doch nicht nur eine Frage der Bundesrepublik Deutschland, sondern eine Frage, die international gesehen wird. Deshalb sollten wir weder das eine noch das andere immer wie einen Knüppel aus dem Sack holen und gegeneinander anwenden. Das ist meine Meinung dazu.
Meine Damen und Herren, zur Sparförderung bieten sich also die direkte und die indirekte Förderung durch steuerliche Maßnahmen und Prämien an. Hier ist die Einkommenssituation ausschlaggebend. Dazu gehören diejenigen Dinge, die im Rahmen von tarifvertraglichen Vereinbarungen oder von Vereinbarungen einzelner Arbeitgeber mit ihren Arbeitnehmern laufen.
Als dritte Säule erstreben wir eine Beteiligung am Vermögenszuwachs, und zwar dort, wo er sich in der Vergangenheit stark konzentriert hat und wo er sich auch in der Zukunft konzentrieren wird. Im Gegensatz zur CDU/CSU sind wir dabei um Lösungen bemüht, die Formeln enthalten, die eine gesunde Schichtung der Betriebs- und Unternehmensgrößen von Klein-, Mittel- und Großunternehmen nicht ohne Sachzwang in Richtung Großbetriebe umlenken. Was wir in der Koalition anstreben, ist im Gegensatz zu dem, was die CDU/CSU will, mittelstandsfreundlich und nicht wettbewerbsverfälschend im Sinne einer einseitigen Lohn- und Gehaltsbelastung. Ich glaube, meine Damen und Herren, im Rahmen der Debatte über den Sozialbericht mußte das von den Freien Demokraten sehr klar herausgestellt werden.
Sehr geehrte Frau Kollegin Kalinke, Sie haben darauf hingewiesen, daß es in dieser Koalition manchmal sehr schwer sein wird, die „liberté" auf der einen Seite und die „égalité" auf der anderen Seite unter einen Hut zu bringen.
Ich möchte aber sagen, verehrte Frau Kollegin Kalinke und meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die Sozialdemokraten haben längst begriffen,
daß ohne Freiheitsspielraum kein Platz und sogar nur bei Erweiterung des Freiheitsspielraums ein entscheidender Platz für eine Sozialdemokratische Partei in diesem Volke vorhanden sein wird. Es gibt natürlich Spannungen, es sind aber Spannungen — das möchte ich sagen —, die überbrückbar sind, und es sind Spannungen, die sich in Gesprächen austragen lassen, die manchmal von mehr Verständnis und Partnerschaftsgeist getragen sind, als ich es aus acht Jahren Gesprächspartnerschaft mit anderen in Erinnerung habe.
Das Wort hat der Abgeordnete Franke .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist immer mißlich, am Schluß einer langen Debatte, die stellenweise gut war und insbesondere von unseren Rednern, wie ich meine, mit hervorragenden Beiträgen bestritten worden ist,
hier noch mit zusätzlichen Argumenten die Dinge zu belegen. Wenn der Herr Kollege Schellenberg nicht an das Rednerpult gegangen wäre, hätte man es bei den Beiträgen, die meine Kollegen Dr. Götz und Frau Kalinke gebracht haben, belassen können. Sie haben aber, Herr Kollege Schellenberg, ich möchte sagen, einen ungeheuerlichen Vorwurf erhoben, indem Sie uns finanzpolitische Unsolidität in der Rentenversicherung vorgeworfen haben.
Den Beweis, Herr Kollege Schellenberg, sind Sie dann schuldig geblieben. Sie haben dann ganz schnell die Kurve genommen, indem Sie die Rentenerhöhungsanträge der CDU/CSU, das 15. Rentenanpassungsgesetz, etwas später sozusagen als Beweis nachgeschoben haben.
Ich erinnere mich noch sehr genau, daß eine der ersten „Großtaten" dieser sozialliberalen Koalition — ich will keine einzelne Person dafür verantwortlich machen ein Weihnachtsgeld für Rentner sein sollte.
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Franke
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn irgendwo von einer finanzpolitischen Unsolidität im Hinblick auf die Rentenversicherung oder auch auf den Haushalt — darauf komme ich gleich noch zu sprechen — die Rede sein konnte, dann hier bei diesem Punkt.
Ein Zweites, verehrter Herr Kollege Schellenberg. Sie haben gesagt, die Rentenautomatik würde einfach durch unser System, d. h. durch unseren Antrag, die Rentenanpassung um ein halbes Jahr vorzuziehen, unterbrochen bzw. in gewisser Weise außer Kraft gesetzt. Es gibt keinen besseren Beweis für die Zweifelhaftigkeit des Unterbrechens einer Rentenautomatik und der Rentenformel als diese einmalige Zugabe — Weihnachtsgeld für Rentner —, die dann nachher zu der Abschaffung des zweiprozentigen Krankenversicherungsbeitrags für Rentner geführt hat. Das war sozusagen das Hilfsinstrument aus der Diskussion über die Auszahlung eines Weihnachtsgeldes für Rentner.
Sie haben dann ein paar Bemerkungen gemacht, Herr Kollege Schellenberg, zur zusätzlichen Anpassung der Kriegsopferversorgung. Hier haben Sie die finanziellen Belastungen für den Haushalt an die Wand gemalt. Es ist doch wohl unsere Pflicht, daß wir uns den Kopf darüber zerbrechen angesichts einer Preiserhöhung in den Ballungsgebieten, Herr Kollege Nölling — das ist eine Feststellung der sozialdemokratisch geführten Landesregierung bzw. des Statistischen Landesamts in Nordrhein-Westfalen — in einer Höhe von 6 % und im Durchschnitt des Bundesgebietes von 5,4 % für den August 1971. Angesichts einer solchen, ich würde sagen, unsoliden Haushalts- und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung müssen wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie man gerade diejenigen, die an der Peripherie der dynamischen Einkommen leben, ebenfalls an den Segnungen der expandierenden Wirtschaft teilhaben lassen kann.
Lassen Sie mich jetzt mit ein paar Bemerkungen den Beweis führen, daß nicht nur wir uns den Kopf darüber zerbrechen. Ich habe hier das Zitat des VdK-Landesbezirks Baden-Württemberg aus einer Zeitschrift; sie wird Ihnen bekannt sein, nachdem Sie gestern beim VdK in Bad Godesberg gewisse „Erfahrungen" gemacht haben; Herr Professor Schellenberg, das wird Ihnen nicht ganz unbekannt sein. So schreibt hier der VdK, daß über die normalen Anpassungen hinaus ein zusätzlicher Anpassungswert von 2 v. H. gegeben werden muß. Und jetzt kommt der Beweis: Die Schere, die sich gegenüber 1960 ergeben hat, der Unterschied zur vollen Grund-und Ausgleichsrente, betrug 1960 nur 22 DM gleich 5,5 % monatlich; 1971 beläuft sich der Abstand zur allgemeinen Bemessungsgrundlage bereits auf 253 DM, d. h. auf 27,7 %. Wenn Sie auf der einen Seite das Auseinanderklaffen der Schere in der Rentenversicherung beschwören — ich hatte den Eindruck, Sie wollten hier anfangen, so ein bißchen an der Automatik der Rentenformel herumzumanipulieren, — —
Aber den Schwung haben Sie dann gar nicht mehr
ganz gekriegt, weil Sie in dem Augenblick schon
gemerkt haben, daß Sie sich hier auf ein ganz gefährliches Gleis begeben, Herr Kollege Schellenberg; denn die Rentenautomatik läßt immer ein Auseinanderklaffen der Schere zu; dieses Auseinanderklaffen findet lediglich auf verschiedenen Ebenen statt. Den Kopf darüber haben Sie sich alle hier in diesem Hohen Hause 1957 zerbrochen, und Sie haben diese Automatik mit Ihrer Zustimmung in Kauf genommen.
— Ja, verehrter Herr Kollege Schellenberg, jetzt können Sie die Prioritäten setzen. Sie wollen also kein Auseinanderklaffen. Wir sagen auf alle Fälle, daß diejenigen Rentner, die die Mißerfolge oder „Erfolge" der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung zu erleiden haben, nach unseren Anträgen mit einer zusätzlichen Erhöhung bedacht werden müssen.
Am Schluß Ihrer Ausführungen haben Sie gesagt, der CDU/CSU fehle es an einer Gesamtkonzeption. Darf ich Sie daran erinnern, daß die Gesamtkonzeption von Ihnen auch nicht auf den Tisch gelegt worden ist? Eigentlich ist „auch nicht" falsch, denn wir haben eine Gesamtkonzeption, und diese geht davon aus, mit einer wirtschaftlichen Sicherung auch diejenigen an den Segnungen unseres Industrielandes zu beteiligen, die nicht mit aktiver Arbeit ihr Einkommen verbessern können.
Dazu gehört, Herr Kollege Schellenberg, eine richtig durchgebrachte Steuerreform. Wir hören doch in den letzten Tagen, daß Sie die Steuerreform nicht zuwege kriegen. Wenn die Steuerreform ausbleibt, gibt es auch keine Verbesserungen z. B. wahrscheinlich im Hinblick auf eine betriebliche Altersversorgung, wenn ich mich hier auf das Sozialbudget beziehen darf. Oder die Abwehr unserer Preissteigerungen! Hier fehlt es bei Ihnen auch an einer Gesamtkonzeption, und Sie werden mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit an dieser Frage scheitern.
Dann haben Sie gesagt, der Mißbrauch parlamentarischer Arbeit sei durch das Einbringen unseres Entwurfs zum 15. Rentenanpassungsgesetz gegeben gewesen. Herr Kollege Schellenberg, ich halte das für einen ungeheuerlichen Vorwurf. Er kann nur dadurch zurückgewiesen werden, daß wir Ihnen und der Öffentlichkeit sagen, daß wir den zehn Millionen Rentnern einen Beitrag geben wollen, damit sie die Mißerfolge Ihrer Regierungspolitik nicht so direkt zu erleiden haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Katzer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte angesichts der vorgerückten Stunde nur wenige Bemerkungen machen.Erstens. Herr Kollege Schellenberg, ich möchte Sie sehr herzlich bitten, die 900 Millionen DM, die
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KatzerSie für den Haushalt nannten — Sie haben Wert darauf gelegt, es auf den Haushalt und nicht auf die Rentenversicherung zu beziehen; da warten wir noch auf die genauen Zahlen des Arbeitsministeriums ---, uns genau zu spezifizieren.
Sie haben hier dieselbe Rede gehalten, die Sie gestern bei den Kriegsopfern in Godesberg gehalten haben.
Ich möchte hier ganz sachlich zusammenfassen. Sie haben vergessen, zu bemerken, daß ich bei der Ankündigung nicht meines Antrags, sondern des Antrags, den die CDU/CSU-Fraktion einstimmig beschlossen hatte — „einstimmig" heißt: unter ausdrücklicher Zustimmung all unserer finanzpolitischen Sprecher --, hinzugefügt habe, daß wir selbstverständlich einen Deckungsvorschlag, auch wenn er andere populäre Dinge betreffen sollte, hier einbringen; denn die Seriosität der Finanzpolitik, meine Damen und Herren, ist erstes Gebot einer christlich-demokratisch geführten Regierung und einer christlich-demokratischen Oppositionspartei; davon können Sie ausgehen.
Zweitens. Wir hören in allen Debatten immer wieder Ihre Rufe: Wo ist eigentlich die Alternative? Nun, meine Damen und Herren, wir haben im Felde der Gesellschafts- und Sozialpolitik ein Dutzend Alternativgesetzentwürfe vorgelegt, und jetzt schreien Sie: Das ist Hektik! Also wenn Sie Alternativen wollen, dann müssen Sie sich damit auseinandersetzen und können das nicht einfach als Hektik abtun.
Drittens. Sie haben geglaubt sagen zu sollen, Herr Kollege Schellenberg, das sei alles so ein bißchen konzeptionslos. Wir haben eine Grundkonzeption. Wir haben sie einmal gemeinsam gehabt, als Sie noch Opposition waren. Herr Kollege Schellenberg. Wir hatten nämlich den Standpunkt, daß die im Jahre 1958 aus finanziellen Gründen unterbliebene Rentenanpassung nachgeholt werden muß. Das haben Sie im Deutschen Bundestag Jahr für Jahr gefordert.
Jetzt wollen Sie es als Manipulation an der Rente darstellen, wenn wir das aufgreifen, was wir damals schon wollten, aber nicht konnten.
Sie sollten sich an das erinnern, Herr Kollege Geiger, was damals gesagt wurde. Ich nehme es sehr ernst. Solche Zwischenrufe sollten Sie nicht tun. Lesen Sie bitte die Protokolle nach. Herr Kollege Stingl hat als damaliger Sprecher der Fraktion bei diesen Gesetzen immer wieder gesagt: Im Grunde ist das Anliegen, das die Sozialdemokraten vortragen, berechtigt, nämlich die 1958 unterlasseneAnpassung nachzuholen; aber leider ist die Rentenversicherung finanziell nicht in der Lage, dies jetzt zu tun. Nun ist die Situation so, daß die Träger der Rentenversicherung finanziell in der Lage sind, es zu tun. Deshalb wollen wir es auch tun, was Sie die ganze Zeit gefordert haben.
Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Sie lenken offenbar von der Tatsache ab, daß aus der Preissteigerung Konsequenzen gezogen werden müssen. Es ist geradezu rührend, Herr Kollege Spitzmüller, Ihre Bemerkungen zu hören: Na ja, das ist ja keine Problematik, die wir nur in Deutschland haben, das ist doch überall so! — Ich kann nur an das erinnern, was der damalige Oppositionssprecher für Wirtschaftspolitik und heutige Wirtschafts- und Finanzminister im Bundestag dazu gesagt hat. Er sagte, er werde die Preissteigerungsrate von 3 auf 2 und von 2 auf 1 °/o herunterbringen. Nun haben wir aber Preissteigerungen an die 6 %. Herr Kollege Nölling, das können Sie doch nicht wegdiskutieren. Sie haben uns, als wir vor zwei Jahren vor Inflationspolitik gewarnt haben, zu verketzern versucht und gesagt: Es ist unerhört, dieses Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. Sie haben die Dinge verniedlicht und weiter verniedlicht. Jetzt stehen Sie aber vor eben dieser Tatsache. Herr Schellenberg, Sie haben mir leid getan, als Sie gestern vor den Kriegsopfern sprachen. Ich habe deshalb sehr sachlich und ruhig gesprochen.
— Das habe ich von Ihnen gelernt, Herr Wehner. Sie sind ja immer so sachlich und so ruhig.
Das habe ich von Ihnen abgeguckt. Ich werde mich darin noch weiter üben.Herr Kollege Schellenberg, ich habe doch auch Kriegsopferkongresse erlebt, auf denen Sie als Oppositionssprecher in der Westfalenhalle aufgetreten sind. In welche Richtung gingen denn da Ihre Ausführungen? Sie müssen sich an dem messen lassen, was Sie in der Regierungserklärung versprochen haben. Sie müssen sich aber auch daran messen lassen, wie Sie sich in der Opposition in den vergangenen 20 Jahren eingelassen haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Glombig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich mir die Ausführungen der Debattenredner zum Sozialbericht 1971 noch einmal vor Augen führe, so habe ich das Gefühl, daß viele der Kollegen der Opposition, vor allem auch Herr Dr. Götz, hier wie ein Rechtsanwalt argumentiert haben, der großen Eindruck bei seinen Klienten gemacht, aber hinsichtlich der Urteilsfindung und des Urteilsspruches kaum etwas zur Sache beigetragen hat.
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7894 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
GlombigSie haben viele Behauptungen aufgestellt, ohne dafür cien Beweis anzutreten. Das hat sich eigentlich in den Ausführungen der letzten beiden Diskussionsredner, der Kollegen Franke und Katzer, fortgesetzt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage:
Ja, bitte schön!
Herr Kollege Glombig, halten Sie es für eine Behauptung, die nicht bewiesen werden kann, wenn gesagt wird, daß z. B. die Preissteigerungsrate 6 °/o beträgt und daß wir auf Grund dieser Preissteigerungen in diesem Jahre erstmalig einen sehr deutlichen Rückgang der Realeinkommen der Rentner zu verzeichnen haben?
Nein, ich halte das nicht für eine Behauptung, die nicht bewiesen werden kann. Aber hier ist doch auch klargemacht worden, wieso es überhaupt zu einer solchen Entwicklung kommen konnte und welche Maßnahmen wir treffen wollen, um dieser Entwicklung auch im Hinblick auf die besonderen Interessen der Rentner zu begegnen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich fange ja gerade erst an. Lassen Sie mich erst einmal weiterreden, damit ich zu einer Gesamtdarstellung dessen kommen kann, was ich hier zu sagen habe.
Ich möchte mich mit dem, was Herr Kollege Franke hier im Hinblick auf die Kriegsopferversorgung gesagt hat, kurz auseinandersetzen. Er verwies auf die Forderung der Kriegsopferverbände, insbesondere des VdK, daß die Rentenanpassung für das Jahr 1972 2,5 % mehr betragen müsse, weil sich die Schere zwischen Grund- und Ausgleichsrente einerseits und allgemeiner Bemessungsgrundlage in der Rentenversicherung andererseits zwischen 1960 und 1971 trotz der Dynamisierung der Kriegsopferrenten immer mehr aufgetan habe. Sie müssen dann aber auch sagen, daß die allgemeine Bemessungsgrundlage in der gesetzlichen Rentenversicherung bisher niemals — auch nicht in der Zeit, als Sie die Regierung gebildet haben — Richtschnur für die Anpassung und Entwicklung der Leistungen in der Kriegsopferversorgung gewesen ist. Das war vielmehr eine Forderung der Kriegsopferverbände, die niemals erfüllt worden ist, weil sie — vor allem nach Ihren Darlegungen damals — nicht erfüllt werden konnte.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Dynamisierung der Kriegsopferversorgung sagen, damit auch folgendes klar wird. Es ist keinesfalls so, daß es damals hei der Einführung der Dynamisierungsklausel in der Kriegsopferversorgung allein darum ging, ob die Dynamisierung finanziell sichergestellt sei. Das haben wir Ihnen bei den Ausschußberatungen immer wieder klargemacht. Ihr Argument war ein ganz anderes. Ihr Argument war, es müßte erst einmal die Struktur der Leistungen der Kriegsopferversorgung erheblich verbessert werden, bevor man zu einer Dynamisierung der Kriegsopferrenten käme. Wir haben in den Ausschußberatungen seit 1962 regelmäßig die Dynamisierung der Kriegsopferrenten gefordert; Sie haben dem niemals zugestimmt.
Sie haben dann von einer Gesamtkonzeption gesprochen, davon, daß die Segnungen der wirtschaftlichen Entwicklung auch den Rentnern zugute kommen müßten. Herr Kollege Franke, die Segnungen der wirtschaftlichen Entwicklung kommen den Rentnern in dem Umfang zugute, den wir mit der Rentenreform des Jahres 1957 gemeinsam festgelegt haben. Übrigens gab es dabei eine große Zahl von CDU/CSU-Kollegen, die der Einführung der Dynamisierungsklausel in der Rentenversicherung damals nicht zugestimmt haben. Der frühere CDU-Bundeskanzler Erhard sprach in diesem Zusammenhang sogar von einem „Giftzahn" der Sozialpolitik — ganz abgesehen davon, daß Sie sich doch als sogenannter „linker" Flügel oder „Arbeitnehmerflügel" der CDU/CSU ohne Unterstützung der Sozialdemokraten niemals haben wirklich durchsetzen können. Wenn Sie überhaupt etwas erreichen wollten, konnten Sie das nur mit der Unterstützung der Sozialdemokraten erreichen.
Sonst wären Sie bei der Durchsetzung von sogenannten „Gesamtkonzeptionen" immer auf der Strecke geblieben.
Herr Kollege Franke, Sie haben in dem Zusammenhang auch von der Steuerreform gesprochen. Zur Diskussion über die Steuerreform haben Sie bisher — außer negativer Kritik nun wirklich überhaupt nichts beigetragen. Sie haben davon gesprochen, daß auch die Steuerreform den Anteil am wirtschaftlichen Wachstum der Minderverdienenden und derjenigen, die ein mittleres Einkommen haben, sicherstellen solle. Bisher habe ich von Ihnen nun wirklich nichts gehört, was von Interesse und Beachtung wäre.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Breidbach?
Ich möchte im Augenblick keine Zwischenfragen beantworten.Herr Kollege Katzer hat von der nachzuholenden Rentenanpassung gesprochen und davon, daß die SPD in früheren Jahren diese nachzuholende Rentenanpassung gefordert habe. Das stimmt. Aber seitdem sind doch immerhin 13 Jahre vergangen,
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7895
Glombigund was das finanziell, auch für die Rentenversicherung, bedeutet, das haben wir Ihnen in der Diskussion über das 14. Rentenanpassungsgesetz deutlich zu machen versucht. Wir haben gesagt, daß wir uns darüber unterhalten wollen, wie wir denjenigen helfen können, die auch nach unserer Auffassung bei den Rentenanpassungen zu kurz kommen, und daß wir vor allem die Kleinrenten entscheidend verbessern wollen. Hier hoffen wir auf Ihre Mithilfe. Wir glauben, daß wir hier einen vernünftigen Weg gehen können. Erst einmal müssen wir die Vorlage der Bundesregierung abwarten.
Ihr Entwurf ist schon im Hause, aber doch nur auf dem Felde der Anpassung der Renten. Dabei wird doch — das ist bereits ausgeführt worden — die Kluft zwischen den Kleinrenten und den höheren Renten immer größer. Das Problem der Kleinrenten lösen Sie doch mit Ihrem Gesetzentwurf nicht im entferntesten.Noch ein Wort zu der sogenannten „Solidität" — der „Solidität" der Anträge der CDU/CSU-Fraktion und der „Unsolidität" der Anträge der Koalition. Jedenfalls habe ich es so verstanden, daß die Unterscheidung in dieser Weise vorgenommen worden ist. Bei der Beratung über das 14. Rentenanpassungsgesetz haben wir schon zum Ausdruck gebracht, daß die Auswirkungen auf den Bundeshaushalt gesehen werden müssen.
Damals hat die Opposition in einer einzigen Woche 150 Millionen DM mehr Kindergeld verlangt, 70 Millionen DM mehr für die Ausbildungsförderung und 500 Millionen DM für die Kriegsopfer, wenn auch sie die erhöhte Rentenanpassung haben sollten, und das muß man ja auch im Hinblick auf den neuen, jetzt eingebrachten Antrag, die erhöhte Rentenanpassung für 1973 auf den 1. Juli 1972 vorzuziehen, unterstellen. Die Kriegsopfer müßten sie ja ebenfalls haben, wenn die Sozialrentner sie bekämen.
Die Opposition setzt damit — ich wiederhole es; das erleben wir seit eindreiviertel Jahren — eine verhängnisvolle, eine kurzsichtige und isolierte Sozialpolitik fort, natürlich in der Absicht, sich bei allen Gruppen in dieser Gesellschaft beliebt zu machen, und zwar ohne Rücksicht auf die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen.Meine Damen und Herren, ich hatte eigentlich die Absicht, noch einige Worte zum Sozialbericht selbst und zu der Bedeutung des Sozialberichts zu sagen. Der Sozialbericht zeigt uns, so meine ich, daß die neuere Entwicklung des Systems der sozialen Sicherung vor allem durch drei Grundrichtungen gekennzeichnet ist, die im übrigen die enge Verflechtung des Sozialbereichs mit der allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung deutlich machen — das sind nicht nur Phrasen, das sind nicht nur Formulierungen, sondern dafür kann man cien Beweis antreten —: 1. durch die Ausweitung des gesicherten Personenkreises, 2. durch die zunehmende Orientierung der Höhe und ,der Qualität der Leistungen am wachsenden Lebensstandard der Bevölkerung, 3. durch den Vorsorgegedanken in der Sozialpolitik.Das konkrete soziale Sicherungsbedürfnis ist in wachsendem Maße zur Richtschnur gesellschaftlichen Handelns der Koalition geworden. Ich möchte Sie daher an folgendes erinnern: 1. an die Unfallversicherung für Schüler, Studenten und Kinder, 2. an das erweiterte Beitrittsrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung für alle Angestellten, 3. daran, daß wir eine Einbeziehung der Landwirte in die gesetzliche Krankenversicherung planen, 4. daran, daß wir die Einbeziehung der Schwerbehinderten und der Minderjährigen in Heimerziehung in die Sozialversicherung vorgesehen haben, 5. daran, daß wir die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige einschließlich der Angehörigen freier Berufe, für mithelfende Familienangehörige und für nicht erwerbstätige Frauen vorgesehen haben.Daß es sich hierbei nun wirklich nicht um Leistungen oder auch nur Konzeptionen der Opposition handelt, ist ja wohl inzwischen offenkundig geworden. Es hätte Ihnen gut angestanden, wenn Sie hier der Objektivität halber auch einmal zum Ausdruck gebracht hätten, daß das echte Leistungen dieser Koalition und dieser Bundesregierung sind.
Das wäre für Sie nicht abträglich gewesen, sondern es hätte die geschichtliche Wahrheit nur unterstrichen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke ?
Bitte schön!
Herr Kollege Glombig, ist Ihnen entgangen, daß Sie hier Ankündigungen der Bundesregierung verteidigen, während wir z. B. die Öffnung der Rentenversicherung als Gesetzentwurf schon auf dem Tisch liegen haben?
Was wir hinsichtlich der Öffnung der Rentenversicherung vorhaben, ist seit langem bekannt. Die Bundesregierung hat das veröffentlicht. Es ist gar kein Zweifel, daß ein solcher Gesetzentwurf in Bälde vorgelegt wird. Daß Sie heute bereits überstürzt Ihren Gesetzentwurf vorgelegt haben, ohne dabei z. B. die erwerbstätigen Frauen in dem Umfange zu berücksichtigen, wie es notwendig gewesen wäre, ist doch wiederum nur ein rein taktisches Unterfangen der Opposition, um nach Möglichkeit der Koalition zuvorzukommen, ohne die Dinge, um die es geht, klar zu durchdenken und auch die Konsequenzen zu überlegen.
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7896 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Herr Abgeordneter Glombig, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Franke?
Keine Zwischenfrage mehr, bitte!
Die soziale Sicherung hat nicht nur den Schutz des einzelnen in Notlagen zum Ziele, sondern darüber hinaus in immer stärkerem Maße die Erhaltung seines Lebensstandards. Deshalb darf ich noch einmal unterstreichen, daß wir ,die Leistungen der Kriegsopferversorgung, das Unterhaltsgeld für Fortbildung und Umschulung, die Einkommensgrenzen in der gesetzlichen Krankenversicherung dynamisiert haben, und daß auch ein Ansatz zur Dynamisierung der Leistungen der hüttenknappschaftlichen Pensionsversicherung im Saarland vorhanden ist. Auch hierbei handelt es sich um keine Leistungen der Opposition, noch nicht einmal in der Kriegsopferversorgung, aber auch auf den anderen Gebieten nicht. Das festzustellen ist mir ein besonderes Anliegen.
Meine Damen und Herren, die gesellschafts- und sozialpolitischen Ziele der Bundesregierung sind durch diesen Sozialbericht gekennzeichnet: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Sicherheit in der gesellschaftlichen Entwicklung und dadurch mehr Chancen für die Selbstbestimmung des einzelnen. Um diese Ziele unter den Bedingungen und Möglichkeiten der Gesellschaft von heute zu erreichen, hat die Bundesregierung ihre Sozialpolitik an den folgenden Leitlinien orientiert — lassen Sie mich diese noch einmal in Erinnerung rufen —: Ausbau der sozialen Sicherheit für alle Bürger, z. B. durch die Öffnung der Rentenversicherung, vorsorgende Einflußnahme auf die Gestaltung von sozialen Prozessen durch die Sozialpolitik, z. B. durch Vorsorgeuntersuchungen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Appell an diejenigen richten, für die wir die gesetzlichen Möglichkeiten geschaffen haben, nämlich an all diejenigen, die dafür in Frage kommen, nun auch von diesen Vorsorgeuntersuchungen in ihrem und im Interesse ihrer Familien Gebrauch zu machen. Weitere Leitlinien sind mehr Selbstbestimmung des einzelnen durch mehr Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen, z. B. durch das Betriebsverfassungsgesetz — hier werden wir ja noch erleben, wie Ihre Haltung sein wird, wenn es in die Endauseinandersetzung geht — und eine gerechtere Verteilung des Vermögenszuwachses in der Volkswirtschaft, z. B. durch die Vermögensbildung. Darüber ist hier ja bereits einiges ausgeführt worden. Außerdem wünschen wir mehr Überschaubarkeit und größere Verständlichkeit in der Sozialgesetzgebung, z. B. durch ,das Arbeitsgesetzbuch und das Sozialgesetzbuch — das sollte bei der Debatte über den Sozialbericht nicht vergessen werden — und mehr Wahlfreiheit bei den Sozialleistungen für die Wechselfälle des Lebens, z. B. durch die Einführung der flexiblen Altersgrenze.
Ich möchte jeden von Ihnen, vor allem auch Sie, Herr Kollege Katzer, davor warnen, hier die ältere Generation der Rentner gegen die jüngere Generation, die im aktiven Arbeitsleben steht, in der Weise auszuspielen, wie Sie es seit Wochen und Monaten tun. Hier steht das berechtigte Interesse der aktiv Tätigen an strukturellen Verbesserungen der Leistungen dem berechtigten Interesse der Rentner an einer noch größeren Anpassung ihrer Renten gegenüber. Ich meine, man sollte diese Auseinandersetzung nicht damit führen, daß man die verständliche Angst der Rentner auf diese nicht ganz solide Art und Weise schürt und so tut, als wenn das Ende des wirtschaftlichen Wachstums für die Rentner bereits da wäre.
Der diesjährige Sozialbericht hat vor allem zwei Dinge in überzeugender Weise gezeigt, nämlich erstens, durch welche Maßnahmen die Bundesregierung ihre Zielvorstellungen bereits im ersten und zweiten Jahr der Legislaturperiode konkretisiert hat, und zweitens, wie der Stand der Vorarbeiten für weitere Vorhaben ist.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gibt es in einem anderen Industrieland eine solch umfassende und vielgestaltige Darstellung des sozialen Problems? — Ich glaube nicht.
Aber das kann ja auch gar nicht anders sein, wenn man bedenkt, daß wir es unter dem Strich mit einem Sozialbudget von weit über 100 Milliarden DM zu tun haben. Die Bedeutung des Sozialbudgets wiegt so schwer, daß es von der Opposition nicht mehr vom Tisch gewischt werden kann. Trotzdem ist der Sozialbericht kein Dokument der Selbstzufriedenheit, sondern ein Hauptbuch, in dem sich eine sozial aufgeschlossene und demokratische Gesellschaft regelmäßig Aufschluß über ihre soziale Lage, ihre sozialen Fortschritte und ihre weiteren sozialen Aufgaben gibt. Er ist keine isolierte Sozialbilanz, sondern eine mit der Finanzplanung und mit der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung abgestimmte Dokumentation. Aus ihm ergibt sich immer mehr, was man die Methoden und Inhalte moderner Gesellschaftspolitik nennen kann. Hier sind wir in einunddreiviertel Jahren, meine Damen und Herren, weiter gekommen, als manchem bewußt ist, und wir sind vor allem weiter gekommen, als die Opposition wahrhaben will.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Schmidt hat meinem Kollegen Dr. Götz den Vorwurf gemacht, er habe behauptet, in dem Bericht stünden nur viele Worte und nichts Konkretes. Herr Kollege Glombig hat dieselbe Behaup-
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7897
Müller
tung in etwas anderer Weise aufgestellt und gesagt, er habe hier zwar Behauptungen vorgetragen, sei aber den Beweis dafür schuldig geblieben.Meine Damen und Herren, ich möchte nur drei Beweise auf einem Gebiet, das hier fast gar nicht berührt worden ist, antreten, nämlich auf dem Gebiet der Berufsbildung. Damit komme ich auch zu einer Frage, bei der ich die Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen wollte, sie hier wenigstens mit ein paar Bemerkungen anzuschneiden.In Ziffer 85, berufliche Ausbildung, heißt es — mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich vielleicht zwei Sätze zitieren —, daß bei den betroffenen jungen Menschen Unruhe herrscht, und dann steht dort weiter: „Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß das Berufsbildungsgesetz nicht alle Erwartungen erfüllen konnte." Niemand wird das Gegenteil behaupten wollen. Aber in diesem Bericht sind — im Gegensatz zu Ziffer 93, wo es um die Förderung der beruflichen Bildung im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes geht, also die Bundesanstalt für Arbeit betroffen ist — keine konkreten Angaben enthalten, nicht einmal darüber, inwieweit die Möglichkeiten des Berufsbildungsgesetzes überhaupt ausgeschöpft worden sind.Dann heißt es in Ziffer 86 — um auch hier nur ganz wenige Sätze zu zitieren —: „In Kürze werden neue Ausbildungsordnungen für Schlosser-Berufe . . . als Rechtsverordnungen erlassen. In diesen Ausbildungsordnungen wird nach Möglichkeit das Prinzip der Stufenausbildung verwirklicht." Meine Damen und Herren, nachdem das Gesetz vor mehr als zwei Jahren verabschiedet worden und im September 1969 in Kraft getreten ist, frage ich mich, wie lange man eigentlich braucht, um solche Ausbildungsordnungen zu erlassen. Deshalb frage ich den Herrn Minister: Können Sie wenigstens heute — denn von Mai bis heute ist schon eine Zeit verstrichen — konkrete Angaben machen, welche von diesen Berufsausbildungsordnungen erlassen worden sind?Weiter heißt es in Ziffer 87: „In Abstimmung mit dem Bundesausschuß für Berufsausbildung bereiten die federführenden Ressorts der Bundesregierung eine Rechtsverordnung vor, die höhere fachliche und berufspädagogische Anforderungen an die Ausbilder festlegt . . . Auch hier frage ich mich, ob innerhalb dieser zwei Jahre nicht wenigstens in diesem Bericht einige konkrete Angaben dazu gemacht werden konnten, was eigentlich das Ergebnis dieser Beratungen und Erörterungen gewesen ist.Noch ein letztes Beispiel aus diesem Gebiet. Hier heißt es in Ziffer 88, die Bundesregierung werde zur Überwachung der Berufsausbildung Grundsätze erstellen. Da nichts Konkretes über diese Grundsätze hier drinsteht, frage ich mich, ob man so lange Zeit braucht, wenn draußen, wie es in Ziffer 85 heißt, die Betroffenen unruhig werden, um solche Grundsätze zu erstellen. In diesem Sozialbericht sind darüber nichts weiter enthalten als nur Absichtserklärungen.Meine Damen und Herren, mit diesen drei Beispielen habe ich, wie ich glaube, tatsächlich denBeweis geliefert - und das kann man an anderenStellen auch tun —, daß nur Absichtserklärungen und viele Worte ohne konkrete Angaben darüber hier drinstehen, was eigentlich auf diesem Gebiet hätte gemacht werden können.
Ich will abschließend nur noch zur Richtigstellung — weil vorhin in der Debatte über die Vermögensbildung bzw. über den Beteiligungslohn Behauptungen aufgestellt wurden, die nicht ganz stimmen — folgendes feststellen.Erstens. Hinter dem Entwurf eines Beteiligungslohngesetzes steht die ganze Fraktion der CDU/CSU.Zweitens. Richtig ist, daß in der Anhörung der Sachverständigen — nun hören Sie gut zu! — Arbeitgebervertreter und Gewerkschaftsvertreter in trautem Verein plötzlich entdeckten, daß man solche Fragen nur in freier Vereinbarung im Rahmen der Tarifautonomie regeln sollte, nachdem man die vorausgegangenen fünf Jahre verstreichen ließ, ohne Wesentliches auf diesem Gebiet zu tun. Meine Damen und Herren, Sie können nicht sagen, daß das 624-DM-Gesetz die Ursache war, denn auch heute noch liegen die vermögenswirksamen Leistungen durchschnittlich unter den 312 DM, die seinerzeit üblich waren.
Herr Abgeordneter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vogt?
Herr Kollege Müller, würden Sie bestätigen, daß die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften auch gegen das ursprüngliche 312-DM-Gesetz gewesen sind und daß deshalb das Argument, die beiden Tarifpartner seien gegen den gesetzlichen Beteiligungslohn, überhaupt nichts aussagt über die sachliche Berechtigung dieses Gesetzentwurfs?
Ich kann das nur bestätigen. Das ist wahrscheinlich auch die Ursache oder das Motiv, warum in den voraufgegangenen fünf Jahren kein Abschluß getätigt wurde.
Schließlich als letztes: Sie, meine Damen und Herren, die Sie in dem zuständigen Ausschuß sind, wissen, daß die Beratungen nicht deshalb zurückgestellt wurden, weil wir keinen Mut hätten, diese Sache zu verteidigen, sondern deshalb, weil wir warten, bis der Vermögensbildungsbericht der Bundesregierung vorliegt, auf den wir allerdings schon einige Monate warten. Dann werden Sie Gelegenheit haben, Ihr Herz für die Vermögensbildung der Arbeitnehmer tatsächlich noch zu entdecken.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Prof. Dr. Schellenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Katzer hat nach
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7898 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Dr. Schellenbergden genauen Auswirkungen der Anträge der CDU zur sozialen Sicherheit auf die Haushaltslage gefragt. Ich möchte das konkretisieren, und zwar zuerst für das Jahr 1972.Die Anträge erfordern erstens 280 Millionen DM Erhöhung der Mittel für die Kriegsopferversorgung durch den Zuschlag zur Rentenautomatik, zweitens 230 Millionen DM Erhöhung der Bundeszuschüsse zur Knappschaft durch den Zuschlag zur Rentenautomatik, drittens 50 Millionen DM Bundesmittel für die „Stiftung Nachversicherung" gemäß Drucksache VI /2153, die heute auf der Tagesordnung stand, viertens — von der CDU völlig übersehen — Steuermindereinnahmen durch zusätzlichen Vorwegabzug der Hälfte der Jahresbeiträge zur Rentenversicheung der Selbständigen nach Art. 4 des gleichen Gesetzentwurfs berechnet vom Bundesfinanzministerium auf 330 Millionen DM. Das bedeutet insgesamt haushaltsmäßige Auswirkungen für 1972 in Höhe von 890 Millionen DM.Die Auswirkungen auf die Finanzplanung von 1972 bis 1975, die wir auch zu beachten haben, setzen sich wie folgt zusammen: Erhöhung der Bundeszuschüsse der Kriegsopferversorgung um 1 380 Millionen DM, Erhöhung der Bundeszuschüsse zur Knappschaftsversicherung um 1 154 Millionen DM, Mittel für die „Stiftung Nachversicherung" in Höhe von 150 Millionen DM, Steuermindereinnahmen nach Art. 4 in Höhe von 1 360 Millionen DM. Insgesamt wirken sich also die vorliegenden Anträge zur soizalen Sicherung mit über 4 Milliarden DM auf die Finanzplanung aus.
Herr Professor Schellenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Katzer?
Nein. Ich wollte nur eine zusätzliche Aufklärung geben.
Im Hinblick auf das, was Herr Kollege Müller wegen der Beratung des Beteiligungslohngesetzes gesagt hat, muß ich eine Richtigstellung vornehmen. Die Ausschüsse haben die Beratung deshalb nicht fortsetzen können, weil genaue Berechnungen über die finanziellen Auswirkungen angefordert werden mußten.
Diese genauen Berechnungen liegen jetzt allen Mitgliedern der beteiligten Ausschüsse vor. Danach betragen im Entstehungsjahre 1972 die Steuermindereinnahmen und Prämienausgaben voraussichtlich für Bundeshaushalt und Länderhaushalte insgesamt etwa 4,6 Milliarden DM, davon allein für den Bund 2,8 Milliarden DM. Das ist der wahre Grund, weshalb der Gesetzentwurf für ein Beteiligungslohngesetz von der CDU/CSU selbst in den Ausschüssen nicht weiter betrieben wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Franke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte eigentlich nur dem Kollegen Glombig antworten. Den letzten Satz nehme ich aber zum Anlaß, Ihnen auch noch einmal etwas zu sagen, Herr Kollege Schellenberg, als dem Vorsitzenden des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung.
Wir haben vor den Sommerferien noch einmal den Antrag gestellt, den Gesetzentwurf für ein Beteiligungslohngesetz zu beraten, nachdem der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Ihnen einen Brief geschrieben und darum gebeten hat, daß dieser Gesetzentwurf endlich einmal beraten wird. Sie, sehr verehrter Herr Kollege Schellenberg, haben mit der Mehrheit des Ausschusses und bis zur Verteilung weiteren Materials darauf bestanden, daß erst das Betriebsverfassungsgesetz beraten wird, d. h. es liegt ausschließlich in Ihrer Hand und in der Hand der Mehrheit des Ausschusses, daß der Entwurf nicht beraten wird.
Zweitens. Herr Kollege Glombig hat bedauert, daß wir den vielen Ankündigungen im Sozialbericht 1971 kein Lob gezollt haben. Verehrter Herr Kollege Glombig, wir können dem auch kein Lob aussprechen, sondern Sie hätten eigentlich uns loben müssen; denn dort, wo Sie ankündigen, haben wir inzwischen längst Gesetzentwürfe auf den Tisch gelegt.
Ich darf erinnern. Erstens. Krankenversicherung der Landwirte. Zweitens. Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige. Drittens. Anhebung der Geringrenten für 233 000 Männer und 800 000 Frauen. Das sind Gesetzentwürfe, die inzwischen im Hause eingebracht sind.
Das sind unsere Entwürfe. Diese Entwürfe sollten Ihr Lob erfahren.
Ich darf mit einem Wort schließen, das soeben bei uns in den Abgeordnetenreihen geboren wurde: Wir halten das, was Sozialdemokraten versprochen haben.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will trotz der vorgerückten Stunde doch noch einige Bemerkungen zu den hier gemachten Ausführungen zum Sozialbericht 1971 machen. Dabei möchte ich insbesondere das Wort meines verehrten Vorgängers, des Kollegen Katzer, aufgreifen, der gesagt hat, diese Regierung müsse sich messen lassen an der Regierungserklärung und an den Taten, die sie vollbringt.
Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7899
Bundesminister Arendt
— Genau das, Herr Kollege Katzer, ist — das müssen Sie jetzt bei der Vorlage des Sozialberichts 1971 feststellen — eine eindrucksvolle Leistungsbilanz. Das ist kein Ankündigungsprogramm, sondern das fast buchhalterische Abhaken der in der Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 angekündigten Vorhaben auf dem Felde der Sozial- und Gesellschaftspolitik.
Ich weiß - meine Kollegen von der Fraktion
haben den Versuch gemacht, Ihnen das noch einmal vorzuführen —, daß wir auch das nächste Jahr dazu benutzen müssen, Ihnen zu zeigen, wie eindrucksvoll die Leistungen dieser Regierung auf dem Felde der Sozialpolitik sind. Sehen Sie, die Verbesserung der Kriegsopferversorgung vom 1. Januar 1970 bestand doch nicht nur aus einer generellen Erhöhung der Renten, sondern dabei wurden auch strukturelle Maßnahmen durchgeführt. Zum erstenmal wurden die Witwenrenten auf 60 % der Rente eines Erwerbsunfähigen gebracht, so wie es in der Sozialversicherung schon der Fall war.
Außerdem haben wir die Leistungen dynamisiert. Wir hätten genausogut über dieses Gesetz „Neuordnungsgesetz" schreiben können. Bei der letzten Anpassung, die das Kabinett beschlossen hat, ist beispielsweise auch eine jährliche Anpassung der Berufsschadens- und Schadensausgleichsrenten beschlossen worden. Das ist ebenfalls eine strukturelle Verbesserung,
die die 2,6 Millionen Anspruchsberechtigten als eine solche zu würdigen wissen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Katzer?
Nein, ich möchte das erst einmal im Zusammenhang abhandeln. Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kollege Katzer.
Ich möchte Ihnen ein zweites Beispiel sagen. Die Krankenversicherung ist durch das zweite Gesetz zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung entscheidend reformiert worden. Wenn Sie fragen, was denn das für eine Reform ist, dann möchte ich Ihnen in der Tat empfehlen, einmal die 4 Millionen Angestellten draußen im Lande, die dies Monat für Monat auf ihrem Gehaltsstreifen ablesen können, zu fragen, was der Anteil des Arbeitgebers zum Krankenversicherungsschutz für sie materiell bedeutet.
- Sehen Sie, Herr Kollege Katzer, so ist das:
Wenn Sie etwas tun, ist das eine großartige Reform, und wenn wir etwas tun, ist das eine ganz normale und natürliche Entwicklung. Das ist der Unterschied zwischen unseren Auffassungen
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Kalinke?
Nein, ich möchte meine Ausführungen zusammenhängend machen. Es tut mir leid, verehrte Frau Kollegin Kalinke.
Sehen Sie, wir könnten den Katalog — das muß einmal gesagt werden — fortsetzen: Die Einbeziehung der Schüler, der Studenten und der Kinder in den Kindergärten in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ist eine Reform. Damit ist eine Ankündigung erfüllt worden. Die Verabschiedung des agrarsozialen Ergänzungsprogramms — das letzte Stück in Form der Krankenversicherung der Landwirte und der Altenteiler wird noch kommen— ist ein Stück Reformpolitik, so wie es der Bundeskanzler angekündigt hat. Das haben wir in zwei Jahren erledigt. Wir haben — lassen Sie mich dazu auch noch ein Wort sagen — die Vermögensbildung vorangetrieben. Herr Kollege Katzer weiß genau, daß das keine leichte Materie ist. Sie wissen, daß der sogenannte Burgbacher-Plan bei der Anhörung von den meisten Verbänden abgelehnt worden ist.
— Sicher! Aber das 312-DM-Gesetz ist ebenfalls reformiert worden. Ich möchte nicht zulassen, daß Sie das mit einer Handbewegung einfach abtun.
— Nein, nein, Herr Franke, es ist nicht nur der Begünstigungsrahmen verdoppelt worden, sondern hier sind grundsätzliche Änderungen eingetreten.
Wissen Sie, warum? Das will ich Ihnen jetzt einmal sagen.
Wissen Sie, warum die Gewerkschaften in früherer Zeit keine entsprechenden Tarifverträge abgeschlossen haben? Weil sie den arbeitenden Menschen in ihren Organisationen nicht zumuten wollten, daß die unsozialen und ungerechten Elemente, die in dem Gesetzentwurf enthalten waren, weiterentwickelt würden. Das ist die Wahrheit.
Hier wurde — das läßt sich doch nicht bestreiten —nach dem Motto verfahren: Wer hat, ,dem wird ge-
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7900 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Bundesminister Arendtgeben. Wer Steuern zahlen mußte, bekam noch eine Steuerbefreiung.
Jetzt ist es damit vorbei, und jetzt haben die Gewerkschaften in einem riesengroßen Ausmaß von dieser Möglichkeit beim Abschluß von Tarifverträgen Gebrauch gemacht. — Entschuldigen Sie, ich will es gar nicht so bierernst machen, sondern ich möchte nur ein allgemeines Wort sagen.Herr Kollege Götz, Sie haben gesagt, ich hätte viele Worte gemacht, aber wenig Konkretes ausgesagt. Abgesehen davon, daß Sie doppelt so lange wie ich gesprochen haben, weil ich auf den Sozialbericht verwiesen habe, habe ich in der Tat wenig Konkretes gefunden, was Ihrerseits Kritik verdient hätte. Aus Ihren Worten ging das nicht hervor.Manchmal — ich meine das gar nicht abfällig — kommt mir das von seiten der Opposition so vor wie die Geschichte von dem Boxer, der nach Amerika kam und, als er in New York ankam, von Reportern gefragt wurde: Was halten Sie denn von Hollywood? Da sagte der Boxer: Wissen Sie, den kenne ich nicht, aber in der zweiten Runde werde ich ihn k.o. schlagen.
So ungefähr kommt mir das vor. Sobald Sie etwas von einem Fortschritt und einem abzuhakenden Punkt in der Regierungserklärung hören, setzt Ihre Kritik ein, und dann ist das alles nichts.
— Nein, das habe ich mir sehr genau angehört, was hier gesagt wurde.
Nun haben Sie gewarnt und gesagt, wir sollten mit den Ankündigungen vorsichtiger sein, wir sollten erst denken und dann veröffentlichen. Ich habe mir das einmal angeguckt. In dem Augenblick, wo in meinem Hause ein Referentenentwurf erstellt ist — Sie haben natürlich gute Beziehungen, das verstehe ich schon —, handeln Ihre gesellschaftspolitischen Kommentare mit diesen Referentenentwürfen, und gegen Einsendung von 5 DM kann man dann den Referentenentwurf für ein Betriebsverfassungsgesetz oder den zum Rentenreformgesetz beziehen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herr Abgeordneten Katzer?
Bitte sehr!
Herr Minister Arendt, das geht nun wirklich nicht. Da muß ich mich schützend vor alle Beamten Ihres Hauses stellen. Sie wissen ganz genau, daß ein Referentenentwurf allen Verbänden zugeleitet wird und daß dann natürlich bei diesem sehr großen Verteilungsapparat — darunter habe ich auch schon gelitten — die Dinge an die Öffentlichkeit kommen. Ich glaube, es ist nicht fair, wenn Sie hier unterstellen, daß wir Verbindungen zum Hause hätten und auf diesem Wege irgend etwas bekämen.
Nein, — —
Ich bedanke mich. Ich wollte das nur klarstellen, damit da nicht der geringste Zweifel entsteht.
Herr Abgeordneter Katzer, das war leider keine Frage.
Ich will mich kurz fassen. Es ist noch ein Wort zur beruflichen Bildung gesagt worden. Herr Kollege Müller, hätten Sie den Sozialbericht gelesen, dann hätten Sie gefunden, daß z. B. auf Seite 55 steht, was in Ausführung des Berufsbildungsgesetzes bisher schon geschehen ist. Es sind schon eine ganze Reihe Ausbildungsordnungen verabschiedet, und andere sind in Arbeit.
Wir haben große Mühe gehabt — das wissen Sie , die im Berufsbildungsgesetz verankerten Einrichtungen zum Leben zu erwecken.
Wir werden uns — das kann ich Ihnen sagen — zielstrebig, so wie es im Aktionsprogramm für berufliche Bildung der Bundesregierung steht, darum bemühen, in der zweiten Hälfte dieser Legislaturperiode Punkt für Punkt und Zug um Zug die Erledigung der angekündigten Vorhaben vorzunehmen.Abschließend möchte ich noch einmal folgendes sagen. Zu Beginn dieser Amtszeit haben Sie gefragt: Was haben Sie für Prioritäten, nach welcher Reihenfolge werden Sie vorgehen, und wie sieht das denn aus? Wir haben 1970 diesen Programmbericht vorgelegt. Da haben wir festgelegt und niedergeschrieben, wie unsere Auffassung von der Erfüllung dieses Mehr an sozialer Gerechtigkeit in unserem Lande aussieht. Wir haben in diesem Sozialbericht 1971 — ich sage: in eindrucksvoller Weise — deutlich gemacht, daß ein Großteil der in der Regierungserklärung angekündigten und im Sozialbericht 1970 konkretisierten Vorhaben seine Erledigung gefunden hat und daß andere wichtige Bereiche in der Bearbeitung sind oder auf den Weg gebracht worden sind. Wir werden im Ablauf dieser Legislaturperiode im Jahre 1973 die Schlußbilanz ziehen. Dann werden Sie feststellen, daß es in der Tat in dieser Zeit einen so großen Fortschritt im Feld der Sozial- und Wirtschaftspolitik gegeben hat, wie er in der
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7901
Bundesminister ArendtVergangenheit nach 1945 noch nicht festzustellen war.
Ich verspreche Ihnen, daß sich die Bundesregierung in der Sicherung und Ausweitung der sozialen Einrichtungen auch von der Opposition nicht übertreffen lassen wird. Wir werden zielbewußt und zielstrebig weiterarbeiten, und wir sind davon überzeugt, daß die Menschen draußen im Lande als Reform werten, was diese Politik für die einzelnen unmittelbar bedeutet.
Diese Regierung wird weitermachen, und wir werden schon die nächste Gelegenheit benutzen, im Nachtrag zu diesem Zahlenwerk und diesem Sozialbericht deutlich zu machen, wie wir von der Vorlage im Frühjahr dieses Jahres bis zu den Herbsttagen des Jahres 1971 weiter vorangeschritten sind.Ein letztes Wort, soweit das Niveau und die Vorhaben im Zuge der zweiten Rentenreform in Frage kommen. Ich möchte gar nicht wiederholen, was hier von den Sprechern im einzelnen dargelegt worden ist, obwohl es dazu sehr viel zu sagen gäbe, etwa zu der Netto- und Bruttorechnung und was alles dazukommt. Ich will Ihnen aber auch einmal eine andere Rechnung aufmachen, Herr Kollege Katzer. Deshalb halte ich auch diesen Hinweis, noch nie seien die Renten so niedrig gewesen, für nicht richtig.
— Ja, das Niveau. Die Renten sind noch nie so hoch gewesen wie jetzt. Soweit das Niveau in Frage kommt, ist es doch einfach so:
40 % von 2000 DM sind eben mehr als 70 % von 1000 DM. Das wissen Sie so gut wie ich, und Sie wissen, wie die Einkommensteigerung bei der produktiv tätigen Bevölkerung war. Sie wissen, daß im nächsten Jahr die Rezessionsjahre überwunden und die Anpassungssätze wesentlich höher sind. Sie müssen sich entscheiden, Herr Kollege Katzer, welche Prioritäten Sie einräumen wollen.
Sie können sich nicht davor drücken, indem Siesagen, Sie wollten auch die flexible Altersgrenze,aber erst einmal müsse das andere, das von derOpposition Vorgelegte, erledigt werden. Dann sageich Ihnen: Sie wissen nicht, wie es in den Betriebenaussieht. Da sind nämlich jene Jahrgänge, die inder Nachkriegszeit auf den Baustellen gearbeitethaben. Sie haben ihre Arbeitskraft über Gebühr zurVerfügung gestellt, und sie können heute zum Teilnicht mehr. Für diese Menschen muß mehr Spielraum eröffnet werden. Wie sieht es denn in denBetrieben aus? Jemand, der 60 Jahre alt wird, findetsich unter Umständen, je nach Konjunkturlage, inder Hofkolonne oder auf dem Altenteil wieder und kann nicht mehr in der alten Position tätig sein. Deshalb widmen wir uns dem Problem der älteren Arbeitnehmer. Wir haben es in den hinter uns liegenden zwei Jahren getan, und wir werden es auch in der Zukunft tun. Ich sage Ihnen, wir werden unserem Ziel, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen, ein ganz großes Stück näherkommen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Beratungen zum ersten Punkt unserer heutigen Tagesordnung. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, die Vorlage an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — federführend — und den Haushaltsausschuß sowie den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — mitberatend — zu überweisen. — Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Es ist so beschlossen.
Es liegt noch ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Umdruck 225 *) zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Sozialberichtes 1971 vor. Ich schlage vor, daß dieser Antrag mit an die gleichen Ausschüsse überwiesen wird. — Bitte!
Herr Präsident, nachdem der Bundesarbeitsminister bereits angekündigt hat, daß ein solcher Nachtrag folgen wird, können wir den Antrag doch hier gleich annehmen.
Der Überweisungsantrag geht vor. Kann ich abstimmen lassen?
— Danke! — Es ist so beschlossen, wie ich vorgeschlagen habe.
— Nach der Geschäftsordnung geht die Ausschußüberweisung vor.Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell vereinbart worden, daß die erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige auf Drucksache VI /2153 von der heutigen Tagesordnung abgesetzt und auf nächste Woche verschoben wird.Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Stommel, Dr. Götz, Frau Schroeder , Burger, Baier, Vogt, Winkelheide und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent-*) Siehe Anlage 2
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7902 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausenwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes— Drucksache VI/ 2267 —.Für die Antragsteller hat Frau Abgeordnete Stommel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die gegenwärtigen Leistungen nach dem Bundeskindergeldgesetz in der Fassung vom 16. Dezember 1970, welches sowohl das sachliche Kernstück wie auch das spektakulärste Element des Familienlastenausgleichs in der Bundesrepublik darstellt, sind zweifelsfrei allen Verantwortlichen bewußt. Sie sind — als ein Provisorium--unter keinem Aspekt ausreichend, für die Familien ein gerechtes Teilhaben an dem Wirtschaftswachstum zu begründen und zu sichern.Noch ist die aktuelle Diskussion über die von allen Parteien geforderte umfassende Gesamtreform des Familienlastenausgleichs völlig offen. Die angebotenen Leistungsmodelle differieren vielfach sowohl in bezug auf die Zielsetzung und Höhe der Leistungen an die Eltern für ihre Kinder wie auch in bezug auf das Verfahren und auf das Volumen der notwendig werdenden öffentlichen Mittel.Die Fraktion der CDU/CSU sieht in dieser Situation die Chance, noch mehr die besondere Verpflichtung, in klarer Abgrenzung zu der kurzsichtigen und unzureichenden Konzeption der Regierung die Reform des Familienlastenausgleichs im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit als eine politische Aufgabe von Gewicht zu verankern, deren Lösung langfristig das wirtschaftliche, soziale und nationale Schicksal der Bundesrepublik mitbestimmt. In unserer politischen Verantwortung hat der Familienlastenausgleich den vorrangigen Stellenwert einer langfristigen, entscheidenden Sozialinvestition mit dem daraus resultierenden Anspruch auf einen entsprechend vorrangigen Stellenwert im permanent wachsenden Gesamtvolumen der öffentlichen Leistungen.Wir sehen, wie die Institution Familie mehr und mehr die unangefochtene Selbständigkeit früherer Zeiten verliert. Wir wollen und können nicht mehr übersehen, daß die Familie offenbar eine aktive Anpassung an die in raschem Wechsel sich bildende Umwelt gegen die immanent kinderfeindliche Struktur der industriellen Leistungsgesellschaft nicht länger allein leisten kann, ohne eine tiefe Gefährdung ihrer für unsere Gesellschaft nicht ersetzbaren zentralen biologischen und sozialen Funktionen zu riskieren. Es bedarf weder dramatisierender Effekte noch ,des Rückgriffs auf antiquierte bevölkerungspolitische Ideologien, um in der gegenwärtigen rückläufigen Geburtenbewegung in der Bundesrepublik Anfänge und Ansätze eines solchen negativen Anpassungsprozesses der Familie zu vermuten.Das ist ein Politikum ersten Ranges angesichts eines gegenwärtig zu schätzenden Geburtendefizits von mehr als sieben Millionen bis zum Jahre 2000. Nach der Berechnung des Statistischen Bundesamtes liegen die Geburtenzahlen des Jahres 1970 um rund 10 % unterhalb der Regenerationsrate. Die Zahlen bis einschließlich Juli 1971 liegen erneut um rund 4 % unterhalb der bereits sehr ungünstigen Vorjahreszahlen.Diese Entwicklung muß uns allen zu denken geben, zumal bei einem weiteren relativen Absinken der Leistungen und der Vergünstigungen der Familie selbst über pessimistische Prognosen hinaus wachsende Geburteneinschränkungen zu befürchten sind. Wir wissen, daß die Ursache des veränderten generativen Verhaltens der Familie sicher nicht allein in wirtschaftlichen Motivationen liegt. Wir wissen aber auch, daß wachsende materielle Leistungen der Gemeinschaft an die Familie unausweichlich werden als entscheidende Komponente zur Sicherung einer Geburtenrate, deren Höhe wenigstens annähernd die Regeneration des gegenwärtigen Bevölkerungsstandes in der Bundesrepublik erwarten läßt. Es kann doch niemand ernstlich annehmen, daß sich junge Familien das zweite, dritte oder ein weiteres Kind anschaffen werden, wenn damit ein Absinken des Lebensstandards der Familie unter das sozial-kulturelle Existenzminimum verbunden sein wird.Offenbar ist die Bundesregierung nicht fähig oder nicht bereit, die langfristigen negativen Konsequenzen für die Alters- und Erwerbsstruktur der folgenden Generation aus der rückläufigen Geburtenzahl als eine politische Realität zu erfassen, die zu einer Neuorientierung Ihrer familienpolitischen Konzeption und zu der Bereitschaft zwingen müßte, echte Chancengleichheit für alle Kinder durch Anerkennung des tatsächlichen materiellen Lebensbedarfs zu schaffen, auch der Kinder höherer Ordnungszahl im Leistungssystem des künftigen Familienlastenausgleichs. Das bisherige Reformmodell der Regierungsparteien tendiert zu einer eindeutigen Begünstigung des ersten und des zweiten Kindes.Wir fassen als Ziel eines an der Erkenntnis der gefährlichen Krisensituation der Familie umfassend orientierten Familienlastenausgleichs dagegen ein solches Maß an wirtschaftlicher Funktionsfähigkeit der Familie, das es jedem Ehepaar ermöglicht, so viele Kinder aufzuziehen und optimal auszubilden, wie es seinen Wünschen entspricht.In einer Periode wachsenden Wohlstands sinken die Lebenshaltungskosten der Mehrkinderfamilie relativ unaufhaltsam ab und liegen bereits heute vielfach in der Nähe oder unterhalb des sozialkulturellen Existenzminimums. Das ist eine Wirklichkeit, die in diesen Relationen vielfach noch nicht im öffentlichen Bewußtsein existiert. Obwohl die Einkommen seit 1964 z. B. im Durchschnitt um 70 % gestiegen sind, resultiert heute für ein Ehepaar, das auf ein Durchschnittseinkommen des alleinverdienenden Ehemannes angewiesen ist, aus der Entscheidung dieser Eltern für eine Mehrkinderfamilie ein so geringer materieller Lebensstandard, daß trotz Einbeziehung aller familiengerechten staatlichen Leistungen und Vergünstigungen — wie Kindergeld, Wohngeld, Steuerausgleich — für die Familie eine zusätzliche Anspruchsberechtigung gegenüber dem Sozialamt aus der Sozialhilfe entsteht.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7903
Frau StommelEntsprechende Berechnungen ergeben, daß auch Dreikinderfamilien, selbst Zweikinderfamilien mit einem Bruttoeinkommen von 1200 DM des Ehemannes trotz Vollerwerbs des Ernährers in zunehmendem Maße Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz in Anspruch nehmen können. Es ist ein Anspruch, den zudem eine große Zahl berechtigter Familien aus Unkenntnis oder Scheu nicht verwirklichen können oder wollen.Wenn man verfolgt, wie sich die Regelbedarfssätze für Familienangehörige in der Sozialversicherung verbessert haben, und wenn man dann feststellen muß, daß im Vergleich hierzu die Steuerfreibeträge für Kinder und die Kindergeldsätze seit 1964 stagnieren, wenn man von der Erhöhung des Drittkindergeldes um 10 DM absieht, so wird es für jeden politisch engagierten Bürger unbestreitbar, daß die Mehrkinderfamilienhaushalte ein Stiefkind unserer Gesellschaft sind.Die hinter den Vorschlägen der CDU/CSU zurückgebliebene letzte Änderung des Bundeskindergeldgesetzes hat keine entfernt ausreichende Anpassung des Kindergeldes an die Einkommens- und Preisentwicklung gebracht. Für Bezieher durchschnittlichen Arbeitseinkommens mit mehreren Kindern ist eine familiengerechte Einkommenssicherung über das Niveau des Sozialhilfeanspruchs hinaus nicht erreicht worden. Sozialhilfe fixiert einen sozialkulturellen Mindestbedarf. Für unsere Fraktion ist es ein unaufschiebbares Gebot sozialer Gerechtigkeit und politischer Vernunft, die materiellen Lebensbedürfnisse der Familie auf einem darüber hinausführenden Standard durch Staat und Gesellschaft zu sichern.Es sollte hier keiner Detaillierung bedürfen, wie ausweglos sich diesen Familien auf Grund des sinkenden Pro-Kopf-Einkommens ihrer Mitglieder der andauernde Kaufkraftschwund durch die Erhöhung der Lebenshaltungskosten progressiv präsentiert. Mit jedem Kind nimmt die wirtschaftliche Eigenbelastbarkeit der Familie mehr ab und ihre materielle Diskriminierung mehr zu. Jede Forderung nach Chancengleichheit aller Kinder ist heute auf diesem materiellen Hintergrund für einen großen Teil der Kinder aus Mehrkinderfamilien irreales soziales Wunschdenken.Die Fraktion der CDU/CSU ist daher der Auffassung, daß — unabhängig von der Arbeit an der geplanten Gesamtreform des Familienlastenausgleichs, und ohne Teile derselben vorwegnehmen zu müssen — beharrlich sämtliche Möglichkeiten weiterer Leistungsverbesserungen als zeitlich vordringliche und unerläßliche Vorausnahmen zu verfolgen sind. Die Tatsache, daß die finanziellen Auswirkungen der Erhöhung der Einkommensgrenze beim Zweitkindergeld unter den Vorausschätzungen liegen, wie auch die weitere Entlastung des Haushalts infolge der zur Zeit rückläufigen Geburtenrate, welche die Zahl der durch das Kindergeld begünstigten Kinder ebenfalls unter die Vorausschätzungen absinken läßt, stellen schon für das laufende Haushaltsjahr ein zusätzliches Finanzvolumen zur Verfügung.In konsequenter Verfolgung unserer familienpolitischen Verantwortung hat die Fraktion der CDU/CSU daher am 8. Juni 1971 erneut als Sofortinitiative einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes eingebracht, der eine Aufstockung der Kindergeldsätze um je 10 DM monatlich auf 70 DM für das vierte, auf 80 DM für das fünfte Kind und jedes weitere Kind ab 1. Juli 1971 vorsieht. Es kann damit gerechnet werden, daß die Ansätze der mehrjährigen Finanzplanung für das Kindergeld nicht ausgeschöpft werden. Die Kosten unserer erneuten Initiative für die Verbesserung der Lage der mehrköpfigen Familie bewegen sich in dem gesicherten Spielraum der bisherigen Ansätze der mittelfristigen Finanzplanung. Die von der Bundesregierung angekündigte Anhebung der Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld wird diesen finanziellen Spielraum für die von uns vorgeschlagene Verbesserung nicht einengen, da durch die vorgesehene Anhebung lediglich sichergestellt wird, daß die heute Kindergeld beziehende Zwei-Kinder-Familie nicht auf Grund von Einkommensverbesserungen des Jahres 1971 aus der Bezugsberechtigung herausfällt.Voraussetzung für die Finanzierbarkeit unseres Antrages in den Haushalten 1972 bis 1974 ist die Beibehaltung der Ansätze für das Kindergeld, die im vergangenen Jahr im Finanzplan des Bundes für die Jahre 1970 bis 1974 festgelegt worden sind, nämlich 3,39 Milliarden DM für 1972, 3,50 Milliarden DM für 1973 und 3,62 Milliarden DM für 1974. Nach unserer Auffassung ist es unverantwortlich und unvertretbar, daß die Bundesregierung bei der Fortschreibung der mehrjährigen Finanzplanung die Ansätze für das Kindergeld erneut um 100 Millionen DM für 1972, 150 Millionen DM für 1973 und 220 Millionen DM für 1974 gekürzt hat.Aber auch unser Vorschlag bringt keine ausreichende Anpassung der Leistungen nach dem Kindergeldgesetz an die wirtschaftliche Entwicklung für den Zeitraum bis Ende 1973, also für die Zeit vor dem Inkrafttreten der Reform des Familienlastenausgleichs. Dies wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß im Bundesdurchschnitt die Regelbedarfssätze für Kinder nach dem Bundessozialhilfgesetz seit 1964 je nach Alter der Kinder um 34 DM bis 86 DM monatlich je Kind angehoben worden sind. Die CDU/CSU hat den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf lediglich auf die finanziellen Möglichkeiten abstellen können, die im Rahmen der bisherigen mehrjährigen Finanzplanung vorgesehen sind. So bescheiden dieser Antrag ist, so stellt er doch wenigstens sicher, daß das Leistungsvolumen nach dem Kindergeldgesetz in der mehrjährigen Finanzplanung nicht erneut wieder gekürzt wird, nachdem die Bundesregierung bereits im Finanzplan 1970 bis 1974 die Ansätze gekürzt hat.Wir erinnern uns genau, daß in den Beratungen des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Bundeskindergeldgesetzes, nachdem alle unsere Bemühungen, für die Kinder höherer Ordnungszahl bessere Leistungen zu realisieren, an der vorgeblichen Fixierung der Haushaltsmittel gescheitert
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7904 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Frau Stommelwaren, der Bundesminister für Familie, Jugend und Gesundheit, Frau Käte Strobel, ausdrücklich feststellte, daß auch den Familien mit mehr als drei Kindern eine Erhöhung des Kindergeldes für das vierte und weitere Kind zu wünschen sei. Unsere Initiative gibt der Bundesregierung und den Koalitionsparteien jetzt die Chance, dieses politische Wunschdenken zu verwirklichen und ihre politische Verantwortung für die Familie zu beweisen.Unser Vorschlag ist so bescheiden, daß er vernünftigen Bestrebungen der Gesamtreform nicht entgegensteht, nachdem sich die Steuerreform- Kommission der SPD und auch der FDP entgegen den bisherigen Vorschlägen der Bundesregierung für eine Modifizierung der Leistungen im Familienlastenausgleich nach der Ordnungszahl der Kinder ausgesprochen hat.Der verbesserte Familienlastenausgleich ist für meine Fraktion eine so entscheidende zukunftsorientierte Forderung, daß auch in der aktuellen Situation mögliche konjunkturpolitische Einwände gegen eine Verbesserung des Familieneinkommens aus öffentlichen Mitteln für uns keine Alternative sein können. Für die Fraktion der CDU/CSU bleibt die Durchdringung des Familienraumes mit sinnvollen Hilfen für das Kind in Ergänzung der elterlichen Möglichkeiten eine andauernde erstrangige Aufgabe.Heute ist in der Presse zu lesen, daß das Kabinett über den Familienlastenausgleich diskutiert hat und daß bei dieser letzten Behandlung zwar kein Beschluß gefaßt worden ist, aber doch mit viel Sympathie Vorschläge zur Kenntnis genommen worden sind, das Kindergeld auch in Zukunft zu staffeln. Man geht von 50 DM für das erste, von 70 DM für das zweite und von 90 DM für das dritte Kind aus. Ich meine allerdings, daß man die Mehrkinderfamilien nicht bis zum Jahre 1973 warten lassen kann.Meine politischen Freunde und ich gehen davon aus, daß sich das Hohe Haus angesichts der von mir dargelegten Fakten und Konsequenzen unserer Initiative nicht wird verschließen können und in gemeinsamer familienpolitischer Sorge einer raschen Verabschiedung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes seine volle Unterstützung wird zuteil werden lassen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hauck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist immer eine mißliche Lage, daß bei der Diskussion über den Sozialbericht die ebenfalls beteiligten Ressorts Jugend und Familie nie zu Wort kommen. Deshalb empfinde ich es als eine Ergänzung, daß Sie, Frau Kollegin Stommel, im ersten Teil der Begründung Ihres Gesetzentwurfs praktisch eine familienpolitische Gesamtschau gegeben haben. Sie haben auch eine Art erste Lesung des Familienlastenausgleiches eingeleitet. Wegen der fortgeschrittenen Zeit will ich darauf verzichten, zu diesen Aspekten der Familienpolitik insgesamt und zum Familienlastenausgleich etwas zu sagen, sondern mich nur speziell auf den vorliegenden Gesetzentwurf beschränken.
Die Opposition hat bei der letzten Erhöhung des Kindergeldes Ende 1970 — übrigens die erste seit 1965 — schon angekündigt, daß sie zu gegebener Zeit erneut Gesetzesinitiativen ergreifen werde, um eine Erhöhung des Kindergeldes zu erreichen. Die Bundesregierung und die Koalitionsparteien haben damals erklärt, daß sie nun das Schwergewicht ihrer Bemühungen auf die Verwirklichung des Familienlastenausgleichs legen würden. Ob dieses große Reformwerk, das heute auch gewürdigt worden ist, realisiert werden könne, wurde damals in der Diskussion durch Zwischenrufe bezweifelt. Deshalb möchte ich gleich am Anfang erklären und unterstreichen, daß diese Reform kommt und eine der wichtigsten Bestandteile der Steuerreform sein wird.
-- Inkrafttreten 1. Januar 1974.
Es ist auch der Weg aufgezeigt. Offengelassen wurde, ob und in welcher Form in der Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1973 noch einmal Verbesserungen des Kindergeldgesetzes erfolgen sollen.
Die Opposition legt nun einen Entwurf vor, der eine Erhöhung des Kindergeldes um 10 DM ab viertem Kind vorsieht und insgesamt 150 Millionen DM kostet. Beim Bundesrat befindet sich zur Zeit ein Regierungsentwurf, der vorsieht, die Einkommens' grenze für das Zweitkindergeld von 13 200 auf 15 000 DM pro Jahr zu erhöhen. Die Kosten dieses Vorschlags belaufen sich auf rund 50 Millionen DM.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist kein Geheimnis — darüber wurde heute schon diskutiert —, daß die derzeitige Preissituation in erster Linie Familien mit Kindern, Rentner und sich noch in Ausbildung Befindende trifft und damit auch belastet. Das ist zweifellos eine fatale Situation; denn als Folge davon fordern die Betroffenen von den Verantwortlichen mehr staatliche Hilfe, erwarten gleichzeitig vom selben Adressaten aber auch eine Verbesserung der Preis- und Konjunktursituation durch Einschränkung der öffentlichen Ausgaben.
Herr Abgeordneter Hauck, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich möchte das wegen der fortgeschrittenen Zeit zu Ende führen.
Herr Kollege, die Entscheidung bitte ich ohne Kommentar hinzunehmen.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7905
Daher muß man die Bundesregierung verstehen, wenn sie sagt, daß sie in dieser Situation zwar ihre gesetzlichen Verpflichtungen erfüllen wird, aber nicht gewillt ist, zusätzliche höhere Leistungen gesetzlich zu verankern. Der Vorschlag der Bundesregierung zur Erhöhung der Einkommensgrenze bedeutet praktisch Besitzstandswahrung, da sonst mehr als 500 000 Berechtigte aus der Förderung herausfallen würden.
Der Oppositionsantrag bedeutet Leistungsverbesserungen und wird daher von der Bundesregierung in der derzeitigen Haushaltslage so bewertet und gesehen, wie ich es darstellte.
So wie die Situation heute ist, tritt meine Fraktion in erster Linie und vorrangig dafür ein, daß ein konjunkturgerechter Stabilitätshaushalt verabschiedet wird. Eine Verbesserung der Gesamtsituation ich glaube, darüber sind wir uns einig — hilft auch den Familien. Die Besitzstandswahrung im Bereich des Zweitkindergeldes sehen wir als gerechtfertigte Maßnahme an. Der Oppositionsantrag scheint mit den Ansätzen des Haushalts 1972 und der fortgeschriebenen mittelfristigen Finanzplanung, die ja verändert werden kann, nicht übereinzustimmen.
Ich möchte es bei dieser Aussage belassen und jetzt in der ersten Lesung nicht weiter auf Details eingehen. Wir stimmen dem Überweisungsantrag zu und werden dann in den Ausschüssen den Oppositionsantrag und den Regierungsentwurf auch im Lichte der Zahlen der Finanzplanung beraten. Ich hoffe, wir werden zu einer Beschlußfassung kommen, die als Übergangslösung bis zum Inkrafttreten des Familienlastenausgleichs vertretbar ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spitzmüller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Angesichts der vorgerückten Stunde möchte ich mich so kurz wie möglich fassen.
Sehr verehrte Frau Stommel, Ihr Antrag wird uns im Ausschuß für Familie, Jugend und Gesundheit die Möglichkeit geben, die Familienpolitik einmal eingehend zu diskutieren. Wenn Sie aber dieser Regierung vorwerfen, daß sie auf dem Sektor der Familienpolitik unverantwortlich handle, muß ich nur sagen: War es sehr verantwortungsvoll, daß in der 5. Legislaturperiode auf diesem Gebiet überhaupt nichts geschehen ist? Wenn wir in der Familienpolitik zurückblieben, dann ist auch das auf die Versäumnisse der 5. Legislaturperiode zurückzuführen.
Zum anderen darf ich feststellen, daß diese Regierung bereits 1970 die ersten Verbesserungen durchgeführt hat und weitere Verbesserungen angekündigt hat. Die Bundesrats-Drucksache wird dann im Ausschuß mit zur Debatte stehen.
Nur vor einem möchte ich warnen. Verehrte Frau Stommel, Sie haben der Hoffnung Ausdruck gegeben so klang es mindestens in meinen Ohren —, daß durch diese 10 DM die Geburtenrate gesichert werden könne.
Ich habe die Befürchtung, daß durch die Erhöhung des Kindergeldes die Geburtenrate nicht wesentlich beeinflußt werden kann. Die Geburtenrate kann wohl nur dadurch verbessert werden, daß wir die Einstellung der Eltern zu den Kindern generell zu verbessern versuchen, d. h. daß das Bewußtsein wacher wird, daß zur Familie nicht nur das Verheiratetsein, sondern auch die Kinder gehören, und dadurch, daß für diese Kinder auf der kommunalen Ebene genügend Kindergärten und genügend schulische Möglichkeiten vorhanden sind. Hier sitzt, wie ich glaube, ein entscheidender Ansatzpunkt, wenn wir die Geburtenrate wieder steigern und wieder eine bessere Bevölkerungsstruktur bekommen wollen.
Was die finanziellen Auswirkungen anbelangt, werden wir uns im Ausschuß darüber unterhalten können, ob überhaupt und welche Möglichkeiten vorhanden sind.
Auf eines möchte ich aber hinweisen. Wir haben immer mehr ausländische Arbeitnehmer, die wir dringend benötigen, um unser Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten. Diese ausländischen Arbeitnehmer und das Kindergeld, das wir für sie bezahlen müssen, sind eine finanziell unbekannte Komponente, die wir im Ausschuß dann in aller Ruhe und Sachlichkeit ansprechen möchten.
Wir stimmen also der Ausschußüberweisung zu. Wir sind dankbar, daß wir durch diesen Antrag und durch den Antrag der Bundesregierung im Ausschuß die Möglichkeit haben werden, uns zu überlegen, welche Regelung als Übergangsregelung bis zu einer generellen Regelung sinnvoll sein wird.
Das Wort hat Frau Bundesminister Strobel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Kollege Hauck hat bereits darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung dem Bundesrat eine Novelle zugeleitet hat, die für Familien mit zwei Kindern die Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld von jetzt 13 200 DM im Jahr auf 15 000 DM erhöht und am 1. Januar 1972 in Kraft treten soll, um zu vermeiden, daß ein Teil der Familien, die erst 1971 in den Genuß des Zweitkindergeldes gekommen sind, 1972 gleich wieder ausscheiden.
7906 Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Bundesminister Frau Strobel
Zu Ihrem Entwurf möchte ich ganz kurz sagen, daß eine weitere Verbesserung leider — ich betone: leider — nicht möglich ist. Ich hoffe, Sie glauben mir, daß ich dies selbst am meisten bedaure.
Zur Finanzierung 1971 möchte ich zur Information über die Inanspruchnahme des Titels „Kindergeld" folgendes ausführen. Man muß leider sagen, daß sich die Kinderzahlen relativ schnell verändern, was letzten Endes mit dem soeben auch von Herrn Kollegen Spitzmüller angesprochenen wachsenden Bedarf an ausländischen Arbeitern zusammenhängt. Der Kindergeldansatz für 1971 wird wahrscheinlich gerade ausreichen, um die Ausgaben nach dem geltenden Bundeskindergeldgesetz zu decken. Dies hat folgende Gründe:
Infolge der späten Verabschiedung des Zweiten Änderungsgesetzes zum Bundeskindergeldgesetz mußten aus dem Kindergeldansatz 1971 auch die Nachzahlungen an Zweitkindergeld für die Zeit von September bis Dezember 1970 — das waren volle 50 Millionen DM — geleistet werden, ohne daß damals dieser Ansatz vorgesehen war. Sodann ist die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer weiterhin stark angestiegen. Während die Zahl der ausländischen Arbeiter am 30. Juni 1970 knapp über 1,8 Millionen lag, betrug sie am 30. Juni 1971 2,2 Millionen. Dementsprechend sind -- ich glaube, das ist die entscheidende Zahl — in den ersten acht Monaten des Jahres 1971 fast 2,2 Milliarden DM an Kindergeld bereits ausgezahlt worden. Das sind zwei Drittel des Gesamtansatzes im Haushalt. Selbst wenn man berücksichtigt, daß hierin Nachzahlungen sind, kann man wegen der steigenden Zahl der ausländischen Arbeitnehmer nicht davon ausgehen, daß die Ausgaben im letzten Jahresdrittel 1971 weniger als die Hälfte dessen betragen werden, was sie in den letzten acht Monaten betragen haben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Burger?
Frau Minister, Sie haben soeben darauf hingewiesen, daß sich die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer und damit auch die Zahl der Kinder vergrößert hat. Hätten Sie nicht, Frau Minister, in der mittelfristigen Finanzplanung diese Zunahme vorsehen müssen? Diese ausländischen Arbeitnehmer vergrößern das deutsche Bruttosozialprodukt und das Steueraufkommen. Deshalb kann aus konjunkturellen Gründen eine Vergrößerung des Volumens nicht verweigert werden.
Herr Kollege Burger, ich hatte soeben darauf hingewiesen, wie sehr sich die Kinderzahl sowohl durch die Höhe des Geburtenstandes als auch durch die Zahl der Gastarbeiter ständig verändert. Wenn Frau Kollegin Stommel auf die zurückgehende Geburtenzahl hingewiesen hat, dann muß man doch sagen, daß die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes schon wieder zeigen, daß sich dieser Rückgang Gott sei Dank nicht fortgesetzt hat, mindestens nicht in dem Maße. Insofern bin ich, wie ich sagen muß, etwas skeptisch und zurückhaltend mit Schätzungen. Das gilt übrigens auch für die ständigen Berechnungen, die wir im Rahmen der Reform des Familienlastenausgleichs angestellt haben. Wenn Sie jetzt verlangen, daß schon im vorigen Jahr oder noch früher dies bei der Finanzplanung hätte berücksichtigt werden müssen, dann verlangen Sie, glaube ich, zu viel.Es ist auch so, daß die Zahl der vierten, fünften und weiteren Kinder heute 1 420 000 beträgt, so daß daher das Gesetz nicht 150, sondern 170 Millionen D-Mark kosten würde. Es kann sein, daß sich das wieder ändert, aber ich halte es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen.Ich möchte gern, daß wir diese Debatte von gegenseitiger Polemik möglichst freihalten. Wenn aber immer wieder gesagt wird, was wir alles versäumen, dann lassen Sie mich bitte auch darauf hinweisen, daß in der vorigen Legislaturperiode, also in vollen vier Jahren, überhaupt keine Veränderung des Bundeskindergeldes erfolgt ist und daß in den ersten zwei Jahren dieser Regierung diese Koalition beim Kindergeld mehr an Leistungen erbracht hat, als es in der vorhergehenden Legislaturperiode der Fall war. 1965 ist lediglich eine Gesamtverbesserung um 340 Millionen DM erfolgt, während die Verbesserung jetzt in zwei Jahren immerhin 461 Millionen D-Mark betragen hat.Frau Kollegin Stommel, Sie haben heute gesagt, die heutige Kindergeldregelung sei ein Provisorium. Nun, damit sprechen Sie uns aus vollem Herzen. Ich wundere mich bloß, warum Sie 20 Jahre lang an diesem Provisorium festgehalten haben. Denn die heutigen Regierungsparteien haben damals schon immer eine Reform in der Richtung, wie wir sie heute anstreben, gefordert.Im übrigen hat sogar unser früherer Kollege Wuermeling dieser Tage einen Artikel im „Rheinischen Merkur" veröffentlicht, in dem er darauf hinweist und Berechnungen veröffentlicht, daß das erste Kind das teuerste Kind ist. Ich meine, da sollten Sie es uns nicht verdenken, wenn wir bei der Reform des Familienlastenausgleichs nun endlich in Ordnung bringen wollen, daß die ersten und zweiten Kinder genauso am Familienlastenausgleich teilnehmen wie die folgenden, wobei wir aus sozialen Gründen eine Staffelung durchaus für notwendig halten.Frau Kollegin Stommel hat bereits auf die Veröffentlichungen in den Zeitungen von gestern und heute hingewiesen. Daraus geht hervor wir haben von vornherein gesagt, Eckwerte sind keine Endwerte —, daß es zu einer Relativierung kommen wird. Aber natürlich kostet das noch einmal wesentlich mehr. Ingesamt sind dafür vier Milliarden DM mehr notwendig, die im Zusammenhang mit der Steuerreform aufgebracht werden müssen. Und alle weiteren Veränderungen, die wir heute noch vornehmen, treiben natürlich die Summe noch über die vier Milliarden DM hinaus und gefährden dadurch ein vernünftiges, gesellschaftspolitisch wünschbares und auch sozial vertretbares Reform-
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Bundesminister Frau Strobelkonzept. Ich meine, das muß man sehen, und Sie sollten uns gestatten und auch dafür Verständnis aufbringen, daß wir das bei dieser Gelegenheit sagen.In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit möchte ich es dabei bewenden lassen, meine Damen und Herren. Ich meinte aber, dazu etwas sagen zu müssen, obwohl ich leider nicht — was jeder Familienminister möchte — mitteilen kann - auch das istverständlich -, daß wir nicht nur Ihren Anträgenfolgen, sondern weit darüber hinaus gehen. Ich hoffe, wenn wir ab 1. Januar 1974 die Reform des Familienlastenausgleichs haben, werden Sie mit dem, was wir dazu vorlegen, konform gehen können. Ich hoffe auch, daß dann solche Debatten in diesem Hause nicht mehr nötig sind.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Baier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu den Reden der Vertreter der Regierungsparteien und von Frau Minister Strobel nur noch einige Anmerkungen machen.
Frau Minister Strobel, wir haben sehr genau gerechnet, als wir unseren Antrag vor der Sommerpause einbrachten: 150 Millionen DM Jahresaufwand, 70 Millionen DM für das Jahr 1971, und wir haben hinsichtlich der Deckung die auch aus sehr präzisen Berechnungen hervorgehenden Zahlen genommen, und nach diesen Schätzungen sind im Haushalt 1971 und in der mittelfristigen Finanzplanung, wie sie uns für die kommenden Jahre vorliegt, die Mittel vorhanden. Es ist also einfach nicht möglich, daß Sie sich heute wieder hierher stellen und sagen, inzwischen hätten sich die Schätzungen wieder geändert. Im nächsten Monat hören wir wieder etwas anderes. Nach allen Erfahrungen der letzten Jahre, meine Damen und Herren, war es am Ende des Jahres immer so, daß der Titel für Kindergeld nicht ausgeschöpft war. Sie haben mir auch im letzten Jahr widersprochen, und zum Schluß waren mehr als 100 Millionen DM übrig. Das muß man doch sehen.
Wenn Sie jetzt den Kindergeldtitel in der mittelfristigen Finanzplanung der kommenden Jahre nicht erhöhen, sondern im Gegenteil noch um Hunderte von Millionen DM kürzen, dann, Frau Minister, halte ich das für unverantwortlich. Ich halte es für unverantwortlich, daß Sie die Familien mit Kindern nicht nur durch die ständigen Preiserhöhungen ohnehin schon zur Kasse bitten, sondern ihnen in den nächsten Jahren auch noch weniger Kindergeld geben wollen, als sie bisher erhalten haben.
Frau Minister Strobel, Sie sagen, Sie wollten das Kindergeld vom ersten Kind an geben. Gut und richtig! Wir müssen uns aber fragen, ob „gleich" eben immer auch „gerecht" heißt. Solange der Staat nicht in der Lage sein wird und er wird es wahrscheinlich für lange Zeit noch nicht sein --, die gesamten Erziehungskosten für Kinder zu übernehmen, werden die Leistungen der Familie immer begrenzt sein. Deshalb wäre gleiches Kindergeld für alle Kinder, also ohne Bezugnahme auf die Zahl der Kinder, einfach ungerecht. Deshalb ist eine Staffelung notwendig. Ich begrüße es daher auch, daß Sie heute anklingen ließen, Sie würden sich in Zukunft auch wieder für eine Staffelung hinsichtlich der Ordnungszahl der Kinder bereit finden. Wenn das geschähe, könnten wir uns auf dem richtigen Weg finden. Andernfalls aber wäre die Kindergeldregelung ungerecht.
Nun, Herr Kollege Hauck, noch ein Wort zu Ihnen. Ich wollte es Ihnen in einer Zwischenfrage sagen, aber nun muß ich es hier tun. Es stimmt nicht, wenn Sie behaupten, die Verwirklichung des Regierungsentwurfs mit der Erhöhung der Einkommensgrenze für das Zweitkindergeld würde in der Zukunft 50 Millionen DM mehr kosten. Im Regierungsentwurf selbst steht, daß keine höheren Kosten entstünden, weil es sich mehr oder weniger um eine Besitzstandswahrung handle. Ich meine, so müssen wir das auch den Familien und der Öffentlichkeit sagen. Sie dürfen das nicht in einer Weise darstellen — das wäre Augenauswischerei —, als wäre das eine zusätzliche Verbesserung, die den Familien zugute kommt. Es ist nichts anderes als eine notwendige Fortschreibung, was Sie hier vorgenommen haben.
-- Herr Kollege Hauck, das ist natürlich eine Milchmädchenrechnung ersten Ranges, wenn Sie sagen: wenn wir den Antrag nicht bringen, sparen wir 50 Millionen DM ein. Ich sage: Sie geben den Familien nicht mehr, wenn Sie diesen Antrag verwirklichen. Und darauf kommt es an. Sie können doch nicht hergehen und noch einsparen wollen! Das ist doch kein Ruhmesblatt, was Sie da vorweisen.
Ein letztes, meine Damen und Herren! Herr Spitzmüller und auch Frau Minister Strobel haben hingewiesen auf die Versäumnisse der letzten Legislaturperiode im Sektor der Familienpolitik. Ich bekenne mich dazu: diese letzte Legislaturperiode war kein Ruhmesblatt für die Familienpolitik, auch nicht unter unserer Regierung. Aber das kann für Sie kein Alibi sein, so fortzufahren. Wenn Sie das mit uns bedauern, wäre es nach zwei Jahren SPD-Regierung endlich Zeit, daß Sie diese Versäumnisse durch bessere Vorschläge für die Familien nachholen.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Ende der ersten Beratung. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Entwurf an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit — federführend —, an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — mitberatend — und an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung zu überweisen. Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Es ist so beschlossen.
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7908 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenMeine Damen und Herren, im Hinblick auf die Tatsache, daß der Aufruf der Dringlichkeitsfragen im Einvernehmen mit dem Herrn Bundesminister für 14 Uhr vorgesehen ist, beginnt die Fragestunde um 13.30 Uhr.Ich unterbreche die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde
— Drucksache VI /2575 —
Ich mache darauf aufmerksam, daß entgegen dem sonst üblichen Verfahren die Dringlichkeitsfragen infolge der Verhinderung des Ministers des Auswärtigen und seines Parlamentarischen Staatssekretärs um 14 Uhr aufgerufen werden.
— Verzeihung, Herr Kollege, beide haben sich vorher entschuldigt, da sie beide an dem Trauerakt für den verstorbenen Ministerpräsidenten Reinhold Maier teilnehmen. Das ist der Grund. Ich hätte es Ihnen vielleicht sagen sollen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Ich rufe die Frage 69 des Abgeordneten Höcherl auf:
Ist die in dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" vom 30. August 1971 enthaltene Behauptung zutreffend, daß Staatssekretär Bahr in vertraulichen Unterredungen mit dem Bonner UdSSR-Botschafter Falin die Verhandlungspositionen der drei Westmächte für die Berlin-Verhandlungen preisgegeben hat , und trifft die aus der gleichen Quelle kommende Information zu, daß Staatssekretär Bahr und die Bundesregierung die Westmächte zur Zulassung eines Sowjetkonsulats in West-Berlin gedrängt haben?
Zur Beantwortung Herr Bundesminister Dr. Ehmke.
Herr Kollege Höcherl, der erste Teil der Frage enthält eine unzutreffende Behauptung. In dem zitierten „Spiegel" -Artikel stand weder wörtlich noch dem Sinn nach, daß Staatssekretär Bahr Verhandlungspositionen der Drei Mächte preisgegeben habe. Im übrigen war es die selbstverständliche Pflicht aller Vertreter der Bundesregierung, die in der Zeit der Berlin-Verhandlungen mit Vertretern der sowjetischen Regierung sprachen, auf die unverzichtbaren Forderungen hinzuweisen, die der Westen an eine befriedigende Berlin-Regelung stellt.
Die im zweiten Teil Ihrer Frage erwähnte Information trifft nicht zu. Ich darf Sie insofern auf das Interview verweisen, in dem der Herr amerikanische Botschafter dieser Unterstellung mit Nachdruck entgegengetreten ist.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Höcherl.
Herr Bundesminister, glauben Sie nicht, daß es richtig gewesen wäre, diese Information sofort öffentlich zu dementieren und sie nicht im Raum stehen zu lassen?
Nein, das glaube ich nicht, Herr Abgeordneter. Ich habe schon bei früherer Gelegenheit gesagt: Wenn die Bundesregierung alle unrichtigen Zeitungsberichte dementieren oder ihnen sonst entgegentreten lassen wollte, müßte sie z. B. in bezug auf den „Bayernkurier" einen Dauerauftrag erteilen.
Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Höcherl.
Glauben Sie nicht, Herr Bundesminister, daß Sie differenzieren müssen bei der Überlegung, ob und wann Sie dementieren — und daß das eine sehr wichtige Meldung war, darüber kann es keinen Zweifel geben; das geben Sie selbst zu —, so daß ein Dementi am Platz gewesen wäre?
Nein. Ich sagte schon in bezug auf die erste Äußerung: Im „Spiegel" steht nicht das drin, was Sie die Regierung fragen. In bezug auf den zweiten Teil, auf das Generalkonsulat, hat die Bundesregierung ausdrücklich dementiert, und nachdem die Opposition dann trotzdem diese Version aufrechterhalten hat und die Presse sie zum Teil aufrechterhalten hat, ist auch der amerikanische Botschafter ihr entgegengetreten.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reddemann.
Herr Minister, würden Sie das Dementier-Abonnement, das Sie gerade eben hier in den Raum stellten, dann auch auf den „Spiegel" ausdehnen, nachdem mehrfach in der Fragestunde von Vertretern der Regierung erklärt werden mußte, daß Behauptungen des „Spiegel" über besondere Situationen in der Regierung falsch sind?
Herr Kollege, was ich im Augenblick über die Frage des Dementierens oder Nichtdementierens gesagt habe, erstreckt sich auf den ganzen Bereich der Presse. Ich habe nur ein besonders prägnantes Beispiel herausgehoben.
Eine Sekunde. Es handelt sich um eine Äußerung Falins, des sowjetischen Botschafters. Es handelt sich nicht allgemein um
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Präsident von Hassel
Fragen von Dementis. Darf ich bitten, daß man zu der Frage zurückfindet.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Marx.
Herr Bundesminister, können wir uns zumindest darauf verständigen, daß der Herr Staatssekretär Bahr bei seinen Unterhaltungen gegenüber Vertretern der amerikanischen Regierung die Vorteile der Einrichtung eines sowjetischen Generalkonsulats in West-Berlin dargestellt hat mit der zusätzlichen Mitteilung, daß er dies tue, obwohl seine Regierung diese Gedanken nicht teile?
Herr Kollege, vielleicht darf ich mit Erlaubnis des Präsidenten die diese Frage betreffenden Absätze in dem Interview von Herrn Botschafter Rush verlesen. Der Herr Botschafter hat gesagt:
Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen kann ich nur sagen, daß die Zusammenarbeit zwischen den drei Alliierten und der Bundesregierung während der Verhandlungen nicht hätte besser sein können. Sie war ausgezeichnet. Und sie wurde während der Verhandlungen immer besser.
Ich muß ganz ehrlich sagen, daß die Bundesregierung uns zu keiner Zeit zu irgend etwas gedrängt hat. Das sowjetische Generalkonsulat in West-Berlin ist eigentlich erst im Laufe der
I) Verhandlungen zum Gesprächsthema geworden. Wir haben dann erkannt, daß es notwendig war, über dieses Thema zu diskutieren, um überhaupt zu einem Übereinkommen zu gelangen. Es war uns klar, daß es ohne Einigung über das Generalkonsulat kein Übereinkommen geben konnte.
Soweit der amerikanische Botschafter. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Freiherr von Guttenberg.
Herr Kollege, haben Sie mit dem, was Sie eben Herrn Marx gesagt haben, dementiert, daß es ein Telegramm des deutschen Botschafters in Washington gibt, in dem dieser der deutschen Regierung mitgeteilt hat, daß Herr Bahr dort auf ein sowjetisches Generalkonsulat gedrängt hat?
Nein, Herr Kollege Guttenberg, das habe ich nicht dementiert. Wir haben schon mehrfach gesagt, daß diese Frage natürlich mit den Alliierten besprochen worden ist. Es ging in Washington nicht um Verhandlungen, sondern um Gespräche, und der Auftrag von Herrn Kollegen Bahr war, alle zu diesem Thema gehörenden Dinge zu besprechen. Es ist so, wie Herr Botschafter Rush es dargestellt hat: man ist zu der Überzeugung gekommen, hier gemeinsam mit den Westmächten der Errichtung eines Generalkonsulats zuzustimmen, um die Berlin-Regelung insgesamt zu bekommen. Wir sind der Meinung, das war eine sehr vernünftige Entscheidung. Ich möchte doch bitten, daß wir uns hier weder von Regierungsseite noch von Oppositionsseite in die Situation bringen, den Äußerungen eines maßgebenden Vertreters des Hauptverbündeten dieses Landes zu widersprechen.
Keine Zusatzfrage. Ich rufe die Frage 70 des Herrn Abgeordneten Höcherl auf:
Zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form wurden die Regierungen der drei Westmächte über den Inhalt der Gespräche Bahrs mit Patin unterrichtet?
Herr Kollege, in den ständigen Konsultationen zwischen der Bundesregierung und den Drei Mächten sind alle für die Berlin-Verhandlungen wichtigen Punkte laufend zur Sprache gekommen.
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 71 des Abgeordneten Dr. Riedl auf:
Hält es die Bundesregierung für dem Geiste des deutschsowjetischen Vertrages entsprechend, wenn die sowjetische Regierung deutschen Journalisten die Einreise in die Sowjetunion aus Anlaß des Besuches von Bundeskanzler Brandt auf der Krim untersagt, und was hat die Bundesregierung getan, um die sowjetische Regierung auf diese international nicht übliche Behandlung von Journalisten hinzuweisen?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär Ahlers.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich darf die Frage des Herrn Abgeordneten Riedl wie folgt beantworten: Die Teilnahme von Journalisten an Begegnungen dieser Art kann immer nur von Fall zu Fall geregelt werden. Die Art dieser Regelung hat nichts mit dem Stand der Beziehungen zwischen den betreffenden Staaten zu tun.
Die sowjetische Regierung hatte zunächst mitgeteilt, daß eine Teilnahme von Journalisten an dem Treffen in Oreanda nicht vorgesehen und damit eine Aufenthaltsgenehmigung für den Ort der Begegnung nicht möglich sei. Eine Verweigerung der Einreise in die Sowjetunion selbst ist in diesem Zusammenhang nicht erfolgt. Nach einigen Bemühungen vereinbarten die Beteiligten des Treffens auf der Krim dann die Zulassung einer Gruppe von deutschen Journalisten, deren Umfang durch den Charakter und die Örtlichkeit der Zusammenkunft bedingt war. Gelegenheit zur Berichterstattung erhielten 23 deutsche Journalisten, darunter die in Moskau ständig akkreditierten deutschen Korrespondenten, soweit sie nicht auf Urlaub waren.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Riedl .
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß bei den Vorgesprächen über diesen Besuch entgegen der internationalen Praxis und auch etwas entgegen Ihrer soeben gege-
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Dr. Riedl
benen Antwort die deutsche Seite keinen Wunsch angemeldet hat, daß Journalisten aus der Bundesrepublik in die Sowjetunion, und zwar nach Oreanda mitreisen sollen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, soweit ich darüber unterrichtet bin, trifft dies nicht zu. Es ist zu Anfang ein Wunsch in der Richtung wohl geäußert worden, dann aber von der sowjetischen Seite so beschieden worden, wie ich es soeben dargestellt habe.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. Riedl.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß bei diesen Vorbereitungen, von denen ich soeben sprach, weder das Presse- und Informationsamt, nämlich Ihr Haus, noch das Auswärtige Amt eingeschaltet waren, sondern daß alle Vorbereitungsgespräche federführend von Herrn Staatssekretär Bahr geführt wurden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, bis zu dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Besuches oder der Begegnung auf der Krim trifft es zu, soweit es mein Haus angeht. Über das Auswärtige Amt kann ich nichts sagen.
Ist noch eine Zusatzfrage gewesen? Bitte schön, Herr Kollege Dr. Schneider!
Herr Staatssekretär, wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß einerseits bei den Vorbereitungen des Kanzlerbesuchs auf der Krim die Mitreise von deutschen Journalisten ausgeklammert war, andererseits aber die sowjetische Botschaft erklärte, die sowjetische Regierung habe gegen die Mitreise nichts einzuwenden, und jeder, der ein Visum beantrage, werde es auch bekommen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, diese Erklärung der sowjetischen Botschaft erfolgte erst zu einem relativ späten Zeitpunkt der Besprechungen über den Ablauf der Reise auf die Krim und zu einem Zeitpunkt, als über die Mitnahme deutscher Journalisten schon eine gewisse Einigung erzielt worden war.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Reddemann.
Herr Staatssekretär, da Sie soeben den Charakter des Treffens dafür verantwortlich machten, daß eine mangelnde Informationsmöglichkeit für deutsche Journalisten bestand, darf ich Sie fragen, wie dieser Charakter des Treffens zu deuten ist?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich werde mich bemühen, eine Definition zu finden, Herr Abgeordneter. Ich glaube, es war ein privat—dienstliches Gespräch.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordneter Vogt.
Herr Staatssekretär, stimmt es, daß die letztlich doch erfolgte Mitreise einiger Journalisten aus der Bundesrepublik auf die Intervention der Bundespressekonferenz hin erfolgte, deren Vorstand einen Brief an die Bundesregierung gerichtet hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter, das stimmt nicht. Wenn jemand sich da einen Lorbeer an den Hut stecken möchte, dann sind es sicher die beteiligten Stellen der Bundesregierung in erster Linie gewesen. Es ist aber richtig, daß bei diesen Bemühungen uns dieser Brief des Vorstandes der Bundespressekonferenz sehr geholfen hat.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Breidbach.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie dargelegt haben, daß der Charakter dieses Gesprächs „privat-dienstlicher" Natur gewesen sei, möchte ich Sie fragen, ob es möglich wäre, dem Hohen Haus dann zu erklären, was an diesem Treffen — z. B. im Kommuniqué — privater Natur ist, was dienstlicher Natur ist und welche Differenzierungen Sie hier vornehmen können.
Verzeihung, Herr Kollege Breidbach, bei allem Wohlwollen für die Zusatzfrage, sie bezieht sich nicht genau auf die hier gestellte Grundfrage. Sie wird in den Akten erscheinen. Aber es ist eine Zusatzfrage, die von der eigentlichen Grundfrage abweicht.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Jobst.
Herr Staatssekretär, können Sie dem Hause mitteilen, nach welchen Gesichtspunkten die Journalisten ausgewählt wurden?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, Herr Abgeordneter, da ich die Auswahl selber getroffen habe, kann ich das gerne tun. Ich bin davon ausgegangen, daß erst einmal alle in Moskau akkreditierten deutschen Korrespondenten daran teilnehmen sollten. Das sind ungefähr 13 oder 14; davon waren aber einige auf Urlaub, wie ich soeben gesagt habe, so daß uns bei der Auswahl für den Bonner Raum — oder überhaupt der Journalisten, die in Westdeutschland beheimatet sind — fünf Plätze zur Verfügung standen. Davon sind zwei Plätze
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Staatssekretär Ahlersaus wohlerwogenen Gründen an den Springer-Konzer gegangen.
— Ja, natürlich, damit uns nicht der Vorwurf gemacht werden könnte, wir würden kritisch eingestellte Redaktionen ausschließen wollen. Dann ist Herr Kempski von der „Süddeutschen Zeitung" mit von der Partie gewesen, Herr Fehrenbach von der „Stuttgarter Zeitung" und ein Bildreporter des „Stern".
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe Frage 72 des Abgeordneten Leicht auf:
Auf Grund welcher Vorschriften veranlaßt oder übernimmt die Bundesregierung die Verbreitung von Äußerungen des Nobelpreisträgers Prof. Dr. med. Werner Forßmann zur Gesundheitspolitik der Bundesregierung, die nicht anders gewertet werden können als eine Sympathiekundgebung im Hinblick auf die Bundestagswahl 1973?
Zur Beantwortung Herr Staatssekretär Ahlers.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Ich möchte die Frage des Herrn Abgeordneten Leicht folgendermaßen beantworten. Die Äußerungen von Nobelpreisträger Professor Dr. Werner Forßmann sind in einer Anzeige in der Wochenendpresse erschienen, die deutlich als eine Anzeige des Presse- und Informationsamtes gekennzeichnet war. Diese Anzeige ist Teil einer Serie, mit der die Bundesregierung anläßlich der Halbzeit der Legislaturperiode über die bisher geleistete Arbeit informiert. Die Form des Testimonials, die wir für die Anzeigen in der Wochenendpresse gewählt haben, ist in der politischen Öffentlichkeitsarbeit durchaus gebräuchlich.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Leicht.
Glaubt die Bundesregierung, daß eine solche Werbung noch mit den Grundsätzen zu vereinbaren ist, die einmal durch dieses Parlament für die Öffentlichkeitsarbeit von Regierungsstellen aufgestellt worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Doch, Herr Abgeordneter, das glaube ich wirklich, sonst würde ich diese Anzeige nicht genehmigt haben.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Leicht.
Ist die Bundesregierung bereit, eine gutachtliche Stellungnahme des Bundesrechnungshofes zu der Frage einzuholen, inwieweit die hier angesprochenen Kampagnen aus Steuergeldern finanziert werden dürfen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr gern, Herr Abgeordneter.
Eine weitere Zusatzfrage, der Abgeordnete Haase .
Verehrter Herr Staatssekretär, beabsichtigt das Presseamt, die eben hier von Herrn Leicht skizzierte Werbung nunmehr auch in ausgesprochenen Sex-Blättern zu betreiben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter, mit Sicherheit nicht.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie dann fragen — —
Verzeihung, Herr Kollege, Sie dürfen nur eine Zusatzfrage stellen. Sie ist mit Ihrer Frage nach den Sex-Blättern bereits konsumiert. — Bitte schön, Herr Kollege Dr. Althammer!
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß zur Finanzierung dieser Kampagne anläßlich der Halbzeit dieser Bundesregierung Mittel aus anderen Etats auf das Bundespresseamt übertragen worden sind oder werden sollen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Riedl .
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung jetzt offensichtlich den Mut verloren, Sympathiewerbung mit ihren eigenen Bundesminister zu machen, nachdem sie vielleicht eingesehen hat, daß sie der Bevölkerung zuviel versprochen hat? Und ist sie dazu übergegangen, diese Sympathiewerbung durch Oberbürgermeister und Professoren der SPD abwickeln zu lassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter, die Auswahl des Herrn Oberbürgermeisters Dr. Vogel erfolgte in diesem Zusammenhang unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich dem, der Bevölkerung klarzumachen, daß die Sozialdemokratische Partei über eine reiche Palette von Wohnungsbauexperten verfügt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Breidbach.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für vertretbar, daß mit Bundesmitteln der Versuch unternommen wird, Oberbürgermeister der deutschen Öffentlichkeit dergestalt vorzuführen, daß
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Breidbachman sagt, man habe auch noch andere prominente Politiker?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter, in diesem Sinne war meine Antwort sicher nicht zu verstehen. Es sollte dargestellt werden, daß eine Persönlichkeit, die im öffentlichen Leben gerade auf diesem Gebiet als besonders sachkundig gilt, sich hier voll zur Politik der Bundesregierung und ihres Wohnungsbauministers bekennt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Röhner.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, die Gesamtkosten für diese Halbzeitbilanz-Aktion der Bundesregierung hier bekanntzugeben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich, gern. Aber ich habe sie nicht im Kopf, Herr Abgeordneter. Ich werde die Kosten gern bei der nächsten Fragestunde nennen.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Mick.
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich vorstellen, daß diese geeignete Persönlichkeit einer anderen als der Sozialdemokratischen Partei angehört?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber selbstverständlich, Herr Abgeordneter. Ich weiß, daß es in allen Reihen dieses Hauses hervorragende Sachverständige gibt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Dr. Schneider.
Herr Staatssekretär, wären Sie nach der Auskunft, die Sie eben gegeben haben, bereit, einige Vorschläge entgegenzunehmen und danach zu handeln? Ich meine Vorschläge von Wohnungsbauexperten aus den Reihen der Unionsparteien.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, da es sich hierbei um eine Anzeige des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung handelt, wäre es sicher schwierig, eine solche Anzeige mit einem Herrn aus Ihren Reihen zu bestücken. Aber vielleicht findet sich einer, der sich voll und ganz zur Politik der Bundesregierung auf diesem Gebiet bekennt.
Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Picard.
Herr Staatssekretär, würden Sie in diesem Zusammenhang einmal den Versuch unternehmen, dem Parlament darzulegen, inwieweit diese Anzeige Informations- und Öffentlichkeitsarbeit ist und inwieweit sie Werbung darstellt? Nach dem seitherigen Verständnis des Parlaments möchte ich Sie fragen, ob Sie mit mir nicht auch der Auffassung sind, daß diese Mittel zur Information und nicht zur Werbung dienen sollen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, wir haben uns hier immer sozusagen auf den Begriff der werbenden Information verständigt. Man kann das bei der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und auch derjenigen des Staates, die wir ja ebenfalls betreiben, nicht voll trennen. Ich habe immer gesagt, daß ich die Grenze einhalten werde, die zwischen der werbenden Information und der Propaganda liegt. Ich glaube, ich habe mich an diese Grenze immer gehalten.
Zur letzten Zusatzfrage Herr Abgeordneter Ott.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für eine glückliche Werbung, wenn Sie den Oberbürgermeister von München als ein Vorbild auf dem Gebiet des Wohnungsbaus hinstellen, wo er selber in seiner Landeshauptstadt München doch die mieseste Wohnungsbaupolitik der letzten 20 Jahre betrieben hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, aus meiner Auswahl können Sie ersehen, daß ich Ihre Wertung der Wohnungsbauverhältnisse in München in keiner Weise teilen kann.
Ich rufe die Frage 73 des Herrn Abgeordneten Leicht auf:
In welchen Zeitungen, aus welchen Haushaltsmitteln und in welcher Höhe beabsichtigt die Bundesregierung solche oder ähnliche Werbekampagnen zu starten?
Zur Beantwortung der Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, die Testimonials sind in folgenden Wochenblättern erschienen: „Das Neue Blatt", „Neue
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Staatssekretär AhlersPost", „Wochenend", „Heim und Welt" und „Neue Welt", und zwar in der Zeit zwischen Ende August und Ende September. Sie werden aus Tit. 531 03 des Einzeletats des Presseamts finanziert.Die voraussichtlichen Kosten für diese Anzeigen betragen rund 160 000 DM.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Leicht.
Wie viele Reports ähnlich dem Sozialreport 1971, den wir heute morgen auf unseren Schreibtischen gefunden haben, wird die Bundesregierung demnächst herausgeben, und welche Kosten werden dadurch entstehen? Sie sind ja sicherlichlich darüber informiert.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich, Herr Abgeordneter. Dieses Jahr wohl keinen mehr.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Leicht.
Hat die Bundesregierung bereits oder wird sie noch in diesem Haushaltsjahr für die Öffentlichkeitsarbeit überplanmäßige und eventuelle außerplanmäßige Ausgaben in Anspruch nehmen müssen?
Ahlers, Staatssekretär, Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Nein, Herr Abgeordneter. Ich glaube, ich gehöre zu den wenigen Ressortchefs der Regierung, die nur ganz selten einmal überplanmäßige Ausgaben anfordern.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Haase .
Herr Staatssekretär, anknüpfend an die Antwort, die Sie soeben auf die Frage von Herrn Leicht gegeben haben, und an Ihre Aufzählung der Blätter, in denen Sie inserieren, möchte ich Sie fragen: Haben Sie auch das Blatt „Wochenend" mit aufgezählt oder habe ich es nicht gehört? Ist Ihnen entgangen, daß Sie im „Wochenend" innerhalb der dort erscheinenden Artikelserie „Die hohe Schule der Wollust — Sexspiele mit Hausfrauen brachten Dieter viel Geld ein" — für Ihren Münchener Parteifreund Vogel werben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, Sie hatten mich gefragt, ob wir in ausgesprochenen Sexblättern werben würden. Meine Antwort lautete nein.
-- Ich bin sehr begierig, den Artikel zu lesen. Ich kann Ihnen nur folgendes sagen: Wenn man die Tatsache zum Maßstab nehmen wollte, ob in einer Zeitschrift überhaupt Sexartikel erscheinen, fänden wir kaum noch Medien zur Werbung.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Ott.
Doch, Herr Staatssekretär, Sie hätten Gelegenheit, im „Bayernkurier" zu werben. Darin finden Sie keine Sexartikel.
Nun zu meiner Frage, Herr Staatssekretär. Sie haben vorhin die Beträge genannt, die Sie für Inserate in gewissen Wochenblättern ausgeben. Haben Sie gar keine Sorge, daß diese Inserate und Anzeigen eine erhebliche finanzielle Subvention für gewisse Zeitungen darstellen und daß dadurch die redaktionelle Unabhängigkeit und Freiheit der Presseberichterstattung beeinträchtigt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, diese Sorge besteht ,definitiv nicht. Sie besteht auch nicht im Zusammenhang mit Anzeigen z. B. des CDU-Wirtschaftsrates. Das Aufkommen der Zeitungen an politischen Anzeigen oder werbenden Anzeigen für die Politik ist im Verhältnis zum Gesamtaufkommen der Anzeigen so minimal, daß die Gefahr einer redaktionellen Abhängigkeit nicht gegeben ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie mir, auch auf Ihre Eingangsbemerkung zu antworten. Wir haben vor einiger Zeit versucht, im „Bayernkurier" eine Anzeige zu plazieren. Der Verlag hat es abgelehnt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Raffert.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung die Vergabe einer Anzeige an eine Zeitschrift oder Zeitung, in der sie erscheinen soll, jemals in direkter oder indirekter Form mit Auflagen für den redaktionellen Teil verbunden, oder gedenkt sie das eines Tages zu tun?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reddemann.
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7914 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung die Qualität ihrer Anzeigen für so schlecht, daß sie diese Anzeigen nicht in seriösen überregionalen Zeitungen, sondern in der gelben Wochenpresse erscheinen läßt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, man kann von keinem verlangen, daß er die gesamte Presse liest. Insofern kann ich verstehen, daß es Ihnen entgangen ist, daß wir mit qualitativ hochwertigen Anzeigen zur Zeit im „Spiegel", in der „Zeit", in „Publik" und in „Christ und Welt" werben.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider.
Herr Staatssekretär, Sie haben behauptet, der Verlag des „Bayernkurier" habe die Aufnahme einer Anzeige der Bundesregierung abgelehnt. Welchen Inhalt hat diese Anzeige denn gehabt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, ich weiß es nicht mehr genau. Das ist etwa ein Dreivierteljahr her. Ich will Ihnen den Inhalt aber nachher gern gleich telefonisch durchsagen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Althammer.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß zur Finanzierung dieser Halbzeitarbeit die Mittel in Ihrem Etat, die zweckbestimmt waren für die Bekanntmachung der Gesetzgebungsarbeit, im Rahmen der Sozialpolitik verwendet worden sind?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter, da strifft nicht zu. Die Mittel für diese Halbzeitkampagne waren schon von Anfang des Jahres an im Wirtschaftsplan enthalten.
Eine letzte Zusatzfrage. Herr Abgeordneter Höcherl.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß die Verlagsleitung des „Bayernkuriers" die beabsichtigte Anzeige wegen des unzumutbaren Inhalts abgelehnt hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, Herr Abgeordneter. Das ist völlig ausgeschlossen; denn Anzeigen dieses Inhalts verfassen wir gar nicht erst.
Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich beantwortet. Ich danke für die Beantwortung.
Ich mache darauf aufmerksam, daß wir uns um 14.00 Uhr mit den Dringlichkeitsfragen an das Auswärtige Amt beschäftigen werden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminister des Innern.
Die Fragen 5, 6 und 7 werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet; die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Hansen auf:
Hält die Bundesregierung die personelle und materielle Ausstattung des Wirtschaftsressorls des Bundeskriminalamts für eine wirksame Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in der Bundesrepublik Deutschland für ausreichend?
Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dorn.
Herr Kollege Hansen, die vorbeugende Verbrechensbekämpfung und die Verfolgung strafbarer Handlungen sind grundsätzlich Sache der Länder. Danach obliegt auch die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in erster Linie den Ländern.
Das Bundeskriminalamt kann nach dem Gesetz über die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes die polizeilichen Aufgaben auf dem Gebiet der Strafverfolgung nur in Ausnahmefällen wahrnehmen, wenn eine zuständige Landesbehörde darum ersucht oder der Bundesminister des Innern es aus schwerwiegenden Gründen anordnet.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben sowie zur Unterstützung der Polizeien der Länder ist durch das Sofortprogramm der Bundesregierung zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung eine wesentliche Stellenvermehrung vorgesehen. Das Referat „Wirtschaftsdelikte" im Bundeskriminalamt soll im Endausbau mit insgesamt 33 Kriminalbeamten und 8 Angestellten mit Kenntnissen in Buchführung sowie in Buch- und Bilanzprüfung ausgestattet sein gegenüber einem Stellensoll von 18 Kriminalbeamten und 5 Angestellten im Jahre 1969.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß das Problem der Wirtschaftskriminalität auch unter dem Gesichtspunkt der präventiven Verbrechensbekämpfung gesehen werden muß und von daher dem Bundeskriminalamt eine gewisse Aufgabe zukommt, zumal es sich um Straftaten handelt, die im In- und Ausland in Zusammenarbeit begangen werden? Das Bundeskriminalamt sollte deshalb qualitativ und quantitativ in der Lage sein, dieser Aufgabe gerecht zu werden.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7915
Herr Kollege Hansen, im Grundsatz stimme ich Ihnen zu. Nur muß man in der Frage, wie die Zuständigkeiten hier gelagert sind, eindeutig erkennen, daß primär die Länder gefordert sind, diese Aufgaben wahrzunehmen, und daß das Bundeskriminalamt eben nur in den von mir geschilderten Ausnahmefällen in Erscheinung treten kann.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich rufe die Frage 9 des Herrn Abgeordneten auf:
Welche Möglichkeiten der Einwirkung sieht die Bundesregierung in Richtung einer Verhinderung der immer wieder — zumal hei internationalen sportlichen Begegnungen — zu verzeichnenden und das Ansehen des Landes schädigenden Flaggendiebstählen?
Ist der Abgeordnete im Saal? Er ist anwesend.
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Staatssekretär.
Herr Kollege Bauer, der Diebstahl ausländischer Flaggen erfüllt nicht nur den allgemeinen Diebstahlstatbestand, sondern ist als Verletzung fremder Hoheitszeichen auch nach § 104 StGB strafbar. Flaggen der Bundesrepublik Deutschland genießen den Schutz des § 90 a StGB.
Soweit mir bekannt ist, wurden in der Zeit vom 1. Januar 1970 bis zum 31. August 1971 insgesamt 192 Diebstähle oder Verunglimpfungen von Flaggen festgestellt. Nur 7 dieser Vorfälle ereigneten sich bei internationalen Sportveranstaltungen. In 76 Fällen waren fremde Flaggen oder Hoheitszeichen betroffen, davon 16 des Ostblocks einschließlich 6 der DDR.
Polizeiliche Maßnahmen zur Verhütung von Flaggendiebstählen oder der Verletzung von Hoheitszeichen fallen grundsätzlich in die Zuständigkeit der Länder. Als Schutzmaßnahme für die bei öffentlichen Veranstatlungen aufgezogenen Flaggen wäre es zwar denkbar, die Flaggen durch Polizeibeamte gesondert bewachen zu lassen; aber bei dem bekannten Personalbedarf der Polizei wird das nicht ausreichend geschehen können. Inzwischen sind aber die Veranstalter weitgehend dazu übergegangen, mit eigenen Kräften die Sicherung dieser Flaggen durchzuführen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Bauer .
Nimmt, Herr Staatssekretär, die Bundesregierung gerade in Anbetracht dieser außerordentlich hohen Zahl von Flaggendiebstählen und vielleicht auch im Hinblick schon auf die Olympischen Spiele 1972 in München Veranlassung, nicht auf offener Bühne, aber doch in den sicherlich von Zeit zu Zeit stattfindenden Besprechungen mit den Innenministerien der Länder darauf hinzuwirken, daß die Polizeien darauf hingewiesen werden, daß in solchen Fällen Vorsorge durch besonders sorgfältige Bewachung getroffen wird?
Herr Kollege Bauer, das geschieht bereits seit längerer Zeit. Bei den Beratungen über die Sicherheitsvorkehrungen für die Olympischen Spiele sind nach unserer Auffassung alle Sicherungen getroffen, die in den Vereinbarungen mit den zuständigen Behörden möglich waren.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Bauer.
Können Sie meine Meinung teilen, Herr Staatssekretär, daß z. B. durch eine entsprechende Präparierung von Fahnenmasten, ganz abgesehen von der Bewachung, solche Flaggendiebstähle außerordentlich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden können?
Herr Kollege Bauer, es gibt sicher auch eine Vielzahl technischer Hilfsmittel, auf die man bei entsprechender Anwendung zurückgreifen kann.
Keine weitere Zusatzfrage dazu.
Auf welche Weise und zwischen wem ist ein verbindlicher deutscher Text des Berliner Rahmenabkommens vereinbart worden?
Zur Beantwortung der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Kollege, am 1. September 1971 begab sich der Vortragende Legationsrat Dr. Bräutigam vom Auswärtigen Amt nach vorheriger fernschriftlicher Abstimmung mit dem Büro dem Ministerrates der DDR zur Abstimmung einer deutschen Übersetzung des zur Unterzeichnung fertiggestellten Viermächte-Abkommens in das Haus des Ministerrates in Ost-Berlin. Dr. Bräutigam war begleitet von einem Beamten des Völkerrechtsreferats meines Ministeriums sowie von drei Übersetzern. In Ost-Berlin trafen sie mit Herrn Seidel zusammen, dem für die Bundesrepublik Deutschland zuständigen Abteilungsleiter des Außenministeriums der DDR, und einem Herrn der Rechtsabteilung des Außenministeriums und ebenfalls drei Übersetzern.Vom 1. bis 3. September wurden, teilweise in Nachtsitzungen, die von beiden Seiten getrennt ausgearbeiteten deutschen Übersetzungen des Viermächte-Abkommens sorgfältig durchgearbeitet, eine Übersetzung, die von unserer Seite aus einer der Sprachen unserer Verbündeten, von seiten der DDR
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7916 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Bundesminister Scheelaus dem Russischen vorgenommen worden war. Als Ergebnis wurde volles Einvernehmen über die deutsche Übersetzung des Abkommens erzielt.Nicht übersetzt wurden der Interpretationsbrief und die beiden Verhandlungsprotokolle I und II. In vier geringfügigen Punkten wurde von einer einheitlichen Übersetzung abgesehen, weil die in den beiden Teilen Deutschlands gebräuchlichen Formulierungen voneinander abweichen, der Klarheit halber auch in der Übersetzung voneinander abweichen mußten.Die Begegnung zwischen den beiden deutschen Seiten zur Abstimmung einer deutschen Übersetzung wurde von amerikanischen und sowjetischen Diplomaten vorbereitet. Während der Arbeiten hielten die Vertreter der Bundesregierung engen Kontakt mit den Drei Mächten.Es war nicht beabsichtigt, der deutschen Übersetzung einen offiziellen Status zu geben. Authentisch und offiziell sind allein die von den vier Botschaftern zu zeichnenden Texte in englischer, französischer und russischer Sprache. Das ist, glaube ich,von niemandem bezweifelt worden. Die deutsche Übersetzung sollte der Erleichterung der Verständigung für die vorgesehenen deutschen Verhandlungen dienen. Sie hat keinen offiziellen Charakter. Sie ist von den Vier Mächten weder gebilligt noch für verbindlich erklärt worden. Wir haben auch die Mächte nicht darum ersucht.Das Ergebnis der Absprache ist nach zahlreichen Rücksprachen der beiden Gesprächspartner bei ihren Vorgesetzten am Morgen des 3. September in gemeinsamer Sitzung verlesen und von jeder Seite für sich protokollarisch festgehalten worden. Nach Beendigung der Verhandlungen wurde den Drei Mächten das positive Ergebnis der gemeinsamen Bemühungen um eine deutsche Übersetzung mitgeteilt. Die Drei Mächte haben anschließend die Unterzeichnung des Viermächte-Abkommens unternommen.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Bundesaußenminister, ist es also richtig, daß die ursprünglich für Donnerstag, 13 Uhr, vorgesehene Unterzeichnung wegen der Notwendigkeit eines gemeinsamen deutschen Textes, der die Grundlage der innerdeutschen Berlin-Verhandlungen sein sollte, verschoben wurde und daß erst unterschrieben wurde, nachdem mitgeteilt worden war, daß dieser Text vorliegt?
Das Abkommen ist erst unterschrieben worden, nachdem mitgeteilt worden ist, daß eine Einigung über einen deutschen Text erfolgt ist; das ist richtig.
Eine zweite Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Marx.
Herr Bundesaußenminister, gibt es für Sie eine Erklärung dafür, die vielleicht in einem Beschluß eines SED-Gremiums liegen könnte, weshalb von der Ostberliner Seite zunächst von einem gemeinsamen Text ausgegangen worden ist, während jetzt behauptet wird, ein solcher gemeinsamer Text habe nicht existiert?
Herr Kollege, es ist schwer, eine Erklärung für das im Augenblick feststellbare Verhalten der DDR zu finden. Ich halte es auch nicht für nützlich, jetzt in eine vertiefte Diskussion dieser Frage einzutreten.
Sie wissen, Herr Kollege, daß wir uns im Augenblick bemühen, eine Möglichkeit zu finden, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Wir gehen davon aus, daß Sachverhandlungen dann erfolgen können, wenn diese noch nicht gelöste Frage zu unserer Zufriedenheit gelöst ist.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Freiherr von Guttenberg.
Herr Minister, nachdem Sie gesagt haben, daß der deutsche Text nicht offiziell sei, frage ich Sie, ob dieser deutsche Text im Verhältnis der beiden deutschen Seiten in dem Sinne offiziell ist, daß er beide Seiten verpflichtet.
Ich darf noch einmal wiederholen, daß die Übersetzung des Abkommens der Vier Mächte kein authentischer Text ist. Wir haben uns aber bemüht, als Grundlage für die notwendigen Verhandlungen der Bundesrepublik mit der DDR eine gemeinsame Übersetzung herzustellen. Authentischer deutscher Text kann naturgemäß nur das sein, was wir mit der DDR verhandeln. Also werden die in das Abkommen einzufügenden deutschen Abmachungen einen authentischen deutschen Text haben. Das ist die Lage.
Eine Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Kollege Scheel, verstehe ich Sie richtig, wenn ich davon ausgehe, daß die Meinung und die Mitteilung, die Sie hier machen, vollkommen deckungsgleich, identisch sind mit der Meinung, die der hiesige Botschafter der USA gestern wie folgt zusammengefaßt hat. Ich zitiere:
Diese Schwierigkeiten geben uns Anlaß zu einiger Besorgnis, da es einen deutschen Wortlaut gab, mit dem sich beide deutsche Seiten am Morgen des 3. September einverstanden erklärten. In der Tat erklärte ich mich unter der Voraussetzung, daß sich die beiden deutschen Seiten über die deutsche Übersetzung des Textes einigen würden, am 3. September im späteren Verlauf des Tages zur Unterschrift bereit. Meine feste Meinung ist, daß man sich an den vereinbarten Wortlaut halten muß und daß dieser als Grundlage für innerdeutsche Ver-
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Dr. Barzel
handlungen zu dienen hat, die bevorstehen. Es ist ein schlechtes und aussichtsloses Beginnen einer jeden Verhandlung, wenn eine Seite ihr gegebenes Wort nicht anerkennt.
So weit das Zitat.
Die Auffassung der Bundesregierung deckt sich in vollem Umfange mit dem, was Botschafter Rush gesagt hat.
Eine- Zusatzfrage der Abgeordnete Dr. Bach.
Herr Bundesminister, gehe ich richtig in der Annahme, daß Sie sagen, es gibt keinen vereinbarten Text? Auf das Wort „vereinbart" kommt es an. Ich glaube, man muß einmal ganz klar sagen, ob es einen vereinbarten Text gibt.
Es gibt keinen authentischen deutschen Text, Herr Dr. Bach, da wir nicht Verhandler und Unterzeichner des Abkommens sind. Es gibt einen vereinbarten deutschen Text sozusagen als inoffizielle Übersetzung der authentischen englischen, französischen und russischen Abkommenstexte.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Leisler Kiep.
Herr Bundesminister, darf ich Sie fragen, wie die Äußerung von Ihnen auf die Frage, ob es einen offiziellen Text gebe, zu vereinbaren ist mit der Antwort, die der Staatssekretär Ahlers auf die Frage von Herrn Dr. Kellermeier in einem Interview gegeben hat, als er gefragt wurde: „Gibt es einen von Bonn und Ost-Berlin verbindlich vereinbarten und von den Vier Mächten eventuell autorisierten deutschen Text des Abkommens?" Die Antwort von Staatssekretär Ahlers war: „Ja, den gibt es auf jeden Fall."
Scheel, Bundesminitser des Auswärtigen: Das widerspricht nicht dem, was ich gesagt habe.
Ich habe gerade auf die Frage von Herrn Dr. Bach geantwortet, daß es eine Vereinbarung über einen deutschen Text gibt. Das ist doch ganz unbestritten, aber Sie müssen den Unterschied machen zwischen einer Vereinbarung über einen deutschen Text und den im diplomatischen Sprachgebrauch üblichen Begriffen „authentischer Text" oder „offizieller Text". Ein authentischer Text ist es naturgemäß nicht, denn es hat überhaupt keinen deutschen Verhandlungspartner gegeben, sondern nur Verhandlungspartner, die englisch, französisch oder russisch sprechen. Und von diesen authentischen Texten gibt es eine vereinbarte deutsche Übersetzung; das ist doch nicht so schwer. Das ist eben eine Vereinbarung gewesen.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Professor Dr. Hallstein.
Herr Bundesminister, wenn dieser vereinbarte deutsche Text auch nicht für die beiden verhandelnden deutschen Parteien verbindlich ist, was ist dann der Sinn der Bemühungen um einen solchen Text gewesen?
Herr Kollege, der Sinn der Bemühungen ist es gewesen, eine Grundlage für die Verhandlungen, die wir beginnen wollen, zu finden.
Es ist durch die Schwierigkeiten, die jetzt entstanden sind, erwiesen, daß das nötig war. Wir haben diese Schwierigkeiten zu überwinden, bevor wir zu den Sachverhandlungen kommen. Das war der Sinn unserer Bemühungen; und der Beweis für die Richtigkeit dieser Bemühungen ist gerade jetzt durch die Schwierigkeiten erbracht worden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Reddemann.
Herr Minister, entspricht es den Tatsachen, daß der Staatssekretär in der Ostberliner Regierung Kohl den gemeinsamen Text nicht mehr akzeptieren will, weil das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Teile dieses Textes entgegen der Absprache vorzeitig an die Deutsche Presseagentur gegeben hat?
Das ist eine der Begründungen gewesen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe Frage 2 des Abgeordneten Dr. Bach auf:
Ist der deutsche Text der Berliner Vereinbarung, welcher gegenwärtig zwischen beiden feilen Deutschlands umstritten ist, Gegenstand von Gesprächen zwischen Bundeskanzler Brandt und dem sowjetischen Parteichef Breschnew auf der Krim gewesen?
Zur Beamtwortung der Herr Bundesminister.
Herr Kollege Dr. Bach, der Bundeskanzler hat den Standpunkt der Bundesregierung zu den Problemen dargelegt, die durch die noch immer bestehenden unterschiedlichen Auffassungen über diesen Text entstanden sind. Es bestand in der Unterhaltung zwischen dem Bundeskanzler und Herrn Breschnew jedoch Klarheit darüber, daß die Differenzen zwischen den beiden deutschen Seiten zu bereinigen sind.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Bach.
Darf ich anschließend fragen, ob in diesem Gespräch überhaupt über die
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7918 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Dr.-Ing. BachProbleme der geteilten Stadt Berlin gesprochen worden ist.
Herr Kollege Dr. Bach, das ist nicht Gegenstand Ihrer Frage. Ich bin gar nicht autorisiert, eine Zusatzfrage dieser Art zu beantworten.
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Bach.
Es heißt hier in meiner Frage, ob die Berlin-Vereinbarung Gegenstand der Gespräche gewesen ist, und die Berlinvereinbarung erstreckt sich doch auf den Gesamtraum von Berlin. Also muß doch auch die Sowjetunion, die mit verantwortlich für Berlin ist, in diesem Gespräch eine Stellungnahme abgegeben haben.
Herr Kollege Dr. Bach, Sie haben gefragt:
Ist der deutsche Text der Berliner Vereinbarung, welcher gegenwärtig zwischen beiden Teilen Deutschlands umstritten ist, Gegenstand von Gesprächen ... gewesen?
Ich sage, es sind die Folgen der Tatsache, daß der
Text noch umstritten ist, Gegenstand von Gesprächen gewesen. Und da ist es die gemeinsame Meinung, daß diese Differenzen von den beiden deutschen Seiten ausgeräumt werden müssen. Wir bemühen uns im Augenblick darum. Ich glaube, wir müssen in all diesen Fragen Geduld haben.
Ich rufe Frage 3 des Abgeordneten Dr. Dollinger auf:
Welche unmittelbaren Schritte wird • die Bundesregierung unternehmen, um nicht nur den Eindruck ostpolitischer Alleingänge bei ihren Bündnispartnern nachträglich zerstreuen zu müssen, sondern um sicherzustellen, daß ihre Ostpolitik in Abstimmung und Übereinstimmung mit ihren Bündnispartnern entsprechend den in Artikel 7 des Deutschlandvertrages niedergelegten gemeinsamen Zielen verfolgt wird?
Zur Beantwortung Herr Bundesminister des Auswärtigen!
Herr Kollege Dollinger, die Bundesregierung hat seit ihrer Amtsübernahme ihre Osteuropapolitik in völliger Abstimmung und in Übereinstimmung mit den Bündnispartnern entsprechend den im Deutschland-Vertrag niedergelegten gemeinsamen Zielen entworfen und durchgeführt, und sie wird das auch in Zukunft tun. Der fälschliche Eindruck ostpolitischer Alleingänge, den Sie, Herr Kollege Dollinger, erwähnen, besteht in den Regierungskreisen unserer Verbündeten nicht.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Dollinger.
Herr Bundesminister, wie erklären Sie es sich dann, daß der Herr Bundeskanzler selbst in einem Interview mit „Panorama" eine Formulierung gebraucht hat, die etwas an das Kommunistische Manifest erinnert?
Er sagte nämlich - ich darf zitieren —: „Es geht
ein Gespenst um - das ist wahr - in manchen
Kreisen."
Wie? Es geht ein Gespenst?
„Es geht ein Gespenst um — das ist wahr in manchen Kreisen." Das war seine Antwort auf eine Frage.
In manchen Kreisen, aber nicht in Regierungskreisen.
Eher in Oppositionskreisen!
Eine zweite Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Dollinger.
Herr Bundesminister, sind Sie wirklich der Meinung, daß der Moskauer Vertrag und das Kommuniqué von der Krim das noch abdecken, was in Art. 7 des Deutschland-Vertrages steht? Ich darf zitieren:
Bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung werden die Unterzeichnerstaaten zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlichdemokratische Verfassung, ähnlich wie die Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist.
Herr Kollege, ich bin dieser Meinung, und diese Meinung wird von unseren Verbündeten, die im Deutschland-Vertrag unsere Partner sind, geteilt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Freiherr von Guttenberg.Freiherr von und zu Guttenberg : Herr Minister, nachdem Sie soeben gesagt haben, bei den Regierungen unserer Verbündeten gebe es keine Befürchtungen über deutsche Alleingänge, frage ich Sie, ob beispielsweise in der französischen Regierung eitel Freude darüber herrscht, daß der Herr Bundeskanzler ohne Konsultation mit Paris nach Jalta gefahren ist, ohne sich vorher an den
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Freiherr von und zu Guttenbergdeutsch-französischen Vertrag und die in ihm enthaltene Konsultationspflicht zu erinnern.
Herr Kollege von Guttenberg, ich kann Ihnen versichern, daß das, was ich soeben für unsere Verbündeten sagte: daß es keinerlei Mißtrauen gegen die Osteuropapolitik der Bundesregierung gibt,
auch und gerade für Frankreich zutrifft. Wenn Sie von mir erwarten, daß ich die Frage beantworte, ob eitel Freude herrscht oder nicht, so muß ich sagen, daß es natürlich jedem Antwort Gebenden schwerfällt, den Grad der Freude einer befreundeten Regierung hier darzustellen.
Ich kann nur sagen, daß es bei der französischen Regierung genausowenig irgendein Mißtrauen gegen die Osteuropapolitik der Bundesregierung gibt wie bei den anderen Regierungen der mit uns verbündeten Staaten. Ganz im Gegenteil: Die französische Regierung fühlt sich in ganz besondere Weise dieser Osteuropapolitik verbunden, und die Reise des Bundeskanzlers hat nach den Worten von Außenminister Schuman in die Richtung gewirkt, in der wir gemeinsam die Osteuropapolitik entwikkeln, und ist geeignet, diese gemeinsame Osteuropapolitik unserer Verbündeten zu unterstützen.
Es trifft nicht zu, daß die Reise des Bundeskanzlers auf die Krim nicht konsultiert worden wäre.
— Nicht nachher, sondern selbstverständlich vorher. Aber es trifft zu, daß wir kein Konsultationsverfahren über den Termin der Reise in Gang gesetzt haben. Ich bin freimütig genug zu erklären: das werden wir auch in Zukunft nicht tun.
Wir erachten es auch bei unseren Verbündeten als selbstverständlich, daß sie ihre Außenpolitik selbst gestalten und nicht mit uns in Konsultationsverhandlungen über Termine von Reisen ihrer Regierungsmitglieder eintreten.
Meine verehrten Kollegen, es ist aber ebenso selbstverständlich, daß wir — wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft — über den Stoff, den der Bundeskanzler oder andere Mitglieder der Regierung mit Politikern Osteuropas zu besprechen haben, das Konsultationsverfahren durchführen, das wir seit eh und je kennen. Es ist doch eine Illusion, anzunehmen, der Bundeskanzler würde bei seiner Begegnung mit Breschnew politische Fragen erörtert haben, die wir nicht mit unseren Partnern im Westen vorher besprochen haben und über die wir die Meinung unserer Partner nicht kennen. Es ist selbstverständlich, daß wir uns bei solchen Begegnungen als das fühlen, was wir sind: ein Teil Europas, ein Teil einer europäischen Politik, die in
den westeuropäischen Bündnissen konzipiert wird. Nur in dieser Rolle sehen wir die Initiativen, die wir selbst ergreifen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Althammer.
Herr Außenminister, haben wir Sie recht verstanden, daß zwar nicht der Vormittag oder Nachmittag des Abflugs konsultiert worden ist, daß aber die genauen Punkte, über die in Jalta zwischen dem Bundeskanzler und Breschnew verhandelt worden ist, vorher konsultiert worden sind?
In Jalta haben wir nicht verhandelt, sondern in Oreanda.
In Jalta haben andere verhandelt, aber daran waren wir nicht beteiligt, wie Sie sich erinnern werden. Die Punkte, die wir mit unseren Verbündeten besprochen haben, sind natürlich immer nur die Punkte, die von unserer Seite als Verhandlungsstoff beabsichtigt sind. Das ist das Übliche. Ich kann nicht etwa im vorhinein ahnen, ob mein Gesprächspartner nicht das eine oder andere in eine Diskussion einführt, das ich selber nicht zu diskutieren beabsichtigt habe. Das vorausgesetzt, darf ich sagen, daß alle Punkte vorher natürlich besprochen worden sind.
Eine Zusatzfrage, Dr. Riedl.
Herr Bundesaußenminister, ist die von Ihnen erwähnte einseitige Mitteilung des Bundeskanzlers an Staatspräsident Pompidou als Konsultation zu werten, wie sie der deutsch-französische Vertrag zwingend vorschreibt?
Wir beschränken uns nicht auf diese Mitteilungen, sondern selbstverständlich haben die üblichen diplomatischen Kontakte stattgefunden, die vor solchen Reisen von uns immer angestrebt und durchgeführt werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kiep.
Herr Bundesaußenminister, würden Sie mir darin zustimmen, daß die Konsultationen mit unseren wichtigen Verbündeten vor der Reise auf die Krim schon deshalb schwierig waren, weil das eigene Auswärtige Amt in die Konsultationen vor der Annahme der Einladung auf die Krim nicht einbezogen war?
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7920 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Herr Kiep, ich würde Ihnen darin nicht zustimmen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Giulini.
Herr Bundesminister, was hat Ihr Haus unternommen, bevor die Reise auf die Krim begann, daß in allen russisch sprechenden Zeitungen über Berlin nur ein Doklad o sapadnim Berlinom also nur ein Abkommen über West-Berlin in Wirklichkeit sollte es sich ja um ganz Berlin handeln — erwähnt worden ist?
Ich bin für die in russischer Sprache gedruckten Zeitungen nicht verantwortlich.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Niegel.
Herr Bundesminister, stehen die Verhandlungen auf der Krim mit dem Verfassungsgebot des Grundgesetzes und des bekannten Urteils des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verpflichtung zur Wiedervereinigung im Einklang, oder ist festzustellen, daß die Verhandlungen, also diese Regierungstätigkeit Bundeskanzler Brandts und das Kommuniqué, verfassungswidrig sind?
Es ist festzustellen, daß sie nicht verfassungswidrig sind, sondern daß sie in voller Übereinstimmung mit der Verfassung erfolgten. Diese Regierung hat nicht die Absicht, verfassungswidrige Akte durchzuführen.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Freiherr von Weizsäcker auf:
Ist der Bundeskanzler bereit, umgehend mit den Regierungen derjenigen Staaten, die der EWG entweder angehören oder ihre Aufnahme beantragt haben, Verhandlungen aufzunehmen mit dein Ziel, eine europäische Gipfelkonferenz, wie sie der britische Premierminister Edward Heath am 17. September 1971 In Zürich angeregt hat, zustande zu bringen?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat den Gedanken einer Gipfelkonferenz, an der die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft teilnehmen, immer bejaht. Darüber wird zur Zeit auch zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verhandelt.
Wir sind allerdings in der EWG der Meinung, daß eine solche Konferenz, die sich ja nicht zuletzt auch auf die Vorschläge von Präsident Pompidou stützt, sorgfältig vorbereitet sein muß, wenn sie einen Erfolg versprechen soll. Das reine Konferenzieren tut es ja nicht, sondern es muß vorher eine solide
Grundlage an Konferenzstoff und an beabsichtigten Ergebnissen erarbeitet sein.
— Das war keine Konferenz in dem Sinne, wie sie
von dem Abgeordneten in seiner Frage erwähnt ist.
Es kann also im Augenblick noch kein Termin bestimmt werden. Aber die Bundesregierung hat mit Genugtuung festgestellt, daß der britische Premierminister diese Überlegungen in seiner Rede in Zürich aufgegriffen und vorgeschlagen hat, daß nach dem Beitritt der vier beitrittsbereiten Länder bald eine solche Konferenz der Staats- und Regierungschefs ins Auge gefaßt werden sollte.
Sie wissen, daß während der deutsch-französischen Konsultationen der Bundeskanzler mit dem französischen Staatspräsidenten einmal das Jahr 1972 für eine solche Gipfelkonferenz in Aussicht genommen hat. Das wäre ein realistischer Zeitraum, in dem man über die europäischen Fragen diskutieren könnte, wo es eines Anstoßes durch die Staats- und Regierungschefs bedarf. Wir haben genügend Stoff: die Schwierigkeiten in der Währungspolitik, d. h. die Frage, wie man in der Wirtschafts- und Währungsunion weiterkommt, und dann die Struktur unserer Gemeinschaft nach dem Beitritt der vier beitrittsbereiten Staaten.
Ich glaube, daß eine solche Konferenz zu jenem Zeitpunkt besonders wichtig sein wird. Die Bundesregierung unterstützt eine solche Konferenz natürlich aus ihrer besonderen Lage heraus ganz besonders.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Freiherr von Weizsäcker.
Herr Minister, darf ich zunächst fragen, ob Sie sich darüber im klaren sind, daß Premierminister Heath nicht, wie Sie soeben gesagt haben, von einer Konferenz nach dem Beitritt gesprochen hat, sondern daß es sich wie sich das aus dem Text seiner Rede ergibt, den ich im englischen Original vor mir habe — um eine Konferenz mit „members and potential members" handelt, daß also nicht abgewartet werden kann, bis — wie der Premierminister sagt — im Jahre 1972 der Vertrag unterzeichnet ist, ohne daß dann schon die Gemeinschaft in entsprechendem Sinne erweitert wäre?
1972 wäre Großbritannien ja noch ein potential member. Also ich will das auf 1972 als ein realistisches Jahr beziehen.
Eine zweite Zusatzfrage, der Abgeordnete Dr. von Weizsäcker.
Herr Minister, da ich nicht finde, daß Sie meine Frage beantwortet haben,
Dr. Freiherr von Weizsäcker
möchte ich Ihnen eine zweite Frage stellen und Sie fragen, ob die Bundesregierung bereit ist, dem eigentlichen Anliegen zu entsprechen, welches Premierminister Heath im Zusammenhang mit der Erwähnung der Gipfelkonferenz zum Ausdruck gebracht hat, indem er nämlich davon sprach, daß alsbald und unverzüglich Maßnahmen zum Zwecke der Herstellung einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Währungspolitik in Westeuropa ergriffen werden sollten, damit wir den Pannen und Mißverständnissen entgehen, die wir in der Zeit von Mai bis heute erlebt haben und weiter erleben.
Herr Kollege, wir sind schon deswegen dieser Meinung, weil wir in der Vergangenheit durch eigene Initiativen die Etappen mit erreicht haben, die wir innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Grundlage unserer Politik errichtet haben, nämlich das Konsultationsverfahren im Bereich der Außenpolitik und außerdem die Wirtschafts- und Währungsunion, deren erste Etappe am 1. Januar dieses Jahres begonnen hat. Daß es hier Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung gibt, ist weniger dieser Entscheidung als vielmehr einer weltweiten Entwicklung auf dem Gebiet der Währungspolitik zuzurechnen, die ja nicht nur Schwierigkeiten für uns, sondern für alle am Welthandel beteiligten Länder gebracht hat.
Wenn wir auf dem Gebiet der politischen Zusammenarbeit nicht weiter sind, dann liegt das, Herr Kollege, zuallerletzt an der Bundesrepublik Deutschland.
Wir haben Partner, mit denen wir diejenigen Schritte, die wir tun können, vereinbaren müssen. Wir haben uns nicht darauf beschränkt, schöne Fernziele so gut wie möglich darzustellen, sondern wir haben unsere Energie immer darauf konzentriert, zu praktischen Ergebnissen zu kommen. Wir haben praktisch einiges erreicht, was früher unmöglich gewesen ist. Aber wir können nur das erreichen, was unsere Partner freiwillig mit uns gemeinsam tun.
Ich lasse nur noch eine Zusatzfrage zu, und das ist die Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Kliesing.
Herr Minister, da eine westeuropäische Gipfelkonferenz zweifellos nicht die einzige Konferenz ist, die einer sorgfältigen Vorbereitung bedarf, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung bereit ist, in die Beschleunigung des Zustandekommens dieser europäischen Gipfelkonferenz das gleiche Maß an politischer Energie zu investieren, welches der Herr Bundeskanzler der sowjetischen Regierung in bezug auf die von der Sowjetunion gewünschte Konferenz über die Sicherheit in Europa versprochen hat.
Herr Kollege, der Bundeskanzler hat seinem Gesprächspartner genau das gesagt, was die Außenminister der NATO in Lissabon zu dem Thema Konferenz über Sicherheitsfragen in Europa beschlossen haben.
Ich glaube, man würde die Absichten der Mitgliedstaaten der NATO falsch einschätzen, wenn man ihnen unterstellte, sie seien mit ihrer positiven Einstellung zu einer Konferenz über europäische Sicherheitsfragen ausschließlich dem Wunsch der Sowjetunion gefolgt.
Die Mitgliedstaaten der NATO haben ein Eigeninteresse an einer solchen Konferenz, und sie haben dieses Eigeninteresse auch klar zum Ausdruck gebracht. Sie haben außerdem in dem Kommuniqué von Lissabon die Welt wissen lassen, daß nach einer zufriedenstellenden Regelung des Berlin-Problems die multilaterale Vorbereitung einer Konferenz über europäische Sicherheitsfragen beginnen könne. Das hat der Bundeskanzler seinem Gesprächspartner mit genau den gleichen Worten mitgeteilt.
Meine Damen und Herren, die 60 Minuten der Fragestunde sind abgelaufen. Zum Abschluß der Fragestunde ist das Wort von einem Sprecher der Opposition, dem Abgeordneten Baron von Wrangel, verlangt worden.
Bitte schön, Herr von Wrangel!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantrage ich die Abhaltung einer Aktuellen Stunde, wie sie in Ziffer 2 der Anlage zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorgesehen ist. Zur Begründung dieses Antrags möchte ich folgendes feststellen.Erstens. Der Verlauf der heutigen Fragestunde, besonders der letzte Teil, hat gezeigt, daß diese Regierung dem Parlament nicht mehr Rede und Antwort stehen will.
Ihre Antworten sind unpräzise, vage und gehen an der Sache vorbei.
Sie ignorieren die Verantwortung, die diese Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag hat.
Zweitens. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat auch heute wieder mit Befremden festgestellt, daß die Regierung, die einst mehr Demokratie versprach, ihre Auskunftspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag verletzt und Informationen offen-
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7922 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Baron von Wrangelkundig am Parlament vorbei in die Öffentlichkeit streuen will.
Diesen Zustand empfinden wir als unerträglich.
Drittens. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion muß die Bundesregierung rügen, daß sie wie bei früheren Gelegenheiten — und ich beziehe mich jetzt hier auf das, was im Ältestenrat von Herrn Minister Ehmke gesagt worden ist — Anfragen der Opposition nicht schriftlich beantwortet, in der Fragestunde ausweicht und erklärt, daß die Fragen der Opposition zu detailliert und mithin zeitraubend sind.
Meine Damen und Herren, Sie können sich darauf verlassen — und deshalb werden wir jetzt eine Aussprache führen —, daß wir auf Grund der Haltung dieser Regierung auch hier heute noch detaillierter und sorgfältiger fragen und argumentieren werden.
Meine Damen und Herren, wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie endlich aufhört, wie dies in dieser Sommerpause geschehen ist, zu versuchen, den Deutschen Bundestag zu einem Akklamationsforum oder zu einem Propagandaforum zu degradieren.
Die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, hat die Pflicht, diesem Parlament Auskunft zu geben, und wir werden sie aus dieser Verantwortung nicht entlassen.
Meine Damen und Herren, es ist eine
Aktuelle Stunde
beantragt und der Antrag begründet worden. Ich verweise auf die Anlage 3 unserer Geschäftsordnung. Daraus ergibt sich, daß die Aktuelle Stunde 60 Minuten umfaßt, nicht mitgerechnet die Redezeit, die die Regierung für sich in Anspruch nimmt. Außerdem sind die Reden auf jeweils 5 Minuten zu begrenzen.
Gemäß den Richtlinien für die Aktuelle Stunde ist das Wort zuerst der antragstellenden Fraktion zu erteilen. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Barzel.
Eine Sekunde noch, Herr Dr. Barzel! Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat gebeten, bekanntzugeben, daß die Sitzung des Haushaltsausschusses, die für 15 Uhr anberaumt wurde, bis zum Ende der Aktuellen Stunde verschoben wird. Ich weiß nicht, ob das auch für andere Ausschüsse gilt.
— Für alle Ausschüsse. Dann bitte ich, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Ausschüsse nach Abschluß der Aktuellen Stunde mit ihren Beratungen beginnen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir, wie hier eben durch die Fragen des Kollegen von Weizsäcker und am Schluß durch die Frage des Kollegen Kliesing geschehen, nach der Politik zur Vereinigung des freien Europas fragen, dann hören wir von dieser Bundesregierung, dies alles sei schwierig, brauche Zeit und erfordere Behutsamkeit. Geht es dagegen um den Vorschlag der Sowjetunion, eine gesamteuropäische Konferenz abzuhalten, so ist eben diese Bundesregierung nicht so zögerlich, sondern verspricht — so jetzt in dem Kommuniqué von der Krim —, dieses Konzept zu „beschleunigen".
Wenn wir die Bundesregierung bedrängen, wie dies auch eben geschehen ist, Schritte — einen Stufenplan — zur politischen Vereinigung des freien Europas zu eröffnen und hier initiativ zu werden, so hören wir die Antwort, es sei sicherlich nicht Sache der Deutschen, hier durch Initiativen besonders hervorzutreten; ohnehin sei die Frage der politischen Vereinigung des freien Europa Sache der nächsten Generationen. So spricht dieselbe Regierung, die nur zu gern bereit ist, Vorreiter in Sachen der von Moskau gewünschten Europäischen Sicherheitskonferenz zu sein, und dabei keineswegs zimperlich ist, meine Damen und Herren.
So werden Gewichte verschoben, So wird mit zweierlei Maß gemessen: hier Tempo, dort Zurückhaltung, Tatsachen nach Osten und Fragezeichen nach Westen.
Das, meine Damen und Herren, muß hier gesagt werden.Jean Monnet, ein Freund Deutschlands, der Architekt der Europäischen Gemeinschaften, der Vorsitzende des Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa, warf dieser deutschen Politik unlängst öffentlich „nationalen Egoismus" vor, und er sagte, dies sei wie in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Er erklärte — und wir stimmen dem zu —:Die Dauer des europäischen Wohlstands wird durch die unumgängliche Verbindung der Sechs mit England gesichert. Sie wird die Freiheit aufrechterhalten. Es kann nicht jeder handeln, wie er will. Wenn wir diesen Weg betreten, wird es bald kein Europa und keine Freiheit mehr geben.Dies ist Kritik an dieser Politik dieser Regierung, meine Damen und Herren, Kritik eines Europäers.
Beschleunigt werden soll nun auch nach dem Kommuniqué von der Krim der Einzug der „DDR" in die
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7923
Dr. BarzelUNO. Es soll also ein kommunistisches System auf deutschem Boden mit dem Willen und auf Wunsch einer frei gewählten deutschen Regierung — in die UNO, obwohl dieses Regime Gewalt anwendet bis hin zum Schießen und obwohl dieses Regime die Menschenrechte unterdrückt.
Meine Damen und Herren, eine solche Art deutscher Politik, die sich an der Opportunität der Macht mehr als an den Menschenrechten orientiert,
eine solche Politik ist Deutschland und ist Europa bisher immer schlecht bekommen.
Meine Damen und Herren, was bleibt denn — --
— Sie werden die Opposition nicht mundtot machen!
Sie können doch nicht übersehen --- deshalb müssen wir heute deutlicher werden —, daß in den Kasseler 20 Punkten noch die Rede von der „einen Nation" und von ihrer „Einheit" ist, auf die die innerdeutschen Verträge angelegt sein sollen. Sie können nicht übersehen, daß in Kassel noch davon die Rede war, die Beziehungen zur „DDR" auf der Grundlage der Menschenrechte zu regeln. Das steht in Jalta nicht mehr, und dies sagt diese Opposition, meine Damen und Herren.
Deshalb sagen wir, niemand hier hat das Recht und keiner hat das politische Mandat, endgültig die Spaltung Deutschlands zu bestätigen.
Selbstbestimmungsrecht und die Lage der Deutschenin Deutschland sind der Kern jeder an den Grundwerten der Demokratie orientierten Deutschland- und Ostpolitik und müssen es bleiben. Jeder andere Maßstab ist inhuman und opportunistisch.
Herr Abgeordneter-- — Dr. Barzel : Ich komme zum Schluß, herr Präsident.
Darf ich nur sagen: Entsprechend dem Kommuniqué von Lissabon, von dem der Herr Außenminister gesprochen hat, ist daß Maß für Entspannung — so steht es auch dort -- die Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen. Davon steht nun im Kommuniqué von Jalta nichts. Es kann keiner erwarten, daß wir diese Politik unterstützen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage mich, warum über die aufgeworfenen Fragen nicht mit mehr Sachlichkeit gesprochen werden kann.
Statt der von manchen für richtig gehaltenen totalen Konfrontation halte ich etwas davon, sich mit den Fragen, um die es jetzt geht, konkret auseinanderzusetzen.
Ich gehe also auf die verleumderischen Unterstellungen von Herrn Dr. Barzel nicht ein.
Seine Berufung auf die 20 Punkte von Kassel ist schon deshalb unglaubwürdig,
weil er schon damals gegen dieselben Punkte zu Felde gezogen ist, auf die er sich heute beruft.
Wir müssen uns also konkret auseinandersetzen.
Nehmen wir die westliche Gipfelkonferenz, für die ich mich lange bevor sie hier zum Thema innenpolitischen Streits gemacht wurde, eingesetzt habe.
Das wissen unsere Freunde in der Welt. Niemand hat das Recht,
die europapolitischen Initiativen dieser Bundesregierung in Zweifel zu ziehen.
Wir haben auf diesem Gebiet mehr erreicht als unsere Kritiker.
Sie haben kein Recht, Jean Monnet, der mir diese Aktivität dieser Regierung bestätigt hat, gegen uns ausspielen zu wollen. Das Recht haben Sie nicht.
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7924 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Bundeskanzler BrandtWir haben die Erweiterung auf den Weg gebracht, die Weichen in Richtung auf Wirtschafts- und Währungsunion gestellt, die außenpolitische Zusammenarbeit und in der Eurogroup die Zusammenarbeit der Europäer in der NATO erreicht.
Niemand hat das Recht, weiter in Zweifel zu ziehen — —
— Jetzt spreche ich und sage meine Meinung, Herr Rasner.
Deshalb wiederhole ich: niemand hat das Recht,
in Zweifel zu ziehen, daß sich die Außenpolitik dieser Bundesregierung, vor allem auch, wo es um Ost-West-Fragen geht, im Rahmen dessen bewegt, was im Atlantischen Bündnis und in der westeuropäischen Gemeinschaft abgesprochen worden ist.
Wer gegen unsere Politik im Zusammenhang mit einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
und wer gegen unsere Politik zur Vorbereitung von Verhandlungen über gleichgewichtigen Truppenabbau zu Felde zieht,
der wendet sich zugleich gegen unsere Verbündeten. Das muß hier jeder wissen.
Was die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa angeht, so ist dies nach dem Beschluß des Bündnisses die Phase der bilateralen Erkundungen, an denen sich die Bundesrepublik wie die anderen Staaten beteiligt.
Im Dezember wird der NATO-Rat feststellen, ob dann die Phase der multilateralen Vorbereitung eingeleitet werden kann. Zum Thema des Truppenabbaus steht eine Außenministerstellvertreterkonferenz des Bündnisses unmittelbar bevor. Unsere eigenen Sondierungen dienten und dienen auch dazu, die gemeinsame Haltung der Atlantischen Allianz vorbereiten zu helfen.
Das ist eine schwierige Aufgabe, mindestens soschwierig wie SALT, also die Verhandlungen überdie Begrenzung strategischer Waffen. Aber unser Ziel muß doch sein, über alle Verbesserungen bilateraler Zusammenarbeit hinaus zum Abbau von Truppenstärken und Rüstungen zu kommen, und zwar gleichgewichtig, d. h. ohne Nachteil für die Beteiligten.Und schließlich: Niemand hat auch das Recht, zu glauben, er könne sich mit dem Vier-Mächte-Abkommen vom 3. September 1971 auseinandersetzen, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, daß es von Amerika, England und Frankreich mit der Sowjetunion abgeschlossen worden ist, von den ersten Dreien in engster Fühlungnahme mit uns. Über die Anfangsschwierigkeiten, die es jetzt gibt — leider gibt —,
wird das zu großen Erleichterungen führen, Erleichterungen für die Menschen
in Deutschland, und zwar damit in eine entgegengesetzte Richtung zu der Zeit, für die Sie die Verantwortung getragen haben.
Hier ist nicht mit Wortgeklingel weiterzukommen;
mit Wunschvorstellungen
und schönen Reden wird den Deutschen in Deutschland nicht geholfen,
sondern nur mit harter politischer Arbeit, um die Folgen des Zweiten Weltkrieges abzubauen.
Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort an den Abgeordneten Dr. Marx weitergebe, darf ich, glaube ich, zum Ausdruck bringen, daß niemand in diesem Hause den anderen verleumden möchte. Ich möchte das hier ausdrücklich sagen.
Auch nicht der Herr Bundeskanzler. Ich glaube,niemand in diesem Hause.Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Marx.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7925
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar für das Wort, das der Präsident eben ausgesprochen hat, weil ich mich sonst
im Näheren darüber hätte auslassen müssen,
was der Herr Bundeskanzler vor kurzem z. B. in Bielefeld sagte.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter. Ich muß hier für die Sitzungsleitung ein Wort sagen. Es ist bei überfülltem Haus und einer gewissen Unruhe sehr schwer, hier oben genau zu hören, was gesagt wird. Ich bitte das ein bißchen zu berücksichtigen bei der Auseinandersetzung, die fraglos schwierig genug ist. Dieses Wort sei mir noch einmal gestattet.
Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Meine Damen und Herren! Es ist über das Kommuniqé von der Krim heute nur einiges angesprochen worden. Ich will sagen: Dieses Kommuniqué bestätigt die von der Fraktion der CDU/CSU im frühen Sommer des vergangenen Jahres gefürchtete Wende in der deutschen Politik. Obwohl das, meine Damen und Herren, was die Herrn Brandt und Breschnew in diesem Kommuniqué niederlegten, wohl nur als ein Gipfel des Eisbergs bezeichnet werden kann,
enthält es eine Fülle von Hinweisen dafür, daß sichdie sowjetische Linie gegenüber der offenbar nurschwächlich vertretenen deutschen durchgesetzt hat.
Wir sehen jetzt abends im Fernsehen — wir merken das überall hier in Bonn — ganze Gruppen von Interpreten, amtlichen Beschwörern und Schönfärbern, die dabei sind, eifrig zu verzuckern, was bitter schmeckt und bitter ist.
Meine Damen und Herren, ganze Reparaturkolonnen der Bundesregierung sind am Werk,
um zu erklären, wieso der Bundeskanzler die Beschleunigung der von den Sowjets seit Jahren mit Vorrang gewünschten und ihr Europakonzept unterstützenden „Konferenz über Fragen der Sicherheit und der Zusammenarbeit in Europa", wie es dort heißt, Herrn Breschnew gegenüber versprochen hat; um zu erklären, weshalb er jetzt bereit ist, im „Zuge der Entspannung in Europa", wie es heißt, den Eintritt beider Teile Deutschlands in die UN zu fördern, und zu erklären, warum er bei seiner Bereitschaft, „Truppen und Rüstungen in Europa zu vermindern", den außerordentlich wichtigen Hinweis, daß dies „ausgewogen" geschehen müsse, ausfallen ließ und offensichtlich durch die Formel ersetzte, die lautet: „ohne Nachteile für die Beteiligten".Bei all dem sind nach der Überzeugung unserer Fraktion die deutschen Fragen reichlich kurz gekommen. Darüber kann auch die merkwürdige Phrase, Herr Bundeskanzler, die wir von Ihnen vor Ihrem Abflug und nachher gehört haben, Sie würden sich bei Herrn Breschnew nicht über die Herren der SED ausweinen, nicht hinwegtäuschen.Wir sagen Ihnen: Ein deutscher Bundeskanzler darf kein Kommuniqué unterschreiben, in dem die deutsche Frage nicht positiv im Sinne unserer Interessen und unseres gemeinsam verbindlichen Grundgesetzes angesprochen ist.
Wir sehen jetzt, daß die Bundesregierung über die negative Auswirkung ihres Kommuniqués offenbar erschrocken ist.
Herr Schäfer, lesen Sie doch die Zeitungen! Bis zu dem, was man die deutsche Linkspresse nennt, zeigt sich die Erschrockenheit darüber.
Sie sind doch alle erschrocken, daß die öffentliche Meinung in diesem Land anders reagiert, als man es im Bundespresseamt und im Bundeskanzleramt gern wahrhaben möchte. Sie sehen doch auch, daß viele von denen, die Ihre Art von Ostpolitik, Herr Bundeskanzler, bisher unterstützt haben, jetzt zu begreifen beginnen, welche Konsequenzen ihr innewohnen.
Ich muß sagen, die Bundesrepublik bietet seit den Tagen auf der Krim auch für viele im Ausland ein anderes Bild. Wir hören immer häufiger den Satz: Die Deutschen sind wieder unberechenbar geworden.
Erinnern Sie sich daran, was dies bedeutet hinsichtlich dessen, was in der Zeit des von Ihnen in der jüngsten Vergangenheit so außerordentlich geschmähten Konrad Adenauers gelungen ist, nämlich überall Vertrauen für dieses Land herzustellen!
Herr Bundeskanzler, man sagt jetzt in dem Kommuniqué sei gar nicht viel Neues. Natürlich verweisen Sie z. B. beim Vorstand der SPD auf die ominösen Absichtserklärungen, die Herr Ahlers einmal Nebenabreden genannt hat. Ich darf in diesem Augenblick noch einmal daran erinnern, daß diese Absichtserklärungen, die Punkte 5 bis 10 des Bahr-Papiers, ohne daß es dazu eine verantwortliche Weisung der Bundesregierung gab, in Moskau abgeschlossen und, als Herr Scheel als Außenminister dort war, ohne auch nur noch ein Komma zu ändern, so übernommen worden sind. Was in dem Kommuniqué von der Krim steht, ist in mancherlei Hinsicht eine Wiederholung, in manch anderer Hinsicht eine Verkürzung, und zwar eine Verschlechterung, was die Interessen unseres Landes angeht.
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7926 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Dr. Marx
Ich würde, wenn Sie wollen, noch einmal heraufkommen; denn es gibt sehr viel zu sagen.
Herr Kollege Dr. Marx, die fünf Minuten sind abgelaufen. Ich darf Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich sage meinen Schlußsatz, Herr Präsident.
Ich wende mich deshalb noch einmal an den Bundeskanzler. Herr Bundeskanzler, Sie werden — nicht in der Art, wie es eben geschah — diesem Haus und der ganzen deutschen Öffentlichkeit den Inhalt dessen erklären müssen, was im Kommuniqué von der Krim gelesen werden kann. Sie werden auch erklären müssen, wie die sowjetische Seite die von Ihnen inaugurierte Politik im Zusammenhang mit der sowjetischen Westpolitik versteht, und Sie werden es in einer Weise erklären müssen, die ein früheres Wort von Ihnen, Herr Bundeskanzler, nicht Lügen straft, daß nämlich die deutschen Dinge nicht hinter einer „Nebelwand" verschwinden dürfen.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer die bisherigen Einlassungen in dieser nach der Geschäftsordnung „Aktuelle Stunde" benannten Debatte richtig mitgehört hat, der wird sich fragen und wird sich auch sagen, daß er gefragt werden wird, wie denn das, womit diese Aktuelle Stunde begründet worden ist, mit der Begründung selbst und mit dem Tenor, den Sie diesen Begründungen und Einlassungen zu geben versuchen, in Einklang steht. Sie haben sie hier gewünscht wegen Mangels an Informationen, weil diese Regierung angeblich am Parlament vorbei informiere; das sei unerträglich. Ihre eigene Begründung will ja nicht Information, sondern will Demonstration, Konfrontation und will — das hängt wohl mit ihren eigenen Angelegenheiten zusammen, über die ich nicht zu befinden habe — für ein bestimmtes Datum eine bestimmte Stimmung.
Wenn das bewußte Datum in Saarbrücken vorbei sein wird, dann werden Sie selbst sich fragen — und wir haben Sie darin nicht zu stören —, wie Sie mit dieser Art, in der Sie heute hier zu argumentieren versuchen, unseren Problemen gedient haben, über die Sie so reden, als hätten Sie die Notwendigkeit und das Recht, eine Regierung in einer unbeschrieblichen Weise, die kaum in einem anderen Parlament denkbar wäre, vor eine Art Gericht zu stellen. Das ist Ihre Art.
Meine Damen und Herren, wenn Sie hier sagen, was in Ihrem Konzept über die Vergleiche steht: „wie langsam in bezug auf das Zusammenwirken im westlichen Europa und wie eilfertig bei einer Konferenz über die europäische Sicherheit", dann sagen Sie doch offen, daß Sie gegen die Beschlüsse der NATO sind! Dann setzen Sie sich doch mit denen auseinander!
Dann begründen Sie doch, weswegen Sie heute Herrn Adenauers Gedächtnis hier beschwören und zugleich zum erstenmal frontal die westlichen Verbündeten angehen, wenn Sie auch, um das zu verschleiern, den Herrn Bundeskanzler und unsere Regierung zum Vorwand nehmen.
War der Herr Dr. Barzel hier zur Einleitung gesagt hat, steht außer jeder Konkurrenz. Ich habe damit nichts weiter im Sinn. Ich wollte nur folgendes sagen. Ich persönlich verwahre mich gegen den Mißbrauch des Namens von Jean Monnet in der hier geschilderten Weise.
Das in Anspruch genommene Komitee habe auf der deutschen Seite z. B. ich mit begründet. Was Sie hier in der Hitze einer polemischen Rede gesagt haben, Herr Dr. Barzel -- das wissen Sie genau —, hält nicht stand dem, was dort der Geist ist, und auch dem nicht, was Herr Monnet z. B. an Mitglieder in dieser Frage geschrieben hat.
Und wenn Sie diese ganz unqualifizierbare und perfide Art: daß uns nationaler Egoismus vorgeworfen worden sei, verwenden,
dann sage ich: Sie haben hier fortgesetzt von „Jalta" gesprochen. Man weiß doch, daß das kein geographisches Versehen ist, sondern d a s ist ein nationalistisch-chauvinistischer Versuch, aufzuhetzen.
Wir sind doch gezwungen, Herr Barzel und sogar Herr Marx, weiter miteinander zu leben und weiter miteinander zu reden, auch nach Ihrem Parteitag. Was wir voneinander halten, das ist vor der Geschichte eine Sache. Wie wir uns aber den Fragen gegenüber verhalten, das werden wir alle, Sie, wir, zu verantworten haben. Was Sie hier über die Nation sagen und daß Sie den Gegnern des Zusammenlebenkönnens der Deutschen als Nation das Argument zuspielen, daß die eigene Regierung angeblich deren Sache vertritt, das müssen Sie vor einer höheren Macht verantworten, daß müssen Sie
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7927
Wehnermit Ihrem Gewissen verantworten. Das sage ich Ihnen.
Das gibt es nirgendwo, daß sich jemand in dieser Weise an die Seite derer stellt, die die Nation splittern wollen.Ich danke dem Bundeskanzler und ich danke der Regierung ausdrücklich für meine ganze Fraktion für das, was sie mit diesen Schritten zur Klärung der Position getan haben, und für die Bemühungen um die Möglichkeiten der Austragung der schweren Gegensätze, die zwischen jenem leninistischen Nationsbegriff und den bei uns vorhandenen Nationsbegriffen herrschen. Es ist die Frage, die wir alle hier politisch zu beantworten haben, ob wir diese Auseinandersetzung wollen mit der — wie bei allem Menschlichen — relativen Sicherheit von Verträgen, durch die dieser Streit wenigstens ohne Androhung und Anwendung von Gewalt ausgefochten werden kann. Es ist das Verdienst der Regierung, daß sie das tut.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Freiherr von Weizsäcker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich einstmals als Architekt einer gemeinsamen Linie dieses Hauses gegenüber den Grundfragen unserer deutschen Politik verstanden hat, der muß sich nicht wundern, daß das deutsche Volk sein eigenes Urteil über die Art und Weise finden wird, wie derselbe Mann soeben darüber gesprochen hat.
Der Kollege Wehner braucht weder unsere parteiinternen Angelegenheiten mit auf seine Verantwortung zu nehmen noch braucht er die Alliierten vor uns in Schutz zu nehmen.
Ich möchte mich den sachlichen Fragen zuwenden, um die es hier geht. Im NATO-Kommuniqué dieses Sommers in Lissabon ist die Multilateralisierung der Ostpolitik des Westens angesteuert worden. Im Rahmen dieser Gemeinsamkeit, aber eben nur in diesem Rahmen, begrüßt die NATO bilaterale Sondierungen. Am 17. September hat der britische Premierminister mit großer Eindringlichkeit die westeuropäische Gemeinsamkeit der Ostpolitik gefordert. Er betont ganz ausdrücklich, dies heiße nicht nur gemeinsame Zielsetzung, sondern gemeinsame Beschlüsse über den Weg und die Mittel in der Politik. Multilateralisierung heißt also nicht nur, sich gegenseitig zu informieren und konsultieren, sondern das heißt, die Wege und die Ausführung der Politik gemeinsam zu beschließen und sie gemeinsam auszuführen.
Der Bundeskanzler hat mit seiner Krimreise ganz andere Akzente gesetzt, und zwar in eklatanter Weise. Es gab vorher weder gemeinsame Kommunikationen noch Beschlüsse, ja nicht einmal Informationen der Verbündeten über diese Reise. Nach der Rückkehr von der Krim unterstrich der Bundeskanzler sein Konzept in einem Zeitungsinterview mit den folgenden Worten, die ich zitieren darf:
Nachdem unsere westlichen Partner schon seit Jahren den Ost-West-Austausch gehabt haben, spielt jetzt die Bundesrepublik eine gleichberechtigte Rolle.
Meine Damen und Herren, natürlich brauchen wir eigene Meinungen, natürlich brauchen wir einen eigenen Beitrag, aber eben doch nur als einen unverkennbaren Bestandteil der gemeinsamen westlichen Politik und nicht mit jenem Hauch des nationalen Nachholbedarfs, wie er aus diesen Worten spricht.
Entweder wird es gelingen, unsere Ostpolitik in dem vorhin beschriebenen Sinne zu multilateralisieren dann kann sie dem Frieden dienen —, oder es wird eine nationale Ostpolitik sein, dann wird sie ihre eigenen Fundamente in Zweifel ziehen und schließlich zerstören,
nämlich das Verständnis und das Zutrauen im eigenen Volk, die Gemeinsamkeit im Westen, vor allem mit Frankreich, und die Gemeinsamkeit im Atlantischen Bündnis, vor allem mit den Vereinigten Staaten, als die Basis der Sicherheit für jede Ostpolitik.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich frage mich, ob sich die Mitglieder der Oppositionsfraktionen in der Stimmung, die sie hier erzeugt haben, sehr wohl fühlen.
Ich frage mich auch, ob die Begründung für diese Aktuelle Stunde tatsächlich ehrlich gemeint gewesen ist.
Die Opposition hat gesagt, sie will mehr Information. Aber ich habe den Eindruck, daß sie, wenn sie Information bekommt, diese Information nicht akzeptieren möchte, ja es ihr lästig ist, informiert zu werden,
weil Information zweifellos ihre eigenen Absichten
beschränken könnte und weil die Information möglicherweise auch die Öffentlichkeit erreichen könnte.
7928 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Bundesminister Scheel
Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht, worüber Sie informiert werden wollen.
Denn das, was Sie gefragt haben, haben Sie erfahren.
Sie haben informiert werden wollen über die Initiativen der Bundesregierung in der Europapolitik. Also, meine verehrten Damen und Herren, ich bin bereit, es zu wiederholen. Aber ich habe zum x-ten Male hier gesagt, und der Herr Bundeskanzler hat es eben wieder vorgetragen: Ohne unsere Eigeninitiativen in der Westeuropapolitik hätten wir nicht die praktischen Fortschritte gemacht, die wir gemacht haben.
Wir haben den Gemeinsamen Markt vollendet; wir haben die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien und anderen Ländern in eine erfolgreiche Phase geführt — es ist kaum daran zu zweifeln, daß sie alle beitreten können —; wir haben eine politische Konsultation und Kooperation durch vertragliche Vereinbarungen erreicht;
wir haben auf diesem Gebiete auch eine Menge an praktischer Zusammenarbeit zu Wege gebracht. Wir haben die Wirtschafts- und Währungsunion praktisch mit dem 1. Januar dieses Jahres begonnen.
— Meine Damen und Herren, wir haben doch die Dollar-Krise nicht erfunden!
Sie auch nicht. Aber wir sind der Meinung, daß wir trotz der Dollar-Krise mit unserem wichtigsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten, in den Offset-Verhandlungen zu einem Ergebnis kommen sollten — im Gegensatz zu einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion, die offenbar Leistungen der Bundesrepublik an die Vereinigten Staaten in der Zukunft nicht mehr begünstigen wollen.
— Frau Kollegin, ich weiß gar nicht, warum Sie „Unerhört!" sagen. Der Kollege Dr. Strauß hat in einem Interview ganz offen gesagt, daß er der Meinung ist, man solle das Geld jetzt nicht dorthin geben, sondern man solle mit ihm praktische Fortschritte in Europa finanzieren. Das, glaube ich, darf ich doch hier noch erläuternd erwähnen. Wir sind nicht dieser Meinung, aber immerhin kann ich das hier doch erwähnen, ohne daß ich dafür Ihren Zwischenruf „Unerhört!" entgegennehmen müßte.
Ich möchte zu dem, was Herr Weizsäcker gesagt hat, ein paar Bemerkungen machen. Er hat in beschwörendem Ton die Multilateralisierung der europäischen Politik gefordert.
— Er hat die europäische Multilateralisierung der Ostpolitik gefordert. — Ich folge ihm in dieser Forderung; aber diese Regierung hat nichts anderes getan als den Versuch gemacht, ihre eigene Osteuropapolitik in den Rahmen einer gesamteuropäischen Politik zu stellen.
Und das hat doch nicht nur zu Deklamationen geführt, sondern das hat zu der beeindruckendsten Zusammenarbeit unserer westlichen Verbündeten auf diesem Gebiet überhaupt geführt — durch das Berlin-Abkommen, meine Damen und Herren!
Wer hat es denn zustande gebracht? Doch Sie nicht!
Sie haben es nicht zustande gebracht, meine Damen und Herren, Es ist von unseren westlichen Verbündeten zustande debracht worden, aber nur, weil vorher politische Voraussetzungen geschaffen worden sind, die es erst möglich gemacht haben. Und dafür ist diese Regierung verantwortlich!
Ich glaube, daß Sie, Herr von Weizsäcker, niemand beauftragt hat, sich über einen Mangel an Konsultationen mit unseren westlichen Verbündeten zu beschweren. Ich weiß nicht, ob Ihnen ein solcher Auftrag gegeben worden ist. Es mag Ihre eigene Meinung sein,
daß hier ein Mangel bestanden hat. Unsere Verbündeten sind mit den Konsultationen, wie wir sie mit ihnen führen, vollkommen einverstanden, und wir haben die Absicht, sie in der gleichen vertrauensvollen Weise wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft zu führen. Denn das ist die gesunde Basis unserer Politik Osteuropa gegenüber. Ohne das würden wir sie nicht machen können.
Und ich darf hier noch einmal als Information bestätigen, daß unsere Osteuropapolitik Teil unserer Westeuropapolitik ist. Wir führen sie als ein Teil Westeuropas, als ein Land und als eine Regierung, die die Union in Westeuropa will, die eine europäische Regierung will, die ein europäisches Parlament will, die ein einiges Europa will und die einiges dazu beigetragen hat, daß wir einige Schritte auf diesem Wege praktisch vorwärtsgekommen sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Dorn.
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7929
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Wenn man die Argumentation, die Kollege Dr. Barzel in seinem ersten Diskussionsbeitrag hier heute vorgetragen hat, richtig zu werten versucht, dann bleibt als Eindruck übrig der Vorwurf der ja auch in der Begründung des Herrn von Wrangel schon hörbar wurde —, daß diese Regierung eigentlich die deutschen Interessen zuwenig vertrete.
— Genau das ist der Eindruck, den Sie erwecken wollen. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie das noch einmal bestätigen. Denn hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, beginnt das verteufelte Spiel der Opposition mit der parlamentarischen Demokratie.
— Herr Kollege Wohlrabe, auf die Berliner Position komme ich gleich noch mit einigen Worten zu sprechen.
— Ich kann sie auch vorwegnehmen, damit auch in dieser Stunde, Herr Kollege Wohlrabe, noch einmal sehr deutlich wird, wie der frühere CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer die Bedeutung des Berliner Problems, der Stadt Berlin und ihrer Zukunft gesehen hat, weil das nämlich zu dieser Stunde in diese Diskussion hineingehört, weil damit die volle Unglaubwürdigkeit Ihrer Argumente mit einem Schlag für jeden in diesem Lande deutlich sichtbar wird.Ich zitiere aus einem Brief Konrad Adenauers an die Landesvorsitzenden der CDU.
Beginn des Zitats:Ich habe Herrn Kaiser ausdrücklich erklärt, daß es für den Westen wie für den Süden Deutschlands ganz ausgeschlossen sei, daß nach einer Wiedererrichtung Deutschlands die politische Zentrale des neuen Deutschlands in Berlin ihren Sitz finde.
Dabei sei es ganz gleichgültig, ob und von wem Berlin und der Osten besetzt seien.
Sehen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist eben nicht so leicht, die Verdienste Ihres früheren Parteivorsitzenden noch einmal hier in die Erinnerung zurückzurufen
und gleichzeitig den Versuch zu unternehmen, dieser Regierung mangelnde Standfestigkeit in derWahrnehmung der deutschen Interessen unterstellen zu wollen.
Die deutsche Frage ist weder bei den Verhandlungen um Berlin noch bei der Politik dieser Regierung in den letzten zwei Jahren zu kurz gekommen.
— Ach, wissen Sie, diese Zwischenrufe sind doch viel zu billig, als daß ich bereit wäre, auf sie einzugehen.
Ich möchte das — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten — mit einem Zitat aus der außenpolitischen Botschaft belegen, die der amerikanische Präsident Richard Nixon in diesem Jahr an den amerikanischen Kongreß gerichtet hat. Der amerikanische Präsident hat u. a. erklärt:Jede dauerhafte Entspannung in Europa muß Fortschritte bei der Lösung der mit der Teilung Deutschlands zusammenhängenden Probleme einschließen. Die nationale deutsche Frage ist grundsätzlich eine Frage des deutschen Volkes. Es ist daher nur natürlich, daß die Regierung der Bundesrepublik ihr hohen Vorrang einräumt. Bundeskanzler Brandt hat jedoch betont, daß erst die Stärke des westlichen Bündnisses und Westdeutschlands sicherer Standort darin seine Regierung in die Lage versetzt haben, Initiativen zu ergreifen, die ein neues Stadium in der Entwicklung der deutschen Frage bedeuten.Nixon sagt an anderer Stelle — und damit möchte ich das Zitat beenden —:Während sich die neue Politik der Bundesrepublik entwickelte und die neuen Verträge mit der UdSSR und Polen ausgehandelt wurden, hat es deshalb innerhalb der Allianz eine umfassende Konsultation gegeben. Es steht eindeutig fest, daß alliierte Verantwortlichkeiten und Rechte durch die Vertragsbedingungen nicht beeinträchtigt werden.
— Doch, das ist genau heute wieder behauptet worden in Ihrer Argumentation,
die unterstellt, diese Regierung betreibe nicht die Interessenwahrnehmung des deutschen Volkes und der deutschen Politik. Die sozial-liberale Koalition hat doch in den letzten zwei Jahren gerade auf diesem Wege eine Fülle von Versäumnissen nachholen müssen, die Sie in den letzten zwanzig Jahren zu verantworten haben.
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7930 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erstens. Zu dieser Debatte, Herr Kollege Scheel. Sie haben versucht darzutun, daß der Beschluß der Bundesregierung, wie er in dem Kommuniqué von der Krim steht, nämlich die „Beschleunigung" der europäischen Sicherheitskonferenz, identisch sei mit den NATO-Beschlüssen. Entsprechend hat Herr Wehner agiert. Wir haben inzwischen das Kommuniqué von Lissabon das letzte NATO-Kommuniqué — durchgelesen. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein, sondern es ist davon die Rede, daß zunächst für den Fall eines positiven Abschlusses der Berlin-Gespräche und anderer laufender Verhandlungen exploratorische Gespräche geführt werden sollten. Das ist das NATO-Kommuniqué, und dem stimmen wir insoweit, Herr Kollege Wehner, zu. Versuchen Sie nicht, uns hier gegen die anderen Mitglieder der NATO auszuspielen. Das ist völlig verkehrt.
Zweitens. Der Herr Bundeskanzler hat geglaubt, sagen zu sollen, ich mißbrauchte Jean Monnet. Ich habe hier die Erklärung des Präsidenten des Aktionskomitees, dem einige aus diesem Hause angehören. Ich will deshalb mit Genehmigung des Präsidenten einige Sätze mehr aus dieser Verlautbarung verlesen. Er wendet sich gegen das, was der Kollege Schiller im Namen der Bundesregierung in
der europäischen Politik erklärt und tut, und sagt dann — ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen" vom 9. September 1971, Seite 3 —:
In seinem in Paris als Sensation empfundenen Fernsehauftritt erklärte Monnet sichtlich erregt, er könne diesen Satz Schillers nicht hinnehmen: „Diese Haltung, diese Form von nationalem Egoismus charakterisierte die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Jeder für sich! Wir kennen die Folgen, die unsere Länder in die Katastrophe führten. Im Gegenteil: Der Bau einer europäischen Gemeinschaft, deren schwierige Suche unsere Länder betreiben, bedeutet, daß jeder, vor allem Frankreich und Deutschland, das Interesse aller anderen bedenken müssen." Nur gemeinsames Handeln und ständig wachsende Solidarität könnten die heutigen und die kommenden Probleme Europas bewältigen.
Dann folgt das Zitat, das ich vorhin verlas.
Das sollte niemand versuchen gegen uns anzuwenden.
Wenn Herr Kollege Dorn meint, den früheren Bundeskanzler Adenauer wegen seiner Haltung zu Berlin als deutscher Hauptstadt angreifen zu sollen, dann bitte ich ihn, doch einmal den gegenwärtigen Bundeskanzler zu fragen, warum dieser in seiner Eigenschaft als Regierender Bürgermeister von Berlin wohl dem scheidenden Bundeskanzler Konrad Adenauer die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin verliehen hat.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie glauben, sich an einer Stelle besonders getroffen fühlen zu müssen, dann möchte ich Sie doch sehr herzlich einladen, einfach einmal Ihre eigenen Texte dazu zu lesen. In Kassel sagten Sie: die beiden Seiten, Ziffer 3. Das hat eine Rolle gespielt in unserer Debatte, als wir behaupteten, in den Kasseler 20 Punkten sei das Selbstbestimmungsrecht nicht enthalten. Damals haben Sie immer auf die Ziffer 3 abgehoben, weil es dort hieße, die beiden Seiten sollten ihren Willen bekunden, ihre Beziehungen auf der Grundlage der Menschenrechte, der Gleichberechtigung usw. zu regeln.
Sie müssen es der Opposition schon erlauben, Herr Bundeskanzler, daß sie merkt, wenn jetzt nur noch von der Gleichberechtigung, der Nichteinmischung die Rede ist, aber die Basis der Menschenrechte in diesem Kommuniqué nicht steht. Das werden wir hier sagen, ob Ihnen das paßt oder nicht und wie immer Sie das qualifizieren. Dann — ich gebrauche nicht das Wort, was nicht parlamentsfähig ist -- führen Sie diejenigen an der Nase herum, die diesen Satz von den Menschenrechten Ihnen abgenommen haben.
Wenn Sie schließlich sagen, diese Regierung habe auf diesen Gebieten mehr erreicht,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was? Wo? Wer? Und für wen ist die Gegenleistung für die fundamentalen Dinge erfolgt, die Sie der Westpolitik der Sowjetunion gegenüber umsonst vorgeleistet haben? Das ist die Frage, die hier ansteht.
Wir werden eben daran festhalten — und das scheint ja nun die Kontroverse in diesem Hause zu werden , daß Entspannungspolitik in Mitteleuropa nicht einen Raum, nämlich ausgerechnet das ganze Deutschland, ausschließen darf. Das sind die Worte dieses Bundeskanzlers in Erfurt, in Kassel. Das sind die Worte in verschiedenen Berichten zur Lage der Nation. Nur jetzt ist davon nicht mehr die Rede. Jetzt ist verabredet, zu ratifizieren, bevor sich in der Lage der Deutschen in Deutschland — das ist der Kern der Entspannung in Mitteleuropa -- auch nur irgend etwas verbessert hat. An dieser Stelle werden wir nicht nur nicht unterstützen, sondern an dieser Stelle werden wir in diesem Hause kämpfen.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur das Zitat etwas korrigieren. Ich glaube, Herr Dr. Barzel hat das falsche NATO-Kommuniqué gewählt, als er hier zitierte. Ich darf den Satz zitieren, auf den es ankommt, nämlich auf die Konferenz über europäischen Sicherheitsfragen. Da heißt es:
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7931
Bundesminister Scheel Siedas sind die Minister —hoffen, daß vor ihrem nächsten Zusammentreffen die Berlin-Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluß gelangt sind und sodann multilaterale Gespräche mit dem Ziel aufgenommen werden können, zu einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu führen.
-- Herr Dr. Barzel hat soeben einen anderen Text zitiert, der nicht aus dem Kommuniqué stammt. Ich wiederhole noch einmal den Text aus dem Kommuniqué:Sie hoffen, daß vor ihrem nächsten Zusammentreffen die Berlin-Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluß gelangt sind
-- das nächste Zusammentreffen ist im Dezember dieses Jahres —
und sodann multilaterale Gespräche —
-- Die Bundesregierung hat doch niemals etwas an) deres beabsichtigt oder gefordert als die multilaterale Vorbereitung einer KSE! Sonst nichts! Sie müssen natürlich genau wissen, was wir fordern und unterstützen.Herr Dr. Barzel weiß besser als manche unter Ihnen, daß im Kreise der Mitglieder der NATO und im Kreise unserer westeuropäischen Verbündeten bedeutende Partner der Bundesrepublik Deutschland an dem schnellen Zustandekommen einer Konferenz über europäische Sicherheitsfragen ganz besonders interessiert sind. Wir stehen in einem engen Kontakt zu diesen Partnern, und wir werden mit ihnen gemeinsam und mit anderen, wenn es Zeit ist, diese multilaterale Vorbereitung stützen und fördern. Genau das hat der Bundeskanzler in seinem Kommuniqué von Oreanda zum Ausdruck gebracht.
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum letzten Punkt, Herr Kollege Barzel: Es wäre gut, wenn Sie sich Punkt 11 der Lissaboner Erklärung noch einmal vornähmen. Denn dann würden Sie feststellen, daß es dort außerdem noch heißt:Die Minister nahmen diese Studie zur Kenntnisund wiesen den Ständigen Rat an, sie fortzuführen, solange multilaterale Ost-West-Kontakte noch nicht eingeleitet sind. Die Minister betonten, daß sie ihre bilateralen Sondierungsgespräche mit allen interessierten Staaten mit Nachdruck fortsetzen werden.
Wenn Sie also das Gespräch auf der Krim nicht alsmultilaterales Gespräch ansehen, können Sie es aufjeden Fall unter Punkt 11 des Kommuniqués fassen.Nun aber noch einige Bemerkungen zu der Gesamtauseinandersetzung. Herr Kollege Barzel, es ist hier davon gesprochen worden, daß es um die Information gehe; Herr Kollege von Wrangel hat auch davon gesprochen.
— Doch, es ist hier davon gesprochen worden.
— Ja, wenn es nicht um die Information geht, frage ich mich um so mehr, warum zu diesem Zeitpunkt hier im Deutschen Bundestag eine Debatte stattfinden soll,
von der Sie selbst vor wenigen Tagen gesagt haben,
daß man sich das sorgfältig überlegen müsse, damit unsere Position sowohl bei den Gesprächen zwischen den beiden deutschen Seiten als auch darüber hinaus nicht gefährdet werde. Dann war es überhaupt sinnlos, hierüber zu diskutieren.
Herr Kollege Strauß wird anschließend noch sprechen; er hat sich in der Rednerliste wieder etwas weiter rückwärts einstufen lassen. Ich wäre deshalb dankbar, wenn er jetzt gleich zu dem Stellung nähme, was er in seinem heutigen Artikel im „Bayernkurier" zum Ausdruck bringt. Darin steht schlicht, ein „Nein" der Opposition zu allem sei die einzige Möglichkeit, 1973 wieder in die Verantwortung zurückzukehren. Das kann doch nichts anderes heißen als: wir bieten zwar eine Gemeinsamkeit in der Deutschland- und Ostpolitik immer wieder an, aber in Wahrheit geht es nur darum,
nach außen hin den Eindruck zu erwecken, wir wollten eine Gemeinsamkeit; tatsächlich aber sind wir, gleichgültig, was herauskommt, fest entschlossen, immer wieder „nein" zu sagen.
Sie, Herr Kollege Barzel, haben die Auffassung des früheren Bundeskanzlers Dr. Adenauer verteidigt. Dafür habe ich Verständnis. Vor wenigen Tagen allerdings hat Ihr Parteifreund, Herr Professor Friedensburg, der lange Jahre Bürgermeister in Berlin war, im Deutschen Fernsehen folgendes gesagt —ich zitiere —:
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7932 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971
MischnickEr— gemeint ist Altbundeskanzler Adenauer —hat ja auch seinen Besuch in Moskau im Jahre 1955 nachher zunichte gemacht, indem er nachher die von ihm geschaffene Bresche nach Rußland nicht weiterverfolgte.Genau das war der Fehler, den diese Regierung nicht machen will. — Auf die Frage, ob das im Sinne einer Politik für Berlin falsch gewesen sei und ob er glaube, daß es Versäumnisse der damaligen Bundesregierung gegeben habe, hat der frühere CDU- Bundestagskollege Friedensburg wörtlich geantwortet:Ich glaube wohl. Damals waren die Dinge noch beeinflußbar. Heute müssen wir um alle Dinge mit großen Opfern ringen.Das ist der Tatbestand, den diese Regierung vorgefunden hat. Aus der Verantwortung dafür, daß diese Opfer jetzt zu bringen sind, können Sie sich nicht herausmogeln.
Es wäre Ihre Sache, jetzt durch positive und konstruktive Mitarbeit dafür zu sorgen, daß diese Dinge überwunden werden können,
und nicht immer nur im Nein zu verharren, ohne ein besseres Konzept anbieten zu können.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gradl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Mischnick und sein Fraktionskollege Dorn haben bei mir den Eindruck erweckt, als ob sie jetzt anfangen, in den Archiven zu graben, um von den heutigen aktuellen Fragen abzulenken.
Was nun Konrad Adenauer angeht, wäre es gut gewesen, wenn der Kollege Dorn wenigstens das Jahr genannt hätte, aus dem dieser Brief stammt.
Ich glaube im Augenblick, es war 1946 oder 1947, später jedenfalls nicht. Und nun, meine Damen und Herren, gehen wir einmal auf allen Seiten in uns und fragen wir uns, ob es nicht in allen Reihen, in allen Fraktionen in jenen Jahren Leute gegeben hat, die geglaubt haben, der Ursprung des deutschen Unglücks müsse in Berlin lokalisiert werden! Ich kann Ihnen welche nennen. Es dient nur den Aufgaben der Zukunft nicht. Was Konrad Adenauer angeht, müssen Sie sich wohl die sachliche Leistung für Berlin ansehen, die er erbracht hat, nachdem erdie Verantwortung als Bundeskanzler dieser Bundesrepublik Deutschland übernommen hat.
Alles, was nach 1949, seit der Gründung der Bundesrepublik geschehen ist, hätte doch gegen die größte Fraktion dieses Hauses und gegen den von ihr gestellten Bundeskanzler nicht getan werden können. Also können Sie uns doch heute nicht alte Zitate vorlegen, um den Eindruck zu erwecken, als ob für Berlin nicht genügend Herz auf unserer Seite gewesen ist.Das zweite, was ich sagen möchte: warum wir diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Herr Außenminister, dieses Parlament ist nicht nur dazu da, hier gehorsamst Informationen entgegenzunehmen,
sondern es hat das Recht, auch Kritik zu üben, ganz besonders, wenn es um so ernste Fragen geht wie die, die heute zur Erörterung stehen.
Nun will ich Ihnen, Herr Außenminister, ein Beispiel dafür sagen, wie ungenügend die Antworten sind, die Sie gegeben haben.
Ich will Ihnen ganz konkret beweisen — —
— Herr Außenminister, ich will Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie ungenügend Ihre Antworten sind, um zu beweisen, daß wir eine solche Fragestunde notwendig hatten. Der Kollege Dollinger hat Sie gefragt, wie es mit dem Verhältnis des Deutschland-Vertrags zu den Aussagen des Krim- Kommuniqués sei. Daraufhin haben Sie gesagt: die verbündeten Regierungen sind durchaus der Meinung, daß beides miteinander vereinbar ist. Aber, Herr Außenminister, Sie mußten doch wissen, daß die Wirklichkeit unendlich viel komplizierter ist.Das, was uns bewegt, ist die Tatsache, daß sich in den gesamtdeutschen Aussagen ein Schrumpfungsprozeß vollzogen hat, zumindest verbal, der draußen in der Welt den Eindruck erweckt, als ob die Sache, die wir die gesamtdeutsche Sache nennen, nicht mehr voransteht. Darum geht es. Ich will als Beispiel den Vorgang um die DDR-Aufnahme in die Vereinten Nationen nehmen. Der Kollege Barzel hat eben darauf hingewiesen. In den Kasseler Punkten war die Aufnahme sehr ausführlich von Voraussetzungen abhängig gemacht, die wir durchaus bejahen. Jetzt nehmen Sie einmal den wenige Monate später unterzeichneten Moskauer Vertrag! Da ist die Aufnahme in die Vereinten Nationen abhängig gemacht von einer Entwicklung „im Zuge der Entspannung in Europa", aber dann ist erfreulicherweise immerhin noch hinzugefügt, daß dies auch zusammen mit einer „Verbesserung der Beziehungen" zwischen den beiden Teilen Deutschlands geschehen müsse. Nun gehen Sie ein Stückchen weiter und nehmen Sie heute die Krim-Aussage! Da
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Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. September 1971 7933
Dr. Gradlist überhaupt nur noch von der Aufnahme der DDR in Verbindung mit einer Entspannung in Europa die Rede und sonst gar nichts. Sie werden mir zugeben müssen, das ist eine Aushöhlung. Da kann man sich nicht wundern, wenn draußen in der Welt der Eindruck wächst, daß die deutsche Politik in dieser Sache ihre ursprünglichen Positionen abbaue. Genau das wollen wir klären, und genau das wollen wir vermieden sehen. Wir unterstellen Ihnen ja nicht, daß Sie das wollen. Das hat hier bisher noch keiner gesagt.
Aber wir können die Wirklichkeit draußen nicht übersehen.Was wir von Ihnen erwarten — damit darf ich diese Bemerkung schließen, die ursprünglich ganz anders angelegt war, sehr viel ruhiger und sachlicher —, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, ist, daß Sie angesichts der zunehmenden Tendenz in der Weltmeinung, die Deutschen begännen sich mit der Teilnung abzufinden, daß sie angesichts dieser Tendenz, die auf die Dauer auch die westlichen Regierungen nicht unbeeinflußt lassen wird, wenn wir nicht widerstehen, klarstellen, daß es eben so nicht ist. Sie müssen klarstellen: wenn man überhaupt über die Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen nachdenken will, kommt unter keinen Umständen in Frage, daß die gewaltsame Absperrung eine Basis für einen deutschen Eintritt in die Vereinten Nationen sein kann. Derb und deutlich gesagt: der Schießbefehl kann doch keine deutsche Eintrittskarte für die Vereinten Nationen sein. Deshalb verlangen wir Klarstellung, und deswegen wünschen wir eine systematische Arbeit der Bundesregierung in dieser Richtung, um zu vermeiden, daß in der Welt falsche Schlüsse hinsichtlich der deutschen Haltung gezogen werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Strauß,
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie scheinen ein merkwürdig schlechtes Gewissen zu haben, wenn Sie schon von vornherein lachen. Hier ist die Rede von den Leistungen gewesen, die von dieser Regierung erbracht worden seien, und zwar größeren Leistungen, als sie ihre Kritiker erbracht hätten. In dem Zusammenhang ist die Wirtschafts- und Währungsunion genannt worden. Man sollte doch hier aufhören, die Tatsachen zu verfälschen und Behauptungen aufzustellen, denen jede Voraussetzung fehlt.
Es gibt nicht den leisesten Zweifel, daß durch dasVerhalten der Bundesregierung, durch Ihren Alleingang den seinerzeit getroffenen Beschlüssen überdie Wirtschafts- und Währungsunion fast völlig der Boden entzogen worden ist.
Man preist das sogenannte Floating der Währungen als ein großes Verdienst. Es geht nicht mehr um das Floating der Währungen, auch die Vertrauensbasis zwischen Bonn und Paris ist dem Floating anheimgegeben worden.
Es ist einfach nicht wahr, wenn behauptet wird, daß auf seiten der Westmächte uneingeschränktes Vertrauen zu dieser Politik bestehe. Man soll sogar in amtlichen Kreisen bei uns lernen zu begreifen, daß zwischen der diplomatischen Phraseologie der Höflichkeit und dem, was man denkt, ein erheblicher Unterschied besteht.
Zweitens. Es ist von dem großen Verdienst des Berlin-Abkommens die Rede gewesen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ein Vertrag, der in drei Sprachen ausgefertigt ist, bei der Übersetzung in die Sprache des Landes, um dessen Interesse es geht, schon der philologischen Zweideutigkeit und der sachlich verschiedenen Auslegung zugänglich ist, dann würde ich mich hüten, diesen Vertrag als eine so stolze Leistung von deutscher Seite herauszustellen.
Noch gilt das alte Wort, Herr Bundeskanzler, und das stammt aus der Schule eines Landes, das Diplomatie wirklich beherrscht hat, nämlich: „patti chiari amici cari", d. h. klare Verträge sind gute Freunde, d. h. umgekehrt, unklare Verträge sind schlechte Freunde und können zu Feinden werden. Sie werden damit noch genug zu tun haben.
Nun zur Krimreise. Wir sollten uns hier nicht über geographische Einzelheiten unterhalten. Da aber niemand von uns genau wußte, wo Oreanda lag, haben wir uns auf ihren Hofberichterstatter, Herrn Kempski von der „Süddeutschen Zeitung" verlassen, der uns eröffnet hat, daß Oreanda ein Vorort von Jalta ist.
Ich überlasse es der Bundesregierung, nunmehr die „Süddeutsche Zeitung" zu dementieren und eine andere geographische Deutung für Oreanda zu geben.Herr Bundeskanzler, ich weiß, eine Regierung muß die Fassade der Einheitlichkeit beweisen, aber Sie können verschiedene Dinge nicht in Abrede stellen, jedenfalls nicht gegenüber denen, die ein bißchen Ahnung von Politik haben, nämlich einmal, daß diese Reise ganz schlecht vorbereitet war und daß ihr Architekt Egon Bahr heißt, der unter Ausklammerung des Presseamtes und des Auswärtigen Amtes diese Reise so inszeniert hat.
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StraußDiese Reise war auch deswegen schlecht vorbereitet, nicht nur weil die Alliierten nicht ausreichend konsultiert und die Reise mit ihnen nicht so abgestimmt war, daß sie etwas Vernünftiges hätte werden können, sondern auch deshalb, weil kein Kreis von Themen festgelegt worden ist. Das verrät schon das Kommuniqué.Das Kommuniqué hat eine eigenartige Handschrift. Es verrät ganz gewisse Spuren. Der Entwurf ist sowjetisch, die Verbesserungen sind deutsch, einige Passagen stammen von Ihrem engsten Mitarbeiter Egon Bahr. Sie würden sich jeder Mißdeutung entziehen, wenn in diesem Kommuniqué gestanden hätte, daß der Bundeskanzler nachdrücklich die Einhaltung der Konvention für Menschenrechte, damit auch die Aufhebung des Schießbefehls, Verbesserungen im innerdeutschen Verkehr, von seinem sowjetischen Gesprächspartner verlangt hätte.
Die Tatsache, daß in diesem Kommuniqué nichts davon steht, gibt doch geradezu der Deutung grünes Licht, daß man mehr an machtpolitischen Realitäten als an Menschenrechten interessiert war.
Wenn man aber in diesem Kommuniqué eine frühere Formulierung wieder aufgreift, eine Formulierung, in der es heißt, daß man die innere Kompetenz der DDR in vollem Umfange anerkennt, dann darf man sich doch nicht wundern, daß es dann nicht möglich ist, die Fragen Schießbefehl, Mauer, Republikfluchtgesetz usw. mit ihren unmenschlichen Konsequenzen überhaupt anzuschneiden.
Wir weisen das nicht zurück, was Sie gegen Herrn Barzel erhoben haben, weil die Tatsachen das widerlegen. Man kann hier nicht durch eine Unterstellung eine Wahrheit aus der Welt schaffen.
Sie selbst haben Anlaß gegeben, und Sie selbst, Herr Bundeskanzler, haben des öfteren erklärt, man müsse sich an den realpolitischen Gegebenheiten unserer Lage orientieren. Ich habe nichts dagegen. Aber das hat dort seine Grenze, wo es um Grundsätze und Rechte geht, die nicht der opportunistischen Betrachtungsweise und Manipulation unterworfen werden dürfen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Strauß sehr dankbar, daß er hier in der Debatte doch noch das Wort ergriffen hat, weil es ja auch über die Reihen der Opposition hinaus bekannt ist, daß er -- und nicht etwa Herr
Barzel — der Architekt der Politik der Konfrontation um der Konfrontation willen ist.
Ich muß allerdings sagen: dies ist noch kein Grund, Herr Kollege Barzel, so wie Sie es in Ihrer Eröffnungsrede getan haben, Ihrem politischen Gegner und vor allen Dingen dem Herrn Bundeskanzler gegenüber den politischen und menschlichen Anstand zu verletzen.
Wenn Sie das für eine Empfehlung für Ihren Parteitag halten, kann ich nur sagen: Arme CDU!
Mir sind die Gründe sehr klar, die Herrn Kollegen Strauß zu dieser Politik treiben. Er hat sie selbst mehrfach unterstrichen. Erstens ist eine Politik der Konfrontation statt der sachlichen, auch der harten sachlichen Diskussion besser für ihn, weil sie es ihm ermöglicht, die Krise herbeizureden, in der man den Leuten vielleicht doch noch einreden kann, daß man ihn nicht nur reden lassen sollte.
Zweitens wird spekuliert, daß die Politik der Konfrontation die Einheit der Opposition retten kann, die ja, wenn es um positive Dinge geht — das haben wir in diesem Haus oft erlebt —, nicht vorhanden ist.
Drittens ist es die Spekulation, daß man mit dieser Art Konfrontation die politischen Ressentiments in diesem Lande weckt, um damit Stimmen zu bekommen.
Denn sehen Sie: es ist ja nicht nur so, daß Sie eine bestimmte Art von Kritik an unserer Ostpolitik anbringen, Herr Kollege Strauß, die Zwischenrufe „Jalta" werden Sie nicht so leicht geographisch und mit Herrn Kempski ausräumen können, und das wird ja auch innenpolitisch ergänzt. Ich lese mit großem Interesse, Herr Strauß, was Sie sagen und was Herr Barzel in Bremen nachgesprochen hat. Es soll nun der Schreck der Ostpolitik nach außen innenpolitisch durch den Sozialistenschreck ergänzt werden. Da allerdings die politische Aufklärung in diesem Lande fortgeschritten ist, geht das nicht mehr so leicht wie noch vor einigen Jahren mit dem Bolschewistenschreck.
Ich bin der Meinung, daß man Sie doch fragen muß, Herr Kollege Strauß und auch Herr Kollege Barzel: haben Sie keine Angst, auch nicht in Ihren stillen Stunden, daß eine solche Politik, die keine Rücksicht nimmt auf die Interessen unseres Landes
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Bundesminister Dr. Ehmke
und auf das, was für die Menschen im anderen Teil Europas erreicht werden kann, die Grundmuster des politischen Ungeistes in diesem Lande wieder ins Leben rufen könnte?
Haben Sie nicht Angst, daß der Weg, auf den Sie sich jetzt begeben haben, den Satz widerlegen könnte, daß Bonn nicht Weimar sei? Nun, wenn die besonnenen Kräfte in der CDU/CSU dieser Versuchung nicht widerstehen können, dann werden die sozial-liberalen Kräfte in diesem Lande die Herausforderung anzunehmen haben.
Wir werden die Auseinandersetzung besonnen und hart führen.
Aber ich darf vielleicht doch noch einmal daran erinnern, Herr Kollege Strauß — hören Sie mir doch zu, Herr Kollege Strauß, ich habe Ihnen doch auch zugehört! , daß es ja nicht die erste Stunde ist, in der wir in diesem Haus den Versuch machen,
den Platz unseres Volkes und den Platz dieses Staates in der Geschichte und in der gegenwärtigen politischen Situation zu bestimmen. Was ist seine Aufgabe? Was steht geschichtlich vor uns?
— Es wäre gut, wenn Sie auch einmal ernsthaften
Ausführungen folgen könnten, Herr Kollege Haase.
Ich wollte an die Situation erinnern, in der die Kräfte unseres Volkes, die aus Hitlers Konzentrationslagern kamen -- Katholiken, Protestanten, Sozialdemokraten, Humanisten und Liberale —, sich zusammenfanden, um hier einen demokratischen Staat zu gründen,
der alles das nicht wieder zuließe, der den nationalistischen Ungeist ausschlösse, der durch die Politik der Konfrontation nun wieder beschworen wird.
Herr Kollege Strauß, ich glaube, daß das Lebensprinzip der Demokratie immer noch am schönsten durch das Wort umschrieben wird, daß Freiheit das Geheimnis des Glücks und Mut das Geheimnis der Freiheit ist.
Ich frage Sie, Herr Kollege Strauß: Fällt es so schwer, zuzustimmen, daß dieses Prinzip in der deutschen Geschichte keinen größeren und hartnäckigeren Verteidiger gehabt hat als die deutsche Sozialdemokratie.
— Sehen Sie, dieser Zuruf „hatte!" ist genau der Punkt, an dem ich die Nachdenklichen unter Ihnen festnageln möchte. Wollen Sie tatsächlich dieses Werk, das aus der Erfahrung des Dritten Reichs geboren ist, diesen demokratischen Staat wieder in Frage stellen,
indem Sie einen politischen Gegner, mit dessen Meinung Sie nicht übereinstimmen, in der Weise zu verteufeln suchen, in der Sie es auch heute wieder getan haben?
Wir waren uns im übrigen schon einmal darüber einig, daß allein die Einbindung in den Westen eben nicht die Probleme, deren Bewältigung uns gemeinsam am Herzen liegt, vor allem das Problem der deutschen Einheit, löst; alle Vorbehalte und alle Parolen und alles Protestieren haben den Menschen in der DDR das Leben nicht ein Stück erleichtert. Das müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen.
Unsere Verbündeten sind sehr froh — sie sagen das in allen ihren Erklärungen —, daß sie es jetzt mit einer deutschen Regierung zu tun haben, die im Zusammenhang mit dem Versuch der Vereinigten Staaten — u. a. in den SALT-Gesprächen —, zur Entspannung mit der Sowjetunion zu kommen, ihren Beitrag leistet, eine bessere Ordnung in Europa zu schaffen.
Ich bin der Meinung, es ist nicht gut — auch im Interesse der Regierung nicht —, wenn eine so große und wichtige Kraft der deutschen Politik wie die Opposition sich durch ihr Nein aus Prinzip in eine Situation manövriert, in der sie ihre Verbindungen mit dem Westen schwächt.
Meine Damen und Herren, eines muß Ihnen doch zu denken geben.
Herr Bundesminister, in der Aktuellen Stunde unterliegen auch die Mitglieder der Bundesregierung der Ordnung, daß wir uns auf fünf Minuten beschränken. Das haben wir immer so gemacht.
Sie sprechen jetzt sieben Minuten. Bitte, kommen Sie zum Schluß!
Es muß Ihnen doch zu denken geben, daß drei konservative Regierungen — Paris, Washing-
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Bundesminister Dr. Ehmke) ton und London — die Politik dieser Bundesregierung gutheißen.
Es muß Ihnen zu denken geben, daß sich keine Ihrer Bruderparteien die Kritik zu eigen macht, die Sie meinen, hier vortragen zu müssen.Ich sage noch einmal, wenn Sie die Konfrontation haben wollen, können Sie sie bekommen. Ich bin als deutscher Demokrat der Meinung, daß wir diesen Weg nicht gehen sollten.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Bismarck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns ist eben eine Lektion über Anstand und sinnvolle Information gehalten worden. Herr Staatssekretär Ehmke,
Herr Minister; entschuldigen Sie —, erinnern Sie sich bitte und fragen Sie sich selbst, ob Sie das Recht haben, so zu reden, wenn Sie den Text Ihrer Rede einmal nachlesen, die Sie am Tage der Unterzeichnung des Warschauer Abkommens im Fernsehen gehalten haben!
Dort haben Sie nämlich gesagt, daß Königsberg, Breslau und Stettin schöne deutsche Städte gewesen seien. Aber wer jetzt noch die Hoffnung bewahre, spiele mit dem Krieg.
Verehrter Herr Ehmke, Herrn Barzel Mangel an Anstand vorzuwerfen, zeigt nur, wie mangelhaft Ihre Argumente heute waren.
Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, Sie haben im Zorn geredet; das haben wir Ihnen abgenommen. Aber es wäre besser gewesen, wenn Sie die Informationslücken geschlossen hätten.
Herr Außenminister, ich möchte zunächst sagen, daß Sie uns fehlinformiert haben. Herr Strauß hat es eben schon gesagt. Es ist nicht davon die Rede, wie Sie es formuliert haben, daß der Gemeinsame Markt vollendet sei. Im Gegenteil, der Gemeinsame Markt ist durch das, was Herr Strauß den Alleingang nennt, und die Provokation einer Springflut in Dollar im Mai in die größte Gefahr gebracht worden. Dieses Zeugnis wird überall von den Dächern gepfiffen. Die Naivität, zu meinen, Sie würden das auf silbernen Tabletts von den Regierungen bekommen, trauen Sie uns doch wohl selbst nicht zu.
Wir messen das, was Sie geleistet haben, sehr einfach an den Schritten, die Sie zum Ziel oder am Ziel vorbei tun. Wir unterstellen Ihnen nicht, daß Sie wissentlich und willentlich diese Schritte falsch tun. Aber es ist unsere Pflicht, das zu sagen, und Ihre gute Sitte, das zu hören, wenn ich noch einmal
sage: Unser Ziel ist das freie Europa als eine politische Willenseinheit.
Moskaus Ziel ist ein Gesamteuropa, wie uns Herr Schukow erklärt hat, von Wladiwostok bis Gibraltar. Bei allem, was Sie tun, müssen wir uns fragen: führen die Schritte in Richtung unseres Zieles, oder sind wir in Gefahr, daß wir in Wirklichkeit die Schritte Moskaus auf sein Ziel erleichtern?
Normalisierung hat die Sowjetunion gefordert. Damit meint sie Konsolidierung. Entspannung hat sie gefordert. Damit meint sie Aufgabe unserer Ziele, die in unserer Verfassung auf die Nation zu festgelegt sind. Friedliche Koexistenz hat sie gefordert. Damit meint sie Abbau unserer Wachsamkeit. Schließlich fordert sie eine Konferenz für europäische Zusammenarbeit und Sicherheit. Wir wissen alle, damit meint sie Mitsprache in Europa.
Wir haben in Moskau die Hegemonie über ganz Osteuropa anerkannt, und wir wissen wohl, was man dort empfindet. Wir haben im Warschauer Vertrag ganz ausdrücklich darauf verzichtet, in der Notifikation an die Alliierten, die Nation zu vertreten. Und wir haben in Berlin ganz ausdrücklich seine Symbolrolle, die Verkörperung des Einheitswillens der Deutschen durch die Präsenzverminderungen abgebaut. Jetzt haben wir uns bei Jalta, wenn auch nicht in Jalta, als Hochzeitsbitter für die Europäische Sicherheitskonferenz vor aller Welt durch das eilige Darauf-Zusteuern — das war der Punkt von Herrn Dr. Barzel —, durch die Beschleunigung, hervorgetan. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, wir sollten nicht immer die „good boys" sein. Wir sind damit in dieser Situation in dem Vertrauen unserer westlichen Bundesgenossen in die Lage gebracht worden, daß sie uns erneut zutrauen, daß wir eine eigene Politik auf eigene Karte ohne Solidarität betreiben.
Diese Wahrheit mußte hier heute ausgesprochen werden, und Sie müssen sie hören, damit Sie —jetzt hören Sie bitte alle gut zu Ihre Schritte in den nächsten Tagen und Wochen so einrichten können, daß dieser Verdacht ein für allemal verschwindet.
Meine Damen und Herren, wir haben für die Zeit der Abgeordneten noch genau fünf Minuten. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich drei Bemerkungen machen. Erstens: Als dieses Parlament in die Sommerferien ging, hat der Geschäftsführer der CDU/ CSU-Fraktion, aber nicht nur dieser, sehr deutlich gemacht, daß es wohl eine Sondersitzung während der Sommerferien geben werde, wenn die Berlin-Verhandlungen einer gewissen Klimax zutreiben würden. Die Sondersitzung hat nicht stattgefunden; denn die Berlin-Regelung hat der Opposition in der Tat die Sprache verschlagen. Herr Kollege Barzel hat am 3. November 1970 vor seiner Fraktion fünf
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Dr. ApelPunkte genannt, die geregelt sein müßten, um eine Berlin-Regelung akzeptabel machen zu können. Erstens müsse sie den Berlinern Vertrauen geben. Zweitens müßten die Zugänge unter alliierter Verantwortung sein. Drittens müsse die Zusammengehörigkeit des freien Berlin mit dem freien Deutschland garantiert sein. Viertens müsse die Beseitigung der Diskriminierung der Westberliner gesichert sein. Fünftens dürften deutsche Stellen alliierte Rechte nicht ersetzen. Wir können heute feststellen, daß alle diese Bedingungen voll erfüllt sind. Von daher erklärt sich auch die Abstinenz und das betroffene Schweigen der Opposition während der Ferien und zur Berlin-Regelung ganz allgemein.Es war deswegen eigentlich nicht verwunderlich, daß die Opposition eine andere Gelegenheit suchen mußte, in diesem Bundestag unter der Regieführung von Franz Josef Strauß erneut die totale Konfrontation zu suchen. Auf diese Art und Weise — nur so kann diese Debatte abschließend gewürdigt werden — sollen die sehr großen Fortschritte, das ausgezeichnete Ergebnis der Berlin-Verhandlungen und damit der Ostpolitik dieser Bundesregierung übertüncht werden. Ich glaube, diese Debatte hat im übrigen deutlich gemacht, daß die Tünche dünn ist. Im Interesse von Herrn Dr. Barzel hoffe ich, daß die Tünche wenigstens 14 Tage bei seinen eigenen Truppen hält.
Zweitens. Meine Damen und Herren, wenn man sich das Kommuniqué von der Krim ansieht und es genau analysiert, kann man drei wesentliche Feststellungen treffen. Erstens, dieses Kommuniqué ist — ich zitiere wörtlich — in voller Loyalität mit den jeweiligen Bündnispartnern abgefaßt worden. Die Debatten dort haben in dieser Loyalität stattgefunden. Zweitens, es ist ein erster Schritt auf dem Wege zur Europäischen Sicherheitskonferenz gemacht worden: Verminderung von Truppen und Rüstungen in Europa ohne Nachteil für die Beteiligten. Drittens, es ist darauf hingewiesen worden, daß man eine Normalisierung im innerdeutschen Verhältnis wünscht und für möglich hält und daß erst im Zuge dieser Entspannung die Frage der UNO-Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten interessant wird.Der Herr Bundeskanzler hat nach der Rückkehr deutlich gemacht, daß er eben nicht will, daß die „querelles allemandes", wie wir das nennen, die deutschen Schwierigkeiten, in die internationalen Gremien kommen. Insofern ist es falsch, zu behaupten, es gebe ein Wegwenden von den 20 Punkten in Kassel.Lassen Sie mich eine dritte Bemerkung machen: Es ist infam, wenn in diesem Bundestag der Versuch gemacht wird zu behaupten, die sozialliberale Koalition und mit ihr die Bundesregierung wolle in der Europapolitik langsamer schreiten, als das wünschenswert ist. Genau das Gegenteil ist richtig. Als wir die Verantwortung übernommen hatten, war doch dieses Europa in der Tat in einem mittlerenChaos. Erst die Haager Gipfelkonferenz hat die Dinge vom Eise gebracht und hat es möglich gemacht, daß diese schwere Währungskrise nicht zum Zusammenbruch dieses Europa geführt hat. Herr Kollege Strauß, ich habe das Gefühl, daß Sie nicht ganz gut unterrichtet sind über das, was Ihre eigene Fraktion gerade zum Thema der Währung gesagt hat. Ihre eigene Fraktion ist es doch gewesen — wir waren dankbar dafür —, die ausdrücklich unterstrichen hat, daß das Floaten, d. h. die freien Wechselkurse, der richtige Schritt wäre, um mit den Schwierigkeiten, die auf dem Weltmarkt sind und die wir konjunkturell haben, fertig zu werden.
— Ihr Kollege Müller-Hermann.
Insofern gibt es hier keinen Alleingang der Bundesrepublik und der Bundesregierung, sondern es gibt die Gemeinsamkeit der westlichen Haltung, der sich allerdings ein Land aus sehr verständlichen Gründen bisher nicht hat anschließen können. Wir werden — das gehört auch mit in diese Debatte hinein — in den nächsten Monaten in der westlichen Integration zweifellos Probleme haben. Wir beneiden Herrn Professor Schiller nicht, dieser Mammutkonferenz des Internationalen Währungsfonds vorsitzen zu müssen. Hier wird in der Tat so etwas wie eine Quadratur des Kreises verlangt, auf der einen Seite die feste Solidarität der EWG-Länder und auf der anderen Seite die feste Solidarität mit den Amerikanern in den ökonomischen Schwierigkeiten.Es bedarf aber nicht Ihrer Hinweise, daß wir ganz genau wissen und stets gewußt haben, daß die westliche Integration und ihre Festigung die Voraussetzungen für die Kooperation, den Frieden und die Zusammenarbeit mit Osteuropa sind. Insofern war diese Debatte überflüssig. Sie war nach außen gerichtet und wird dort hoffentlich auch die entsprechenden, für Herrn Barzel positiven Ergebnisse haben.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der 60minütigen Aktuellen Stunde angelangt. Ich schließe die Aktuelle Stunde.
Ich teile noch folgendes mit. Die für heute nachmittag angesetzten Ausschußsitzungen beginnen im Anschluß an diese Sitzung. Die für 13 Uhr vorgesehen gewesene Sitzung des Ältestenrates findet um 17 Uhr statt.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, 24. September 1971, 9 Uhr, ein Die Fragestunde wird im Anschluß an die Abwicklung der Tagesordnung stattfinden, wahrscheinlich bereits relativ früh am Vormittag.
Ich schließe die Sitzung.