Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich zur 23. Plenarsitzung des Deut-schen Bundestages.Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, müssenwir auch heute noch einige Wahlen durchführen.Als Mitglied des Kuratoriums WissenschaftszentrumBerlin für Sozialforschung schlägt die Fraktion derCDU/CSU den Kollegen Klaus-Peter Willsch und dieSPD-Fraktion den Kollegen Swen Schulz vor. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Da-mit sind die beiden genannten Kollegen als Mitgliederdes Kuratoriums gewählt.Die CDU/CSU-Fraktion schlägt für die Wahl der Mit-glieder des Beirats bei der Bundesnetzagentur für Elek-trizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnenvor, als ordentliches Mitglied die Kollegin Nadine Schönals Nachfolgerin des Kollegen Bernhard Kaster und alsihren persönlichen Vertreter anstelle des KollegenDr. Michael Fuchs den Kollegen Patrick Schnieder zuwählen. Der Kollege Dr. Michael Fuchs soll seinerseitsanstelle der Kollegin Nadine Schön persönlicher Stell-vertreter des Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer werden. Daswird Ihnen sicher einleuchten. Schließlich soll die Kolle-gin Barbara Lanzinger dem Kollegen Karl Holmeier alsneue persönliche Stellvertreterin des Kollegen Dr. GeorgNüßlein nachfolgen.Die SPD-Fraktion schlägt für dasselbe Gremium vor,die Kollegin Waltraud Wolff als ordentliches Mitgliedfür den Kollegen Thomas Jurk und als ihren persönli-chen Stellvertreter den Kollegen Thomas Jurk anstelleder Kollegin Michelle Müntefering zu wählen. Die Kol-legin Michelle Müntefering soll ihrerseits für den Kolle-gen Dr. Hans-Joachim Schabedoth neue persönlicheStellvertreterin des Kollegen Klaus Barthel werden.Schließlich soll die Kollegin Andrea Wicklein für denKollegen Johann Saathoff als neue persönliche Stellver-treterin der Kollegin Dr. Nina Scheer berufen werden.Sind Sie mit all diesen gerade vorgetragenen Vor-schlägen einverstanden? – Ich höre keinen hinreichendeindeutigen Widerspruch. Damit sind die genanntenKolleginnen und Kollegen als Mitglieder oder persönli-che stellvertretende Mitglieder des Beirats gewählt.Schließlich schlägt die Fraktion der CDU/CSU vor,die Kollegin Dr. Claudia Lücking-Michel für den Kolle-gen Volkmar Klein als neue Schriftführerin zu wählen.Können Sie sich auch das vorstellen? – Es sieht ganz da-nach aus. Dann ist die Kollegin Claudia Lücking-Michelhiermit als neue Schriftführerin gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktlisteaufgeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zur Verlänge-rung von Laufzeiten für Atomkraftwerke inDeutschland
ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 20./21. März 2014in BrüsselZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-fahren
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterungder Umsetzung der Grundbuchamtsreform inBaden-WürttembergDrucksache 18/70Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzZP 4 Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der„Stiftung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“Drucksache 18/845
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENEinsetzung eines UntersuchungsausschussesDrucksache 18/843ZP 6 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEEinsetzung einer „Parlamentarischen Kom-mission zur Überprüfung, Sicherung undStärkung der Parlamentsrechte bei der Man-datierung von Auslandseinsätzen der Bundes-wehr“Drucksache 18/839
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 3 und 9 werden abgesetzt.Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-liste dargestellten weiteren Änderungen im Ablauf derheutigen Plenarsitzung.Ich mache schließlich noch auf nachträgliche Aus-schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Die am 13. März 2014 überwiesenennachfolgenden Vorlagen sollen zusätzlich dem Aus-schuss Digitale Agenda zur Mitbera-tung überwiesen werden:Unterrichtung durch die BundesregierungBericht über die Auswirkungen der §§ 30aund 42a des BundesdatenschutzgesetzesDrucksachen 17/12319, 18/770 Nr. 5Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss Digitale AgendaUnterrichtung durch den Bundesbeauftragten fürden Datenschutz und die InformationsfreiheitTätigkeitsbericht 2011 und 2012 des Bundes-beauftragten für den Datenschutz und die In-formationsfreiheit– 24. Tätigkeitsbericht –Drucksachen 17/13000, 18/770 Nr. 6Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungSportausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzFinanzausschussVerteidigungsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienAusschuss Digitale AgendaBericht des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
gem. § 56 a der GeschäftsordnungTechnikfolgenabschätzung
Konzepte der Elektromobilität und deren Be-deutung für Wirtschaft, Gesellschaft und Um-weltDrucksachen 17/13625, 18/770 Nr. 16Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss Digitale AgendaBericht des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
gem. § 56 a der GeschäftsordnungTechnikfolgenabschätzung
Zukunft der AutomobilindustrieDrucksachen 17/13672, 18/770 Nr. 17Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss Digitale AgendaUnterrichtung durch die BundesregierungProgramm zur nachhaltigen Nutzung undzum Schutz der natürlichen Ressourcen
Drucksachen 17/8965, 18/770 Nr. 27Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Verkehr und digitale InfrastrukturAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismus Ausschuss Digitale AgendaDarf ich auch dazu Ihr Einvernehmen feststellen? –Das ist ganz offensichtlich der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2 unserer Tages-ordnung:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 20./21. März 2014in BrüsselHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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– den die Kanzlerin nicht verlesen wird.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 96 Minuten vorgesehen. – Auch dazu stelle ich Ein-vernehmen fest.Damit erteile ich nun das Wort zur Abgabe einer Re-gierungserklärung der Bundeskanzlerin, Frau Dr. AngelaMerkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung einesFrühjahrsrates der europäischen Staats- und Regie-rungschefs steht in der Regel die Frage, wie wir dieWettbewerbsfähigkeit Europas stärken und damit dieGrundlagen für Wachstum und Beschäftigung verbes-sern können. Das wird auch dieses Mal so sein, und dochsteht dieser Rat auch wieder ganz im Zeichen andererEreignisse; er steht im Zeichen der Entwicklungen in derUkraine.Die Entwicklungen führen uns nachdrücklich vor Au-gen, wie verletzbar der Schatz von Frieden in Freiheit inEuropa auch über ein halbes Jahrhundert nach Unter-zeichnung der Römischen Verträge ist. Wir hatten ge-glaubt, dass sich 25 Jahre nach dem Fall der BerlinerMauer der Friedensauftrag der europäischen Einigungs-idee gleichsam umfassend erfüllt habe, und wir habenschon beinahe vergessen, dass der letzte Krieg auf demeuropäischen Kontinent, dem westlichen Balkan, nochkeine Generation her ist. Es grenzt an ein Wunder, dasssich viele Völker Europas nach Jahrhunderten des Blut-vergießens und den Schlachten vor fast 60 Jahren zu ih-rem Glück vereint haben. Wie kostbar dieses Glück ist,erleben wir gegenwärtig in der Ukraine.Das sogenannte Referendum am vergangenen Sonn-tag auf der Krim entsprach weder den Vorgaben derukrainischen Verfassung noch den Standards des Völker-rechts.
Die Stellungnahmen von OSZE und Europarat dazu sindeindeutig; Russland ist in allen internationalen Organisa-tionen weitgehend isoliert.Das Ergebnis dieser sogenannten Abstimmung aufder Krim wird die internationale Völkergemeinschaftnicht anerkennen. Es handelt sich um einseitige Verän-derungen von Grenzen. Die Annahme eines entsprechen-den Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat schei-terte, wenig überraschend, am russischen Veto. Dass alleanderen Sicherheitsratsmitglieder für die Resolutionstimmten oder sich, wie China, enthielten, spricht jedocheine deutliche Sprache.Die Europäische Union hat am vergangenen Montagbeim Rat der Außenminister mit ersten gezielten Sank-tionen reagiert und gegenüber 21 Personen, die die terri-toriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeitder Ukraine bedrohen oder unterminieren, Reisebe-schränkungen und Vermögenssperren ausgesprochen.Einen Tag später erfolgten die Anerkennung der soge-nannten Unabhängigkeit der Krim durch Russland undder Vertragsschluss zu einem Beitritt der Krim zur Rus-sischen Föderation, also weitere völkerrechtswidrigeSchritte gegen die Einheit der Ukraine. Sie erfordern dieentschlossene wie geschlossene Antwort Europas undseiner Partner:Erstens. Auf dem heute beginnenden EuropäischenRat werden die Staats- und Regierungschefs der Euro-päischen Union weitere Sanktionen der von uns vor zweiWochen beschlossenen Stufe 2 festlegen. Dazu gehörteine Ausweitung der Liste von verantwortlichen Perso-nen, gegen die Reisebeschränkungen und Kontensper-rungen in Kraft gesetzt werden.Darüber hinaus werden wir Konsequenzen für diepolitischen Beziehungen zwischen der EU und Russlandsowie in den nächsten Tagen auch der G 7 zu Russlandziehen. Denn es ist doch offenkundig: Solange das poli-tische Umfeld für ein so wichtiges Format wie die G 8,so wie im Augenblick, nicht gegeben ist, gibt es die G 8nicht mehr, weder den Gipfel noch das Format als sol-ches.Ich ergänze: In der Abwägung zwischen notwendigenGesprächskontakten einerseits, für die wir uns immereinsetzen werden, und Formaten, die definitiv ein ande-res Umfeld als das jetzige erfordern, auf der anderenSeite wird die Bundesregierung entscheiden, ob und,wenn ja, gegebenenfalls in welcher Form deutsch-russi-sche Regierungskonsultationen Ende April stattfindenwerden.Außerdem wird der EU-Rat heute und morgen auchdeutlich machen, dass wir bei einer weiteren Verschär-fung der Lage jederzeit bereit sind, Maßnahmen der drit-ten Stufe einzusetzen. Dabei wird es ganz ohne Zweifelauch um wirtschaftliche Sanktionen gehen.Zweitens. Um eine internationale Kontrolle insbeson-dere in der Ost- und Südukraine zu ermöglichen, setztsich die Bundesregierung für eine starke OSZE-Missionein. Der Bundesaußenminister und ich haben in den letz-ten Tagen zusammen mit vielen anderen, insbesonderedem Schweizer Vorsitz, sehr viel getan, um den Be-schluss zu einer solchen Mission hinzubekommen, aberdie Verhandlungen sind zäh und schwierig. Der Bundes-außenminister hat gestern noch einmal gesagt, binnen24 Stunden sollte und müsste eine solche Mission zu-stande kommen. Sie kann nach unserer festen Überzeu-gung auch zustande kommen. Wir werden auch den heu-tigen Tag nutzen, um das hinzubekommen. Außerdemsetzen wir uns für die notwendigen Gespräche zwischender russischen und der ukrainischen Regierung ein.Drittens. Deutschland und die Europäische Unionwerden die Ukraine mit konkreter Hilfe unterstützen.Der IWF führt mit Hochdruck Gespräche mit der ukrai-
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nischen Regierung über ein IWF-Programm. Die erstenSchritte des Hilfsprogramms der EU-Kommission müs-sen jetzt schnell umgesetzt werden. Wir werden zudemauf dem heute beginnenden Europäischen Rat den poli-tischen Teil des Assoziationsabkommens mit demukrainischen Ministerpräsidenten unterzeichnen. Die-ser politische Teil gibt wichtige Impulse, vor allem fürdie Rechtsstaatsentwicklung, und wir geben damit aus-drücklich ein politisches Signal der Solidarität und derUnterstützung für die Ukraine.
Meine Damen und Herren, im Lichte der aktuellenEreignisse in der Ukraine wird einmal mehr deutlich,wie kostbar das Werk der europäischen Einigung ist. Da-ran konnte und kann auch die europäische Staatsschul-denkrise nichts ändern, so groß die Herausforderungauch war und im Übrigen immer noch ist. Wenn wirwollen, dass die Europäische Union auch für kommendeGenerationen ihr Versprechen von Frieden, Freiheit undWohlstand erfüllen kann, dann müssen wir jetzt die Wei-chen richtig stellen. Wenn wir wollen, dass unser einzig-artiges europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell aufDauer im globalen Wettbewerb erfolgreich ist, dann dür-fen wir jetzt in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.Nur eine wirtschaftlich erfolgreiche, wettbewerbsfä-hige Europäische Union kann ihre Werte und Interessenin der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts auch nachaußen selbstbewusst vertreten. Wir werden uns deshalbbeim Europäischen Rat heute und morgen weiter damitbeschäftigen, wie wir unsere Wettbewerbsfähigkeit stär-ken und damit die Grundlagen für Wachstum und vor al-len Dingen Beschäftigung – das ist das zentrale Thema,mit dem wir uns, insbesondere mit Blick auf die jungenMenschen, in den nächsten Jahren auseinandersetzenmüssen – verbessern können.Die Europäische Union tut gut daran, gerade in diesenZeiten engagiert daran zu arbeiten, stärker aus derStaatsschuldenkrise herauszukommen, als wir in sie hi-neingegangen sind. Wir können auch sagen, dass dieEuro-Zone als Ganzes jetzt, im Frühjahr 2014, nachschweren Jahren zum ersten Mal die Rezession verlassenhat. Die Kommission rechnet für 2014 mit einem Wachs-tum von ungefähr 1,2 Prozent. Das ist etwas mehr, alsnoch im Herbst erwartet wurde, aber wir wissen auch:1,2 Prozent können noch gesteigert werden.Neben Spanien konnte auch Irland im Dezember seinProgramm erfolgreich beenden. Die Leistung der Irenverdient unseren großen Respekt. Portugal und Spanienkonnten langjährige Leistungsbilanzdefizite im Jahr2013 in Überschüsse umwandeln und werden diese indiesem Jahr noch ausbauen. Portugal hat zum Beispielwieder ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Auchdie Investoren blicken mit mehr Zuversicht auf die Euro-Zone, als sie das in den vergangenen Jahren getan haben.Die Renditen für die Staatsanleihen der besonders vonder Krise betroffenen Mitgliedstaaten sind deutlich ge-sunken. Für italienische, spanische und irische Anleihenetwa liegen diese im Umfeld der niedrigsten Stände seitder Einführung des Euro.Meine Damen und Herren, das sind gute Nachrichten.Doch so erfreulich die Fortschritte auf dem Weg zu mehrStabilität und Wachstum auch sind: Wir müssen unstrotzdem im Klaren sein, dass der Aufschwung keines-wegs schon gesichert ist. Deshalb müssen wir uns natür-lich weiter um die Ursachen der Krise kümmern undVorsorge für die Zukunft treffen. Wir haben zu diesemZweck in den vergangenen Jahren die wirtschafts- undfinanzpolitischen Überwachungsverfahren innerhalb derEuro-Zone und innerhalb der Europäischen Union im-mer weiter verbessert. Ich glaube, wenn wir dieses In-strumentarium schon vor der Krise zur Verfügung gehabthätten, dann wäre vieles von dem, was wir durchlebenmussten, so nicht passiert. Umso wichtiger ist es, dasswir die von uns selbst herausgearbeiteten Verfahren jetztauch konsequent anwenden.Da gibt es das Europäische Semester, das sich in denletzten vier Jahren etabliert hat. Es ist heute weitreichen-der und konkreter, als es jemals war. Ich begrüße das;aber ich glaube, wir dürfen dabei nicht stehen bleiben,sondern müssen uns gerade in der Euro-Zone in dennächsten Monaten weiter für die wirtschaftspolitischeKoordinierung in den nationalen Politikbereichen einset-zen. Nur so können wir in einer Kombination aus fiskali-scher Solidität und wirtschaftspolitischer Koordinierungdie Architektur der Wirtschafts- und Währungsunionnachhaltig stärken. Ich habe es in diesem Plenum oft ge-sagt: Jacques Delors hat schon vor Einführung des Eurosdarauf hingewiesen, dass Fiskaldisziplin allein nicht aus-reicht, um eine gemeinsame Währung auf Dauer stabilzu halten.Wir werden auf diesem Rat eine Bestandsaufnahmevornehmen und über übergreifende Schwerpunkte desdiesjährigen Europäischen Semesters diskutieren. Esgeht dabei um wachstumsfreundliche Konsolidierung,Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Steigerung von Be-schäftigung, vor allem der Jugendbeschäftigung, sowieArbeitsmarktreformen.Es zeigt sich, dass die Reformen, die in vielen Mit-gliedstaaten beschlossen wurden, zu wirken beginnen;aber dennoch gehört zu der augenblicklichen Lage auchein Stück Vertrauensvorschuss. Deshalb werben wir füreinen umfassenden Ansatz – Strukturreformen und mehrWettbewerbsfähigkeit – und vor allen Dingen dafür, dassdie EU-Institutionen, insbesondere die Kommission, dienotwendigen Voraussetzungen dafür schaffen.Wir sind alle in der Pflicht. Wir müssen unsere An-strengungen verstärken. Wir glauben, dass die Ergeb-nisse der Analysen im Rahmen des makroökonomischenUngleichgewichteverfahrens, die von vielen Mitglied-staaten noch umgesetzt werden müssen, wirklich konse-quent umzusetzen sind. Wir begrüßen, dass die Kommis-sion, die sich mit den deutschen Ungleichgewichtenbefasst hat, nämlich mit den Leistungsbilanzüberschüs-sen, deutlich gemacht hat, dass sie nicht schädlich für dieEuro-Zone sind. Das entspricht nach meiner festenÜberzeugung den Tatsachen.Wichtig ist, dass wir sicherstellen, dass Unternehmenauch weiterhin in Europa produzieren. Hier haben wireine Vielzahl von Herausforderungen zu bestehen. Ich
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kann jetzt nicht auf alle Details eingehen, möchte abersagen: Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen in Eu-ropa, bei denen wir Sorge haben müssen, ob wir im welt-weiten Wettbewerb wirklich noch führend sind. Wennich mir die gesamte digitale Wirtschaft anschaue, stelleich fest, dass wir einen erheblichen Nachholbedarf ha-ben. Deshalb werden wir uns von deutscher Seite sehrstark dafür einsetzen, dass der digitale Binnenmarktmöglichst schnell geschaffen wird. Wir wissen, dass wirRahmenbedingungen schaffen müssen – in Form vonForschung und Entwicklung –, und wir wissen, dass wiretwas tun müssen, um die Bürokratie abzubauen. Des-halb begrüßen wir die Initiative REFIT der EuropäischenKommission, mit der zum ersten Mal Bürokratie abge-baut wird, und deshalb weisen wir darauf hin, dass alleVerfahren, die in diesen Zeiten, in denen der weltweiteWettbewerb wirklich hart ist, die Lage für unsere Unter-nehmen erschweren, wirklich unterbleiben müssen.Dazu gehören auch sehr harte Diskussionen über denUmgang mit der energieintensiven Industrie, die von unsim Zusammenhang mit der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und der Frage des Beihilfeverfahrensjetzt geführt werden, insbesondere vom Bundeswirt-schaftsminister. Ich kann nur sagen: Da die Energie-preise in den Vereinigten Staaten von Amerika heutedeutlich niedriger sind als in Europa – um die Hälfte,zum Teil weniger als die Hälfte –, müssen wir die not-wendigen Voraussetzungen dafür schaffen – das mussuns die Europäische Kommission ermöglichen –, dasszumindest die Unternehmen, die im internationalenWettbewerb stehen und in Europa wettbewerbsfähigsind, im internationalen Wettbewerb bestehen können.
Es macht doch keinen Sinn, wenn wir auf der einen Seiteüber die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit undüber neue, gute, qualifizierte Arbeitsplätze sprechen undauf der anderen Seite die Rahmenbedingungen so setzen,dass die Unternehmen im weltweiten Wettbewerb er-kennbar nicht bestehen können. Deshalb hat die Bundes-regierung deutlich gemacht, dass sie die EEG-Umlageinsgesamt nicht als Beihilfe sieht. Trotzdem müssen wirnatürlich vorsorglich mit der Kommission verhandeln.Denn unsere Unternehmen brauchen Investitionssicher-heit, und die notwendigen Befreiungsbescheide müssenim Sommer des Jahres verschickt werden. Ansonstenwerden Investitionen unterbleiben. Die Verhandlungensind kompliziert. Ich bitte ganz einfach um breite Unter-stützung auch aus diesem Hause.
Wir werden uns bei diesem Europäischen Rat zudemdafür einsetzen, dass die EU eine führende Rolle bei derBekämpfung der grenzüberschreitenden Steuerhinterzie-hung einnimmt und jetzt zügig die Erweiterung der Zins-besteuerungsrichtlinie verabschiedet sowie die Verhand-lungen mit den europäischen Drittstaaten entschlossenvoranbringt. Wir haben hier positive Signale ausLuxemburg, und wir werden schauen, dass wir mög-lichst schnell vorankommen.
Meine Damen und Herren, wir sind, glaube ich, indiesem Hause mit sehr breiter Mehrheit davon über-zeugt, dass die Erfordernisse einer starken und wettbe-werbsfähigen europäischen Industrie einen ambitionier-ten Klimaschutz beinhalten, dass sich diese beidenDinge also nicht widersprechen, sondern sehr gut in Ein-klang zu bringen sind. Darum geht es auch in der laufen-den Diskussion über die zukünftige Ausrichtung der eu-ropäischen Klima- und Energiepolitik. Hier ist derheutige Europäische Rat, wenn es auch noch keine ab-schließende Beschlussfassung geben wird, eine wichtigeEtappe. Er ist eine wichtige Etappe, weil es auch um dieinternationalen Klimaverhandlungen und die internatio-nale Klimakonferenz am Ende des nächsten Jahres in Pa-ris geht, die wir durch unsere europäischen Beschlüssenatürlich auch unterstützen wollen.Die Europäische Kommission hat im Januar diesesJahres eine EU-interne Treibhausgasminderung um40 Prozent bis 2030 gegenüber 1990 und einen Anteilder erneuerbaren Energien von mindestens 27 Prozentvorgeschlagen. Diese Vorschläge sind die Basis für un-sere Beratungen. Es ist kein Geheimnis, dass wir uns ineinigen Teilen ambitioniertere Vorschläge der Kommis-sion hätten vorstellen können, insbesondere beim Aus-bau der erneuerbaren Energien. Aber wir werden vor al-len Dingen darum ringen müssen, dass wir zu einergemeinsamen Beschlussfassung kommen. Deutschlandsetzt sich hier sehr intensiv ein. Wir wollen, dass einstarkes Signal von Europa ausgeht, um besagte Klima-konferenz in Paris deutlich zu unterstützen. Dass dieseVerhandlungen schwierig werden, auch innerhalb derEuropäischen Union, kann ich Ihnen jetzt schon voraus-sagen. Aber wir werden dafür werben, dass alle Mit-gliedstaaten der Europäischen Union ihren Beitrag zumKlimaschutz leisten.Meine Damen und Herren, wir werden beim Europäi-schen Rat natürlich auch über die Energieversorgungssi-cherheit sprechen. Gerade im Zusammenhang mit denEreignissen in der Ukraine spielt dieses Thema insbe-sondere für unsere östlichen Nachbarn eine große Rolle.Wir müssen mit Nachdruck und Hochdruck an einem eu-ropäischen Energiebinnenmarkt arbeiten. Hier sind inden letzten Jahren, auch durch die Initiativen des EU-Kommissars Günther Oettinger, vielfältige Verbesserun-gen erfolgt. Aber unsere Anstrengungen müssen fortge-setzt werden, um unsere Energiebezugsquellen undTransportwege weiter zu diversifizieren und unsere Im-portabhängigkeiten weiter zu verringern. Dazu müssenwir neben den Möglichkeiten des Energieimports auchdie Möglichkeiten der Energieeffizienz ins Auge fassen.Die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien istnatürlich auch ein Beispiel dafür, wie man unabhängigerwird.
Der Netzausbau ist eine zentrale Voraussetzung, das Zieleines EU-Energiebinnenmarkts zu verwirklichen; des-halb wird es auch genau darum gehen.Sie sehen an der Themenstellung – erst recht, wenndas Thema Ukraine noch hinzukommt –, welch kompak-
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ten Arbeitsauftrag wir in den nächsten 24 Stunden ha-ben. Sie sehen, dass es darum geht, einen Gesamtansatzeiner Wirtschafts-, Industrie-, Energie- und Klimapolitikhinzubekommen, von dem wir der Überzeugung sind,dass er die Basis für Wohlstand und mehr Beschäftigungbilden kann. Wir sind uns allerdings bewusst, dass diesletztlich nur gelingt, wenn wir unseren Blick auch nachaußen richten, weil wir uns immer mit den Besten in derWelt messen müssen und demzufolge unsere Wachs-tumschancen definieren müssen.Das gilt auch mit Blick auf die Vereinigten Staatenvon Amerika; ich habe auf die Energiepreise hingewie-sen. Europa und die USA erwirtschaften gemeinsam fastdie Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung. Fast einDrittel des Welthandels wird über den Atlantik abgewi-ckelt. Wir sind deshalb der tiefen Überzeugung, dass dieVerhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischenden USA und der EU von den Mitgliedstaaten unter-stützt werden müssen und dass wir hier zu einem solchenAbkommen kommen müssen.
Meine Damen und Herren, ich kenne all die Vorbe-halte. Aber ich glaube, wenn wir nur mit Blick darauf,was alles schwierig ist, an dieses Thema herangehen,dann werden wir Folgendes erleben: Die USA werdenmit nahezu allen anderen Regionen dieser Welt Freihan-delsabkommen abschließen,
und auch wir werden mit sehr vielen Regionen dieserWelt Freihandelsabkommen abschließen. Aber ausge-rechnet die beiden führenden Märkte, im Übrigen nochangesiedelt in erkennbar demokratischen Gesellschaften,wären nicht in der Lage, miteinander ein Freihandelsab-kommen abzuschließen. Wenn das unsere Maßgabe seinsollte, dann sind wir auf dem Holzweg; das ist meinetiefe Überzeugung. Das muss zu schaffen sein.
Aber ich sage auch: Es gibt komplizierte Sachver-halte. Ich nenne nur das Thema Datenschutz. Ich könnteviele andere Dinge nennen. Wir werden alle Bedenkenernst nehmen. Lassen Sie uns aber an diese Verhandlun-gen so herangehen, dass es etwas wird, und lassen Sieuns nicht Gründe finden, damit es nichts wird. Nur einoffenes und erfolgreiches Europa kann seine Interessenund Werte überzeugend vertreten und auch seine Part-nerschaften leben.Darum geht es auch, wenn am 2. und 3. April in Brüs-sel der EU-Afrika-Gipfel stattfindet. Der EuropäischeRat heute und morgen dient auch der Vorbereitung die-ses Treffens. An diesem Treffen werden etwa 80 Staats-und Regierungschefs teilnehmen. Wir wollen natürlich,dass von diesem Gipfel das Signal einer langfristigen,verlässlichen Zusammenarbeit mit unserem Nachbar-kontinent ausgeht. Das Thema des EU-Afrika-Gipfelslautet „In Menschen, Wohlstand und Frieden investie-ren“. Dieses Thema verdeutlicht die Bandbreite unsererEU-Afrika-Beziehungen, ihre Herausforderungen undChancen. Es weist auf die besondere Rolle hin, dieAfrika für Europa spielt.Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden. Icherinnere nur daran, dass wir bis zu den aktuellen Diskus-sionen über die Ukraine sehr intensiv über die Rolle unddie Situation in Afrika gesprochen haben. Das darf jetztnicht aus dem Blick geraten. Wir beobachten ein ver-stärktes Engagement, zum Beispiel von China, Indien,Brasilien, auch der Türkei, in Afrika. Das Gipfelthemabetont natürlich nicht nur unsere Partnerschaft, sondernauch die Eigenverantwortung afrikanischer Staaten, dieVerantwortung für ihren eigenen Wohlstand und ihre Si-cherheit. Dazu zählen der Schutz der Menschenrechte,der Kampf gegen Korruption und der Schutz von Min-derheiten; was das angeht, mussten wir in diesen Tagenleidvolle Erfahrungen machen. Dafür werde ich sehr ent-schieden werben. Gute Regierungsführung und die ener-gische Bekämpfung der Korruption sind nämlich ent-scheidende Voraussetzungen für eine erfolgreichewirtschaftliche Entwicklung. Mit der wachsenden Trans-parenz, mit dem global verbreiteten Internet werdenauch in Afrika die Menschen, die Bevölkerung, die Bür-gerinnen und Bürger der Länder nicht mehr einfach hin-nehmen, dass gute Regierungsführung nicht vorhandenist, sondern sie werden dagegen aufbegehren. Wir kön-nen das gut verstehen.
Wir wollen diese gute Regierungsführung im Rahmenunserer Möglichkeiten weiterhin unterstützen. Ich werdeauch für unsere sogenannte Ertüchtigungsinitiative zurBefähigung geeigneter afrikanischer Partner der Afrika-nischen Union und der Regionalorganisationen zur Wah-rung von Frieden und Sicherheit auf dem afrikanischenKontinent werben. Wir glauben: Wir müssen Hilfe zurSelbsthilfe leisten, damit die afrikanischen Länder selberin der Lage sind, für ihre Sicherheit zu sorgen. Unsereafrikanischen Partner müssen durch Beratung, Ausbil-dung und auch durch Ausrüstung in die Lage versetztwerden, selbst für Stabilität und Sicherheit zu sorgen;denn Stabilität und Sicherheit sind die Grundvorausset-zungen für die weitere Entwicklung in vielen afrikani-schen Staaten.Die Übernahme von Eigenverantwortung in den Re-gionen und die Stärkung der Regionalorganisationen undder Afrikanischen Union, das sind die Ziele, mit denenwir an die Zusammenarbeit herangehen. Die Europäi-sche Union kann hier noch mehr leisten. Wir werden un-seren Verpflichtungen gerecht. Die aktuellen sicherheits-politischen Herausforderungen kennen Sie: in Mali, amHorn von Afrika, im Südsudan, in der Zentralafrikani-schen Republik. Hier zeigt sich die Bedeutung Europasals Partner Afrikas. Die Europäische Union engagiertsich in diesen Krisenherden mit ihren Krisenmanage-mentkapazitäten oder plant aktuelle Einsätze.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setztsich mit aller Kraft dafür ein, dass die EuropäischeUnion auch in Zukunft ihr Versprechen von Frieden, vonFreiheit und Wohlstand einhalten kann. Gerade in diesen
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Tagen erleben wir, dass dies alles andere als selbstver-ständlich ist. Gerade in diesen Tagen erleben wir auch,wie wichtig es ist, dass die Europäische Union immerwieder zu gemeinsamen Antworten findet. Ich bin über-zeugt, dass wir dieses Ziel erreichen können. Deshalb ar-beitet die Bundesregierung dafür, und ich bitte um IhreUnterstützung.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält zunächst der Kollege Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin, ich finde, Sie hätten lieber unseren Ent-schließungsantrag vorlesen sollen; das wäre inhaltsrei-cher gewesen.
Aber kommen wir zum Ernst der Lage zurück. Ichsage: Die Lage ist wirklich ernst im Bezug auf dieUkraine und Russland, aber nicht hoffnungslos. DieKrim soll nun, unter Bruch des Völkerrechts, BestandteilRusslands werden. Das Verfassungsgericht in Russlandhat schon zugestimmt; jetzt werden noch die beidenKammern des Parlaments zustimmen. Es ist übrigensinteressant, dass Russland sich keine Gedanken da-rüber macht, dass dadurch natürlich aufseiten derOstukraine, wenn Parlaments- und Präsidentschafts-wahlen anstehen, über 1 Million Wählerinnen undWähler fehlen – was ja auch Folgen hat. Aber das in-teressiert Russland nicht.Wie vorhergesagt, hat sich Putin tatsächlich auf denKosovo berufen. Ich bleibe dabei: Die Abtrennung desKosovo war ein Bruch des Völkerrechts;
da können Sie hier über edle Motive erzählen, was Siewollen. Soldaten gab es nicht nur auf der Krim, Soldatengab es auch im Kosovo. Einen Volksentscheid gab es üb-rigens nur auf der Krim und nicht im Kosovo.
Aber ich habe keine Zweifel, dass die Mehrheit der Be-wohnerinnen und Bewohner des Kosovo die Abtrennungwollte. Wir können ebenfalls nicht leugnen, dass aucheine große Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim dieAbtrennung will. Nur ist das für mich – das will ich auchgleich sagen – kein Grund.Auf eines möchte ich Sie hinweisen: Aus dem Bruchdes Völkerrechts kann irgendwann im Völkerrecht Ge-wohnheitsrecht entstehen, und das ist nicht ungefährlich.Deshalb habe ich Sie damals beim Kosovo so gewarnt.Ein bedrängter, unterdrückter Bevölkerungsteil – auchein Bevölkerungsteil, gegen den Gewalt angewendetwird –, muss das Recht haben, sein Land zu verlassen –aber nicht mit Territorium; das geht nur mit Zustimmungdes Staates, zu dem das Territorium gehört. DiesenGrundsatz haben Sie im Kosovo gebrochen, und dafürzahlen wir jetzt.
Ich weiß, es gibt auch andere völkerrechtliche Auffas-sungen, sowohl in Bezug auf den Kosovo als auch inBezug auf die Krim. Zum Beispiel wird gesagt, dassChruschtschow unter Verletzung sowjetischen Rechtsdamals die Krim der Ukraine übergeben hat; er war jaselbst Ukrainer. Ehrlich gesagt, meine Auffassung istdies nicht. Ich sage: In beiden Fällen war bzw. ist es völ-kerrechtlich nicht legitim.
Der Hinweis auf die ukrainische Verfassung, der vonIhnen immer kommt – auch von Ihnen, Frau Bundes-kanzlerin –, ist nicht besonders glaubwürdig. Sie sagenauf der einen Seite: Die ukrainische Verfassung verbieteteine eigene Volksabstimmung auf der Krim ohne Zu-stimmung der Zentralregierung. – Auf der anderen Seiteinteressiert es Sie aber nicht, dass in der ukrainischenVerfassung steht, dass der Präsident nur mit 75 Prozentder Stimmen im Parlament abgewählt werden darf – dienicht zusammenkamen. Also: Entweder die Verfassunggilt, oder sie gilt nicht.
Heraus kommt auf jeden Fall eines: dass der Über-gangspräsident und die Übergangsregierung nicht legi-tim sind; daran können Sie nichts ändern. Man kann mitihnen trotzdem verhandeln – das bestreite ich nicht –;aber man muss wissen – und es ihnen sagen –, dass sienicht legitim sind.Wie wird es weitergehen? Ich sage es Ihnen: Letztlichwerden irgendwann, früher oder später, alle Regierungenirgendwie akzeptieren, dass die Krim zu Russland ge-hört.Nun sagen Sie: Man muss Sanktionen beschließen;denn wenn man keine Sanktionen beschlösse, dann be-deutete das, eine Völkerrechtsverletzung einfach hinzu-nehmen. Wirklich?Ich erinnere Sie an ein Beispiel: 1974 besetzten türki-sche Truppen den Nordteil Zyperns. Das war eindeutigund unbestritten völkerrechtswidrig. Sie haben damalsnicht eine einzige Sanktion gegen die Türkei beschlos-sen. Warum nicht? Nur weil die Türkei im Gegensatz zuRussland in der NATO ist? Warum setzen Sie immerdiese unterschiedlichen Maßstäbe? Warum können wirnicht mal einheitliche Maßstäbe setzen und anwenden?
Übrigens: Zypern ist bis heute geteilt.
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Ich sage auch: Sanktionen sind keine Politik, sondernein Ersatz dafür. Die USA drängen aber auf Sanktionen,weil die Antwort Russlands, die darauf erfolgen kann,nicht die USA, sondern die Europäerinnen und Europäerund insbesondere die Deutschen treffen würde. FrauMerkel, Sie sind hier wieder das, was Sie bei der US-Re-gierung immer sind: Sie sind hörig gegenüber der US-Regierung.
Einen kleinen Augenblick, bitte, Herr Gysi. – Ich darf
darum bitten, dass offenkundig etwas länger dauernde
bilaterale Gespräche nicht unmittelbar in der Nähe des
Rednerpultes geführt werden.
Das sind dieselbe Hörigkeit und dasselbe Duckmäu-sertum wie bei den millionenfachen Abhöraktionen derNSA in Deutschland. Sie tun nichts dagegen.
Es kommt noch etwas hinzu: Die USA planen jetztneue Atomwaffen in Deutschland, Herr Kauder. Wirbrauchen aber weder die alten noch neue Atomwaffen.
Ich sage Ihnen eines: Wenn je von Deutschland aus eineAtomwaffe von den USA gestartet wird, dann trifft dieAntwort uns und nicht die USA. Der Höhepunkt dabeiist: Wir sollen uns auch noch mit 20 Prozent an den Kos-ten beteiligen. Das sind 30 Millionen Euro. Ich frage Siewirklich, Frau Bundeskanzlerin, Herr Steinmeier undHerr Schäuble: Wollen Sie ernsthaft für neue Atombom-ben der USA in Deutschland auch noch 30 MillionenEuro bezahlen? Die brauchen wir wirklich dringenderfür ganz andere Zwecke.
Als Sanktionen wurden Kontensperrungen, Einreise-verbote und das Aussetzen der Verhandlungen über Vi-saerleichterungen und über wirtschaftliche Zusammen-arbeit angesprochen. Außerdem soll Russland vomkommenden G-8-Gipfel ausgeladen werden; das wirdalso ein G-7-Gipfel. Daneben wurden weitere politischeMaßnahmen und Wirtschaftssanktionen diskutiert.Der Bundeswirtschaftsminister hat nun den Exportvon Rüstungsgütern nach Russland verboten. Dazu – dasist die Ausnahme – sagen wir: Das ist richtig. Das hat abernichts mit den Sanktionen zu tun, sondern damit, dass Rüs-tungsexporte unserer Meinung nach generell eingestellt undverboten werden müssen.
Dieses Verbot wird die russische Armee allerdingsnicht sehr beeindrucken.Ich frage Sie schon jetzt: Wie wollen Sie wieder rausaus den Sanktionen? Wollen Sie sagen, das geschieht,wenn die Krim wieder bei der Ukraine ist? Wenn dasnicht geschieht: Wollen Sie sie ewig aufrechterhalten?Ich sehe schon, wie sich das nach einem oder zwei Jah-ren schleichend wieder auflösen wird.Ich frage Sie: Gibt es keine andere Chance – auch da-für, auf die Völkerrechtswidrigkeit hinzuweisen? Doch,die gibt es! Wir müssten umgekehrt herangehen und ein-mal nicht negativ und nicht in Form von Sanktionendenken. Wir könnten jetzt doch Verhandlungen mit derrussischen Regierung aufnehmen und sagen: Okay, dieEU und die NATO haben auch Fehler begangen; dasstimmt. – Das kann man doch einräumen; das kostetdoch nichts und wäre eine Selbstverständlichkeit. Wei-terhin könnte man den Russen sagen: Sie haben auchFehler begangen, und jetzt zeigen wir Ihnen einmal, wieeine Perspektive für gute Beziehungen mit der EU undder NATO aussehen könnte und wie wir auch Ihre Si-cherheitsinteressen berücksichtigen könnten.Ich nenne einmal ein Beispiel, nämlich die Raketen inPolen und Tschechien. Die Russen haben gesagt, das be-einträchtige ihre Sicherheit. Der US-Außenminister hatdaraufhin zum russischen Außenminister gesagt: Wiesodas? Das hat doch gar nichts mit Russland zu tun. – Die-ser hat geantwortet: Würden Sie es akzeptieren, wennwir Raketen in Mexiko aufstellten und sagten, das habenichts mit den USA zu tun? – Natürlich nicht!Ich sage: Wir müssen anders herangehen, nämlicheine Perspektive aufzeigen und dann sagen: Das knüpfenwir aber an die Bedingung, dass diese Art von Politikaufhört. Sie dürfen jetzt nicht lauter russische Inseln su-chen und meinen, sie Russland wieder einverleiben zukönnen. – Das wäre doch eine Perspektive. Gehen Siedoch einmal positiv und nicht nur negativ an die Sacheheran, damit wir endlich ein Europa nicht gegen undohne Russland, sondern mit Russland bekommen; dennsonst wird es auch mit unserer Sicherheit nichts.
Nun wollen Sie mit der Übergangsregierung derUkraine den politischen Teil des Assoziierungsabkom-mens unterschreiben, mit einer Regierung, die nicht ausdemokratischen Wahlen hervorgegangen ist und der Fa-schisten angehören. Wenn Sie uns schon angreifen– Sigmar Gabriel tut das ja auch; das, was ich hier sage,können Sie ihm einmal bestellen – und uns in die Eckeder kalten Krieger stellen, was Blödsinn ist – das mussich Ihnen einmal ganz klar sagen –, dann hören Sie dochwenigstens auf den ehemaligen EU-Kommissar und So-zialdemokraten Günter Verheugen. Er sagt, dass es rich-tige Faschisten und nicht nur irgendwelche Nationalistensind. – Das ist ein fataler Tabubruch, und denen wollenSie auch noch Geld geben. Ich bitte Sie! Ich finde, einedeutsche Bundesregierung muss hier ganz andere Maß-stäbe setzen.
Ich meine das auch so. Am 13. März dieses Jahreshabe ich ein Zitat von dem Partei- und Fraktionsvorsit-zenden der Swoboda Tjagnibok gebracht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1761
Dr. Gregor Gysi
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Er hat gesagt:Schnappt euch die Gewehre, bekämpft die Russen-säue, die Deutschen, die Judenschweine und andereUnarten.Dann haben Sie, Frau Göring-Eckardt, erklärt, das Zitatsei von 2004. Was wollten Sie denn damit sagen? Mein-ten Sie, es sei verjährt? Oder wollten Sie damit sagen,dass er jetzt anders denkt? Entweder haben Sie nicht dieWahrheit gesagt oder sich zumindest geirrt; denn das Zi-tat stammt vom Oktober 2012. Lesen Sie das im sozial-demokratischen Vorwärts nach.Ich würde mit dem Mann kein Wort wechseln, ihmschon gar nicht einen einzigen Euro übergeben und mitihm auch keinen Vertrag schließen.
Gestern haben Swoboda-Leute den Programmdirektordes Fernsehens in Kiew zusammengeschlagen und zumRücktritt gezwungen, weil er die Rede von Putin doku-mentiert hat. Der Hauptschläger ist im Parlament Mit-glied des Ausschusses für Pressefreiheit.Am 9. Februar 1990 hat US-Außenminister Baker zuGorbatschow gesagt, die NATO werde sich keinen Inchnach Osten ausdehnen. Frau Merkel, Sie und ich säßenheute vielleicht nicht hier im Bundestag, Herr Gauckwäre vielleicht nicht Bundespräsident, wenn die NATOdiese Zusicherung nicht gegeben hätte. Der Preis vonGorbatschow für die deutsche Einheit und die Zugehö-rigkeit ganz Deutschlands zur NATO war der Verzichtauf die Ostausdehnung der NATO; auch Genscher hattedas zugesichert. Diese Vereinbarung haben Sie verletzt.
Im Übrigen hat Gorbatschow vielleicht etwas mehr fürdie deutsche Einheit getan als die britische Regierung,wenn ich daran einmal erinnern darf.Aus der NATO wurde ein Interventionsbündnis, undzwölf Staaten des ehemaligen Ostblocks wurden aufge-nommen: Tschechien, Polen, Ungarn, Estland, Lettland,Litauen, Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien,Albanien und Kroatien.
– Ich habe nicht bestritten, dass sie beitreten wollten; dasweiß ich. Aber die NATO wollte das auch, sonst wäredieser Beitritt nicht zustande gekommen.
Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wollten dieUSA das NATO-Gebiet auch auf Georgien und dieUkraine ausdehnen – die wollten das vielleicht auch –,aber da hat die Bundesregierung Nein gesagt, in den an-deren Fällen nicht. Immerhin das haben Sie verhindert.Putin sagte auf dem Gipfel in Bukarest wörtlich Fol-gendes – ich zitiere –:Das Entstehen eines mächtigen Militärblocks anunseren Grenzen würde in Russland als direkte Be-drohung der Sicherheit unseres Landes betrachtetwerden.Warum wurde daran nicht gedacht, warum von vorn-herein das Gezerre um die Ukraine, entweder zur EUoder zu Russland? Nie wurde begriffen, dass die Ukraineeine Brücke zwischen der EU und Russland sein muss.
Jetzt sage ich Ihnen ganz schnell die Lösungen.Erstens. Lassen Sie den Unsinn mit den Sanktionen.Eine neue Spirale und weitere Zuspitzungen bringennichts. China macht da nicht mit; das ist für Russlandviel wichtiger. Sie müssen diese Sanktionen eines Tagessowieso wieder zurücknehmen. Das wird eher peinlich.Zweitens. Keine Abkommen und Verträge mit dieserÜbergangsregierung, sondern Unterstützung bei der Vor-bereitung und Beobachtung demokratischer Wahlen inder Ukraine. Erst dann, mit legitimer Regierung undohne Faschisten, können Verhandlungen geführt werden.
Drittens. Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine mussausgeschlossen werden.Viertens. Der Status der Ukraine als Brücke zwischenEU und Russland ginge auch mit einer Perspektive derMitgliedschaft der Ukraine in der EU, wenn sie auch mitRussland ausgehandelt ist und wir insgesamt eine Zu-sammenarbeit vereinbaren können.Fünftens. Russland bleibt aufgefordert, auf weiteremilitärische Drohungen und Androhungen, erst recht aufdie Anwendung von Gewalt, in der Ukraine und an-derswo zu verzichten und die Ukraine als souveränenStaat anzuerkennen. Das muss mit einer klaren, positi-ven Perspektive der Beziehungen zu Russland seitensder EU und seitens Deutschlands verbunden sein,
und zwar mit Russland als Bestandteil Europas und nichtaußen vor.Sechstens. Faschistische Organisationen und Parteiensowie paramilitärische Einheiten und andere illegale be-waffnete Formationen in der Ukraine sind aufzulösen.Das staatliche Gewaltmonopol muss durchgesetzt wer-den. Darauf müssen Sie bestehen, bevor Sie ihnen eineneinzigen Euro überweisen oder Verträge mit ihnen ab-schließen.
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege ThomasOppermann das Wort.
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1762 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemandzweifelt daran, dass sich dieser Gipfel neben den wichti-gen wachstums- und wirtschaftspolitischen Fragen miteiner der schwersten Krisen befassen muss, die es in denletzten Jahrzehnten auf unserem Kontinent gegeben hat.Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat in Eu-ropa ein Staat eigenmächtig seine Grenzen neu definiertund einen Teil des Gebietes eines anderen Staates unterVerstoß gegen das Völkerrecht annektiert. Das zeigt,dass die europäische Friedensordnung alles andere alsselbstverständlich ist, und es zeigt, dass wir jetzt allesdafür tun müssen, dass wir nicht in die Denkmuster undHandlungsstrukturen des Kalten Kriegs zurückfallen.Dieser Konflikt darf nicht weiter eskalieren.
Deshalb bin ich froh, dass die Bundeskanzlerin undder Bundesaußenminister so entschieden und so beson-nen agieren. Ihrer Umsicht und ihrem klaren Kurs ist eszu verdanken, dass das Blutvergießen auf dem Maidangestoppt werden konnte und dass die Gewalt in derUkraine nicht weiter ausgeufert ist. Dafür möchte ich Ih-nen im Namen der SPD-Fraktion ganz herzlich danken.
In seiner Rede am Dienstag hat Wladimir Putin dieRussen als „das größte geteilte Volk der Welt“ bezeich-net. Damit bezieht er sich ganz offensichtlich auf dierussischen Minderheiten in den Nachfolgestaaten derSowjetunion. Wenn sich hinter diesen Worten aber eineneue Putin-Doktrin nach dem Motto „Überall wo Russenleben, ist auch Russland“ verbergen sollte, dann ver-hieße das nichts Gutes.
Denn das liefe auf ein automatisches Interventionsrechthinaus, sobald Wladimir Putin die Interessen im Auslandlebender Russen bedroht sieht. Ein solches Recht gibt esnicht, meine Damen und Herren. Ein solches Recht kannes gar nicht geben.
Wladimir Putins Rede war aber auch ambivalent. Ersucht förmlich nach Argumenten, um das Referendumauf der Krim und die anschließende Annexion durchRussland zu rechtfertigen. Überzeugend war das nicht.Unsere Haltung ist eindeutig: Die faktische Besetzung,das eilige Referendum und die Annexion der Krim sindnach Auffassung der internationalen Staatengemein-schaft klar verfassungswidrig; sie sind völkerrechtswid-rig, und sie sind politisch brandgefährlich.
Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung das Er-gebnis des Referendums und die Annexion nicht aner-kennt.Das Referendum verstößt gegen ukrainisches Verfas-sungsrecht. Weder die alte noch die neue Verfassung er-lauben ein Referendum in einem Landesteil ohne Be-rücksichtigung der Interessen des Zentralstaates. ImÜbrigen hat das Referendum unter der Bedingung einerBesatzung und mit der klaren Absicht Russlands stattge-funden, sich die Krim einzuverleiben, und dies, obwohlRussland in Verträgen mehrfach die bestehenden Gren-zen und die politische Unabhängigkeit der Ukraine zuge-sichert hat: im Budapester Memorandum von 1994 wieauch im bilateralen Vertrag von 1997.Insbesondere der Bruch des Budapester Memoran-dums ist verheerend, weil es der Ukraine expliziteSicherheitsgarantien im Gegenzug für die Rückgabe ih-rer Atomwaffen gab.
Russland war einer der Signatarstaaten. Wie wollen wirjemals wieder einen Staat zum Verzicht auf seine Nu-klearwaffen bewegen, wenn solche Garantien das Papiernicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind?
Wladimir Putin praktiziert das Recht des Stärkeren.Er nutzt seine militärische Übermacht für die Einverlei-bung eines fremden Staatsgebietes. Die Annexion isteindeutig völkerrechtswidrig. Das sieht auch der Sicher-heitsrat der Vereinten Nationen so, und Sie ja auch, HerrGysi. Aber wenn Sie dann den Völkerrechtsbruch, derdort begangen worden ist, mit Hinweis auf tatsächlicheoder angebliche Völkerrechtsverstöße durch andere rela-tivieren, dann finde ich das allerdings unerträglich. Daszeigt, dass Ihre Kritik nicht ernst gemeint ist.
Große Sorge bereitet auch Russlands Begründung fürdieses Vorgehen. Es beruft sich auf den Willen der aufder Krim lebenden russischen Bevölkerung und geriertsich damit als deren Schutzmacht. Dass Grenzen unterBerufung auf den Schutz von Minderheitenrechten undauf ethnische Gesichtspunkte neu gezogen werden, istnicht akzeptabel. Das internationale Recht stellt dafürangemessenere Mittel zur Verfügung. Eigentlich solltegerade Russland wissen, welche Folgen sein bisherigesVorgehen für einen Vielvölkerstaat haben kann. Die dor-tigen Ethnien werden die Entwicklung auf der Krim sehrgenau beobachten und sich hierauf berufen. WladimirPutin, spätestens aber sein Nachfolger, wird mit denGeistern, die er rief, fertig werden müssen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1763
Thomas Oppermann
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Deshalb können wir nicht einfach zur Tagesordnungübergehen. Wir können nicht sagen: Das Völkerrechtund die Souveränität der Ukraine sind uns egal.Die jetzt verhängten Sanktionen sind eindeutig undangemessen. Wir reden nicht über Sanktionen, wie sievor 20 Jahren in Form umfassender Handelsembargosverhängt worden sind, unter denen vor allem die Zivilbe-völkerung leiden musste; das kann nicht unser Ziel sein.Wir reden heute über sogenannte Smart Sanctions, diesich ganz gezielt gegen einzelne Entscheidungsträgerrichten. Die jetzigen Sanktionen auf der Stufe 2 nehmendie russische Bevölkerung nicht in Mithaftung für dasHandeln ihrer politischen Führung. Aber sie können einsehr wirkungsvolles Instrument sein, wenn sie sich ge-gen politische Entscheidungsträger und oligarchischeEliten dieses Landes richten. Deshalb begrüßen wirdiese Schritte.
Herr Kollege Oppermann, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Hänsel?
Ja, bitte.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Oppermann, Sie
haben gerade darüber gesprochen, wie man mit Völker-
rechtsbruch umgeht. Die SPD war in der Regierung, als
der Irakkrieg von den USA begonnen wurde, ein völker-
rechtswidriger Krieg mit Lügen begründet. Auch Angela
Merkel hat sich damals für eine Beteiligung der Bundes-
republik eingesetzt. Wie sind Sie denn mit diesem Völ-
kerrechtsbruch umgegangen, und welche Sanktionen ha-
ben Sie gegen die USA und ihre Koalition der Willigen
wegen dieses massiven Völkerrechtsbruchs beschlossen,
der Hundertausende Tote zur Folge hatte? Der Irak ist
bis heute ein zerschlagenes Land. Meine Frage lautet:
Welche Sanktionen gibt es? Welche Konsequenzen ha-
ben diejenigen, die für diesen völkerrechtswidrigen
Krieg verantwortlich sind, zu tragen?
Ich denke, Sie werden noch in Erinnerung haben, dassBundeskanzler Schröder und die damalige rot-grüneMehrheit des Deutschen Bundestages diesen Krieg ein-deutig verurteilt und eine Teilnahme an diesem Kriegverweigert haben
und dafür eine sehr kritische und schwierige Phase inden Beziehungen zu unserem wichtigsten Bündnispart-ner in Kauf genommen haben.
Im Übrigen haben wir keine Sanktionen verhängt, weildie amerikanischen Militärs nach meiner Kenntnis keineGebiete des Irak annektiert oder dauerhaft besetzt haben.Inzwischen sind die Truppen abgezogen, und das istauch gut so.
Ich will zu den Sanktionen Folgendes sagen: Es mussklar sein, dass dann, wenn Russland nicht einlenkt undweitere Teile der Ukraine bedroht, weitere Maßnahmenunausweichlich sind. Wir sind uns bewusst, dass Sank-tionen auch eine Gefahr für die eigene Wirtschaft dar-stellen können. Niemand wünscht sich das. Dennoch istes richtig, dass die Option schärferer Sanktionen aufdem Tisch bleibt. Ich bin dem BDI-Präsidenten, UlrichGrillo, für seine klaren Worte vom vergangenen Freitagdankbar. Er hat zwar seine Vorbehalte gegen Wirt-schaftssanktionen offen angesprochen, aber zugleichklargemacht, dass das Völkerrecht über allem steht unddass Wirtschaftssanktionen eine Frage der Politik sind.Dass führende Vertreter der deutschen Wirtschaft so ver-antwortungsvoll argumentieren und die Einhaltung undDurchsetzung internationalen Rechts über ihre eigenenwirtschaftlichen Interessen stellen, ist sehr gut und einverantwortungsvolles Zeichen.
Gerade deshalb kommt der Politik an dieser Stelleeine besondere Verantwortung zu. Staatliche Sanktionen,seien sie wirtschaftlicher Natur oder nicht, müssen soausgestaltet sein, dass sie diplomatische Lösungen nichtbehindern. Es darf keinen Automatismus zu einer Sank-tionsspirale geben. Für eine politische Bearbeitung desKonflikts mit Russland darf es niemals zu spät sein.
Im Übrigen müssen wir selbstverständlich bedenken,dass Russland auch in Zukunft als internationaler Ver-handlungspartner gebraucht wird. Es gibt Konfliktherdewie den anhaltenden Bürgerkrieg in Syrien oder dieAtomverhandlungen mit dem Iran, die ohne MitwirkungRusslands kaum zu lösen sind.Das vorrangige Ziel muss es jetzt sein, die weitereDestabilisierung der Ukraine im Osten und im Süden zuverhindern. Die Gefahr einer militärischen Konfronta-tion zwischen russischen und ukrainischen Streitkräftenbesteht nach wie vor. Gestern hat es die ersten Toten ge-geben. Wladimir Putin hat am Dienstag erklärt: Wir wol-len keine Teilung der Ukraine; wir brauchen das nicht.
Wir werden ihn beim Wort nehmen. Deshalb ist esrichtig, dass jetzt auf Vorschlag der Bundesregierung
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1764 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Thomas Oppermann
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eine OSZE-Beobachtermission prüfen soll, ob es Aktivi-täten im Süden und Osten der Ukraine gibt, die zu einerDestabilisierung führen können. Eine solche Missionkönnte einen Wiedereinstieg in einen politischen Prozessermöglichen. Ich hoffe sehr, dass das gelingt.
Wir haben aber auch klare Forderungen an die ukrai-nische Regierung, auch wenn sie es im Augenblick sehrschwer hat. Sie muss die Rechte aller nationalen Minder-heiten achten und aktiv schützen. Niemand darf sich inder Ukraine als Bürger zweiter Klasse fühlen.
Ich bin deshalb froh, dass das geplante Sprachengesetzgestoppt wurde. Es hat unnötig Ängste geschürt und dieSpannungen verschärft.Weiterhin muss die Regierung die militanten Gruppenentwaffnen und das staatliche Gewaltmonopol durchset-zen. Antisemitismus und Rechtsextremismus dürfen inder neuen Ordnung der Ukraine keinen Platz haben.
Rechtsextremes und nationalistisches Denken wollenwir nicht in Europa, nicht in Deutschland und auch nichtin der Ukraine.
Schließlich muss die ukrainische Regierung die Ar-beit an einer neuen Verfassung, wie das in der Verständi-gung vom Februar vorgesehen war, vorantreiben, und siemuss die Verbrechen auf dem Maidan lückenlos aufklä-ren.Ich will zum Schluss noch etwas zu den angekündig-ten Hilfen der EU und des IWF sagen. Ich begrüße sehr,dass diese Hilfen jetzt auf den Weg gebracht werden.Aber die Programme haben eine ganz entscheidende Vo-raussetzung: Das Geld muss für den Aufbau des Landesund für öffentliche Aufgaben eingesetzt werden.
Es darf nicht in den privaten Taschen korrupter Macht-eliten verschwinden. Die Menschen in der Ukraine wol-len, dass die Korruption endlich aufhört in diesem Land.
Wenn die Ukraine am Freitag den politischen Teil desEU-Assoziierungsabkommens unterschreibt, dann ver-pflichtet sie sich zur Einhaltung von mehr Rechtsstaat-lichkeit. Das ist richtig; denn nur eine rechtsstaatlicheund demokratische Ukraine wird stark genug sein, dieHerausforderungen der nächsten Tage, Wochen und Mo-nate zu bewältigen.Die Vorschläge zur Regelung des Konflikts liegen aufdem Tisch. Jetzt ist es an Russland, auf diese Vorschlägeeinzugehen. Jetzt geht es darum, den politischen Dialogwieder in Gang zu bringen. Ich wünsche der Bundes-kanzlerin und dem Außenminister auf dem jetzt anste-henden Gipfel eine glückliche Hand für die ganz sichernicht einfachen Verhandlungen.Vielen Dank.
Anton Hofreiter ist der nächste Redner für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine mutige Bürger-bewegung hat in der Ukraine eine Regierung gestürzt,die für Korruption und Unfreiheit stand. Ein Teil derMenschen, die das gemacht haben, hat dafür einen ex-trem hohen Preis bezahlt, den höchsten Preis, den mansich vorstellen kann; denn diese Menschen haben mit ih-rem Leben dafür bezahlt. Das verdient unsere Solidaritätund unsere Unterstützung.
Die Menschen in der Ukraine haben es verdient, dassalle anderen Länder um sie herum ihre demokratischenEntscheidungen achten, dass alle anderen Länder um sieherum darauf achten, in welche Richtung sich dieUkraine entwickeln will, und dass sie darauf achten, dassdie Ukraine kein geostrategisches Spielfeld ist, das manin die eine oder andere Richtung zerren kann. Das istvon großer Bedeutung.
Die russische Regierung tritt mit der Annexion derKrim das Völkerrecht mit Füßen. Hier herrscht nicht dasRecht, sondern das Unrecht des Stärkeren. Für jeden,dem an friedlichen Konfliktlösungen gelegen ist, dem anAbrüstung gelegen ist, der dafür kämpft, dass es in derWelt weniger Atomwaffen gibt, ist diese Entwicklungganz besonders bitter. Denn die Ukraine war eines derersten Länder, die freiwillig auf Atomwaffen verzichtethaben. Dafür gab es eine Reihe von Garantiestaaten. Ei-ner dieser Garantiestaaten war Russland.
Insofern geht es hier nicht nur um das Völkerrecht alssolches; vielmehr hat Russland explizit die Unabhängig-keit, die Freiheit und die territoriale Integrität derUkraine garantiert. Bei allem Streit, ob das russischeVorgehen völkerrechtswidrig war, ist das ein ganz klarerBruch dieses Vertrages. Das muss jeden ganz besondershart treffen, der wirklich für friedliche Lösungen eintritt.Es muss besonders scharf verurteilt werden, was Russ-land da gemacht hat.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1765
Dr. Anton Hofreiter
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Es ist wichtig, dass es Europa gelingt, mit einer Stimmezu sprechen. Es ist wichtig, dass wir auf die russischeRegierung einwirken – sowohl diplomatisch als auchwirtschaftlich –, dass sie ihren Kurs ändert.So wichtig es ist, dass man da einwirkt und entspre-chend Druck ausübt: Wir wissen andererseits, dass nie-mandem daran gelegen sein kann, dass es zu einer weite-ren Eskalation kommt. Die Situation ist brandgefährlich.Es gab bereits erste Tote. Umstritten ist, was die Ursachedafür war. Eine zentrale Aufgabe der europäischen Au-ßenpolitik ist es, eine weitere Eskalation auf der Krim zuverhindern. Jeder Schritt, den wir tun, muss deeskalie-rend wirken. Deshalb sind Reaktionen, die nervös oderhysterisch wirken, falsch. Schnellschüsse, auch solchepolitischer Natur, können am Ende Menschenleben kos-ten. Folglich ist es wichtig, dass wir klug und abgewo-gen reagieren.
Wir Grüne unterstützen den Dreistufenplan der EU.Wir Grüne sind fest davon überzeugt, dass das Zündender zweiten Stufe richtig war. Jetzt sagen viele: Das hilftalles nichts. Putin ist mit der Annexion der Krim vorge-prescht. Das beeindruckt die russische Regierung über-haupt nicht. – Aber besonnene Reaktionen sind in einerso schwierigen Krise klug. Will denn irgendjemand for-dern, dass man auf Putin’sches Großmaulheldentum mitgleicher Münze reagiert? Das ist doch keine europäischeArt der Politikgestaltung.
Aber man muss sich klarmachen, dass Putin und dierussische Regierung trotzdem unbeirrt an ihrem Kursfesthalten. Deshalb ist es wichtig, weitere Schritte zu er-wägen, wie man auf die russische Regierung erfolgreicheinwirken kann.Einen ersten kleinen Schritt gab es bereits: Der Ex-port eines Gefechtsübungszentrums wurde abgesagt.Aber das reicht nicht. Schauen wir uns an, wie vieleWaffen allein Deutschland nach Russland exportiert hat:2011 für 140 Millionen Euro, 2012 für 40 MillionenEuro. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir brauchen einWaffenembargo in Richtung Russland.
Schluss sein muss auch mit dem achselzuckenden Da-rüber-Hinweggehen, dass Investoren, Oligarchen ausRussland – zum Teil steckt Gazprom dahinter, zum Teilstecken andere Putin-nahe Investoren dahinter – in gro-ßem Umfang Energieinfrastruktur, offensichtlich sogarzu überhöhten Preisen, ausgerechnet jetzt in Deutsch-land aufkaufen. Die Regierung tut so, als wenn sie damachtlos wäre. Erstens stimmt das nicht, und zweitensist es jetzt an der Zeit, das Außenwirtschaftsgesetz zubenutzen und dafür zu sorgen, dass das Erpressungs-potenzial nicht noch höher wird. Das heißt: Stoppen Siediese Art von Politik!
Es ist allerdings auch von großer Bedeutung, dass wirvon Energieimporten insgesamt unabhängiger werden.Deshalb ist es schlichtweg falsch, was die Bundesregie-rung gerade macht: Sie würgt die Energiewende ab, siestoppt die Energiewende.
Es ist grundfalsch, in welche Richtung sich die Klima-politik auf EU-Ebene gerade bewegt, nämlich dahin,Klimaziele abzuschwächen, so zu tun, als wenn die Kli-makatastrophe nicht stattfinden würde. Selbst wenn Ih-nen der Klimaschutz und das Überleben zukünftiger Ge-nerationen nicht so wichtig sind:
Sie müssten doch wenigstens erkennen, dass es wichtigwäre, wie sich anhand dieser Krise zeigt, von Importenfossiler Rohstoffe unabhängiger zu werden.
Wenn Sie zum EU-Gipfel gehen: Sorgen Sie dafür,dass es wieder eine koordinierte Energiepolitik gibt!Frau Merkel, Sie haben selber davon gesprochen, dasswir einen Energiebinnenmarkt brauchen, dass wir einekoordinierte Energiepolitik brauchen. Und was machenSie? Sie machen das Gegenteil! Früher gab es vernünf-tige Ziele – sie waren zwar schwach, aber immerhin vor-handen – für den Ausbau erneuerbarer Energien auf EU-Ebene für die einzelnen Länder. Sie haben zugelassen,dass das gestrichen wurde. Was soll denn das Ganze?Wohin wollen Sie denn damit kommen? Am Ende wirdFrankreich wieder auf Atom setzen, wird Großbritannienauf Atom setzen; andere Staaten – wie Polen – setzenstark auf fossile Energieträger. Das erhöht doch nur dieAbhängigkeit von Importen aus Krisenländern. AuchUran muss importiert werden. Steinkohle muss weitge-hend importiert werden. Selbst bei Erdöl ist Russland ei-ner der größten Exportstaaten, auch für uns. Schon alleinaus Unabhängigkeitsgründen, aus Klimaschutzgründen:Ändern Sie Ihren Kurs!Aber auch aus Wettbewerbsgründen sollten Sie IhrenKurs ändern. Sie haben viel von der Wettbewerbsfähig-keit gesprochen. Wenn die südlichen Krisenstaaten dieMöglichkeit hätten, Energie selbst zu erzeugen – Europaimportiert für 500 Milliarden Euro fossile Energieträ-ger –, dann hätten sie eine ausgeglichene Handelsbilanz.Es genügt nicht, von Wettbewerbsfähigkeit zu sprechen;man muss dafür sorgen, dass diese Staaten eine Perspek-tive haben. Eine Perspektive ist der Green New Deal,eine Perspektive sind erneuerbare Energien, und einePerspektive ist Energieunabhängigkeit; denn das stärktdie lokale Wirtschaftskraft.
Frau Merkel, ändern Sie Ihren Kurs in Bezug auf dieeuropäische Politik, was Banken angeht, was erneuer-
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1766 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Anton Hofreiter
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bare Energien angeht, was Klimaschutz angeht! Dannhätten Sie eine Chance, dass von den Zielen, von denenSie hier gesprochen haben, auch in der Realität etwasumgesetzt werden kann.Danke.
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Wir haben uns das Jahr 2014 beim Start etwas andersvorgestellt, als es jetzt in Wirklichkeit ist. Wir haben indiesem Jahr vor, Termine zum Gedenken an Ereignissewahrzunehmen, die wir in unserer Zeit nie mehr erlebenwollen. Ein Termin in diesem Jahr ist beispielsweise derBeginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Wir sagenin diesem Jahr: In diesen 100 Jahren haben wir gelernt,dass Konflikte nicht mehr militärisch bzw. mit Kriegenzu lösen sind. Die Antwort auf das, was wir im Erstenund Zweiten Weltkrieg erlebt haben, war, dass nicht dasRecht des Stärkeren gelten darf, sondern dass das Rechtdas Starke in der Welt sein muss.
Entsprechend wurde auch in der Charta der VereintenNationen formuliert.Jetzt erleben wir auf einmal, dass in Russland ganzanders argumentiert wird. Wenn wir in Europa nicht un-sere Lektion gelernt hätten, würde von der konkreten Si-tuation, wenn wir auf die Instrumente der letzten100 Jahre zurückgriffen, wieder eine große Kriegsgefahrausgehen. Dass Friede herrscht, hat nichts mit Russlandzu tun, sondern mit Europa, meine sehr verehrten Damenund Herren.
Deshalb ist es richtig, was die Bundesregierung, ins-besondere die Bundeskanzlerin und der Bundesaußen-minister, in den letzten Wochen gemacht haben. Ich kannnur sagen: Die Regierungserklärung der Bundeskanzle-rin am letzten Donnerstag hat gezeigt, dass der überwie-gende Teil dieses Hauses, mal von den Linken abgese-hen, genau hinter dieser Politik steht. Ich bin dankbar,dass wir eine so klare Position im Deutschen Bundestaghaben.
Der Respekt, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundes-außenminister, kommt nicht nur aus dem Bundestag,sondern auch aus der Breite der Bevölkerung und – derKollege Oppermann hat es angesprochen – aus der deut-schen Wirtschaft. Nicht nur der Präsident des BDI sagtdas, sondern auch Präsident Schweitzer hat gestern aufder großen Tagung der Industrie- und Handelskammernin Deutschland unter Beifall erklärt, dass der Kurs derBundesregierung in Ordnung sei.
Wirtschaftssanktionen könnten natürlich auch für sieschmerzhaft sein; aber nichts sei schmerzhafter, als derWillkür ausgeliefert zu sein. Deshalb müsse man sichhinter das Recht stellen. Auch das sei ein wichtiger As-pekt für Investitionen unserer deutschen Wirtschaft.
Wir sind der Wirtschaft außerordentlich dankbar für die-ses Verständnis.Wir haben natürlich auch darauf zu achten – daraufhat die Bundesregierung mehrfach hingewiesen –, dasswir in dieser konkreten Situation Europa zusammenhal-ten. Nichts wäre schlimmer, als wenn Putin auch nochden Erfolg hätte, dass wir uns in Europa über die not-wendigen Maßnahmen zerstreiten. Deswegen wird aufdem europäischen Gipfel, der heute beginnt, sehr vielabhängen von der Botschaft: Wir in Europa stehen zu-sammen. – Es könnte insbesondere auch eine Botschaftsein, dass dieses Europa bei allen Schwierigkeiten, diewir haben – ich komme nachher noch kurz darauf zusprechen –, für uns nicht nur eine Veranstaltung vonEuro und Cent ist, sondern dass dieses Europa für unsauch eine Werte-, eine Schicksalsgemeinschaft und ei-nen Garant für Friedenssicherung darstellt, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Dieses Europa hat ganz offenkundig eine enorme An-ziehungskraft. Es gibt viel mehr, die zu Europa wollen,als wir uns im Augenblick vorstellen können in Europaverkraften zu können. So war es auch nach dem Fall vonMauer und Stacheldraht, als sich die Länder und Men-schen in neuer Freiheit überlegt haben, wohin sie sichorientieren wollen.Jetzt muss ich die linke Seite, Herr Gysi, an Folgen-des erinnern: Es ist doch unbestritten, auch bei Ihnen,dass es nach internationalem Recht ein Selbstbestim-mungsrecht der Völker und ein Selbstbestimmungsrechtder Menschen gibt. Dieses Selbstbestimmungsrechtkann auch nicht von Russland eingegrenzt werden.Wenn sich Länder, die zu Europa gehören, für die Euro-päische Union frei entscheiden, dann kann dies von kei-nem anderen Land sanktioniert werden. Wo kommen wirsonst hin in dieser Welt, meine sehr verehrten Damenund Herren?
Es war nicht Europa, sondern es waren Bulgarien,Rumänien, Polen und die baltischen Staaten, die ihre Zu-kunft nicht nach Osten zugewandt gesehen haben, son-dern zur Europäischen Union.
Vielleicht sollte den jetzigen Machthabern in Russlandein bisschen zu denken geben, warum die einen attraktivund die anderen weniger attraktiv sind.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1767
Volker Kauder
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Trotz dieses Rechtsbruchs, den wir so nennen müssenund nicht unbeantwortet lassen dürfen, ist klar, dass dienotwendigen Maßnahmen mit Augenmaß getroffen wer-den müssen. Das haben die Europäische Union und dieBundesregierung bisher auch gezeigt.Ich bin mir nicht sicher, ob der jetzige Zustand dasEnde der Entwicklung bedeutet. Deshalb müssen wir dieweitere Entwicklung sehr aufmerksam verfolgen. Klarist auch, dass wir die Ukraine nicht nur finanziell unter-stützen müssen, sondern dass wir sie auch beraten undihr helfen müssen, in dieser schwierigen Situation mehrStabilität zu gewinnen und – Sie haben völlig recht, HerrKollege Oppermann – eine Regierung zu bilden, dieauch demokratischen und rechtsstaatlichen Werten, diewir in Europa haben, entspricht. Das alles muss auf denWeg gebracht werden – eine Herkulesaufgabe.Als wir die Große Koalition gebildet haben, hat nie-mand daran gedacht, dass wir wieder einmal – wie beiden letzten Regierungen – große Herausforderungen undAufgaben bekommen, an die wir zunächst einmal garnicht gedacht haben. Bei der Lösung dieser Aufgaben– davon bin ich hundertprozentig überzeugt – wird sichauch diese Koalition bewähren müssen, und sie wirdsich bewähren.
Der bevorstehende europäische Gipfel steht aber auchunter der Frage: Wie können Wettbewerbsfähigkeit undwirtschaftliche Stärke in Europa hergestellt, wiederge-wonnen und auch weiterverfolgt werden? Ich bin außer-ordentlich dankbar dafür, dass sich die Kommission inihren letzten Stellungnahmen klar und deutlich dahin ge-hend positioniert hat, dass die Stärke Deutschlands keineSchwäche Europas bedeutet. Ganz im Gegenteil: Wennich daran denke, was wir für Europa finanziell leisten, somacht es keinen Sinn, die Starken schwach zu machen,sondern es macht nur Sinn, die Schwachen stark zu ma-chen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deshalb ist der Weg, Wettbewerbsfähigkeit in Europaherzustellen, richtig. Dass dieser Weg, der durchaus um-stritten war und bei dem es andere Vorstellungen gab,richtig ist, zeigt sich – die Bundeskanzlerin hat es bereitsangesprochen –, wenn wir die Entwicklungen in Irland,Portugal und Spanien sehen.
Es war völlig richtig, Anstrengungen zu verlangenund Reformmaßnahmen umzusetzen. Wir in Deutsch-land als wirtschaftlich stärkste und federführende Kraftin Europa müssen bei allem, was wir tun, immer vor Au-gen haben, dass wir Verantwortung dafür tragen, dass dieReformfähigkeit in Europa nicht nachlässt. Wir müssenmit unserer Regierungsarbeit gute Beispiele setzen undimmer darauf achten, Dinge, die wir in Bezug aufEuropa eigentlich richtig machen könnten, nicht falschzu machen.
Das gilt auch für die Energiepolitik. Wir müssen dafürsorgen, dass wir auf unserem Weg, Industriestaat und er-neuerbare Energien erfolgreich miteinander zu verbin-den, weiter vorankommen.Herr Hofreiter, ich kann Ihnen nur raten, dass Sie sicheinmal genau anschauen, was die Bundesregierung imBereich der erneuerbaren Energien wirklich macht.
Selten habe ich einen führenden Politiker einer Fraktionso mit seiner Argumentation danebenliegend erlebt wieSie gerade an diesem Rednerpult.
Es geht darum, dass wir die erneuerbaren Energienvoranbringen. Dazu, Herr Hofreiter – hören Sie gut zu –,können und müssen Sie einen Beitrag leisten. Wenn je-mand dabei ist, den Ausbau der erneuerbaren Energienzu erschweren und zu problematisieren,
dann ist es der eine oder andere Hinweis auch aus grünregierten Bundesländern, die wir im Bundesrat für denAusbau der erneuerbaren Energien brauchen. Leisten SieIhren Beitrag bei diesem Thema also nicht durch Blo-ckieren, sondern durch Mitmachen! Wir werden in dennächsten Wochen und Monaten sehen, ob Sie das tun.
– Sie sollten sich einmal um Ihren Verein kümmern. Umunseren können wir uns schon allein kümmern. Dafürbrauchen wir Sie nicht; das kann ich Ihnen sagen.
Natürlich müssen wir in der Übergangsphase, in derwir die erneuerbaren Energien fest verankern wollen, dieWettbewerbsfähigkeit von strom- und energieintensivenFirmen erhalten. Deswegen bin ich der Bundesregierungaußerordentlich dankbar dafür, dass sie so intensiv mitder Europäischen Kommission verhandelt. Die Europäi-
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1768 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Volker Kauder
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sche Kommission riskiert nicht nur die Wettbewerbsfä-higkeit von einzelnen Branchen bei uns in Deutschland.Was viel schlimmer wiegt und den Einsatz der Bundes-regierung umso notwendiger macht, ist, dass mit demKurs der Europäischen Kommission der Weg in die er-neuerbaren Energien in ganz Europa erschwert wird. Wirwollen nicht mehr Kernkraft in Frankreich. Aber dannmuss der Weg der Unterstützung der Implementierungder erneuerbaren Energien in Deutschland auch weiterbeschritten werden. Dazu kann ich die EuropäischeKommission nur auffordern.
Wenn Länder in Europa, die sich auf den Weg ma-chen, die erneuerbaren Energien stärker auszubauen, vonder Europäischen Kommission den Hinweis bekommen,dass dies wettbewerbsschädigend sein kann, dann istdies verheerend. Deswegen muss dieser Weg gemeinsammit der Europäischen Kommission angegangen werden.Die Kommission trägt Verantwortung für Wachstum undnicht für Stillstand in Europa.
Ein letzter Hinweis. Neben der Situation in derUkraine und der Wettbewerbsfähigkeit in Europa ist dasThema Afrika ein weiterer Schwerpunkt. Die Bundes-regierung – das habe ich jetzt gesehen, Herr Bundes-außenminister – trifft sich in diesen Tagen mit den Zu-ständigen
– oder hat sich getroffen –, um ein Afrika-Konzept zuentwickeln. Wir werden es sicher sehr bald in den Frak-tionen vorgelegt bekommen und beraten. Ich halte diesauch für notwendig. Die Bevölkerung Afrikas wächstschneller als die Bevölkerung Asiens. Wir haben inAfrika 1 Milliarde Menschen, und diese Zahl wird sichsehr rasch weiter vergrößern. Afrika ist wahrscheinlichder jüngste Kontinent überhaupt, und junge Menschenverlangen nach einer Perspektive, und dies auch zuRecht. Wenn wir nicht alle dazu beitragen, dass in Afrikaeine Perspektive für junge Menschen entsteht, dann wer-den die starken Jungen dorthin gehen, wo sie sich einePerspektive versprechen, und die schwächeren zurück-bleiben. Dies wird den Kontinent insgesamt nicht stär-ken.Insofern haben wir eine Verantwortung, in Afrika fürmehr Wachstum und Zukunftschancen zu sorgen. Daswird nur gehen, indem wir die Menschen in Afrika ernstnehmen, indem wir fragen, was sie wollen, und nicht nurvon außen einwirken, indem wir die Kräfte in Afrikastärken, sowohl die Kräfte in der Wirtschaft als auch dieKräfte, die für staatliche Ordnung und Sicherheit sorgen.Deswegen ist der Weg, den die Bundesregierung geht,genau richtig. Sie sagt: Wir schicken Ausbilder und Be-rater nach Afrika, die helfen, die dortigen Strukturen zustärken. Frau von der Leyen und Herr Bundesaußen-minister, genau dies ist der Weg in Afrika: keine Inter-ventionstruppen einzusetzen, sondern Hilfsangebote zumachen und Unterstützungsmaßnahmen umzusetzen.Auf diesem Weg wünsche ich uns allen viel Erfolg.Die Kraft Europas, der Europäischen Union – Friede,Wirtschaft, Stabilität, Zukunftschancen – brauchen wirjetzt in der Diskussion über die Ukraine und Russland.Diese Kraft muss auch wirken, wenn entsprechendeMöglichkeiten in Afrika genutzt werden sollen. Ichglaube, dass wir eine Menge Aufgaben vor uns haben.Wenn das ganze Haus – da habe ich bei der einen oderanderen Frage meine Zweifel – oder der größte Teil die-ses Hauses hinter diesem Konzept steht,
dann wird das gut für unser Land und für die Welt sein.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Norbert
Spinrath für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierungund der überwiegende Teil dieses Hauses haben klareBotschaften zur Situation in der Ukraine gesendet: DieUnabhängigkeitserklärung der Krim in der vergangenenWoche und das dann folgende Referendum verstoßengegen die Verfassung der Ukraine; das Ergebnis und des-sen Folgen dürfen von der internationalen Staatenge-meinschaft keinesfalls anerkannt werden.
Die perfide eingeleitete Annexion der Krim durch Russ-land verstößt gegen das Völkerrecht.Der russische Staatspräsident Putin hat mit seinerRede am vergangenen Dienstag in Moskau Öl ins Feuergegossen und stellt den in den letzten 25 Jahren nachdem Zerreißen des Eisernen Vorhangs gewachsenen Zu-sammenhalt Europas auf eine Art und Weise infrage, diewir längst überwunden zu haben glaubten. Ja, er löst da-mit Verunsicherung, gar Angst in vielen Staaten Ost-europas aus, in denen viele russischstämmige Bürger le-ben.Die Europäische Union hat in Reaktion darauf Sank-tionen beschlossen, die Russland dazu bringen sollen, anden Verhandlungstisch zurückzukehren. Zur Notwendig-keit von Sanktionen hat mein Fraktionsvorsitzender,Thomas Oppermann, alles gesagt; ich unterstütze dasnachdrücklich. Beim heutigen EU-Gipfel gilt es auch,den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mitder Ukraine zu unterschreiben und ein Hilfspaket derEuropäischen Union und des IWF für die Ukraine aufden Weg zu bringen. Dies darf aber keinesfalls, liebeKolleginnen und Kollegen, zu einer Entweder-oder-Ent-scheidung führen. Vielmehr muss der Ukraine die Op-tion eines Sowohl-als-auch erhalten bleiben, also die
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Norbert Spinrath
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Option einer Zusammenarbeit mit der EuropäischenUnion und mit Russland.
Das Hilfspaket trägt in erheblichem Maße zur Stabili-sierung der Situation in der Ukraine bei. Die Ukrainedarf nicht allein gelassen werden. Die Reste an staatli-cher Ordnung dort dürfen nicht aufgrund von Zahlungs-unfähigkeit zusammenbrechen. Die wirtschaftlicheGrundlage für das Leben der Menschen muss erhaltenbleiben. Genau dieselbe Bevölkerung, die sich monate-lang in überwiegend friedlichen Protesten ihren Weg zurFreiheit und Souveränität erkämpfen wollte, darf in derUkraine nicht zum wirtschaftlichen Opfer werden.
Die Auszahlungen des Hilfspakets müssen an eindeu-tige Bedingungen geknüpft werden. Das heißt für michinsbesondere, dass die Konditionen des von den Außen-ministern des Weimarer Dreiecks vermittelten Abkom-mens vom 21. Februar schnellstmöglich eingelöstwerden müssen: Entwaffnung von Milizen, Präsident-schaftswahlen am 25. Mai, Bildung einer Übergangsre-gierung der nationalen Einheit und vor allen Dingen einezügige Verfassungsreform. Aus meiner Sicht müssen da-ran anschließend ganz schnell Neuwahlen des Parla-ments durchgeführt werden. Daneben ist es unerlässlich,die Verwaltung neu aufzubauen, und zwar basierend aufden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, und die überbor-dende Korruption zu bekämpfen.Die Inkraftsetzung des politischen Teils des Assoziie-rungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine istkein zwingender Bestandteil der Hilfsangebote. Den-noch ist es ein notwendiges Fundament, weil sie aufRechtsstaatlichkeit verpflichtet, Reformpakete auferlegtwerden können und Vertrauen geschaffen werden kann.Ich sage aber auch ganz deutlich: Zur Stabilisierung dermaroden Staatsfinanzen der Ukraine müssen auch dieje-nigen herangezogen werden, die in den letzten Jahrenauf mehr als fragwürdige Weise, auf kriminelle Weise,das Volk geschädigt und rechtswidrig Vermögen ange-häuft und außer Landes geschafft haben.
In der Ukraine bedarf es dringend Reformen, die diesehemmungslose Selbstbedienung und das ungeheuerlicheAusmaß an Korruption in Zukunft verhindern. Die rück-sichtslose Ausbeutung des Volkes war nicht unmittelba-rer Auslöser, aber Beweggrund für die Protestbewegungauf dem Maidan.Wir sollten alles daransetzen, den Reformprozess inder Ukraine zu begleiten und zu unterstützen. Die Ver-hältnisse müssen sich grundlegend ändern, ansonstenwerden sich die Menschen irgendwann wieder auf denWeg machen, nämlich zum Maidan. Das sollte auchRussland zu denken geben. Die gestiegenen Populari-tätswerte des Staatspräsidenten werden schnell verblas-sen. Russland muss nun wieder zum politischen Dialogund zur Diplomatie zurückkehren, idealerweise in einerinternationalen Kontaktgruppe. Noch sind die Korridoredafür offen.Zum Schluss gebe ich zu bedenken, liebe Kolleginnenund Kollegen: Wenn die Menschen in Russland mit derZeit erkennen, dass sich ihre Regierung international insAbseits manövriert und isoliert hat, dann werden auchsie sich mehr und mehr Fragen stellen. Die Menschen inRussland werden sich nicht nur politisch, sondern auchwirtschaftlich als Opfer sehen. Sie werden merken, dassihnen die bisherige Politik schadet. Eine solche Zuspit-zung kann nicht im Interesse der russischen Regierung,erst recht nicht im Interesse der Menschen sein. Mit ei-ner solchen Zuspitzung läuft Russland Gefahr, dass viel-leicht auch seine Bürger eines Tages zu ihrem eigenenMaidan aufbrechen, dem Roten Platz in Moskau.
Marieluise Beck ist die nächste Rednerin für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte zunächst den verehrten Josef Zissels begrüßen,der unsere Debatte auf der Tribüne verfolgt.
Er kommt aus der Ukraine und ist Vorsitzender desEuro-Asian Jewish Congress und damit Vertreter desDachverbandes von etwa 300 jüdischen Gemeinden.Ich möchte zu Beginn meiner Rede an den Satz an-knüpfen, Herr Spinrath, mit dem Sie geendet haben. Esgeht um die Furcht von Präsident Putin, dass sich die Er-eignisse auf dem Maidan eines Tages auch auf dem Ro-ten Platz abspielen könnten. Wie werden in den kom-menden Wochen und Monaten vermutlich erleben, dassalle russischen Demokraten, die in der russischen Zivil-gesellschaft arbeiten, einem zunehmenden Druck ausge-setzt sind, weil genau diese Furcht die Politik im Kremlmitbestimmt. Wir müssen doch ehrlich feststellen, dasswir alle fassungslos sind, mit welcher Kaltblütigkeit einSchritt vor den anderen gesetzt worden ist, während wirimmer wieder diplomatische Angebote unterbreitethaben. Es gab verschiedene Kompromissangebote, ver-schiedene Treffen und Gespräche – es gab Gesprächemit Lawrow, und die Kanzlerin hat mit Putin telefoniert –;trotzdem gab es gar keine Möglichkeit, Putin von diesemdramatischen Völkerrechtsbruch und einer Annexion,die es seit 1945 in Europa nicht mehr gegeben hat, abzu-bringen.
Ich möchte gerne noch einmal daran erinnern: Zu derÖstlichen Partnerschaft wurde Russland eingeladen.Hier, in diesem Haus, haben wir über Jahre hinweg ge-sagt, dass wir eine strategische Partnerschaft mit Russ-
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1770 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Marieluise Beck
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land wollen. Wir haben von der Modernisierungspartner-schaft gesprochen, die wir mit Russland eingehenwollten.Ich weiß, dass dieser Außenminister in dieser Legisla-turperiode wirklich etwas anderes vorhatte als das, waser jetzt gestalten muss; er wollte die Beziehungen zuRussland vertiefen. Wir müssen uns fragen: Stimmt diePrämisse, mit der wir in den vergangenen Jahren Politikgemacht haben, noch? Sind Putin und der Kreml wirk-lich noch an einer engen Zusammenarbeit mit dem Wes-ten interessiert? Wollen Putin und der Kreml gemeinsamnach Möglichkeiten suchen, russische Interessen mit un-seren Interessen zu verknüpfen? Oder ist Putin nicht in-zwischen in einer anderen Welt, in der geostrategisch ge-dacht wird, in der Öl und Gas als Machtinstrumentebetrachtet werden,
in der es auf unsere Ansprache gar keine Antwort gibt,weil die Gedankenwelt eine vollkommen andere ist?Das beunruhigt nicht nur uns hier im Westen, sonderndas beunruhigt auch solche Länder wie Belarus und Ka-sachstan. Kasachstan hat eine große russische Minder-heit im Norden seines Landes. Der Satz, dass dort, worussische Bürger sind, auch russische Interessen sind,verunsichert ein Land wie Kasachstan, das zukünftigMitglied der Eurasischen Union sein soll, zutiefst.
Dieser Vertrauensbruch geht unendlich tief, und er wirdauf lange Sicht Russland schaden. Dabei blutet mir dasHerz für die russischen Bürgerinnen und Bürger,
die unsere Freunde sind; denn wir wollen mit ihnengemeinsam das europäische Haus gestalten, wieGorbatschow es einst gesagt hat.
Zur Ukraine: Ich hoffe, dass Putin als Nächstes nichteinen Schritt in Richtung Ostukraine unternimmt. Waswir jetzt tun müssen, ist Festigkeit zu zeigen, dass wirdas nicht akzeptieren werden, und wir müssen dieUkraine mit allem, was uns zur Verfügung steht, stabili-sieren. Die Ukraine muss faktisch einen neuen Staat auf-bauen. Sie braucht rechtsstaatliche Institutionen und eineeffektive Verwaltung. Sie muss ein Staat werden, der mitder Krake der Korruption fertig wird. Janukowitsch hatfaktisch ein insolventes Land hinterlassen. Wir brauchenjetzt eine entschiedene Politik. Wir müssen diejenigenstabilisieren, die die schwierige Aufgabe übernommenhaben, dieses Land aus der Krise herauszuführen. Das istunsere wichtigste Aufgabe, und wir werden sie in Eu-ropa gemeinsam schultern.Schönen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Hans-Peter Friedrich
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dieser Gipfel wird beherrscht von der Krise inder Ukraine. Volker Kauder hat es richtig gesagt: DieseFrage berührt im Grunde den Kern des europäischen Ge-dankens. Kern des europäischen Gedankens war es vonAnfang an – das galt schon in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren –, in und für Europa eine dauerhafte Friedensord-nung zu schaffen. Alle Konstruktionen, auch die ökono-mischer Art, von der Montanunion bis zum heutigenBinnenmarkt, dienten nur einem Ziel, nämlich der Ab-sicherung dieses Kerngedankens.Im Laufe der Jahre ist das Ziel der Friedenssicherungin Europa als Kerngedanke der Europäischen Union ver-loren gegangen, weil viele geglaubt haben, dieses Zielsei selbstverständlich, sei bereits erreicht. Wir stellennun fest, dass das ein großer Irrtum ist. Eine stabile Frie-densordnung in Europa ist und bleibt eine Daueraufgabe.Sie muss immer wieder gefestigt werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europabzw. die EU steht heute genauso auf dem Prüfstand wiein der Schulden- und Finanzkrise 2008/2009, und zwarhinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit und hinsichtlichihrer Glaubwürdigkeit. Ich glaube, dass bei diesem Gip-fel und in den nächsten Wochen das wichtigste Zielüberhaupt ist, Europa geschlossen zu halten. Das ist eineschwierige Aufgabe, die auf die Führer Europas und derEU zukommt, insbesondere auf unsere Bundeskanzlerin.Denn in den 28 Mitgliedstaaten der EU ist nicht nur diegeografische und ökonomische Situation sehr unter-schiedlich, sondern auch die historische Situation. Au-ßerdem haben sie sehr unterschiedliche Befindlichkei-ten, insbesondere was den Umgang mit Russland angeht.In diesen Wochen entscheidet sich, ob die EuropäischeUnion für unsere Partner, für unsere Gegner, aber auchfür unsere Bürger eine außenpolitische Größe oder nurein aufgeblasener Bürokratenhaufen ist. Das ist die zen-trale Frage, die in den nächsten Wochen beantwortetwerden wird.
Der russische Präsident Putin hat Völkerrecht gebro-chen, er hat Verträge und Abkommen über den Haufengeworfen, und er hat den Geist des sowjetischen Imperi-alismus des letzten Jahrhunderts wiederbelebt.
Die Weltgemeinschaft, die Wertegemeinschaft und dieEuropäische Union können nicht zur Tagesordnungübergehen. Der Sicherheitsrat – dafür können wir alle,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1771
Dr. Hans-Peter Friedrich
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glaube ich, sehr dankbar sein – hat Russland isoliert. Beider Abstimmung über die Anerkennung des Referen-dums haben 13 der 15 Staaten mit Nein gestimmt; Chinahat sich enthalten, und nur Russland hat isoliert und ein-sam dagegen gestimmt. Das war eine gute und richtigeAntwort. Das zeigt, dass Russland allein dasteht.
Ich glaube, dass der Dreistufenplan eine richtige Ant-wort ist, insbesondere weil er auf jeder Stufe die Mög-lichkeit zum Dialog lässt. Kollege Oppermann hat esrichtig gesagt: Es muss eine Spirale der Sanktionen ver-mieden werden. – Ich glaube, das wird durch diesenDreistufenplan erreicht. Das ist wichtig.Den Putin-Freunden, insbesondere unserem Altkanz-ler Gerhard Schröder, sei gesagt: Gerhard SchrödersArgumentation, Putin habe Einkreisungsängste, ist gera-dezu grotesk. Putin hat überhaupt keine Ängste, sondernPutin versucht kaltblütig, seine machtpolitischen Spiel-räume auszunutzen. Es liegt an uns, diese Spielräumeentsprechend einzuengen. Es ist geradezu grotesk, zu be-haupten, Europa habe Putin zu dem, was er jetzt macht,provoziert.Die Bundeskanzlerin war es, die an diesem Pult mehr-fach gesagt hat: Wir wollen nicht, dass sich die Staatender Östlichen Partnerschaft in einem Entweder-oder fürRussland oder die Europäische Union entscheiden müs-sen. – Nein, wir wollen, dass die Staaten der ÖstlichenPartnerschaft eine Brücke zwischen der EU und Russ-land darstellen; das ist das Entscheidende. Ich sage allenRussenverstehern in diesem Land
– die in Wahrheit ja nur geschäftliche Interessen imBlick haben –: Wenn wir zulassen, dass Putin das Völ-kerrecht und Abkommen bricht, dann werden wir auchnicht verhindern, dass er eines Tages, wenn es ihm passt,die westlichen Investoren enteignet; das muss jeder wis-sen.
Wenn wir das Recht jetzt nicht durchsetzen, wird es auchin der Zukunft nicht gelten.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, dieAntwort muss viel langfristiger und viel grundsätzlichersein. Es ist an der Zeit, dass wir unser weltpolitischesKoordinatensystem in Deutschland und in Europa wie-der zurechtrücken. Seit 20 Jahren glauben wir, dass wirpermanent, alljährlich die Friedensdividende kassierenkönnen. Die Wahrheit aber ist eine andere. Wer es ris-kiert, sich von Staaten, die unsere Werte von Freiheitund Demokratie nicht teilen, abhängig zu machen, ge-fährdet sein eigenes Wertefundament und wird erpress-bar. Deswegen danke ich unserer Bundeskanzlerin ganzherzlich, dass sie im Hinblick auf die Ukraine-Krise denSchulterschluss mit Präsident Obama gefunden hat.
Ich danke Ihnen, Herr Außenminister, sehr verehrterHerr Steinmeier, dass Sie in Washington deutlich ge-macht haben, wie eng das Band der Freundschaft zwi-schen Europa
und den Vereinigten Staaten von Amerika ist. Dafürherzlichen Dank. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
Es wird höchste Zeit, dass wir bei allen politischenWeichenstellungen – in der Sicherheitspolitik, in der Au-ßenpolitik wie in der Wirtschaftspolitik – Abhängigkei-ten von Staaten vermeiden, die nicht unseren Vorstellun-gen von Freiheit und Demokratie entsprechen und dienichts damit zu tun haben. Andernfalls werden wir er-pressbar, andernfalls gefährden wir unsere außenpoliti-sche Handlungsfähigkeit, andernfalls gefährden wir un-ser eigenes Wertesystem.Bei diesem europäischen Gipfel stehen zwei wichtigePunkte auf der Tagesordnung, nämlich die industrielleWettbewerbsfähigkeit und die Energiepolitik. Diesezwei Punkte hängen unmittelbar zusammen. Die EUwird nicht dadurch wettbewerbsfähig, dass sich irgend-welche schlauen Kommissare, Räte oder Bürokratenschlaue Programme ausdenken, sondern sie wird da-durch wettbewerbsfähig, dass wir Unternehmern und In-vestoren, Menschen, die etwas tun wollen, Rahmenbe-dingungen zur Verfügung stellen, die sie nicht zuVerlierern auf den internationalen Märkten machen.Deswegen ist es wichtig, dass wir auch in der Energiepo-litik die Weichen richtig stellen. Energie ist der Lebens-saft der deutschen und der europäischen Wirtschaft,überhaupt jeder Volkswirtschaft. Die Kommission musswissen: Wenn sie die energieintensive Industrie inDeutschland plattmacht, schädigt sie die Wettbewerbsfä-higkeit der europäischen Wirtschaft insgesamt.
Die EU braucht Gestaltungswettbewerb und keinezentralistischen Fünfjahrespläne von Räten, Etatistenund Bürokraten.
Ich wünsche mir, dass der Geist von Ludwig Erhardüber ganz Europa weht. Das ist mein Wunsch für dienächsten Jahre. Dann wird Europa auch erfolgreich sein.Seit Jahren reden wir in der Energiepolitik zu Rechtüber Klimaschutzziele und technologische Machbarkeit.Aber es wird Zeit, dass wir auch darüber reden, wie wirin der Energiepolitik unabhängig von nichtdemokrati-schen Staaten werden können. Wer das in den letzten
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Dr. Hans-Peter Friedrich
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Jahren thematisiert hat, ist als Ewiggestriger, der nichtbegriffen hat, was alles global, frei und offen ist, ge-brandmarkt worden. Die Wahrheit ist, dass wir uns ab-hängig gemacht haben von Staaten, die nicht unseremWertefundament entsprechen. Ich habe für unsere polni-schen Freunde jedes Verständnis, wenn sie sagen: Liebernutzen wir unsere eigenen Kohlereserven, als dass wiruns noch mehr von Russland abhängig machen. – Ichkann das begreifen. Das ist eine richtige Argumentation.
Unabhängigkeit vom Ausland, von nichtdemokrati-schen Staaten in der Energie-, in der Ernährungs- und inder Technologiepolitik ist ein entscheidender Punkt, denwir zum Kernpunkt der Politik in Europa machen soll-ten. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas ist erreichbar,wenn wir die Vielfalt Europas als Chance und nicht alsBelastung begreifen, wenn wir begreifen, dass der Ge-staltungswettbewerb von 28 Akteuren etwas Positives istund die Vielfalt am Ende dazu führen wird, dass wirbeim Ringen um die beste Lösung auch die beste Lösungerhalten werden. Wenn Deutschland entschieden hat,eine Energiewende herbeizuführen, dann werden uns dieanderen folgen, wenn wir bei dieser Energiewende er-folgreich sind. Wenn andere in anderen Bereichen er-folgreicher sind als wir, werden wir ihnen folgen. Das istdie Idee des Gestaltungswettbewerbs in Europa, demRaum gegeben werden muss.Ich bin ganz sicher: Wenn sich Europa auch in dieserKrise auf seine Prinzipien – auf Freiheit, auf Demokratieder westlichen Wertegemeinschaft, auf Vielfalt, aufWettbewerb, auf Subsidiarität – besinnt, dann wird esauch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele Groneberg
für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! In derTat wird bei der anstehenden Tagung des EuropäischenRates die Lage in der Ukraine in der Diskussion allesüberlagern. Dennoch stehen weitere wichtige Themenauf der Tagesordnung.Der Rat hat in diesen schwierigen Tagen die Aufgabe,Ziele festzulegen, die die Grundlagen für nationale Re-formprogramme und die Stärkung der Wettbewerbsfä-higkeit der Mitgliedsländer bilden sollen, um so dieGrundlagen für Wachstum und Beschäftigung zu si-chern. Das hört sich alles gut an. Das ist aber natürlichalles nicht möglich, ohne letztendlich die Ziele für dieKlima- und Energiepolitik der EU im Zeitraum 2020 bis2030 zu sichern. Das ist Voraussetzung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zurvorherigen Bundesregierung gehen wir bei diesemThema einig und stark in die Gespräche: Wir gehen einigin die Gespräche, weil wir einen Wirtschaftsminister undeine Umweltministerin haben, die sich zur Energie-wende bekennen und, ganz wichtig, an einem Strang zie-hen und sich nicht gegenseitig behindern, wie es in derVorgängerregierung der Fall war.
Wir wollen einen weiteren Ausbau der erneuerbarenEnergien, und wir werden das EEG europarechtskon-form weiterentwickeln. Das ist unbestritten eine schwie-rige Aufgabe, aber eine vernünftige Lösung muss unsgelingen; schließlich hängen bei uns in Deutschlandganz viele Arbeitsplätze davon ab. Letztendlich wird un-sere wirtschaftliche Entwicklung davon auch bestimmtwerden.Wir gehen stark in die Gespräche, weil wir uns imKoalitionsvertrag eindeutig positioniert haben. Ich willdiese Passage vor allen Dingen für Herrn Hofreiter, derjetzt leider nicht da ist, noch einmal zitieren:Wir bekräftigen unseren Willen, die internationalenund nationalen Ziele zum Schutz des Klimas einzu-halten, uns in der Europäischen Union für 2030 fürambitionierte Ziele auf der Grundlage der weltwei-ten langfristigen Ziele für 2050 einzusetzen, undwir werden uns auch international für ambitionierteKlimaschutzziele und verbindliche Vereinbarungenengagieren.Wir wissen, dass Deutschland eine Vorreiterrolle hat,und wir werden sie auch nutzen. Wie bereits erwähnt,setzen wir uns selbstverständlich für einen weiteren Aus-bau der erneuerbaren Energien ein und haben dabeidurchaus die Kosteneffizienz und die Wirtschaftlichkeitinsgesamt im Blick.Die Koalition will einen wirksamen Emissionshan-del auf europäischer Ebene. An dieser Stelle gibt es– die Kritik wird zu Recht geübt – durchaus großenHandlungsbedarf. Es wird eine große Aufgabe auchder nächsten Tage sein, hier Pflöcke einzuschlagen.Der Dialog mit der Europäischen Kommission undden Mitgliedstaaten darüber, wie diesen Zielen dienendeFörderbedingungen europarechtskonform weiterentwi-ckelt werden können, ist eine zentrale Aufgabe diesesWirtschaftsministers. Ich bin davon überzeugt, SigmarGabriel wird diese Aufgabe meistern.
Wir bekennen uns ebenso eindeutig zu dem Ziel derSteigerung der Energieeffizienz. Ich würde dazu gernenoch mehr ausführen, nur, leider fehlt mir die Zeit. Aberich will noch einmal, auch wenn er nicht da ist, auf denHerrn Kollegen Hofreiter eingehen: Ich bin wirklich ent-täuscht von seiner Analyse, mit der er unterstellt, dieKlimaschutzziele seien der EU bzw. dem EuropäischenRat unwichtig und würden überhaupt nicht berücksich-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1773
Gabriele Groneberg
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tigt werden. Das ist meiner Ansicht nach voll daneben,ist polemisch, ist unsachlich. Herr Hofreiter müsste wis-sen, dass die Ziele der EU in diesem Bereich schon langefestliegen. Er selber bzw. seine Fraktion hat sie in derVergangenheit mit geprägt.Es ist richtig: Nicht alle unsere Ziele stoßen in der EUauf helle Begeisterung. Es gibt durchaus Kritiker in denLändern des Südens und des Ostens, für die angesichtshoher Arbeitslosigkeit eine zielführende Beschäfti-gungspolitik und sozialpolitische Fragen im Vorder-grund stehen, ebenso wie die Versorgungssicherheit imBereich Energie und das Preisniveau.Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt doch:Wenn wir es in Deutschland nicht schaffen, die Men-schen bei der Energiewende mitzunehmen und gleich-zeitig die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu si-chern, wenn wir es nicht schaffen, die Energiewendesicher, sauber und bezahlbar hinzubekommen, dann wer-den wir – da können wir uns noch so viele Ziele setzenund noch so viele schöne Papiere schreiben – scheitern.Deshalb empfehle ich Ihnen allen in diesem Hause, dieseVerhandlungen zu unterstützen. Die Abgeordneten derCDU/CSU und der SPD werden dies tun. Wir erwartenvon unserer Bundesregierung vollen Einsatz auf der Ba-sis der Formulierungen unseres Koalitionsvertrages. DerAuftrag, den dieses Haus der deutschen Delegation mit-gibt, ist klar.
Frau Kollegin!
Ja, sehr geehrter Herr Präsident, ich komme zum
Ende. – Wir sollten auf jeden Fall aus diesem Hause Rü-
ckendeckung für die anstehenden Verhandlungen geben.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Michael Stübgen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden imAbstand von einer Woche das zweite Mal – diesmal imZusammenhang mit dem kommenden EuropäischenRat – im Wesentlichen über ein Thema, nämlich dieKrise in der Ukraine.Die Ereignisse dort vollziehen sich mit einer enormenGeschwindigkeit. Mir fällt dazu nur ein Begriff aus demKalten Krieg ein: Hinsichtlich der „Eskalationsdomi-nanz“ hat Putin eindeutig die Nase vorn. Russland be-stimmt die Agenda und setzt die Fakten, und der Westenist scheinbar schwach und läuft den Ereignissen ledig-lich hinterher. Die diplomatischen Kanäle zwischen derEU und Russland waren selten so schlecht und so dünnwie heute.Für die Analyse der jetzigen Situation sind mir zweiPunkte besonders wichtig:Erstens. Ich fange bei uns selber an; denn wenn mansich nicht mit den eigenen Fehlern beschäftigt, dannlernt man nichts. – Bei einer solchen diplomatischen Ka-tastrophe wie der jetzigen zwischen der EuropäischenUnion, der Ukraine und Russland sind nie nur auf der ei-nen Seite Fehler gemacht worden, nein, dann sind immer– das ist auch hier der Fall – auf beiden Seiten, also auchauf unserer Seite, der Seite des Westens, Fehler gemachtworden.Meine Einschätzung ist, dass die Europäische Unionmit ihrer Politik zur Ukraine und den Assoziierungsver-handlungen nicht das notwendige Augenmaß gewahrthat. Die Europäische Union hat die geopolitischeSprengkraft der Ukraine-Frage gerade für Russland undauch die fundamentalen innenpolitischen Konflikte inder Ukraine evident unterschätzt. Dies kann man nichteinfach mit einem Assoziierungsvertrag, in Vilnius un-terschrieben, übertünchen; denn darunter bleiben dieKonflikte bestehen.Zweitens. Auf der anderen Seite ist auch klar: Derscheinbare Vorteil, den Russland jetzt hat, steht auch nurauf tönernen Füßen. Natürlich unterstützt im Momenteine demokratische Mehrheit auf der Krim und auch inRussland die Politik Putins – auch gegenüber der Krim –jubelnd und euphorisch. Euphorie hat aber eine Eigenart:Sie ist niemals und nirgends nachhaltig.
Die Menschen auf der Krim und in Russland werdensehr bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurückfal-len, und dieser Boden ist sowohl auf der Krim als auchin Russland hart und unkomfortabel.Russland hat – und das seit Jahren wachsend –enorme wirtschaftliche und soziale Probleme, die auchjederzeit Sprengkraft in diesem Land erzeugen können.Eines ist eindeutig: Russland braucht in der Wirtschafts-und Finanzpolitik den Westen. Das weiß Putin im Übri-gen genauso, wie es eine Tatsache ist.Weil ich aus Zeitgründen nicht intensiv darauf einge-hen kann, möchte ich nur kurz sagen, dass ich die jetzigeKrisenreaktion bei aller Kritik – auch an der EU-Diplo-matie in den letzten Jahren – grundsätzlich für richtighalte. Sie wird von mir unterstützt.Es ist wichtig, dass wir der Ukraine kurzfristig helfen,um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, und esist richtig, dass wir die Assoziierung vorantreiben – auchmit dem Signal der Unterschrift morgen. Es ist aber auchrichtig, obwohl das auch in der EU kritisiert wird, dassdie Bundesregierung sich hinsichtlich der Sanktionenzwar klar bekennt, aber auch zurückhaltend agiert.Ich bin der festen Überzeugung – es ist für mich be-sonders wichtig, das zu sagen –, dass der Schlüssel fürgegenwärtiges Handeln und für die Möglichkeit, einen
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1774 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Michael Stübgen
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Prozess der Krisenlösung in diesem Ukraine-Konflikt zubeginnen – es geht noch längst nicht darum, ihn abzu-schließen; das wird Jahre dauern –, in der Ukraine, inKiew, liegt.Das sind die harten Fakten: Die Ukraine hat eine derschwächsten Wirtschaftsentwicklungen in ganz Osteu-ropa. Sie hat notwendige Reformen immer wieder aufge-schoben, die Rechtsstaatlichkeit steht infrage, und dieKorruption ist völlig frei – bis in höchste Regierungs-kreise hinein.Die Ukraine ist auch ein multiethnisches Land. Nebensehr vielen Minderheiten hat sie – das kommt erschwe-rend hinzu – zwei fast gleich starke Bevölkerungs-gruppen: zum einen russischstämmige Ukrainer und zumanderen Ukrainer, die in den Siedlungsräumen überwie-gend auch noch getrennt leben. Die Kluft zwischen diesen beiden Bevölkerungsgrup-pen ist in den letzten Jahren wesentlich größer gewor-den. Nachhaltig kann die Ukraine aber nur leben, wenndiese Kluft geringer wird und es Brücken über dieseKluft gibt.
Kollege Stübgen, darf Ihnen die Kollegin Beck eine
Zwischenfrage stellen?
Bitte, gerne.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Lieber Herr Kollege Stübgen, die Frage, die Sie eben
formuliert haben, diese faktische Zweigeteiltheit der
Ukraine, spielt in unserer Debatte eine große Rolle. Ich
bin nun sehr viel in der Ukraine gewesen und habe mit
Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Parla-
mentariern und vielen anderen gesprochen und immer
wieder diese Frage gestellt. Es ist mir immer wieder ge-
sagt worden – übrigens hat uns das gestern auch Josef
Zissels im Ausschuss wieder gesagt –: Die Linien zwi-
schen diesen Gruppen verlaufen quer durchs Land. Sind
Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Maidan-Demonstrationen hat es in 50 Städten der
Ukraine gegeben, auch in Charkiw, auch in Donezk.
Diese Demonstrationen waren dort schwächer, auch weil
die Repression dort größer war und weil es dort eine grö-
ßere Nähe zu Russland als in der Westukraine gibt.
Aber: Die Linien verlaufen quer und nicht längs entlang
des Dnepr. Es ist auf dem Maidan mehr Russisch als
Ukrainisch gesprochen worden. Ich möchte Sie bitten,
das zur Kenntnis zu nehmen. Wir sollten dieser Frage
gemeinsam stärker nachgehen, statt einer möglichen
Desinformation aufzusitzen, die Vorbereitung für eine
gewollte Teilung des Landes sein könnte.
Sehr verehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für IhreZwischenfrage. – Sie gibt mir die Gelegenheit, ein mög-liches Missverständnis richtigzustellen. Aufgrund derKürze meiner Redezeit wollte ich darauf nicht weitereingehen. Was Sie gesagt haben, stimmt grundsätzlich;das ist richtig. Es stimmt allerdings auch, dass die Sied-lungsräume in der Ukraine auch schon ziemlich getrenntsind. Und es ist so, dass es einen asymmetrischen Kon-flikt zwischen russischstämmiger Bevölkerung und derukrainischen Bevölkerung gibt. Dieser Konflikt hat– auch Sie wissen das mit Sicherheit sehr genau – histo-rische Gründe, die ich hier nicht alle anführen kann.Für mich ist Folgendes wichtig: Wir konnten in denletzten Jahren beobachten, dass bei Wahlen entweder dieBevölkerung der Westukraine – Sie wissen, dass ich dasso genau nicht meine – eher die Regierung stellte oder,wenn es kippte, die andere Seite die Regierung über-nommen hat. Jedes Mal, wenn eine Gruppe die Regie-rung hatte, hat sie alles dafür getan, um die andereGruppe zu schwächen. Auf diesen Punkt will ich hinaus:Wenn ein Land so kompliziert strukturiert ist – dafürkann die Ukraine nichts; das hat historische Gründe –,dann hat dieses Land nur eine Chance, nämlich zu versu-chen, diese Gräben zu überwinden. – Herzlichen Dank.Das war meine Antwort.Ich glaube, es ist richtig, nachhaltig zu fordern, dassin der Ukraine neben der notwendigen Präsidentschafts-wahl am 25. Mai – wir wissen allerdings, dass die dannstattfindenden Wahlkämpfe wie in jedem anderen demo-kratischen Land der Welt nicht unbedingt deeskalierendwirken werden – sehr bald auch der Verfassungsprozess,also die Neubestimmung einer Verfassung bzw. die Re-form der vorhandenen Verfassung, einschließlich grund-legender Wirtschafts- und Sozialreformen, begonnenwerden muss.Ich halte das für absolut notwendig. Es ist so, dass ichim Moment in der Ukraine – das ist verständlich, weilder Druck auf die Politiker in der Ukraine enorm hochist – dafür zu wenig Ansätze finde. So wichtig es ist,dass wir die Ukraine unterstützen, so wichtig ist es auch,dass die europäische Politik, aber auch die Bundesregie-rung und wir als Deutscher Bundestag die Ukraine dazudrängen und dabei unterstützen, ihr Land zu reformieren,sodass es nachhaltig lebensfähig werden kann. Dann be-steht zum Beispiel auch die Chance, dass die Krim-Frage auf lange Sicht ganz anders gestellt wird, als dasbisher der Fall ist.Ich will mit Folgendem schließen: Für mich hat fastkein anderer Satz so entscheidend gewirkt – bis 1990und danach – wie der alte Art. 23 des Grundgesetzes von1949, den wir 1990 aufheben konnten. Mit Deutschlandhat es sich ähnlich wie jetzt mit der Ukraine verhalten,dass sich nämlich Deutschland erst einmal ohne die ost-deutschen Länder strukturiert und den Anspruch auf eineWiedervereinigung nie aufgegeben hat. Nach Jahrzehn-ten konnte dieser Anspruch erfüllt werden. Auch daskönnte für den Umgang der Ukraine mit der Krim inner-halb dieses Verfassungsprozesses beispielgebend sein.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1775
Michael Stübgen
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Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Christian Petry.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Neben dem wichtigen Thema Ukraine und der
Krise dort hat der EU-Gipfel auch noch die Stärkung des
Wirtschaftsraums Europa, die Finanzwirtschaft und
Afrika zum Thema. Die Krise in den südlichen Ländern,
die Währungs-, Wirtschafts- und auch Sozialkrise, hat
uns gezeigt, dass Deutschland einen wesentlichen Bei-
trag zur Stabilität leisten kann und ein Motor in diesem
Bereich ist.
Wichtig ist dabei, dass die Regulierung der Finanz-
märkte gelingt. Der europäische Fiskalpakt ist rechtens.
Die Rechte des Parlaments sind einzuhalten. Wir haben
ein Europäisches Semester und eine bessere Abstim-
mung der Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Natio-
nalstaaten. Dazu gibt es auch ein Nationales Reformpro-
gramm 2014, das uns im Entwurf vorgelegt wurde.
Vertrauen in die Euro-Zone zu schaffen, ist dabei das
Ziel, und Deutschland ist hier sehr gut aufgestellt: gute
Daten beim Arbeitsmarkt, stabile Haushaltslage, Verbes-
serungen in der Bildung, eine starke Wirtschaft und ein
guter Weg in der Umwelt- und Energiepolitik. Auch in
den Stellungnahmen des DGB werden uns gute Noten
gegeben. Das sieht schon etwas anders aus als in den
Vorjahren. Hier wirkt bereits die Große Koalition. Ich
glaube, darauf können wir stolz sein.
Lediglich hinsichtlich der makroökonomischen Lage
wird Kritik geübt. Die Exporte – das muss in diesem Zu-
sammenhang genannt werden – müssen beibehalten wer-
den. Sie sichern Arbeit. Deshalb gilt es, die Binnenent-
wicklung zu stärken: gute Lohnentwicklung, gute Löhne
für gute Arbeit, und es müssen Anreize für inländisches
Kapital, nicht zu sparen, sondern zu investieren – Sigmar
Gabriel hat dies im Ausschuss angesprochen – gegeben
werden.
Die Importe müssen gestärkt werden, bei uns liegt ein
Importdefizit vor. Das kann aber nur dadurch behoben
werden, dass sich die anderen Volkswirtschaften entspre-
chend stabilisieren, die Produktion steigern und den in-
dustriellen Teil, der in Deutschland stark geblieben ist,
wieder stärken. Dann können wir dort wieder einkaufen.
Das stärkt unsere Importquote und wird die Leistungsbi-
lanz ausgleichen. Hier werden wir auf europäischer
Ebene wirken müssen. Auch das ist ein Thema des Gip-
fels: eine vernünftige Industriepolitik in Europa.
Des Weiteren gilt es, die Finanzmärkte weiter zu re-
gulieren. Die Bankenunion wird kommen, und sie wird
auch kommen müssen. Die Bankenabgabe kommt. In
diesem Zusammenhang ist auch die Stärkung der Gläu-
bigerhaftung ein wichtiges Feld. Das haben wir immer
gefordert. Das wird eingeführt werden; das ist gut so.
Insgesamt wird Deutschland dadurch attraktiver, auch
was den Finanzmarkt betrifft. Vielleicht gelingt es, Kapi-
tal aus dem Ausland wieder zurück nach Deutschland zu
bringen. Ich meine nicht das von Herrn Hoeneß. Es gibt
auch noch andere, die im Ausland sind und dann viel-
leicht wieder in Deutschland am Finanzmarkt investie-
ren. Ich glaube, das ist sehr lohnenswert.
Der Gipfel befasst sich auch mit Afrika. Ich glaube,
dass es wichtig ist, eine Entwicklung auf Augenhöhe, in
Partnerschaft, zu betreiben, dass wir den Stolz der afri-
kanischen Länder respektieren und Bereitschaft zeigen
sollten, im Bereich Ausbildung und auf anderen Gebie-
ten zu helfen. Ich halte es für zentral und sehr wichtig,
dass wir dies in Partnerschaft und auf Augenhöhe ma-
chen. Das wünsche ich mir von der Bundesrepublik
Deutschland. Ich bin mir sicher, dass dies so gelingen
wird.
Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Aufgabe, Eu-
ropa weiter voranzubringen; es ist unsere Aufgabe, Frei-
heit und Wohlstand in Europa zu sichern; es ist unsere
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir auch weiterhin ein
weltoffenes, tolerantes Europa haben. Lassen Sie uns
dies gemeinsam tun.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege
Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Man kann in Deutschland russi-sches Staatsfernsehen empfangen, und die russischenStaatsmedien sind mit Büros in Deutschland vertreten.Deshalb ist es nicht unbedingt notwendig, Herr KollegeGysi, dass Sie in jeder Sitzungswoche als Lautsprecherder russischen Staatsmedien auftreten.
Mit der Übernahme der Argumentation dieser Medienbegeben Sie sich auf Schmierseife, und zwar mit beidenFüßen.Ich fange mit dem ersten Punkt an. Sie sprechen vonder Weiterentwicklung des Völkerrechts und davon, dassaus Rechtsbruch auch Gewohnheitsrecht entstehen kann.Ich möchte ein solches Gewohnheitsrecht nicht haben.2008 wurden Abchasien und Südossetien aus Georgienherausgerissen. Im März dieses Jahres wurde die Krim
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1776 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Manfred Grund
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herausgerissen. Wer ist als Nächstes dran: Odessa oderDonezk?
Ich möchte diese Art der Weiterentwicklung des Völker-rechts nicht haben.
Im Jahre 2008 hat Präsident Putin auf einer internatio-nalen Konferenz in Bukarest gesagt: Die Ukraine ist garkein richtiger Staat. – Das steht in der Tradition derBreschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränitätsozialistischer Länder. Eingeschränkte Souveränität be-deutet: Das, was Russland – damals der Sowjetunion –nutzt, wird gemacht. Alle anderen Staaten werden in ih-ren Grenzen – zumal es ja auch russischer Boden gewe-sen sein kann – infrage gestellt. – Frau Kollegin Beckhat zu Recht auf Kasachstan hingewiesen. Wir wissenum die Ängste im Baltikum, in Polen oder in Transnis-trien, der Republik Moldau. Auch hier träfe eine solcheArgumentation zu. Also: Sie begeben sich wirklich aufSchmierseife.
Selbstbestimmung ist immer dann gut, wenn sie Russ-land nutzt, wie zum Beispiel bei der Abstimmung aufder Krim. Selbstbestimmung der Balten, deren Staatenaus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen sindund die sich unter den NATO-Schutzschirm gestellt ha-ben, weil sie Angst vor einem wiedererstarkenden Russ-land hatten, wäre nicht möglich; denn – so ist Ihre Argu-mentation – zwischen Gorbatschow und Kohl ist jaetwas anderes vereinbart worden.
Herr Kollege Grund, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Gehrcke?
Bitte zum Schluss. Oder er kann dann eine Kurzinter-
vention machen. – Das kann er aushalten.
Zum Schluss.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjet-union haben möglicherweise eine Vereinbarung getrof-fen. Aber die Sowjetunion hat sich verflüchtigt. Übriggeblieben ist nicht Russland als Nachfolgestaat, sondernes sind souveräne Staaten wie im Baltikum, die einRecht auf eine eigene Zukunft haben. Also: Ihre Inter-pretation des Selbstbestimmungsrechts ist problema-tisch.
Zweitens, die Legitimität der Übergangsregierung.Die Übergangsregierung in Kiew basiert auf einer Ver-einbarung, die zwischen Janukowitsch, drei europäi-schen Außenministern und einem Vertreter Russlandsam 21. Februar getroffen wurde.
Am 22. Februar war Janukowitsch weg. Er hatte sichaus dem Staub gemacht und seine Koffer nachweislichschon drei Tage zuvor gepackt. Die Legitimität beziehtsich also auf diese geschlossene Vereinbarung undArt. 111 der geltenden ukrainischen Verfassung.
Die Übergangsregierung repräsentiert übrigens im Ge-gensatz zu dem, was hier gelegentlich verbreitet wird,die ukrainische Bevölkerung und auch die Regionen derUkraine, weil viele Abgeordnete der Partei der Regionenheute im Parlament aufseiten der Regierung sind und da-mit die politischen Lager, aber auch die Regionen – derSüden und der Osten der Ukraine – im Parlament vertre-ten sind.
Drittens, zum Vorwurf des Faschismus und des An-tisemitismus. Ich will mit dem Vorwurf des Antisemi-tismus beginnen. Es ist richtig, dass in der jetzigen Re-gierung mehrere Minister und ein stellvertretenderMinisterpräsident mit jüdischen Wurzeln vertreten sind.Es ist weiterhin richtig, dass drei der von der Übergangs-regierung neu eingesetzten Gouverneure jüdischer Her-kunft sind, unter anderem der Gouverneur von Dnipro-petrowsk, Kolomoiyski, der der Leiter der jüdischenGemeinden in der Ukraine und Vorsitzender des Euro-päischen Rates der Jüdischen Gemeinden ist.
Zum Vorwurf des Faschismus. Ja, Vertreter von Swo-boda und andere Vertreter des Rechten Sektors sind un-appetitliche Gesellen. Mit denen wollen wir alle nichtgesehen werden; das ist völlig richtig.
Aber deswegen ist die ukrainische Regierung nicht fa-schistisch.
Vielmehr unternimmt sie den Versuch, alle Gesell-schaftsteile zu repräsentieren.Jetzt will ich eines sagen: Der Faschismusvorwurfwurde und wird immer erhoben, wenn er der Sowjet-union bzw. Russland nutzt. Ich erinnere an den Faschis-musvorwurf im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953in der DDR. „Faschistische Umtriebe“ mussten damalsangeblich mit sowjetischen Panzern gestoppt werden.Dieselbe Argumentation lässt sich im Zusammenhang
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1777
Manfred Grund
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mit den Ereignissen 1956 in Ungarn und der Nieder-schlagung des Prager Frühlings 1967 finden. Heute ver-wendet Russland dieselbe Argumentation, um sich dieKrim anzueignen und möglicherweise einen Vorwandfür den Einmarsch in Odessa oder Charkiw zu haben.Also, Herr Kollege Gysi, gehen Sie weg von dieser ver-logenen Argumentation. Sie haben es gar nicht nötig.
Ich will neben der Ukraine auf zwei Länder hinwei-sen, die dringend unsere Unterstützung brauchen, euro-päische Unterstützung und Unterstützung aus Deutsch-land, einmal auf Georgien und zum anderen auf dieRepublik Moldau. Beide werden im Spätsommer das mitder Europäischen Union ausgehandelte Assoziationsab-kommen unterzeichnen. Beide stehen bereits jetzt untermassivem russischen Druck, mit dem das verhindertwerden soll. Das heißt, wir müssen uns diesen beidenLändern viel stärker zuwenden und ihnen nach Möglich-keit eine europäische Perspektive bieten.Zum Abschluss. Unsere Hand ist zur Kooperationausgestreckt. Wir wollen nicht hoffen, dass Konfronta-tion die nächsten Jahre bestimmt. Ich will mit einemukrainischen Sprichwort schließen, das heißt: Wenn dieFahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete. –Ich hoffe, dass in Moskau der Verstand nicht gänzlich indie Trompete gerutscht ist und dass wir zur Normalitätund zur Diplomatie zurückkehren können.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte
spricht für die CDU/CSU-Fraktion Klaus-Peter Willsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Ich danke Manfred Grund fürdiese richtige historische Einordnung. Ich will HerrnGysi auch noch einmal ein bisschen auf die Sprünge hel-fen.
Sie stellen gerne Bezüge zum Gebiet des früheren Jugo-slawien her. Auch ich sehe da Parallelen; denn Milosevichat dort alle Staaten in seinem Umfeld mit Aggressions-kriegen überzogen, weil er gesagt hat: Da ist irgendwoein Serbe, und deshalb ist das serbisches Territorium. –Sie haben das vielleicht nicht mitbekommen, weil Siedamals in Belgrad waren und Milosevic das Händchengehalten haben, statt auf der richtigen Seite zu stehen.Sie scheinen nichts aus der Geschichte gelernt zu haben.
Die Beziehungen zwischen Russland und Deutsch-land, zwischen Deutschen und Russen, zwischen denMenschen der beiden Länder, sind eng. Wir hatten hierin Berlin die Ausstellung „Russen und Deutsche:Tausend Jahre Kunst, Geschichte und Kultur“ im letztenund vorletzten Jahr. Das war ein Publikumsmagnet.Viele Menschen haben die Ausstellung besucht. Sie warein Beitrag zum Russland-Jahr in Deutschland und zumDeutschland-Jahr in Russland.Gleichwohl müssen wir leider erkennen, dass Kon-flikte und Denkmuster, die wir schon überwunden glaub-ten, wieder aufbrechen oder wieder sichtbar werden.Man kann vieles persönlich für nicht richtig halten, abertrotzdem entschuldigen oder nachvollziehen. Man kannversuchen, die Welt durch die Augen des anderen zu se-hen, und das haben wir auch oft getan. Aber mit dem,was in den letzten Tagen und Wochen auf der Krim pas-siert ist, ist Moskau mehr als nur einen Schritt zu weitgegangen. Das ist nicht hinnehmbar.Was können wir tun? Ein Übergehen zur Tagesord-nung ist nicht möglich. Wir alle hoffen, dass die erstenStufen der von der EU ergriffenen Sanktionsmaßnahmenhinreichen. Aber auch sie werden nur gelingen, wennwir an unserer Entschlossenheit, im Zweifelsfall auchweiter zu gehen, wirtschaftliche Sanktionen ernsthaft inBetracht zu ziehen, keinen Zweifel lassen. Dazu gehört,dass wir uns unserer energiepolitischen Abhängigkeitbewusst sind, wenn wir darüber reden, und dass auch dieandere Seite weiß, dass wir uns dieser Abhängigkeit be-wusst sind. Deshalb bin ich auch führenden Wirtschafts-vertretern dankbar, die deutlich gemacht haben: Völker-recht bleibt Völkerrecht, und es darf nicht darüberhinweggegangen werden.Eine aktuelle Studie der Stiftung Wissenschaft undPolitik, die ich Ihnen wirklich zur Lektüre empfehle– sie ist hervorragend –, zeigt das hohe Destabilisie-rungspotenzial bezüglich der Versorgung mit Gas und Ölauf. Russland ist Europas Energielieferant Nummer eins.30 Prozent des in der EU benötigten Gases kommen vondort, beim Öl sind es 35 Prozent. Auf Deutschland bezo-gen sind die Werte noch etwas höher.Aber natürlich sind wir auch gegenseitig voneinanderabhängig. Die Talfahrt des Rubel-Kurses zum Euro inden letzten Wochen von 1: 40 auf 1: 50 zeigt schon, dasssich auch die russische Wirtschaft nicht so leicht eineEiszeit erlauben kann. Moskau kann nicht ignorieren,dass sich der russische Haushalt zu etwa 55 Prozent ausErlösen von Gas- und Ölgeschäften speist.Herrn Hofreiter, der jetzt wieder bei uns ist,
möchte ich zurufen, dass ich sehr wohl nachvollziehenkann, wenn er die Frage aufwirft, ob es angesichts dieserAnalyse richtig ist, im Bereich der Gasversorgung einevertikale Integration zuzulassen. Wir sind bei der Versor-gung abhängig, und nun sollen wir auch noch unserenstrategischen Speicher in einen Einflussbereich geben, in
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1778 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Klaus-Peter Willsch
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den er nach meinem Dafürhalten nicht gehört. Deutsch-land hat knapp ein Viertel der 100 Milliarden Kubik-meter Gasspeicherkapazität. Deshalb muss darübernachgedacht werden, ob der Deal zwischen BASF/Wintershall und Gazprom richtig ist, ob der Verkauf vonDea durch RWE richtig ist.Wenn man über dieses Thema geostrategisch nach-denkt, muss man sich aber auch überlegen, ob der über-hastete Ausstieg aus der Kernenergie richtig ist.
Kernenergie ist nämlich auch geeignet, Abhängigkeit zuverringern.
Wenn man offen geostrategisch diskutieren will, mussman sich darüber Gedanken machen, ob es richtig ist,leichtfertig auf eigene Energiegewinnungsmöglichkeitenwie Fracking zu verzichten. Wenn wir schon über dieFrage einer unabhängigen Energieversorgung reden wol-len, dann machen wir das bitte auf breiter Grundlage undverhängen keine Denkverbote.Noch einige Gedanken zur Zukunft in der Ukraine.Wichtig wird sein, dass wir darauf achten, dassRechtsstaatlichkeit herrscht. Manfred Grund hat es ange-sprochen: Es darf nicht eine Oligarchenclique durch eineandere ersetzt werden. Wenn sich der IWF jetzt Gedan-ken über die Zahlungsfähigkeit der Ukraine macht, dannwird es wichtig sein, dass dort ein Bail-in bezüglichOligarchenvermögen stattfindet. Das meiste von diesemVermögen ist nämlich dem Volk geraubt worden.
Früher war es Volkseigentum, und irgendwelche Perso-nen haben es sich in der Transformationszeit unter denNagel gerissen.Wo wir gerade beim IWF sind: noch ein Gedanke zurSituation im Euro-Raum, ohne jetzt Grundsatzdebattenanzufangen.
Aber bitte einen kurzen Gedanken.
Einen kurzen Gedanken. – Wir haben es mit sinken-
den Renditen bei Staatsanleihen zu tun, wobei offen-
bleibt, ob das auf eine wirkliche Verbesserung der Situa-
tion oder auf die in meinen Augen unrechtmäßige
Zusage, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen,
zurückzuführen ist. Egal wie es ist: Entscheidend ist,
dass die Spielräume, die durch eine geringere Verschul-
dung bedingt sind, nicht, wie bei der Einführung des
Euro, genutzt werden, um munter die Verschuldung zu
erhöhen, sondern dass sie genutzt werden, um Struktur-
reformen anzugehen und Defizitquoten zu senken. Da-
von sind wir leider noch ein großes Stück entfernt. Ich
bitte die Troika und die Bundesregierung darauf zu ach-
ten, dass in der richtigen Richtung agiert wird und neue
Spielräume genutzt werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir müssen leider feststellen, dass die Schulden-
stände dort allen kraftvollen Beschlüssen zum Trotz wei-
ter steigen. Wir müssen uns mit diesem Thema weiterhin
sehr sorgsam beschäftigen.
Frau Präsidentin, ich danke für Ihre Geduld. Sie ha-
ben mir eine Minute Redezeit mehr gegeben. Das ehrt
Sie
und macht mir Freude, weil ich so noch meine letzten
Gedanken vortragen konnte.
Vielen Dank.
Okay. Ich mache sehr gerne Freude. – Das Wort zu ei-
ner Kurzintervention zum Beitrag des Kollegen Grund
hat jetzt Dr. Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin, es steht mir nicht zu, Sie irgendwie
zu korrigieren. Wenn Sie den „Dr.“ zurücknehmen könn-
ten! Ich möchte nicht dort landen, wo andere gelandet
sind. Ich habe keinen Doktortitel und möchte auch nicht
so angesprochen werden.
Das werde ich machen. Aber die Schriftführerin, Ihre
Fraktionskollegin, war so beeindruckt von Ihnen, dass
sie meinte, Sie hätten den Doktortitel.
Das rührt mich natürlich tief. – Ich wollte eigentlicheine Zwischenfrage zum Beitrag des Kollegen Grundstellen. Er hat sie leider nicht zugelassen. Deswegenmöchte ich eine Kurzintervention vorbringen.Ich verstehe nicht, Kollege Grund, warum Sie das,was Gregor Gysi hier ausgeführt hat, so verzerrt wider-gespiegelt haben. Ich wiederhole, was unsere Gedankensind: Gregor Gysi möchte das Argument ausschließen– ich teile das völlig –, dass es ein völkerrechtliches Ge-wohnheitsrecht gibt. Es wurde das Argument geäußert,dass mit dem Kosovo-Einsatz ein neues Gewohnheits-recht geschaffen worden ist. Wir wollen nicht, dass ein
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1779
Wolfgang Gehrcke
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sogenanntes Gewohnheitsrecht konstruiert wird, das er-laubt, dass in andere Staaten eingegriffen wird.
Wir wollen, dass völkerrechtlich festgeschriebenwird, dass Trennungen nur im Rahmen von friedlichenVereinbarungen zwischen allen Partnern möglich sind.Vielleicht kommt es Ihnen komisch vor, wenn ich frage,ob man nicht gerade die jetzige Situation nutzen muss,um in Europa über Konferenzen, über Arbeitsgruppen,auch über gemeinsame Arbeitsgruppen mit Russlandund anderen Staaten, zu einer Erneuerung des Völker-rechts auf der Grundlage der Charta der Vereinten Natio-nen zu kommen. Das ist dringend notwendig. Wirwollen geschriebenes Völkerrecht, das für alle gleicher-maßen gilt und gegen alle gleichermaßen durchgesetztwird. Das wollen wir erreichen. Das bedeutet, dass manerst einmal selbstkritisch an die Dinge herangehen muss.Das war der Anstoß, den Gregor Gysi geben wollte.
Ich verstehe nicht, warum man einen so einfachen Ge-danken nicht einmal konstruktiv aufnehmen kann.
Wenn mir noch ein polemischer Satz gestattet ist, undzwar zu Ihrem schönen Bild von dem Verstand, der indie Trompete rutscht: Wenn man mit dem Finger auf an-dere zeigt, zeigen auch immer Finger auf einen selbst zu-rück. Schauen Sie einmal in die Trompete hinein, um zusehen, wessen Verstand Sie dort finden!
Vielen Dank. – Herr Kollege Grund.
Ich schaue zuerst in die Geschäftsordnung und stelle
fest, dass wir nicht nur eine Weiterentwicklung des Völ-
kerrechts haben, sondern auch eine Weiterentwicklung
der Geschäftsordnung. Eine Kurzintervention kann sich
immer nur auf den Redebeitrag beziehen, der unmittel-
bar zuvor gehalten worden ist; es darf nicht noch ein an-
derer Redner dazwischen gewesen sein. Aber wir wollen
jetzt darüber hinwegschauen.
Herr Kollege Gehrcke, wer die Situation seinerzeit im
Kosovo mit der Situation jetzt auf der Krim vergleicht,
der vergleicht Äpfel mit Birnen; das ist etwas fundamen-
tal anderes. Im Kosovo hat es einen Völkermord gege-
ben. Der Auftrag der Völkergemeinschaft an die Verein-
ten Nationen ist, Völkermord zu verhindern und alle
Möglichkeiten, alle juristischen und alle diplomatischen
Möglichkeiten, zu nutzen, um Völkermord aufzuhalten.
Srebrenica war schon passiert. Ich nenne auch Vukovar.
Die Resolution ist immer wieder am Veto Russlands im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gescheitert,
sodass es zur Beendigung des Völkermords keine andere
Möglichkeit mehr gegeben hat, als so vorzugehen, wie
vorgegangen worden ist.
Nun zur Krim. Alle Argumente, die für die Annexion
der Krim vorgetragen worden sind – Bedrohung der rus-
sischen Minderheit; es sei sogar schon jemand umge-
kommen; die Sprache dürfe nicht mehr gesprochen wer-
den –,
waren aus der Luft gegriffen und hatten überhaupt nichts
mit der Wirklichkeit zu tun. Alles das, was man mit der
ukrainischen Regierung hätte aushandeln können – Au-
tonomiestatus der Krim etwa –, ist einfach ausgeschla-
gen worden. Es sind vollendete Tatsachen geschaffen
worden. Es ist etwas herausgeschnitten worden. Vollen-
dete Tatsachen! Annexion! Ein Teil eines Landes wurde
einem anderen Land angegliedert. Das ist mit der Situa-
tion im Kosovo seinerzeit überhaupt nicht zu verglei-
chen. Ich bitte Sie und die Kollegen der Linken, diese
Argumentation nicht zu wiederholen, weil sie nicht trägt.
Vielen Dank.Herr Kollege Grund, der Kollege Gehrcke war vonIhnen so beeindruckt, dass er der irrigen Auffassung war,dass Sie ihm das Wort erteilen dürfen. Das war mir ent-gangen. Deshalb wollte ich den Fehler korrigieren undhabe eine Ausnahme von der Geschäftsordnung ge-macht.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/853. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Keine. Damit ist dieser An-trag gegen die Stimmen der Linken abgelehnt worden.
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1780 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Beratung der Unterrichtung durch den Wehr-beauftragtenJahresbericht 2013
Drucksache 18/300Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie jetzt ganzschnell die Plätze wechseln, dann könnte ich die Aus-sprache auch eröffnen. – Ich eröffne die Aussprache.Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bun-destages, Hellmut Königshaus.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren Abgeordnete! Es ist bemerkenswert, dass sichdas Hohe Haus schon so kurz nach der abschließendenBeratung des Jahresberichts 2012 mit dem Jahresbericht2013 befasst. Das ist ein wirklich gutes Signal an dieSoldatinnen und Soldaten und auch an ihre Familien. Eszeigt, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundesta-ges nicht nur Belastungen beschließen, sondern sichauch mit den Folgen für die Truppe, für die Soldatinnenund Soldaten, übrigens auch für die Zivilbeschäftigten,befassen wollen. Es gibt eine ganze Reihe von Heraus-forderungen, denen sich die Angehörigen der Bundes-wehr stellen müssen. Deshalb ist das besonders wichtig.
Die Herausforderungen, meine Damen und Herren,sind immens. Das schlägt sich auch in den Eingaben, dieuns erreichen, immer wieder nieder. Mit knapp5 100 Zuschriften erreicht die Eingabenquote im Be-richtsjahr einen absoluten Höchststand, gemessen an derKopfzahl der Soldatinnen und Soldaten. Gegenstand derEingaben waren schwerpunktmäßig Probleme in den Be-reichen Personalführung, Ausbildung, Einsatz, Betreu-ung und Versorgung der Soldatinnen und Soldaten undihrer Familien. Übrigens, damit nicht der Eindruck ent-steht, das alles seien nur Sonderentwicklungen wegender Frage der Beihilfebearbeitung: Auch in den erstenbeiden Monaten dieses Jahres hat sich diese Quote aufdem gleichen hohen Niveau bewegt wie im vorangegan-genen Jahr. Ich glaube, das sollte schon Anlass sein, dieangekündigte Evaluierung der Neuausrichtung umge-hend anzugehen, um den eingeschlagenen Kurs der Um-strukturierung der Streitkräfte zum Erfolg zu führen.Das Berichtsjahr 2013 war für unsere Soldatinnenund Soldaten ein Jahr des Umbruchs. Die Neuausrich-tung der Bundeswehr stellte die neue Struktur neben diebisherige. In der Praxis bedeutete das: Trotz erheblicherReduzierung des Personals mussten beide Strukturen un-ter der vollen Belastung der Einsätze ausgefüllt werden.Hinzu kam die Verunsicherung vieler Soldatinnen undSoldaten und ihrer Familien, aber auch vieler Zivilbe-schäftigter über die Frage, ob, wo und in welcher Ver-wendung sie künftig ihren Platz in der sogenanntenneuen Bundeswehr finden werden.Ich erwähne übrigens die Zivilbeschäftigten an dieserStelle, weil die Verlagerung von Zuständigkeiten derBundeswehrverwaltung in die Bereiche der Innen- undFinanzverwaltung zu massiven Verzögerungen bei derBearbeitung der Beihilfe- und Versorgungsanträge führteund darüber hinaus auch verfassungsrechtliche Fragenzur zukünftigen parlamentarischen Kontrolle dieser Be-reiche aufwirft, die sich aus meiner Sicht bisher nochnicht abschließend beantworten lassen. Ich will nichtüber die Frage reden, ob die besonderen Rechte des Ver-teidigungsausschusses durch diese Verlagerung berührtsind; das wird sicherlich das Parlament selbst beantwor-ten. Rechte des Wehrbeauftragten sind allerdings sehrwohl betroffen; denn insbesondere Auskunfts- und Be-suchsrechte hat er nur unmittelbar gegenüber Dienststel-len aus dem Bereich der Bundesministerin der Verteidi-gung.Im Bereich der Streitkräfte gibt der Verlauf der Neu-ausrichtung durchaus noch immer Anlass zur Sorge, zuder Sorge nämlich, dass eine nachhaltige Verbesserungder Einsatzfähigkeit, Finanzierung und Attraktivität derStreitkräfte nicht erreicht werden kann, wenn nicht nach-gesteuert wird. Trotz der bisher erfolgten Umstrukturie-rung steht die Bundeswehr mit den laufenden Einsätzenpersonell und materiell nach wie vor an den Grenzenihrer Leistungsfähigkeit. Operativer Bedarf und struktu-relle Ausplanung klaffen auf absehbare Zeit weiter deut-lich auseinander. Der Jahresbericht geht darauf ausführ-lich ein.Ich nenne in diesem Zusammenhang hier nur einigebesonders kritische Bereiche wie den Lufttransport undden Luftumschlag, die Flughafenfeuerwehr, den Flug-verkehrskontrolldienst sowie die Flugberatung bei derLuftwaffe. In der Marine ist es ein offenes Geheimnis,dass die Besatzungen der Schiffe und Boote im Einsatznur unter Rückgriff auf die letzten Reserven auch in Stä-ben und Dienststellen zusammengestellt werden können.Auch im Heer reicht das verfügbare Personal nicht aus,um Einsatzkontingente unter Berücksichtigung desGrundsatzes „4 Monate Einsatz, 20 Monate Inlands-dienst“ wirklich verlässlich abbilden zu können. DasPrinzip „Breite vor Tiefe“ ist angesichts dieser Situationmeines Erachtens zu überprüfen. In der jetzigen Formführt es zur Überlastung insbesondere der einsatzrele-vanten Bereiche. Es bedarf daher einer Korrektur. Diefür dieses Jahr vorgesehene Evaluierung der Neuausrich-tung wird dies erweisen und bietet auch eine gute Grund-lage und Gelegenheit dafür.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1781
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
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Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch in diesemJahr beim Thema „Vereinbarkeit von Familie undDienst“. Jenseits aller Entbehrungen, die der Beruf desSoldaten unvermeidbar mit sich bringt, muss der Dienstso gestaltet werden, dass er auch ein befriedigendes Fa-milienleben zulässt. Dazu bedarf es natürlich mehr alsbloßer Bekenntnisse, so unter anderem auch der Bereit-schaft, zusätzliche finanzielle Mittel für diese Aufgabenzur Verfügung zu stellen. Ich bin froh, dass Sie, FrauBundesministerin, die Verbesserung der Vereinbarkeitvon Familie und Dienst zu einem Schwerpunkt Ihrer Ar-beit machen wollen. Dieses Signal ist bei den Soldatin-nen und Soldaten und vor allem bei ihren Familien gutangekommen. Sie erwarten nun allerdings, dass Verbes-serungen in diesem Bereich unmittelbar und konkretspürbar werden. Ich hoffe, Frau Ministerin von derLeyen, dass Sie auf diesem Gebiet tatsächlich klare Li-nie halten.Ein wesentliches Thema war im vergangenen Jahr dieSituation der Frauen in der Bundeswehr. BeunruhigendeMeldungen über sexuelle Übergriffe haben deren Situa-tion stärker in das Blickfeld gerückt. Jenseits der gravie-renden Fälle, über die in den Medien berichtet wurde,klagten zahlreiche Soldatinnen über frauenspezifischeDiskriminierung. Sie bestätigten damit die inzwischenveröffentlichte Studie „Truppenbild ohne Dame?“. ImGespräch mit Betroffenen wurde deutlich, dass oftmalsHemmungen bestehen, Mobbing, sexuelle Belästigun-gen oder sogar sexuelle Übergriffe zu melden. – Das hatübrigens dazu geführt, dass auch bei mir ein falscherEindruck entstanden ist. Manche meiner Stellungnah-men würde ich heute so nicht mehr abgeben. – Dieswurde im Gespräch, aber auch aufgrund der Diskussionin der Öffentlichkeit deutlich. Als Gründe für die Zu-rückhaltung, dies zu melden, wurde vorwiegend dieFurcht vor negativen Auswirkungen auf die eigene Beur-teilung und mögliche Laufbahnnachteile genannt. AlleVorgesetzten bleiben daher aufgefordert, frauenfeindli-chen Tendenzen konsequent entgegenzutreten und verlo-renes Vertrauen in ein kameradschaftliches Miteinanderzurückzugewinnen.
Meine Damen und Herren, die Auswirkungen derVeränderungen durch die Neuausrichtung brachten esmit sich, dass die Personalführung noch stärker insBlickfeld geriet; das versteht sich von selbst. Aber auchdie rechtlichen Rahmenbedingungen brachten erheblicheVeränderungen. Bei den Auswahlverfahren zur Über-nahme von Soldatinnen und Soldaten in das Dienstver-hältnis einer Berufssoldatin bzw. eines Berufssoldatenwurden Geburtsjahrgänge bisher immer getrennt be-trachtet. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in einerGrundsatzentscheidung zu Recht als unzulässig verwor-fen, weil Eigenleistung und Befähigung nicht unbedingtim Zusammenhang mit Jahrgängen zu sehen sind. Esgibt auch Menschen älterer Jahrgänge, die durchaus eineLeistungsfähigkeit erbringen, die bei Jüngeren vergeb-lich gesucht wird.
Für Offiziere wurde diese Gerichtsentscheidung imAuswahlverfahren 2013 bereits berücksichtigt. Das Aus-wahlverfahren für Feldwebel dagegen wurde im Be-richtsjahr zunächst ausgesetzt und auf das laufende Jahrverschoben. Das ist bei den betroffenen Bewerbernnachvollziehbar auf Unverständnis gestoßen. Je mehrsich das Auswahlverfahren verzögert, desto größer istdie Gefahr, dass sich die besten Bewerberinnen und Be-werber beruflich bereits anderweitig orientiert habenoder dass sie persönliche Nachteile erfahren, auch wennsie in der Bundeswehr bleiben.Schwer tut sich die Bundeswehr auch mit der Umset-zung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie. Schon beiden zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konnteder Ausgleich für mehr geleisteten Dienst personell nichtoder nur schwer kompensiert werden, sodass einzelneArbeitsbereiche vorübergehend stillgelegt werden muss-ten, etwa die Flughafenfeuerwehr. Dem Grunde nach giltdie Arbeitszeitrichtlinie nach meiner Auffassung auchfür Soldatinnen und Soldaten, sodass eine Umsetzung indiesem Bereich unausweichlich ist. Es macht keinenSinn, davor die Augen zu verschließen. Je eher sich dieBundeswehr, aber auch das Parlament mit den personel-len und finanziellen Folgen einer entsprechenden Um-setzung beschäftigt, desto besser wird darauf reagiertwerden können. Ich sage auch – ich weiß nicht, ob HerrKampeter heute anwesend ist –: Kostenneutralität stehtdabei nicht in Aussicht.Ein letztes Stichwort: Sanitätsdienst. Erhebliche Sor-gen bereitet nach wie vor die sanitätsdienstliche Versor-gung. Ohne einen massiven Rückgriff auf zivile Kapazitä-ten ist die Versorgung heute nicht mehr sicherzustellen.Deshalb gibt es eine immer engere Kooperation zwi-schen zivilen und militärischen Bereichen. Allerdingsdarf dabei der militärische Versorgungsauftrag nach mei-ner Auffassung nicht aus dem Blick verloren werden.Ich habe den Eindruck, dass vielfach die Fragen derWirtschaftlichkeit den eigentlichen Daseinszweck desSanitätsdienstes mehr und mehr überlagern. Das darfnicht sein.Ich sehe, dass ich meine Zeit schon überschrittenhabe, und möchte Ihnen an dieser Stelle für Ihre Auf-merksamkeit danken. Aber wenn Sie erlauben, Frau Prä-sidentin, möchte ich noch einen besonderen Dank anmeine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter richten, diewirklich Großartiges geleistet haben. Wir hatten nichtnur eine hohe Zahl von Eingaben, sondern eben auchsehr komplizierte und konkrete Fragen zu klären. DieseArbeit ist auf großartige Art und Weise geleistet worden.Das Gleiche gilt natürlich für unsere Ansprechpartner inden Ministerien, in den militärischen Organisationenund auch im Parlament. Wenn Sie erlauben, richte ich andieser Stelle meine Grüße auch an alle Soldatinnen undSoldaten im Einsatz. Nochmals ganz herzlichen Dank!Vielen Dank.
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1782 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
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Vielen Dank, Herr Kollege Königshaus. – Ich habeIhnen die Zeit für diesen Dank gerne gewährt. Bevor ichder nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich Ih-nen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Na-men des ganzen Hauses für die Vorlage des Jahresbe-richts 2013 ganz herzlich danken.
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursulavon der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrKönigshaus! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevorwir in die Debatte eintreten, möchte ich vorwegstellen,dass der Jahresbericht des Wehrbeauftragten 2013 wiejeder Jahresbericht ein Ergebnis langer Recherchen, vie-ler Mühen und verantwortlicher Bewertung ist. Deshalb,Herr Königshaus, möchte auch ich Ihnen und Ihren Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern für diesen Einsatz dan-ken. Wir alle wissen aus der Erfahrung der vergangenenJahre – ich merke es auch jetzt im neuen Amt –, dass Ih-nen die Belange der Soldatinnen und Soldaten wirklichein Herzensanliegen sind. Ich danke für diesen Einsatz.
In Ihrem aktuellen Bericht werden naturgemäß Män-gel genannt. Es werden aber auch Lösungsvorschlägeunterbreitet und Verbesserungsvorschläge nicht ver-schwiegen. Auch dafür möchte ich ausdrücklich danken.Ich möchte auf einige Themenbereiche des Berichtseingehen. Haben Sie Verständnis dafür, dass ich nicht al-les abarbeiten kann. Ich möchte vor allen Dingen diebeiden wichtigsten Punkte ansprechen. Das sind einer-seits die Auslandseinsätze und andererseits die Attrakti-vität der Bundeswehr nach innen; denn zwischen diesenbeiden großen Komponenten spielt sich das zentraleThema, nämlich die Herausforderung, die eine doppelteist, ab.Sie haben eben schon ganz richtig skizziert, HerrKönigshaus, dass die Bundeswehr einer Doppelbelas-tung ausgesetzt ist. Auf der einen Seite steht die Reform,die Neuausrichtung, die noch lange nicht abgeschlossenist; wir stecken mittendrin. Das bedeutet für viele: Um-strukturierungen, Standortverlagerungen, neue Zustän-digkeiten, Unsicherheit auch in Bezug auf die Fragen,wie es weitergeht, wie die neue Kapazität aussieht undwann sie aufgebaut ist. Auf der anderen Seite stehen dieAuslandseinsätze. Wir wissen alle, dass die Welt nichtstillsteht und Einsätze hinzukommen, so wie im letztenJahr im Hinblick auf die Türkei und Mali. Diese Doppel-belastung – Neuausrichtung und Auslandseinsätze – ver-langt von den Angehörigen der Bundeswehr viel Geduldund Verständnis. Sie verlangt aber auch vonseiten desMinisteriums und der Leitungsebene viel Verständnis fürdie besondere Situation der Soldatinnen und Soldaten.Es bedarf immer Ideen und Bemühungen für jede Artvon Verbesserung und kluger Planung, damit wir in die-ser besonderen Situation das Beste für die Soldatinnenund Soldaten ermöglichen.Bei Auslandseinsätzen besteht die grundsätzliche Re-gel 4/20, die alle kennen, also im Grundsatz 4 MonateEinsatz und 20 Monate der Vor- und Nachbereitung so-wie der Regeneration. Tatsache ist aber, dass wir dasnicht immer einhalten.
Bei der großen Mehrheit der Einsätze, bei weit mehr als75 Prozent, funktioniert das. Aber in bestimmten Teilender Truppe, vor allen Dingen, wenn Spezialisierung undhohe Qualifizierung gefordert sind, spüren wir den Man-gel an Personal und vor allem den Fachkräftemangel,den in Bezug auf genau diese Komponenten inzwischenauch die deutsche Wirtschaft und der deutsche Mittel-stand spüren.Das moderne Gesicht der veränderten Bundeswehrbeinhaltet, dass wir Einsätze niemals alleine, sondernimmer unter dem Dach der Vereinten Nationen, der EUoder der NATO leisten, also mit geteilten Fähigkeitenund immer im vernetzten Ansatz. Der Einsatz des Mili-tärs ist die Ultima Ratio. Wir wissen: Es gibt keine Ent-wicklung ohne Sicherheit. Es gibt aber eben auch keineSicherheit ohne Entwicklung.Das bedeutet für uns nach innen, dass zwar in denverschiedenen Bereichen eine Grundausstattung da seinmuss, aber wir uns zunehmend auf unsere Stärken kon-zentrieren sollten, die auch immer stärker von den Bünd-nispartnern nachgefragt werden. Die Komponenten sindeben benannt worden. Da ist das weite Thema der Luft-unterstützung, da ist die Logistik, da ist das breite Feldder Ausbildung, und zwar nicht nur der militärischenAusbildung, sondern auch der Ausbildung im Hinblickauf Fertigkeiten bis hin zu Pionierspezialwissen. Da gehtes aber auch um die Frage der wertegebundenen Füh-rung – wie führe ich eine Armee innerhalb demokrati-scher Strukturen, wissend, dass Militär keine Politikmacht, sondern eine dienende Funktion hat? – und umdas große Thema der medizinischen Versorgung und derSanität.Ich habe eben die Schlüsselqualifikationen nicht ab-schließend aufgeführt, aber die dominierenden genannt; ichhabe angeführt, wo die Hauptprobleme liegen. Es geht umdie beruflichen Fähigkeiten von Technikern, Flugzeugprü-fern, Spezialpionieren, aber eben auch von ärztlichem Per-sonal. Dort ist die Bundeswehr besonders nachgefragt undwird die Belastung – da dürfen wir uns nichts vormachen –weiterhin hoch sein, gerade im Vergleich zu anderen Trup-penteilen, in denen die Regel „4 Monate Einsatz, 20 Mo-nate zu Hause“ gut funktioniert. Das wird ein Dauerthemableiben; denn wir konkurrieren nicht nur innerhalb derBündnisse um diese Fähigkeiten, die immer wieder nachge-fragt werden, sondern auch mit der gesamten Wirtschaft.Das betrifft die Berufe der Ärztinnen und Ärzte, der IT-Spe-zialisten sowie technische Felder; Sie kennen sie alle. Das
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1783
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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sind genau die Bereiche, in denen die Wirtschaft inzwi-schen den Fachkräftemangel spürt; alle stehen bei diesenFähigkeiten in Konkurrenz. Das bedeutet für uns: Wirmüssen bei den Lösungen flexibler und kreativer wer-den.Die Bundeswehr bietet inzwischen ein Splittingmo-dell an – man würde das in der Wirtschaft wahrschein-lich Jobsharing nennen –: Einsatzdienstposten werdenvon zwei Soldatinnen oder Soldaten besetzt. Dadurchkann die Einsatzdauer flexibler und kürzer gestaltet wer-den. Die Luftwaffe hat ein entsprechendes Projekt undmacht damit gute Erfahrungen. Wir werden das ganz si-cher ausbauen. Eines ist aber auch klar: Mit Flexibilisierungallein ist es nicht getan; denn viele Arbeitgeber fragen, wieich eben geschildert habe, diese Schlüsselqualifikationennach. Wir müssen also als Arbeitgeber die richtigen Ant-worten geben.Die Bundeswehr hat als Arbeitgeber zwei große Stär-ken: Erstens. Sie bietet einen sicheren Arbeitsplatz; esgibt keine feindlichen Übernahmen oder Konzernre-strukturierungen, um in der Wirtschaftssprache zu spre-chen.
Zweitens. Die Bundeswehr hat eine außergewöhnlichverlässliche Personalentwicklung wie kaum ein andererArbeitgeber. – Das sind die großen Stärken.Sie muss sich andererseits bei den Themen viel brei-ter aufstellen, die sich hinter dem Begriff „Vereinbarkeitvon Dienst und Familie“ verbergen: flexible Arbeitszeit-modelle, selbstverständlich die Umsetzung der EU-Ar-beitszeitrichtlinie – wenn die Hochleistungsmedizin dasgeschafft hat, wenn andere kritische Berufe das geschaffthaben, dann muss das auch die Bundeswehr schaffen –,mobiles Arbeiten – damit meine ich physisch unabhängi-ges, IT-gestütztes Arbeiten – und das Mitdenken vonKindern und Eltern, die gepflegt werden müssen. Dasmöchte ich nicht nur auf Soldatinnen reduziert sehen; esbetrifft genauso elementar die Soldaten, die selbstver-ständlich gute Väter für ihre Kinder sein wollen. Viel-leicht hat nicht jede Soldatin oder jeder Soldat Kinder;aber sie alle haben Eltern. In einer Gesellschaft im de-mografischen Wandel kommt dieses Thema mit großerGeschwindigkeit auf uns zu. Wir müssen darauf Antwor-ten geben; sonst werden wir nicht mehr das Personal hal-ten können, das wir halten wollen.
Herr Königshaus, Sie sprachen das Thema „Truppen-bild ohne Dame“ an, also die Stellung der Frauen in derBundeswehr. Ich glaube, etwas mehr als zehn Jahre nachder Öffnung der Bundeswehr für Frauen – am Anfangstand sicherlich auch das Interesse am Neuen und Unge-wöhnlichen im Raum – kommt jetzt die Phase, in derman die Konkurrenz spürt; das ist eine Selbstverständ-lichkeit. Ich finde es in dieser Zeit ganz wichtig, diesesThema offen anzusprechen und zu debattieren und dieTruppe im Hinblick auf ihre Sprache und ihre Umgangs-formen zu sensibilisieren. Es dürfen keine Nachteile da-raus entstehen, dass man dies zum Thema macht. Hierbedarf es ganz klar der Führung, die deutlich machenmuss, dass das Thematisieren keinen Nachteil bedeutet.Diskriminierung oder Belästigung sind keine Tabuthe-men. Man muss sich nicht in die Ecke stellen und schä-men, wenn man sie anspricht. Im Gegenteil: Indem mansie aufs Tapet bringt, kann man die Wurzel des Übelsfinden und damit eine Veränderung des Verhaltens in derTruppe herbeiführen.
Ein weiterer Punkt, der mir in Bezug auf das Thema„attraktiver Arbeitgeber“ wichtig ist, ist das Thema Ver-wendungsaufbaumodelle. Schon allein der Begriff ist et-was starr und sicherlich auch überfrachtet. Ich habe ebendarauf hingewiesen, dass die sehr verlässliche Personal-planung eine große Stärke der Bundeswehr ist. Aber esist eher so, dass sich die Soldatinnen und Soldaten nachder Personalplanung richten müssen. Ich hingegenglaube, dass wir lernen müssen, vom Soldaten, von derSoldatin her zu denken und die Planung an deren Le-benswirklichkeit anzupassen. Ein Beispiel wäre, die Ver-wendungslaufbahnen regional zu organisieren, damitman nicht mehr von Pontius zu Pilatus reisen muss, umeine Verwendungslaufbahn zu absolvieren. Vielmehrsollte es den Soldatinnen und Soldaten ermöglicht wer-den, die Verwendung in der Region zu realisieren, in dersie ihren Lebensmittelpunkt, ihre Familie haben. Bei derPlanung muss man vom Menschen her denken und nichtumgekehrt. In Ihrem Jahresbericht schreiben Sie, HerrKönigshaus, dass die Attraktivität eine Überlebensfrageder Bundeswehr sei. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu.Ich möchte meinen Blick kurz auf das Thema „Wer-bung von Nachwuchs bei der Bundeswehr“ richten. DieAusgangslage ist sehr gut. Für 2014 konnten wir bisheute, also 9 Monate vor Ende des Jahres, bereits54 Prozent aller verfügbaren Stellen für Soldatinnen undSoldaten auf Zeit besetzen. Das ist ausgezeichnet. Auchdie Qualifikationen stimmen. 70 Prozent der Bewerbe-rinnen und Bewerber haben mindestens die mittlereReife. Mehr als zwei Drittel – das finde ich ganz klasse –bringen eine abgeschlossene Berufsausbildung mit. Esbewerben sich also bereits qualifizierte Leute bei derBundeswehr. Das ist hocherfreulich. Genau da müssenwir weitermachen.Ich möchte zum Schluss einen Aspekt herausgreifen,der wenig Beachtung findet, aber ein Kleinod innerhalbder Bundeswehr ist, und zwar das Thema „Bildung undQualifikation“. Die Bundeswehr ist ein bedeutender Bil-dungs- und Ausbildungsträger in unserem Land, sowohlim militärischen als auch im zivilen Bereich. Wir könnenauf einer vielfältigen Bildungs- und Qualifizierungsland-schaft aufbauen, die im Vergleich zu anderen Arbeitge-bern einzigartig ist. Mit diesem Pfund müssen wir wu-chern. Das betrifft die Themen Berufsausbildung,fachliche Fort- und Weiterbildung und akademischerAbschluss. Ich will Ihnen hierzu zwei Zahlen nennen.Allein 5 000 Soldatinnen und Soldaten nehmen zurzeitan 500 unterschiedlichen Maßnahmen auf Gesellene-bene oder auf Meisterebene teil. Allein 4 500 Studentin-nen und Studenten werden in 55 unterschiedlichen Stu-diengängen ausgebildet, um ihren Masterabschluss zumachen. Die Bundeswehr bildet gewissermaßen eine
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1784 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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ganze Ausbildungs- und Universitätslandschaft im Klei-nen ab. Das ist ein riesiger Marktvorteil, den wir weiterausbauen wollen.Ich möchte noch einige Bereiche kurz antippen, in de-nen wir besser werden können; wir haben zwar denMarktvorteil, aber den wollen wir auch behalten. Solda-tinnen und Soldaten erwerben im Dienst viele Kompe-tenzen und Qualifikationen. Warum zertifizieren wirdiese nicht für den Zivilberuf? Erhält man ein Zertifikatüber das, was man bei der Bundeswehr gelernt hat, danneröffnen sich im Anschluss beim Übergang in den zivi-len Beruf viel größere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.Mit Blick auf unseren Binnenarbeitsmarkt fragt mansich: Warum nutzen wir solche Zertifikate nicht viel stär-ker bei Soldatinnen und Soldaten auf Zeit, um sie in jenezivile Berufe zu übernehmen, in denen genau ihre Quali-fikation nachgefragt wird? Die Bildungseinrichtungen,die ich eben genannt habe, sind vom Feinsten. Wiesoöffnen wir sie eigentlich nicht für alle Angehörigen derBundeswehr? Lebenslanges Lernen und Aufstiegsquali-fizierung sind die Schlüsselkompetenzen, die eine Ge-sellschaft im demografischen Wandel braucht. Die Bun-deswehr braucht sie genauso.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir haben in derBundeswehr alle Möglichkeiten. Nutzen wir sie!Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat Christine Buchholz,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Herr Königshaus! Meine Damenund Herren! Der Jahresbericht 2013 des Wehrbeauftrag-ten verdeutlicht vor allen Dingen eines: Wenn Frau vonder Leyen sagt, der Mensch müsse im Mittelpunkt ste-hen – das haben Sie zumindest zum Ende Ihrer Rede ge-sagt –, dann hat das mit der Realität in der Bundeswehrallzu oft nichts zu tun. Umgerechnet auf die Personal-stärke haben 2013 mehr Soldaten als je zuvor über Miss-stände geklagt. Das ist eine schallende Ohrfeige für denabgetretenen Verteidigungsminister de Maizière. Ichfüge hinzu: Die ersten Initiativen von Frau von derLeyen lassen Zweifel aufkommen, dass sich an diesemZustand etwas ändern wird.
Die Bundeswehr ist keine Verteidigungsarmee mehr.Sie wird zu einer global agierenden Interventionsarmeeausgebaut. Allein im Berichtsjahr 2013 kamen Einsätzeim Senegal, in Mali und in der Türkei hinzu. Dabei wirdnicht nur die Mehrheit unserer Bevölkerung ignoriert,
die diese Einsätze zu Recht ablehnt. Der gesamte Umbauder Bundeswehr wird sogar auf dem Rücken der Solda-tinnen und Soldaten und ihrer Familien ausgetragen. Dasist die Realität, die einem ins Auge springt, wenn manden Bericht des Wehrbeauftragten liest.
Frau von der Leyen, Sie haben von einem „sicherenArbeitsplatz“ bei der Bundeswehr gesprochen. Erstmaligseit zwei Jahren ist wieder ein Soldat in einem Feuerge-fecht in Afghanistan gestorben. Das ist tragisch.Schlimm ist auch, wenn Soldatinnen und Soldaten mitpsychischen Störungen und traumatisiert nach Hause zu-rückkehren. Es geht um Depressionen, um Alkoholab-hängigkeit und um PTBS, Posttraumatische Belastungs-störungen. 2006 wurden 83 Soldaten mit PTBS inBundeswehrkrankenhäusern behandelt, 2013 waren eslaut Bericht bereits 1 500 – Tendenz: stark zunehmend.Dazu kommen jene, die privat in Therapie sind, und jeneFälle, die gar nicht erkannt werden. Selbst das zur Bun-deswehr gehörende Psychotraumazentrum in Berlin gehtdavon aus, dass ein Viertel der Soldatinnen und Solda-ten, die zurückkommen, unter einsatzbedingten psychi-schen Störungen leidet.Es ist traurig, aber 15 Jahre systematische Ausrich-tung der Bundeswehr auf internationale Einsätze habenPTBS zu einer in Deutschland verbreiteten Krankheitgemacht. Insgesamt waren allein in Afghanistan 160 000deutsche Soldaten im Einsatz. Es gibt heute kaum einenOrt in Deutschland, in dem keine Familien leben, die da-von betroffen sind. PTBS-Kranke leiden zum Beispielunter Schlaflosigkeit. Schlüsselreize wie Hitze oderRauch, die an die traumatisierenden Erfahrungen imKrieg erinnern, können Wutattacken auslösen. Kinder,Freunde, Partnerinnen und Partner, sie alle bekommentagtäglich die Auswirkungen zu spüren. Die Scheidungs-raten bei Heimkehrern liegen in einzelnen Einheiten beibis zu 80 Prozent. Der NATO-Einsatz in Afghanistan hatZehntausenden Afghanen das Leben gekostet; aber die-ser Krieg macht auch Soldaten und ihre Familien krank.Dieses Problem muss endlich in all seiner Schärfe aner-kannt werden.
Das Problem wird sich verstärken, wenn Ende desJahres eine größere Zahl aus Afghanistan zurückkehrt;denn aus der Erfahrung vergangener Kriege weiß man,dass viele psychische Erkrankungen erst später auftau-chen. Aber was macht die Bundesregierung? Sie ver-schärft das Problem weiter. Sie verweigert sich einerehrlichen Bilanz von zwölf Jahren Krieg in Afghanistan.Sie hält weiter über 3 000 Soldatinnen und Soldaten inAfghanistan. Von einem echten Abzug kann keine Redesein. Die Bedrohungslage im Norden wird teilweise im-mer noch als erheblich eingeschätzt; trotzdem wird dasimmer wieder vom Tisch gewischt.Der nächste Bundeswehreinsatz in einem Bürger-kriegsland steht vor der Tür. Heute noch wird im Bun-destag über die Entsendung von Soldaten nach Mogadi-schu in Somalia diskutiert.
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Wer im Bundestag solche Entsendungsbeschlüsse fällt,ist mitverantwortlich für die Traumatisierten von mor-gen. Hören Sie endlich auf damit!
Man sollte meinen, die psychisch erkrankten Soldatenwürden nach ihrer Heimkehr wenigstens vernünftig be-handelt. Das ist aber beileibe nicht der Fall. Im Berichtwird das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz erwähnt. Esverpflichtet die Bundeswehr seit 2012, Soldaten ab ei-nem einsatzbedingten Schädigungsgrad von 30 Prozentweiterzubeschäftigen. Erkrankte bekommen somit eineberufliche Perspektive, können eine Therapie machenoder eine weitere Ausbildung. Das ist eine Verbesserung.Doch das Problem liegt in der Umsetzung. Viele Verfah-ren landen vor dem Gericht, weil die Bundeswehr dieAnsprüche einfach nicht anerkennen will. Viele Soldatenmit PTBS müssen mit der Bundeswehr erst mühsam umjedes Detail ringen. Das ist unwürdig.
Noch schwieriger ist es für die Soldatinnen und Sol-daten, bei denen die psychischen Störungen erst nachdem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst auftreten. Fürsie – ich zitiere den Wehrbeauftragten – „bietet derDienstherr … lediglich Informationen und Kontakt-adressen in Merkblättern über das Internet an.“ Merk-blätter im Internet zu PTBS – meine Damen und Herren,das ist zynisch.
Herr Königshaus stellt dazu nüchtern fest, dieses Ange-bot genüge nicht der Fürsorgepflicht des Dienstherrn.Das ist richtig. Man bekommt den Eindruck, es gehe da-rum, den Soldaten den Weg zu einer Therapie zu er-schweren, um die Folgekosten der Einsätze zu minimie-ren. Ich sage: Hier geht es um das Schicksal vonMenschen, von Familien. Dafür muss Geld bereitstehenund nicht für immer neue Waffensysteme.
Dieses Bild zieht sich durch den Jahresbericht desWehrbeauftragten. Hier ein paar Schlaglichter: Sanitäts-ärztliche und medizinische Betreuung weisen – Zitat –„erhebliche Mängel“ auf. Dienstposten der Bundeswehr,an die Eingaben bei Missständen gerichtet werden kön-nen, sind – Zitat – „in weiten Bereichen“ nicht besetzt.Darüber hinaus ist die Bundeswehr nicht bereit, Dienst-posten auszuschreiben, um das Problem der Familien-trennung durch Standortversetzungen zu reduzieren.Bei der Beihilfe gibt es einen Rückstau von 60 000Anträgen. Beihilfeberechtigte mussten bei Arzt- und Be-handlungskosten in Vorleistung treten, in einzelnen Fäl-len mit Summen in Höhe von 20 000 Euro. Das trifft vorallen Dingen die, die besonders auf die Fürsorgepflichtdes Dienstherrn angewiesen sind: chronisch Kranke oderKrebspatienten. Der Wehrbeauftragte schreibt:Ein Petent berichtete weinend am Telefon, er habebereits seine Kinder um Geld bitten müssen und ih-nen nichts zum Geburtstag schenken können. Auchwurde nach Angabe von Petenten auf notwendigeArztbesuche verzichtet, aus Angst, die Kosten nichtbegleichen zu können.Nein, meine Damen und Herren, bei der Bundeswehrstehen nicht die Menschen im Mittelpunkt, sondern diegeostrategischen Interessen Deutschlands. Das ist dieWahrheit.
Was einen so maßlos ärgert, ist, wie hier mit zweierleiMaß gemessen wird: 60 000 Soldatinnen und Soldatenwarten auf Geld, das ihnen zusteht. Doch der Rüstungs-betrieb MTU bekam im Dezember letzten Jahres maleben 55 Millionen Euro per Eilüberweisung aus demVerteidigungsministerium, ohne dass, wie vorgeschrie-ben, der Bundestag konsultiert wurde. Wofür erhieltMTU 55 Millionen Euro? Für Eurofighter-Triebwerke,die nie gebaut wurden; denn die Kosten für den Euro-fighter sind derart explodiert, dass die Bestellung redu-ziert werden musste. Nun kommt auch noch Airbus undwill 900 Millionen Euro für dieselben nie gebautenEurofighter haben. Ich sage: Das Geld, das so bei derAufrüstung verpulvert wird, fehlt im Land für Kitas,Krankenhäuser und die Versorgung der Soldatinnen undSoldaten.
Bei dieser Gelegenheit, meine Damen und Herren,muss ich noch zwei aktuelle Themen ansprechen.
Der erste Punkt betrifft die nächste Aufrüstungsrunde.Das Bundesverteidigungsministerium hat im Januar die-ses Jahres einen weiteren wichtigen Auftrag erteilt, umden Weg zur Beschaffung der US-Drohne Predator Bfreizumachen. Nicht, dass die Abgeordneten im Verteidi-gungsausschuss darüber informiert worden wären – erstaus dem Spiegel haben sie davon erfahren.
Dann schob das Ministerium hastig eine Erklärung nach.Frau von der Leyen, wo ist Ihre Initiative für Transpa-renz geblieben?Um es klar zu sagen: Diese Drohne wird Unmengenan Geld verschlingen, das an anderer Stelle dringend ge-braucht würde. Es handelt sich bei dem Typ um eineDrohne, die bis zu 1 300 Kilogramm an Raketen tragenund abschießen kann. Mit anderen Worten: Offensicht-lich werden hier die Weichen für die Beschaffung vonKampfdrohnen gestellt, auch wenn es offiziell nochheißt, der Auftrag würde keinerlei Vorentscheidung zurBeschaffung von Kampfdrohnen sein. Ich bin gespannt,ob die SPD ihrer Ankündigung aus den Koalitionsver-handlungen Taten folgen lässt. Bitte tun Sie das! Dennwir können keine Kampfdrohnen gebrauchen.
Diese Drohnen haben auch nichts mit dem Schutz der ei-genen Soldatinnen und Soldaten zu tun, wie manche be-haupten,
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sondern ausschließlich mit der Fähigkeit, selbst an zu-künftigen Drohnenkriegen teilzunehmen. Das lehnt dieLinke entschieden ab.
Der zweite Punkt ist der Parlamentsvorbehalt fürAuslandseinsätze, den die Union aufweichen möchte.Frau Nahles hat in den Koalitionsverhandlungen wört-lich gesagt: „Am Parlamentsvorbehalt wird nicht gerüt-telt.“ Aber warum stimmen Sie dann der Einsetzung ei-ner Kommission zu, die genau das zum Inhalt hat?Offenbar ist die SPD ganz einverstanden damit, Parla-mentsrechte einzuschränken, um Auslandseinsätze imRahmen von Bündnisverpflichtungen zu erleichtern.Aber auch wenn es um den Einsatz von Soldaten inNATO-Stäben, den Einsatz von AWACS-Flugzeugenoder den Einsatz von Spezialkräften geht: Wir wollennicht weniger, sondern mehr Parlamentsrechte.
Ganz nebenbei: Im Interesse von Soldaten und Solda-tinnen ist das auch; denn wenn Auslandseinsätze nichtmandatiert werden, hat das Folgen für die soziale Ver-sorgung von Soldatinnen und Soldaten. Zudem greifenmanche private Lebensversicherungen nur, wenn einEinsatz mandatiert ist. Aber auch hier das gleiche Bild:Die Große Koalition will die Hürden für Auslandsein-sätze senken, aber die sozialen Interessen der Soldaten-familien sind das Letzte, woran Sie denken.
Frau von der Leyen, Ihr positives Bild hat Kratzer be-kommen. Auch wenn Sie über die Bildung, diesesKleinod, reden, hinterlässt das mehr Fragezeichen alsAusrufungszeichen. Es besteht eine riesige Kluft zwi-schen der Realität und dem, was die Bundeswehr in ihrerImagekampagne jungen Leuten verspricht. Wenn wirschauen, was der Bericht zu den Themen Bildung undAusbildung sagt, dann lesen wir über die Unzufrieden-heit mit der Beförderungssituation in der Bundeswehr.Wie sieht es also mit den Karrierechancen aus? Zahlrei-che Soldatinnen und Soldaten beklagen, dass sie unzu-treffende oder gar keine Dienstzeugnisse erhalten haben.Zudem werden organisatorische und fachliche Mängelim Bereich der zivilberuflichen Aus- und Weiterbildungbeklagt.Anstatt millionenschwere Imagekampagnen zu be-zahlen und die Bundeswehr in Schulen zu schicken, soll-ten Sie das Geld besser für soziale Belange ausgeben.Aber für die Linke ist das Wichtigste: Beenden Sie dieAuslandseinsätze! Holen Sie die Soldatinnen und Solda-ten nach Hause, besser heute als morgen, und schickenSie sie nicht in neue Einsätze!Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Kollegin Heidtrud
Henn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrWehrbeauftragter! Sehr geehrte Frau Ministerin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Die Medien haben nach derÜbergabe des 55. Jahresberichtes des Wehrbeauftragtenan den Bundestagspräsidenten vor allem die Nachrichtverbreitet, noch nie seien so viele Eingaben beim Wehr-beauftragten eingegangen wie im Berichtszeitraum2013. Ich freue mich nicht über die aufgezeigten Pro-bleme. Ich danke aber allen Soldatinnen und Soldaten,die die Mühe und den Mut auf sich genommen habenund auf Schwierigkeiten aufmerksam gemacht haben.Ihr Recht auf Anrufung des Wehrbeauftragten ist ein ho-hes Gut, auf das sich die Soldatinnen und Soldaten ver-lassen können. Gleich zu Beginn möchte ich deshalb be-tonen, dass dafür Sorge getragen werden muss, dassPetenten keine Angst vor einer Benachteiligung durchdie Anrufung des Wehrbeauftragten haben.
Sehr geehrter Herr Königshaus, Ihnen und Ihren Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich dafür, dass Siesich um jeden einzelnen Menschen hinter der Zahl voninsgesamt 5 095 Eingaben gekümmert haben, und auchdafür, dass Sie sich bei Ihren zahlreichen Besuchen eineigenes Bild von der Lage der Truppe machen.
Danke, dass Sie den Soldatinnen und Soldaten dienen,deren Anwalt sind und dass Sie uns die parlamentarischeKontrolle der Streitkräfte möglich machen.Dass Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und MitarbeiterEingaben nicht zügig bearbeiten konnten, weil zustän-dige Dienstposten nicht besetzt waren, ist nicht zu ak-zeptieren. Hier sind wir Parlamentarier gefragt. Auf dieversprochene Abhilfe müssen Sie sich verlassen können.In Ihrem Vorwort, Herr Königshaus, danken Sie den20 000 Soldatinnen und Soldaten und Reservisten fürderen Leistung bei der Bekämpfung des Hochwassers.Dem schließen wir uns an. Diese Leistung für die Bürge-rinnen und Bürger, gemeinsam mit den zivilen Kräften,darf nicht vergessen werden. Sie hat ganz konkret dieLeistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Bun-deswehr gezeigt.Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Sie können sichdarauf verlassen: Wir werden Ihren Bericht und die Stel-lungnahmen des Verteidigungsministeriums dazu sehraufmerksam lesen, prüfen und gemeinsam mit Ihnen,den Verbänden und allen Beteiligten nach Verbesserun-gen und Lösungen suchen.Es ist beeindruckend, dass sich viele Betroffene aufdie neue Situation eingestellt und eingelassen haben. Dievon Ihnen beschriebenen Umbrüche durch die Neuaus-richtung der Bundeswehr und deren zukünftiger Strukturwerden in diesem Jahr evaluiert werden. Klar ist: Wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1787
Heidtrud Henn
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haben noch viel zu tun auf dem Weg zur neuen Bundes-wehr.Wir sind wegen der Aussetzung der Wehrpflicht da-rauf angewiesen, dass junge Menschen zur Bundeswehrfinden. Junge Menschen sind kritisch bei der Wahl desBerufes, und der soldatische Dienst verlangt Mühe undEinsatz. In unserem Koalitionsvertrag haben wir ver-sprochen, die Attraktivitätsoffensive für die Streitkräftevoranzutreiben. Hier helfen keine kosmetischen Maß-nahmen, hier nutzt, um eines der Fallbeispiele aus demBericht des Wehrbeauftragten aufzugreifen, kein neuerAnstrich auf einer verschimmelten Wand. Ohne einegute Ausstattung insgesamt kann die Bundeswehr nichtattraktiv sein. Hier wollen und werden wir anpacken.Eine gute Bundeswehr braucht eine gute Infrastruktur.Das kostet Geld – freilich –, und das Geld muss sinnvollverteilt werden.Kostenlos ist allerdings ein ordentlicher Umgangston.Wenn es hier zu Fehlverhalten von Vorgesetzten kommt,ist das nicht akzeptabel,
schon gar nicht in einer Bundeswehr, die auf Freiwilligeangewiesen ist. Es ist schlimm, wenn wegen schlechtenFührungsverhaltens junge Soldatinnen und Soldaten derBundeswehr den Rücken kehren. Ein attraktiver Arbeit-geber schätzt und unterstützt die Männer und Frauen, diefür ihn arbeiten.Die „neue Bundeswehr“ braucht natürlich Frauen.Die gewinnen wir nicht, wenn Diskriminierung, Sexis-mus, Mobbing und sexuelle Belästigung nicht mit allemNachdruck bekämpft werden. Von einem modernen Ar-beitgeber Bundeswehr dürfen Frauen zu Recht einen an-deren Umgang erwarten. Es ist eigentlich kaum zu glau-ben, dass Soldatinnen mit Nachnamen angesprochenwerden, während Soldaten mit Dienstgrad und Nachna-men angesprochen werden. Das ist keine Nachlässigkeit,sondern eine unerträgliche Form der Abwertung. Bei ei-nem guten Arbeitgeber hat das nichts zu suchen.
Es ist bedauerlich, dass wir überhaupt darüber redenmüssen; aber hier muss die Bundeswehr besser werden,wenn sie gut bleiben will.Auslandseinsätze wird es auch zukünftig geben. Diebesondere Belastung für Soldaten und Angehörige istuns bewusst. Es muss alles dafür getan werden, dass mitgenügend Personal zu häufige Einsätze verhindert wer-den und ausreichend lange Erholungsphasen zur Verfü-gung stehen. Wir schulden unseren Soldatinnen und Sol-daten neben bestmöglicher Ausrüstung auch eineoptimale Planbarkeit ihrer Einsätze.Der Sanitätsdienst – er nimmt einen großen Teil desBerichtes ein – ist, finde ich, selbst ein Patient. Dem ho-hen Anspruch kann die Bundeswehr nur gerecht werden,wenn die notwendigen Dienstposten besetzt sind. Ärzt-liches und nichtärztliches Sanitätspersonal leisten einenwichtigen Dienst. Dieser muss sich zunächst an der Ver-sorgung der Soldatinnen und Soldaten orientieren. Werkrank ist, wer verwundet ist, muss sich darauf konzen-trieren können, gesund zu werden. Dafür muss alles ge-tan werden; auch das sind wir unseren Soldatinnen undSoldaten schuldig.Es ist ein Fortschritt, dass über Posttraumatische Be-lastungsstörungen mittlerweile offen gesprochen wird.Der Wehrbeauftragte berichtet von insgesamt 1 500– davon 200 neuen – Fällen. Da ehemalige Zeitsoldatennicht erfasst werden, weil sie sich in zivilen Einrichtun-gen behandeln lassen, haben wir kein genaues Bild vomLeid der Einsatzrückkehrenden und deren Angehörigen.Über die Ansprüche ausgeschiedener Soldatinnen undSoldaten und die Einsatz- und Beschädigtenversorgungmüssen wir intensiv beraten. Wer dem Land dient, musserwarten können, dass er aufgefangen wird, wenn erkrank an Körper und Seele wird.
Herr Königshaus, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Siein Ihrem Bericht die Arbeit der Militärseelsorge so aner-kennend erwähnen. Militärseelsorge wirkt nicht nur inZeiten größter Not. Sie leistet mit ihren großen Angebo-ten zwischen Freizeitaktivitäten, ethischer Orientierung,theologischem Diskurs und Unterstützung im Einsatzebenfalls einen wichtigen Beitrag für einen attraktivenArbeitgeber Bundeswehr.
Es ist wichtig, dass sich die Soldatinnen und SoldatenMilitärgeistlichen anvertrauen können. Ich bin froh da-rüber, dass der Wehrbeauftragte keine Beschwerden imHinblick auf die Einhaltung religiöser Gebote und Feier-tage zu verzeichnen hat. Die Sicherung der freien Reli-gionsausübung ist grundgesetzlich gesichert.Wer die Besonderheiten eines Einsatzes nicht kenntund nicht selbst erlebt hat, kann nur schwer den soldati-schen Dienst verstehen. Verständnis ist aber die erste Vo-raussetzung für den Dienst am Nächsten. Darum ist dieMilitärseelsorge unverzichtbar. Das gilt nicht nur für denEinsatz, sondern auch für die Einsatznachsorge unddann, wenn die Angehörigen die Einsatzfolgen nichtrichtig einordnen können. Neben der ärztlichen Versor-gung ist die Sorge um die Seele ein ganz wesentlicherTeil, der zur Genesung beiträgt.Ich bin dafür, dass es neben dem christlichen Angebotauch Anlaufstellen für Angehörige anderer Religionengibt. Der Wunsch danach ist nachvollziehbar, und die-sem Wunsch sollte Rechnung getragen werden. Es sollteniemand, der geistlichen Beistand wünscht, alleingelas-sen werden – auch nicht bei der Bundeswehr.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werbe dafür,Standorte zu besuchen, mit Soldatinnen und Soldaten zusprechen und auch das Gespräch mit der Militärseel-sorge zu suchen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dassNot beten lehrt. Das Wichtigste im Leben sind deshalblebendige und herzliche Begegnungen mit Menschen,damit die Seele nicht verkümmert und die kranke Seele
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Heidtrud Henn
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genesen kann. Das gilt nicht nur für die Angehörigen derBundeswehr, das gilt für uns alle.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Gottes Se-gen.
Vielen Dank. – Das Wort hat Doris Wagner, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte FrauMinisterin! Werter Herr Königshaus! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich war vor 14 Tagen in Afghanistan,und ich muss Ihnen sagen: Durch Kabul zu fahren, istschon ein sehr spezielles Erlebnis. Mit einer kiloschwe-ren Sicherheitsweste und mit bewaffnetem Begleitschutzim Konvoi durch die Stadt, ständiger Funkkontakt zwi-schen den Fahrzeugen mit Anweisungen und Hinweisenauf Gefahrenquellen und auf der Straße bewaffneteMänner: Das hat mir noch einmal ganz klar vor Augengeführt, dass Soldatin oder Soldat zu sein eben kein nor-maler Beruf ist; denn sie setzen sich in ihren Einsätzenin unserem Auftrag besonderen Gefahren für Leib undLeben aus.Deshalb lese ich den Wehrbericht, für den ich HerrnKönigshaus heute auch noch einmal danken möchte, mitanderen Augen, und deshalb haben Sie, Frau Ministerin,eine spezielle Verantwortung und Fürsorgepflicht fürdiese Soldatinnen und Soldaten. Dieser Verantwortungund der Pflicht zur Fürsorge wird die Bundesregierungderzeit bei weitem nicht gerecht.Verantwortung und Fürsorge: Das bedeutet, wir müs-sen alles tun, damit die Soldatinnen und Soldaten opti-mal ausgerüstet und vorbereitet in den Einsatz gehen.Doch der Wehrbericht zeigt: Die Realität sieht andersaus. Während die Soldatinnen und Soldaten in den Aus-landseinsätzen inzwischen über eine gute Ausrüstungverfügen, herrscht in den Kasernen in Deutschland Man-gel. Da müssen Maschinengewehre von anderen Trup-penteilen ausgeliehen werden, oder unmittelbar vor demEinsatz wird kurzfristig mit Panzern trainiert, die zentralüber ein „Verfügbarkeitsmanagement“ entliehen werden,damit sich die Soldatinnen und Soldaten überhaupt aufden Einsatz vorbereiten können.Auf diese Weise möchte die Bundesregierung haus-halterische Disziplin üben, aber ich glaube, die Grund-ausrüstung ist dafür denkbar ungeeignet; denn wer seineSoldatinnen und Soldaten unzureichend vorbereitet ingefährliche Einsätze schickt, handelt fahrlässig und ver-antwortungslos.
Verantwortung und Fürsorge: Das bedeutet auch, da-für zu sorgen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten beider Erfüllung ihrer Aufgaben keinen unnötigen Schadennehmen. Doch mittlerweile müssen wir fast froh sein,wenn sie zu Hause ihren alltäglichen Dienst gesund undunbeschadet überstehen. Der Grund dafür liegt in der un-glücklichen Personalpolitik Ihrer Amtsvorgänger, Frauvon der Leyen.Unsere Streitkräfte verfügen mittlerweile nicht mehrüber ausreichend Personal, um die eigenen Kasernenund Flughäfen effektiv zu sichern. In Seedorf konnte einUnbekannter unbehelligt auf das Gelände vordringenund über 30 000 Schuss Munition entwenden. DemWehrbericht zufolge wurden in den letzten Jahren inzahlreichen Liegenschaften der Bundeswehr Radmutternan Fahrzeugen gelöst, und im Juli 2013 kam es sogar zueinem Brandanschlag. Es ist also nur noch eine Frageder Zeit, bis die ersten Soldatinnen und Soldaten durchSabotageakte zu Schaden kommen.Wir haben es schon gehört: Schlecht steht es auch umdie medizinische Versorgung der Streitkräfte. Auch hiergilt: Der Mangel an Personal hat mittlerweile gravie-rende Folgen. Bei den Sanitätsoffizieren fehlten 2013mehr als 400 Ärztinnen und Ärzte, die vor allem für dieNotfallversorgung im Einsatz unerlässlich sind. Aus Per-sonalmangel müssen in manchen Bundeswehrkranken-häusern ganze Stationen geschlossen werden, sodass dieSoldatinnen und Soldaten für Behandlungen teilweiseweite Reisen auf sich nehmen müssen. Wer sich imDienst etwa eine schwere Brandverletzung zuzieht, derkann zwar in das Krankenhaus nach Koblenz fahren unddort hervorragende Gerätschaften zur Behandlung seinerVerletzung besichtigen, optimal geholfen kann abernicht werden, weil es kein Personal mehr gibt, das sichauf Schwerstbrandverletzungen spezialisiert hat. Einesolche Situation ist völlig inakzeptabel. So können wirnicht mit Menschen umgehen, die in unserem Auftragihre Gesundheit aufs Spiel setzen.Frau Ministerin, Sie haben bei Ihrer Rede auf derMünchner Sicherheitskonferenz von der Verantwortunggesprochen, die Deutschland bei der Lösung internatio-naler Krisen übernehmen muss. Ich finde, Sie sollten ersteinmal Ihrer Verantwortung für unsere Soldatinnen undSoldaten gerecht werden. Beheben Sie den eklatantenPersonalmangel, der sich als Thema wie ein roter Fadendurch den ganzen Wehrbericht zieht! Überprüfen Sie dasTempo der Streitkräftereduzierung!Ich freue mich, dass ich Ihre Worte so deuten kann,dass Sie darüber nachdenken, ob Truppenverbände wirk-lich über Standorte von der Ostsee bis zu den Alpen ver-teilt werden müssen. Aber ich bitte Sie: Fangen Sie un-verzüglich an, die Bundeswehr zu einem attraktiven undfamilienfreundlichen Arbeitgeber umzugestalten, wieSie es Anfang des Jahres immer wieder versprochen ha-ben! Nur so werden Sie den Nachwuchs gewinnen, dendie Bundeswehr so dringend braucht.Damit, meine Damen und Herren, komme ich zu mei-nem letzten Punkt. Ein junger Mensch, der sich entschei-det, Soldat oder Soldatin zu werden, muss darauf ver-trauen können, dass sein Dienstherr verantwortungsvollmit ihm umgeht. Er muss darauf vertrauen können, dasser im Falle einer Verletzung umfassende Hilfe und Für-sorge erfährt. Leider versagt die Bundeswehr ausgerech-net in diesem Punkt kläglich, wie ich in mehreren Ge-sprächen mit Betroffenen erfahren habe.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1789
Doris Wagner
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Bis in die 80er-Jahre hinein waren Angehörige derBundeswehr und der NVA gesundheitsschädlicher Strah-lung an nicht abgeschirmten Radargeräten ausgesetzt.Viele von ihnen sind in der Folge schwer erkrankt.Trotzdem verweigert die Bundeswehr zahlreichen Be-troffenen bis heute eine angemessene Entschädigung,indem sie nur Krebserkrankungen oder Katarakte alsradartypische Folgeerkrankungen anerkennt. Die Betrof-fenen können in der Regel sehr plausibel darlegen,welch hohen Strahlenbelastungen sie ausgesetzt waren.Dennoch verbarrikadiert sich die Bundeswehrverwal-tung hinter geschätzten oder fehlerhaft und viel zu spätermittelten Werten, weil es keine Aufzeichnungen ausden 60er-Jahren gibt. Geht dann doch einmal ein Ge-richtsverfahren zugunsten der betroffenen Soldaten aus,legt die Bundesrepublik regelmäßig Revision ein. DieFolge ist: Die Prozesse ziehen sich manchmal über Jahr-zehnte hin. Ein hochbetagter früherer Soldat darf häufigvon Glück sagen, wenn er das Urteil überhaupt noch er-lebt.Dieses Verhalten, Frau Ministerin, ist schäbig. Es wi-derspricht aber auch den ureigensten Interessen der Bun-deswehr. Weshalb sollte jemand – ich komme zumSchluss Frau Präsidentin – schwören, für unseren Staatseine Gesundheit und sein Leben einzusetzen, wenn die-ser Staat offenbar nicht gewillt ist, im Schadensfall sei-ner Fürsorgepflicht nachzukommen? Deshalb mein drin-gender Appell: Hören Sie auf, mit den Geschädigtenkleinlich über Strahlenmengen zu debattieren! Die ge-schädigten Soldaten haben ihren Teil des Vertrages er-füllt. Jetzt sind Sie an der Reihe!Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita
Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Lieber Herr Wehrbeauftragter! Im Namen derCDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ich Ihnen und allIhren Mitarbeitern danken, die an der Erstellung des dif-ferenzierten und interessanten Jahresberichts 2013 betei-ligt waren. Er zeigt vor allem, dass große Reformvorha-ben häufig mit Unsicherheit der Betroffenen verbundensind, was sich in den gesteigerten Zahlen von Eingabender Soldatinnen und Soldaten im Berichtszeitraum aus-drückt.Umso wichtiger ist es, dass mit der jetzigen Bundes-wehrreform eine stabile Struktur erreicht wird, mit derdie Truppe jetzigen und zukünftigen Herausforderungenbegegnen kann, damit es nicht in ein paar Jahren wiederzur Reform der Reform kommen muss.Meine Damen und Herren, mehr als einmal haben wirin den vergangenen Jahrzehnten erlebt, dass sich dieKonstanten der Sicherheitspolitik quasi über Nacht ge-ändert haben. Dazu gehört der Zusammenbruch derkommunistischen Planwirtschaft und des WarschauerPaktes mit all seinen Folgen, einschließlich der deut-schen Wiedervereinigung und des Zerfalls der Sowjet-union. Dazu gehören auch die Anschläge vom 11. Sep-tember 2001, und dazu gehören schließlich das aktuellerussische Vorgehen auf der Krim und die Ungewissheitüber die staatliche Integrität der Ukraine.Ich glaube ausdrücklich nicht, dass wir in eine neueOst-West-Konfrontation zurückfallen werden. Es gibtderzeit keinen Grund, beispielsweise die Wehrpflichtwieder einzuführen, wie ich es diese Woche schon gele-sen habe.Allerdings müssen wir die Besorgnis unserer östli-chen Partner ernst nehmen, die an Russland oder dieUkraine grenzen und die teilweise – wie die baltischenStaaten – selbst russische Bevölkerungsteile haben. DerKernzweck der NATO als Sicherheitsbündnis gegen Be-drohungen in Europa gewinnt damit erheblich an Bedeu-tung.Lieber Herr Königshaus, es erweist sich als richtig,dass wir bei der Bundeswehrreform den Grundsatz„Breite vor Tiefe“ verfolgt haben. Wir leisten weiterhineinen Beitrag zur internationalen Krisenbewältigung, derder Bedeutung Deutschlands in Europa und der Weltge-meinschaft entspricht. Aber die Bundeswehr muss auchAnlehnungspartner in der Bündnisverteidigung für un-sere kleineren Nachbarn sein, die eben nicht mehr dasvolle Spektrum militärischer Fähigkeiten darstellen kön-nen und mit denen wir künftig noch enger kooperierenwollen, wie mit den Niederlanden und Polen. Insofern istdie jetzige Struktur glücklicherweise zukunftssicher,weil sie nicht nur den internationalen Einsätzen, sondernauch weiterhin der Bündnisverteidigung Rechnung trägt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Strukturen sind daseine. Aber erst Personal und Ausrüstung füllen sie aus.Neue sicherheitspolitische Voraussetzungen haben auchimmer wieder neue Anforderungen an die Ausstattungder Soldaten gestellt. So haben zurückliegende Berichtedes Wehrbeauftragten besonders für den Einsatz inAfghanistan mehrfach explizit das Fehlen geschützterFahrzeuge hervorgehoben. Die wiederholte Befassungim Parlament hat wesentlich zur Schließung dieser Lü-cken beigetragen.
Diese Beschaffungen behalten unabhängig von der Artkünftiger Einsätze ihren Wert. Das gilt auch für neueTechnologien, über die wir vor dem Hintergrund bisheri-ger Erfahrungen diskutiert haben, wie beispielsweise be-waffnete Drohnen, die ich schon in meiner letzten Redean dieser Stelle erwähnt habe.Gleichzeitig zeigen die Sorgen unserer osteuropäi-schen Partner, dass klassische Systeme wie der Euro-fighter und der Kampfhubschrauber Tiger eben nichtveraltet sind. Sie haben vielmehr trotz aller Kritik an lan-ger Entwicklung und hohen Kosten ihre Berechtigung,weil sie der gemeinsamen Verteidigungsfähigkeit undVerteidigungsbereitschaft in Europa dienen. Auch hier
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1790 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Anita Schäfer
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gilt aber: Die Massenheere des Kalten Krieges werdennicht mehr gebraucht.Es ist richtig, dass unter anderen Bedingungen ge-schlossene Beschaffungsverträge neu gehandelt werden.Ich begrüße es auch außerordentlich, Frau Ministerinvon der Leyen, dass Sie die von Ihrem Amtsvorgängerbegonnene Neuordnung des Beschaffungswesens soenergisch fortsetzen. Gerade das regelmäßige Auftau-chen neuer Herausforderungen in den letzten Jahrenzeigt doch, dass wir uns zeitlich und finanziell aus demRuder laufende Projekte weniger denn je leisten können.Vielleicht zeigen die aktuellen Entwicklungen nochden einen oder anderen Bedarf auf. Ich denke dabei zumBeispiel an den Bereich der bodengebundenen Flugab-wehr, wo der Einsatz bisheriger Systeme zu stagnierenscheint. Modernste Ausstattung für alle Bereiche bleibtunabdingbare Voraussetzung für die Auftragserfüllungder Bundeswehr; denn nur so kann sie ihre Rolle als An-lehnungspartner für unsere Nachbarn bei der Gewähr-leistung der Sicherheit im Bündnis erfüllen.Das Wichtigste in der Bundeswehr sind und bleibenaber die Menschen. Wir haben in den vergangenen Jah-ren viel zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes inder Bundeswehr getan. Dazu gehören materielle Verbes-serungen wie die Zulagen für ärztliche Dienste, Piloten,Minentaucher und Soldaten mit besonderer zeitlicherBelastung. Wir entwickeln einerseits die Nachwuchs-werbung und andererseits Fortbildungsangebote und Be-rufsförderung weiter; die Frau Ministerin hat das vorhinangesprochen. Besonders wichtig ist aber, die Vereinbar-keit von Familie und Dienst weiter zu verbessern.Ich bin besonders froh, dass nunmehr die Einrichtungvon Betriebskindergärten an Bundeswehrstandorten mitbesonderem Bedarf in Gang kommt.
Das gilt insbesondere für die Standorte mit Bundeswehr-krankenhäusern und die Universität der Bundeswehr inMünchen. Mit Ausnahme des Bundeswehrkrankenhau-ses Berlin, wo die Planungen noch laufen, werden alleKindergärten voraussichtlich binnen Jahresfrist in Be-trieb gehen. Allein für die Baumaßnahmen geben wirüber 5 Millionen Euro aus. Hinzu kommen Belegrechtein vorhandenen Betreuungseinrichtungen wie etwa imFall der Sanitätsakademie in München. Mit Stand Fe-bruar sind bereits 317 Eltern-Kind-Arbeitszimmer reali-siert worden. Insgesamt wird es diese an rund 200 Stand-orten geben. Ergänzt wird das durch Verbesserungen beider Kinderbetreuung während der Aus- und Fortbildung,der Unterstützung bei der Ferienbetreuung sowie derNotfallbetreuung nicht nur von Kindern, sondern auchvon pflegebedürftigen Angehörigen.Im Hinblick auf die Problematik pendelnder Soldatensoll neben der dauerhaften Möglichkeit der Wahl zwi-schen Trennungsgeld und Umzugskostenvergütung dieWohnungsfürsorge optimiert werden, um sowohl denPendlern als auch umzugswilligen Familien bei der Su-che nach geeigneten Wohnungen besser zu helfen. Ge-rade in diesem Punkt gibt es sicherlich noch Raum fürweitere Verbesserungen. Nach der Ankündigung vonMinisterin von der Leyen, das Thema der Attraktivitätzu einem Schwerpunkt zu machen, bin ich aber zuver-sichtlich, dass es diese auch geben wird.Der Wehrbeauftragte hat in seinem Bericht bedauert,dass die Folgestudie des Zentrums für Militärgeschichteund Sozialwissenschaften der Bundeswehr zum Standder Integration von weiblichen Soldaten noch nicht vor-lag. Beim Verfassen dieser Zeilen konnte er noch nichtwissen, dass dies noch vor der Vorstellung des Jahresbe-richts geschehen würde. Über die Studie Truppenbildohne Dame? ist vor allem unter zwei Schlagzeilen be-richtet worden: erstens dass sich die Einstellung männli-cher Soldaten zu Frauen in der Bundeswehr gegenüberder Vorgängerstudie von 2005 verschlechtert hat undzweitens dass 55 Prozent der Soldatinnen schon sexuellbelästigt worden seien. Diesen Punkten hat auch derWehrbeauftragte breiten Raum eingeräumt.Beim Durchlesen der Studie ergibt sich allerdings eindifferenzierteres Bild, als eine Schlagzeile vermittelnkann. Zunächst einmal: Mittlerweile beträgt der Anteilweiblicher Soldaten in der Bundeswehr rund 10 Prozent,was bereits ein großer Erfolg des Integrationsprozessesist. 13 Jahre nach Öffnung aller Laufbahnen erreichenFrauen nun auch die entsprechenden höheren Dienst-grade. Das BMVg scheint sich zwar mit dem Wehrbe-auftragten einig zu sein, dass es etwa bei A-15-Stellenim Sanitätsdienst, der für Frauen schon früher zugäng-lich war, noch Nachholbedarf gibt. Aktuell gibt es aberbereits den zweiten weiblichen Generalarzt. Wenn mansich die notwendigen Beförderungszeiten ansieht, dannstellt man fest, dass Anfang des nächsten Jahrzehntsauch mit den ersten Frauen im Generalsrang zu rechnenist, die seit 2001 die Karriereleiter im Truppendienst er-klettert haben. – Das vorweg.Nun zu den Ergebnissen der Studie. Es ist in der Tatso, dass die Einstellung männlicher Soldaten gegenüberden militärischen Leistungen von Frauen kritischer istals noch 2005. Gleichzeitig bewerten sie aber den ge-meinsamen Dienst beider Geschlechter in der Bundes-wehr insgesamt besser, und die Angst vor Problemen hatsich verringert.Interessant ist auch, dass weniger Soldaten Problememit der Effektivität in ihren eigenen Einheiten sehen.Der Leiter der Studie hat mir dazu erläutert, dass die Kri-tik sowohl auf eigenem Erleben als auch auf Hörensagenberuhe. Echte Probleme mit körperlicher Leistungsfä-higkeit muss man dabei sicherlich ernst nehmen, weildie Leistung jedes Einzelnen lebenswichtig für die ge-samte Einheit sein kann. Ich denke, es wäre einmal inte-ressant, nachzuforschen, wie sich die Kritik auf Kampf-und Unterstützungseinheiten verteilt. In Ersteren kommtes auf körperliche Leistung besonders an. Allerdingsentscheiden sich auch nur vergleichsweise wenigeFrauen für diese Verwendungen. In Unterstützungsein-heiten ist es eher umgekehrt. Es ist also durchaus mög-lich, dass sich die Kritik vor allem an einigen wenigenNegativbeispielen festmacht, während Soldaten in Ein-heiten mit höheren Frauenanteilen aus eigener Erfahrung
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Anita Schäfer
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keine Probleme mit der Effektivität sehen. Das wäredoch vielleicht einmal eine Frage für die nächste Studie.Noch überraschender fand ich die einzelnen Ergeb-nisse zum Thema sexuelle Belästigung. Zunächst ein-mal: Dass sich die Fallzahlen nicht groß vom Rest derGesellschaft unterscheiden, kann nicht zufriedenstellen.Hier muss die Bundeswehr tatsächlich einmal bessersein als der Rest der Gesellschaft; denn abgesehen vonallen rechtlichen Vorschriften und grundsätzlichen Re-geln allgemeinen Anstands gilt hier noch zusätzlich diePflicht zur Kameradschaft. Der kameradschaftliche Um-gang zwischen allen Soldatinnen und Soldaten unterAchtung der Würde des Einzelnen ist immer wieder ein-zufordern und umzusetzen.
Ich betone: zwischen allen Soldatinnen und Soldaten,weil sexuelle Belästigung laut der Studie eben nicht nurein Problem zwischen, sondern auch innerhalb der Ge-schlechter ist. Das gilt sowohl bei Männern als auch beiFrauen, gerade für die Kategorie tatsächlicher sexuellerNötigung. Diese Kategorie umfasst aber gegenüber an-züglichen Bemerkungen und Ähnlichem glücklicher-weise nur eine sehr geringe Zahl von Fällen, sodass dieVerteilung nicht unbedingt aussagekräftig ist. Auch hiersollte meiner Meinung nach der Hintergrund genauer er-forscht werden.Meine Damen und Herren, und dennoch bleibt es da-bei: Selbst wenn die Bundeswehr als Spiegelbild der Ge-sellschaft auch deren Schattenseiten wiedergibt, ist siebesser, als gängige Stereotypen glauben machen wollen.Ihre Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzicht-baren Dienst für die Sicherheit Deutschlands im Bünd-nis. In Krisenzeiten wie jetzt wird es uns wieder be-wusst, wie wichtig die Sicherheit ist und für wieselbstverständlich wir das im Herzen eines friedlichen,geeinten Europas in den letzten Jahren gehalten haben.Aber Sicherheit ist nicht selbstverständlich, sondernmuss immer wieder erarbeitet werden. Deswegen dankeich allen Männern und Frauen der Bundeswehr, die die-sen Dienst jeden Tag an vielen Standorten im In- undAusland für uns leisten.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Tobias Lindner,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Ihnen,Herr Wehrbeauftragter Königshaus, und Ihren Mitarbei-terinnen und Mitarbeitern in dieser Debatte zu Recht fürdie Vorlage dieses Berichts viel gedankt worden, ich willaber in diesen Dank noch einen weiteren Aspekt ein-schließen. Wenn man darüber nachdenkt, was derMarkenkern einer Parlamentsarmee ist, dann wird mansicherlich als einen Aspekt die Parlamentsbeteiligungbei Auslandseinsätzen benennen,
aber genauso solche Debatten wie diese heute, Debatten,bei denen uns in Form eines Berichts an Beispielfällenvor Augen gehalten wird, was in der Truppe tatsächlichpassiert, was gut läuft, aber auch, was nicht gut läuft,und Debatten, bei denen wir uns als Parlamentarier – Siesich als Koalition, wir uns als Opposition – mit unserenVorstellungen und Programmen natürlich fragen müs-sen: Was sind unsere Erwartungen an die Bundeswehr,wo haben wir vielleicht falsche Erwartungen, wo habenwir vielleicht Fehler gemacht bei Strukturen, bei finan-zieller Ausstattung und bei anderen Aspekten? Insofern,liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es gut, dass wir hierin diesem Hohen Hause nicht nur über Auslandseinsätzeder Bundeswehr und über Aspekte der Militärpolitik re-den, sondern eben auch über den Zustand der Bundes-wehr an sich. Allein deswegen hat diese Debatte einenWert.
Ich möchte in diesem Zusammenhang zu drei As-pekte kommen – sie wurden teilweise schon angespro-chen –:Der erste Aspekt betrifft das Thema Überwachung.Erst jüngst gab es einen eklatanten Fall von Munitions-diebstahl; über ihn haben wir auch gestern im Verteidi-gungsausschuss diskutiert. Herr Königshaus, wenn manin Ihrem Bericht nach dem Komplex Bewachung sucht,dann findet man Informationen über Anschläge auf Bun-deswehrfahrzeuge, auf Fahrzeuge von Soldatinnen undSoldaten und nicht zuletzt über den leider geglücktenVersuch des Eindringens eines Mannes in ein Flugzeugder Flugbereitschaft. All diese Beispiele machen deut-lich, dass wir offensichtlich ein Problem mit der Bewa-chung von Bundeswehrliegenschaften haben. Ich willhinzufügen: ein ernsthaftes Problem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sprach schonvon Munition, von Waffen, von Kriegsgerät, das in Bun-deswehrliegenschaften naturgemäß lagert. Die Bundes-wehr wird alles dafür tun müssen, dass die Soldatinnenund Soldaten, ihre Angehörigen, aber auch die Bevölke-rung durch eine bessere Bewachung vor einem Miss-brauch dieses Materials geschützt werden. Die bestenEmpfehlungen von Kommissionen über Bewachungs-maßnahmen helfen gar nichts, wenn diese, wie auf demKasernengelände in Seedorf geschehen – wir haben diesgestern erfahren –, nicht umgesetzt werden. Dann bleibtnatürlich die Frage offen, warum diese Empfehlungennicht umgesetzt worden sind, zumal uns das Ministeriumversichert hat, dass Mittel dafür vorhanden gewesensind.Ich will auf den zweiten Aspekt zu sprechen kommen.Frau von der Leyen, Ihr Vorgänger, Thomas de Maizière,
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1792 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Tobias Lindner
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hat mit der Neuausrichtung der Bundeswehr den Weg„Breite vor Tiefe“ eingeschlagen. Der Wehrbeauftragteist darauf eingegangen. Mit „Breite vor Tiefe“ meint er,ein möglichst breites Fähigkeitsspektrum bei einer ehergeringen Durchhaltefähigkeit vorrätig zu halten.Obwohl die Neuausrichtung der Bundeswehr nochnicht am Ende ist, lesen wir schon jetzt im Bericht desWehrbeauftragten, dass nicht nur Material an die Gren-zen seiner Belastbarkeit gerät, sondern auch die Solda-tinnen und Soldaten. Sie, Frau von der Leyen, sprachenvorhin über „4/20“, über das Modell, dass sich Soldatin-nen und Soldaten nach maximal 4 Monaten Auslands-einsatz 20 Monate in Deutschland regenerieren können.Es ist erschreckend, wenn im Bericht des Wehrbeauf-tragten zu lesen ist, dass das Personalmanagementsys-tem der Bundeswehr eben nicht in der Lage ist, die Ein-satzbelastung von Soldatinnen und Soldaten zu erfassen.Das ist ein Punkt, der schleunigst geändert werden muss.
Dritter Aspekt. Hier ist auch über Ausrüstung gespro-chen worden. Frau Kollegin Schäfer, Sie sind hier aufviele Ausrüstungsfragen eingegangen. Wenn wir einenBlick in den kürzlich vorgestellten zweiten Regierungs-entwurf zum Haushalt 2014 werfen und uns die mittel-fristige Finanzplanung anschauen, dann lesen wir ebenauch, dass wir in der Finanzplanung eine Bugwelle vol-ler fehlgeschlagener oder zumindest problembehafteterBeschaffungsprojekte vor uns herschieben, dass es daeben alles andere als gut ist. Deswegen haben Sie jaKonsequenzen gezogen, Frau von der Leyen. MeineSorge ist, dass diese Bugwelle von Pleiten, Pech undPannen, die da nach vorne rollt, in Zukunft auch dazuführen kann, dass Geld für notwendige Maßnahmenfehlt. Auch deshalb ist es notwendig, dass wir uns allegemeinsam und jeder für sich Beschaffungsvorhabenkritisch anschauen.
Ich möchte zum Schluss kommen. Wir sehen an demheute debattierten Bericht des Wehrbeauftragten nichtnur klar und deutlich, dass auf der Truppe, was die Neu-ausrichtung, was Veränderungen betrifft, Druck liegt,sondern auch, dass wir viele Fragezeichen hinter Struk-turentscheidungen setzen müssen, die mit der Neuaus-richtung angegangen werden sollen. Deswegen – daswill ich abschließend sagen – ist nicht nur eine Evalua-tion der Neuausrichtung der Bundeswehr dringend not-wendig, sondern auch und vor allem das Ziehen vonRückschlüssen aus dieser, gegebenenfalls das Umsetzenvon Veränderungen.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der
Kollege Dirk Vöpel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei denDebatten zum Jahresbericht des Wehrbeauftragten desDeutschen Bundestages können wir in diesem HohenHause auf eine mittlerweile lange und beeindruckendeTradition von mehr als fünf Jahrzehnten zurückblicken.Seit 1959 war der Jahresbericht immer wieder Anlass fürgrundsätzliche Auseinandersetzungen über den Zustandund die Zukunftsperspektiven der GroßorganisationBundeswehr. Ich freue mich deshalb sehr, dass ich heutezu diesem traditionsreichen Tagesordnungspunkt redendarf.Sehr geehrter Herr Königshaus, als inhaltlicher Quer-einsteiger in Sachen Bundeswehr war mir bereits IhrJahresbericht 2012 eine große Hilfe. Er hat mir innerhalbkurzer Zeit einen ersten fundierten Einstieg in die aktuel-len Themen und Probleme ermöglicht, die unsere Solda-tinnen und Soldaten bewegen. Auch der vorliegende Be-richt zum Jahr 2013 macht keine Ausnahme, was dieHilfestellung angeht. Für alle, die Verantwortung für dieAngehörigen unserer Bundeswehr tragen, ist er eine In-formationsquelle von hohem Wert.Vorbildlich finde ich vor allem auch, dass der Berichtsprachlich an keiner Stelle vor der Komplexität der ge-schilderten Sachverhalte kapituliert. Er bleibt stets klar,präzise und verständlich. Auch hierfür, sehr geehrterHerr Königshaus, möchte ich mich bei Ihnen und IhrenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich bedan-ken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht desWehrbeauftragten für das Jahr 2013 dokumentiert einendeutlichen Anstieg der Zahl der Eingaben gegenüberdem Vorjahr – und das bei einem gleichzeitigen Rück-gang der durchschnittlichen Personalstärke um knapp7 Prozent. Betrachtet man nun die Entwicklung der Ein-gabezahlen als eine Art Pulsmesser, dann kann man nurzu einem Schluss kommen: Die Bundeswehr befindetsich zurzeit in heftigem Stress. Aber kann das angesichtseiner so ehrgeizigen und schwierigen Reform, wie sieder Bundeswehr in diesen Jahren abgefordert wird, wirk-lich verwundern? Mir kommt das Unternehmen Struk-turreform manchmal wie der Versuch vor, einem Vier-master auf hoher See und unter vollen Segeln einenneuen Rumpf zu zimmern, und das aus Bordmitteln.
2013 hat die heiße Phase bei der Umsetzung der Re-form begonnen. Die neuen Strukturen wachsen auf, aberdie alten Aufgaben sind noch längst nicht vollständig ab-gewickelt. Das muss bei vielen Betroffenen zwangsläu-fig zu Enttäuschung, Verärgerung und dem Gefühl derÜberlastung führen. Ganz klar ist aber auch: Viele dieserProbleme werden sich in einigen Jahren gar nicht mehrstellen, weil sie unvermeidbare, aber vorübergehendeBegleiterscheinungen dieses Transformationsprozessessind. Dazu kommt, dass unsere Soldatinnen und Solda-ten schon von Berufs wegen ein hohes Maß an Anpas-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1793
Dirk Vöpel
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sungsfähigkeit und an Anpassungsbereitschaft mitbrin-gen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Be-richt beschäftigt sich über weite Strecken mit den Aus-und Nebenwirkungen der strukturellen Veränderungenbei der Bundeswehr. Wir sollten uns aber davor hüten,die Reform als Daueralibi oder Standardausrede zu ak-zeptieren. Der Wehrbeauftragte listet auch eine ganzeReihe von Problemen auf, deren Ursachen wenig bis garnichts mit den neuen Strukturen zu tun haben. Sehr vielmehr geht es da um Fehler, Versäumnisse, Schludrigkei-ten und leider auch mangelnde Kommunikationsbereit-schaft.So etwas ist zum Beispiel bei der Auslagerung derBeihilfebearbeitung für aktive Soldaten und Versor-gungsempfänger von der Bundeswehrverwaltung in denBereich des Innen- bzw. Finanzministeriums passiert.Statt der angekündigten Synergieeffekte stellte sich zu-nächst das reine Chaos ein, mit einem am Ende geradezumonströsen Bearbeitungsstau von zeitweise 60 000 Beihil-feanträgen, und das vor allem auch deshalb, weil manschlicht versäumt hatte, die Betroffenen über die Änderungder Zuständigkeit zu informieren. Schon der rechtzeitigeVersand einer simplen Mitteilung mit dem Hinweis auf Na-men und Telefonnummern der neuen Sachbearbeiter hättehier von vornherein mächtig Dampf aus dem Kessel ge-nommen. Ich finde, das ist völlig überflüssiger und ver-meidbarer Ärger, von den zum Teil enormen finanziellenBelastungen – davon wurde vorhin schon gesprochen –ganz zu schweigen.Aber auch bestehende Verfahrensabläufe, die ganz of-fensichtlich weder sach- noch zielgerecht sind, sorgenfür Unverständnis. Da schickt die Bundeswehr zur Vor-bereitung der Active-Fence-Mission im Dezember 2012ein Vorerkundungsteam in die Türkei. Dieses schätztdann auch gewissenhaft den voraussichtlichen Bedarf anEinsatzgütern für die Hauptmission ab. Das löst nur lei-der keinerlei Bereitstellungsaktivitäten aus, weil nachdem gültigen Verfahren diese Bedarfsanforderungennicht von der Vorerkundung, sondern erst vom Kontin-gent gemeldet werden können. Die logische Folge ist dieverspätete Bereitstellung der benötigten Einsatzgüter. Dafrage ich mich schon: Warum lässt man so ein Verfahrenin Kraft? Hier könnte doch ohne großen Aufwand einesachgemäße Neuregelung erfolgen, die weder zusätzli-ches Geld noch Personal erfordert.Die Bürgerinnen und Bürger erwarten völlig zu Rechtvon ihren Abgeordneten einen gewissenhaften und zu-rückhaltenden Umgang mit Steuergeldern. Aber manmuss auch immer aufpassen, dass man nicht am falschenEnde spart. So kann etwa die verlässliche Möglichkeitzur regelmäßigen und bezahlbaren Kontaktaufnahme mitder Heimat mittels Telefon und Internet in ihrer Bedeu-tung für die diensttuenden Männer und Frauen in denAuslandseinsätzen gar nicht überschätzt werden.
Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass das Bundesminis-terium der Verteidigung eine völlige Kostenfreistellungfür die Soldatinnen und Soldaten im Rahmen des Folge-vertrages ab 2015 in Aussicht stellt. Bedauerlicherweiseist bei der Marine für die Fregatten der Bremen-Klassewegen der geplanten Außerdienststellungen eine Instal-lation der notwendigen Technik aus Kostengründen je-doch nicht mehr vorgesehen. Nun muss man wissen,dass sich diese Außerdienststellungen noch über dasnächste halbe Jahrzehnt bis 2019 hinziehen werden. Vordiesem Hintergrund frage ich mich schon, ob Sparsam-keit immer das oberste Gebot sein muss oder ob nichtdie Pflicht zur Fürsorge für die Soldatinnen und Soldatenin Fällen wie diesem eine andere Prioritätensetzung ge-bietet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mireine letzte Bemerkung: Mit dem Aussetzen der Wehr-pflicht und dem Übergang zur Freiwilligenarmee habendie Prinzipien der Inneren Führung keineswegs an Be-deutung verloren. Im Gegenteil: Nie waren sie so wert-voll und wichtig wie heute. Wir sollten alle Versuche,diesen Wesens- und Markenkern der Bundeswehr auszu-höhlen, schon im Ansatz geschlossen parieren. Wir soll-ten die Innere Führung als das betrachten, was sie nachmeiner festen Überzeugung tatsächlich ist: ein echtesWeltkulturerbe der Streitkräfte des freien, friedliebendenund demokratischen Deutschlands.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. Das war Ihre erste Rede hier im Deut-
schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des
Hauses ganz herzlich dazu.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Bartz, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Eine hochmotivierte Truppe, professio-nelles Selbstverständnis und effektive Organisations-strukturen – so habe ich die Bundeswehr im In- undAusland erlebt. Im deutlichen Gegensatz dazu steht derJahresbericht des Wehrbeauftragten, der oft als reinerMangelbericht gelesen wird. Das Bild, das in einigenMedien gezeichnet wird, ist viel zu kritisch und kurz-sichtig. Mir ist bewusst, dass es derzeit vermehrt Kritikund Beschwerden aus der Truppe gibt. Es ist auch gut,dass wir darüber in diesem Hause sprechen. Aber ichmöchte auch darauf hinweisen, dass sich die Bundes-wehr momentan in einer Umbruchphase befindet. DieAuslandseinsätze und die Strukturreform sind Ursachenfür zahlreiche Beschwerden. Wenn man sich aber dieEingaben im Einzelnen anschaut, stellt man sich an dereinen oder anderen Stelle die Frage: Hätte so manchesProblem nicht auch auf einem kürzeren Dienstweg ge-klärt werden können? Es gibt verschiedene Möglichkei-ten, wie man mit Problemen umgeht.
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1794 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Julia Bartz
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Die erste Möglichkeit – dieser Weg ist der nahelie-gende überhaupt –: Man sucht das Gespräch mit der oderdem Vorgesetzten. Zahlreiche Vorgesetzte in der Bun-deswehr sind treffliche Beispiele für gute Personalfüh-rung. Da könnte sich so mancher zivile Arbeitgeber eineScheibe abschneiden. Die Möglichkeit, direkt mit demVorgesetzten oder der Vorgesetzten zu sprechen, steht al-len offen und darf keine negativen Folgen haben.Die zweite Möglichkeit ist: Man wendet sich an dieVertrauenspersonen. Die Vertrauenspersonen sind alsunabhängige Hilfen für die Frauen und Männer derTruppe da und können vermittelnd tätig werden.Als dritter und weiterführender Schritt hat jede Solda-tin und jeder Soldat das Recht, eine förmliche Be-schwerde einzureichen.Erst an vierter und letzter Stelle würde ich die Mög-lichkeit einer Eingabe an den Wehrbeauftragten sehen,falls die anderen Schritte nicht erfolgreich waren. Ich be-tone das hier, weil sich offenbar nicht alle Petenten be-wusst sind, dass ihre Eingabe an den Wehrbeauftragteneine öffentliche Angelegenheit ist. So manche sind über-rascht, wenn sie am nächsten Tag von ihrem Vorgesetz-ten auf ihre Eingabe angesprochen werden. Damit Siemich nicht falsch verstehen: Die Institution des Wehrbe-auftragten ist zu Recht in unserem Grundgesetz veran-kert. Er gibt den Soldatinnen und Soldaten die Möglich-keit, ihre Anliegen an übergeordneter Stelle vorzutragen.Der jährliche Bericht des Wehrbeauftragten gibt uns imParlament einen wertvollen Einblick in die Sorgen undNöte der Soldatinnen und Soldaten. Er zeigt uns auchVerbesserungsmöglichkeiten auf. Ich sage aber auch:Ein Schwert, das zu oft genutzt wird, verliert an Schärfe.Das liegt weder in unserem Interesse noch im Interesseder Soldatinnen und Soldaten.Die derzeitige Beschwerdeflut kann kein Dauerzu-stand sein. Ich denke, darüber sind wir uns alle in diesemHaus einig. Ich habe vollstes Vertrauen in unsere Vertei-digungsministerin, dass sie die Strukturreform so sozial-verträglich wie nur möglich umsetzen wird und dabeiimmer auch die Menschen in der Uniform ganz fest imBlick haben wird.
Der Aspekt des Menschlichen spielt gerade im Hin-blick auf traumatische Erfahrungen in Auslandseinsät-zen eine ganz besondere Rolle. Dieser Herausforderungmüssen wir uns als Bundestag, aber auch als Gesell-schaft verstärkt zuwenden. Wie dem Bericht zu entneh-men ist, hat die Zahl der Einsatzteilnehmer mit seeli-schen Verwundungen zugenommen. Wir bauen deshalbdie bereits gute medizinische Versorgung noch weiteraus, um diejenigen aufzufangen, die unsere Hilfe benöti-gen. Neue Screeningverfahren helfen, einsatzbedingtepsychische Störungen frühzeitig zu erkennen. An circa80 Standorten haben sich psychosoziale Netzwerkeetabliert, wo Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter undMilitärseelsorger gemeinsam Hilfe anbieten. Die Ange-hörigen werden zunehmend in die Therapieangebote ein-gebunden. Auch die Sporttherapie nach Einsatzbeendi-gung zeigt Erfolge. Vielen Soldatinnen und Soldatenkonnte bereits geholfen werden. Nun gilt es, diesesAngebot noch auszubauen und die Qualität weiter zusteigern. Das Ziel ist ganz klar: Allen hilfsbedürftigenSoldatinnen und Soldaten sollte die bestmögliche Ver-sorgung zur Verfügung gestellt werden.Die Militärseelsorge leistet an dieser Stelle einen ganzwichtigen Beitrag. Im In- und Ausland können sich dieSoldatinnen und Soldaten auf die Hilfe der Militärseel-sorge verlassen. Mein ganz besonderer Dank gilt allenSeelsorgern, die am Auslandseinsatz teilnehmen unddort Ansprechpartner in allen Lebenslagen sind.
Sie geben den Soldatinnen und Soldaten Rückhalt undBeistand. Die Oasen sind ein wichtiger Rückzugsort imharten Alltag im Einsatz.Auch die daheimgebliebenen Angehörigen finden beider Militärseelsorge ein offenes Ohr. Diese Unterstüt-zung ist besonders dann hilfreich, wenn sich psychischeBelastungen nach den Auslandseinsätzen auf die ge-samte Familie auswirken. Hier sehe ich vor allem bei dergemeinsamen therapeutischen Betreuung noch weitereVerbesserungsmöglichkeiten. Das Ziel ist klar: Wir las-sen die Familien der Soldatinnen und Soldaten nicht al-lein.Der Truppenbesuch in Afghanistan vor zwei Wochenhat mir vor Augen geführt, welch herausragende Leis-tung unsere Frauen und Männer in Uniform bei dieserund anderen Missionen erbringen. Ein schmerzlicherMoment der Reise war die Gedenkminute am Ehrenhainfür die gefallenen Soldaten. Mein tiefes Mitgefühl giltihren Angehörigen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns beiall unseren Entscheidungen, seien es Reformen oderAuslandseinsätze, eines immer fest im Blick haben: dieMenschen in Uniform.Danke.
Danke, Frau Kollegin. – Einen schönen guten Tag al-
len von meiner Seite! Der nächste Redner ist Dr. Fritz
Felgentreu für die SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrter Herr Königshaus! Wer meiner Generation ange-hört und in der Bundesrepublik aufgewachsen ist, der er-innert sich zumeist noch ganz gut an Soldaten imStraßenbild, und zwar nicht nur an Soldaten auf Fahr-zeugen in natooliv und mit einem Y-Nummernschild,sondern auch an Grundwehrdienstleistende, die oft ir-gendwo unterwegs waren, sich abends amüsieren woll-
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Dr. Fritz Felgentreu
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ten oder freitags auf der Heimreise die Bahnhöfe bela-gerten.
Wenn Kinder und Jugendliche sie provozieren wolltenund den einen oder anderen dummen Spruch brachten,dann bekamen sie gerne zur Antwort: Lach du nur! DeinStahlhelm ist schon gepresst.
– Wir erinnern uns an solche Sprüche, nicht?
Diese Art von Soldatenhumor gehörte zu einer Bun-deswehr ohne ernsthafte Nachwuchssorgen. Die Wehr-pflicht sorgte nicht nur für ausreichende Mannschafts-zahlen, sondern sie füllte auch die Reihen der Zeit- undBerufssoldaten immer wieder auf; denn es gab immerauch Grundwehrdienstleistende, die sich für die Bundes-wehr begeistern konnten und dabeigeblieben sind. DerBericht des Wehrbeauftragten 2013 ist eine Momentauf-nahme aus einer Bundeswehr, für die die Nachwuchsge-winnung zu einer existenziellen Zukunftsfrage gewordenist.In den Medien – Frau Bartz hat es angesprochen – istviel darüber diskutiert worden, dass den Wehrbeauftrag-ten 2013 die relativ höchste Zahl an Eingaben erreichthat. Diese Entwicklung belegt meines Erachtens vor al-lem zwei Dinge:Erstens. Die Institution des Wehrbeauftragten hat dieNeuausrichtung der Bundeswehr schadlos überstanden.Ganz offensichtlich brauchen Zeit- und Berufssoldatendiesen Ombudsmann nicht weniger dringend als Grund-wehrdienstleistende. Sie bringen ihm auch das gleicheVertrauen entgegen. Das ist Ihr Verdienst, lieber HerrKönigshaus, und dafür gebührt Ihnen Dank.
Zweitens. Die Befürchtung vieler Soldatinnen undSoldaten, eine Eingabe könne ihnen im Dienstalltagschaden, scheint jedenfalls nicht in höherem Maße ab-schreckend zu wirken als früher. Auch das ist eine er-freuliche Entwicklung. Insofern beschreibt die hoheZahl der Eingaben nicht das Kernproblem dieses Be-richts.Hellhörig müssen wir an anderen Stellen werden. Ichmöchte ein Beispiel nennen: Zur Sicherheitslage im In-land berichtet der Wehrbeauftragte, dass Soldaten ihn beiTruppenbesuchen vermehrt auf Probleme bei der Bewa-chung von Liegenschaften angesprochen hätten.
Sie klagten darüber, dass die Anzahl militärischer Wa-chen immer mehr ausgedünnt würde und die Wachbelas-tung nicht zu bewältigen sei. Wie zur Bestätigung be-schäftigt sich der Verteidigungsausschuss gerade miteinem Vorfall in der militärisch bewachten Kaserne inSeedorf, aus der vor einiger Zeit in den frühen Morgen-stunden völlig unbemerkt 35 000 Schuss Munition ab-transportiert worden sind. Diesen Vorfall, meine Damenund Herren, müssen wir unter dem Begriff der struktu-rellen Überforderung einordnen, der im Bericht desWehrbeauftragten im Zusammenhang mit den Auslands-einsätzen der Bundeswehr verwendet wird.Im Bereich des hochspezialisierten Personals doku-mentiert der Bericht das Problem detailliert: Die Flug-verkehrskontrolle hat 20 Prozent zu wenig Personal, beiden Flugberaterfeldwebeln fehlt ebenfalls ein Fünftel, inFrankfurt sogar fast die Hälfte, und von den 30 Luftum-schlagfeldwebeln, die die Bundeswehr für den Dienst imAusland braucht, hat sie acht. Eine Hubschrauberstaffelder Marineflieger muss nach sechsmonatiger Pause wie-der in den viermonatigen Auslandseinsatz, anstatt sich,wie vorgesehen, 20 Monate regenerieren zu können, undbetrachtet das schon als Fortschritt. An zwei Standortenim Inland wurde der Flugbetrieb ausgesetzt, weil das zi-vile Personal Freizeitausgleich für seine Überstundennehmen musste. Die Liste ließe sich fortsetzen; andereRedner und Rednerinnen haben das heute bereits getan.Das alles, meine Damen und Herren, wäre trotzdemkein Grund zu vertiefter Besorgnis, wenn es nur einigewenige Spezialqualifikationen beträfe; diese Lücken lie-ßen sich sicherlich schließen. Aber so ist es eben nicht.Offenbar kann die Bundeswehr die 20-monatigen Ruhe-pausen zwischen Auslandseinsätzen für viele Einheitennicht gewährleisten. Das Beispiel der Wachsoldatenzeigt, dass die strukturelle Überforderung längst auch imAlltag des Truppendienstes angekommen ist, mit mögli-cherweise verhängnisvollen Folgen: Die 35 000 SchussMunition aus Seedorf sind bis heute nicht wieder aufge-taucht. Es muss wahrscheinlich unsere zweitbeste Hoff-nung sein, dass es dabei bleibt.Meine Damen und Herren, es gibt für die Personal-probleme der Bundeswehr auch gar keine einfache Lö-sung. Im Gegenteil: Gerade die Vorschläge, die derWehrbeauftragte macht, um den Dienst in der Bundes-wehr familienfreundlicher und attraktiver zu gestalten– Frau Ministerin ist darauf eingegangen –, laufen aufneue Engpässe hinaus. Vor allem die Freistellung für Be-treuungsaufgaben – zum Beispiel der Vorschlag, die Be-treuung von Kindern unter drei Jahren als grundsätzli-chen Einsatzhinderungsgrund festzuschreiben – ist zwarvollkommen richtig; aber sie wird natürlich dazu führen,dass gut ausgebildetes Personal dort fehlt, wo es ge-braucht wird.Der Bericht des Wehrbeauftragten beschreibt eineBundeswehr, die sich unter einer zu kurzen Decke zuwärmen versucht. Unter den Bedingungen des Bevölke-rungsrückgangs soll sie sich als Berufsarmee neu aus-richten, ihre Fähigkeiten erhalten und ausbauen und da-bei so attraktive Arbeitsplätze vorhalten, dass für alleAufgaben ausreichend Personal und Ressourcen vorhan-den sind. 2013 ist das offenkundig noch nicht oder zu-mindest nicht so gelungen, dass das Ergebnis den selbst-gesteckten Erwartungen gerecht wird.Meine Damen und Herren, wir sollten den Berichtdennoch nicht so lesen, als sei die Bundeswehr nicht im-stande, ihre Aufgaben zu erfüllen; dazu ist sie bis heute
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1796 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Fritz Felgentreu
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immer imstande gewesen. Auch hat der Grundsatz„Breite vor Tiefe“ automatisch eine im Konzept bereitsangelegte Begrenzung der Durchhaltefähigkeit zurFolge, die durch andere Maßnahmen, durch Bündniser-gänzungen, ausgeglichen werden soll; das ist ein Teildieses Konzepts. Und schließlich liegt es in der Naturder Sache, dass der Bericht eines Wehrbeauftragten nichtdie positiven Beispiele in den Vordergrund stellt.Deutlich wird aber auch, dass die Bundeswehr– und damit dieses Parlament – im Laufe der 18. Le-gislaturperiode grundsätzliche Fragen wird beantwor-ten müssen. Wenn wir, wie wir es ja alle wollen, daranfesthalten, dass es keine Reform der Reform geben soll,dann werden wir den Nachwuchs für die 185 000 militä-rischen und die 55 000 zivilen Dienstposten der Bundes-wehr dort suchen und abholen müssen, wo er ist. Nurwenn es gelingt, Jugendliche aller Herkünfte und Bega-bungen frühzeitig an die Möglichkeit einer militärischenKarriere heranzuführen, werden wir die Soldatinnen undSoldaten ausbilden können, die die Bundeswehr braucht.
Deswegen sollten wir überdenken, ob es der richtigeWeg ist, die Zahl der zivilen Ausbildungsplätze, die dieBundeswehr anbietet – derzeit sind es 5 000 –, so weitzu reduzieren, dass wir nur noch für den eigenen Bedarfausbilden. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wirjunge Menschen, die zunächst im zivilen Bereich ausge-bildet worden sind, hinterher in den weiterführendenDienst der Bundeswehr übernehmen, aber möglicher-weise nicht in dem Beruf, in dem wir sie ausgebildet ha-ben, sondern als Soldatinnen und Soldaten. Auch dassollte im Hinblick auf die Rekrutierungsdebatte und dieNachwuchsdebatte eine Überlegung wert sein. Denn werglaubt, der Arbeitgeber Bundeswehr werde unter denBedingungen des demografischen Wandels in der Kon-kurrenz um talentierte junge Menschen mühelos gegenden öffentlichen Dienst und die Wirtschaft bestehen kön-nen, ohne sich in vielen Bereichen neu zu erfinden, denbelehrt der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten ei-nes Besseren. Das ist die Botschaft, die wir für die wei-tere Arbeit und die weitere Planung aus diesem Berichtmitnehmen sollten.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion Gisela Manderla.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrWehrbeauftragter! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Alsklar wurde, dass ich meinen parlamentarischen Arbeits-schwerpunkt künftig im Verteidigungsausschuss habenwürde und ich erstmalig darüber nachgedacht habe, wo-rum es mir dort gehen soll, war meine Entscheidungschnell klar: Die Soldaten und Soldatinnen in unserenStreitkräften sollen und müssen im Mittelpunkt unseresund meines Handelns stehen.
Denn wer sich heutzutage in unserer durchzivilisiertenGesellschaft für den Dienst in der Bundeswehr entschei-det und damit auch für die unterschiedlichen Strapazenund Belastungen, private wie persönliche Entbehrungen,lange Trennungszeiten von der Familie und vieles mehr,der hat die umfassende Unterstützung dieses Hauses ver-dient, ja sogar ein Anrecht darauf, liebe Kolleginnen undKollegen.Das Anrecht muss meines Erachtens für drei Bereichegelten: erstens für die materielle Ausstattung und Aus-rüstung unserer Soldaten und Soldatinnen, zweitens füreine tiefgreifende Verankerung der Streitkräfte in derMitte unserer Gesellschaft und drittens für den Schutzunserer Soldatinnen und Soldaten bzw. die Gewährleis-tung ihrer Grundrechte nach innen wie nach außen. Ins-besondere für den dritten Punkt, den Schutz unserer Sol-daten und Soldatinnen, zeichnet der Wehrbeauftragte desDeutschen Bundestages verantwortlich. Ihnen, sehr ge-ehrter Herr Königshaus, gebührt ebenso wie Ihren Mitar-beitern und Mitarbeiterinnen unser ausdrücklicher Dankfür Ihre wichtige Arbeit.
Dies ist nun für mich der erste Jahresbericht desWehrbeauftragten, dem ich mich widme, und ich musssagen: Ich habe Schatten, aber auch viel Licht gesehen.Licht habe ich insofern gesehen, als ich bei einer Einga-bequote von 27,7 auf je 1 000 Soldaten erkennen kann,dass in der Bundeswehr offenkundig eine Menge gut undrichtig läuft, und das, obwohl sich unsere Streitkräfte ineinem tiefgreifenden Wandel befinden und sich aufgrundder neuen Herausforderungen, denen sich Deutschlandgegenübersieht, umfassend neu ausrichten müssen.Das deckt sich auch mit meinen ersten Erfahrungen,die ich in den Gesprächen mit unseren Soldaten im In-land, aber auch in den Einsatzgebieten im Ausland ge-macht habe. Ich habe dort in erster Linie nämlich einehohe Opfer- und Leistungsbereitschaft gesehen, enga-gierte Männer und Frauen, die sich bewusst für denDienst in den Streitkräften entschieden haben und sehrgut um die besonderen Herausforderungen wissen, de-nen man sich zu stellen hat, wenn man sich bei der Bun-deswehr verpflichtet. Deren Leistungsbereitschaft undderen Willen, sich einzubringen, müssen wir aktiv flan-kieren und unterstützen.
All denjenigen, die da draußen tagtäglich einen außeror-dentlich guten Dienst leisten, danke ich an dieser Stelleausdrücklich für ihren großartigen Einsatz.
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Gisela Manderla
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Man muss auch festhalten, dass auf Defizite durchausreagiert wurde. Die Einbindung naher Angehöriger indie Nachsorge, die Einrichtung der sogenannten Härte-fall-Stiftung wie auch der gesamte Bereich der Militär-seelsorge, wie es meine Kollegen und Kolleginnenbereits ausgeführt haben, sind durchweg positive Instru-mente, um die Soldaten und Soldatinnen bei auftreten-den Problemen zu unterstützen.Kommen wir nun zum Schatten. Lassen Sie es michganz deutlich sagen: Bestimmte im Jahresbericht darge-stellte Sachverhalte sind nicht hinnehmbar. Ich will dashier klipp und klar sagen. Meine Kollegin Schäfer hatbeispielsweise die Integration von Frauen in die Streit-kräfte thematisiert. Belästigungen und erst recht Über-griffe sind absolut inakzeptabel. Hier müssen wir künftignoch genauer hinsehen.
Exemplarisch seien hier aber auch die zum Teil viel zulange Bearbeitungsdauer von Anträgen, eine bisweilenunzureichende, wenn nicht gar unnütze Beratung in denKarrierecentern sowie wiederkehrende Probleme im Zu-sammenhang mit der Besoldung genannt. Wenn sich dieBundeswehr als attraktiver Arbeitgeber gegen die freieWirtschaft durchsetzen möchte, muss in diesen Berei-chen dringend nachgebessert werden.Unsere Ministerin hat nach meinem Dafürhalten diegegenwärtigen Defizite aufgedeckt und die nötigenSchritte bereits veranlasst. Ihnen, liebe Frau Ministerinvon der Leyen, möchte ich an dieser Stelle ausdrücklichfür Ihren Einsatz danken.
Für die Umsetzung des Maßnahmenpakets zur Steige-rung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehrsei Ihnen unsere Unterstützung gewiss.Meine Damen und Herren, insbesondere vor demHintergrund sich ändernder Einsatzszenarien und einesWandels der Rolle Deutschlands in der Welt ist der Um-bau der Bundeswehr von einer Wehrpflicht- zu einerFreiwilligenarmee eine besonders anspruchsvolle Auf-gabe. Dieser Umbau steht – das will ich hier in allerDeutlichkeit festhalten – in seiner gesamtgesellschaftli-chen Bedeutung der Energiewende oder der Reform desRentensystems in nichts nach. Der Jahresbericht wirktdabei als eine Art Mikroskop, durch welches wir einenBlick auf die Situation unseres wichtigsten Gutes be-kommen, nämlich die Situation unserer Soldaten undSoldatinnen. Wir werden deren Wohl genau im Auge be-halten, ohne aber die Leistungsfähigkeit unserer Streit-kräfte aufs Spiel zu setzen; denn eines muss klar sein:Die Bundeswehr kann und wird nie ein ziviler Arbeitge-ber sein. Es gilt also, den Spagat zwischen modernemSoldatentum und zivilgesellschaftlichen bzw. privatenAnsprüchen zu schaffen. Dafür stehen wir ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass dasPräsidium sehr großen Wert darauf legt, dass die einzel-nen Plenarreden pünktlich beendet werden. Deshalbdanke ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen herzlichen Dank, liebe Kollegin, für die tat-kräftige Unterstützung, aber Sie hätten noch 45 Sekun-den Redezeit gehabt. Das ist jetzt aber gar nicht so wich-tig. Wichtig ist, dass das ganze Haus Ihnen zu Ihrerersten Rede gratuliert.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer weiteren Arbeitin einem sehr wichtigen Bereich.Damit ist die Aussprache beendet.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/300 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenElisabeth Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche,Ulle Schauws, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGeburtshilfe heute und in Zukunft sichern –Haftpflichtproblematik bei Hebammen undanderen Gesundheitsberufen entschlossen an-packenDrucksache 18/850Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre undsehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlos-sen.Ich gebe das Wort zur Eröffnung der DebatteElisabeth Scharfenberg für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrter Herr Minister! In den letzten Jahrenhaben wir sehr viele besorgte Zuschriften zur Situationder Hebammen erhalten. Grund dafür sind die gestiege-nen Haftpflichtprämien, die die Existenz der Hebammenbedrohen. Sie sehen sich nicht mehr in der Lage, ihrenBeruf auszuüben. Diese Brandbriefe bekamen wir nichtnur von Hebammen, sondern aus allen Teilen der Bevöl-kerung, sehr häufig von Familien, die sich Sorgen ge-macht haben, dass sie ihr Kind nicht so zur Welt bringenkönnen, wie sie sich das wünschen, zum Beispiel zuHause oder in einem Geburtshaus.
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1798 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Elisabeth Scharfenberg
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Meine Damen und Herren, wenn wir heute über dieHaftpflichtversicherung der Hebammen und der Ge-burtshelfer reden, dann sprechen wir nicht über drögeVersicherungsmathematik. Nein, wir reden darüber, obwerdende Eltern frei entscheiden können, wo und wiesie ihr Kind zur Welt bringen. Die Zeit drängt. Deswe-gen ist die Bundesregierung jetzt gefordert, endlich et-was zu tun.
Verständnisvolle Worte an die Hebammen zu richten, istdas eine, Herr Minister. Sie umzusetzen, ist das andere.Seit 2003 steigen die Beiträge, die vor allem freibe-rufliche Hebammen für ihre Haftpflichtversicherungzahlen müssen, über alle Maßen. Ich will hier einmalganz deutlich werden: Im Jahr 2003 musste eine freibe-ruflich tätige Hebamme rund 500 Euro pro Jahr für ihreHaftpflichtversicherung bezahlen. Im Juli 2010 waren esrund 3 700 Euro. Das entspricht einer Steigerung umüber 700 Prozent. Und das geht so weiter. In diesem Jahrsollen die Prämien bis auf 5 000 Euro steigen.
Zudem ist kaum noch ein privates Versicherungsunter-nehmen überhaupt bereit, Haftpflichtversicherungen fürden Bereich der Geburtshilfe anzubieten. Nun will indiesem Jahr auch noch einer der letzten verbliebenenAnbieter abspringen.
Schon jetzt steigen immer mehr Hebammen aus derGeburtshilfe aus, und immer mehr Geburtshäuser schlie-ßen. In strukturschwachen Gebieten ist die Geburtshilfeauch in Krankenhäusern gefährdet. Dort schließen Ge-burtsabteilungen, oder es schließt gleich das ganze Kran-kenhaus. Meine Damen und Herren, die Wahlfreiheitwerdender Eltern ist damit schon heute massiv einge-schränkt. Es muss jetzt etwas passieren.
Das Problem, das wir heute debattieren, ist nicht erstseit gestern bekannt. Die Herren GesundheitsministerRösler und Bahr haben dieses Thema weniger als halb-herzig angefasst – und das ist freundlich formuliert.
Jetzt sind Sie gefragt, Herr Minister Gröhe. Sie müs-sen sehr kurzfristig – mit „sehr kurzfristig“ meine ichsofort – auf die gesetzlichen Krankenkassen einwirken,damit diese mit den Hebammenverbänden in neue Ver-gütungsverhandlungen gehen. Freiberufliche Hebam-men müssen in der Lage sein, von ihren Honoraren dieHaftpflichtprämien zu bezahlen. Herr Gröhe, Sie müssen– auch das sofort – mit den privaten Versicherungsunter-nehmen reden, damit diese auch weiterhin Haftpflicht-versicherungen anbieten; das haben Sie im Gesundheits-ausschuss angekündigt, und Sie werden ja auch gleich zudiesem Thema reden. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich nehmeSie beim Wort. Ich bin auf Ihre Taten gespannt. Auch dieHebammen werden heute sehr interessiert zuhören; auchsie sind auf die Ergebnisse gespannt.Dadurch wird das Problem allerdings kurzfristig nichtgelöst. Diese Maßnahmen – das Reden mit den Hebam-menverbänden, mit den Versicherern, mit den Kranken-kassen – verschaffen uns allenfalls ein bisschen Zeit. DiePrämien werden weiterhin steigen. Deswegen braucht eseinen weiteren Schritt, um die Versicherungsbeiträgereal zu senken.
Auch das müssen wir noch in diesem Jahr in Angriffnehmen. Im Kern gibt es hier zwei Möglichkeiten: Dieerste Möglichkeit ist ein Haftungsfonds. Das heißt, dieVersicherungsunternehmen kommen nur noch bis zu ei-ner festgelegten Obergrenze für Schäden auf; darüberübernimmt dann der Haftungsfonds die Kosten. Diezweite Möglichkeit ist: Man begrenzt die Summen, diesich die Sozialleistungsträger, zum Beispiel die Kran-ken- oder Rentenversicherung, im Schadensfall von denVersicherungsunternehmen zurückholen können; hiersprechen wir dann von der Regressbeschränkung.Beide Modelle – das wissen wir – sind nicht perfekt.Aber sie können zumindest für einige Zeit die Situationder Hebammen und damit der Geburtshilfe etwas ent-spannen. Diese Zeit brauchen wir, um eine grundlegendeReform umzusetzen. Wir als Grüne sagen, dass wir eineBerufshaftpflicht für alle Gesundheitsberufe brauchen.
Nicht nur die Hebammen, nein, alle Gesundheitsberufeächzen unter den steigenden Haftpflichtprämien. DiePrinzipien der gesetzlichen Unfallversicherung könntenein Vorbild für eine gesetzliche Berufshaftpflicht sein.Das, Herr Minister, sollte die Bundesregierung ganzdringend und schnell untersuchen, damit wir bald eintragfähiges und nachhaltiges System auf die Beine stel-len.
Herr Minister, die Hebammen und die Eltern habennun schon sehr lange gehört, wie kompliziert ihr Pro-blem ist; das stimmt. Aber Sie hatten nun auch lange ge-nug Zeit, eine Lösung zu finden.
Sie müssen jetzt auch eine Entscheidung treffen; dennZeit haben die Hebammen nicht mehr.
Ich sage noch einmal ganz klar: Wir reden hier nichtüber Zahlen. Wir reden hier über das Überleben des Be-rufsstandes der Hebamme. Wir reden über die Wahlfrei-heit der werdenden Mütter und Eltern beim existenziells-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1799
Elisabeth Scharfenberg
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ten Ereignis ihres Lebens, nämlich bei der Geburt ihresKindes.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat für die
Bundesregierung Minister Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäfti-gen uns heute mit einem Thema, das sehr viele in diesemHaus – das weiß ich aus einer Fülle von Briefen – sehrintensiv umtreibt.
Nicht nur die Mitglieder der Berufsgruppe selbst – dahaben Sie völlig recht –, sondern auch viele Mütter undVäter fragen, wie wir angesichts der Sorgen der Hebam-men in unserem Land Sicherheit schaffen. Ich sage sehrdeutlich: Das Bekenntnis des Koalitionsvertrages, eineortsnahe Geburtshilfe und eine angemessene Vergütungder Hebammen in unserem Land sicherzustellen, istnicht nur ein Arbeitsauftrag der Koalition, sondern mirauch ein persönliches Herzensanliegen. Ich werde Ihnenhier gerne über die Dinge, die wir bereits getan habenund weiter tun werden, Auskunft geben.
Die Arbeit der Hebammen ist unverzichtbar. Sie ha-ben nicht nur Wertschätzung und eine angemessene Ver-gütung, sondern vor allem Sicherheit im Hinblick auf dieZukunft ihrer Berufstätigkeit verdient. Sie sprachen vomeinschneidendsten und schönsten Erleben, das Familienmit der fachlich versierten und menschlichen Zuwen-dung von Hebammen verbinden: der Geburt eines Kin-des. Das zeigt sich ja auch an der großen Sympathie, aufdie die Aktionen der Hebammen bei der Bevölkerung inunserem Land stoßen.Sie haben die beiden Entwicklungen, die Sorgen be-reiten, angesprochen: die Steigerung der Haftpflichtprä-mien einerseits, eine Entwicklung der letzten Jahre, inder Tat, und den Ausstieg eines großen Versicherungsun-ternehmens aus dem Gruppentarif eines deutschen Heb-ammenverbandes andererseits, eine Entwicklung derletzten Woche, die eine weitere Verschärfung bedeutet.Ihr Antrag betont dabei zu Recht – das will ich aus-drücklich sagen –, dass der Anstieg der Haftpflichtprä-mie nicht auf einer Zunahme der Schadensfälle beruht.Unsere Hebammen in Deutschland leisten eine herausra-gende Arbeit. Fehler passieren sehr selten. Aber gleich-zeitig gebietet es die Wahrheit, darüber zu reden, dasswir bei der Haftpflicht über die Haftung für Fehler re-den. Ich glaube, wir brauchen im Gesundheitsbereich, inder Pflege, im Krankenhaus, bei den Hebammen eineBereitschaft, darüber in einer Weise zu reden, die wederfragwürdig dramatisiert, ja eine ganze Berufsgruppe aufdie Anklagebank setzt, noch bei den Betroffenen denEindruck erweckt, wir würden geradezu Probleme unterden Teppich kehren.Wir reden darüber, dass Menschen auch in hochan-spruchsvollen Tätigkeiten Fehler machen, einen Aus-druck, den Ihr Antrag vielleicht nicht durch Zufall mei-det, wie er überhaupt in dieser Debatte häufig vermiedenwird, und dass diese Fehler schwerste Folgen für andereMenschen haben können. Ich finde es gut, dass Sie inIhrem Antrag – auch das will ich sagen – der Haltung,den Schadensersatz zu begrenzen, entgegentreten, die esja mitunter auch in der öffentlichen Debatte gibt. Dannwürden wir Familien in dramatischen Situationen imStich lassen. Das kann kein Weg sein.
Sie fragen: Was ist getan worden? Der Gesetzgeberhat 2011 gehandelt: Wir haben im Gesetz klargestellt,dass zum 1. Januar 2012 die gesetzlichen Krankenver-sicherungen den Hebammen die Kosten der Berufsaus-übung – die Haftpflichtversicherung ist in der Geset-zesbegründung ausdrücklich genannt – angemessenvergüten. Dies ist umgesetzt worden in Vereinbarungender Hebammenverbände mit den gesetzlichen Kranken-versicherungen und hat erhebliche Erhöhungen der Ver-gütung zur Folge gehabt.Ich hatte ein intensives Gespräch mit allen deutschenHebammenverbänden. Kritisiert wird, dass diese ange-messene Berücksichtigung der Haftpflichtprämie in derVergütung sich erst ab einer bestimmten Anzahl betreu-ter Geburten auswirkt. Dies ist eine Herausforderung.Zugleich sprechen Sie in Ihrem Antrag die Frage an, obes nicht aus Gründen der Qualitätssicherung – es gehtum die Sicherheit der Frauen – notwendig sein sollte, in-nerhalb eines festgelegten Zeitraums eine bestimmteAnzahl von Geburten betreut zu haben. Das muss im Rah-men der entsprechenden Qualitätsrichtlinien der Selbst-verwaltung festgelegt werden. Es zeigt aber ein Span-nungsverhältnis auf: Mindestanzahl, gleichsam umErfahrung zu sichern, und ortsnahes Angebot auch imländlichen Raum müssen in eine vernünftige Balance ge-bracht werden.Sie haben die Regierung aufgefordert, mit der Versi-cherungswirtschaft und mit den Krankenkassen zu spre-chen. Ich muss Ihnen sagen: Das geschieht in hoher In-tensität seit Wochen.
Ich empfinde Ihren Antrag daher als Ermutigung, weiterintensiv zu verhandeln, bis wir ein Ergebnis erreicht ha-ben. Das ist selbstverständlich, und das sage ich zu.Wir haben die Versicherungswirtschaft und die Kran-kenkassen in einer interministeriellen Arbeitsgruppe, dieim letzten Jahr in Folge des Bürgerdialogs der Bundes-
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Bundesminister Hermann Gröhe
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kanzlerin eingerichtet wurde, eingebunden. Wir werdenim April den Abschlussbericht, der auch zu den ver-schiedenen Modellen, die Sie hier erwähnt haben, Stel-lung nehmen wird, vorstellen.Wir haben die Versicherungswirtschaft unmissver-ständlich wissen lassen, dass wir ein überzeugendes An-gebot erwarten. Ich habe keinen Zweifel daran, dass mansich dort der Verantwortung bewusst ist. Wir brauchendringend einen – besser: mehrere – Gruppenhaftpflicht-tarife, die entsprechend unterbreitet werden. Da zurStunde diese Verhandlungen laufen, fordere ich auchvon dieser Stelle alle Beteiligten – die Hebammenver-bände, die beteiligten Makler, die Versicherungswirt-schaft – auf, zügig abzuschließen.
Wir haben selbstverständlich auch mit den Kranken-versicherungen geredet. Dort ist man sich des Auftragsaufgrund der gesetzlichen Präzisierung, hier die entspre-chenden Kosten zu übernehmen, bewusst. Wir habensehr darauf gedrungen, dass, wenn es zu einer Tarifstei-gerung kommt, diese auch zeitnah umgesetzt wird, da-mit es nicht durch Verzögerungen zu Verunsicherungkommt. Wir werden auch die Frage zu erörtern haben,welche Staffelung vertretbar ist, um gerade auch bei ei-ner niedrigen Anzahl betreuter Geburten ein auskömmli-ches Einkommen sicherzustellen.Meine Damen, meine Herren, Sie fordern weiterge-hende Alternativen. Ich will ausdrücklich sagen: Dasbisherige System von privatwirtschaftlicher Haftpflicht-versicherung und Kostenübernahme durch die Kranken-kasse steht in einer schweren Bewährungsprobe.
Ich bin in der Tat der Überzeugung, dass die Hebammen– das haben wir in den Gesprächen zugesagt, und daswerden Sie auch in dem Abschlussbericht finden – einenAnspruch haben, dass wir Alternativmodelle umfassendprüfen.Sie fordern uns in Ihrem Antrag auf, zeitnah einenGesetzentwurf vorzulegen, schreiben aber selbst, dasswir die verfassungsrechtliche Zulässigkeit prüfen sollen.Das weist darauf hin, wie kompliziert es ist, wenn mit ei-nem Haftungsfonds oder einem Regressverzicht bzw. ei-ner Regressbegrenzung der rechtsstaatlich geboteneZusammenhang von Schadensverursachung und Über-nahme der Haftung begrenzt oder vollständig aufgeho-ben werden soll. Das ist mit dem Justizministerium undmit dem Arbeitsministerium – soweit es die Rentenversi-cherung angeht – in dieser interministeriellen Arbeits-gruppe intensiv erörtert worden. Ich habe sowohl mitKollegin Nahles wie mit Kollegen Maas noch einmal da-rüber gesprochen.Wir prüfen dies – das sage ich ausdrücklich zu –, ichhalte es aber noch nicht für ausgemacht – auch daschulde ich Ihnen die Klarheit –, dass ein Systemwech-sel wirklich zu einer Verbesserung führt. Das von Ihnenvorgeschlagene Modell, sich langfristig an der Unfall-versicherung zu orientieren, ist von der Unfallversiche-rung selbst als untaugliches Instrument zur Begrenzungder Prämien bezeichnet worden, weil es natürlich auchbei der Umsetzung der Idee, alle Berufsgruppen zusam-menzufassen, eine Zuordnung der Prämienhöhe zum Ri-siko geben muss. Eine solche kennt auch die Unfallver-sicherung. Deswegen ist auch bei diesem Modell nochlange nicht ausgemacht, ob der von Ihnen angestrebteErfolg eintrifft.Ich glaube, wir brauchen sehr kurzfristig eine Verab-redung im System, neue Gruppentarife und eine klareAnsage der Krankenversicherung, die Kosten zu tragen.Wir sagen Ihnen zu, die verschiedenen Modelle zeitnah,aber gründlich – den ersten Bericht erhalten Sie noch imApril – zu prüfen.Sie können sich darauf verlassen, dass wir mit ganzerKraft daran arbeiten, den Hebammen in unserem Landdie Sorgen um ihre berufliche Zukunft zu nehmen. Dassind wir ihnen aufgrund ihrer unverzichtbaren Arbeitweiß Gott schuldig.Vielen Dank.
Vielen Dank, Hermann Gröhe. – Für die Linke hat
Birgit Wöllert das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Heute sage ich ausdrücklich auch: Liebe Gäste!Sie werden gleich hören, warum ich mich heute auch anSie wende.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen, erst einmal vielen Dank für diesen Antrag. Wirhaben vor, einen ähnlichen Antrag zu stellen. Sie sinduns etwas zuvorgekommen.
Das ist aber nicht so schlimm. Wir wollten noch die Ant-wort auf unsere Kleine Anfrage an die Bundesregierungzur wirtschaftlichen Lage der Hebammen und Entbin-dungspfleger abwarten. Ich gehe davon aus, dass dieAntwort dann in unsere gemeinsame Lösungsfindungeinfließen kann.
Ich denke, dass es einen großen Konsens geben wird,diesen Antrag im Ausschuss zu diskutieren, und es gibtsicher auch einen Konsens, eine Lösung finden zu wol-len.Allerdings – auch das muss ich sagen – ist das Pro-blem so neu auch wieder nicht; denn es beschäftigt undbewegt uns und ganz viele Menschen in diesem Landschon seit längerem. Das gilt übrigens nicht nur für El-tern, sondern in hoher Zahl auch für Großeltern. Ichkann hier für mich sprechen. Ich möchte, dass auch allemeine Enkelkinder dann meine Urenkel sicher auf dieWelt bringen können. Die Voraussetzungen und die ent-
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Birgit Wöllert
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sprechenden politischen Rahmenbedingungen dafür ha-ben wir jetzt hier zu schaffen.
Jetzt kommt mein Appell an Sie, liebe Gäste: Seitgestern gibt es im Internet eine öffentliche Petition mitder Nummer 50667 und dem Titel „Gesundheitsfachbe-rufe – Sicherstellung der flächendeckenden, wohnort-nahen Versorgung mit Hebammenhilfe“. Die Mitzeich-nungsfrist läuft vom 19. März 2014 bis zum 16. April2014. Kommen in diesem Zeitraum 50 000 Unterschrif-ten oder Mitzeichnungen über das Internet zustande,dann wird der Petitionsausschuss eine öffentliche Sit-zung zu dieser Thematik durchführen.
Bis heute sind es bereits 27 500 Unterschriften. Das än-dert sich stündlich.
Stündlich erfolgen mehr als 1 000 Mitzeichnungen imInternet,
und ich fordere Sie auf, dazu beizutragen, dass die gefor-derte Zahl deutlich überschritten wird. Sie alle haben dasmit in der Hand.
Ich möchte mich an dieser Stelle auch noch einmalbei der Initiatorin, Frau Schmuck aus Ingolstadt, rechtherzlich bedanken.Schon vor rund vier Jahren hat meine Fraktion, DieLinke, hier einen ähnlichen Antrag wie heute Bünd-nis 90/Die Grünen eingebracht, und zwar mit dem Titel„Versorgung durch Hebammen und Entbindungspflegersicherstellen“. Das heißt, mindestens seit diesem Zeit-punkt beschäftigt uns diese Frage. Die Hebammen wa-ren damals nämlich in der gleichen miesen Situation.2010 stellte die Linke fest, dass nur noch 30 Prozentder Hebammen und Entbindungspfleger von ihrem Be-ruf leben können. Wie sieht es jetzt, vier Jahre später,aus? Nach Presseangaben, die wir alle reichlich verfol-gen können, lagen die Stundenlöhne einer freiberufli-chen Hebamme oder eines Entbindungshelfers zwischen2011 und 2014 bei durchschnittlich 7,50 Euro bis8,50 Euro. Angemessener Verdienst für diese verantwor-tungsvolle Tätigkeit sieht wohl anders aus.
Für ein so reiches Land wie Deutschland ist es ein-fach nur beschämend, wie wir mit den Menschen umge-hen, die unserer Zukunft – so nennen wir unsere Kinderso schön vollmundig – auf die Welt helfen. Ich denke,Herr Minister, da tragen Sie eine Verantwortung. AusSteuermitteln werden im Bereich Gesundheit vor allemversicherungsfremde Leistungen bezahlt. Vielleicht soll-ten Sie einmal überlegen, dass von den 3 MilliardenEuro, die sich der Finanzminister zurückholen möchte,ein winziger Teil in zweistelliger Millionenhöhe ausrei-chen würde, um das Problem schnell zu lösen.
2010 schlug die Linke vor, in einem Treffen zwischendem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und demHebammenverband deutliche Vergütungserhöhungen zuvereinbaren und auch die steigenden Haftpflichtprämienabzusichern. Ich muss sagen: Wenigstens die Über-nahme der steigenden Haftpflichtprämien – Sie habendas vorhin angeführt – hat geklappt. Seit 2012 werdendiese Kosten von den gesetzlichen Krankenversicherun-gen übernommen.Anders dagegen sieht es mit der Gesamtvergütung derHebammen aus; denn sie ist immer noch nicht aus-kömmlich, wie ich das schon sagte. Zur Hebammentätig-keit gehört eben noch viel mehr, als Kinder auf die Weltzu holen. Hebammentätigkeit – so haben wir es uns vonden Hebammen erklären lassen – ist vor allem auch dieBetreuung der Mütter vor und nach der Geburt, und zwarüber einen längeren Zeitraum. Ich denke, das müssen wiruns auch etwas kosten lassen.
2010 stellte die Linke fest: Eine flächendeckende Ver-sorgung mit Geburts- und Hebammenhilfe ist gefähr-det. – Vorige Woche, also vier Jahre später, wurde imBundesrat ein Entschließungsantrag zum gleichenThema behandelt. So ein langer Zeitraum ist beschä-mend. Was hat sich eigentlich in diesen vier Jahren ge-tan? Machen Sie es besser als Ihr Kollege von der FDP!
Zur Situation in meiner Heimatregion Cottbus-Spree-Neiße kann ich sagen: Dort gab es 2004 noch insgesamtvier Entbindungsstationen. Entbindungsstationen gibt esjetzt nur noch in Cottbus und Forst, womit ihre Zahl aufzwei abgesenkt worden ist. In Spremberg haben wir des-halb aus der Not eine Tugend gemacht und 2005 einGeburtshaus am Krankenhaus gegründet. Die dort frei-beruflich tätigen Hebammen haben eine verantwortungs-volle Arbeit. Die Menschen aus Spremberg und derRegion nehmen diese Einrichtung gut an. Aber die Heb-ammen sind jetzt schon wieder in einer Notsituation. Dahaben wir sie gefälligst herauszuholen.
Es ist für junge Leute nicht attraktiv, einen Beruf mitsolchen Aussichten zu ergreifen. Ein Beispiel ebenfallsaus Brandenburg: Nur im Carl-Thiem-Klinikum in Cott-bus gibt es hierzu alle drei Jahre einen Ausbildungslehr-gang mit 17 Plätzen. Diese 17 Plätze sind seit 2007 nochnie vollständig belegt gewesen.
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Birgit Wöllert
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So viel zur Motivation für junge Leute.Während wir in unserem Antrag 2010 noch konsta-tierten, dass die Gründe für diese Entwicklung unklarseien, wissen wir heute: Es gibt Gründe für die Steige-rung der Prämien. Deshalb ist es richtig, zügig nach ei-ner Neuordnung der Berufshaftpflicht für Gesundheits-berufe zu sorgen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Fachgebiete und Tä-tigkeiten mit einem hohen Haftungsrisiko nicht zwin-gend zu hohen Prämien führen müssen; denn im Inte-resse der Daseinsvorsorge brauchen wir sowohl dierisikostärkeren als auch die risikoärmeren Gesundheits-leistungen für unsere Bevölkerung. Deshalb sind jetztdie verschiedenen Modelle im Gespräch.Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion miteinem möglichst schnellen und langfristig haltbaren Er-gebnis.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat für die
SPD-Fraktion Dr. Karl Lauterbach.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Kritik, dass sich in der schwarz-gelbenKoalition im Bereich der Hebammenversorgung nichtviel bewegt hat, habe ich selbst in der letzten Legislatur-periode vorgetragen. Aber diese Kritik ist heute schlichtund ergreifend unfair.
Denn wir haben gemeinsam in den Koalitionsvertragaufgenommen, die Hebammenversorgung sicherzustel-len, und wir, Herr Gröhe, die Unionsfraktion und meineFraktion, haben die Arbeit daran sofort aufgenommenund das auch kommuniziert. Wir sind sofort mit denHebammenverbänden in Gespräche getreten, mit denkleinen Verbänden wie mit den großen. Wir haben miteinzelnen Repräsentanten der Hebammen gesprochen.Noch während der Koalitionsverhandlungen habe ichTeile der Petition entgegengenommen. Wir kommunizie-ren ständig Zwischenergebnisse. Ich frage daher: Ist esnicht so, dass hier auch ein bisschen Populismus betrie-ben wird, wodurch bei den Hebammen der Eindruck ent-steht, wir würden nichts tun, derweil wir mit voller Kraftan diesem Thema arbeiten?
Ich sage auch in aller Klarheit: Das Problem ist nichtso simpel zu lösen, indem man einen Antrag einbringt,in dem – seien wir doch ehrlich miteinander – so gut wienichts steht.
Darin steht nur, dass wir für dieses große Problem eineLösung finden müssen. Herzlichen Glückwunsch! Daswissen wir seit vier Jahren, meine sehr verehrten Damenund Herren.
Zunächst einmal ist es so: Wir haben in Deutschlandeine gute Versorgung mit Hebammen.
Das Kernproblem liegt darin, dass es derzeit eine kleineGruppe von Hebammen gibt, für die die Versicherungs-prämie nicht bezahlbar ist. Das sind im Wesentlichen diefreiberuflichen Hebammen. 10 Prozent der Hebammenarbeitet ausschließlich freiberuflich. Diese Hebammenbetreuen im Durchschnitt 18 Geburten pro Jahr. DieHälfte betreut weniger als zehn Geburten pro Jahr. DieVersicherungsprämie beträgt aber 5 000 Euro pro Jahr.Das ist ungerecht; denn es entspricht einem Betrag von500 Euro pro Geburt. Dass das nicht funktionieren kann,ist uns klar. Daran ändert die Verlagerung derselben Ver-sicherung zu einem anderen Versicherungsträger – obUnfallversicherung oder Rentenversicherung – mit ei-nem einzigen Anbieter überhaupt nichts.
Die Frage ist, wie hoch die Kosten der Versicherungmit Blick auf die Zahl der Geburten sind. Wir arbeitenfieberhaft an einer guten und rechtssicheren Lösung. Dasist viel komplizierter, als Sie es in populistischer Art undWeise erscheinen lassen.
Wir lehnen eine Lösung mit einer Schadensbegren-zung – darin stimme ich Minister Gröhe und meinenVorrednern zu –, die zulasten der Kinder und Eltern geht,kategorisch ab.
Das ist mit uns nicht zu machen.
Die Deckungssumme im Gruppenvertrag für dieHebammen beträgt derzeit 6 Millionen Euro. DieseDeckungssumme wollen wir nicht reduzieren, egal wie
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Dr. Karl Lauterbach
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die Lösung aussieht. 1,5 Prozent der Schäden machen50 Prozent der gesamten Schadenssumme aus. All dieseSchäden sind teurer als 1,5 Millionen Euro pro Kind. Fürdiese schweren Fälle brauchen wir eine Lösung, aberkeine populistische,
sondern eine Lösung, die rechtlich trägt – auch verfas-sungsrechtlich – und die bezahlbar ist,
sowohl von den Geburtshäusern als auch insbesonderevon den Hebammen, die nur wenige Geburten begleiten.
In dem jetzigen System ist es sogar so, dass Hebam-men, die viele Geburten betreuen, einen Gewinnmachen, weil die durchschnittlichen Kosten pro Geburtfür die Abdeckung der Versicherung bei jemandem, der100 Geburten pro Jahr begleitet, die tatsächlichenKosten der Versicherung übersteigt. Daher ist der Ehr-lichkeit halber und zur Vermeidung von Populismusauch darauf hinzuweisen, dass es innerhalb der Hebam-menverbände Unstimmigkeiten darüber gibt, wie dasProblem zu lösen ist. Denn das jetzige System funktio-niert für einige Hebammengruppen sehr gut. Sie wolleneine Lösung innerhalb dieser Logik. Andere Gruppenkommen zu kurz. Für die Gruppen, die zu kurz kommen,brauchen wir eine Lösung. Dafür treten wir an.Wir brauchen zudem dringend – damit bin ich bei ei-nem Punkt, der bei allem, was wir bisher angesprochenhaben, viel zu kurz gekommen ist – eine Qualitätsstudie,aus der hervorgeht, wie gut unsere Hebammenversor-gung eigentlich ist, wie stark die Qualität davon abhängt,wie und wo die Geburt erfolgt und ob es einen Zusam-menhang zur Zahl der Geburten gibt. Das alles ist inDeutschland nicht bekannt. Aus meiner Sicht ist es fahr-lässig, nur eine Versicherungslösung zu fordern, ohnesich für die Qualität der Versorgung zu interessieren.
Die Beseitigung dieser Informationsdefizite sind wir denKindern und den Eltern schuldig. Daher werden wir eineLösung finden, die auf einer Untersuchung der Qualitätder Hebammenversorgung und der Geburtshilfe inDeutschland basiert.
Wir wollen eine zeitnahe Lösung. Die Lösung sollsicher, insbesondere rechtssicher sein. Sie soll die Kos-ten gerecht verteilen. Wir wollen – dazu bekennen sichdie SPD und die Große Koalition klipp und klar – dieVielfalt der Geburtsmöglichkeiten erhalten. Wir wollendie Hausgeburt, die Klinikgeburt und die Beleggeburtgenauso wie Geburten in Geburtshäusern. Die Vielfaltsoll erhalten werden, genauso wie die unterschiedlichenMöglichkeiten, als Hebamme zu arbeiten. Wir wollendie rein freiberuflich tätige Hebamme, die Belegheb-amme, die Klinikhebamme genauso wie die Hebamme,deren Arbeit eine Mischform darstellt. Wir wollen dieseganze Vielfalt erhalten. Dann ist aber ein Schnellschuss,wie ihn – bei allem Respekt – der vorliegende grobe An-trag darstellt, nicht möglich.
Wir arbeiten seit Wochen an diesem Thema. Wirhaben gerade die Anhörung der Verbände ausgewertet.Die Lösungen, die wir derzeit erarbeiten, werden recht-lich und inhaltlich geprüft. Wir brauchen noch ein paarWochen. Aber dann legen wir etwas vor, was in den letz-ten Jahren nicht zustande gekommen ist. Wir brauchenaber Geduld. Wir wollen die Qualität verbessern. Wirwollen zudem die Hebammenversorgung auf dem Landausbauen. Es geht nicht nur um Erhalt. Auf dem Landgibt es großflächige Versorgungsdefizite. Diese wollenwir beheben.Verbesserung der Qualität sowie Sicherstellung derVersorgung auf dem Land und der Vielfalt sind unsereZiele. Für eine entsprechende Lösung brauchen wir nochein paar Wochen. Aber wir arbeiten fieberhaft daran. Ichbitte um das notwendige Vertrauen. Bitte hetzen Sie dieHebammen nicht auf!
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Lauterbach.
Ich komme zum Schluss. – Es darf nicht der Eindruck
entstehen, dass wir dieses Thema nicht ernst nehmen.
Das tun wir sehr wohl. Das ist für uns eine Herzensange-
legenheit.
Vielen Dank.
Danke, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist KordulaSchulz-Asche für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Dr. Lauterbach, ich möchte mit NachdruckIhren Vorwurf zurückweisen, unser Antrag sei populis-tisch.
Ich verbitte mir auch Ihren Vorwurf, wir würden Lösun-gen zulasten der Eltern und ihrer betroffenen Kinder vor-schlagen.
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Kordula Schulz-Asche
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Ich verbitte mir diesen Vorwurf und fordere Sie aus-drücklich auf, zu der sachlichen Ebene zurückzukehren,die heute dankenswerterweise der Gesundheitsminister,Herr Gröhe, beschritten hat.
Sie haben über die letzte Legislaturperiode geredet.Aber das Problem, das heute auf der Tagesordnung steht,nämlich die steigenden Haftpflichtversicherungsprämienfür Hebammen, ist viel älter. Sie waren schon einmal aneiner Großen Koalition beteiligt und hätten agieren kön-nen. Die Haftpflichtversicherungsprämien für Hebam-men haben sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht.Es ist daher billig, dass Sie nur auf die letzte Legislatur-periode zurückschauen und denjenigen, die konkreteVorschläge machen, Aktionismus vorwerfen.
Wir sind nun in einer Situation, wo schnell gehandeltwerden muss; denn wenn nicht schnell gehandelt wird,dann bedeutet das, dass sich das Problem dadurch löst,dass alle freiberuflich tätigen Hebammen ihre Arbeitaufgeben werden. Das kann nicht im Interesse einer gu-ten Geburtshilfe in Deutschland liegen.
Lassen Sie mich angesichts der heutigen Diskussioneinen Dank an die Hebammen aussprechen, die nichterst seit gestern, sondern schon seit Jahren mit zuneh-mend einfallsreicheren Aktionen auf ihre Situation hin-weisen. Dazu gehört auch diese Petition. HerzlichenDank an die Hebammen, die immer wieder bereit waren,auf dieses Problem hinzuweisen, und nicht aufgegebenhaben.
Aber es geht nicht nur um den Beruf der Hebammen,sondern es geht auch um die gesellschaftliche Grund-frage: Haben Eltern in unserem Land die Wahlfreiheit,
in welcher Art und Weise sie Kinder auf die Welt brin-gen wollen?
Die Wahlfreiheit der Eltern ist ein hohes Gut. Dazu ge-hört die Hausgeburt, dazu gehört die Geburt im Geburts-haus, und dazu gehört die Geburt in der Klinik. Das istdas, was heute entschieden wird; denn wenn die Geburtim Geburtshaus und die Hausgeburt wegfallen, dann gibtes keine Wahlfreiheit mehr.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weiler von der CDU/CSU-Fraktion?
Ich beantworte sie gleich; denn ich habe sie schon ge-
hört. Es geht um die Frage, was jetzt konkret zu tun ist.
Lassen Sie ihn doch die Frage stellen, Frau Kollegin.
Gut, dann lasse ich ihn sie stellen.
Herr Weiler, Ihre Frage bitte.
Ich habe nur eine kurze Bitte. Ich beschäftige mich
seit dem Eintritt in den Bundestag – ich bin hier neu –
mit dem Thema Hebammen. Ich war selber in den Ge-
burtshäusern. Ich habe Ihrer Kollegin Anja Siegesmund
aus Thüringen vor längerem einen Brief geschrieben und
um eine konstruktive Zusammenarbeit gebeten; denn
auch ich als CDU-Mitglied bin an einer Lösung interes-
siert.
Es wäre sehr schön, wenn Sie mir weiterhelfen könn-
ten, dass meine Frage nach der Möglichkeit einer konst-
ruktiven Zusammenarbeit beantwortet wird.
Danke schön.
Ich antworte gerne auf die Bemerkung. Selbstver-
ständlich werde ich Ihre Bitte weitergeben. Vielleicht
wird in dem Antwortschreiben einiges von dem stehen,
was ich gleich sage.
Es stellt sich jetzt die Frage: Was ist zu tun? Ich
glaube, dass es verschiedene Ebenen gibt. Wir müssen
zum einen kurzfristig handeln. Herzlichen Dank, Herr
Minister Gröhe, dass Sie darauf eingegangen sind; denn
die Krankenkassen und die Berufshaftpflichtversiche-
rungen müssen doch ihrer gesellschaftlichen Verantwor-
tung in ihrem Bereich nachkommen und den Beruf der
Hebamme kurzfristig finanziell absichern. Wir brauchen
zum anderen mittelfristige Lösungen, wie das im
Zusammenhang mit dem Haftungsfonds oder anderen
Lösungen diskutiert wurde. Wir brauchen ferner eine
Berufshaftpflicht für alle Gesundheitsberufe, wie es hier
besprochen wurde. Natürlich brauchen wir eine regelmä-
ßige Bestandsaufnahme, die zeigt, ob die flächende-
ckende und gute geburtshilfliche Versorgung in Deutsch-
land gesichert ist.
Frau Kollegin, ich bitte Sie: Sie müssen zum Ende Ih-rer Rede kommen.
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Das mache ich auch. – Das sollte unser Ziel sein: eineflächendeckende, gute Versorgung in der Geburtshilfe.Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und die Diskus-sion unseres Antrags.Danke schön.
Danke, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Kollege
Dr. Roy Kühne für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter HerrMinister Gröhe! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrgeehrte Damen und Herren! Ich denke, dieses Themaheute ist mit Blick auf die Zukunft ganz besonders wich-tig.Die Hebammen und Entbindungspfleger in Deutsch-land leisten eine hervorragende Arbeit. Diese Leistungenwerden überhaupt nicht infrage gestellt. Ihre Zuwendun-gen und ihre Leistungen in der Vorsorge und in derWochenbettbetreuung sind für Schwangere und jungeEltern von besonderer Bedeutung. Die Geburtshilfe derfreiberuflichen Hebammen ermöglicht vielen Schwange-ren die freie Wahl ihres Entbindungsortes. Das ist wich-tig. Dies gilt aber nicht nur für Hausgeburten oder dieEntbindung in einem Geburtshaus, sondern auch für dieBetreuung durch sogenannte Beleghebammen in Kran-kenhäusern selber.Das Betreuungsangebot der Hebammen trägt in er-heblichem Maße dazu bei, dass Schwangerschaften ei-nen positiven Verlauf haben. Ich glaube, das ist uns allenwichtig. Darüber hinaus bietet es werdenden Mütternund Vätern Zeit und Raum, sich mit der Problematik zubeschäftigen, in Kursen zu erlernen, mit welchen Aktio-nen und Reaktionen sie zu rechnen haben. Sie könnensich damit theoretisch auseinandersetzen, um sich aufdie Aufgabe als Eltern ausreichend vorzubereiten.Ängste der Frauen vor der Geburtssituation können inruhiger, eventuell häuslicher Atmosphäre ausreichend be-sprochen und durch das Erlernen von geburtserleichterndenTechniken sogar abgebaut werden. In der Wochenbettbe-treuung – das heißt in der Zeit nach der Geburt – könnenaufkommende Probleme im neuen Familienalltag, diedurchaus Stress bedeuten können, direkt in einer Eins-zu-eins-Betreuung gelöst werden.Viele von Ihnen können sich vielleicht noch daran er-innern, wie sie sich als junge Eltern in der Zeit nach derGeburt fühlten. Manchmal sind diese Zeiten geprägt vonAngst – Angst davor, mit der Aufgabe Kindesbetreuungüberfordert zu sein, oder davor, für kleine Aufgaben desalltäglichen Lebens keine Lösung zu finden. Ich glaube,viele junge Eltern wissen, was ich damit meine. Auchmeine Frau und ich waren froh, vor, während und nachder Geburt unserer Kinder eine Hebamme an unsererSeite zu haben. Aber dennoch, Frau Wöllert, sage ichganz offen: Ich bin ganz klar gegen Polemik bei diesemThema. Ich bin ganz klar gegen gefühlsduselige Petitio-nen.
Ich glaube, das ist nicht im Interesse der Mütter und Vä-ter und nicht im Interesse der Hebammen. Die Hebam-men haben Sachlichkeit verdient; Herr Lauterbach undHerr Minister Gröhe haben es angesprochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierungsko-alition weiß um die Wichtigkeit und die Leistungen derHebammen. Es ist notwendig, dass Hebammen flächen-deckende Angebote für junge Familien machen. Deshalbist im Koalitionsvertrag ganz klar festgeschrieben, dieVersorgung mit Geburtshilfe sicherzustellen sowie füreine angemessene – da stimme ich Ihnen völlig zu – Ver-gütung zu sorgen. Herr Minister Gröhe und viele Mit-glieder der Regierungskoalition haben in den letzten Ta-gen viele konstruktive Gespräche mit den Hebammengeführt. Dadurch ist viel Klarheit geschaffen worden,worin die Brisanz dieses Themas liegt.Die aktuelle Situation der Hebammen in Deutschlandist natürlich von dem Problem der gestiegenen Haft-pflichtprämien stark geprägt. Eine kostendeckende undauskömmliche Tätigkeit ist momentan zugegebenerma-ßen schwer möglich. Aber man muss auch sagen, dass inAnbetracht dieser Tatsache bereits Veränderungen derVergütungsstrukturen stattfanden. Das von der schwarz-gelben Koalition 2012 verabschiedete GKV-Versor-gungsstrukturgesetz beinhaltet positive Änderungen. In§ 134 a Abs. 1 Satz 3 werden die Kostensteigerungen fürdie freiberuflichen Hebammen berücksichtigt.
Das wurde bereits mehrmals gesagt. Darunter fallenauch die steigenden Haftpflichtprämien. Das GKV-Sys-tem beteiligt sich an diesen Kosten. In den letzten Jahrenergaben sich daraus Vergütungssteigerungen im zwei-stelligen Bereich. Zudem wird aktuell pro Hausgeburtein Ausgleich von 200 Euro für die steigenden Versiche-rungsprämien gezahlt.Nichtsdestotrotz muss über die derzeitige Lage derHebammen in Deutschland intensiv diskutiert werden,und das tun wir auch. Aus diesem Grund gab es inner-halb der interministeriellen Arbeitsgruppe intensiveGespräche mit allen beteiligten Gruppen. Diese gin-gen über die Haftpflichtproblematik hinaus und tan-gierten – es wurde schon angesprochen – ebenfallsThemen wie die Ausbildung und Weiterbildung vonHebammen und natürlich die Qualitätssicherung inder Geburtshilfe.Meine Damen und Herren, ich glaube, wir alle sinduns einig: Die Qualität der Versorgung hat im Gesund-heitswesen höchste Priorität. Das müssen wir als Bun-desregierung den werdenden Müttern und Vätern immerwieder sagen.
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Dr. Roy Kühne
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Wenn wir aber über Qualität und Qualitätssicherungreden, brauchen wir Daten. Ich fordere alle beteiligtenSeiten auf, die Datenlage zügig zu verbessern. Wir brau-chen dies, damit die Argumentationsgrundlage für Dis-kussionen in der Zukunft geschaffen ist. Ich möchte eineDiskussion aufgrund von Fakten führen.Wie Herr Minister Gröhe bereits angesprochen hat,wird der erste Bericht der Arbeitsgruppe im Verlauf desAprils erwartet. Ich erwarte von der Arbeitsgruppe ganzkonkrete Vorschläge, und ich glaube, die werden wirauch bekommen. Ausgehend von dieser Grundlage müs-sen dann weiter gehende Diskussionen geführt werden.Ich betone mit Blick auf die Interessen der Hebammen:Wir brauchen eine sehr zeitnahe Umsetzung von konkre-ten Maßnahmen, damit den Hebammen in Deutschlandein ganz klares Signal gesendet wird.Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass indiesem Haus bei diesem Thema Einigkeit zu zwei Punk-ten herrscht:Erstens. Die ambulante Versorgung durch Hebammenin Deutschland soll flächendeckend erhalten werden.Zweitens. Es geht – das ist für mich als Vater undauch für die Damen und Herren, die oben auf der Tri-büne sitzen, sehr wichtig – um die Gesundheit von Mut-ter und Kind. Das sollten wir bei dieser ganzen Diskus-sion nicht vergessen.
Auch die Koalition weiß um die Dringlichkeit dieserMaßnahmen. Gerade deshalb müssen diese Maßnahmenrechtlich abgesichert und nachhaltig sein. Keinem ist miteinem überhasteten Antrag geholfen, der fordert, diesegesamtgesellschaftliche Aufgabe mit Schnellschüssenabzuhandeln.
Wir brauchen harte Fakten. Warten Sie also bitte den Be-richt der Arbeitsgruppe ab, damit wir tragfähige langfris-tige Lösungen finden – im Interesse von werdendenMüttern und Vätern.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Kühne. – Das Wort hat
Bettina Müller für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Protestaktionen der Hebammen wegen der Berufs-haftpflicht begleiten uns nun schon einige Jahre. Wir er-leben heute nicht die erste Debatte in dieser Sache, undnicht zum ersten Mal solidarisieren sich die Mitbürgerin-nen und Mitbürger berechtigterweise mit dem Anliegender Berufsverbände. Die Empörung ist verständlich. Derdrohende Ausstieg des letzten Versicherers zwingt zumHandeln, und es wird auch gehandelt. Der Minister undKarl Lauterbach haben geschildert, dass alle Beteiligtenressortübergreifend an Lösungsmöglichkeiten arbeiten.SPD und Union haben das im Koalitionsvertrag ver-einbart. Der Bundesrat hat eine Entschließung verab-schiedet. Heute liegt uns ein Antrag der Grünen vor. Dasist ein wichtiges Signal an die Hebammen: Es wird be-reits intensiv und gemeinsam nach Lösungen gesucht.
Mir ist es aber auch wichtig, heute noch eine andereBotschaft auszusenden, nämlich die, dass in Deutschlanddie Geburtshilfe insgesamt nicht in Gefahr ist. Wedersteht ein Berufszweig vor dem Aus, noch werdenSchwangere alleingelassen. Auch das Wahlrecht wollenwir nicht zur Disposition stellen. So emotional dasThema auch ist, meine sehr verehrten Damen und Her-ren: Wir alle sollten uns um eine Versachlichung der De-batte bemühen.
Zur sachlichen Darstellung gehört, dass in Deutsch-land fast alle Geburten, nämlich 98 Prozent, in einemKrankenhaus erfolgen. Nur etwa 2 Prozent der Frauenentscheiden sich für eine außerklinische Geburt, zuHause oder in einem Geburtshaus.
Um diese Geburten kümmern sich bundesweit circa3 500 freiberufliche von insgesamt 21 000 Hebammen.Die Zahlen des IGES von 2012 zeigen: Im Kranken-haus werden etwa 20 Prozent der Geburten von Freibe-ruflichen betreut, die dort als Beleghebammen arbeiten.Viele Beleghebammen begleiten zusätzlich auch Haus-geburten und kommen mit den Zuschlägen der Kassenfür die Prämien gerade so über die Runden; das ist schondargestellt worden. Existenzbedrohend ist die Situationnatürlich für die Hebammen, die ausschließlich im au-ßerklinischen Bereich arbeiten.Es steht also nicht die gesamte Geburtshilfe infrage,meine sehr verehrten Damen und Herren, sondern esgeht um ein Problem der Berufshaftpflicht für einen Teilder Hebammen und bei einem kleinen Teil der Geburten.Aber ganz klar ist: Dieses Problem muss dringend gelöstwerden. Die Hebammen sollen sich nicht länger von ei-ner Vereinbarung mit den Krankenkassen zur anderenhangeln müssen. Auch die Versicherungswirtschaft darfsich nicht aus der Verantwortung stehlen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1807
Bettina Müller
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Der Antrag der Grünen geht insofern in die richtigeRichtung, als eine langfristige Neuordnung der Berufs-haftpflicht für die Gesundheitsberufe gefordert wird.Aber über diese Überlegungen besteht ohnehin Konsenszwischen allen Akteuren.
Wir müssen jedoch auch die langfristigen Perspekti-ven für die Geburtshilfe sehr viel mehr in den Fokus rü-cken. Mit Blick auf die Trends und Herausforderungenin der Gesundheitsversorgung ist die Haftpflicht letztlichnur ein Thema unter vielen, wenn auch ein drängendes.Der Blick auf andere wichtige Fragestellungen darf hier-durch jedoch nicht verstellt werden.Die Geburtshilfe in der Fläche, im unterversorgtenländlichen Raum, muss auch bei weiter sinkenden Ge-burtenzahlen sichergestellt sein. Das gilt für Geburtenim Krankenhaus ebenso wie für Hausgeburten.
Die Geburtshilfe ist aber auch hier nur Teil einer Debatteum künftige Versorgungsstrukturen und damit Teil einesohnehin notwendigen Gesamtkonzeptes.Die hohe Anzahl der Entbindungen durch Belegheb-ammen ist ein Beispiel, wie Krankenhäuser schon jetztmit Sparzwängen umgehen: Geburtsstationen werden ab-gebaut, Leistungen werden outgesourct und an Belegheb-ammen abgegeben. Natürlich garantieren Beleghebammendas Wahlrecht der Frauen, sich – völlig zu Recht – eineHebamme ihres Vertrauens auszusuchen. Aber mir als So-zialdemokratin wäre es natürlich schon lieber, diese Heb-ammen hätten dann eine ordentlich bezahlte Festanstellungund eine vom Krankenhaus bezahlte Haftpflichtversiche-rung und kein prekäres, freiberufliches Arbeitsverhältnis,mit dem sie kaum über die Runden kommen.
Im Rahmen der ärztlichen Versorgung beginnt ja ge-rade eine kritische Diskussion über die Freiberuflichkeit.Warum sollten wir dann ausgerechnet bei Hebammenden umgekehrten Weg einschlagen? Natürlich müssenwir zunächst für die freiberuflichen Hebammen in derambulanten Versorgung nach einer nachhaltigen Lösungsuchen. Sie müssen in künftige demografiefeste Versor-gungsstrukturen eingebunden und auskömmlich vergütetwerden.Die notwendige Lösung der Haftpflichtproblematik,liebe Kolleginnen und Kollegen, kann allerdings nur derStartschuss für eine weiter gehende Debatte sein. Damitwird sich die SPD in den nächsten drei Jahren intensivbeschäftigen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Nächster Red-
ner in der Debatte ist Erich Irlstorfer – ich hoffe, ich
habe es einigermaßen bayerisch ausgesprochen – für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir besprechen heute einen Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen zur aktuellen Debatte über Heb-ammen. Das heutige Thema ist seit Wochen Gegenstandbreiter gesellschaftlicher Diskussionen.In den vergangenen Jahren sind die Kosten für dieHaftpflichtversicherung der Hebammen drastisch gestie-gen. Sie haben sich in zehn Jahren nahezu verzehnfacht.Die Prämien liegen aktuell bei 4 000 bis 5 000 Euro proJahr. Angestellte Hebammen sowie solche, die keine Ge-burtshilfe leisten, sind von den Kostensteigerungen nichtbetroffen.Grund für die Kostensteigerungen sind die hohenSummen, die inzwischen vor Gerichten für Geburtsschä-den erstritten werden. Anders als von einigen angenom-men – das möchte ich in dieser Diskussion betonen –,hat sich die Höhe der Haftpflichtprämien nicht aufgrundeiner Zunahme von Hebammenfehlern erhöht. Dank desmedizinischen Fortschritts können Menschen mit Behin-derungen in der Folge solcher Fehler mit ihren Beein-trächtigungen deutlich länger als früher leben. Dahersind die Schadensersatzsummen deutlich angestiegen.Als Union haben wir die Situation der Hebammenauch weiterhin im Blick. Die zuvor schon mehrfach an-gesprochene Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Heb-ammenverbände wurde einberufen, um sämtlichewichtigen Aspekte der Hebammenversorgung näherzu untersuchen. Zur Klärung der Problematik ist auch– ich glaube, das ist wichtig – der Gesamtverband derDeutschen Versicherungswirtschaft mit einbezogenworden. Der Abschlussbericht dieser Arbeitsgruppebefindet sich gerade in der Abstimmung mit den Heb-ammenverbänden und wird demnächst veröffentlicht;der Herr Minister hat es gesagt.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist ausmeiner Sicht wichtig, diese Debatte auf Grundlage vonDaten und Fakten zu führen. Fakt ist eine Explosion derHaftpflichtprämien für – nach Angaben des DeutschenHebammenverbandes – etwa 3 500 freiberufliche Heb-ammen sowie der Ausstieg der Nürnberger Versicherungaus der Hebammenversicherung. Dies könnte nicht nurzu einer Bedrohung dieses Berufsstandes, sondern damitauch zu Versorgungsproblemen in der Geburtshilfe füh-ren.Richtig ist aber auch: Wenn immer weniger freiberuf-liche Hebammen Geburtshilfe anbieten können, wird inZukunft das Recht auf Wahlfreiheit des Geburtsortesnicht mehr gewährleistet sein.
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1808 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Erich Irlstorfer
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Schon jetzt gibt es sowohl in den städtischen Ballungs-räumen als auch in dünner besiedelten Gebieten Eng-pässe in der Versorgung durch freiberufliche Hebam-men.Richtig, meine sehr geehrten Damen und Herren, istaber auch: Ein Großteil der Freiberuflerinnen hat sichlängst auf die Vor- und Nachsorge spezialisiert. DieZahl der Hausgeburten ist eher gering. Die Zahl derKinder, die in Deutschland außerhalb von Kliniken ge-boren werden, liegt seit Jahren zwischen rund 10 000und 12 500 Kindern; diese Zahlen sind für mich nichtunerheblich, aber so sind die Zahlen. Die meistenFrauen, die ein Kind erwarten – das darf man nicht ver-schweigen –, gehen aus Sicherheitsgründen zur Geburtlieber in ein Krankenhaus.
Als Abgeordneter der CSU vertrete ich die Ansicht,dass es auch in Zukunft die freie Entscheidung einerwerdenden Mutter bleiben muss, ob sie zu Hause, in ei-nem Geburtshaus oder in einem Krankenhaus entbindenmöchte.
In allen genannten Bereichen muss die Qualität der Ver-sorgung gewährleistet bleiben. Eine moderne Gesund-heitspolitik geht vom Lebensanfang bis zum Lebens-ende. Auch vor diesem Hintergrund muss sie sich an derQualitätsfrage orientieren.
Verschiedene medizinische Studien zeigen, dassHausgeburten gefährlicher ablaufen können – ich sagebewusst: können – als Geburten in Kliniken. VieleHausgeburten enden im Krankenhaus. Hier ist eine um-fassende Beratung der werdenden Eltern absolut not-wendig. Auch muss über mögliche Konsequenzen inHaftungsfragen diskutiert werden, wenn sich Eltern frei-willig und bewusst für diese Form der Geburt entschei-den.Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar: Die Versor-gung in der Fläche im Bereich der Geburtshilfe muss ge-währleistet bleiben. Zugleich stehen wir dazu, dass Heb-ammen angemessen vergütet werden müssen und dieHaftpflichtproblematik endlich gelöst wird.Lassen Sie uns aber bitte den Bericht der Arbeits-gruppe abwarten. Nur so kann eine zielgerichtete Dis-kussion auf der Grundlage von Fakten geführt werden.Sich vor Kenntnis sämtlicher Aspekte über eine be-stimmte Fragestellung zu unterhalten, kann nicht Sinnder Sache sein.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss:Zum Teil sind die im Antrag der Grünen gefordertenPunkte, wie die Abbildung der Kostensteigerungen inder Vergütung, bereits umgesetzt worden, andere werdenderzeit noch in den jeweiligen Institutionen diskutiert.Aber ich sage auch: Alle Beteiligten und Betroffenenbrauchen dauerhaft tragfähige und finanzierbare Lösun-gen. Das ist notwendig. Deshalb glaube ich, dass es rich-tig ist, wenn dem vorliegenden Antrag heute nicht zuge-stimmt wird.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. Das ganze Haus gratuliert
Ihnen von Herzen zu Ihrer ersten Rede zu einem sehr
schönen Thema.
Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei Ihrer weiteren Ar-
beit im Deutschen Bundestag.
Nächste Rednerin ist Marina Kermer von der SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, dasThema der heutigen Debatte beschäftigt uns nun schonseit Jahren. Bisher wurde keine langfristig tragbare Lö-sung gefunden. Das ist auf Dauer weder für die Hebam-men noch für die werdenden Mütter haltbar. Deshalbwerden wir das ändern. Das hat Minister Gröhe bereitserklärt, und ich habe keinen Zweifel daran, dass uns dasgelingt.
Über die nunmehr abzuwartenden Modellvorschlägewerden wir dann mit Sicherheit sachlich reden. Bis da-hin kann man nur ein paar der Annahmen aus dem heutevorliegenden Antrag diskutieren und die eine oder an-dere Behauptung geraderücken.Wir wissen: Hebammen leisten unverzichtbare Arbeitvor, bei und immer stärker auch nach der Geburt; ver-stärkt auch für Frauen, die stationär entbunden haben.Durch die kürzere Verweildauer im Krankenhaus nacheiner Entbindung wird die fachliche Nachsorge zu Hauseimmer wichtiger.Dazu kommen gesellschaftliche Faktoren. Den klassi-schen Familienverband gibt es immer seltener und damitauch weniger direkte Hilfe und Unterstützung durch Fa-milienangehörige. Hebammen sind vor Ort, bei den Fa-milien und können besonders nach der Geburt ersteWarnzeichen der Überforderung erkennen und die Fami-lien direkt unterstützen.
Wenn wir uns klar dazu bekennen, dass wir die Arbeitder Hebammen wollen, müssen wir die Rahmenbedin-gungen so gestalten, dass sie ihre Arbeit verantwor-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1809
Marina Kermer
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tungsvoll ausführen und davon auch leben können. Ichdenke, darin sind wir uns alle im Hause einig.
Uneinig sind wir uns bei der Bewertung der gegen-wärtigen Versorgungslage. Der überwiegende Teil derGeburten findet in Krankenhäusern statt. Nur rund1,7 Prozent der Geburten erfolgen nicht stationär. In denKrankenhäusern gab es laut Statistischem Bundesamt imJahr 2012 circa 888 Fachabteilungen für Frauenheil-kunde und Geburtshilfe mit rund 33 400 Betten. DerNutzungsgrad der Betten lag bei 58,1 Prozent. Damit ar-beiten die Krankenhäuser noch nicht an ihrer Kapazitäts-grenze. Ich finde es nicht richtig, Ängste zu schüren;denn wir gehen nicht sehenden Auges in eine Unterver-sorgung bei der Geburtshilfe.
Was die Erreichbarkeit von Krankenhäusern mit Ge-burtshilfe angeht, wurde im IGES-Gutachten festge-stellt: Für die Mehrheit der Frauen, nämlich für 88 Pro-zent, sind Krankenhäuser mit einer Entfernung von unter10 Kilometern zu erreichen. Auch das spricht für einegute stationäre Versorgung. Richtig ist: Es gibt gerade inländlichen Räumen Regionen, die nicht optimal durchstationäre Angebote versorgt sind. Hier müssen wir an-setzen. Denn die Wahlfreiheit zwischen stationärer undnichtstationärer Entbindung setzt voraus, dass sich einKrankenhaus im Notfall in Reichweite befindet.
Darüber hinaus kommen bei 20 Prozent der geplantenaußerklinischen Geburten die Kinder doch im Kranken-haus zur Welt.Ein Gedanke fehlt im vorliegenden Antrag völlig:Das bloße Vorhandensein einer Versorgungseinrichtunggarantiert nicht automatisch eine qualitativ gute Versor-gung, so wie das bloße Vorhandensein von Hebammennoch keine sichere Geburt garantiert.Wir haben das Thema „flächendeckende Versorgungund Qualität“ in den Koalitionsvertrag aufgenommen.Deshalb möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, wo-rum es uns primär geht. Es geht nicht nur um Haft-pflichtversicherungsprämien und die Frage, ob und wielange sich die Ausübung des Berufs der Hebamme finan-ziell rechnet. Es geht um Menschenleben – um das derKinder und der Mütter.
Ja, die Entscheidung für eine Hebamme ist eine ex-trem emotionale Entscheidung. Nach einer langen, oftsehnsüchtig erwarteten Schwangerschaft steht der Ge-burtstermin bevor. Neben der Vorfreude auf das Babygibt es auch Sorge und Angst im Hinblick darauf, dassdie Geburt für Mutter und Kind hoffentlich gut verlaufenwird. Genau dann hat man die wichtige Entscheidungüber die Art der Entbindung zu treffen, und zwar für sichund das Kind. Deshalb sollten die werdenden Eltern wis-sen, welche Hebamme wie viele Geburten mit welchenErfolgen oder Komplikationen aufweisen kann, bevorsie sich entscheiden – entscheiden für eine stationäreoder außerstationäre Entbindung, mit der Hebamme desVertrauens in der Klinik, im Geburtshaus oder in der ver-trauten familiären Atmosphäre.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Kermer. Auch für Sie vom
ganzen Haus Beifall für Ihre erste Rede.
Wir wünschen Ihnen von Herzen eine gute Arbeit hier
im Deutschen Bundestag.
Nächste und abschließende Rednerin in dieser De-
batte ist Dr. Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich meine erste
Rede im Deutschen Bundestag zu dem wichtigen Thema
der Hebammen halten darf.
Es gibt wohl wenige so bedeutsame Veränderungen
im Leben wie die Geburt eines Kindes, und es ist für die
Eltern gut, in dieser Situation auf die Hilfe der Hebam-
men setzen zu können. Es ist noch gar nicht so lange her,
da war ich selbst sehr dankbar, dass ich den Beistand von
Hebammen hatte. Meine Kinder sind jetzt vier und sechs
Jahre alt, und ich erinnere mich noch genau, wie wichtig
mir die Unterstützung durch meine Hebamme war. Heb-
ammen geben uns die Sicherheit, die wir brauchen, um
in die Elternrolle hineinzuwachsen.
Wir von der CDU/CSU wissen, wovon wir reden. Ich
habe mir einmal erlaubt, nachzuzählen: Allein unsere
Fraktion kommt auf 524 Kinder; das sind 1,7 Kinder pro
Abgeordnetem.
Und wir reden nicht nur, wir handeln auch; Minister
Gröhe hat das ausgeführt.
Jetzt würde ich ja gerne eine Nachfrage stellen; ichlasse es aber, Frau Kollegin.
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1810 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
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Wie ist das in Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün re-
giert? Hier wurde 2012 ein Runder Tisch Geburtshilfe
angekündigt; erst in diesem Jahr hat der Runde Tisch
zum ersten Mal getagt.
Anders als die lautstarken Stimmen der Grünen – wie
wir sie eben gehört haben – es dargestellt haben, haben
wir in der letzten Legislatur den Stellenwert von Hebam-
men insgesamt erheblich verbessert.
Gerade was die Unterstützung von zumeist jungen Fami-
lien in schwierigen Lebenslagen betrifft, war es eine sehr
wichtige Entscheidung der christlich-liberalen Koalition,
das Modell der Familienhebammen einzuführen. Es ist
kein Zufall, den Kinderschutz mit den Hebammen zu
verknüpfen, da die Hebammen ganz eng an den Eltern
dran sind und sich Zugänge erschließen, die offizielle
Behörden so gar nicht aufbauen können.
Die Familienhebammen haben eine Brückenfunktion
und leisten dadurch einen wichtigen Beitrag zum Wohle
der Kleinsten.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte an dieser Stelle Hermann Gröhe ganz ausdrück-
lich dafür danken, dass er sich so kurz nach seiner Nomi-
nierung als Minister des Themas der Haftpflichtproble-
matik engagiert angenommen hat.
Wir haben es eben schon mehrmals gehört: Gerade die
enorm gestiegenen Prämien der Berufshaftpflicht für die
freiberuflichen Hebammen – es ist wichtig, da zu diffe-
renzieren – in der Geburtshilfe sind zu einer existenzbe-
drohenden Belastung geworden.
Ich denke, von der heutigen Debatte geht ein klares
Signal an die Hebammen aus: Wir werden dafür sorgen,
dass zukünftig jede Hebamme eine bezahlbare Versiche-
rung erhält. Es ist jetzt wichtig, dass der bereits ange-
sprochene interministerielle Bericht schnell vorgelegt
wird und schnell Lösungen angeboten werden. Ich sage
aber auch, dass die Selbstverwaltung und insbesondere
die Versicherungen aufgefordert sind, sich konstruktiv
an der Lösung des Problems zu beteiligen und ihre ge-
sellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.
Darüber hinaus haben wir bereits im Koalitionsver-
trag ein klares Bekenntnis zum Erhalt der flächende-
ckenden Hebammenversorgung abgelegt. Insofern kön-
nen sich die Hebammen darauf verlassen, dass eine
Regelung in ihrem Sinne – und damit natürlich auch im
Sinne aller Eltern – gefunden wird.
Abschließend möchte ich gerne noch einen Punkt an-
sprechen – es ist ein eher frauenpolitischer Punkt –: Ich
finde es ganz großartig, dass die Hebammen ihre politi-
schen Forderungen hier in Berlin so klar zur Sprache ge-
bracht haben. Es gibt wohl keinen Abgeordneten und
keine Abgeordnete, der oder die bisher keinen Brief von
den Hebammen erhalten hat.
Am Freitag – das wissen Sie alle – ist der Equal Pay
Day. Dabei geht es um die Entlohnung in klassischen
Frauenberufen. Gerade die finanzielle Würdigung der
Arbeit rund um die Geburtshilfe sollte in einem Land,
das seit Jahren über Kindermangel debattiert, eine
Selbstverständlichkeit sein.
Und es ist richtig, dass auch die Vergütung von Hebam-
menleistungen in der freiberuflichen Geburtshilfe in den
letzten Jahren verbessert wurde.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie
mich zum Schluss noch einmal unsere Anliegen zusam-
menfassen. Wir setzen uns für eine flächendeckende
Versorgung im Bereich der Geburtshilfe ein, wir wollen
die Wahlfreiheit von Eltern sicherstellen, aber auch an
ihre damit verbundene Verantwortung appellieren, wir
setzen uns für eine angemessene Vergütung der Hebam-
men ein, und wir sorgen schnellstmöglich für eine be-
friedigende Lösung in der Haftpflichtfrage.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollegin Leikert. Das Haus gratuliertIhnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Zu Ihrer Anregung. Sie haben von 1,7 Kindern proCDU/CSU-Abgeordneten gesprochen. Vielleicht lassenwir den Wissenschaftlichen Dienst checken, wie das beiden anderen Fraktionen aussieht. Dann wissen wir, obdort auch gearbeitet wird.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/850 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen; Herr KollegeIrlstorfer, es wird heute also nicht abgestimmt, sondernüberwiesen. Sind Sie damit einverstanden? – Ja, Sie sindeinverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 e sowieZusatzpunkt 3 auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-schlag für einen Beschluss des Rates zur Auf-hebung des Beschlusses 2007/124/EG,Euratom des RatesDrucksache 18/824Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1811
Vizepräsidentin Claudia Roth
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b) Erste Beratung des von der Fraktion DIE LINKEeingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Grundgesetzes
Drucksache 18/838Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung
InnenausschussAusschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionc) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Matthias W. Birkwald, Jan Korte, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKERenten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträg-lich auszahlenDrucksache 18/636Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten HerbertBehrens, Sabine Leidig, Thomas Lutze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKeine Einführung einer Pkw-Maut inDeutschlandDrucksache 18/806Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitHaushaltsauschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas psychiatrische Entgeltsystem überarbei-ten und das Versorgungssystem qualitativweiterentwickelnDrucksache 18/849Überweisungsvorschlag:Ausschuss für GesundheitZP 3 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterungder Umsetzung der Grundbuchamtsreform inBaden-WürttembergDrucksache 18/70Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 i auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 20 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Abkommen vom 8. April 2013 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland undder Republik Östlich des Uruguay über So-ziale SicherheitDrucksache 18/272Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Arbeit und Soziales
Drucksache 18/864Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/864,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa-che 18/272 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen.– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung von allen Frak-tionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 20 b:Beratung der Beschlussempfehlungen und Be-richte des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. JoachimPfeiffer, Hansjörg Durz, Axel Knoerig, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee,Lars Klingbeil, Matthias Ilgen, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPDTechnologie-, Innovations- und Gründungs-standort Deutschland stärken – Potenzialeder Digitalen Wirtschaft für Wachstum undnachhaltige Beschäftigung ausschöpfen unddigitale Infrastruktur ausbauenDrucksachen 18/764 , 18/872– zu dem Antrag der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Herbert Behrens, Dr. Petra Sitte,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEDigitale Gründungen unterstützen – Zu-kunftsfähige Rahmenbedingungen für die di-gitale Wirtschaft schaffenDrucksachen 18/771, 18/873Wir stimmen zunächst über die Beschlussempfehlungdes Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu dem An-trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit demTitel „Technologie-, Innovations- und Gründungsstand-
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1812 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
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ort Deutschland stärken – Potenziale der Digitalen Wirt-schaft für Wachstum und nachhaltige Beschäftigung aus-schöpfen und digitale Infrastruktur ausbauen“ ab. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/872, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/764 anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionenvon CDU/CSU und SPD angenommen, bei Ablehnungder Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
– Das war, glaube ich, ein spaßiger Zwischenruf.Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag derFraktion Die Linke mit dem Titel „Digitale Gründungenunterstützen – Zukunftsfähige Rahmenbedingungen fürdie digitale Wirtschaft schaffen“. Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/873, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 18/771 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion bei Ent-haltung von Bündnis 90/Die Grünen und Neinstimmender Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 20 c bis 20 i. Wir kommen zuden Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Liebe Besucher auf der Tribüne, es tut mir leid, aberich kann Ihnen das jetzt nicht im Einzelnen erklären. Siewerden nun erleben, wie im Rahmen des Petitionsver-fahrens abgestimmt wird.Tagesordnungspunkt 20 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 21 zu PetitionenDrucksache 18/785Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 21 angenom-men.Tagesordnungspunkt 20 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 22 zu PetitionenDrucksache 18/786Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 22 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordungspunkt 20 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 23 zu PetitionenDrucksache 18/787Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 23 mit denStimmen von CDU/CSU- und SPD-Fraktion bei Gegen-stimmen der Linken und Enthaltung von Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 20 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 24 zu PetitionenDrucksache 18/788Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 24 ist mit den Stim-men aller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 20 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 25 zu PetitionenDrucksache 18/789Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 25 mit denStimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion undder Linken bei Neinstimmen von Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Tagesordnungspunkt 20 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 26 zu PetitionenDrucksache 18/790Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 26 bei Zu-stimmung von CDU/CSU- und SPD-Fraktion, Neinstim-men von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung derLinken angenommen.Tagesordnungspunkt 20 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti-onsausschusses
Sammelübersicht 27 zu PetitionenDrucksache 18/791Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Damit ist die Sammelübersicht 27 mit denStimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktionbei Neinstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und derLinken angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Wahl der Mitglieder des Kuratoriums der„Stiftung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“Drucksache 18/845Dazu liegt ein Wahlvorschlag der Fraktionen derCDU/CSU, der SPD, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 18/845 vor. Wer stimmt für
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1813
Vizepräsidentin Claudia Roth
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diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist der Wahlvorschlag von allenMitgliedern hier im Hohen Haus einstimmig angenom-men.Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord-nung um die Beratung von zwei Beschlussempfehlun-gen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung zu zwei Anträgen auf Genehmigungzur Fortsetzung eines Strafverfahrens zu erweitern unddiese jetzt als Zusatzpunkte 7 und 8 aufzurufen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Somit rufe ich jetzt die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Fortführung ei-nes Strafverfahrens in der 18. WahlperiodeDrucksache 18/876ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge-schäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zur Fortführung ei-nes Strafverfahrens in der 18. WahlperiodeDrucksache 18/877Bevor wir zur Abstimmung über die beiden soebengenannten Beschlussempfehlungen kommen, erteile ichnach § 31 der Geschäftsordnung Katja Kipping für dieLinke das Wort.
Frau Präsidentin! Ich möchte eine persönliche Erklä-rung abgeben, warum ich gegen die hier vorliegendenBeschlussvorlagen stimmen werde; das ist für mich einesehr persönliche Angelegenheit.Sie von der Union, den Grünen und der SPD haben imAusschuss der Aufhebung der Immunität von Caren Layund Michael Leutert zugestimmt. Sie behandeln das alseine rein formale Angelegenheit; vielleicht haben Sie da-mit, rein formalistisch gesehen, auch recht. Aber hierhandelt es sich eben nicht um eine formale Angelegen-heit. Das, was wir in Dresden jahrelang am 13. Februarerleben mussten, war alles andere als eine Formalie.
Jahrelang habe ich mich als Dresdnerin geschämt, weilmeine Heimatstadt am 13. Februar zum Gebiet für deneuropaweit größten Naziaufmarsch wurde. Jahrelangmussten wir erleben, wie die Nazis das stille Gedenkender Dresdner für ihre Form von braunem Geschichtsrevi-sionismus missbraucht haben.
Wie Sie wissen, haben wir immer Gegenaktionendurchgeführt, Kundgebungen mit Kerzen. Sie waren na-türlich symbolisch wichtig. Aber sie wirkten angesichtsder Fackelzüge der braunen Brut, die ungehindert durchdie Dresdner Innenstadt gezogen ist, verdammt hilflos.Vor diesem Hintergrund war ich froh, als sich endlich einbreites Bündnis gefunden hat, das gesagt hat: Das müs-sen wir ändern! – Tausende, ja Zehntausende haben sichentschieden: Wir stellen uns den Nazis friedlich, aberentschieden in den Weg.
Darunter waren auch Caren, Micha, ich und viele wei-tere Abgeordnete aus unterschiedlichen Fraktionen.
– Ja, auch aus anderen Parteien.Wenn man wusste, wie sich die braune Gewalt inSachsen ausgeweitet hat, und wenn man, wie ich, erlebthat, wie diese braune Brut ungehindert durch die Dresd-ner Innenstadt zog, dann konnte man sich an diesem Tagnicht hinter Formalien verstecken. Da gab es einfach et-was, das größer war. In mir hat alles gerufen: Hier musstdu deinem Gewissen folgen! Hier musst du Gesicht zei-gen! Hier kannst du nicht fragen, ob wirklich jede Sitz-blockade genehmigt ist! – Ich bin froh, dass viele so ge-dacht haben.
Die vielen haben dabei viel auf sich genommen. Es waran diesem Tag verdammt kalt. An vielen Kreuzungengab es keine Toilette. Eine drückende Blase, kalte Füße –das war das Mindeste, was man in Kauf genommen hat.
Heute geht es um die Aufhebung der Immunität vonCaren Lay und Michael Leutert. Da ich mit beiden aufderselben Kreuzung war, weiß ich, dass auch andere Ab-geordnete, auch Abgeordnete anderer Fraktionen, dortwaren. Natürlich steht die Frage im Raum: Warum gehtes heute nur um die Aufhebung der Immunität dieserbeiden? Die Antwort ist ganz einfach: Es war ein NPD-Anwalt, der sich im Nachhinein Zeitungsfotos ange-schaut hat, um willkürlich Strafanzeige gegen bekannteGesichter zu erheben. Es war also ein Anwalt jener Na-zipartei, deren Vertreter im Sächsischen Landtag vom„Bomben-Holocaust“ gesprochen und damit eines derschlimmsten Menschheitsverbrechen der Geschichteverharmlost haben.Können Sie sich vorstellen, wie das in den Ohren derJüdischen Gemeinde klingt? Wir hatten in Dresden einsteine sehr reiche jüdische Gemeinde mit 5 000 Mitglie-dern. Nur 41 davon haben den Holocaust in Dresdenüberlebt. Sie müssen sich heute Hohn und Spott von denNazis gefallen lassen, und deren Anwalt erstattet jetzteine Strafanzeige. Ich finde, mit solchen Nazianwältendarf man sich nicht gemein machen!
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1814 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Katja Kipping
(C)
– Ja, Sie schütteln den Kopf, weil Sie das offensichtlichimmer noch als eine Formalie behandeln.Ich sage Ihnen: Teile der sächsischen Justiz und dersächsischen Polizei sehen das offensichtlich anders alsich. Sie sind verdammt eifrig, wenn es darum geht, dieantifaschistische Zivilcourage zu kriminalisieren. Redenwir über den Fall von Pfarrer König: Das Verfahrenmusste inzwischen eingestellt werden, weil man festge-stellt hat, dass die Polizei entlastende Beweise einfachunterschlagen hat, und weil man festgestellt hat, dasseinseitig ermittelt worden ist. Einem jungen Familienva-ter drohen jahrelange Haftstrafen. Flächendeckend wur-den die Telefone Zehntausender Leute einfach über-wacht. Gleichzeitig versagt ebenjener sächsischeSicherheitsapparat, wenn es darum geht, Opfer von brau-ner Gewalt zu schützen.Sie alle haben sicherlich von dem jungen Paar in Ho-yerswerda gehört. Die beiden sind bekennende Antifa-schisten. Nazis sind in ihre Wohnung eingebrochen undhaben der Frau sogar eine Vergewaltigung angedroht.Die sächsischen Sicherheitsbehörden wussten nichts zuderen Schutz zu tun. Sie mussten umziehen, mussten dieStadt verlassen.
Wenn ich den Eifer bei der Verfolgung und Kriminalisie-rung von antifaschistischer Zivilcourage und das jäm-merliche Versagen, wenn es um den Schutz der Opferbrauner Gewalt geht, gegenüberstelle, muss ich sagen:Dafür fehlen mir jegliche zivilisierten Worte. Das findeich beschämend und peinlich.
Ich komme zum Schluss. Die heutige Immunitätsauf-hebung ist nur ein Mosaikstein in diesem größeren Ge-bilde. Deswegen stimme ich dagegen. Als Dresdnerinund Demokratin sage ich: Danke schön! Ein Danke anall jene, die trotz Schikane und klirrender Kälte mit dazubeigetragen haben, dass der europaweit größte Naziauf-marsch in Dresden Geschichte wird. Auch in Zukunftmuss gelten: Kein Fußbreit den Nazis!Danke schön.
Danke, Frau Kollegin. – Um das noch einmal klarzu-
stellen: Das war eine Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung. Den Eindruck, der möglicherweise ent-
standen ist, dass sich diejenigen, die dem Antrag
zustimmen, mit den Anliegen von Nazianwälten gemein
machen, weise ich zurück.
Das Wort hat nach § 31 Abs. 1 der Geschäftsordnung
der Kollege Wadephul.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir hatten eigentlich vereinbart, hierzu nicht zu
sprechen. Dennoch möchte ich nun als Vorsitzender des
Ausschusses in aller Kürze das aufnehmen, was die Frau
Präsidentin gesagt hat.
Wir haben in dieser Wahlperiode, uns dabei auf um-
fängliche Erörterungen in der vergangenen Wahlperiode
stützend, in unserem Ausschuss unter einer intensiven
Teilnahme aller Beteiligten eine Entscheidung getroffen.
Unter rein immunitätsrechtlichen Gesichtspunkten hat-
ten wir die Frage zu entscheiden, ob wir der Durchfüh-
rung des entsprechenden Verfahrens zustimmen, ja oder
nein. Weil es unsere Arbeit diskreditieren würde, kann
ich nicht akzeptieren, dass Sie uns im Ansatz unterstel-
len, damit eine politische Meinungsäußerung zu verbin-
den, die irgendein Mitglied des Ausschusses auch nur in
die Nähe von faschistischen Umtrieben bringen könnte.
Ich kann auch nicht akzeptieren, dass Sie ein Verfahren,
was sich dieses Hohe Haus auf der Grundlage des
Grundrechtsschutzes der Immunität gegeben hat, als for-
malistisch diskreditieren. Formalien haben in einem
Rechtsstaat ihren Sinn und ihren Zweck. Sie zu erfüllen,
ist manchmal nicht leicht. Unabhängig davon sollten wir
den Konsens der Demokraten gerade bei der Bekämp-
fung von faschistischen Umtrieben nicht infrage stellen.
Ich würde es für sinnvoll halten, wenn entsprechende
Auseinandersetzungen, auch über die Frage der Demons-
tration dort in Dresden, in einem anderen Rahmen als
diesem geführt würden, wenn die Mitglieder dieses Aus-
schusses, die sich die Sache nicht leicht gemacht haben,
nicht in dieser Art und Weise angegriffen werden wür-
den.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Das Wort zu einer Er-
klärung zur Abstimmung nach § 31 Abs. 1 der Ge-
schäftsordnung hat Britta Haßelmann für Bündnis 90/
Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Da ich an der Ab-stimmung mitgewirkt habe, darf ich, glaube ich, im Ge-gensatz zu Ihnen, Frau Kipping, hier auch eine persönli-che Erklärung abgeben. Sie nutzen ja anscheinend dasForum, um eine politische Erklärung abzugeben und vorallen Dingen um alle, die Ihre Auffassung nicht teilen,zu diskreditieren und hinsichtlich der Neonazi-Aufmär-sche in Dresden in eine Ecke zu stellen, die völlig inak-zeptabel ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1815
Britta Haßelmann
(C)
(B)
Es gibt keinen Grund dafür. Sie wissen genauso gutwie ich, wie Monika Lazar, wie viele andere von uns, diemit anderen Leuten zusammen in Dresden auf der Straßegestanden haben,
dass es wichtig ist, Zivilcourage zu zeigen. Sie machenaber wieder den Fehler, zu verwechseln, dass es hier umein Verfahren in einer Immunitätssache geht und nichtdarum, zu beurteilen, ob man Nazis in DeutschlandRaum gibt oder nicht.
Es gibt über 200 Ermittlungsverfahren, über 200 Men-schen mussten sich der Justiz gegenüber verantworten.
Woher leiten Sie eigentlich das Recht ab, dass zwei vonIhnen, zwei von uns aus dem Deutschen Bundestag, sichdurch Nichtaufhebung ihrer Immunität einem solchenVerfahren entziehen können sollen?
Zivilcourage bedeutet nicht, dass wir ein Privileg ge-genüber anderen Bürgerinnen und Bürgern haben, wennes um Ermittlungen geht.
Wann verstehen Sie das? Ich habe es einfach satt, wennZivilcourage wie eine Monstranz vor uns hergetragenwird. Ich schätze wahnsinnig viele Leute, die sich enga-gieren, die dafür auch Sachen in Kauf nehmen, die ver-dammt schwer auszuhalten sind; aber nichts rechtfertigt,wenn man als Abgeordneter glaubt, anders behandeltwerden zu können
als jede Bürgerin und jeder Bürger in diesem Land.
Ich muss dann auch mit diesen Folgen rechnen und kanndoch, verdammt noch mal, dann nicht darauf hoffen,dass, weil ich den Status einer Abgeordneten habe, das,was für andere gilt, für mich nicht gilt. Das finde ichwirklich problematisch an der Frage. Das ist ein Fall ausder 17. Wahlperiode. Ich will mich in der Sache dazu garnicht äußern;
das ist hier nicht der Ort dafür. Sie wissen, dass das eininternes Verfahren ist. Ich bin neu in diesem Ausschuss.Ich habe extra Akteneinsicht genommen. Ich kann nichtverstehen, wieso Sie einem solchen Verfahren an derStelle widersprechen.
Danke, Frau Kollegin.
Zur Erklärung: In diesem Verfahren sind keine Zwi-
schenbemerkungen bzw. Zwischenfragen möglich. Des-
wegen konnte ich der Bitte von Christian Ströbele nicht
entsprechen.
Aber der Kollege Dr. Gysi hat, wenn er will – das ist
mir gerade angekündigt worden –, nach § 31 Abs. 1 der
Geschäftsordnung die Möglichkeit, eine Erklärung zur
Abstimmung abzugeben.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz
kurz: Im Fall André Hahn, den die gleiche Angelegen-
heit betrifft, haben SPD und Grüne im Sächsischen
Landtag gegen die Aufhebung der Immunität gestimmt.
Jetzt sage ich etwas zu Ihrem Argument, weil es mich
ärgert, wenn Sie sagen, es geht um Privilegien für zwei
Leute im Unterschied zu anderen. Ganz im Gegenteil,
wenn der Bundestag in diesem Falle sagte: „Wir heben
die Immunität nicht auf“, hätten wir allen anderen gehol-
fen. Das wäre entscheidend gewesen.
Danke.
Es gibt jetzt eine ganze Reihe von persönlichen Erklä-rungen, die nach unseren Regeln zu gewähren sind.Dürfte ich einmal ganz kurz die Parlamentarischen Ge-schäftsführer zu mir bitten?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, das ist einhochemotionales Thema; aber die ParlamentarischenGeschäftsführerinnen und Geschäftsführer haben sichdarauf geeinigt, vorzuschlagen, dass diejenigen, die sichjetzt noch für eine Erklärung zur Abstimmung gemeldethaben, diese Erklärung bitte schriftlich einbringen,
weil wir sonst eine riesenlange Debatte bekommen undich nicht weiß, wo ich anfangen und wo ich aufhörensoll. Ich bitte, das anzunehmen.
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1816 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Vizepräsidentin Claudia Roth
(C)
(B)
Christian Ströbele, bitte.
Frau Präsidentin, ich bin damit nicht einverstanden.
In der Geschäftsordnung steht, dass man eine persönli-che Erklärung abgeben kann. Sie können höchstens sa-gen: nach der Abstimmung. Ich rede auch gerne nach derAbstimmung, wenn Sie das wünschen. Aber dass wirüberhaupt nichts dazu sagen können, ist ein ernstes Pro-blem hier. Ich möchte mich auch dazu äußern.
Es geht hier nicht um Stunden, sondern vielleicht umzehn Minuten, die das hier länger dauert.
Nein, es geht nicht um zehn Minuten, sondern um
sehr viel mehr, weil sich noch sehr viele Kollegen ge-
meldet hätten.
Es ist nicht so, dass Sie gar nichts sagen dürfen, son-
dern ich habe die große Bitte, dass Sie Ihre Erklärungen,
wie bei anderen Abstimmungen auch, schriftlich abge-
ben.
Ich bitte Sie sehr, dem zuzustimmen, was die Geschäfts-
führer und Geschäftsführerinnen jetzt vereinbart haben,
weil das Instrument sonst dazu führt, dass uns die Zeit
ein bisschen aus dem Ruder läuft. Sind Sie einverstan-
den? – Vielen Dank.
Ich bitte Christian Ströbele und alle anderen, ihre Er-
klärungen zur Abstimmung schriftlich abzugeben.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die zwei Be-
schlussempfehlungen.
Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung empfiehlt in seinen Beschlussempfeh-
lungen auf den Drucksachen 18/876 und 18/877, die Ge-
nehmigungen zur Fortführung von Strafverfahren in der
18. Wahlperiode zu erteilen.
Zusatzpunkt 7. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/876? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung
mit Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung der Linken, eini-
1) Anlage 2
ger Kolleginnen und Kollegen der SPD und einer Kolle-
gin sowie eines Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich bedanke mich für Ihr Einsehen, Ihre Erklärungen
schriftlich abzugeben, weil wir sonst tatsächlich außer-
halb unseres Zeitrahmens gekommen wären.
Zusatzpunkt 8. Wer stimmt für die Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 18/877? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Lin-
ken angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
Drucksache 18/843
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Dr. Patrick
Sensburg für die CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich hoffe, dass wir nach dieser doch sehr auf-geheizten Debatte wieder zur Sache zurückkommen,diesen Sachgegenstand, der genauso viel Brisanz bietet,gemeinschaftlich, gemeinsam debattieren und den Un-tersuchungsausschuss einsetzen können.Ich glaube, dass wir am Anfang einer Zeit sind, in derwir auf der einen Seite realisieren, dass uns die neuenMedien – auch das Internet – unheimliche Chancen bie-ten, während wir auf der anderen Seite aber auch erken-nen müssen, dass der Bereich der neuen Medien – dasgilt auch für das Internet – kein schrankenloser, unregle-mentierter Raum sein darf und auch Staaten und großeUnternehmen Regeln und Schranken brauchen.
Ich bin sehr glücklich, dass wir uns über alle Fraktionenhinweg einig sind, einen Untersuchungsausschuss einzu-setzen, und dass wir schon nach der Debatte am 13. Fe-bruar erkannt haben, dass die verdachtsunabhängigemassenhafte Erfassung und Auswertung von Daten deut-scher Bürger und Unternehmen nicht hinnehmbar sind.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1817
Dr. Patrick Sensburg
(C)
(B)
Auf den Einwurf der Kollegin Wawzyniak vom13. Februar möchte ich kurz eingehen. Ihr Einwurf war,ob das auch gilt, wenn staatliche Institutionen inDeutschland das so handhaben würden. Das sehe ich ge-nauso. Gerade vor dem Hintergrund dessen, was wir inden letzten Tagen hören mussten, muss ich sagen: Dasgilt auch für deutsche Behörden. Ich glaube, das wird si-cherlich einer der Prüfungspunkte des Untersuchungs-ausschusses werden.Nach den Beratungen im Geschäftsordnungsaus-schuss, in denen wir aus zwei Anträgen einen entwickelthaben, bin ich sehr zuversichtlich, dass wir auch in Zu-kunft gemeinschaftlich unseren Prüfauftrag, unseren Un-tersuchungsauftrag wahrnehmen werden.Bei der personellen Ausgestaltung des Untersu-chungsausschusses mit acht Mitgliedern kommen zweiKernpunkte zum Vorschein. Der erste Punkt ist: Da wirin den nächsten Wochen und Monaten intensiv mit Da-ten und Informationen zu tun haben werden, die denDiensten zuzuordnen und als Geheim einzustufen sind,ist es richtig, dieses Gremium nicht zu groß werden zulassen. Es mit acht Mitgliedern des Deutschen Bundesta-ges zu besetzen, war, glaube ich, eine kluge Entschei-dung.Der zweite Punkt. In der Besetzung mit acht Mitglie-dern spiegelt sich eine weitere kluge Entscheidung wi-der. Es gibt den Fraktionen der Opposition die Möglich-keit, alle Rechte der Opposition wahrzunehmen; dennmit den zwei Mitgliedern, die sie stellt, wird das Quo-rum von 25 Prozent der Mitglieder erfüllt. Damit kannsie alle im Grundgesetz verbürgten Rechte wahrnehmen.Das ist ein guter Kompromiss, den wir in der Vorberei-tung im Geschäftsordnungsausschuss getroffen haben.Das zeigt nach meiner Meinung die Gemeinschaft-lichkeit in diesem Untersuchungsausschuss: Wir wollendieses Thema gemeinsam bearbeiten und nicht gegenei-nander.
Wir haben das im Untersuchungsausschuss zum NSUsehr gut gemacht. Ich hoffe, dass wir im Geist guter Zu-sammenarbeit auch in diesem Untersuchungsausschussarbeiten können.Natürlich stellen Untersuchungsausschüsse grund-sätzlich das klassische Recht der Opposition dar, die Re-gierung zu kritisieren und Fehler und Versäumnisse derRegierung aufzuzeigen. Mir scheint, dass dies bei die-sem Untersuchungsausschuss nicht vordringlich ist undnicht im Vordergrund stehen sollte. Ich glaube, die Auf-gabe ist deutlich größer, wenn man rekapituliert und inder Rückschau betrachtet, was wir in den letzten Wochenund Monaten erlebt und gehört haben.Von daher haben sich die Prüfaufträge, die sich indem Einsetzungsbeschluss widerspiegeln, daran zu mes-sen. Wir haben in einem ersten Prüfblock formuliert: Esmuss klar werden, was die Staaten der „Five Eyes“ imRahmen von Programmen entwickelt haben, sei esPrism, sei es Tempora, sei es XKeyscore und alle ande-ren Programme, bis hin zu Mystic, von dem wir in denletzten Tagen gehört haben. Wir müssen genau hin-schauen: „Was gibt es? Was wird dort gemacht?“, damitwir uns erst einmal einen deutlichen Überblick verschaf-fen können.Wenn ich mir vor Augen führe, was in den letztenzwei oder drei Tagen bekannt geworden ist, wenn ich zu-dem aus verschiedenen Quellen erfahre, dass nicht nurdie USA Mitschnitte von Telefonaten speichern, sondernvielleicht auch andere Länder, dann meine ich, dass wirüberlegen sollten: Wenn sich im Laufe des Untersu-chungsausschusses Erkenntnisse ergeben, die es nahe le-gen, den Prüfungsauftrag, den Untersuchungsauftrag zuerweitern, sollten wir das tun, nicht im Alleingang, son-dern im Konsens aller Fraktionen.
Wir haben schon in der Debatte am 13. Februar ganzklar darauf hingewiesen, dass wir eine massenhafte undverdachtsunabhängige Erfassung und Speicherung per-sonenbezogener Daten ablehnen, und haben dies auchunter Punkt I.1 in den Prüfauftrag unseres Antrags auf-genommen. Ich glaube, die Reichweite des Antrags ist inden einzelnen Prüfpunkten gut definiert. Ich gehe jetztnicht auf die einzelnen Prüfpunkte ein, aber ich glaube,dass sie die wesentlichen Punkte aus beiden ursprünglicheingebrachten Anträgen widerspiegeln.Ich glaube, dass wir in einem zweiten Prüfungskom-plex untersuchen müssen, welche Stellen der Bundesre-gierung, Bedienstete des Bundes oder Mitglieder desDeutschen Bundestages und des Bundesrates in den Fo-kus von Ausspähung gekommen sind. Im Gegenzugwerden wir auch fragen, ob es möglicherweise eine Be-teiligung von deutschen Institutionen und deutschen Be-hörden gab.Wir werden in einem dritten Prüfungskomplex daraufeingehen, welche Schlussfolgerungen sich aus den Er-kenntnissen ziehen lassen. Darauf liegt meiner Meinungnach das Hauptaugenmerk dieses Untersuchungsausschus-ses. Es kann nicht unsere einzige Aufgabe sein, zu unter-suchen, was passiert ist. Das wird sicherlich einen brei-ten Teil in Anspruch nehmen. Aber dann müssen wirauch aus den Erkenntnissen Schlüsse ziehen. Ich glaube,hierbei sollte unser Hauptaugenmerk darauf liegen: Wiekann das Recht auf informationelle Selbstbestimmung,auf Integrität der Kommunikation, auf vertrauliche Kom-munikation, gewährleistet werden? Welche Schlussfolge-rungen und Lösungsvorschläge können wir als DeutscherBundestag aus den dann vorhandenen Erkenntnissen zie-hen?Wenn wir diesen dritten Schritt auslassen, dann wirdder Untersuchungsausschuss ein zahnloser Tiger. Wennwir aber Ergebnisse präsentieren und in einem drittenSchritt Schlussfolgerungen aus unseren Erkenntnissenziehen und aufzeigen, was wir aus unserer nationalen,
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1818 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Patrick Sensburg
(C)
(B)
deutschen Sicht verändern wollen, kann das, glaube ich,vorbildhaft für andere Länder sein.
Das wird uns aber nur dann gelingen, wenn die achtMitglieder des Untersuchungsausschusses gemeinsaman einem Strang ziehen. Wenn wir uns in Klein-Kleinund in Detailkritik an der Bundesregierung oder an frü-heren Bundesregierungen verlieren, an denen fast alleFraktionen in diesem Hause außer der Linken beteiligtwaren, dann werden wir, glaube ich, dieser großen Auf-gabe nicht gerecht.
Wenn wir unseren Blick, der vielleicht ideologischgeprägt ist, nur auf unsere nationalen Dienste richten,dann werden wir den Blick zu sehr fokussieren und wer-den der großen Aufgabe nicht gerecht. Ich glaube, dasswir an einem Strang ziehen sollten und die Chance ha-ben, mit diesem Untersuchungsausschuss weit überDeutschland hinaus im Sinne von Datensicherheit, Da-tenschutz, Schutz von Bürgerinnen und Bürgern, aberauch von Unternehmen und Institutionen Akzente zu set-zen.Diese große Aufgabe können wir leisten. Deswegenist es auch so wichtig, dass wir am heutigen Tage zeigen,dass wir gemeinsam in diesem Haus den Untersuchungs-ausschuss wollen, dass wir uns nicht in der ersten De-batte zerhakeln und in Klein-Klein verheddern, sonderndass wir zeigen: Wir sind entschlossen, den Untersu-chungsausschuss zu einem Ergebnis zu bringen. Das ge-lingt uns zusammen, und darauf freue ich mich in dennächsten Monaten gemeinsam mit Ihnen.Danke schön.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Martina Renner,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-ginnen und Kollegen! Sehen Sie es mir nach: Ich bin im-mer noch etwas aufgewühlt von der vorangegangenenDebatte. Ich denke, wenn wir die Verteidigung vonGrundrechten und Demokratie wirklich ernst nehmen– darum geht es auch in Dresden: diese Werte gegen dieNeonazis zu verteidigen –,
dann hätten wir die Debatte aushalten und uns noch wei-ter die Argumente anhören müssen. Ich fand das in die-sem Sinne keinen guten demokratischen und parlamen-tarischen Stil.
Ich finde, gerade wenn wir bei der Einsetzung desUntersuchungsausschusses in vielen Punkten Gemein-samkeiten feststellen, sollten wir noch einmal reflektie-ren, ob die Art und Weise, wie die Debatte eben abgelau-fen ist, dem Gegenstand, um den es geht, tatsächlichangemessen war.
Jetzt komme ich zu dem Thema, über das wir heutereden wollen: dem gemeinsamen Einsetzungsantrag allerFraktionen. Es ist fast ein Jahr her, dass wir alle durchdie mutigen Enthüllungen von Edward Snowden erfah-ren haben, wie umfassend wir durch US-amerikanischeGeheimdienste und ihre Partner in Deutschland über-wacht werden. Diese Überwachung betrifft tatsächlichuns alle, jeden Bürger, jede Bürgerin, uns alle hier imSaal, nicht nur die Kanzlerin und den Innenminister. Esist ein Thema, das alle angeht. Deswegen ist es gut, dassendlich auch bestimmte Teile der Großen Koalition denUmfang und den Skandal dieser Überwachung insoweitfestgestellt haben, als sie jetzt zu dem Ergebnis gekom-men sind, dass wir mit einem gemeinsamen Untersu-chungsauftrag diese Überwachung aufklären wollen. Esist eine einmalige Chance zur Aufarbeitung und ein gu-tes Zeichen, das wir fraktionsübergreifend Grundrechts-verletzungen als gemeinsame parlamentarische Aufklä-rungsaufgabe begreifen.Wir wollen die Arbeit US-amerikanischer und briti-scher Dienste sowie die ihrer engsten Partner untersu-chen; so haben wir es formuliert. Wir sollten uns nichtvon den Beteuerungen beruhigen lassen, dass nur soge-nannte Metadaten, also Verbindungsdaten, gespeichertwurden und keine Gesprächsinhalte; denn wir wissen,dass gerade anhand der Verbindungsdaten exakte Profileder Nutzer erstellt werden können. Jeder kann sich ein-mal vorstellen, wie viel über ihn ausgesagt wird, wennklar ist, wen er früh morgens oder spät abends anruft,welche Internetseiten er aufruft oder wem er eine E-Mailschickt.Wir fragen auch: Wie kooperieren dabei die ausländi-schen Geheimdienste mit den deutschen Partnerdiens-ten? Auch wenn die deutschen Spitzelzentralen nichtüber dieselben technischen Möglichkeiten verfügen,müssen wir das Bundesamt für Verfassungsschutz, denBND und den MAD unter die Lupe nehmen; denn siealle arbeiten aller Wahrscheinlichkeit nach nach dersel-ben Religion der Totalüberwachung. Für einen Geheim-dienst heißt es beim Sammeln von Informationen hübenwie drüben des großen Teiches: Mehr ist immer besser.– Diese Geheimdienstphilosophie muss nicht nur unter-sucht werden, sondern muss im Sinne des Grundrecht-schutzes auch beendet werden.
Wir nehmen den BND und das BfV dabei in den Blick,weil wir als Linke fest davon ausgehen, dass der großeBruder einen kleinen Bruder hat und beide Hand in Handarbeiten, zum Beispiel durch den Ringtausch. Wir wer-den untersuchen, ob beispielsweise die NSA oder der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1819
Martina Renner
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britische Geheimdienst dem BND dort hilft, wo diesernicht zugreifen dürfte, Freundschaftsdienste sozusagen.Wir glauben, dass die Bundesregierungen aller Farb-kombinationen in den letzten Jahren von dieser Praxisgegebenenfalls wussten und vielleicht auch profitiert ha-ben. Dabei müssen wir uns noch einmal vor Augen führen,wann die Zusammenarbeit zwischen der NSA und dendeutschen Stellen intensiviert wurde, nämlich weit vor dem11. September 2001, basierend auf einer Vereinbarung zurengeren Zusammenarbeit zwischen den US-Geheimdiens-ten und den bundesdeutschen Nachrichtendiensten durchden damaligen Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier.Wir werden – so ist es jedenfalls Wille meiner Fraktion –Herrn Steinmeier im Ausschuss danach fragen, was er daim Einzelnen abgesprochen hat und warum er diese Zusam-menarbeit so forciert hat.
– Und wir wollen die Vereinbarung sehen. Sehr richtig,Herr Kollege Ströbele!Der Untersuchungszeitraum beginnt daher aus gutenGründen schon im Frühjahr des Jahres 2001 und endeterst heute. Zudem werden wir dafür sorgen, dass weitereBehörden und Institutionen des Bundes einbezogen wer-den: Nachrichtendienste, das Bundesamt für Sicherheitin der Informationstechnik und selbstverständlich dieBundesregierung.Es geht um die Zukunft unserer Grundrechte in einerdigitalisierten Welt. Es geht um die Frage, ob die Datenund die Datenspuren schutzlos sind, Geheimdienstenund privaten Unternehmen zur Kontrolle, zur kommerzi-ellen Nutzung, zur Überwachung und letztendlich auchzur Manipulation ausgeliefert bleiben oder eben nicht.Deshalb ist es für uns alleroberstes Ziel, dass der Unter-suchungsausschuss so transparent und öffentlich wiemöglich tagen und arbeiten wird. Das ist ein Verspre-chen, das wir heute hier geben müssen.
Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, jedemVersuch entgegenzutreten, aus einem öffentlich tagendenAusschuss eine geheim tagende parlamentarische Kon-trollkommission light oder 2 zu machen. Die Durchdrin-gung unserer digitalen Welt durch Dienste, ihre Helferund Auftraggeber ist nicht mit geheimen Methoden auf-zuklären und schon gar nicht zu kontrollieren.Wir wollen, dass derjenige, der uns allen die Augengeöffnet hat, Herr Snowden, vor dem Ausschuss aussa-gen kann in einer Form, die ihn nicht selbst gefährdet.Edward Snowden ist der Fachmann für jeden bisherveröffentlichten Satz. Wir alle wissen aber, dass dafürVoraussetzungen geschaffen werden müssen, die nichteinfach sein werden. Sicherheit, Auslieferungs- und Ent-führungsschutz sind die Stichworte. Es wäre nicht daserste Flugzeug, das von den USA zur Landung gezwun-gen würde. Ich denke, das ist eine sehr ernste Aufgabefür den Ausschuss.Dass die abgehörten Institutionen, zum Beispiel auchdie Regierung, selbst den Weg zur Totalüberwachunggeebnet haben, davon müssen wir ausgehen. Die Bun-desregierungen haben selbst aktiv die Massenerfassungvon Daten vorangetrieben, auch gegen den Widerstandeiner kritischen Öffentlichkeit und der inner- und außer-parlamentarischen Opposition. Herr Dr. Sensburg, un-sere Kritik ist nicht klein-klein, sondern an dieser Stellefundamental.
Denken wir nur an den permanenten Austausch vonFluggastdaten zwischen der EU und den USA, die Bank-bewegungsdaten im SWIFT-Verfahren oder die vielenweiteren internationalen Abkommen, die diesen Daten-transfer erst legalisiert haben. In den Diensten läuft esnach dem Motto: Von allem, was für den US-amerikani-schen Freund gesammelt wird, profitieren wir auchselbst, und das wollen wir möglicherweise auch dannselbst haben.Die Bürger haben ein Recht darauf, zu erfahren, wieumfassend die Überwachung und Kontrolle derzeit ist,nicht nur in der Vergangenheit war, damit sie selbst undwir als Parlament Maßnahmen ergreifen können, um diedigitalen Grundrechte zu schützen, wie es das Grund-gesetz gebietet; denn unsere Demokratie ist durch einSystem totaler Überwachung und Kontrolle in Gefahr.Das ist tatsächlich eine große Aufgabe für diesen Unter-suchungsausschuss.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Dr. Eva
Högl das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Meine letzte Rede an dieser Stelle zudiesem Thema habe ich damit begonnen, dass ich meinerEnttäuschung Ausdruck verliehen habe, dass es bishernicht gelungen war, in dieser Frage an einem Strang zuziehen. Jetzt können Sie sich vorstellen, dass ich michheute umso mehr freue,
und zwar richtig toll, dass wir es gemeinsam geschaffthaben, aus den zwei unterschiedlichen Anträgen derOpposition und der Koalitionsfraktionen nach dieserzunächst so verfahren anmutenden Situation einen ge-meinsamen Antrag zu machen, dass wir es also dochnoch zum Guten gewendet haben und jetzt gemeinsamden Auftrag des NSA-Untersuchungsausschusses be-schließen. Das ist ein echter Erfolg. Darüber freue ichmich.
Metadaten/Kopzeile:
1820 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Eva Högl
(C)
(B)
Mein Dank gilt ganz besonders all denjenigen, diedazu beigetragen haben, dass es gelungen ist, diesen ge-meinsamen Antrag zu formulieren. Das ist ein wirklichgutes Zeichen. Wir als SPD haben nie einen Hehl darausgemacht, dass wir ein gemeinsames Vorgehen bei die-sem so wichtigen Thema NSA für das einzig richtigehalten, und zwar deshalb, weil wir der Ansicht sind, dasswir nicht nur gegenüber der Bundesregierung, sondernauch gegenüber den Nachrichtendiensten ganz klar unddeutlich machen müssen, dass hier im Bundestag keinePartikularinteressen verfolgt werden, sondern dass wirhier unser gemeinsames Kontrollinteresse, das genuineKontrollinteresse des Deutschen Bundestages, des ge-samten Parlamentes, wahrnehmen. Das ist ein ganz star-kes Signal in Richtung der Bundesregierung und inRichtung der Nachrichtendienste.Das zeigt auch, dass wir als Parlamentarierinnen undParlamentarier dazugelernt haben; denn wir haben mitdem guten Beispiel des NSU-Untersuchungsausschussesdeutlich gemacht, dass wir als Untersuchungsausschussstärker sind, wenn wir das gemeinsam beschließen undgemeinsam arbeiten. Wir zeigen auch beim Thema NSA,dass es um die Wahrung der Grund- und Menschen-rechte geht. Das ist keine Kleinigkeit. Die liegt uns hiergemeinsam am Herzen. Deswegen dieser starke Unter-suchungsauftrag.Ich freue mich auch darüber, dass wir die verfas-sungsrechtlichen Probleme – die hatte ich das letzte Maldargestellt –, die wir mit dem ursprünglichen Antrag derOpposition hatten, jetzt gemeinsam beseitigt haben undeinen rundum verfassungskonformen und, wie wirdenken, wasserdichten Untersuchungsauftrag formulierthaben.Liebe Frau Renner und liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Grünen, ich kann gut verstehen, dass Siejetzt die besonders hartnäckige Oppositionsarbeithervorheben. Frau Renner, da muss ich aber eine kleineBemerkung machen. Ich will die Einigkeit hier nichttrüben, aber wir müssen bei der Wahrheit bleiben; dasgehört dazu. Sie haben in einer Presseerklärung den Ein-druck erweckt, dass die Koalitionsfraktionen nicht vonAnfang an die mögliche Beteiligung deutscher Nach-richtendienste oder der Bundesregierung an den Aktivi-täten der NSA in den Blick nehmen wollten. Das stimmtnicht. Das entbehrt jeder Grundlage.
Um das festzustellen, können sie noch einmal in unserenursprünglichen Antrag hineinschauen; da haben wir dasThema „mögliche Beteiligung deutscher Nachrichten-dienste“ hineingeschrieben. Das wollten wir von Anfangan. Das ist ein zentrales Thema, und deswegen wolltenwir das immer. Es geht in diesem Untersuchungsaus-schuss darum, die Verantwortlichkeiten und die mögli-che Verstrickung der staatlichen Stellen in Deutschlandzu beleuchten. Deswegen haben wir diesen Punkt vonAnfang an in den Antrag hineingeschrieben.Uns ist sehr wichtig, dass wir diese Untersuchungsachgerecht und objektiv durchführen. Deswegen ist derUntersuchungsauftrag entsprechend formuliert. Wir wol-len in dem Auftrag dabei keine diffuse, keine pauschaleAbneigung gegenüber der Arbeit von Nachrichtendiens-ten erzeugen. Darum geht es gerade nicht.Ich sage ganz klar: Ja, an einer Stelle haben wir unssehr dafür eingesetzt, dass wir etwas nicht in den Unter-suchungsauftrag aufnehmen, nämlich die Untersuchungeiner großen Anzahl von Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union. Wir wollten diese Staaten, deren Bürgerselbst Opfer der überbordenden Massenspeicherung ge-worden sind, nicht mit untersuchen; das hätte von derKonzentration auf die Aktivitäten der „Five Eyes States“abgelenkt. Deswegen war es richtig, unseren Untersu-chungsauftrag einzuschränken.
Außerdem hätte es an einer Stelle unseren Untersu-chungsauftrag gefährdet. Es ist ganz wichtig, dass wirhier gemeinsam deutlich machen, dass wir in Europa unsgegen die massenhafte Erfassung und Speicherung vonKommunikationsdaten unbescholtener Bürger stellenund dass wir uns dagegen zur Wehr setzen. Deswegenmüssen wir diesen Akzent ganz klar hervorheben. Esgeht darum, dass wir nicht pauschal verurteilen, sonderndarum, dass wir sehr sachgerecht und sehr konzentriertdie Arbeit der Nachrichtendienste untersuchen, dass wirunterscheiden zwischen dem, was der eigentliche Skan-dal ist – nämlich die massenhafte Erfassung und Spei-cherung von Kommunikationsdaten auf Vorrat –, unddem, was die Nachrichtendienste leisten müssen, näm-lich die Übermittlung, den Austausch und auch dieSammlung von Daten in Einzelfällen, bei einer konkre-ten Gefährdung; das ist ihre Aufgabe. Das ist wichtig. Eswar richtig, in der Formulierung des Untersuchungsauf-trages diese Unterscheidung zu treffen.Ich bin froh, dass wir in diesem Sinne übereingekom-men sind und dass wir noch einmal deutlich gemachthaben, dass es um Folgendes geht – was ja Snowdenherausgearbeitet hat und was der Kern dieses öffentlichgemachten Skandals ist –: um die systematische undpauschale Erfassung von uns allen, also nicht nur vonRegierungen, Parlamentariern und Wirtschaftsunterneh-men, sondern auch von allen unschuldigen Bürgerinnenund Bürgern. Genau darin liegt der Skandal, und darinliegt die Grund- und Menschenrechtsverletzung. Dassdies ohne jeden Verdacht und ohne jeden Anlass ge-schah, das wollen wir in dem Untersuchungsausschussuntersuchen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ich wünsche allen, die in demUntersuchungsausschuss arbeiten, jede Menge Kraft undHartnäckigkeit; denn die gehört dazu, wenn es darumgeht, wirklich etwas herauszufinden. Um nachhaltig auf-zuklären, muss man an der einen oder anderen Stelle– das weiß ich aus eigener Erfahrung aus dem NSU-Untersuchungsausschuss – wirklich hart dranbleiben.Das werden Sie machen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen.Wichtig ist, ebenfalls den Teil in den Blick zu neh-men, den Herr Sensburg hervorgehoben hat, also nicht
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Dr. Eva Högl
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nur aufzuklären, sondern auch die notwendigen Konse-quenzen daraus zu ziehen. Es ist wichtig, dass wir dasauch in diesem Untersuchungsausschuss tun. Wir solltengemeinsam Vorschläge besprechen, wie wir alle Bürge-rinnen und Bürger, ihre Privatsphäre, ihr Recht auf infor-mationelle Selbstbestimmung und die Integrität der vonihnen genutzten Kommunikationssysteme schützenkönnen. Genau darum geht es. Das wird ein wichtigerBeitrag zum Schutz unserer Grundrechte sein.Herzlichen Dank und allen, die daran arbeiten, vielErfolg.
Vielen Dank. – Das Wort hat Dr. Konstantin vonNotz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit knapp ei-nem Jahr erleben wir den größten Überwachungs- undGeheimdienstskandal aller Zeiten. Die Erkenntnisse, diewir bis heute einzig und allein dem WhistleblowerEdward Snowden zu verdanken haben, stehen für dieKernschmelze von Rechtsstaatlichkeit und für dieErosion der Werte Europas und der gesamten freienWelt.Dieser Untersuchungsausschuss ist die dringend not-wendige parlamentarische Antwort hierauf. Wie notwen-dig sie ist, zeigen die neuesten Enthüllungen – KollegeSensburg hat es angesprochen – um das ProgrammMystic, das flächendeckend Inhalte – Inhalte! – vonTelefonaten ganzer Nationen speichert, eine Praxis, dietrotz aller Erkenntnisse, die wir in den letzten Monatenhatten, nochmals alle Dimensionen sprengt. Mystic stehtdamit wie Tempora, wie Prism, wie XKeyscore undviele andere Programme für einen beispiellosen Abstiegvom Ideal freiheitlicher Demokratien in die Niederungenvon De-facto-Überwachungsgesellschaften, denen wiruns als Abgeordnete hier heute endlich und mit aller Ent-schiedenheit entgegenstellen müssen, meine Damen undHerren.
Den Skandal einfach auszusitzen – das sage ich inaller Deutlichkeit in Richtung Bundesregierung; HerrKollege Krings, nichts gegen Sie, aber die Regierungs-bank ist angesichts der Wichtigkeit des Themas etwasspärlich besetzt –,
ist für uns keine Option. Sie müssen endlich einsehen,dass Sie durch dieses Nichthandeln über Jahrhunderteerkämpfte rechtsstaatliche Errungenschaften zur Dispo-sition stellen. Eine solche Haltung ist schlicht inakzepta-bel, meine Damen und Herren.
Von Anfang an war das sogenannte Acht-Punkte-Programm der Kanzlerin ein Potemkin’sches Dorf.Praktisch nichts davon wurde bis heute umgesetzt.Zumindest haben Sie mittlerweile, nach Monaten desunbeirrten Festhaltens daran, erkannt, dass das bilateraleNo-Spy-Abkommen von vornherein ein einziger Irrwegwar. Die notwendigen weiteren Schritte scheuen Sieleider bis heute noch immer.Deswegen ist es gut, dass jetzt dieses Parlamentreagiert, dass der PUA endlich kommt und dass er auchdie Rolle der deutschen Dienste untersuchen wird.
Nach monatelangen Verhandlungen hat letztendlich dieVernunft obsiegt. Das Verhandlungsergebnis erlaubt unsnicht nur, auf die anderen zu zeigen, sondern auch, vorder eigenen Tür zu kehren.
Wir haben kein großes Aufheben davon gemacht– das will ich an dieser Stelle deutlich sagen –, dass dieGroKo, die Große Koalition, versucht hat, unserenUntersuchungsauftrag zu verwässern,
weil wir zunächst unterstellen, dass Sie ein echtes Auf-klärungsinteresse haben, Frau Kollegin Högl; ich unter-stelle bis heute, dass uns ein echtes Aufklärungsinteresseeint.
Klar ist aber auch: Der Parlamentarische Untersu-chungsausschuss ist das schärfste Schwert des Parla-ments, insbesondere der Opposition und insbesonderebei einer Koalitionsmehrheit von 80 Prozent. Zu diesemschärfsten Schwert gehört der Untersuchungsauftraggenauso wie das unverbrüchliche Recht, Zeugen zu be-nennen.
Diese Rechte, Herr Kollege Flisek, auch nur andeutungs-weise infrage zu stellen, das ist die Show, meine Damenund Herren.
Zum Ziel dieses Ausschusses sagen wir Grüne klar:Es geht uns nicht darum, am Stuhl eines Ministers odergar der Bundeskanzlerin zu sägen; wir wollen in diesemAusschuss – Herr Kollege Sensburg, das eint uns – keineParteipolitik machen. Uns geht es um nichts weniger alsdie Wiederherstellung verfassungsgemäßer Verhältnisse;das muss unser gemeinsames Anliegen sein. Dafür giltes zunächst, aufzuklären, Transparenz herzustellen undzu verstehen, und dann müssen wir gemeinsam die rich-tigen Konsequenzen ziehen. Wir müssen klarmachen:Massenhafte anlasslose Überwachung ist verfassungs-widrig.
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Denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Mit der
fraktionsübergreifenden Einsetzung des Untersuchungs-
ausschusses heute erkennt dieses Parlament an, dass es
ein massives und relevantes Problem mit anlassloser
Massenüberwachung gibt. Das ist ein wichtiger erster
Schritt.
Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Clemens
Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Eine Gesellschaft, in der niemand mehr kommuni-zieren kann, sich bewegen kann, E-Mails schreibenkann, ohne dass er damit rechnen muss, dass das gespei-chert und überwacht wird, ist nicht mehr frei. In solcheine Gesellschaft wollen wir nicht.
Bevor ich zu dem komme, was uns beschäftigt, ge-statten Sie mir einen kleinen Rückblick auf eineEntwicklung, die, glaube ich, ganz maßgeblich dazu bei-getragen hat, dass wir heute über eine solche Massen-überwachung sprechen und das aufklären müssen. Siehat etwas mit der Technik zu tun. Die Technik hat eineEntwicklung eingeleitet, der wir als Parlamente nicht mitder gebotenen Sorgfalt gefolgt sind. Noch vor 15, 20Jahren fand Datenspeicherung überwiegend bei staatli-chen Behörden statt. Es gab auch Privatunternehmen, dieihre Kundendaten hatten; aber Datenspeicherung hattelimitierende Faktoren. Die Speicherkapazität war end-lich; man konnte nicht alles suchen bzw. recherchieren.Allein dadurch war vieles an Missbrauch gar nicht mög-lich. Dann kam eine Entwicklung, die auf der einen Seiteviele Vorteile gebracht hat, die für uns alle bei der Kom-munikation von Nutzen war, mit der aber auf der ande-ren Seite zwei neue Aspekte einhergingen: Der Spei-cherplatz ist nicht mehr limitierend. Man kann endlosDaten speichern. Nicht nur staatliche Behörden könnendas, auch private Unternehmen, ja sogar einzelne Bür-ger. Recherchefunktionen stehen mittlerweile jedem zurVerfügung. Jeder von uns kann den anderen googeln. Ober dabei etwas Sinnvolles erfährt, ist eine andere Frage.Wir alle sind aber mittlerweile gegenseitig recherchier-bar.Die Verhältnisse sind also gewaltig anders als früher.Zu dieser technischen Entwicklung sind Sicherheits-lagen wie der 11. September und anderes mehr gekom-men, und Nachrichtendienste haben gesagt: Wirbrauchen jetzt viele Informationen. Ich will gleich deut-lich machen: Ich bin überhaupt kein Gegner von Nach-richtendiensten. Wir brauchen sie. Wir brauchen auchdie internationale Zusammenarbeit. Wer daran rüttelt, tutunserer Sicherheit und den Menschen in unserem Landkeinen Gefallen. Dazu darf der Ausschuss nicht her-halten.
Klar ist aber auch – das wird eine Aufgabe des Aus-schusses sein –, dass man sich fragen muss: Ist dieStrategie, die sich bei den Amerikanern und den Britenentwickelt hat, einfach einmal alles auf Verdacht zu sam-meln in der Hoffnung, man könne hinterher aus großenDatenbergen einen Verdacht generieren, den man vorhervielleicht überhaupt nicht hatte, richtig?
Sie ist es nicht.Wir haben in unserem Rechtssystem zu Recht denpersonenbezogenen Ansatz gewählt. Der konkrete Ver-dacht ist notwendig; zum Teil sind richterliche Anord-nungen nötig. Deshalb sind wir als deutsches Parlamentgut beraten, mit diesem Ausschuss, wie es alle Kollegenvor mir – Herr von Notz, Frau Renner, Frau Högl undKollege Sensburg – auch gesagt haben, ein Zeichen zusetzen, dass wir diese Art von Überwachung, massen-haft, ohne Anlass, in jedem Lebensbereich, rundherumablehnen, und klarzumachen: Das ist mit unseremVerständnis von Datenschutz und unserem Verfassungs-verständnis nicht vereinbar.
Vor einem Jahr kamen dann Begriffe über uns – HerrKollege Ströbele, wir gehören ja einem Gremium an, indem man das vielleicht vorher schon einmal hätte erfah-ren können, aber wir haben es nie erfahren; gefragt ha-ben wir natürlich auch nie; das müssen wir selbstkritischanerkennen –, die uns allen zunächst nichts gesagt ha-ben: Tempora, XKeyscore, Prism und was auch immeres noch gibt. Das sind Software- und Hardwaretools, mitdenen es möglich ist, ganze Datenströme ungeachtet ih-rer Menge zu überwachen. Unsere Aufgabe wird es jetztsein, so konkret es geht, zu ermitteln: Wo wurden sieeingesetzt? Waren Daten von deutschen Bürgern betrof-fen? Was ist mit diesen Daten passiert? Wurden sie ge-speichert, wurden sie ausgewertet? – Solche Überwa-chungsinstrumente sind jedenfalls in dieser Form nichtakzeptabel.Warum brauchen wir einen Untersuchungsausschuss?Ich will das an dieser Stelle ganz deutlich sagen. DassSie, Herr Kollege von Notz, eine andere Auffassung ha-ben und kritisieren, wie wir das Thema im letztenSommer gehandhabt haben, ist völlig in Ordnung. Kol-lege Oppermann und ich haben im Sommer auch nochandere Auffassungen zu diesem Thema gehabt; jetzt ha-ben wir in etwa die gleiche. So ändern sich die Zeiten.
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Clemens Binninger
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Nein, ganz ernsthaft: Es hat mit der Art und Weise zu tun– ich will an dieser Stelle im Deutschen Bundestagsagen, dass die Kritik berechtigt war und der Anlass vonfast niemandem mehr bestritten wurde –, wie unsere be-freundeten Partner, die USA und Großbritannien, mitunseren Sorgen, mit den Anliegen, die unsere Bundesre-gierung transportiert hat, umgegangen sind. Dass sie aufeinen Fragenkatalog nicht geantwortet haben, dass sieein Informationsverhalten an den Tag gelegt haben, dasin jeder Hinsicht unzureichend war,
dass öffentliche Auftritte wie auf der Münchner Sicher-heitskonferenz chancenlos vertan wurden, das kann manso eben nicht stehen lassen. Da müssen wir, das deutscheParlament, der Souverän des deutschen Volkes, sagen:Das ist zu wenig; wir wollen mehr Aufklärung, mehrInformation und eine Änderung dieser Praxis.
Ich bin in den letzten Tagen oft gefragt worden:Macht der Ausschuss überhaupt Sinn? Sie bekommendoch keine Akten und keine Zeugen. Niemand wirdkommen. – Dies sind Sorgen, die ich durchaus selberhatte. Es gibt aber eine ganze Reihe von Fragen, die wirerörtern können. Wir befassen uns auch mit der Rolle derdeutschen Dienste. Das ist richtig. Frau Renner und Herrvon Notz, ich sichere Ihnen zu: Wir schonen niemanden.Wir führen aber auch niemanden vor. In Ermangelungausländischer Akten und Zeugen sollten wir uns nichtdarauf konzentrieren, den deutschen Diensten alles un-terzujubeln. Das wäre falsch. Das würde auch in der Sa-che nichts bringen.
Wenn sich herausstellen sollte, dass es Wissen gab, dannwird nicht geschont, sondern aufgeklärt. Aber ichglaube, dass wir an dieser Stelle differenzieren müssen.Trotzdem haben wir genügend Chancen, die Dingeaufzuklären und die Faktenlage stabiler zu machen.Ich sichere Ihnen auch zu: Was geht, machen wir öf-fentlich. Es kann aber sein, dass wir geheim tagen müs-sen. Das gab es übrigens in jedem Untersuchungsaus-schuss. Auch im NSU-Ausschuss haben wir immerwieder einmal nichtöffentlich getagt. Wir haben sogargeheim getagt. Wir hatten Geheim eingestufte Akten;das gibt es in jedem Ausschuss. Daraus kann man nichtschließen, dass etwas vertuscht wird. Es hängt übrigensnicht von den Personen im Ausschuss ab, ob wir öffent-lich oder geheim tagen. Dies ist immer in der Sachebegründet. Ich sichere Ihnen aber ausdrücklich zu, dasswir kein Interesse daran haben, möglichst viele Sitzun-gen hinter geschlossenen Türen abzuhalten. Sie wird estrotzdem geben müssen. Dies gehört zu einer fairen Be-wertung.Wir haben eine große Chance, weil wir den Aus-schuss gemeinsam einsetzen. Machen wir uns abernichts vor – wir sind keine Romantiker; dafür sind wirnicht in den Deutschen Bundestag gewählt worden –:Die parteipolitischen Unterschiede werden bleiben. Dasist auch völlig in Ordnung.
– Zwischen uns beiden sowieso, Herr Kollege Ströbele.Trotzdem arbeiten wir gut zusammen. Es geht beides.Wir sollten uns gut überlegen, was wir wollen.Nutzen wir die Monate der Untersuchung, um unsereUnterschiede zu betonen, oder nutzen wir die Monateder Untersuchung, um unsere Gemeinsamkeiten hervor-zuheben? Ich bin davon überzeugt – auch aus den Erfah-rungen des NSU-Untersuchungsausschusses –: Wennwir die Gemeinsamkeiten betonen, erreichen wir mehr,sind wir als Ausschuss stärker, bringen wir mehr Verän-derungen auf den Weg und erfahren auch mehr. Davonbin ich zutiefst überzeugt. Lassen Sie uns deshalb bei derArbeit die Gemeinsamkeiten betonen im Interesse derSicherheit unseres Landes, vor allen Dingen der Bürger!In unserem Land muss gelten: Kommunikation ist ge-schützt. Sie ist frei möglich, und man muss keine Angsthaben, überall, an jeder Ecke überwacht zu werden.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat Hans-Christian Ströbele das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Gestern hat mir einer, der es wissen muss, erzählt, dasssich für die NSA das Thema „Überwachung von deut-schen Kommunikationsbeziehungen“ erledigt hat, unddas war’s. Keiner in den USA erinnert sich offenbarnoch daran, dass uns im Juni und in den Monaten danachregelmäßig im Parlamentarischen Kontrollgremium mit-geteilt worden ist, dass wir die Informationen bekom-men, dass sie nur noch herabgestuft werden müssen undwir dann ein „Deutschland-Paket“ zu erwarten haben.Wir warten darauf, aber es wird nicht mehr kommen.Das ist schon schlimm genug. Viel schlimmer aber ist,wenn ich höre, dass überhaupt keine Gespräche mehrstattfinden, auch nicht von den in Deutschland dafürBerufenen mit den US-Kollegen. Das Allerschlimmstedaran ist, dass die Überwachung nahtlos weitergeht, dassdas, was uns Herr Snowden über seine Dokumente imJuni und in den Monaten danach hat wissen lassen,keinerlei Konsequenzen nach sich gezogen hat. Das kön-nen wir nicht hinnehmen. Damit können wir uns nichtabfinden. Deshalb müssen wir die Aufgabe übernehmen,aufzuklären, was da war, und zwar mit allen unserenMöglichkeiten.
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1824 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Hans-Christian Ströbele
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Die Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses– ich freue mich auch, dass wir ihn gemeinsam einrich-ten – kann ein erster Schritt sein. Der Beschluss heuteund die Konstituierung in der nächsten Sitzungswochesind richtige und wichtige Schritte. Das kommt jetztendlich in Gang. Wir können dann zügig anfangen, zuarbeiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verfolge mitgroßem Interesse, wie Sie von der SPD und von derUnion sich in der Öffentlichkeit dahin gehend äußern,was wir alles machen und was wir nicht machen sollen.Ich muss sagen, dass die Äußerungen der Frauen aus derSPD mir wesentlich sympathischer sind als die der Män-ner.
– Das ist kein Kompliment, sondern ein Faktum.
Wir dürfen in unseren Aufklärungsbemühungen, diewir jetzt unternehmen, nicht davor zurückschrecken,auch Personen aus der jetzigen Bundesregierung und ausder Koalition – möglicherweise von beiden Seiten – undPersonen, die im Parlamentarischen Kontrollgremiumtätig gewesen sind, im Untersuchungsausschuss als Zeu-gen zu hören. Ich sage Ihnen ganz klar: Es geht nicht,dass Sie vor dem Präsidententhron den Mut verlieren. Eskann nicht sein, dass wir Zeugen, die sich anbieten, nichthören wollen. Das gilt natürlich für die Bundeskanzlerin.Da haben manche mit dem Kopf geschüttelt. Auch Jour-nalisten haben gesagt: Was wollen Sie denn eigentlichmit der Bundeskanzlerin? Was soll sie dazu wissen? Sieweiß doch nicht, was die Geheimdienste im Einzelnentreiben. – Ja, aber sie ist das wichtigste Opfer der Ma-chenschaften der NSA. Sie ist die einzige Zeugin, dieuns und übrigens auch dem Generalbundesanwalt Rangehelfen kann, den Verdacht zu konkretisieren, dass auchihr Handy abgehört worden ist, und zwar offenbar übereinen langen Zeitraum. Die Bundeskanzlerin – leidernicht ich – hat das Telefonat mit Herrn Obama geführtund von ihm ganz offensichtlich Hinweise bekommen– direkt oder inzident –, dass ihr Handy in der Vergan-genheit tatsächlich abgehört worden ist. Wen sollen wirim Hinblick auf dieses Faktum als Zeugen hören, wensoll der Generalbundesanwalt als Zeugen benennen,wenn nicht sie?Einen Zeugen, der mir natürlich besonders am Herzenliegt, dürfen wir nicht vergessen. Wer, wenn nicht HerrEdward Snowden, kann uns im Deutschen Bundestag imUntersuchungsausschuss erklären, was die Dokumenteaus seinem Besitz, die jetzt nach und nach veröffentlichtworden sind, bedeuten und was sie aussagen? Das hat erauch selber immer wieder betont. Herr Binninger, dakönnen Sie nicht einfach sagen: Ich weiß doch nicht,was der weiß. – Nach diesem Motto hätten Sie im Uli-Hoeneß-Prozess nicht die Steuerbeamtin hören dürfen,die die Akten verwaltet und anschließend als Zeuginausgesagt hat. Edward Snowden ist der Zeuge, der unsAufklärung geben kann.Es mag sein, dass das dem einen oder anderen in denUSA nicht gefällt. Sie dürfen sich aber nicht davor drü-cken, ihn als Zeugen hier in Deutschland zu hören. Daserwarte ich von Ihnen. Das erwartet Deutschland von Ih-nen. Das erwarten auch viele andere Länder dieser Welt.Denn Edward Snowden kann uns in einer Zeugenaus-sage, in deren Rahmen wir auch nachfragen können, hel-fen, die Wahrheit herauszufinden.
Ich erwarte jetzt von Ihnen, dass Sie die Redezeit ein-
halten.
Danach müssen wir die richtigen Konsequenzen da-
raus ziehen.
Danke schön. – Nächster Redner ist der Herr Kollege
Christian Flisek, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit imSommer letzten Jahres durch Veröffentlichung des briti-schen Guardian und der amerikanischen WashingtonPost die umfassenden Überwachungsaktivitäten desamerikanischen Geheimdienstes NSA der Öffentlichkeitbekannt wurden, haben sich die Ereignisse überschlagen.Sämtliche Versuche, den Abhörskandal zu banalisierenoder ex cathedra für beendet zu erklären, waren untaug-lich. Sie sind im Sande verlaufen, und das auch völlig zuRecht. Sie mussten scheitern, weil uns seitdem nahezuwöchentlich neue Meldungen über das immer größerwerdende Ausmaß der Überwachungsmaßnahmen er-reichten. Wenn ich aktuell höre – meine Vorredner habensich bereits darauf bezogen –, dass die Kommunikati-onsinhalte der Bevölkerungen ganzer Staaten pauschalerfasst und anlasslos über Wochen gespeichert werden,also jedes Wort, das tatsächlich gesprochen oder in E-Mails geschrieben wird, dann bin ich froh, dass wir alsdeutsches Parlament heute mit der Einsetzung diesesUntersuchungsausschusses endlich ein deutliches Signalsetzen, dass wir die klare Botschaft aussenden, dass wirunter den völlig veränderten Kommunikationsbedingun-gen im 21. Jahrhundert unsere Grundrechtsstandardsverteidigen und die Grundrechte unserer Bürgerinnenund Bürger auf Privatheit und Vertraulichkeit nicht ein-fach auf dem globalen digitalen Altar opfern werden.
Das ist die Botschaft, die wir an die Bürgerinnen undBürger in Deutschland richten. Es ist auch die Botschaft,
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Christian Flisek
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die wir an unsere Partner in Europa und an unsereFreunde jenseits des Atlantiks adressieren.Der Deutsche Bundestag beschließt heute die Einset-zung eines Untersuchungsausschusses, der die Aufgabehat, Art und Umfang der massenhaften Überwachungvon Kommunikationsdaten vor allem durch US-ameri-kanische und britische Nachrichtendienste aufzuklären.Zentrale Aufgabe dieses Untersuchungsausschusses ei-nes deutschen Parlaments muss ganz klar sein, vorbe-haltlos aufzuklären, inwieweit unsere Dienste und deut-sche Behörden sich an derartigen Aktivitäten beteiligthaben, inwieweit sie diese unterstützt oder rechtswidrigdavon profitiert haben. Wenn hier die notwendige Zu-sammenarbeit mit anderen Staaten derart instrumentali-siert wurde, dass deutsche Rechtsvorschriften systema-tisch umgangen wurden, dann muss diesem Treibenumgehend ein Riegel vorgeschoben werden.
Was die insgesamt 31 Fragen des Einsetzungsantragesals detailliertes Untersuchungsprogramm des Ausschus-ses festlegen, kann man folgendermaßen zusammenfas-sen: Gibt es in Zeiten weltweiter digitaler Kommunika-tion noch so etwas wie Vertraulichkeit, informationelleSelbstbestimmung und Unschuldsvermutung? Was müs-sen wir in Deutschland und Europa tun, um unseremVerständnis von Grundrechten, aber auch unserem Ver-ständnis vom Primat rechtsstaatlicher und demokrati-scher Politik wieder Geltung zu verschaffen? – Ich bindaher sehr froh, dass wir uns im Untersuchungsaus-schuss nicht nur mit der vorbehaltlosen Aufklärung derMissstände, sondern auch mit der Entwicklung von Lö-sungen befassen werden.Wenn ich von einer vorbehaltlosen Aufklärung derMissstände spreche, dann bedeutet dies selbstverständ-lich auch, dass kein zugängliches Beweismittel vonvornherein ausgeschlossen werden darf. Sosehr es sichverbietet, im jetzigen Stadium, noch bevor das erste Ak-tenstück bestellt und eingegangen ist, über Zeugenlistenzu spekulieren, so sehr kann man die Augen nicht davorverschließen, dass die Aussage des Auslösers, desjeni-gen, der das Ganze ins Rollen gebracht hat, natürlichauch ein taugliches Beweismittel ist.
Selbstverständlich kommt auch Edward Snowden alsZeuge für den Ausschuss in Betracht. Herr Ströbele, Siekennen den Antrag; sein Name findet sich im Text unse-res gemeinsamen Antrags sogar an prominentesterStelle. Wer sich mit seinen zum Teil sehr kryptischen öf-fentlichen Aussagen in Fernsehinterviews und mit sei-nen schriftlichen Einlassungen gegenüber dem Europäi-schen Parlament befasst, der wird, so wie auch ich, hiereinige Fragen haben, die berechtigt sind.In welcher Weise eine Vernehmung von HerrnSnowden erfolgen kann, muss im Ausschuss gemein-sam geklärt werden. Hier ist vieles vorstellbar. Auchdie Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parla-ment haben hier einen gemeinsamen Weg gefunden.Ich betone aber ausdrücklich: Der Ausschuss dient derAufklärung in der Sache und nicht der medialen Insze-nierung.
Herr Kollege Dr. von Notz, ich bleibe bei dieser Feststel-lung, auch wenn Sie sie zuvor kritisiert haben.
Herr Ströbele, lassen Sie mich noch eines sagen: DieBundeskanzlerin ist in meinen Augen nicht das wich-tigste Opfer.
Das wichtigste Opfer sind die Bürgerinnen und Bürgerund ihre Grundrechte.
Die Frau Bundeskanzlerin ist in dieser Affäre nur einOpfer; das möchte ich hier richtigstellen.Lassen Sie mich einen anderen Aspekt anführen. Wirsollten in Bezug auf unsere amerikanischen Partner nichtmit Schaum vor dem Mund operieren. Dass in hohemMaße Vertrauen verloren gegangen ist, wurde bereits beivielen Gelegenheiten, auch in diesem Hause, deutlich andie amerikanische Seite adressiert. 9/11, der Anschlagauf das World Trade Center in New York, ist tief imamerikanischen Gedächtnis und auch in unserem Ge-dächtnis verwurzelt. Dennoch kann die Formel vomKampf gegen den Terrorismus nicht die Rechtfertigungdafür sein, alles, was im Bereich der Sicherheitsbehör-den technisch möglich ist, tatsächlich umzusetzen.
Dies entspricht nicht unserem Verfassungsverständnisund auch nicht unseren Vorstellungen vom Grundsatzder Verhältnismäßigkeit.
Wenn wir aber ernsthaft, ausgewogen und auf der Basisvon Fakten die Tätigkeit amerikanischer Dienste unter-suchen wollen, dann sind wir auch auf Zusammenarbeitangewiesen, vor allen Dingen darauf, dass sich in deramerikanischen Öffentlichkeit noch viel stärker als bis-her ein Aufklärungsinteresse artikuliert.Der Präsident der Vereinigten Staaten, BarackObama, hat gesagt, man könne nicht gleichzeitig hun-dertprozentige Sicherheit und hundertprozentige Privat-sphäre haben. Bei aller Wertschätzung: Diesem Ver-ständnis über den Zusammenhang von Freiheit undSicherheit möchte ich entschieden entgegentreten. Es seimir erlaubt, dass ich dafür einen anderen Amerikaner,nämlich einen der Gründungsväter der Vereinigten Staa-ten, Benjamin Franklin, bemühe, der gesagt hat:Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewin-nen, wird am Ende beides verlieren.
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1826 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Christian Flisek
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Genau das entspricht auch meinem Verständnis. Frei-heit und Sicherheit sitzen nicht auf einer Balkenschau-kel, bei der immer dann, wenn die Sicherheit oben ist,die Freiheit unten ist, sie kleingehalten wird und für siekein Platz ist. Nein, meine Damen und Herren, Freiheitund Sicherheit bedingen einander. Das eine kann ohnedas andere in einem demokratischen Rechtsstaat nichtzur Geltung kommen. Wer immer unter demokratischenund rechtsstaatlichen Bedingungen eine Sicherheitsar-chitektur errichtet, hat dies auf dem Fundament von Ver-trauen, auf dem Fundament der Verfassung und von de-mokratischer Legitimation zu tun.
Jede Sicherheitsarchitektur, die diese Kriterien missach-tet, wird auf Dauer nicht überleben; denn die Bürgerin-nen und Bürger werden ihr zu Recht den Boden entzie-hen, und sie wird damit in sich zusammenfallen.
Die Politik wird lernen müssen, dass sie bei diesemkomplexen Thema tatsächlich Neuland betreten muss,wenn ich das unter Rückgriff auf ein Zitat der Bundes-kanzlerin einmal so sagen darf. Wenn wir alle das Inter-net als einen Ort der Freiheit erhalten wollen, dann müs-sen wir auch lernen, das Internet besser zu verstehen,und zwar vor allem von seiner technischen Seite her.Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler LawrenceLessig hat schon vor 15 Jahren deutlich gemacht, wen erfür die entscheidende Regulierungsmacht in der digita-len Kommunikationswelt hält. „Code is law“, hat er ge-sagt. Es sind also nicht die von Staaten verabschiedetenGesetze, die das Internet regulieren, sondern es ist derCode. Es sind die Programme, die Software, und dietechnischen Architekturen und Standards, die das Sagenhaben und den Ton angeben. Man muss diese Bewertungin ihrer Absolutheit nicht teilen. Ich selbst teile sie nicht,weil ich als Jurist naturgemäß an die positive Geltungund Durchsetzung staatlich gesetzten Rechts glaube, ins-besondere an Normen, die Verfassungsrang haben. Aberdie These von Professor Lessig macht gerade in Bezugauf unser Problem eines deutlich: In der globalen digita-len Kommunikation ist die Wirksamkeit staatlichenRechts begrenzt. Solange wir weltweit kein gemeinsamgeteiltes Grundrechtsverständnis haben – und von einemsolchen sind wir schon im transatlantischen Verhältnis,jedenfalls in Bezug auf das Recht auf informationelleSelbstbestimmung, weit entfernt –, so lange wird ein re-gulatives Vakuum existieren. Dieses Vakuum wird vontechnischen Normen und Standards ausgefüllt. Wer siebeherrscht, der regiert, wenn man so will, auch das Inter-net, und damit sind wir mitten in der Debatte über Inter-net Governance.Für mich ist es besonders wichtig, dass wir mit derAusschussarbeit schnell beginnen. Der Ausschuss wirdsich nach seiner heutigen Einsetzung in der ersten Sit-zungswoche im April konstituieren. Wir sollten keineZeit verlieren und bereits unmittelbar nach der Konstitu-ierung des Ausschusses und der Klärung der Verfahrens-fragen gemeinsam die ersten Beweisanträge auf Beizie-hung von Akten beschließen. Wir stehen erst am Anfangunserer Arbeit und zum Glück auch am Anfang unsererLegislaturperiode. Wir können gründlich und zügig ar-beiten, aber eben ohne jeden Zeitdruck.Dass die Einsetzung des Ausschusses auf der Grund-lage eines gemeinsamen Antrages im Parlament erfolgt –das ist bereits von meinen Vorrednern erwähnt worden –,ist ein erster großer Erfolg. Es war ein mühsamer Weg;ich glaube, diese Mühe hat sich gelohnt. Dass alle Frak-tionen an einem Strang ziehen, ist ein sehr gutes Signal;denn unsere Arbeit im Ausschuss wird von vielen Bür-gerinnen und Bürgern aufmerksam beobachtet werden.Die Bürger werden zu Recht Antworten auf die gestell-ten Fragen einfordern, die elementare Grundrechte unse-rer Verfassung betreffen, Grundrechte, die ihre Wurzelnnach unserem Verfassungsverständnis in der Unantast-barkeit der Menschenwürde haben.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss. Von mir selbst kann ich sa-
gen: Ich bin hochmotiviert, freue mich auf ein kollegia-
les Miteinander aller Ausschussmitglieder und auf eine
erfolgreiche Ausschussarbeit.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Debatte ist
Dr. Stephan Harbarth, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wir dasletzte Mal in diesem Haus über die Einsetzung eines par-lamentarischen Untersuchungsausschusses zum ThemaNSA diskutiert hatten, lagen uns noch zwei Anträge vor,ein Antrag der Koalitionsfraktionen und ein Antrag derOppositionsfraktionen. Dass es gelungen ist, die Anträgein viel mühsamer Kleinarbeit zusammenzuführen, erfülltuns mit Freude, weil das zum Ausdruck bringt, dass die-ses Haus ein gemeinsamer Aufklärungswille eint. Dasist, glaube ich, auch deshalb so wichtig, weil die Bevöl-kerung ein gemeinsamer Aufklärungswille eint. DerAufklärungswille in der Bevölkerung macht nicht anParteigrenzen, macht nicht an politischen Präferenzenhalt, sondern er betrifft die gesamte Bevölkerung. Des-halb ist es so wichtig, dass es uns gelungen ist, einen ge-meinsamen Antrag vorzulegen. Allen, die daran beteiligtwaren, vielen herzlichen Dank.
Wir haben im Geschäftsordnungsausschuss intensivmiteinander gerungen und konstruktiv diskutiert. Das
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1827
Dr. Stephan Harbarth
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hatte nichts damit zu tun, den Untersuchungsgegenstandverwässern zu wollen – das ist vorhin angeklungen –,sondern damit, dass das Recht des Parlaments, einen Un-tersuchungsausschuss einzurichten, niedergelegt imGrundgesetz, gestärkt und fortentwickelt durch jahr-zehntelange Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts, eines der wichtigsten Rechte dieses Parlamentsist. Deshalb war es wichtig, dass wir uns mit großerSorgfalt der Ausgestaltung des Untersuchungsgegen-standes angenommen haben, dass wir dies mit großerGewissenhaftigkeit getan haben, dass wir verfassungs-rechtliche Vorgaben, etwa an die Bestimmtheit des Un-tersuchungsgegenstandes, beachtet haben. Dies habenwir in den vergangenen Wochen getan.Wir haben die Grenzen der verfassungsmäßigen Zu-ständigkeit des Deutschen Bundestages im Bereich derGesetzgebung und im Bereich der Kontrolle der Bundes-verwaltung zugrunde gelegt. Wir haben geeignete An-knüpfungspunkte gewählt, etwa indem wir abstellen aufKommunikationsvorgänge von, nach und in Deutschlandund indem wir anknüpfen an die Kenntnis deutscher Be-hörden. Ich glaube, es war richtig, dass wir uns in denDiskussionen darauf geeinigt haben, die Länder, derenNachrichtendienste wir jetzt näher in den Blick nehmenmöchten, zu begrenzen auf die sogenannten Five Eyes,auf die USA, Großbritannien, Kanada, Australien undNeuseeland. Wir haben auch über die Frage diskutiert,ob man möglicherweise viele andere Länder mehr in denBlick nehmen sollte. Ich bin der festen Überzeugung: Esgibt gegen die Länder, auf die der Untersuchungsgegen-stand gerichtet ist, im Augenblick eine Verdachtsquali-tät, die sich von der Verdachtsqualität gegen alle anderenLänder unterscheidet. Es ist nicht nur eine Frage außen-politischer Klugheit, sondern auch eine Frage der Ange-messenheit des Umgangs, dass man nicht alle Länder,gegen die man vielleicht einen kleinen Verdacht hegt,auf die Schwelle der Länder hebt, bei denen wir im Au-genblick ein hohes Verdachtsniveau haben.
Wir haben es mit einem Untersuchungsgegenstand zutun, der die Bevölkerung sehr bewegt. Wir haben in denvergangenen Monaten in der Bevölkerung viel Enttäu-schung, viel Verunsicherung, viel Wut vernommen. Wirhaben erlebt, wie Dinge in einem Ausmaß zutage getre-ten sind, das man sich zuvor nicht vorgestellt hatte. Wirhaben erlebt, wie die Sorge vor Totalüberwachung, vortotaler Erfassung, vor totaler Speicherung von Datenganz lebendig und ganz aktuell geworden ist. Wir habenerlebt, wie die Sorge vor dem Ausspähen von Betriebs-und Geschäftsgeheimnissen ganz aktuell geworden ist.Wir haben erlebt, dass unser Verständnis von Bürger-rechten, hier insbesondere unser Verständnis vom Rechtauf informationelle Selbstbestimmung, das das Bundes-verfassungsgericht ja schon vor Jahrzehnten als Grund-recht etabliert hat, und unser Verständnis vom Recht aufdie Möglichkeit einer geschützten Kommunikation fun-damental bedroht sind. Das hat nicht nur etwas mit dem11. September 2001 und den Erfahrungen, die insbeson-dere die USA in diesem Zusammenhang gemacht haben,zu tun. Es hat aber viel damit zu tun.Wir müssen in den kommenden Monaten und Jahrenklarmachen, wie unser Verständnis vom Zusammenspielvon Freiheit und Sicherheit ist. Wir wissen: Freiheitohne Sicherheit ist nicht möglich. Freiheit ohne Sicher-heit ebnet nur dem Stärkeren den Weg. Aber wir wissenumgekehrt auch, dass hemmungsloses Streben nach im-mer mehr Sicherheit Freiheitsrechte in einem Land nie-mals niedertrampeln darf. Das ist unsere tiefste Überzeu-gung; die müssen wir auch nach außen vertreten.Es wird im Untersuchungsausschuss um Aufklärunggehen. Aufklärung muss bedeuten, dass Missstände an-gesprochen werden. Aufklärung muss aber auch bedeu-ten, dass man unbefangen und offen an Themen heran-geht. Deshalb, Frau Kollegin Renner, hätte ich es sehrbegrüßt, wenn Sie heute nicht geäußert hätten, wovonSie im Einzelnen ausgehen, wer alles auf dieser Welt derBöse ist, sondern wenn Sie zunächst einmal die Sachauf-klärung an den Anfang gestellt hätten.
Der Untersuchungsausschuss ist ein Instrument, dasmit vielen gerichtlichen Befugnissen ausgestattet ist.Aus Gerichtsverfahren wissen wir, dass es gute Praxisist, dass sich ein Richter zunächst einmal den Sachver-halt anschaut und dann zu bestimmten Folgerungenkommt und dass er das nicht umdreht,
mit bestimmten Mutmaßungen, mit bestimmten Folge-rungen beginnt und danach sagt: Jetzt schaue ich mirnoch den Sachverhalt an, dass er auch in mein Weltbildpasst. – Das ist nicht unser Verständnis der Herange-hensweise.
Es wird im Untersuchungsausschuss auch um politi-sche Folgerungen gehen. Es wird darum gehen, Folge-rungen im rechtlichen Bereich zu ziehen, zu überlegen:Welche rechtlichen Stellschrauben müssen wir verän-dern? Ich denke etwa an die Frage: Wie gestalten wir inEuropa die Datenschutz-Grundverordnung aus? Es wirdauch viele andere Themen geben, die uns bewegen. Ichbin der festen Überzeugung, dass sie weit über den Be-reich der Rechts- und Innenpolitik hinausgehen.Das, was wir erleben, hat auch etwas damit zu tun,dass unser Kontinent in vielen wirtschaftlichen Berei-chen – ich nenne die Automobilindustrie, den Maschi-nenbau usw. – auf diesem Globus führend ist. Nicht füh-rend auf diesem Globus ist unser Kontinent auf demGebiet der digitalen Wirtschaft. Das hat auch etwas mitder Frage zu tun, wer eigentlich in dieser Welt die Tech-nologieführerschaft im Bereich der digitalen Wirtschaftinnehat. Ich wünsche mir, dass Europa nicht in einemAkt der Hilflosigkeit auf andere Kontinente schaut, son-dern dass Europa auch im Hinblick auf die Technologie-führerschaft in diesen Bereichen auf Augenhöhe ist.
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1828 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Stephan Harbarth
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Dann haben wir wieder eine Chance, weltweit aufzutre-ten.
Ich wünsche mir, dass dieser Untersuchungsausschussviele Punkte offen anspricht, dass er in der Tat nicht halt-macht, wenn es um die Aufklärung von Missständen inInstitutionen geht. Ich wünsche mir aber auch, dass ernicht etwa versucht, Nachrichtendienste, die für unserGemeinwesen wichtig sind und die sich an Recht undGesetz halten, unter einen Pauschalverdacht zu stellen.Ich möchte von dieser Stelle aus ganz bewusst all denMitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei Nachrichten-diensten, die sich an Recht und Gesetz halten, arbeiten,sehr herzlich Dank sagen. Wir wollen nicht, dass sie un-ter Pauschalverdacht gestellt werden.
Wir wollen auch nicht, dass in der berechtigten Kritikan anderen Ländern und anderen Regierungen, die geäu-ßert werden muss, irgendwelche dumpfen Ressentimentsgegen andere Länder mitschwingen – Aufklärung ja,dumpfe Ressentiments nein. In diesem Sinne wünscheich eine sachorientierte Arbeit des Untersuchungsaus-schusses. Ich hoffe, dass er zu einer Veranstaltung derAufklärung und nicht zu einer Veranstaltung des Kla-mauks wird.Ich möchte mich noch einmal sehr herzlich bei allenbedanken, die in den vergangenen Wochen daran mitge-wirkt haben, dass wir einen gemeinsamen Antrag vorle-gen können. In den Dank möchte ich auch all die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen einschließen,die sehr intensiv daran gearbeitet haben.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Linken undBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/843 zur Ein-setzung eines Untersuchungsausschusses. Wer stimmtfür diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Damit ist der Antrag mit den Stimmen des gesamtenHauses angenommen und der erste Untersuchungsaus-schuss der 18. Wahlperiode eingesetzt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Umsetzung der Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts zurSukzessivadoption durch LebenspartnerDrucksache 18/841Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenVolker Beck , Monika Lazar, UlleSchauws, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung desLebenspartnerschaftsgesetzes und andererGesetze im Bereich des AdoptionsrechtsDrucksache 18/577
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von den AbgeordnetenVolker Beck , Luise Amtsberg, KatjaKeul, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zum EuropäischenÜbereinkommen über die Adoption von Kin-dern
Drucksache 18/842Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Damit ist so beschlossen.Für die Bundesregierung spricht jetzt BundesministerHeiko Maas.Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-braucherschutz:Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Heute ist ein guter Tag für Familien,und heute ist ein guter Tag für Kinder. Mit diesem Ge-setzentwurf, den wir Ihnen heute vorlegen, sorgen wirdafür,
dass Kinder das bekommen, was jedes Kind braucht undverdient, nämlich Eltern. Ob Kinder Fürsorge, Zuwen-dung, Schutz und Erziehung erfahren, hängt nicht vomGeschlecht ihrer Eltern ab. Auch in Regenbogenfamilienkönnen Kinder glücklich und geborgen aufwachsen.
Trotzdem hat das Gesetz bislang selbst die Sukzes-sivadoption bei Lebenspartnern nicht zugelassen. Kin-der, die ihre Eltern verloren hatten, konnten zwar durcheine ledige oder verpartnerte Person adoptiert werden.Deren Lebenspartner aber durfte dieses Kind nicht adop-tieren und ihm rechtlich kein Elternteil sein. Gerade Kin-dern, die schon einmal elternlos waren, wurde damit einzweiter Elternteil vorenthalten. Die Reform, die wirheute vorlegen, macht Schluss mit dieser Situation, dieauch für viele Kinder nicht unproblematisch gewesen ist.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1829
Bundesminister Heiko Maas
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Sie stärkt die Regenbogenfamilien, indem die sozialeFamilie endlich auch rechtlich zur Familie wird.
Schon heute wachsen adoptierte Kinder mit gleichge-schlechtlichen Eltern auf, auch wenn rein formal nur einPartner die Elternrechte hat. Indem wir das Verhältniszwischen dem Kind und dem sozialen Elternteil recht-lich anerkennen, stärken wir, wie ich finde, nicht nur dasVerhältnis zwischen beiden, sondern die ganze Familieund vor allem auch deren gesellschaftliche Akzeptanz.Für Kinder ist es wichtig, zu erleben, dass ihre Familiegenauso viel wert ist und genauso viel Anerkennung er-fährt wie jede andere Familie auch. Die soziale Achtungist wichtig für die Entwicklung und das Wohlbefindendieser Kinder. Wer Regenbogenfamilien diese Anerken-nung versagt, schadet deshalb auch dem Wohl der Kin-der.
Tatsache ist aber: Für Kinder mit zwei Vätern oderzwei Müttern ist es oft noch immer schwierig, sich zu ih-ren Eltern zu bekennen. Noch immer gibt es Vorbehalteund Widerstände in unserer Gesellschaft. Das spürenKinder ganz intensiv.
Ich finde, wir müssen diese Vorbehalte überwinden. Da-bei kann auch das Recht helfen.Mit der Reform, die wir heute vorlegen, macht derGesetzgeber sehr deutlich, dass auch zwei Väter oderzwei Mütter gute Eltern sein können und vor allen Din-gen gute Eltern sein dürfen. Das ist für die betroffenenKinder, für ihre Eltern und für unsere gesamte Gesell-schaft ein ganz wichtiges Signal.
Mit diesem Gesetz setzen wir die Entscheidung desBundesverfassungsgerichts aus dem vergangenen Jahreins zu eins um.
Wir korrigieren damit einen Verfassungsverstoß, näm-lich das Verbot der Sukzessivadoption. Dieser Gesetz-entwurf sattelt nicht drauf, sondern setzt genau das um,wozu wir laut Grundgesetz verpflichtet sind.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger, Herr Beck, darf esheute werden; Spielraum nach unten gibt es nicht.Auch wenn sich der Entwurf genau an die Vorgabenaus Karlsruhe hält, erreichen wir damit, wie ich finde,eine ganze Menge: Dann wird nämlich auch im geschrie-benen Recht stehen, dass auch schwule oder lesbischePaare ein Kind adoptieren dürfen.
Sie können dies nacheinander tun: im ersten Schritt mitder Einzeladoption durch den einen Partner und im zwei-ten Schritt mit der Sukzessivadoption durch den anderenPartner.
Wichtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, istdabei das Ergebnis, und das lautet: Erstens. Ein adoptier-tes Kind kann in Zukunft auch rechtlich zwei Eltern desgleichen Geschlechtes haben.
Zweitens. Schwule oder lesbische Paare können einKind adoptieren und ihm eine Familie geben.Meine Damen und Herren, diese Reform ist, wie ichfinde, ein weiterer und wichtiger Schritt, um den Fami-lienbegriff der Vielfalt der sozialen Realität anzupassen.Das klassische Schema „Vater-Mutter-Kind“ ist immernoch das Familienmodell, das am weitesten verbreitetist; aber es ist längst nicht mehr das einzige. Die Men-schen haben die Freiheit, in sehr vielen verschiedenenLebensentwürfen und Konstellationen zusammenzule-ben, und sie nutzen diese Freiheit auch.In vielen Teilen dieser Welt werden Schwule und Les-ben noch heute verfolgt und unterdrückt – von Ugandabis Russland. Ich bin froh darüber, dass dies in Deutsch-land anders ist. Bei uns kann jeder seinen Lebensentwurfso leben, wie er oder sie das möchte – ohne Unterdrü-ckung und ohne staatliche Bevormundung.Die Reform, die wir heute vorlegen, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, ist nicht nur ein wichtigerSchritt und ein guter Tag für Kinder und Familien, sie istauch ein Signal für Freiheit und für Selbstbestimmung;auch das macht sie so besonders wichtig.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Für die Linke spricht Harald Petzold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Dieser Tag hätte ein guter Tag für Fami-lien und ein guter Tag für Kinder werden können; dassollten wir uns schon vor Augen halten. Herr MinisterMaas, auch wenn ich Ihre Rede bemerkenswert finde,hätte ich mir trotzdem gewünscht, dass Sie als derjenige,der sozusagen für die Einhaltung von Recht und Gesetzin diesem Land zuständig ist, mehr Mut gewagt hätten,um tatsächlich die inzwischen ständige Rechtsprechungdes Bundesverfassungsgerichtes umzusetzen und eine
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1830 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Harald Petzold
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gemeinschaftliche Adoption von Kindern durch einge-tragene Lebenspartnerschaften zuzulassen. Dazu habenheute leider nur die Bündnisgrünen Gesetzentwürfe ein-gebracht. Ich kann gleich vorwegnehmen, dass wir alsFraktion Die Linke diesen beiden Gesetzentwürfen zu-stimmen werden, weil wir sie für besser halten als denGesetzentwurf der Koalitionsfraktionen.
Ich sage Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegenvon den beiden Koalitionsfraktionen: Ich kann nichtnachvollziehen, was Sie uns heute zur Beratung vorle-gen. Ihre Mitglieder waren es, die bei der Eröffnung desRegenbogenfamilienzentrums hier in Berlin flammendeGrußworte gehalten haben. Ich war dankbar, dass derKollege Dr. Luczak die Worte gewählt hat: Im Verfas-sungsgefüge unseres gewaltenteilenden Staates solltenwir uns nicht hinter zu erwartenden Entscheidungen desBundesverfassungsgerichtes verstecken, sondern selbst-bewusst Position beziehen. Das gilt auch für Adoptionendurch eingetragene Lebenspartnerschaften. – Der Ge-setzentwurf, den Sie uns hier vorgelegt haben, ist wederselbstbewusst, noch bezieht er Position oder macht un-sere Verantwortung deutlich, für eindeutige Regelungenzu sorgen.Er beweist vielmehr, Herr Kollege Dr. Luczak, dassSie in Ihrer Fraktion weiterhin auf einer Mission Impos-sible sind und Ihre Fraktion lieber weiterhin demStammtisch folgt, der sich beispielsweise hinter derMassenpetition gegen den Bildungsplan in Baden-Würt-temberg versammelt
und damit weiterhin nicht anerkennen will, dass einge-tragene Lebenspartnerschaften bei der Erziehung vonKindern und Jugendlichen dieselben Rechte bekommenmüssen und vor allen Dingen dieselben Qualitäten ha-ben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihr Gesetz-entwurf ist kein Millimeter mehr als das, was das Bun-desverfassungsgericht im konkreten Klagefall, in dem esum die Sukzessivadoption ging, geurteilt hat. In der Be-gründung haben die Richter aber Folgendes eindeutiggeschrieben – die Kolleginnen und Kollegen der Bünd-nisgrünen haben das auf der Titelseite ihres Gesetzent-wurfes dankenswerterweise noch einmal zitiert –:Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Le-benspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal-tung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigenkönnten, bestehen nicht; insbesondere sind beidePartnerschaften gleichermaßen auf Dauer angelegtund rechtlich verfestigt …Es gibt also keinen Grund, diese Gleichbehandlungweiter zu verwehren. Deswegen ist nicht nachvollzieh-bar, wieso Sie uns hier heute einen derartigen Gesetzent-wurf vorlegen.Der Kern ist – Sie haben es selber gesagt, Herr Justiz-minister –: Zahlreiche Studien belegen seit Jahren immerwieder, lesbische, schwule und transsexuelle Paare sindgenauso gute Eltern wie heterosexuelle Paare. – Auchwenn Sie das nicht glauben wollen, sage ich es erneut:Jawohl, viele Zehntausend Lesben, Schwule und Trans-sexuelle ziehen Kinder groß. Sie tun dies überwiegendfantastisch und mit viel Liebe. Das Kindeswohl ist beidiesen Paaren in genauso guten Händen wie bei hetero-sexuellen Paaren. Daher verdienen sie eine Gleichbe-handlung, und wir fordern das konsequent ein.
Mit Ihrem Gesetzentwurf wird wieder so getan, als obes doch Gründe gibt, daran zu zweifeln. Ich sage Ihnen:Sie tun das aus wahltaktischen Gründen inzwischen mitVorsatz, damit Sie genau diesen ewiggestrigen Teil derGesellschaft weiter als Wählerinnen und Wähler an sichbinden können und eben nicht die Auseinandersetzungführen müssen, die wir führen müssten, um deutlich zumachen, dass es hier keine Unterschiede gibt.Ich sage erneut, wie ich auch in meiner ersten Redehier in diesem Hohen Hause gesagt habe: Haben Sieendlich den Mut, die gesellschaftlichen Realitäten anzu-erkennen!Sie haben selbst auf die Gefährdungen in anderenLändern durch die Gesetzgebung dort hingewiesen. Esgilt, dies international zu beachten. Sie sollten zum Bei-spiel nicht übersehen, dass in Russland gerade über einGesetz beraten wird, durch das lesbischen und schwulenEltern die Kinder sogar wieder entzogen werden können.Das ist ein unglaubliches Vorhaben, und wir müssen hierals ein Land, das in dieser Frage eigentlich relativ weitist, ein Zeichen setzen.Wir müssen dem Kindeswohl Rechnung tragen undsollten den vielen Regenbogenfamilien in diesem Landdas Signal geben: Ihre Liebe, ihre Sorge, ihre Familien-leistung und ihr Engagement sind großartig, und wirdanken ihnen dafür.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Elisabeth
Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir reden heute über den Gesetzentwurf, derdie Sukzessivadoption eines Kindes durch den Partner ineiner eingetragenen Lebenspartnerschaft gesetzlich re-gelt. Unsere Regelung sieht vor, dass das Adoptivkind
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1831
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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des einen Partners auch von dem anderen angenommenwerden kann, unabhängig davon, ob die erste Adoptionvor oder auch schon während der bestehenden Le-benspartnerschaft erfolgt ist.Der Minister sagte es schon: Wir setzen damit denAuftrag des Bundesverfassungsgerichts um, das im Fe-bruar des letzten Jahres entschieden hat, dass wir bis zurMitte dieses Jahres eine entsprechende gesetzliche Rege-lung auf den Weg und ins Gesetzblatt bringen müssen.Genau das tun wir. Ich bin an dieser Stelle froh, dassFristen, die aus Karlsruhe gesetzt werden, auch einmalwieder eingehalten werden. Ich denke, das ist eine guteSache.
Gleichzeitig setzen wir das Europaratsabkommen um,das diese Form der Adoption erst ermöglicht. Es würdeauch die Volladoption ermöglichen. Davon sehen wir al-lerdings bewusst ab. Die Regierung hat gesagt, dass da-von ausdrücklich abgesehen wird.
Wir stehen nicht am Anfang der Diskussion. Wir ha-ben die Diskussion schon mehrfach geführt.
Ein paar Argumente, ein paar Forderungen und ein paarReflexe auf beiden Seiten sind bekannt; so möchte ich essagen. Den einen gehen die Regelungen dieses Entwurfsnicht weit genug, den anderen zu weit. Das ist in derPolitik nicht so selten, sondern eher der Normalfall.Aber wir müssen sehen, wie wir auf diesem schmalenGrat eine gute Lösung erreichen.Ich verweise nur auf die Bedeutung unserer Diskus-sion im wahren Leben. Ich habe mich beim AmtsgerichtKöln – Köln! – erkundigt, welche Bedeutung diese Re-gelung hat, die nach der Entscheidung des Verfassungs-gerichts so lange vorläufig gilt, bis diese Sache gesetz-lich geregelt ist. Die Anzahl der Verfahren in dieserAngelegenheit war null.
Ich sage das in beide Richtungen. Das ist ein Anlass, dieEmotionen vielleicht ein Stück weit herunterzufahrenund zu erkennen, dass das jetzt nicht die alles entschei-dende Frage ist, obwohl ich die symbolische Bedeutungdurchaus anerkenne und nicht in Abrede stellen möchte.Ich denke, wir legen mit dem Entwurf zur Regelungder Sukzessivadoption eine in der Praxis gute Lösungvor. Ich möchte für diese Lösung werben, nicht nur weilsie uns das Verfassungsgericht ohnehin vorgegeben hat,sondern weil diese nach meiner Ansicht in der Praxisgute Lösungen ermöglicht.Eine Adoption – das ist klar – muss immer aus demBlickwinkel des Kindes gedacht werden. Diesem Kindfehlen – aus welchem Grund auch immer – ein Elternteiloder beide Elternteile. Es geht darum, für dieses Kindgute Eltern zu finden. Dabei die Wünsche der anneh-menden Elternteile und des anzunehmenden Kindes zuberücksichtigen, ist mit der Regelung, die wir heute vor-legen, möglich.Für mich sind hier zwei Sätze gleichermaßen bedeut-sam. Sie sind beide gleich wichtig, obwohl sie in einemSpannungsverhältnis zueinander stehen. Der eine Satzist: Wir gehen davon aus, dass es für die Entwicklung ei-nes Kindes am allerbesten ist, wenn es mit Vater undMutter aufwächst. – Diesen Satz sage ich hier mit allerDeutlichkeit und ganz bewusst. Der zweite Mann ersetztnicht die Mutter, die zweite Frau ersetzt nicht den Vater,sondern jedes Geschlecht hat seine eigenständige Bedeu-tung, auch für die Persönlichkeitsentwicklung des Kin-des.
Der zweite Satz ist: Ob ein Mann ein guter Vater istoder ob eine Frau eine gute Mutter ist, ist keine Frage ih-rer sexuellen Orientierung.
Noch einmal zu dem ersten Satz: Wir haben im vergan-genen Jahr über die Situation der nichtehelichen Väterdiskutiert. Da hat es für den Satz: „Ein Kind braucht Va-ter und Mutter“, Applaus gegeben, und zwar von allenSeiten.Ich habe als Familienrichterin viele Fälle verhandelt,in denen Wert darauf gelegt wurde, dass ein Kind zudem getrennt lebenden Vater oder zu der getrennt leben-den Mutter Kontakt hat, nicht nur um das Trauma derTrennung zu überwinden, sondern auch um den anderenElternteil in seiner verschiedenen Geschlechtlichkeit zuerleben; das ist wichtig.Uns liegen neue Erkenntnisse aus der Väterforschungvor, die unterstreichen, dass Väter von Anfang an für diePersönlichkeitsentwicklung des Kindes wichtig sind.Nicht zuletzt versuchen wir auch, mehr Erzieher in dieKitas zu bekommen, gerade weil wir wissen, dass sie et-was anderes einbringen als die überwiegend tätigen Er-zieherinnen.Ich komme zu dem anderen Satz. Ich kenne schwuleMänner, die tolle Väter sein könnten. Ich kenne lesbi-sche Frauen, die tolle Mütter sind. Der Staat macht sichderen Fähigkeit, zu erziehen, zunutze, indem er Pflege-kinder in homosexuelle Partnerschaften gibt – mit gutemErfolg.
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1832 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Das ist anzuerkennen; das sage ich hier ausdrücklich.Die Stiefkindadoption ist etabliert und mittlerweile gän-gige Praxis.Was heißt das jetzt für die Adoption vor dem Hinter-grund dieser zwei Sätze, die sich aneinander reiben? Dasheißt für mich: Ich kann mir keine Regelung und vor al-lem keine Praxis vorstellen, in der es egal ist, ob einKind ein Elternpaar bekommt, das aus einem Vater undeiner Mutter oder aus zwei Vätern bzw. zwei Mütternbesteht. Für mich ist das ein starkes Kriterium und wirdes auch bei jeder konkreten Entscheidung über eineAdoption bleiben. Diesen Gedanken bringen wir im Ge-setzentwurf durch die Beschränkung auf die Sukzessiv-adoption zum Ausdruck.
Aber die Sukzessivadoption bietet auch Raum, imkonkreten Einzelfall anders zu entscheiden. Wenn einKind bereits einen Lebenspartner als Elternteil hat, ist esdoch klar, dass es das Beste für dieses Kind ist, wenn esauch den anderen Partner als Elternteil bekommt. Genaudas ermöglicht die Sukzessivadoption.
Denken Sie bitte an die Redezeit.
Es gibt andere Fälle in der Praxis. Denken Sie an die
langjährigen Pflegekinder, die sich selber wünschen, ad-
optiert zu werden, oder an den Patenonkel eines Waisen-
kindes, der das Kind kennt und zu dem es auch will. In
solchen Fällen liegt es doch auf der Hand, dass dort, und
zwar auch im Wege einer Sukzessivadoption, eine gute
Lösung in der Praxis gefunden werden kann. Ich habe
Vertrauen in die Adoptionsvermittlungsstellen, dass sie
mit dieser Regelung sehr verantwortungsvoll umgehen
und gute Eltern für die Kinder suchen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Geschätzte Kollegin Winkelmeier-Becker, ichnehme Ihnen ab, dass Sie es in der Sache gut meinen undeigentlich auch eine aufgeklärte Position vertreten wol-len. Es ist Ihnen bloß noch nicht ganz gelungen.Sie haben gerade selber zu Recht gesagt – das ist Praxis –,dass Jugendämter häufig gerade gleichgeschlechtlicheLebenspartnerschaften Pflegekinder aufziehen lassen,weil sie oftmals niemand anderen finden als ein gleich-geschlechtliches Paar, das bereit ist, sich insbesondereum ältere Pflegekinder zu kümmern, weil diese Kinderund Jugendliche nicht ganz einfach sind, vielleicht schonVorprägungen haben und man sich als erziehender El-ternteil ein bisschen mehr anstrengen muss.Wenn aber diese Pflegekinder, weil die Herkunftsfa-milie familienrechtlich auf sie verzichtet, zur Adoptionfreigegeben werden, dann wollen Sie nicht zulassen,dass diese Kinder gemeinschaftlich adoptiert werden.Was ist das für ein Unsinn?
Warum müssen diese Eltern ein, zwei Jahre warten, bissie gemeinsam familienrechtlich für die Kinder Verant-wortung tragen, obwohl sie es tatsächlich unter Umstän-den schon seit Jahren tun? Ihnen geht es bei dieser Posi-tion nicht um das Kindeswohl. Ihnen geht es umVorteile. Ihnen geht es um Bauchgefühl und um falscheRücksichtnahmen am rechten Rand unserer Gesellschaftin Ihrer Partei und bei der AfD.
Das finde ich skandalös. So macht man keine Rechtspo-litik.Aber nun zu Ihnen, Herr Minister. Sie haben mitschönen Worten einen Gesetzentwurf begründet, wobeiich dachte: Die Rede hätten Sie besser zu unserem Ge-setzentwurf gehalten als zu dem Ihrem.
Ich will Ihnen eines mitgeben: Sie sind Justizminister,nicht der Notar des Bundesverfassungsgerichts.
Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, der eshinbekommt, an der Rechtslage schlichtweg gar nichtszu ändern. Das, was Ihr Gesetzentwurf aufschreibt, giltso seit dem 19. Februar 2013 durch das Urteil des Bun-desverfassungsgerichts bereits unmittelbar. Schön istnur, dass wir jetzt eine neue Fundstelle dafür bekommen,nämlich das BGB und das Lebenspartnerschaftsgesetz.
Gesellschaftspolitisch und rechtspolitisch weniger ambi-tioniert als dieser Gesetzentwurf, Herr Minister, kannman überhaupt nicht sein.Aber ganz ohne Aussage ist Ihr Gesetzentwurf in derTat nicht. In der Begründung – komischerweise sprichtin der Begründung der Koalition jetzt die Koalition fürdie Bundesregierung – heißt es:Die Bundesregierung wird das Übereinkommenvon 2008 – zum Adoptionsrecht –umsetzen. Von der in dem Übereinkommen eröffne-ten Möglichkeit, im nationalen Adoptionsrecht die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1833
Volker Beck
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gemeinsame Adoption durch Lebenspartner zuzu-lassen, wird sie keinen Gebrauch machen.Außer einem Nein zur gemeinschaftlichen Adoptionhat Ihr Gesetzentwurf also keine Substanz. Das finde ichfür die Sozialdemokratie schon beschämend.
Sie sind im Wahlkampf vollmundig angetreten: für100 Prozent Gleichstellung, für die Öffnung der Ehe– ich habe die Anzeige dabei – und für die Gleichstel-lung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaftenund künftigen Ehen im Adoptionsrecht.Dass Sie das mit der Ehe nicht hinbekommen, FrauKollegin, ist geschenkt. Ich weiß, wie schwierig das istund dass das für die Union eine hoch ideologische Frageist. Dass Sie das aber bei der Adoption noch nicht einmalversucht haben, finde ich in der Tat beschämend. Von100 Prozent Gleichstellung, den Wählerinnen undWählern versprochen, ist 0 Prozent Rechtsänderungübriggeblieben. Weniger geht nun wirklich nicht.
Sie haben als Notar nicht einmal die Entscheidungdes Bundesverfassungsgerichts ordentlich umgesetzt.Sie haben offensichtlich in Ihrem Ministerium nochnicht einmal jemanden beauftragt, das Urteil bis zumEnde durchzulesen. In Randnummer 104 steht – derKollege hat das schon teilweise zitiert –:Unterschiede zwischen Ehe und eingetragenerLebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausge-staltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigenkönnten, bestehen nicht;Dann sagt das Bundesverfassungsgericht, dass die Be-stimmung im Lebenspartnerschaftsgesetz, die das Adop-tionsrecht beschränkt, verfassungswidrig ist. Aber dasBundesverfassungsgericht gibt Ihnen, dem Gesetzgeber,die Aufgabe auf, diese Frage zu klären. Es weist daraufhin, dass das nicht nur über die Einführung der gemein-schaftlichen Adoption geht.Neben der naheliegenden Angleichung der Adop-tionsmöglichkeiten eingetragener Lebenspartner andie für Ehepartner bestehenden Adoptionsmöglich-keiten wäre auch eine allgemeine Beschränkung derAdoptionsmöglichkeiten denkbar, sofern diese füreingetragene Lebenspartner und Ehepartner gleichausgestaltet würden.Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen klar auf denWeg gegeben: Sie dürfen beim Adoptionsrecht nichtzweierlei Recht für Ehe und Lebenspartnerschaft beste-hen lassen. Genau das tun Sie aber mit Ihrem Gesetz-entwurf. Ich finde, Ihr Gesetzentwurf ist ein Fall für dieHaftpflichtversicherung, Herr Notar; denn Sie habenhier einen Schaden herbeigeführt.
Es geht nicht nur um Recht und Gesetz und darum, obSie Ihre Wahlversprechen eingehalten haben. Das Pro-blem ist schlichtweg: Adoptionskindern muten Sie zu,erst nach ein, zwei Jahren durch ein Sukzessivadoptions-verfahren tatsächlich zu einer Familie mit zwei Elterntei-len zu kommen, die sorgeberechtigt und unterhalts-pflichtig sind und gegenüber denen das KindErbansprüche hat. Zuvor haben diese Kinder nur einElternteil. Das ist eine sozial- und familienrechtlich in-stabilere Situation. Das gereicht dem Kind nur zumSchaden. Wer in dieser Debatte noch einmal das Wort„Kindeswohl“ in den Mund nimmt und diese Positionverteidigt und vertritt, sollte vor Scham im Bodenversinken.
Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt das
Wort Dr. Karl-Heinz Brunner.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Lieber Kollege Beck,dann wäre ich der Nächste, der vor Scham im Bodenversinken müsste. Ich tue es aber nicht; denn ich bin zu-tiefst davon überzeugt, dass uns das Bundesverfassungs-gericht wieder einmal gezeigt hat, wo es langgeht. Essagt glasklar: Alle Menschen sind vor dem Gesetzgleich. – Dies gilt bei einer Adoption durch gleichge-schlechtliche Lebenspartner und – noch viel wichtiger –für alle Kinder dieses Landes. Nehmen Sie es mir nichtübel, aber eigentlich hätten wir selbst darauf kommenmüssen. Ich weiß, dass der große Teil der Abgeordnetendes Deutschen Bundestages auch darauf gekommen ist.Leider haben wir dies noch nicht – ich sage das ganz be-wusst – über alle politischen Gegensätze hinweg selbstin die Hand genommen. Mein Wunsch ist, dass wir dieParteigrenzen außer Acht lassen und sagen: Wir müssendie Kinder und die Familien in den Mittelpunkt stellen.Lieber Kollege Beck, ich gehe davon aus, dass Sie inKoalitionsverhandlungen wahrscheinlich auch keinbesseres Ergebnis erzielt hätten.
Ja, wir freuen uns, wenn in Deutschland Kinder groß-gezogen werden, wenn sie geborgen, gefördert, umsorgtund geliebt sind, egal welche sexuelle Orientierung dieEltern haben. Wir wollen Familien, Solidarität und ge-meinsames Einstehen für die Kinder, ganz egal in wel-cher Konstellation. Wir leben in einer offenen Gesell-schaft, und wir stehen dazu. Wir, die SPD, stehen dafürein, ohne Zögern, ohne Lavieren und ohne Angst. Aberich weiß, dass dies in Deutschland und auch in diesemHohen Haus keine hundertprozentige Zustimmungerfährt. Ich weiß, dass sich manche Kolleginnen undKollegen unseres geschätzten Koalitionspartners nochimmer schwertun, den Schritt in Richtung Gleichstel-lung so zu gehen, wie ich und vielleicht auch andere indiesem Hause ihn gerne gehen würden. Ich akzeptieredies. Gerade deshalb möchte ich Sie gerne mitnehmen,Ihnen den Weg erleichtern und Ihnen dazu fünf Argu-mente an die Hand geben.
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1834 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Karl-Heinz Brunner
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Erstens haben wir im Koalitionsvertrag bereits festge-legt, rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtlichePartnerschaften schlechterstellen, zu beseitigen – dashaben wir noch vor uns –, und wir haben – das haben wirheute vorliegen – den Gesetzentwurf zur Umsetzung desUrteils des Bundesverfassungsgerichts vereinbart. Dasmachen wir jetzt.Zweitens. Familie hier, Ehe da, Lebenspartnerschaftdort – das sind in unserer Gesellschaft keine Gegensätzemehr. Ich sage ganz deutlich: Familie ist da, wo Solidari-tät herrscht, wo Menschen füreinander einstehen, wo einKind in behüteten Verhältnissen aufwachsen kann, wo essich gut entwickeln kann, dort, wo es daheim ist. Das hatnichts mit Mann und Frau, sondern das hat etwas mitLiebe zu tun.
Drittens. Kinder in homosexuellen Ehen entwickelnsich psychisch ganz normal.
Es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass sie es schwererhätten als Dicke, Dünne, Kleine oder Große, von Diskri-minierung ganz zu schweigen. Schließlich hat das dasStaatsinstitut für Familienforschung in Bamberg bestä-tigt, und die müssen es wissen.Viertens. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften wer-den in der Bevölkerung meist Homoehe genannt, nichtPartnerschaft, sondern Ehe. Selbst die Bild-Zeitungschreibt nur Homoehe. Damit ist klar, dass eingetrageneLebenspartner wie Ehepartner leben und zweifelsohnedie Verantwortung für sich und für ihre Kinder undAngehörigen übernehmen wie Ehepartner und so, wiewir das in Deutschland wollen. Gut, dass der allgemeineSprachgebrauch schon etwas weiter ist als die Gesetzge-bung.Fünftens: die Realität. Es gibt sie schon längst, dieStiefeltern, die Pflegeeltern, die Patchworkfamilien, dieihren Kindern Schutz und Geborgenheit geben. Das ver-dient Anerkennung. Unterschiede werden gelebt, öffent-lich, unabhängig von jedem Schubladendenken. Warumsollten wir einen anderen Maßstab anlegen, warum solles bei Sukzessivadoptionen Ausnahmen geben? Wennirgendjemand die Gleichstellung bremsen möchte, dannist es, glaube ich, nach dem Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts eh schon zu spät. Der Zug fährt schon. Dasnächste Gesetz ist vor der Tür.
Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt in dierichtige Richtung, aber er darf es nicht allein bleiben.Dazu sollten wir künftig keinen Wink unseres Bundes-verfassungsgerichts mehr benötigen. Haben wir denMut, die Augen für die Realität zu öffnen und die Fragenzu beantworten, die wir für unsere Gesellschaft beant-worten müssen. In welcher Gesellschaft wollen wir le-ben? In was für einer Gesellschaft sollen unsere Kinderaufwachsen? Füreinander einstehen, sorgen, lieben undbeschützen – was ist uns das wert? Glauben Sie mir:Wenn wir diese Fragen fern von parteipolitischemKalkül und fern von unseren parteipolitischen Unter-schieden sehen, dann steht am Ende nicht nur dieGleichstellung, sondern auch die Ehe für Schwule undLesben.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bei derPräsidentin, dass sie mir ein paar Sekunden hinzugege-ben hat.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist
Frau Dr. Sütterlin-Waack für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich glaube aus den bisherigen Redebeiträ-gen entnehmen zu können, dass wir uns darüber einigsind, dass durch die Sukzessivadoption die rechtlicheStellung von Adoptivkindern in der schon dargestelltenspeziellen Situation verbessert wird.Die Kinder entwickeln nach erfolgter Zweitadoptionein sogenanntes doppelstrahliges Kindschaftsverhältniszu beiden Elternteilen. Somit haben auch diese Kinderzwei Elternteile, denen sie vertrauen und die für sierechtlich einstehen. Sie bekommen eine zweite Bezugs-person, die für sie unterhaltspflichtig ist und bei der sieerbberechtigt sind. Alles zusammengenommen ist wich-tig. Dadurch verbessern wir sowohl die soziale als auchdie rechtliche Situation der betroffenen Kinder.Selbstverständlich bleibt auch bei der Sukzessivadop-tion das allgemeine Adoptionsverfahren aufrechterhal-ten. Dies ist im Wesentlichen in § 1741 BGB festge-schrieben. Dort heißt es – jetzt muss ich doch das Wort„Kindeswohl“ in den Mund nehmen; das werde ich inmeiner Rede noch öfter tun –:
Die Annahme als Kind ist zulässig, wenn sie demWohl des Kindes dient und zu erwarten ist, dasszwischen dem Annehmenden und dem Kind einEltern-Kind-Verhältnis entsteht.Im Einzelfall wird also entschieden, ob ein Paar odereine Einzelperson für die Adoption eines ganz bestimm-ten Kindes infrage kommt oder nicht. Im Mittelpunktdes Adoptionsverfahrens steht also das Kindeswohl.Daran darf und wird sich nichts ändern.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1835
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
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Das Kindeswohl ist nach gängiger Definition dienachhaltige Verbesserung der persönlichen Verhältnisseund der Rechtsstellung des Kindes. Unsere Familien-gerichte treffen in Zusammenarbeit mit den Adoptions-behörden letztendlich die Entscheidung im Kindeswohl-interesse. Ich habe vollstes Vertrauen in die Fähigkeitunserer deutschen Familiengerichte zu ausgewogenenUrteilen.Ich will es noch einmal hervorheben: Die für uns zen-trale Frage ist: Dient die Adoption dem Kindeswohl?Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinenEntscheidungsgründen vorangestellt. Es hat zu dieserFrage im Zusammenhang mit der SukzessivadoptionStellungnahmen von elf Sachverständigen eingeholt.Zehn davon äußerten sich positiv; einer hatte Bedenken.Auch wegen der überwiegenden Zustimmung der Fach-leute zur Sukzessivadoption bestanden für das Verfas-sungsgericht keine Zweifel. Das gilt auch für uns. Ichwerbe daher um die Zustimmung zum Gesetzentwurf zurSukzessivadoption.Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposi-tion, bei diesem wichtigen Thema werden Sie mich inmeiner ersten Rede sicher nicht von der Antwort auf dieFrage befreien: Wie halten Sie es mit der Volladoptionbei eingetragenen Lebenspartnern?
Ich gebe zu, dass ich lange darüber nachgedacht habe,wie ich mich zu dieser Frage stellen soll. Die Stimmen,die den letzten oder vorletzten Schritt zur rechtlichenGleichstellung fordern, sind zwar laut, aber für uns istfestzustellen, dass die grundsätzliche Frage, ob Kinder ineiner gleichgeschlechtlichen Partnerschaft genauso gutaufwachsen können wie bei Mann und Frau, immer nochgesellschaftlich stark umstritten ist. Auch aus der wis-senschaftlichen Literatur ist mir keine belastbare Studiebekannt, die darüber verlässlich Auskunft erteilt. Dievielzitierte Studie der Uni Bamberg ist nicht allgemeinanerkannt.
Ihr werden erhebliche Schwächen vorgehalten, vor allenDingen, weil sie nicht repräsentativ sei.Auch die Anhörung des Rechtsausschusses zumgleichlautenden Gesetzentwurf der Grünen am 6. Juni2011 förderte kein einheitliches Bild zutage. Einige derSachverständigen haben ausgeführt, dass ein Kind, das,aus welchen Gründen auch immer, nicht in seiner Her-kunftsfamilie aufwächst, schon dadurch besonderen Be-lastungen ausgesetzt ist.
Weitere Belastungen sollten daher vermieden werden.Der Gesetzgeber, also wir, wurde auch ermahnt, dasAdoptionsrecht nicht als Instrument zum Abbau von ge-sellschaftlichen Diskriminierungen zu gebrauchen. DerSachverständige warnte davor, über das AdoptionsrechtGleichstellungspolitik zu betreiben.Wegen der sich aus Art. 6 Grundgesetz ergebendenWächterfunktion des Staates müssen wir hier aber Ge-wissheit haben. Solange wir diese nicht haben, werdenwir dem Gesetzentwurf der Grünen auf Zulassung derVolladoption durch eingetragene Lebenspartner nichtzustimmen. Diese Ablehnung hat nichts, aber auch garnichts damit zu tun, dass wir gleichgeschlechtliche Le-benspartnerschaften nicht akzeptieren. Dies heißt abernicht automatisch, dass sie Anrecht auf Kinder haben.Das hat niemand.Jetzt zitiere ich Sie, Herr Beck:Kinder haben … ein Recht auf Liebe, Fürsorge,Aufmerksamkeit und Geborgenheit.Im Umkehrschluss ist die Adoption aber keine Maß-nahme zur Heilung von Kinderlosigkeit von Paaren, egalwelcher geschlechtlichen Orientierung. Sinn und Zielvon Adoptionen ist eine mögliche Hilfe für bereits gebo-rene Kinder, die aus unterschiedlichsten Gründen ihreEltern verloren haben und für die deshalb eine neue Fa-milie gesucht wird.Ich möchte am Ende noch einmal auf die Wächter-funktion des Staates und die damit verbundene Verant-wortung zurückkommen. Die Adoption ergeht durch ei-nen staatlichen Hoheitsakt. Der Staat ist also an derEntstehung von rechtlichen Familienbeziehungen aktivbeteiligt. Daraus erwächst die besondere Verantwortungdes Staates. Er darf eine solche Beziehung nur schaffen,wenn es dem Kindeswohl dient. Also noch einmal: So-lange wir keine Gewissheit haben, dass die Volladoptiondurch gleichgeschlechtliche Lebenspartner vollumfäng-lich dem Kindeswohl entspricht, können wir derartigengesetzlichen Vorhaben nicht zustimmen.
Herzlichen Dank. – Das war Ihre erste Rede. Ich gra-
tuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses dazu.
Der nächste Redner ist Dr. Volker Ullrich, CDU/
CSU-Fraktion. Bitte schön.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Zum Abschluss der Debatte sei noch einmal daran erin-nert, dass es bei der Umsetzung des Urteils des Bundes-verfassungsgerichts eben doch um die Verbesserung vonKinderrechten und um die Verbesserung des Kindes-
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1836 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Volker Ullrich
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wohls geht. Es ist natürlich durchaus möglich, diese De-batte unter dem Vorzeichen der Gleichberechtigunggleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften zu füh-ren. Wir alle sind uns in diesem Hohen Hause einig: Wirerkennen gemeinsam an, dass in gleichgeschlechtlichenLebenspartnerschaften Werte gelebt werden, die insge-samt in dieser Gesellschaft wichtig sind und die eineBindung verschaffen. Aber es ist auch wichtig, anzuer-kennen, dass es einen Wert hat, die Rechte von Kindernzu verbessern.Die Koalitionsvorlage stärkt die rechtliche Stellungvon bereits bestehenden emotionalen Beziehungen. Den-ken Sie daran, dass in einer gleichgeschlechtlichen Le-benspartnerschaft der eine Partner beispielsweise dasSorgerecht hat; der andere hat es nicht. Der eine Partnerist unterhaltsverpflichtet; der andere ist es nicht. Dereine hat einen Auskunftsanspruch im Krankheitsfall; derandere hat ihn nicht. Durch die Sukzessivadoption be-kommt ein Kind ein Mehr an Rechten. Es bekommt dieMöglichkeit, zusätzlich abgesichert zu werden. Deswe-gen ist dieser Gesetzentwurf richtig und zielführend.
Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang bedauer-lich, dass wir durch das Bundesverfassungsgericht dazugezwungen worden sind, diesen Schritt zu gehen.
Aber es sei auch daran erinnert, dass das Bundesverfas-sungsgericht kein Ersatzgesetzgeber ist und es dem Ge-setzgeber freistehen muss, Wertentscheidungen selbst zutreffen, nach eigener Einschätzung.
Dementsprechend können wir auch die Frage derVolladoption in einem anderen Licht betrachten. Es istetwas dann gleich zu behandeln, wenn es von seiner Ei-genart her gleich ist und wenn sich eine Ungleichbe-handlung verbietet. Dort aber, wo Ansatzpunkte einerDifferenzierung vorhanden sind, kann es eine gesetzge-berische Wertentscheidung sein, eine Ungleichbehand-lung vorzunehmen.
Ich denke, dass es zwischen einer Sukzessivadoptionund einer Volladoption durchaus einen zu betrachtendenUnterschied gibt. Bei der Sukzessivadoption ist die Bin-dung des Kindes an einen Lebenspartner bereits vorhan-den, während bei der Volladoption zwei völlig neueBindungen geknüpft werden. Angesichts dieses Unter-schiedes sollten wir gut überlegen, ob das, was wir bis-lang wissen, was wir bislang an Studien haben, aus-reicht, eine Gleichbehandlung herbeizuführen, oder obes besser ist, zu sagen: Das Kindeswohl gebietet es, dassder Regelfall eben doch der sein soll, dass eine Adoptiondurch Mann und Frau erfolgt, sodass quasi Emotionenund andere Aspekte der Erziehung von beiderlei Ge-schlecht zum Tragen kommen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Beck? – Bitte schön.
Nur, damit auch ich als Nichtjurist es verstehe: Das
Bundesverfassungsgericht hat sich ja für dieses Urteil,
das Sie heute umzusetzen meinen, genau diese Fragen
gestellt, Sachverständige vom Deutschen Familienge-
richtstag, von Psychologenverbänden, von der Bundes-
arbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter angehört
– alle Fachverbände waren einbezogen – und kommt
dann zu dem Schluss:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Le-
benspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestal-
tung der Adoptionsmöglichkeiten
– nicht der Sukzessivadoption, sondern der Adoptions-
möglichkeiten –
rechtfertigen könnten, bestehen nicht …
Weiter führt es aus, was ich vorhin schon gesagt habe
– ich lese es einfach noch einmal vor; ich habe es schon
ein paar Mal gemacht, weil es ja offensichtlich niemand
zur Kenntnis nehmen will, zumindest auf der rechten
Seite des Hauses –:
Neben der naheliegenden Angleichung der Adop-
tionsmöglichkeiten eingetragener Lebenspartner an
die für Ehepartner bestehenden Adoptionsmöglich-
keiten
– also Sukzessivadoption, gemeinschaftliche Adoption,
Stiefkindadoption –
wäre auch eine allgemeine Beschränkung der
Adoptionsmöglichkeiten denkbar, sofern diese für
eingetragene Lebenspartner und Ehepartner gleich
ausgestaltet würden.
Wo lesen Sie in diesem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichtes eine Legitimation für den Gesetzgeber,
bei Adoptionsmöglichkeiten zwischen Lebenspartner-
schaften und Ehepaaren weiterhin zu differenzieren? Ich
habe Ihnen gerade zwei Sätze aus dem Urteil vorgelesen,
die allgemein für das Adoptionsrecht sagen: Das dürfen
wir nicht mehr. Wir können uns zwar überlegen, wie wir
es machen, aber nicht, ob wir es machen.
Herr Kollege Beck, das Verlesen einzelner Zitate auseinem Verfassungsgerichtsurteil ersetzt nicht die gesetz-geberische Wertentscheidung.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1837
Dr. Volker Ullrich
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Wir treffen die gesetzgeberische Wertentscheidung so,dass wir die Sukzessivadoption aus den Gründen, diemeine Kollegen und ich gerade dargestellt haben, in un-serem Gesetzentwurf zulassen, dass wir als Gesetzgeberaber an der grundsätzlichen Wertentscheidung, dass vordem Hintergrund des Kindeswohls eine Volladoptionvornehmlich durch Mann und Frau erfolgen soll, im Au-genblick nichts ändern. Das ist keine Wertentscheidunggegen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften,
sondern das ist im Grunde genommen eine Entscheidungfür das Kindeswohl.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/841, 18/577 und 18/842 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, dasist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-sen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräftean der EU-geführten AusbildungsmissionEUTM Somalia auf Grundlage des Ersuchensder somalischen Regierung mit Schreibenvom 27. November 2012 und 11. Januar 2013sowie der Beschlüsse des Rates der Europäi-schen Union 2010/96-GASP vom 15. Februar2010 und 2013/44-GASP vom 22. Januar 2013in Verbindung mit der Resolution 1872
des Sicherheitsrates der Vereinten NationenDrucksache 18/857Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsauschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierunghat Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen dasWort.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin derVerteidigung:Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich zunächst ein-mal auf der Tribüne Soldatinnen und Soldaten desFüSK-Referates Stationierung aus Bonn im Rahmen derpolitischen Bildung ganz herzlich zu dieser Debatte be-grüße.
Es geht um die europäische Trainingsmission in So-malia. Wir haben in den letzten Wochen viel über Afrikadiskutiert, in vielerlei Hinsicht ein Kontinent der großenChancen, sehr vielfältig mit seinen 54 Staaten. Afrika er-scheint aber auch gerade mit Blick auf Somalia als einKontinent der Krisen mit Bürgerkriegen, fragiler Staat-lichkeit und zunehmendem Terrorismus. Es geht heuteum die Problematiken Gewalt, Hunger und Flucht. Dassind die prägenden Merkmale des Landes am Horn vonAfrika, die in fataler Weise nicht nur enorme Auswir-kungen auf die Bevölkerung selber haben, sondern auchauf die Nachbarstaaten.Gemeinsam mit der Afrikanischen Union gibt es einbreites Bündnis von Staaten und Organisationen, dassich seit Jahren am Horn von Afrika engagiert. Wir ha-ben einen strategischen Rahmen der europäischen Mis-sion, in dem viele verschiedene Untergruppierungensind. Das Ziel ist, in der Region Sicherheit, vor allem imSeegebiet, wiederherzustellen, Somalia zu stabilisierenund vor allem staatliche Strukturen wieder aufzubauen.Hier gilt: Es gibt keine Alleingänge; auch diese Missionsteht unter dem Dach der Vereinten Nationen, gemein-sam mit der Afrikanischen Union und mit der EU. Wirengagieren uns hier zusammen in der vernetzten Sicher-heit. Das ist unser Grundprinzip.
Bei den Zielen, die wir uns gesteckt haben, liegt nochein weiter Weg vor uns. Vieles wurde schon erreicht imKampf gegen die Piraterie und bei der Sicherung weite-rer Regionen des Festlandes, vor allem in der HauptstadtMogadischu. Das ist vor allem ein Verdienst der Truppender afrikanischen Friedensmission AMISOM, die zumTeil schwere Verluste im Kampf gegen die Al-Schabab-Miliz erleiden mussten. An dieser Stelle möchte ich fürdiesen Einsatz, der bei uns in Deutschland keine großeAufmerksamkeit erhält, den Soldatinnen und Soldatenvieler afrikanischer Staaten danken und an ihre Opfer er-innern.
Auch Deutschland engagiert sich seit Jahren am Hornvon Afrika: immer in der vernetzten Sicherheit – Diplo-matie, wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit –, im-mer mit dem Respekt vor der souveränen Entscheidungafrikanischer Staaten, wo und wie Hilfe nötig ist. EinTeil davon ist die jetzt diskutierte europäische Trainings-mission für die somalischen Streitkräfte, die zunächst inMogadischu war, dann aus Sicherheitsgründen nach
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1838 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Uganda ausgelagert worden ist und jetzt wieder nachMogadischu verlegt worden ist.Rund 3 600 Soldatinnen und Soldaten und rund120 militärische Ausbilder, Train the Trainer, wurden inUganda ausgebildet. Sie sind jetzt der Kern der Streit-kräfte, die sich in Somalia für Stabilität, Sicherheit undden Schutz der Bevölkerung einsetzen.Wir möchten gerne mit unseren Partnern in Somaliaan den Erfolg, dessen Grundlage in Uganda gelegt wor-den ist und der jetzt wieder in Mogadischu stattfindet,anknüpfen. Deshalb bittet die Bundesregierung heute umdie Zustimmung zu einer erneuten Beteiligung deutscherSoldatinnen und Soldaten an der Ausbildungsmission imsomalischen Zentrum. Es geht um rein militärischesTraining und den Aufbau militärischer Strukturen. Esgeht dabei auch um das Verständnis für die rechtsstaatli-che Einbettung und zivile Kontrolle des Militärs. Daherwollen wir in Mogadischu auch Beratungsfunktionen imsomalischen Generalstab und im Verteidigungsministe-rium wahrnehmen. Wir haben vorher Diskussionen ge-habt, ob die Sicherheitslage in Mogadischu dieses zulässt.Wir hatten zugesichert, dass wir noch eine sorgfältigePrüfung sowohl bei den europäischen Partnern in Soma-lia als auch in den Nachbarländern vornehmen und ihneneine gewissenhafte Bewertung der Sicherheitslage vorle-gen werden. Die Bedrohungslage in Mogadischu istdurch Angriffe und Terrorismus nach wie vor erheblich.Das muss ich ganz klar sagen. Aber es sind Sicherheits-maßnahmen durch unsere europäischen Partner imCamp Al Jazeera vorgenommen worden. Auch die Be-wegungen zwischen Camp Al Jazeera und dem Verteidi-gungsministerium rund um die Mission sind so, dass dasRisiko als militärisch vertretbar und politisch verant-wortbar angesehen wird. Zurzeit sind bereits elf europäi-sche Nationen bei der Trainingsmission in Mogadischu.Rund 100 Ausbilder sind an der Trainingsmission inMogadischu beteiligt. Jetzt geht es um die Frage, ob sichDeutschland mit einer Personalobergrenze von bis zu20 Soldatinnen und Soldaten wieder an der Ausbil-dungsmission beteiligt. Wir bitten um ein Mandat für dienächsten zwölf Monate, obwohl diese Mission selber fürdie nächsten zwei Jahre angelegt ist. Warum für dienächsten zwei Jahre? Es ist geplant, dass 2016 Wahlen inSomalia stattfinden werden, die für die Zukunft Soma-lias entscheidend sind. Wir möchten uns gerne auf demWeg zur Stabilisierung des Landes an dieser Trainings-mission beteiligen; aber sie ist nicht das einzige Mo-ment.Wichtig ist, dass uns bewusst ist, dass die gesamteRahmenstrategie zur Stabilisierung des Landes, die dortvor Ort unter dem Dach der europäischen Mission ver-folgt wird, nur erfolgreich sein kann, wenn es nicht nurbei der Sicherheitsarchitektur, sondern auch bei der poli-tischen Konsolidierung auf dem Weg zu den Wahlen undvor allem bei der gesellschaftlichen Aussöhnung inner-halb des Landes Fortschritte gibt. Wichtig ist mir auch,dass wir uns immer darüber im Klaren sind, dass unserEngagement nur dann erfolgreich sein kann, wenn es mitder Afrikanischen Union und den vielen anderen Part-nern, die sich dort vor Ort engagieren, eng verzahnt undgut abgestimmt ist.Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um Unterstüt-zung, auch im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten,für diesen wichtigen und richtigen Einsatz.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Ministerin. – Nächster Redner ist
der Kollege Jan van Aken, Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau vonder Leyen, das war nicht gut.
Sie haben den Soldatinnen und Soldaten oben auf derBesuchertribüne nicht die ganze Wahrheit über diesenEinsatz gesagt.
Noch im Dezember letzten Jahres hat Ihre Bundesregie-rung ausdrücklich gesagt, dass die Sicherheitslage inMogadischu viel zu instabil sei, um auch nur einen einzi-gen der Kolleginnen und Kollegen, die da oben sitzen,dorthin zu schicken.
Gerade haben Sie gesagt: Mittlerweile haben wir Sicher-heitsmaßnahmen ergriffen, jetzt ist alles gut. – Sie habennichts davon gesagt, dass noch vor einem Monat, am13. Februar, direkt bei dem Ausbildungscamp, in das dieBundeswehrsoldaten geschickt werden sollen, von al-Schabab ein sehr schwerer Anschlag verübt worden ist:6 Tote, 19 Verletzte, viele davon schwer verletzt. Das istgenau der Weg, den die Kolleginnen und Kollegen gehenmüssen; Sie haben ihnen nicht und niemandem in die-sem Haus erklärt, was sich denn in den letzten drei Mo-naten an der Sicherheitslage geändert haben soll,
nachdem Sie vor drei Monaten noch der Meinung waren,dass es viel zu gefährlich ist. Es ist auch heute noch vielzu gefährlich.
Der Ausbildungsstandort, den Sie sich jetzt ausge-sucht haben, ist aus einem weiteren Grund ein richtigesProblem: Sie führen jetzt die Ausbildung am Standortder AMISOM durch, das heißt im gleichen Camp, Seitean Seite mit der kämpfenden Truppe. So werden die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1839
Jan van Aken
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Bundeswehrsoldaten natürlich als Teil der kämpfendenTruppe der Afrikanischen Union wahrgenommen, unddas erhöht die Gefährdung zusätzlich. Wie es dort für diedeutschen Soldaten ausreichend sicher sein soll, dasmüssen Sie mir einmal erklären. Das müssen Sie aberauch den Soldatinnen und Soldaten erklären, und erklä-ren Sie es bitte auch einmal deren Familien.
Nicht nur wegen der schlechten Sicherheitslage leh-nen wir diesen Einsatz ab, sondern auch, weil er poli-tisch falsch ist. Sie, Frau von der Leyen, wissen es, Siealle wissen es, ich weiß es. Die jetzige somalische Re-gierung hat trotz Beteiligung der verschiedenen Clansund regionalen Strukturen überhaupt keinen Rückhalt inder Bevölkerung. Das ist auch kein Wunder, denn sie isterstens nicht gewählt und zweitens überhaupt nicht alsRegierung erkennbar. Sie kümmert sich in keinsterWeise um die Bevölkerung, in keinster Weise um die Si-cherung der Grundbedürfnisse, um die Nahrungsmittel-versorgung, um die Gesundheitsversorgung. Das Ein-zige, womit diese Regierung sich beschäftigt – und Sieunterstützen sie dabei –, ist, sich selbst zu schützen; aberdie Menschen im Land schützt sie nicht. Die Sicherheits-kräfte, die Sie jetzt in Mogadischu ausbilden, werdenausschließlich dafür eingesetzt, den Regierungssitz zuschützen, sonst gar nichts – wenn die Soldaten nichtmittlerweile längst desertiert sind.Vor allem hat diese sogenannte Regierung – da kom-men wir zur entscheidenden politischen Frage, zu derSie leider wenig gesagt haben – nichts, aber auch garnichts unternommen, um eine Verhandlungslösung mitdem mächtigsten Gegner dort, al-Schabab, auf den Wegzu bringen. Das erste Ziel von Verhandlungen wäre eineWaffenruhe. Aber entsprechende Verhandlungen werdennicht nur von der Regierung in Mogadischu abgelehnt,sondern auch von all ihren internationalen Unterstützern.Da heißt es ganz lapidar: Mit Terroristen verhandelt mannicht.Vor vier Jahren habe ich an dieser Stelle gesagt, dassman in Afghanistan mit al-Qaida verhandeln muss. Dabin ich von Ihnen ausgelacht worden. Zwei Jahre späterhaben Sie diese Meinung selbst vertreten. Das war gut.Aber jetzt müssen Sie auch in Bezug auf Somalia zurKenntnis nehmen: Sie werden in diesem Land nur dannFrieden erreichen, wenn Sie mit dem Hauptgegner, al-Schabab, verhandeln. Solange Sie das nicht tun, werdenSie den dortigen Krieg nicht beenden können.
Sie wissen, dass Ihre Strategie gescheitert ist.
Die einzige Möglichkeit, den Bürgerkrieg zu beenden,liegt in einem Dialog und in Verhandlungen, nicht inWaffengewalt.
Jetzt komme ich zum letzten Punkt.
Ich finde es wirklich erschütternd, dass Sie gar nichtsdazu sagen, Frau von der Leyen.Vor gut einem Jahr wurde das Waffenembargo gegenSomalia gelockert mit dem Argument, die Regierungmüsse sich besser bewaffnen, um sich schützen zu kön-nen. Nun ist veröffentlicht worden, dass es einen Berichtan den Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen gibt,in dem auf vielen Seiten detailliert dargelegt wird, dassdie sogenannte Regierung in Mogadischu daran beteiligtist, die Waffen, die jetzt neu ins Land kommen, weiter-zuleiten, unter anderem an al-Schabab. Vor kurzemwurde die Lockerung des Waffenembargos noch einmalverlängert. Das heißt, Sie – nicht Deutschland, aber an-dere Länder – unterstützen eine Regierung, beliefern siemit Waffen, und diese Waffen werden über die Clan-strukturen direkt an al-Schabab weitergegeben. Ange-sichts des Berichtes an den Sanktionsausschuss der Ver-einten Nationen fragen wir Sie: Was tun Sie damit? DieAntwort ist: Die Bundesregierung kennt diesen Berichtgar nicht. – Sie nehmen ihn nicht zur Kenntnis; Sie wol-len ihn nicht sehen. Das ist der Skandal: Sie unterstützeneine Waffenschieberbande, die sich Regierung nennt,und befeuern damit noch den militärischen, gewalttäti-gen Konflikt in Somalia.
Ich fasse zusammen: Erstens. Sie riskieren das Lebenvon Bundeswehrsoldaten, indem Sie sie mitten in einhochgefährliches Mogadischu schicken.
Zweitens. Sie unterstützen damit eine Bürgerkriegspar-tei, die sich am Waffenhandel bereichert. Drittens. Sieund auch die Regierung in Mogadischu setzen sich nichtfür Verhandlungen für eine Friedenslösung ein. Ichfinde, das sind drei sehr gute Gründe, diesen Auslands-einsatz abzulehnen.Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschlandüberhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte.Ich danke Ihnen.
Für die Bundesregierung erteile ich nun Herrn Staats-
minister Michael Roth das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Schon seit Wo-chen wird die öffentliche Debatte in Deutschland bezüg-lich der Afrikapolitik nur von einer Frage bestimmt:Werden deutsche Soldatinnen und Soldaten zum Einsatzkommen, um die politischen Krisen in Zentralafrika,
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1840 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Staatsminister Michael Roth
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Mali, Südsudan oder Somalia in den Griff zu bekom-men?Eine Verengung der Diskussion auf die Frage der Mi-litäreinsätze ist nicht nur sachlich falsch; sie zeugt auchvon einer zutiefst verzerrten Wahrnehmung unseresNachbarkontinents. Afrika als Kontinent der Gefahrenund Risiken – von diesem einfachen Bild müssen wiruns lösen.
Trotz aller Probleme und Schwierigkeiten, die es wei-terhin gibt, zeigt die Entwicklung der vergangenenJahre: Wir Europäerinnen und Europäer haben allen An-lass, unseren Blick mit etwas mehr Zuversicht in Rich-tung Afrika zu richten. Unser Blick wird realistischer,wenn wir zur Kenntnis nehmen: Afrika ist auch ein Kon-tinent der Hoffnung, der Chancen und Potenziale. Des-halb lassen Sie uns heute bei der Entscheidung über dasMandat für die Entsendung von
deutschen Soldatinnen und Soldaten zur EU-Ausbil-dungsmission in Somalia nicht nur den sicherheitspoliti-schen Rahmen im Blick haben. Dieses Mandat ist viel-mehr ein kleiner, aber wichtiger Baustein einesGesamtansatzes in der Afrikapolitik.Afrika hat sich in den vergangenen Jahren viel schnel-ler gewandelt als unser Blick von außen auf Afrika. Da-bei müssen wir uns bewusst sein: Der Kontinent, seineLänder und Regionen entwickeln sich nicht nur mit zu-nehmender Dynamik, sondern auch in ganz unterschied-licher Weise und Geschwindigkeit. Wir müssen lernen,diese Entwicklungen und die damit verbundenen Chan-cen frühzeitig zu erkennen und in ihrer jeweiligen Eigen-art zu erfassen.So komplex die Ausgangslagen sind, so differenziertsollten auch unsere Antworten sein. Wenn wir erfolg-reich sein wollen, gilt es, das gesamte Instrumentariumunserer Außenpolitik einzusetzen. Denn Fragen vonPolitik und Sicherheit, von Wirtschaft und Gesellschaftsind untrennbar miteinander verknüpft.Frieden und Sicherheit sind zwingende Voraussetzun-gen für wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. DasWachstum Afrikas in den vergangenen Jahren eröffnetbeachtliche wirtschaftliche Perspektiven für zahlreicheLänder. Aber wir müssen auch dafür Sorge tragen, dassder wirtschaftliche Aufschwung am Ende bei den Men-schen ankommt. Mehr Arbeitsplätze, eine gerechte Ein-kommensverteilung und eine gesicherte Versorgung mitNahrungsmitteln, Wasser, Energie und Gesundheitsleis-tungen sind letztlich das beste Stabilitätsprogramm fürden ganzen Kontinent.
Es gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ebenauch die Schattenseiten. Die Bundesregierung sieht mitSorge, wie in vielen – zu vielen – afrikanischen StaatenFrauen, ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheitenteilweise unterdrückt und politisch verfolgt werden.Dazu dürfen und werden wir nicht schweigen.
Unsere Auseinandersetzung mit Afrika darf deshalbnicht in eine sicherheitspolitische Debatte heute, eineentwicklungspolitische Debatte morgen und eine wirt-schaftspolitische Debatte übermorgen zerfasern. Unservielseitiges Engagement für und in Afrika muss ineinan-dergreifen, wenn wir einen verantwortungsvollen Bei-trag für mehr politische und wirtschaftliche Stabilitätleisten wollen.Der vierte EU-Afrika-Gipfel, der im April 2014 inBrüssel stattfindet, ist ein guter Anlass, um gemeinsammit unseren afrikanischen Partnern Bilanz zu ziehen undneue Impulse für die Afrikapolitik zu vereinbaren. Eswird eines der großen Projekte der Europäischen Unionin den kommenden Jahren sein, eine gemeinsame Strate-gie für Afrika zu entwickeln, die der Bedeutung unseresNachbarkontinents endlich gerecht wird. Unsere Kern-anliegen sind eine fortschreitende Integration Afrikasund die Förderung von sicherheitspolitischer Eigenver-antwortung. Die Afrikanische Union spielt dabei eineganz zentrale Rolle.Unsere Unterstützung beschränkt sich nicht auf dasKrisenmanagement, etwa durch finanzielle Unterstüt-zung für die AU-Missionstruppen in Somalia oder durchHilfe beim Aufbau einer afrikanischen Friedens- undSicherheitsarchitektur. Um Frieden und Sicherheit dau-erhaft zu sichern, brauchen wir mehr als reaktives Kri-senmanagement. Noch viel wichtiger ist eine voraus-schauende Krisenprävention, damit politische Krisenund gewaltsame Konflikte im besten Fall gar nicht erstentstehen. Erfolgsbeispiele gibt es einige: die Einrichtungvon Frühwarnsystemen oder das Grenzmanagementpro-gramm der Afrikanischen Union, bei dem durch gemein-same Grenzdemarkationslinien Konflikte hinsichtlichdes Grenzverlaufs ausgeräumt werden sollen. Krisenprä-vention betreiben wir aber auch, indem wir die restrik-tive Kontrolle von Kleinwaffen in Westafrika oder derSahelzone fördern.Auch in Mali geht es uns nicht allein um die Ausbil-dung von Soldatinnen und Soldaten. Wir unterstützendas Land bei einer umfassenden Reform des Sicherheits-sektors. Die Kollegen haben ja recht: Niemand, wederdie Bundesverteidigungsministerin noch irgendjemandanderes, hat hier behauptet, dass die Lage dort stabil undsicher ist. Aber wir tun eine ganze Menge, um die Le-bensverhältnisse der Menschen dort konkret zu verbes-sern. Die Reform des Sicherheitssektors spielt dabei eineganz entscheidende Rolle. An dieser Stelle will ich Malials ein positives Beispiel dafür nennen, dass wir unserEngagement mit gutem Grund auf einzelne Länder kon-zentrieren: Langjährige Erfahrung, Vertrautheit mit denVerhältnissen vor Ort und gegenseitiges Vertrauen sind,wie im Fall Mali, eine gute Voraussetzung dafür, dassunser Handeln am Ende von Erfolg gekrönt ist.Staaten und Gesellschaften in Afrika gewinnen vieler-orts an Stabilität. Rechtsstaatlichkeit, der Zugang zu Bil-dung und eine starke Zivilgesellschaft sind hierfür ganz
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Staatsminister Michael Roth
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besonders wichtige Voraussetzungen. Ein funktionieren-der Rechtsstaat trägt maßgeblich dazu bei, die Men-schen- und Bürgerrechte zu schützen und gute wirt-schaftliche und unternehmerische Rahmenbedingungenzu schaffen. Afrikanische Staaten stehen dabei vor ganzunterschiedlichen Problemen und Schwierigkeiten, beideren Bewältigung wir ihnen mit Rat und Tat zur Seitestehen. Ein gutes Beispiel dafür ist der deutsch-tansani-sche Erfahrungsaustausch bei der Ausbildung vonRechtsstaatsvertretern in Daressalam. Diese kleinen Er-folgsgeschichten machen uns Mut. Lassen Sie uns da-rauf in der Zukunft aufbauen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der von mir skiz-zierte umfassende afrikapolitische Ansatz ist Grundlageunserer heutigen Entscheidung. Mit dem Votum desBundestages für eine weitere Beteiligung deutscherStreitkräfte an der EU-geführten AusbildungsmissionEUTM Somalia können wir heute ein wichtiges Signalfür das deutsche und europäische Engagement am Hornvon Afrika senden. Dieses Signal kommt in mehrfacherHinsicht zur rechten Zeit. Seit dem 3. März 2014 gehendie Truppen der Mission AMISOM der AfrikanischenUnion gemeinsam mit Einheiten der somalischen Streit-kräfte gegen die radikalislamistische al-Schabab vor.Den Kern der somalischen Streitkräfte bilden dabei dierund 3 600 somalischen Soldaten, die bis Ende 2013 imRahmen der EU-Mission ausgebildet wurden.Neben dieser militärischen Offensive müssen aberauch weitere nichtmilitärische Schritte folgen. Nur sokann es gelingen, die befreiten Gebiete dauerhaft zu hal-ten und die Lebensbedingungen der dortigen Bevölke-rung nachhaltig zu verbessern. Auch hier gibt es deut-sche Unterstützung, beispielsweise durch KfW-Kreditezur Finanzierung sogenannter Quick-Impact-Projekte.Mit diesen Projekten unterstützen wir die Menschen inder Region schnell und gezielt.Unverzichtbar ist aber auch, dass wir der somalischenZentralregierung aktiv beim Wiederaufbau von hand-lungsfähigen Verwaltungs- und föderalen Strukturen hel-fen. Nur dann kann sie den Stabilisierungsprozess desLandes so gestalten und steuern, wie es ihr in der Über-gangsverfassung von 2012 zugewiesen wird; auch dahilft es nichts, die Lage schöner zu reden, als sie tatsäch-lich ist. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, brauchtdie Zentralregierung aber zwingend einen funktionieren-den Sicherheitsapparat, dessen Strukturen und Fähigkei-ten derzeit nur sehr schwach ausgeprägt sind. An genaudiesem Punkt setzt die Mission EUTM Somalia an. Wirwissen aber sehr genau: Schnelle Erfolge dürfen wirnicht erwarten. Vor uns und unseren Partnern in Somalialiegt eher ein langer Marathonlauf als ein kurzer Sprint.Ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg war es,den Ausbildungsauftrag um Beratungsleistungen für dassomalische Verteidigungsministerium und die militäri-schen Führungsstrukturen zu erweitern. Ebenso richtigist es, die Mission nun schrittweise von Uganda, wo dieAusbildung bislang stattfand, nach Somalia zu verla-gern. Auf diesem Fundament baut die Mission nun vorOrt weiter auf. Unsere somalischen Partner zeigen vielWertschätzung für diese Unterstützung, auch weil diesenun endlich im eigenen Land stattfindet.Klar ist: Für die Mission in Mogadischu ist die Bedro-hungslage ohne Zweifel höher als bislang in Uganda.Daher hat die Bundesregierung die Sicherheitslage – daswill ich hier ganz deutlich sagen – sehr sorgfältig ge-prüft. Auch wenn die Situation in Somalia auf absehbareZeit weiterhin sehr fragil bleibt, ist angesichts der bereitsergriffenen Schutzmaßnahmen eine erneute Beteiligungdeutscher Soldatinnen und Soldaten nicht nur sicher-heitspolitisch richtig, sondern auch vertretbar. Ein Rest-risiko von Rückschlägen muss angesichts der instabilenLage in Somalia allerdings immer einkalkuliert werden.Dessen sind sich die Bundesregierung ebenso wie dieEuropäische Union bewusst.
Wir prüfen die Bedrohungslage fortwährend und passendie Schutzmaßnahmen gegebenenfalls an.Mit zunächst einem permanent vor Ort stationiertenBerater – einem Berater – und der abschnittsweisen Ent-sendung von drei Ausbildern bleibt der Umfang derdeutschen Beteiligung an EUTM Somalia zunächst ver-hältnismäßig bescheiden. Dennoch haben die somalischeRegierung und unsere europäischen Partner dieses wich-tige Signal unserer Unterstützung für Somalia mit Nach-druck begrüßt. Um auch künftig flexibel auf Personalbe-darfsmeldungen der Mission reagieren zu können, siehtdas Mandat eine Obergrenze von maximal 20 Soldatin-nen und Soldaten vor.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das EngagementDeutschlands und der EU zur Unterstützung der Sicher-heitsinstitutionen in Somalia ist eingebettet in einen um-fassenden Ansatz zur Stärkung der Zivilgesellschaft, derstaatlichen Strukturen und der wirtschaftlichen Entwick-lung Somalias. Deutschland setzt mit der erneuten Betei-ligung an der EUTM-Mission in Somalia ein Zeichen –
Herr Staatsminister, darf ich Sie an Ihre Redezeit erin-
nern?
– der Solidarität und der konkreten Hilfe. Unser mili-
tärisches Engagement ist ein bescheidenes, aber notwen-
diges Signal. Deshalb bitte ich Sie alle, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, um Unterstützung.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Ich erteile jetzt
dem Kollegen Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grü-
nen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-ten heute in erster Lesung die Entsendung von 20 deut-
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1842 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Omid Nouripour
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schen Soldatinnen und Soldaten im Rahmen einer EU-Mission mit etwa 75 Soldaten nach Mogadischu. DieseMission gibt es seit 2010; sie wurde bis letztes Jahr inUganda durchgeführt und ist schrittweise nach Mogadi-schu gezogen. Es gibt durchaus – das muss ich zugeste-hen – einige Gründe, die für diese Mission sprechen.Natürlich wird sich die Situation in Somalia nicht stabili-sieren, wenn man nicht hilft, die Staatlichkeit wiederauf-zubauen. Natürlich wird diese Staatlichkeit nicht aufge-baut werden können, wenn man nicht mithilft, dieSicherheitskräfte aufzubauen. Natürlich kann man es perse gut finden, dass es eine integrierte EU-Mission ist.Das ist fast der einzige Punkt, bei dem ich anderer Mei-nung als der Kollege van Aken bin.Ich halte den Umzug nach Mogadischu an sich ersteinmal für ein gutes Signal, weil sich die Situation inMogadischu in den letzten Jahren tatsächlich verbesserthat. Die EU hat ja eine zivile Repräsentanz in der Stadtaufgebaut. Das ist ein Zeichen, an dem man erkennenkann, dass es vorangeht in der Stadt. Deswegen ist derUmzug an sich richtig.Aber es gibt auch einiges, was uns bisher völligschleierhaft ist. Es ist vorhin beschrieben worden: Bisvor drei Monaten war die Sicherheitslage so, dass dieDeutschen nicht dorthin konnten. Wir wollen eigentlichimmer noch eine Erklärung der Bundesregierung, wassich verändert hat. Wir haben im Ausschuss nachgefragt.Die Antwort, die wir bekommen haben, war: Eigentlichhat sich die Sicherheitslage nicht verändert.Wir würden gerne wissen – das ist der entscheidendePunkt für uns Grüne –, wie wirksam die Ausbildungs-mission bisher war. Darauf gibt es bislang keine wirkli-chen Antworten. Wenn man fragt, wie erfolgreich siedenn war, ist die Antwort der Bundesregierung: Sie warerfolgreich. Wenn man nachfragt, worauf diese Behaup-tung sich stützt, wird gesagt: Es gibt internationale Be-obachter, die das genauso sehen. Wenn man fragt, wel-che das denn waren, bekommt man einfach keineAntwort. Das ist nicht ausreichend.
Frau Ministerin, Sie haben zumindest mich gerade zu-tiefst verwirrt. Sie haben mir das Gefühl gegeben, dasses relativ bekannt und klar ist, wo zum Beispiel die Trai-ner, die von uns ausgebildet werden, danach zum Einsatzkommen, wen sie ausbilden. Diesbezüglich bin ich aufkonkrete Antworten sehr gespannt. Bisher haben wir da-rauf nämlich keine Antwort bekommen. Wir lesen undhören immer nur, dass es eine immense Zahl von Deser-teuren gibt. Das Thema, dass Waffen dort eins zu einsweitergegeben werden, ist vom Kollegen van Aken völ-lig zu Recht benannt worden. Es gibt auch viele Berichtedarüber, dass die Mission bisher eigentlich nur einen ein-zigen Clan ausgebildet hat. Das ist alles andere als beru-higend.Wir wissen auch nicht, was eigentlich mit den Leuten,die nicht desertieren, passiert, wenn sie mit der Ausbil-dung fertig sind. Bekommen sie einen Sold? Woher be-kommen sie einen Sold? Wie werden sie eigentlich un-tergebracht? Gibt es so etwas wie ein Monitoring zudem, was sie dann tun? Gibt es so etwas wie ein Rechts-staats- oder Menschenrechtsmonitoring für die Arbeitderjenigen, die wir ausbilden? Das alles fehlt komplett.Es gibt kaum Antworten. Das bedeutet: Es gibt vielegute Gründe, kritisch hinzuschauen.Eines hat mich jetzt am meisten irritiert, Herr Staats-minister. Die Frau Ministerin hat ja völlig zu Recht ge-sagt: Das Militärische reicht nicht. Wir brauchen einpolitisches Konzept, und das muss eingebettet sein. – Siehaben gerade damit geschlossen, dass das Militärischenun in das zivile und politische Konzept eingebettet sei,nur haben Sie es nicht beschrieben. Ich habe das nochnicht verstanden.
Ich habe noch nicht verstanden, wo jetzt der politischeAnsatz ist und was wir da eigentlich genau tun wollen.Sie sagen lediglich, dass es ein Konzept gibt.Das, was uns bisher vorliegt, ist relativ rätselhaft.Wenn das so bleibt, wie es jetzt vorliegt – das ist ja dieerste Lesung; wir haben noch die Ausschussberatungenvor uns, und da werden wir uns das sehr genau an-schauen –, kann ich meiner Fraktion beim bestem Willennicht empfehlen, diesem Mandat zuzustimmen. Notwen-dig ist, dass wir wirklich Antworten bekommen, dass Sieuns eine Evaluation dessen vorlegen, was bisher passiertist, dass uns tatsächlich plausibel erklärt wird, was mitdenjenigen passiert, die wir ausgebildet haben, und dassder Vorwurf, die Waffen würden eins zu eins weitergege-ben, tatsächlich entkräftet wird. Alles, was ich mir bisherinternational angeschaut habe, alle Berichte und Repor-tagen, die ich gelesen habe, sprechen eine andere Spra-che; sie sprechen nicht dafür, dass es Ihnen möglich seinwird, das in der nächsten Sitzungswoche in den Aus-schüssen zu erklären. Aber wir lassen uns gerne überra-schen.
Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. – Ich erteile
jetzt das Wort dem Kollegen Florian Hahn, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle-gen! Wir wissen, dass die Fraktion Die Linke bisher je-den Auslandseinsatz der Bundeswehr dogmatisch abge-lehnt hat und auch in Zukunft ablehnen wird,
egal ob Atalanta, KFOR, Active Endeavour oder andere.Es ist nur immer wieder spannend, mitunter auch absurd,welche Argumente oft krampfhaft gesucht werden, da-mit nicht auffällt, dass es Ihnen eigentlich nur um denErhalt dieses Dogmas geht.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1843
Florian Hahn
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Im Vorfeld der heutigen Debatte zur Beteiligung be-waffneter deutscher Soldaten an der EU-geführten Aus-bildungsmission EUTM Somalia konnte man dazu schoneiniges von Ihnen lesen. Der Kollege Liebich beispiels-weise gab via Berliner Zeitung zum Besten: Deutschlandsoll sich stärker in der zivilen Konfliktprävention enga-gieren,
statt sich in neue militärische Abenteuer in Somalia undanderen Ländern zu stürzen.
Der Kollege Liebich hat hier offensichtlich ein paarDinge durcheinandergebracht: In Somalia geht es wederum eine neue Mission noch um ein Abenteuer. DieseMission besteht seit 2010. Bis Ende 2013 wurden3 600 somalische Sicherheitskräfte ausgebildet, die jetztden Kern der somalischen Armee bilden. Das ist im Üb-rigen ein sichtbares Zeichen des Erfolgs der Mission.Von einer neuen Mission oder einem Abenteuer kannalso nicht gesprochen werden. Vielmehr geht es umNachhaltigkeit. Deshalb ist es gut, wenn die Sicherheits-lage es zulässt, dass wir uns dort weiter engagieren kön-nen.Somalia ist leider ein Beispiel für ein Land, das drin-gend Sicherheitsstrukturen braucht, damit zivile Hilfeüberhaupt möglich ist. Die Ärzte ohne Grenzen bei-spielsweise haben im August 2013 ihr Engagement inSomalia eingestellt, weil es in diesem Land einfach zugefährlich ist. Für Konfliktprävention à la Linke ist eshier zu spät. Oder glauben Sie wirklich ernsthaft, dasssich Mitglieder der Al-Schabab-Miliz mit Mitarbeiternder Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einem Antiaggres-sionstraining zusammensetzen würden?
Der Kollege Liebich von der Linken vermutet lautBerliner Zeitung außerdem, dass die Bundesregierungseit Wochen an der Umsetzung einer politischen Doktrinfür mehr Bundeswehr in Afrika arbeitet, ohne dass derDeutsche Bundestag darüber informiert wird. Ich darfdem Kollegen versichern: Die Tatsache, dass er davonnichts weiß, ist einfach dem Umstand geschuldet, dass esdiese verschwörerische Doktrin gar nicht gibt.
Herr Kollege Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen van Aken?
Herr von Aken kann noch kurz zuhören und dann
gerne eine Intervention machen.
Die Bundesregierung sagt sehr offen und transparent,
was sie vorhat: Sie will sich für Afrika noch stärker ein-
setzen als bisher.
Deshalb wurden die Entwicklungshilfemittel für diesen
Kontinent unter dem neuen Minister Gerd Müller bereits
um 100 Millionen Euro aufgestockt. An dieser Stelle
möchte ich dem Minister übrigens danken, dass er sich
bereits mehrfach in seiner kurzen Amtszeit vor Ort ein
Bild gemacht hat – wie kürzlich bei seinem Besuch in
Mali oder in der Zentralafrikanischen Republik.
Wir geben mehr als 50 Prozent unserer Entwicklungs-
hilfe für Afrika aus. Um aber wirklich etwas erreichen
zu können, braucht es den vernetzten Ansatz von militä-
rischer, diplomatischer, wirtschaftlicher und ziviler Un-
terstützung. Das haben nicht nur unsere Verteidigungs-
ministerin, Frau von der Leyen, und Staatsminister Roth
in dieser Debatte richtigerweise zum Ausdruck gebracht,
sondern auch die Bundeskanzlerin bei ihrer Regierungs-
erklärung heute morgen. Wir wollen die afrikanischen
Länder ertüchtigen, sich selbst zu helfen. Dabei unter-
stützen wir sie, wir beraten sie, und wir bilden aus. Für
mich ist wichtig: Dieser Einsatz macht Sinn, weil er ge-
nau dieser Ertüchtigungsstrategie Rechnung trägt. Mo-
gadischu ist gefährlich; das wissen wir. Unsere Soldaten
werden ihre Arbeit aber in einem stark geschützten Be-
reich leisten können. Dennoch wird es nicht ungefähr-
lich sein. Wir sollten trotzdem oder gerade deshalb den
Einsatz fortführen.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Hahn. – Als Nächster hat
das Wort der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutierenheute über die Verlängerung des Einsatzmandats für eineTrainingsmission in Somalia, am Horn von Afrika. So-malia ist ein gescheiterter Staat mit einer geschundenenBevölkerung. Seit 1991, seit dem Sturz des autoritärenRegimes von Siyad Barre, gibt es dort keine funktionie-rende Regierung mehr, geschweige denn eine legiti-mierte. Flut- und Hungerkatastrophen, Dürre und Bür-gerkrieg haben dafür gesorgt, dass eine ausreichendeVersorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Trink-wasser und Medikamenten nicht möglich ist. All dassind die Rahmenbedingungen, angesichts derer wir übereine Verlängerung des Mandats diskutieren.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir legenunser Augenmerk in diesen Tagen verstärkt auf dieKrim, die Ukraine und Russland. Das verstellt dennochnicht den Blick dafür, dass die größten sicherheitspoliti-schen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht vonden starken und großen Ländern dieser Erde ausgehenwerden, sondern von den schwachen und fragilen.
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1844 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Thorsten Frei
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Genauso ist es auch in Somalia. Dort sehen wir, wel-che Auswirkungen das hat und dass sie nicht auf die en-gere Region begrenzt sind: Der globale Handel wirddurch die Piraterie erschwert, die Menschenrechte wer-den mit Füßen getreten, Rückzugs- und Trainingsräumefür Terroristen entstehen, und die Menschen dort könnennicht so leben, wie es ihnen zukommt.Deshalb, glaube ich, ist es richtig, dass die Bundesre-gierung in der vergangenen Legislaturperiode eine abge-stimmte Handlungsrichtlinie dafür entwickelt hat, wieman mit fragilen Staaten umgehen sollte. Wenn man sichdas genauer anschaut, dann sieht man: Das ist eine poli-tische Blaupause für die politischen Herausforderungen,die uns in Somalia begegnen. Es geht zum Beispiel umdie Multilateralität. Ich denke in diesem Zusammenhangdaran, dass wir auf der Grundlage einer UN-Resolutionarbeiten, dass wir im Rahmen einer EU-Mission die Las-ten auf breite und viele Schultern verteilen und dass wirauf Einladung der somalischen Regierung am Horn vonAfrika sind.Wenn man darüber hinaus schaut, wie es mit derWirksamkeit, dem Mehrwert und der Verhältnismäßig-keit aussieht, dann erkennt man, dass auch unter diesemSummenstrich ein positives Ergebnis steht. Erinnern Siesich etwa daran, dass es bei allen Schwierigkeiten gelun-gen ist, mit der seit 2012 amtierenden Regierung auf ei-nen anderen Pfad der Entwicklung zu kommen, oderauch daran, dass es trotz der Anschläge – auch in denletzten Tagen wieder – gelungen ist, für mehr Sicherheitzu sorgen und die al-Shabab-Milizen zurückzudrängen.Daran erkennt man, dass man hier auf einem guten Wegist, der weitergegangen werden muss.Das ist eine in höchstem Maße effektive Mission.Denken Sie zum Beispiel daran, dass seit 2010 ein klei-nes Kontingent von Soldaten 3 600 somalische Soldatenausgebildet hat. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass esdabei nicht nur um militärische Grundfertigkeiten underweiterte Führungsaufgaben, sondern eben auch um dieVermittlung humanitärer Werte – Menschenrechte,Rechte von Frauen und Kindern – ging. Ich glaube, dassunsere Bundeswehr gerade dort eine besondere Kompe-tenz hat, weil sie das Konzept der Inneren Führung inden vergangenen Jahrzehnten par excellence gelebt unddamit gezeigt hat, dass sich die Streitkräfte als Teil undAusdruck des staatlichen Gewaltmonopols genau da-durch immun gegen schwierige und gefährliche Tenden-zen machen können.
Herr Kollege Frei, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Nouripour?
Herr Präsident, ich würde meine Rede gerne kurz zu
Ende bringen, und dann kann der Herr Kollege ja darauf
eingehen.
Wir haben gehört, dass dieser Einsatz kein Kampfein-
satz ist, sondern im Rahmen der vernetzten Sicherheit ei-
nen Schwerpunkt dafür bildet, staatliche Strukturen am
Horn von Afrika wieder zu etablieren. Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir dort jetzt nicht kurz vor Ende ausstei-
gen, sondern den langen Weg, den wir noch vor uns ha-
ben, konsequent weitergehen.
Die Frau Ministerin hat auf das Wahljahr 2016 und
auf die für die Zukunft des Landes so schwierige Weg-
strecke in den nächsten zwei Jahren hingewiesen. Das ist
die einzige Möglichkeit – ich habe auch von den Linken
und den Grünen keine Alternative zu diesem Weg
gehört –, zu Staatlichkeit und zum Aufbau originärer
Strukturen im Land zu kommen.
Weil es in fragilen Staaten letztlich immer wieder zu
einem Zyklus von Gewaltphänomenen kommt, wird der
Erfolg auch von Langfristigkeit abhängen. Aus diesem
Grunde, so glaube ich, müssen wir dort im Rahmen einer
kleinen, aber sehr wirkungsvollen Mission mithelfen.
Deshalb werbe ich um die Zustimmung dieses Hauses.
Vielen Dank.
Herr Kollege Frei, Sie sind der letzte Debattenrednergewesen. Ich bedanke mich. Wenn keine Kurzinterven-tion mehr gewünscht wird,
dann möchte ich die Aussprache schließen.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/857 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelSchlecht, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEHöhere Löhne in den Tarifverhandlungen fürdie Beschäftigten im öffentlichen Dienst desBundes und der Kommunen absichernDrucksache 18/795Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und SozialesHaushaltsauschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dasWort der Kollegin Sabine Zimmermann, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Der Bundesinnenminister Thomas deMaizière, der bei den Tarifverhandlungen im öffentli-chen Dienst die Bundesregierung als Arbeitgeber ver-tritt, bezeichnet die Forderungen der Gewerkschaften als– ich zitiere – „maßlos überzogen“.Was ist denn so „maßlos überzogen“? Die Gewerk-schaften fordern, die Entgelte um einen Sockelbetragvon 100 Euro sowie um 3,5 Prozent zu erhöhen. Ist daswirklich maßlos? Zum Vergleich: Derselbe Thomas deMaizière hat hier am 21. Februar dieses Jahres dafür ge-stimmt, dass die Bezüge der Bundestagsabgeordnetenum 830 Euro auf 9 082 Euro im Monat ansteigen sollen.
Das ist eine Erhöhung von 10 Prozent. Ich frage mich,ob der Bundesinnenminister diese Erhöhung für maßvollgehalten hat.
Noch etwas: Damals war es für Union und SPD keinProblem, diese Erhöhung in einer Woche durch das Par-lament zu jagen. Den Beschäftigten im öffentlichenDienst haben Sie bis heute noch nicht einmal ein Ange-bot vorgelegt. Ich sage Ihnen: Sie genehmigen sich hierim Haus Schampus, und den Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern im öffentlichen Dienst bieten Sie nichteinmal eine Flasche Selters an.
Das ist ungerecht.
Dabei sind die Forderungen der Gewerkschaftenmehr als begründet. Wir haben hier in einzelnen Berei-chen eine beschämende Entwicklung. In den zurücklie-genden Jahren hat sich die Zahl der Beschäftigten in denuntersten Entgeltgruppen verfünffacht. Ich wiederhole:verfünffacht! Hier liegt der Bruttomonatslohn einesVollzeitbeschäftigten im Schnitt bei 1 540 Euro und da-mit unterhalb der Niedriglohnschwelle. Für den öffentli-chen Dienst eigentlich beschämend.
Es geht darüber hinaus darum, dass der öffentlicheDienst endlich wieder Anschluss an die allgemeine Ein-kommensentwicklung findet. Wenn diejenigen, die unsmit dem Bus zur Arbeit fahren, die unsere Kinder be-treuen, die unsere Eltern pflegen oder unseren Müll weg-karren, um höhere Löhne streiten, dann geht es auch da-rum, dass man über den Wert ihrer Arbeit diskutiert.
Da sagen wir als Linke klar: Die Bundesregierung mussim Arbeitgeberlager des öffentlichen Dienstes ein klaresZeichen für kräftige Lohnerhöhungen setzen. Dafür set-zen wir uns ein.
Als zweiten Punkt fordern die Gewerkschaften, diefeste Übernahme der Auszubildenden tarifvertraglich zuvereinbaren. Auch das ist absolut nachvollziehbar. Imöffentlichen Dienst zu arbeiten, bedeutet schon heutelängst nicht mehr, dass man einen sicheren Job hat.Insgesamt sind über 400 000 Kolleginnen und Kollegenbefristet beschäftigt. Bei den jüngeren Beschäftigten bis30 Jahre hat inzwischen bereits jeder Vierte bis Fünfteeinen befristeten Arbeitsvertrag. Das ist unerträglich.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,ich verstehe nicht, was an diesen Forderungen maßlossein soll. Sollte es nicht selbstverständlich sein, dass imöffentlichen Dienst und natürlich auch anderswo guteLöhne gezahlt werden und die Menschen in sicherenArbeitsverhältnissen arbeiten? In den zurückliegendenJahren wurde im öffentlichen Dienst Raubbau betrieben.Darunter leiden nicht nur die Beschäftigten, sondernauch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Hierist ein Kurswechsel dringend notwendig. Es ist klar, dassein guter öffentlicher Dienst nicht zum Nulltarif zu ha-ben ist.Von den Arbeitgebern war in den letzten Wochenimmer wieder dieselbe Leier zu hören: Es ist kein Geldda. Die Kassen sind leer. Viele kommunale Haushaltedrücken enorme Schulden.Die Arbeitgeber sagen aber nicht, dass seit Jahren dieSteuereinnahmen wieder steigen. Bis 2018 rechnetdie Bundesregierung sogar mit Mehreinnahmen von109 Milliarden Euro. Sie verschweigen auch, dass erstdurch Ihre Steuersenkungen für Reiche und Unterneh-men – von SPD, CDU/CSU; die Grünen waren auch da-bei; die FDP gibt es nicht mehr – enorme Löcher in dieöffentlichen Haushalte gerissen worden sind. Insgesamt484 Milliarden Euro weniger haben Bund, Länder undGemeinden durch die massiven Steuersenkungen dervergangenen 15 Jahre eingenommen. Das hat das Institutfür Makroökonomie und Konjunkturforschung derHans-Böckler-Stiftung errechnet. Ich wiederhole dieseZahl: 484 Milliarden Euro sind einfach so verschütt-gegangen.Deshalb sagen wir: Niemand kann ernsthaft erwarten,dass Busfahrer, Müllwerker, Erzieherinnen oder Alten-pflegerinnen die Zeche für eine verfehlte Haushaltspoli-tik zahlen. Nein, statt Haushaltskonsolidierung auf demRücken der Beschäftigten zu betreiben und Raubbau amöffentlichen Dienst zu begehen, ist Umverteilung dasGebot der Stunde.
Allein eine fünfprozentige Vermögensteuer könntejährlich über 80 Milliarden Euro in die öffentlichen Kas-sen spülen. Für die Vermögensteuer haben Sie, liebeKolleginnen und Kollegen der SPD, im Wahlkampf nochgestritten und gekämpft. Doch für die Macht haben Siedas leider aufgegeben.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,in den letzten Jahren sind die Reallöhne in Deutschlandwieder gesunken. Wir brauchen im Jahr 2014 eineLohnoffensive in Deutschland. Die Tarifrunde im öffent-lichen Dienst kann hier ein Startschuss sein. Legen Sie
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Sabine Zimmermann
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deshalb ein klares Bekenntnis für gute Löhne in einemguten öffentlichen Dienst ab! Nehmen Sie endlich dieReichen und die Unternehmen in die Pflicht! Setzen Siesich für höhere Löhne und sichere Jobs im öffentlichenDienst und anderswo ein!Tausende Beschäftigte gehen mit ihren Streiks als gu-tes Beispiel voran. Ihnen gilt unsere Solidarität, auch dieder Linken.Danke schön.
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Oswin
Veith, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Sie werden sicherlich verstehen, dass ich es für dieCDU/CSU nicht gutheißen kann, dass wir uns hier mitdem vorliegenden Antrag in die heiße Phase der laufen-den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst einmi-schen. Doch wen wundert das bei diesem Antragsteller?Die Linke zeigt damit wieder einmal nur ihr Unvermö-gen, sich aus Prozessen herauszuhalten, die sie eigent-lich nichts angehen.
Ich sage es hier einmal vornehm: Einfach mal schwei-gen! Zu Hause würde ich sagen: Einfach mal die Klappehalten!
Tarifverhandlungen sind immer auch Ausdruck dergelebten Tarifautonomie, so wie es in unserem Grundge-setz geschützt ist und zum Grundpfeiler unserer sozialenMarktwirtschaft gehört. Und das ist auch gut so, meinesehr verehrten Damen und Herren.
Wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten ausge-zeichnete Erfahrungen damit gesammelt, dass nicht diePolitik die Löhne bestimmt. Daher finde ich es klug,dass die Tarifhoheit bei den Tarifpartnern bleibt und wiruns nicht einmischen. Das sollte auch die Linke endlichbeherzigen.
Wir bleiben bei unserem 65 Jahre alten Erfolgsmodellder Tarifautonomie. Diese Freiheit hat sich in Krisen-zeiten bewährt und gezeigt, wie gut die Tarifpartner zumWohle unseres Landes damit umgehen. Sie von denLinken wollen doch mit Ihrem Antrag nichts anderes, alsdas grundgesetzlich verbriefte Tarifrecht auszuhebeln,
über den Kopf der Tarifpartner hinweg zu entscheidenund dann noch das Ergebnis zu diktieren. Das kann undwird aber niemals unsere Zustimmung finden.
An dieser Stelle frage ich mich, ob Ihre eigenen Leutein den Ländern diesen Antrag überhaupt unterstützenwürden. So kann ich mir beim besten Willen nicht vor-stellen, dass sich Ihr Finanzminister in Brandenburg da-rüber freuen würde, in den Tarifverhandlungen entmün-digt zu werden, dann aber das Ergebnis finanzieren zumüssen. Genau hier, meine Damen und Herren von denLinken, besteht der Unterschied zwischen Ihnen unduns. Während Sie hier reine Schaufensteranträge formu-lieren, ist und bleibt die Union der verlässliche Partnerder Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
Wir haben die Rahmenbedingungen in der vergange-nen Legislaturperiode deutlich verbessert. Zweimal wur-den die Tarifabschlüsse inhaltsgleich auf die Bundesbe-amten übertragen.
Seit 2012 wird die Sonderzahlung – auch als Weih-nachtsgeld bekannt – wieder gewährt.
Mit dem Fachkräftegewinnungsgesetz haben wir eineReihe von positiven Maßnahmen auf den Weg gebracht.Wir haben den Eintritt in den Ruhestand flexibler gestal-tet, gleiche Rechte für Lebenspartnerschaften und dieFamilienpflegezeit im Beamtenrecht umgesetzt. Wir ha-ben die Vergütung von Professoren verbessert, das Leis-tungsprinzip gestärkt und die Portabilität von Versor-gungsanwartschaften geschaffen. Ich könnte diese Listenoch fortsetzen.
Das zeigt: Wir stellen keine Schauanträge wie Sie vonden Linken. Die Union hat geliefert, und das zum Wohleder Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und ihrer Fa-milien.
Fragen darf man auch einmal: Welche Anträge habenSie von den Linken eigentlich in der letzten Legislatur-periode eingebracht, um den öffentlichen Dienst und dasBeamtentum zu stärken und voranzubringen? Die Ant-wort lautet: Keinen einzigen!
Ich habe mein Büro recherchieren lassen, ob Sie wenigs-tens auf kommunaler Ebene tätig geworden sind, ob alsoIhre Bürgermeister und Landräte mit anderen Verhand-lungspositionen in die Tarifverhandlungen gegangen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1847
Oswin Veith
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sind. Die Antwort lautet: Wieder nichts! Fehlanzeigeauch hier!Wenn Sie es mit Ihrem Antrag tatsächlich ernst mein-ten, könnten Sie wenigstens da, wo Sie regieren – ichglaube, das ist nur noch im Land Brandenburg der Fall –,mit gutem Beispiel vorangehen. Aber auch hier ist keinbesonderes Engagement in der Sache erkennbar.
Es kommt dort noch viel schlimmer für die Beschäf-tigen im öffentlichen Dienst. Vor kurzem verhängte IhrJustizminister sogar einen Einstellungs- und Beförde-rungsstopp. Der Grund: Der Haushalt seiner Behörde seierschöpft. Gleiches gilt für die Vergütungen. Ein Blickauf die Besoldungstabelle und der Vergleich zeigen: ImBundestag fordern Sie viel. Wo Sie aber selbst in derVerantwortung stehen, kommt bei den Beschäftigten undihren Familien nicht viel an.
Das passt nicht zusammen, und das wissen die Ange-stellten und Beamten. Deshalb muss diese Doppel-züngigkeit der Linken hier entlarvt werden. Alle Jahrewieder stellen Sie also pünktlich zum Start der Tarifver-handlungen die Tarifautonomie infrage. Ich sage Ihnen:Das ist plumper Populismus und hilft keiner einzigenAngestellten und keinem einzigen Beamten in unseremLand.
Dann enthält Ihr Antrag eine zweite Forderung– diese dürfte im Hohen Hause wenig umstritten sein –:Die Kommunen sollen finanziell entlastet werden. –Diese Forderung ist allerdings längst überholt, weil wirgenau das bereits im vergangenen Jahr im Koalitionsver-trag vereinbart haben.
Wir setzen damit unsere Politik fort und entlasten dieKommunen. So wird die dritte Stufe der Grundsicherungim Alter von etwa 1,1 Milliarden Euro dieses Jahr wirk-sam. Von 2012 bis 2017 ist das eine Gesamtentlastungvon 25 Milliarden Euro. Das, denke ich, kann sich sehenlassen.
Bei der Eingliederungshilfe sind weitere Entlastungen inMilliardenhöhe geplant. Wir entlasten ferner beim lau-fenden Betrieb für die Kinderbetreuung.Von den im Koalitionsvertrag vorgesehenen prioritä-ren Maßnahmen im Umfang von 23 Milliarden Eurowird gut die Hälfte der mittelbaren oder unmittelbarenEntlastung den Ländern und Kommunen zugute kom-men. Kurz und gut: Insgesamt stellt die Große Koalitiondamit einen zweistelligen Milliardenbetrag zur finanziel-len Entlastung unserer Länder, Städte und Gemeindenzur Verfügung. Ich finde, das ist eine gute Botschaft fürunsere Kommunen und sollte auch bei der Fraktion DieLinke Anerkennung finden.
Daher fasse ich zusammen: Öffentliche Dienstleistun-gen in Deutschland haben eine hohe Qualität. Das ist nurmöglich, weil wir einen leistungsfähigen und verlässli-chen öffentlichen Dienst in unserem Land haben, aufden wir stolz sein können. Damit das so bleibt, müssenwir uns seriös mit der Thematik auseinandersetzen. Se-riös heißt für mich dabei aber, an die Linke gerichtet:Hören Sie auf mit dem Politklamauk, akzeptieren Sieendlich die Tarifautonomie, nehmen Sie den öffentlichenDienst ernst, und ersparen Sie uns künftig diese fruchtlo-sen Debatten!Danke schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Veith. Das war Ihre ersteRede hier im Hohen Hause. Ich beglückwünsche Siedazu und wünsche Ihnen weitere erfolgreiche Reden hierim Deutschen Bundestag.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Eigentlich sollten Tarifverhandlun-gen ohne politische Begleitmusik aus dem Bundestaggeführt werden, aber in diesem Fall geht es konkret umden Bund, Herr Veith,
und der ist mitverantwortlich für die Finanzsituation derKommunen. Also möchte ich der Bundesregierung fünfGedanken mit auf den Verhandlungsweg geben.Erstens. Bundesinnenminister de Maizière hat dieVerdi-Forderungen als „maßlos überzogen“ bezeichnet.Die Kollegin Zimmermann hat es gerade schon ange-sprochen. Wenn parallel dazu der Bundestag die Diätender Abgeordneten um satte 10 Prozent erhöht, dannmuss sich niemand wundern, wenn dieser Vergleich inden Verhandlungen immer wieder eine Rolle spielt. WirGrünen haben gegen die Diätenerhöhung gestimmt;denn wir bewegen uns als Parlament nicht im luftleerenRaum. 3,5 Prozent sind angeblich maßlos überzogen,hier im Bundestag sind 10 Prozent unproblematisch. Daspasst einfach nicht zusammen.
Ich wünsche dem Innenminister viel Spaß bei den Ver-handlungen.Zweitens. Die Löhne im öffentlichen Dienst sind zwi-schen 2000 und 2009 preisbereinigt gesunken. Wenn derBund und die Kommunen jetzt immer nur mit den in den
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1848 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Beate Müller-Gemmeke
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letzten Jahren gestiegenen Löhnen argumentieren, dannist das nicht redlich; denn das ignoriert den Nachholbe-darf. Deshalb verstehe ich schon, dass Verdi einen So-ckelbetrag von 100 Euro für alle fordert; denn das stärktgerade die unteren und die mittleren Einkommensgrup-pen wie beispielsweise eine Krankenschwester, die ge-rade einmal 2 100 Euro verdient. Die Sockelforderungist also gerecht, und sie ist im Übrigen auch richtig; dennmit Blick auf den Fachkräftemangel müssen diese ge-sellschaftlich relevanten Berufsgruppen attraktiv blei-ben, und Wertschätzung drückt sich nun einmal auchüber den Lohn aus.
Drittens. Verdi fordert zudem die Übernahme derAzubis nach der Ausbildung. Verdi kritisiert auch diesteigende Zahl der Befristungen ohne sachlichen Grundund möchte, dass die Arbeitgeber zukünftig darauf ver-zichten. Diese Forderungen kann ich aus ganzem Herzenunterschreiben.
Der Berufseinstieg von jungen Menschen ist heute häu-fig lang und auch prekär. Mit Blick auf den demografi-schen Wandel müsste es doch eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit sein, dass junge Menschen nach einerBerufsausbildung eine Perspektive erhalten. Aber derTrend zur Befristung trifft insbesondere junge Men-schen. Lebensplanung ist ein Begriff, über den jungeMenschen teilweise nur noch müde lächeln können.Deshalb wollen wir die sachgrundlose Befristung ab-schaffen. Sie, die Regierungsfraktionen, haben sich beiden Befristungen auf nichts einigen können. Das werdeich immer und immer wieder kritisieren.
Viertens. Morgen ist übrigens Equal Pay Day. Frauenverdienen immer noch 22 Prozent weniger als Männer.
Wenn wir heute schon über Tarifverhandlungen diskutie-ren, dann nutze ich natürlich die Gelegenheit und for-dere, dass die Tarifparteien überprüfen, ob die Tarifver-träge Entgeltdiskriminierungen enthalten. Der Grundsatz„Gleicher Lohn für gleiche und insbesondere gleichwer-tige Arbeit“ muss endlich durchgesetzt werden.
Die bestehende Lohnlücke muss im 21. Jahrhundert end-lich der Vergangenheit angehören; denn Frauen verdie-nen mehr.
Fünftens. Die Kommunen und deren Beschäftigtedürfen nicht weiter unter einer verfehlten Finanzpolitikleiden. Sie müssen so ausgestattet sein, dass sie ihre Auf-gaben für die Menschen vor Ort bewältigen und ihre Be-schäftigten ordentlich bezahlen können. Die Kommunenmüssen also endlich im Mittelpunkt der Bundespolitikstehen. Mit den leeren Versprechungen muss endlichSchluss sein.
– Na ja, es steht viel im Koalitionsvertrag. Man wird se-hen, was tatsächlich umgesetzt wird. Momentan mussman wirklich Sorge haben, dass bei den Kommunen fastnichts ankommt.
Natürlich kosten solche Tarifverhandlungen schluss-endlich auch Geld. Wenn die Linke jetzt einfach einmaleinen 6 Milliarden Euro teuren Blankoscheck ausstellt,dann macht sie sich die Haushaltspolitik zu einfach. Siehätte in den Antrag schon hineinschreiben müssen, wosie das Geld eigentlich herbekommen will. Die Verhand-lungspartner müssen sich nicht nur einigen, sondern dieBundesregierung muss natürlich auch für die notwen-dige Finanzierung sorgen.Kurzum: Gutes Geld für gute Arbeit im öffentlichenDienst, und zwar für Männer und Frauen, finanziell gutausgestattete Kommunen und ein tragfähiger Haushalt,das sind die Hausaufgaben, die Sie, die Regierungsfrak-tionen, zu erledigen haben. Wir werden Sie daran mes-sen.Vielen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Mahmut Özdemir, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Während wir uns heute mit dem Antrag der Fraktion DieLinke befassen, wurde die zweite Tarifverhandlungs-runde zwischen den Beschäftigten im öffentlichenDienst des Bundes und der Kommunen und deren Ar-beitgebern eingeläutet. Das – und eben nicht der Deut-sche Bundestag – sind im Übrigen die wahren Verant-wortlichen, die den Tarifabschluss am Ende vereinbaren.Es handelt sich hierbei um Verantwortliche, die sich aufGrundsätze wie Tarifpartnerschaft und Tarifautonomienicht zuletzt im Schutze von Art. 9 Grundgesetz berufenkönnen, auf Grundsätze, die tief im Demokratie- und So-zialstaatsprinzip wurzeln.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1849
Mahmut Özdemir
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– Das kann ich Ihnen an einer anderen Stelle gern nocheinmal erläutern, wenn Sie es möchten.Diese Vorüberlegungen führen mich zu Beginn mei-ner Rede direkt zu der Frage, was dieser Antrag ei-gentlich bezwecken mag. Dieser Antrag enthält keinehaushalterische Würdigung, keinen Vorschlag zur Ge-genfinanzierung einer Tarifanpassung, drischt aber mun-ter Phrasen von verteilungsneutralen Spielräumen undsuggeriert, dass der öffentliche Dienst nie gewürdigtwird. Er enthält im Übrigen ein Zahlenwerk, dessenAnalyse sich nur der Fraktion Die Linke erschließt, miraber nicht.
Schauen Sie sich doch einfach eine Übersicht über dieTarifabschlüsse von 1990 bis heute an. Die Würdigungdes öffentlichen Dienstes basiert durch die Bank auf ei-ner insgesamt ausgewogenen und kompromissfreudigenKooperation zwischen dem Bundesministerium des In-nern und den Kommunen auf der einen Seite und denBeschäftigten des öffentlichen Dienstes auf der anderenSeite. Ich stufe den Antrag daher als untauglichen Ver-such ein, auf Kosten der Beschäftigten des öffentlichenDienstes eine Generalabrechnung mit der Wirtschafts-und Finanzpolitik der vergangenen Jahre zu betreiben.Damit ist den Tarifparteien von dieser Stelle aus über-haupt nicht geholfen, wohl aber mit der Wahrnehmungparlamentarischer Pflichten, liebe Kolleginnen und Kol-legen. So zeigen wir Sozialdemokraten Haltung und So-lidarität mit dem öffentlichen Dienst.
– Ja, ist ja gut.Ich stimme Ihnen bei der Bestandsaufnahme sogar inTeilen zu: Der öffentliche Dienst ist unverzichtbar, ge-rade weil wir als Abgeordnete Aufgaben schaffen, diehoheitlich und im weitesten Sinne öffentlich zu erledi-gen sind. Der öffentliche Dienst hat in vorherigen Tarif-runden schmerzhafte, aber für unser Gemeinwesen auchnotwendige Opfer erbracht; das zieht keiner in Zweifel.Diese Opfer nötigen mir den höchsten Respekt ab.Aber die Wertschätzung eines Beschäftigten drücktsich nicht nur in Geld aus. Keiner von uns in diesemHause ist – das unterstelle ich einfach einmal – Abgeord-neter wegen des Geldes. Kein Polizeibeamter trägt seineUniform wegen des Geldes. Keine Erzieherin und keinErzieher geht jeden Tag in die Kita nur wegen des Gel-des.
– Ich habe Ihnen auch zugehört. Ich weiß, dass das fürSie schmerzhaft ist.
Ich möchte mit dieser idealistischen Betrachtungs-weise gar nicht ablenken, aber das Augenmerk daraufrichten, dass ein Beruf zwar die wirtschaftliche Lebens-grundlage darstellt, aber ohne akzeptable Rahmenbedin-gungen überhaupt nichts wert ist. Die Kollegen von derMüllabfuhr, die jeden Morgen um 4.30 Uhr ans Werk ge-hen, die Kollegen von Bus und Bahn, die Taktungen hal-ten, die Erzieher, die auch mal ein paar Minuten dran-hängen, weil die Eltern noch im Stau stehen,
alle diese Beschäftigten können sich unserer Solidaritätjederzeit sicher sein.
Da besteht überhaupt kein Dissens in diesem Haus. Füh-ren Sie einen solchen doch nicht künstlich herbei!Um das Ergebnis vorwegzunehmen und den Antragdamit weitestgehend zu erledigen: Es wird am Ende derTarifverhandlungen ein Mehr für den öffentlichen Dienstgeben, und mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Tarif-abschluss, wie in der Vergangenheit regelmäßig gesche-hen, eins zu eins auf die Beamten übertragen werden.Die Frage ist und bleibt, was die Aufgabe des DeutschenBundestages hier und heute ist.Jedenfalls ist es nicht die Aufgabe des DeutschenBundestages, sich mit diesem Antrag in den Rang einerTarifvertragspartei zu erheben
und zu beanspruchen, anstelle der Arbeitgeber- oder Ar-beitnehmerseite zu sprechen.
Dieser Antrag missachtet die Tarifautonomie der verhan-delnden Parteien und fällt der Bundesregierung in denRücken, nur um den streikenden und verhandelnden Be-schäftigten Unterstützung vorzugaukeln,
indem man eine Höchstforderung im Rahmen vonVerhandlungen abschreibt. Keine Verhandlungspartei– ich betone: das gilt für beide Seiten – erwartet ernst-haft, dass den anfänglichen Forderungen entsprochenwird. Deshalb ist es weder ernsthafte noch wahrhaftePolitik, was Sie hier betreiben.Der Antrag verkennt die politische Wirklichkeit mut-maßlich, allem Anschein nach auch bewusst; sonstmüssten Ausführungen zur Konsolidierung des Bundes-haushalts dort Platz finden.Die Ausführungen zur Verteilungsgerechtigkeit gehenvöllig fehl. Der Antrag verkennt dabei, dass die Gehalts-strukturen des öffentlichen Dienstes ein weites Bandspannen. Soziale Gerechtigkeit spiegelt sich auch hierwider, findet ihre Grenze aber spätestens im Gleichheits-gebot. Entscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Fraktion Die Linke, erfordern das Rückgrat,auch unangenehme Haushaltslagen in Politik umzumün-zen.
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1850 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Mahmut Özdemir
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Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes brauchenkeine Abgeordneten, die sich bei Streikkundgebungennur für ein Foto hergeben, das man danach twittern oderposten kann. Der öffentliche Dienst braucht Abgeord-nete, die exakt das halten, was sie fordern, die exakt dastun, was sie versprechen.
– Wenn ich mehr Redezeit hätte, würde ich es Ihnen er-klären. – Es mag ja an der fehlenden Erfahrung einer Re-gierungsbeteiligung liegen – das sehe ich ein –,
aber ich muss schon fragen: Wie lange wollen Sie ei-gentlich Anträge stellen, an deren Umsetzung Sie selberberechtigterweise zweifeln müssen?Lassen Sie mich nach diesem Ausflug in die realitäts-nahe Politik
noch einmal an das Thema Arbeitsbedingungen anknüp-fen. Während wir Haushaltsdebatten führen, gehen Be-schäftigte in Pension und nehmen ihre Stellen sozusagenmit in den Ruhestand. Es fehlen dann Stellen, was denArbeitsdruck bei den im Dienst stehenden Beschäftigtenerhöht oder die Erledigung einer Aufgabe schlicht ent-fallen lässt. Das Stichwort, auf das ich hier anspiele, lau-tet „Aufgabenkritik“. Es geht um eine Aufgabenkritik,die unter den Aspekten der Qualitätssicherung und Per-sonalsteuerung im Angesicht der Haushaltslage zu erfol-gen hat, eine Aufgabenkritik, die Tarifautonomie undMitbestimmung auch und erst recht im öffentlichenDienst zum zentralen Ausgangspunkt macht.Deshalb sind die Tarifverhandlungen aus meiner Sichtdringend notwendig. Die erste Streikwelle hat uns deut-lich gezeigt, was das in Ballungsräumen bedeuten kann.45 000 Beschäftigte, die die Arbeit niederlegen, darunter10 000 allein im öffentlichen Personennahverkehr, dasist kein Pappenstiel. Tarifverhandlungen aber oder An-träge im Bundestag entheben uns nicht der Aufgabe, ob-jektiv zu definieren, was der Staat im 21. Jahrhundert zuleisten bereit ist und wozu er verpflichtet ist.Gehaltsanpassungen, bezogen auf die zu erledigendenAufgaben, wirken immer nur kurzfristig. Sprechen Siedoch einmal mit den Beschäftigten im öffentlichenDienst! Ich unterstelle, dass Sie das nicht tun.
Ich war im vergangenen Sommer bei Streikkundgebun-gen der Kolleginnen und Kollegen von der Wasser- undSchifffahrtsverwaltung, die sich für einen Tarifvertrageinsetzen müssen. Sprechen Sie doch einmal mit den Be-schäftigten in mittlerweile privatisierten Staatsunterneh-men oder mit den Beschäftigten in Justiz und Polizei!Die lassen sich nicht nur hinter verschlossenen Türen dieAussage entlocken, dass sie bereit wären, auf Geld zuverzichten, wenn dafür mehr Personal eingestellt würde.Auch das gehört zur Realität, die Sie verkennen.
– Dass Sie schreien, zeigt mir, dass Sie keine Argumentemehr haben. Schön! – So etwas geht aber nur mit einerAufgabenanalyse im öffentlichen Dienst, um darauf Ar-beitsbedingungen und Gehaltsstrukturen aufzubauen.Diesen Zielkonflikt zu lösen, das ist die Aufgabe allerFraktionen in diesem Haus. Stattdessen schwingen Siesich mit Ihrem Antrag aber zur alleinigen Arbeitnehmer-vertretung auf und schreiben in Ihrem Antrag die Forde-rungen auch noch unvollständig ab. Die Verdi-Bundes-tarifkommission fordert nämlich bei einjährigerTariflaufzeit einen Sockelbetrag von 100 Euro plus3,5 Prozent mehr Gehalt, aber auch verbindliche Über-nahmeregelungen für Auszubildende und den Aus-schluss von sachgrundloser Befristung. Das haben Sie inIhrer Begründung zwar angeführt, aber das scheint Ihnendoch so unwichtig zu sein, dass Sie es nicht in Ihren An-trag hineinschreiben. Wenn wir diese Debatte schon füh-ren dürfen – oder besser: müssen –, dann bitte schönauch vollständig.
Es ist höchst fragwürdig, die Bundesregierung aufzu-fordern, den Tarifforderungen vollumfänglich stattzuge-ben, obschon Sie wissen, dass nur der Bundestag in sei-ner Gesamtheit über den Haushalt entscheidet. Sieschieben eine Verantwortung, die dem Parlament ob-liegt, einfach weg, nämlich die Verantwortung, darüberzu entscheiden, welche Aufgaben der öffentliche Dienstzu erledigen hat und was die Erledigung dieser Aufga-ben kostet. Mit Ihren Anträgen verhält es sich so wie mitden im Training gefährlichen Torschützen: Im Meister-schaftsspiel laufen sie vor dem Ball einfach davon.
Gerade deshalb ermuntere ich Sie: Lassen Sie uns dochdie Facharbeit hierzu leisten! Schreiben Sie einmal einenAntrag weniger, und nutzen Sie die Zeit, um mit unsVerbesserungen für den öffentlichen Dienst zu erreichenund zu erarbeiten, Verbesserungen, die auch Haushalts-erfordernissen standhalten!
Dazu zählt weiter, dass wir schon dieses Jahr Kom-munen bei der Grundsicherung im Alter vollständig ent-lasten werden, in den Folgejahren 2015 und 2016 jeweils1 Milliarde Euro investieren
– ja, dann helfen Sie dabei mit! – und 2017 und 2018 ei-nen weiteren Aufwuchs auf 5 Milliarden Euro haben, umdie finanzielle Entlastung zu verstetigen. Das, was beiden Ländern die Schuldenbremse ist, ist nämlich bei denKommunen die im Raum stehende Drohung der Auf-sichtsbehörden mit Haushaltssperren. Der Vorsitzendedes Städte- und Gemeindebundes hat es doch richtig unddeutlich formuliert: In der derzeitigen Situation würdenwir uns mit einem überhöhten Tarifabschluss gegenseitigschaden,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1851
Mahmut Özdemir
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bevor wir nicht vorher die unbedingt notwendigen Ent-lastungen durchgeführt haben.Ergänzt werden müssen diese Aspekte zusätzlich umeine Verwaltungsmodernisierung: Zentrale und dezen-trale Personalsteuerung, ausgewogene Altersstrukturenund gewinnbringender Personaleinsatz nach Bedarf
müssen diesen Bereich attraktiv machen. Das heißt auch,dass sich die Vereinbarkeit von Beruf, Familie undPflege in einem gerechten Bezahlsystem widerspiegelnmuss.Die Flexibilität der Tätigkeiten im öffentlichen Dienstmit Teil- und Vollzeitmodellen und anderen Handlungs-möglichkeiten ist mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen.Schon jetzt, in seinem derzeitigen Aufgabenprofil, istder öffentliche Dienst ein Garant für die Wahrung undUmsetzung unserer Staats-, Gesellschafts- und Wirt-schaftsordnung. Gerade deshalb wenden sich die Be-schäftigten im öffentlichen Dienst mit einer großen Hin-gabe auch ihrem Recht auf Mitbestimmung zu.Diese Art der Mitbestimmung ist für die Sozialdemo-kraten das Leistungsmerkmal des öffentlichen Dienstes,das wir schützen und wahren wollen; denn sowohl derStaat als Arbeitgeber als auch die Untergebenen als Ar-beitnehmer sind vereint in dem Streben nach Funktions-fähigkeit der öffentlichen Daseinsvorsorge. In diesemgemeinsamen Ziel verbunden wünsche ich den wahrenHandelnden, die nicht hier im Bundestag sitzen, sondernam Verhandlungstisch, Besonnenheit, gegenseitigeWertschätzung, aber auch harte Verhandlungen, damitdie Beschäftigten wieder zurück an ihre Arbeit kehrenkönnen.Damit danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-sche allen verhandelnden Kolleginnen und Kollegen inPotsdam von hier aus ein herzliches Glückauf.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Alois Karl, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Heute ist, Herr Präsident, Frühlings-beginn. Ich habe heute meine Stimme fast verloren, nichtwegen des Antrags der Linken, sondern wegen grippalerEinflüsse. Bevor es mir gänzlich die Stimme verschlägt,Herr Präsident, möchte ich gleich das Ergebnis vorweg-nehmen: Wir als CDU/CSU und auch unser Koalitions-partner lehnen den Antrag der Linken ab.
Damit komme ich zum Inhalt. In wenigen Wochenbegehen wir einen Geburtstag: Am 23. Mai 1949, alsovor 65 Jahren, ist das Grundgesetz der BundesrepublikDeutschland in Kraft getreten, mit vielen Freiheitsrech-ten, unter anderem in Art. 9 Abs. 3 mit dem Recht aufKoalitionsfreiheit. Das umfasst aber nicht nur das Recht,eine arbeitsrechtliche Koalition zu begründen, sondernauch die Betätigungsfreiheit. Die Tarifvertragsparteienhaben davon in den letzten 65 Jahren in außerordentlichernster und korrekter Weise Gebrauch gemacht und ha-ben die tariflichen Belange sinnvoll geregelt. Die Tarif-vertragsparteien waren immer frei in ihrer Betätigung,frei von staatlichen Einflüssen, frei von staatlicher Be-vormundung und frei in der Gestaltung ihrer Vertragsan-gelegenheiten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich sehe indem Antrag der Linken – das ist vorhin schon kurz ange-sprochen worden – das Gegenteil. In diesem soll es aufeine Reglementierung hinauslaufen.
Das ist für mich völlig indiskutabel. Dazu werden Sievon uns niemals eine Zustimmung erhalten. Das geht ander Verfassungswirklichkeit und dem Grundgedankender Verfassung vollends vorbei.
Es handelt sich dabei meines Erachtens um eine völ-lig nutzlose Andienerei, um eine plumpe Kumpanei mitden Tarifvertragsparteien. Aber ich glaube, dass die Ge-werkschaften das gar nicht wollen und gar nicht brau-chen. Im Gegenteil: Unsere Gewerkschaften sind stark.Sie entscheiden nach eigenem Ermessen, ohne Einfluss-nahme des Deutschen Bundestages. Bedenken Sie ein-mal, wie das Gegenteil wirken würde: Was wäre los,wenn wir im nächsten Jahr beschließen würden: „DieBundesregierung wird aufgefordert, keine der gewerk-schaftlichen Forderungen zu akzeptieren“? Das wäre ge-nauso wenig bindend wie das, was Sie jetzt fordern.Meine Damen und Herren, es finden Tarifverhandlun-gen statt. Es geht um die Löhne und Gehälter von 2 Mil-lionen Beschäftigten von etwa 10 000 Arbeitgebern imöffentlichen Dienst. Es werden Volumina von 6 Milliar-den Euro und schließlich von 8,6 Milliarden Euro ver-handelt. Ein Tarifvertrag ist ein Vertrag. Ein Vertragsieht Verbindlichkeiten in jegliche Richtung vor. Jemandmuss diese 8,6 Milliarden Euro bezahlen. Das sind zu-nächst einmal die Verhandlungspartner. Das sind nebendem Bund die Kommunen. Aber Kommune ist nichtgleich Kommune; Stadt ist nicht gleich Stadt. Die StadtMünchen kann das möglicherweise bezahlen.
– Neumarkt zum Beispiel könnte das bezahlen; da hastdu recht. Das könnte ich jetzt gut ausführen. Sollte dazueine Zwischenfrage gestellt werden, dann führe ich dasgerne näher aus.Auch der Speckgürtel um München herum könnte dasbezahlen, das Ruhrgebiet allerdings nicht. Die Zahlenspiegeln nicht immer die vollständige Wahrheit wider.
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1852 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Alois Karl
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Natürlich ist es so, dass die Städte und Gemeinden inDeutschland Verbindlichkeiten von etwa 130 MilliardenEuro haben, dass sie Kassenkredite von mehr als 50 Mil-liarden Euro haben und dass viele finanziell am Krück-stock gehen. Viele Städte und Gemeinden sind Dauer-gast unter dem finanzpolitischen Sauerstoffzelt. Diekönnen das nicht oder kaum bewältigen.
Denen können wir doch keine Vorgaben machen, wie dieHöhe von tarifvertraglichen Abschlüssen aussehen soll.Die Gemeinden werden sich das auch nicht gefallenlassen, was Sie hier vorschlagen. In der BayerischenVerfassung und in allen anderen Länderverfassungensteht, dass die Gemeinden ursprüngliche Gebietskörper-schaften sind. Noch vor dem Staat, noch vor den Län-dern gab es die Gemeinden. Die lassen sich nicht ansGängelband nehmen, von Ihnen leiten und irgendwohindirigieren. Sie möchten ihre ureigenen Interessen selbervertreten.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir habeneinen außerordentlich kommunalfreundlichen Haushaltvorgelegt und werden dies fortführen. Wir werden in denzehn Jahren von 2010 bis 2020 etwa 80 Milliarden Eurodirekt oder indirekt in die Gemeinden fließen lassen: fürdie Kosten der Grundsicherung, die Kosten der Unter-bringung und für die Eingliederung der Behinderten. Wirhaben uns in den nächsten vier Jahren des Haushaltenseine freie Finanzspanne geschaffen. Von den vorgesehe-nen 23 Milliarden Euro werden wir 12,5 Milliarden Eurofür die Gemeinden ausgeben; eine unglaublich kommu-nalfreundliche Seite, die die Große Koalition damit anden Tag legt.
Herr Kollege Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hajduk?
Ja, sehr gerne.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben gerade eine
Zahl in den Raum gestellt. Von den 23 Milliarden Euro
würden 12 Milliarden Euro an die Gemeinden fließen.
12,5 Milliarden.
Ich möchte Sie mit den Zahlen konfrontieren, die mir
Ihr haushaltspolitischer Sprecher gestern im Haushalts-
ausschuss auf meine Frage hin genannt hat. Es gibt ja
eine Auseinandersetzung um die Frage: Warum fließt ei-
gentlich im Jahr 2014 noch keine Milliarde an die Kom-
munen? Da hat er uns vorgerechnet, 23 Milliarden Euro
stünden im Koalitionsvertrag, davon seien 20 Milliarden
Euro sehr klar durch bestimmte Maßnahmen belegt und
3 Milliarden Euro würden für die Kommunen bleiben.
Das seien nicht 4 Milliarden Euro, und deswegen sei erst
in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils 1 Milliarde
Euro für die Kommunen da. Ist es nicht das Ergebnis ei-
ner sehr weiten Interpretation, die anderen maßnahmen-
bezogenen Mittel jetzt so auf die Gemeinden herunterzu-
rechnen, dass Sie auf die Zahl 12 Milliarden Euro
kommen? Ist das nicht vielleicht auch eine sehr starke
Verschleierung gegenüber der Öffentlichkeit?
Liebe Frau Kollegin Hajduk, entschuldigen Sie bitte:Ich hatte schon gestern den Verdacht, dass Sie die Ant-wort, die man Ihnen gegeben hat, nicht ganz verstandenhaben.
Es ist in der Tat so, dass wir einen Spielraum von23 Milliarden Euro haben. Heruntergerechnet bedeutetdies – danach haben Sie schon gestern gefragt –, dass inden Jahren 2015, 2016 und 2017, sozusagen im Vorgriffauf die Wiedereingliederung, jeweils 1 Milliarde Eurogezahlt wird, ab dem Jahr 2018 dann 5 Milliarden Euro,und zwar in der weiteren Abfolge permanent, laufend.
Damit ergibt sich, wenn man andere Punkte hinzunimmt,eine Summe von insgesamt 12,5 Milliarden Euro. 3 Mil-liarden Euro und zweimal 5 Milliarden Euro ergeben13 Milliarden Euro. –
Ich muss mich korrigieren: Es sind eigentlich nicht12,5 Milliarden Euro, sondern 13 Milliarden Euro. Wirkönnen das gerne noch einmal im Haushaltsausschussvertiefen; dazu haben wir noch reichlich Gelegenheit.Trotzdem vielen Dank für die Frage.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Gegen-satz zu den Antragstellern habe ich persönlich, haben dieFraktionen von CDU/CSU und SPD Vertrauen in dieVerhandlungsführer bei den Tarifverhandlungen. Ichvertraue darauf, dass sich die Arbeitgeber und die Ge-werkschaften mit Maß und Respekt begegnen. Wir wis-sen, was wir an einem guten öffentlichen Dienst haben.Wir wissen, dass die Leute im öffentlichen Dienst in derTat Geld brauchen. Aber ich sage auch: Die Tatsache,dass wir die Inflationsrate in den letzten Jahren sehr ge-ring gehalten haben – um 1 Prozent herum –, ist eine au-ßerordentliche, hervorragende soziale Leistung, geradeim Hinblick darauf, dass dadurch insbesondere die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1853
Alois Karl
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Löhne und Gehälter geschont und sie nicht von den kleb-rigen Fingern des Staates und anderer verringert werden.Ich habe Vertrauen, dass die Gewerkschaften sowie dieArbeitgeberverbände und die Verhandlungsführer desBundesinnenministeriums und des Finanzministeriumsihre Arbeit gut machen. Wir haben kein Vertrauen in Ih-ren Antrag; wir lehnen ihn ab.Ich freue mich, dass ich meine Rede bis zum Schlusshalten konnte. Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Karl. Ich wünsche Ihnen
nicht politisch, aber gesundheitlich gute Besserung.
Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Oellers,
CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! The Show Must Go On – so würdeFreddie Mercury den Antrag der Linken kommentieren.Wenn Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst anste-hen, muss dies wohl gleichzeitig wieder eine Debatte imDeutschen Bundestag nach sich ziehen.
Dabei sollte doch inzwischen bekannt sein, dass das Par-lament für Tarifverhandlungen nicht zuständig ist. Dieerste Forderung im Antrag ist deswegen schon aus reinformellen Gründen abzulehnen. Nach unserer Verfas-sung liegt die Zuständigkeit für Tarifangelegenheiten beiden Tarifvertragsparteien. Tarifvertragspartei ist nichtdas Parlament, sondern der Bund, vertreten durch denBundesminister de Maizière, und die Kommunen, ver-treten durch die Vereinigung der kommunalen Arbeitge-berverbände. Es steht dem Parlament in diesem Zusam-menhang nicht zu, Forderungen zu formulieren,geschweige denn anzunehmen oder zu akzeptieren, sowie es die Linken in ihrem Antrag tun.
Daher kann von dieser Stelle aus lediglich der Wunschan die Tarifvertragsparteien geäußert werden, ein fürbeide Seiten angemessenes und akzeptables Ergebnis zuerzielen.Die zweite Forderung im Antrag ist derart unsubstan-tiiert, dass sich eine Debatte hierüber erübrigt. Es ver-wundert schon sehr, dass mit dieser Forderung zwar dasAnsinnen auf Sicherstellung der Kommunalfinanzen ge-äußert, aber nicht ein einziger Vorschlag unterbreitetwird.Da mir das Thema Kommunalfinanzen als ehemali-gem Ratsmitglied besonders am Herzen liegt, sei Fol-gendes erwähnt: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben dasThema „Sicherstellung der Kommunalfinanzen“ schonlängst aufgenommen. Offensichtlich scheinen die Lin-ken das noch nicht registriert zu haben. Daher verweiseich auf die letzte Legislaturperiode und den Koalitions-vertrag.In der letzten Legislaturperiode hat die CDU/CSU-Fraktion maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kom-munen mit der stufenweisen Rücknahme der Kosten fürdie Grundsicherung im Alter eine erhebliche finanzielleEntlastung erhalten. Hierdurch werden die Kommunennach dem Erreichen der 100-prozentigen Übernahme derKosten ab 2014 um jährlich 5 Milliarden Euro entlastet.
Mit der Eingliederungshilfe werden wir eine weiteremaßgebliche finanzielle Entlastung der Kommunen aufden Weg bringen, die die Kommunen im Ergebnis umweitere 5 Milliarden Euro jährlich entlasten wird. Dabeimöchte ich das Thema Eingliederungshilfe nicht nur alsfinanzielle Entlastung der Kommunen verstanden wis-sen, sondern an dieser Stelle insbesondere die Neurege-lung der Teilhabe von behinderten Menschen durch dasbeabsichtigte Bundesteilhabegesetz als einen wesentli-chen Bestandteil des Gesetzes erwähnen.Darüber hinaus werden Länder und Kommunen hin-sichtlich der Kosten für Kinderkrippen, Kitas, Schulenund Hochschulen zusätzlich finanziell unterstützt. DieLänder werden hierzu in der laufenden Legislaturperiodeum 6 Milliarden Euro entlastet. Es wird daher Aufgabeder Länder sein, diese Entlastung an die Kommunenweiterzugeben und nicht etwa zur Konsolidierung derLänderhaushalte zu verwenden.
Die genannten Maßnahmen sind prioritäre Maßnah-men, die nicht unter einem Finanzierungsvorbehalt ste-hen. Hieran sieht man deutlich, dass wir, die CDU/CSU-Fraktion und auch die Regierungskoalition, längst aufdem Weg sind, die Kommunen finanziell weiter zu ent-lasten. Man sieht auch, welche große Bedeutung wir derfinanziellen Entlastung der Kommunen beimessen.Hierzu bedarf es keiner Aufforderung durch die Linken.Weiter weise ich darauf hin, dass der Bund für allge-meine Gesetzesinitiativen zur Sicherung der Kommunal-finanzen – so fordert es die Linke in ihrem Antrag –ebenfalls nicht zuständig ist, da dies Aufgabe der Länderist. All dies zeigt deutlich, dass Sie mit Ihren Forderun-gen lediglich eine Showveranstaltung initiieren wollen,frei nach dem Motto: The Show Must Go On.
Bezüglich der Forderungen im Antrag der Linkenfasse ich abschließend wie folgt zusammen: Beide For-derungen richten sich an das nicht zuständige Gremium.Die erste Forderung missachtet zudem die Grundsätzeder Tarifautonomie und damit die Verfassung. Diezweite Forderung ist schlichtweg unsubstantiiert. BeideForderungen sind damit abzulehnen, da sie eklatante
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1854 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Wilfried Oellers
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Fehler bzw. Mängel aufweisen. In der Schule würde mandazu sagen: Thema verfehlt, Prüfung nicht bestanden!Danke schön.
Herr Kollege Oellers, zu Ihrer ersten Rede hier im
Deutschen Bundestag gratuliere ich Ihnen herzlich und
wünsche Ihnen viele weitere erfolgreiche Reden im Ho-
hen Hause.
Das war der letzte Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt, und deshalb schließe ich hiermit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/795 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 sowie den
Zusatzpunkt 6 auf:
11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD
Einsetzung einer „Kommission zur Über-
prüfung und Sicherung der Parlaments-
rechte bei der Mandatierung von Aus-
landseinsätzen der Bundeswehr“
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof
Schmidt, Agnieszka Brugger, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer „Parlamentarischen
Kommission zur Überprüfung, Sicherung
und Stärkung der Parlamentsrechte bei
der Mandatierung von Auslandseinsätzen
der Bundeswehr“
Drucksachen 18/766, 18/775, 18/870
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Alexander S. Neu, Wolfgang Gehrcke, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Einsetzung einer „Parlamentarischen Kom-
mission zur Überprüfung, Sicherung und
Stärkung der Parlamentsrechte bei der Man-
datierung von Auslandseinsätzen der Bundes-
wehr“
Drucksache 18/839
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul,
der hiermit die Aussprache eröffnet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir beenden heute eine kurze, aber hochqualifi-zierte und auch interessante Beratung, die wir in der ver-gangenen Woche in diesem Hohen Hause begonnen undzwischenzeitlich im Auswärtigen Ausschuss und in denmitberatenden Ausschüssen fortgesetzt haben.Positiv formuliert kann man sagen: Der Anstoß, dender Koalitionsvertrag gegeben hat, ist von allen Fraktio-nen aufgenommen worden. Das heißt, alle Fraktionensind sich einig darin, dass es sinnvoll ist, die Frage derWahrung und Sicherung der Parlamentsrechte bei derMandatierung von Auslandseinsätzen dahin gehend zuüberprüfen, ob sie zeitgemäß sind, ob sie effektiver wer-den können und was wir angesichts einer neuen Sicher-heitslage gegebenenfalls zu verändern haben. Das istinsgesamt ein erfreuliches Zwischenergebnis einer De-batte, die aus der Mitte der Unionsfraktion schon in dervergangenen Legislaturperiode angeschoben worden ist.Wir freuen uns, dass eine Diskussion über diese Fragenmöglich ist.Wir tun das in dem Bewusstsein, dass die Parlaments-rechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen einwirkliches Juwel unserer parlamentarischen Arbeit sind,welches wir sichern wollen. Wenn man betrachtet, wasnach dem Zweiten Weltkrieg in der Verfassung an Parla-mentsrechten festgeschrieben worden ist und durch Ent-scheidungen des Verfassungsgerichts bestätigt wordenist, dann wird klar, dass die Frage der Feststellung desVerteidigungsfalls sozusagen noch in die alte Sicher-heitsarchitektur zur Zeit des Kalten Krieges gehört. Un-ter den Bedingungen einer Einsatzarmee gehört die Fest-schreibung dieses Parlamentsrechts zu den wirklichenparlamentarischen Errungenschaften, auf die wir stolzsein können. Diese Rechte sind vom Bundesverfas-sungsgericht regelmäßig gestärkt worden.Wenn wir diese Rechte effektiv wahrnehmen wollen,müssen wir sie aber regelmäßig überprüfen. Das solljetzt geschehen. Ich freue mich, dass es dazu auch kon-struktive Vorschläge aus anderen Fraktionen gibt, wie-wohl ich diejenigen der Linksfraktion nicht dazu zählenkann; denn wer ernsthaft erwägt, die Mandatierung vonAuslandseinsätzen der Bundeswehr an eine Zweidrittel-mehrheit zu binden, der will nicht, wie es im Antragsteht, die Legitimationsqualität erhöhen, sondern derverfolgt natürlich ganz andere politische Ziele. Das istnicht weiter verwunderlich; das sollten Sie, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, aber vielleicht ehrlicherweise sa-gen. All diejenigen in den anderen Fraktionen, die nochglauben, dass man mit dieser Fraktion eine zuverlässigeund in der NATO, in der Europäischen Union und in derUNO kalkulierbare Sicherheitspolitik betreiben kann,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1855
Dr. Johann Wadephul
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werden hier wieder einmal eines Besseren belehrt: Mitdieser Fraktion kann man das nicht erreichen.
Wir haben uns intensiv bemüht, die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen einzubeziehen. Weil das im Auswär-tigen Ausschuss von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der Grünenfraktion, ein bisschen kritischbeleuchtet worden ist, was Ihr gutes parlamentarischesRecht ist, will ich dazu Folgendes sagen: Ein entspre-chender Koalitionsantrag ist Ihnen am 25. Februar 2014zugeleitet worden. Wir haben erst zehn Tage danacherste Vorschläge von Ihnen dazu erhalten. Wer aus demKoalitionsvertrag weiß, was wir wollen, wer rechtzeitigvor Beginn der ersten Lesung einen Antrag von uns be-kommt, wer sich dazu äußern kann, wer sich einbringenkann, der sollte nicht im Ernst so tun – so habe ich dasim Auswärtigen Ausschuss verstanden
– Frau Kollegin Künast, Sie waren nicht dabei –, alshätte es hier kein vernünftiges Zugehen der Großen Ko-alition auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegeben.Wir haben versucht, Sie einzubinden. Wenn Sie amSchluss nicht mitwirken wollen, dann muss man das hierauch ehrlich sagen. Dann werden wir unseren Antraghier durchsetzen. Aber bitte unterlassen Sie an dieserStelle die formelle Verfahrenskritik. Sie ist unberechtigt.
In der Sache muss man sagen: Wer eine Experten-kommission einsetzen will – wir sind die Letzten, die ihrLicht unter den Scheffel stellen – und sie, wie die Grü-nen, allein mit Parlamentariern besetzen will, der wirdnatürlich relativ wenige Anstöße von draußen bekom-men, was juristische, sicherheitspolitische und militär-politische Fragen angeht. Wir wollen die Expertise zuuns holen.
– Ja. Das, was Sie machen wollen, ist aber klassisch das,was wir in jeder Ausschusssitzung machen können,wenn wir eine Anhörung durchführen. Das können wirjederzeit machen, ob im Verteidigungsausschuss oder imAuswärtigen Ausschuss. Das werden wir auch wiedermachen. Das wird man möglicherweise auch danachnoch machen wollen und natürlich auch können. Aberwir wollen eine Kommission einsetzen, durch die wirden Blick von draußen in unsere Parlamentswelt hinein-holen. Ich glaube, das ist ein guter und wichtiger Ansatz,der unsere Arbeit am Schluss nur befruchten kann undsinnvoll ist. Deswegen möchte ich Sie ganz herzlich bit-ten, sich dem zu öffnen.Es bleibt dabei: Es gibt neue Bedingungen, auf diewir uns einstellen müssen. Wir haben es mit neuen si-cherheitspolitischen Anforderungen zu tun. Es gibt mehrZusammenarbeit mit Partnern als noch vor wenigen Jah-ren. Wir haben weniger Haushaltsmittel zur Verfügung.
Deswegen ist es gut, dass wir eine Kommission bittenkönnen, uns zu beraten. Die Schlussentscheidung trifftder Deutsche Bundestag – das steht vollkommen außerFrage; niemand wird das befolgen müssen, was von derKommission vorgeschlagen wird –, und es bleibt bei ei-nem starken Parlamentsrecht. Aber es ist gut, dass dieseKommission ihre Arbeit aufnehmen kann.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Dr. Alexander Neu, Die Linke, das Wort.
Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Sehr geehrteDamen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! DieLinke hat letzte Woche angekündigt, einen eigenen An-trag einzubringen. Das haben wir nun gemacht. Er liegtIhnen vor.
Der eine oder andere von Ihnen mag sich fragen, wa-rum die Linke das Parlamentsbeteiligungsgesetz so ver-teidigt, wie sie es verteidigt. Das kann ich Ihnen sagen:Obwohl wir gegen Auslandseinsätze sind bzw. geradeweil wir gegen Auslandseinsätze sind, verteidigen wirdas Parlamentsbeteiligungsgesetz.
90 Prozent der gewählten Vertreter in diesem Hausestimmen regelmäßig für Kriegs- und Kampfeinsätze undfür Auslandseinsätze
– doch, das stimmt –
und missachten regelmäßig den Mehrheitswillen derGesellschaft, die zu 75 Prozent gegen Auslandseinsätzeist. Das ignorieren Sie einfach. Das heißt, die Linke istdie einzige Fraktion, die Auslandseinsätze im Sinne desMehrheitswillens der Gesellschaft ablehnt.
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1856 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Alexander S. Neu
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Die kuriose Situation, die ich gerade geschildert habe,sehr geehrte Damen und Herren, muss dem Bürger undder Bürgerin deutlich gemacht werden. Daher fordert dieLinke die Sicherstellung der Transparenz, der Kontrolleund des Entscheidungsmonopols des Deutschen Bundes-tages bei Auslandseinsätzen.Gerade wurde ein weiterer Punkt angesprochen: dieZweidrittelmehrheit, die wir bei Entscheidungen desDeutschen Bundestages über Auslandseinsätze einfor-dern. Es kann nicht sein, dass die Entscheidung überKrieg und Frieden, über Leben und Tod von 30, 40 an-wesenden MdBs getroffen wird.
Es müsste so sein, dass mindestens zwei Drittel der Mit-glieder des Deutschen Bundestages anwesend sein undso die Verantwortung für ihr Tun und Handeln überneh-men müssten.
Nun zum konkreten Problem. Als angebliches Pro-blem deklarieren Sie, das Parlamentsbeteiligungsgesetzstelle eine Behinderung der Arbeit der integrierten Stäbeund integrierten Verbände dar. Genannt werdenAWACS-Flugzeuge, Luftbetankung, Lufttransport,NATO-Hauptquartiere, Führungsstäbe etc. etc. Wassteckt dahinter? Integrierte Stäbe oder integrierte Ver-bände sind multinational zusammengesetzt. Das heißt,Franzosen, Deutsche, Briten, Amerikaner etc. arbeiten indiesen Formationen zusammen.Wenn nun der Parlamentsvorbehalt zugunsten integ-rierter Stäbe oder integrierter Verbände eingeschränktwerden würde, geschähe Folgendes: Wenn die USA,Frankreich oder Großbritannien mal wieder der Auffas-sung sind, die Welt vor irgendwelchen Schurken rettenund einen Kampf führen zu müssen,
die Bundesregierung aber ausnahmsweise nicht mitma-chen möchte – siehe den Fall Libyen –, geriete es so,dass die Bundesregierung unter erheblichem Druck derUSA, Frankreichs oder Großbritanniens stünde, diesenEinsatz im NATO-Rat oder im Ministerrat der Europäi-schen Union nicht durch ein Veto zu blockieren. Waswäre die Konsequenz? Die Konsequenz wäre ein Mit-machautomatismus. Genau das wollen Sie. Die Bundes-wehrsoldatinnen und -soldaten in den integrierten Stäbenund den integrierten Verbänden von EU und NATOmüssten dann in den Kampfeinsatz bzw. in den Aus-landseinsatz.
Warum? Weil das souveräne Entscheidungsrecht derBundesregierung und des Bundestages ausgehebelt undnach Brüssel verlegt worden ist – und das ausgerechnetdurch die hier anwesenden Parlamentarier.
Die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Entschei-dung über Leben und Tod hinge somit von EU- undNATO-Technokraten ab. Das kann doch nicht Ihr Ernstsein. Das wollen Sie nicht wirklich.
Die Linke widersetzt sich diesem Abbau des Parla-mentsvorbehaltes und fordert stattdessen seine Auswei-tung. Ich habe bei meiner letzten Rede schon einige Lü-cken aufgezählt. Ich wiederhole sie gerne noch einmal.Die erste Lücke betrifft die Unterrichtungspraxis be-züglich der Einsätze der Spezialkräfte. Es kann nichtsein, dass von den 631 Abgeordneten gerade einmal 17darüber informiert werden – halbherzig informiert wer-den –, ob die SEK M oder die KSK im Einsatz ist.
Die zweite Lücke ist mir heute Morgen noch einmaldeutlich geworden, als unsere Kanzlerin gesprochen hat.Es ist das, was man unter die Merkel-Doktrin zu fassenversteht:
Ausbildungsmission und Rüstungsexport als strategischeInstrumente neben Kampfeinsätzen einzusetzen. Warumalso keinen Parlamentsvorbehalt für Rüstungsexporte?Das gilt es anzudenken.
Die dritte Lücke betrifft die Sicherstellung, dass keineunbemannten Waffensysteme, also Drohnen, zumEinsatz kommen. Es gibt einen bekannten Spruch derFriedensbewegung, der hier auf ironische Weise wieder-belebt wird: Stell Dir vor, es ist Krieg, und niemand gehthin. – Damals ahnte noch keiner, dass es einmal so per-verse Mordinstrumente wie Killerdrohnen geben würde.Um Krieg führen zu können, muss man nicht mehr indas Einsatzgebiet gehen. Man kann das auch bequemvon zu Hause aus mit dem Joystick handhaben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1857
Dr. Alexander S. Neu
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Das Parlamentsbeteiligungsgesetz berücksichtigt alsodieses Szenario nicht. Das Parlamentsbeteiligungsge-setz geht von bewaffneten deutschen Streitkräften imAusland aus, § 1 Abs. 2 in Verbindung mit § 2 Abs. 1.Der Ausführende im Sinne des Parlamentsbeteiligungs-gesetzes ist also in jedem Fall der Soldat bzw. die Solda-tin und nicht irgendwelche Waffensysteme. Es geht alsodarum, diese Waffensysteme im Parlamentsbeteiligungs-gesetz zu berücksichtigen.Die Linke hat angekündigt, dass sie den Antrag derRegierungsfraktionen ablehnen und sich natürlich auchnicht an dieser Kommission beteiligen wird. Wir werdennicht als Feigenblatt dienen.
Wir stimmen dem Antrag der Grünen zu.
Ich habe noch eine Bitte an die Regierungsfraktionen:Nehmen Sie die von mir genannten Lücken ernst undsorgen Sie dafür, dass diese geschlossen werden.
Danke.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-
gen Dr. Rolf Mützenich, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
würde gerne versuchen, noch einmal auf den Kern der
heutigen Debatte zurückzukommen, weil es heute nicht
um einen Gesetzentwurf geht, der möglicherweise die
Parlamentsrechte in irgendeiner Form erweitert, ein-
schränkt, modernisiert oder irgendetwas anderes, son-
dern lediglich darum, die Frage zu stellen: Wollen wir
eine Kommission beim Parlament einsetzen, die sowohl
mit der Expertise aus dem Parlament als auch der von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie
Experten aus dem Bereich des Völkerrechts mit uns ge-
meinsam überlegt, welche Herausforderungen sich mit
Blick auf ein modernes Parlamentsbeteiligungsgesetz er-
geben?
Ich finde, diesen Nebel, der gerade hier entstanden ist,
müssen wir aus dem Parlament vertreiben. Es geht tat-
sächlich um ein innovatives Instrument, das uns im
Deutschen Bundestag hilft, in einer Debatte, die wir
möglicherweise dann noch in dieser Legislaturperiode
als verantwortungsvolle Parlamentarierinnen und Parla-
mentarier zu führen haben, sozusagen eine Wegstrecke
abzubilden. Genau deshalb war diese Einladung auch
von uns an alle Fraktionen in diesem Haus gerichtet ge-
wesen.
Ich gebe zu, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich bin
am Ende einer längeren Debatte, die wir sowohl in den
Ausschüssen als auch zwischen den Fraktionen geführt
haben, nicht ganz zufrieden. Natürlich hätte ich mir die
Beteiligung aller Fraktionen gewünscht. Ich glaube, wir
alle hier im Deutschen Bundestag haben mit gutem
Grund, aber auch mit gutem Wissen und Willen ver-
sucht, diese Einigung zu erreichen. Ich sage das auch
ganz klar an die Fraktion der Grünen gerichtet, und zwar
aus einem ganz einfachen Grund: weil wir damals unter
Rot-Grün nämlich einen anderen Weg gegangen sind,
der auch nicht auf die Zustimmung dieses Parlaments
gestoßen ist. Ich glaube, wir sollten uns noch einmal ver-
gewissern, wie das 2004/2005 war: Wir haben damals
als rot-grüne Bundesregierung bzw. Koalition einen Ge-
setzentwurf vorgelegt, der, wie ich finde, richtig war.
Jetzt wollten wir einen anderen Weg beschreiten: Wir
wollten die Opposition von Anfang an dabei haben. Die
Große Koalition will nichts niederstimmen und auch
keine Minderheitenrechte beiseiteschieben, sondern eine
Parlamentskommission einrichten. Ich glaube, das war
der richtige Weg: ein Angebot an alle in diesem Parla-
ment, zu versuchen, in den nächsten Monaten berech-
tigte Fragen auch zu diskutieren.
Als es damals um das Parlamentsbeteiligungsgesetz
ging, kamen vonseiten der Union – das muss ich unse-
rem Koalitionspartner zugestehen – teilweise andere
Vorstellungen. Diese berechtigten Fragen können jetzt
wieder gestellt werden. Das soll eine Kommission beim
Parlament leisten, in der, wie gesagt, sowohl Abgeord-
nete vertreten sind als auch ein breiter Kreis von Exper-
ten, der uns helfen kann. Wir wollten keinen Gesetzent-
wurf vorlegen, und wir wollten auch kein Gremium der
Koalitionsparteien. Wir wollten das nicht im Koalitions-
ausschuss festlegen und Ihnen quasi diktieren. Ich
meine, welchen offeneren Weg hätten wir denn wählen
können als die Einrichtung dieser Kommission beim
Parlament? Dass Sie so reagiert haben, hat mich dann
schon gewundert. Sie haben den Koalitionsvertrag gele-
sen: Wir wollten ganz bewusst – so haben wir es auch
zitiert – möglichst im Konsens Vorschläge machen, wo-
bei Minderheitenrechte und Minderheitsvoten in dieser
Kommission genauso respektiert worden wären wie
sonst im Deutschen Bundestag auch.
Herr Kollege Mützenich, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Liebich?
Da melden sich ganz viele.
Dann erst einmal der Kollege Liebich.
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1858 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
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Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich, dass Sie diese
Zwischenfrage zulassen. Wir hatten uns in meiner Frak-
tion nicht abgesprochen, wer sich alles meldet.
Das müsst ihr untereinander klären.
Vielleicht erledigt sich das auch in der Folge; das
weiß ich nicht.
Das Angebot an uns, dass wir in dieser Kommission
zusammenarbeiten können, klang sehr schön. Das
Problem ist allerdings: Sie haben in der letzten Sitzungs-
woche, als wir darüber gesprochen haben, gesagt: Wir
überweisen das an die Ausschüsse; da kann man ja noch
einmal beraten. – Nun saßen wir alle gemeinsam im
Auswärtigen Ausschuss, und es lagen Vorschläge von
drei Seiten vor. Dann ist zwar verbal bekundet worden,
man könne aus den Vorschlägen der Grünen zum Einset-
zungsbeschluss – aus unseren vielleicht auch; das ist
nicht ganz deutlich geworden – etwas in den Antrag, den
Sie vorgelegt haben, aufnehmen. Das ist aber nicht pas-
siert. Sie haben den Vorschlag, der hier letzte Woche
vorlag, vollkommen unverändert zur Abstimmung ge-
stellt, ohne ein einziges Angebot für einen etwas ergeb-
nisoffeneren Text zu machen.
Da muss ich schon sagen: Ich kann das Klagen, man
hätte uns einbeziehen wollen, nicht richtig ernst nehmen.
Im Ausschuss war davon nichts zu merken. Sie haben
einfach abgestimmt über das, was von Ihnen vorlag, und
unsere Anregungen beiseitegeschoben.
Herr Kollege Liebich, ich habe nicht geklagt, sondern
sozusagen den Weg aufgezeigt, den wir den Opposi-
tionsparteien – wie bereits in den Koalitionsgesprächen
beschlossen – eröffnet haben, auch als Konsequenz
daraus, wie wir damals das Parlamentsbeteiligungs-
gesetz auf den Weg gebracht haben. Wir wollten damals
auch rechtliche Klarheit herstellen.
Ich habe die Diskussion im Auswärtigen Ausschuss
ein bisschen anders in Erinnerung als Sie: In der Tat, wir
haben lange Zeit über die Ukraine diskutiert. Ich finde,
das darf uns nicht zum Vorwurf gemacht werden; denn
das ist ein Fels der Herausforderungen in der internatio-
nalen Politik, die auch mit Parlamentarierinnen und Par-
lamentariern zu diskutieren sind und wo im Deutschen
Bundestag unterschiedliche Meinungsbilder existieren.
Dann haben wir, glaube ich, gegen zwölf Uhr unter
Beteiligung aller Fraktionen eine relativ breite Debatte
über diesen Antrag geführt. Da gab es eben unterschied-
liche Auffassungen. Wir haben aber schon vorher – das
sollte der Öffentlichkeit hier klar werden – alle Versuche
unternommen – vielleicht in unterschiedlicher Intensi-
tät –, letztlich zu einer Lösung zu kommen. Deswegen
habe ich hier nichts beklagt.
Sie haben es leider – das will ich Ihnen im Gegensatz
zur Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zum Vorwurf
machen – erst diese Woche geschafft, einen Antrag vor-
zulegen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir diesen Antrag
etwas früher bekommen hätten; das hätte die Debatte
vielleicht befördert.
Deswegen will ich noch einmal eindeutig feststellen:
Wir wollen weiterhin diese breite Beteiligung.
Herr Kollege Mützenich, jetzt hat sich der Kollege
Gehrcke noch einmal gemeldet. Die Frage, die er stellen
wollte, ist also noch nicht beantwortet. Deshalb darf ich
Sie fragen, ob Sie diese Frage auch zulassen.
Ja, wenn es bereichert.
Kollege Mützenich, Sie kennen doch den klassischen
Spruch, den jemand vor Gericht gesagt hat, als er aufste-
hen sollte: Wenn es der Wahrheitsfindung dient. – Hier
müsste es heißen: Wenn es die Debatte bereichert.
Ich möchte gerne von Ihnen wissen, warum es den
Antragstellern nicht möglich war, die Formulierung
„Stärkung der Parlamentsrechte“ in den Antrag mit auf-
zunehmen. Es geht ja darum, dass Sie eine Kommission
einsetzen möchten, die keinen beliebigen, sondern einen
bestimmten Auftrag hat, den das Parlament erteilt und
den die Kommission dann auch erfüllen muss. Es war
für uns ein zentraler Punkt, diese Formulierung in den
Antrag aufzunehmen. Das war nicht möglich.
Sie können von uns doch nicht erwarten, dass wir in
Bezug auf eine Kommission, die noch nicht einmal über
die Stärkung der Parlamentsrechte reden darf – das ist
nicht ihr Auftrag –, kritiklos sagen: Da machen wir mit.
Hier war die Grenze. Wir haben das zigmal hin und
her verhandelt, aber Sie waren nicht bereit, sich einen
Millimeter zu bewegen. Meine Einschätzung ist: Viel-
leicht hätten Sie sich ja bewegt, aber Ihr Koalitionspart-
ner war nicht bereit, Ihnen so viel Raum einzuräumen,
dass Sie dieser Bitte nachkommen konnten.
Weil Sie hier für Transparenz geworben haben, wollte
ich Sie bitten, das zu bestätigen, was ich gesagt habe: Sie
waren nicht bereit, die Formulierung „Stärkung der Par-
lamentsrechte“ aufzunehmen.
Ich finde ja, das ist ein interessanter Versuch, aber Siekönnen mich von meinem Koalitionspartner natürlichnicht wegbringen, weil wir auch in diesen Punkten gutzusammengearbeitet haben.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1859
Dr. Rolf Mützenich
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Herr Kollege Gehrcke, ich habe Ihnen das zwar schonwährend der Aussprachen in den Ausschüssen und auchbilateral gesagt, aber ich würde Sie trotzdem gerne nocheinmal darauf hinweisen, dass gerade im Koalitionsver-trag von der besonderen Stärke der Parlamentsbeteili-gung gesprochen wird. Ich finde, dass sich der DeutscheBundestag als Parlament überhaupt nicht zu versteckenbraucht. Er nimmt sein Recht wahr, mit über Auslands-einsätze zu befinden. Das tun wir hier im DeutschenBundestag ja auch fast immer zur Hauptdebattenzeit undvor einem vollen Plenum. Wir schätzen uns wert undtauschen unsere unterschiedlichen Argumente in denDebatten aus. Gerade das wird auch im Einsetzungsbe-schluss für die Kommission wieder deutlich.Wenn Sie dem Parlament und uns Einzelnen in dieserKoalition nicht trauen – das mag ja aufgrund der Aus-einandersetzungen so sein –: Warum vertrauen Sie dannnicht einer relativ unabhängigen, vom Parlament einge-setzten Kommission, dass sie all diese Fragen diskutiert?Wir geben ihr doch nichts vor. Sie hätten Mitglieder derKommission benennen können, die genau diese Punktezur Sprache gebracht hätten. Wir setzen diese Kommis-sion doch nicht ein, um den Mitgliedern danach sozusa-gen einen Knebel in den Mund zu legen und zu sagen:„Darüber dürft ihr nicht diskutieren.“ Vielmehr geht esdoch um selbstbewusste Beratungen aus dem Parlamentund auch der Fachöffentlichkeit und darum, bestimmteDinge einmal auf den Punkt zu bringen. Ich finde, dasAngebot war sehr groß und auch sehr umfassend.
Ich glaube, es spielt auch noch ein anderer Aspekteine Rolle – das wollen Sie ja auch nicht einfach zurSeite schieben –: Wahrscheinlich wird sich diese vomParlament eingesetzte Kommission auch mit weiterenEntscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus-einandersetzen müssen. – Wir wollen uns über diese Ent-scheidungen gar nicht hinwegsetzen, sondern genau dasakzeptieren, was uns das Bundesverfassungsgericht mitauf den Weg gegeben hat. Damals wurde uns eben ge-sagt, dass wir ein Gesetz formulieren und offene Fragen,die in den letzten Jahren aufgetaucht sind, beantwortensollen. Deswegen finde ich, müssen wir uns mit den Ar-gumenten auseinandersetzen.Ich war schon etwas verwundert darüber, dass Sie einPapier, das, glaube ich, am Institut für Friedens- und Si-cherheitspolitik an der Universität Hamburg von ganzunterschiedlichen Autoren erstellt worden ist, durch dieuns auch eine Stärkung und Fortentwicklung dieses Par-lamentsbeteiligungsrechts mit auf den Weg gegebenwurde, gar nicht in die Debatte eingebracht haben. DieAutoren haben sowohl Argumente der Union, aber zumBeispiel auch manche Ihrer Argumente aufgenommen.Die Quintessenz dieses Papieres ist: Es ist richtig, inder Kommission mitzuarbeiten. Das bietet die Möglich-keit, das Parlamentsbeteiligungsrecht innovativ weiter-zuentwickeln und die Fragen, die in den letzten Jahrenaufgetaucht sind, eventuell zu beantworten. Ich hätte mirgenau diese Souveränität der Autoren – das wissen Sie –,die aus unterschiedlichen Parteien und aus unterschiedli-chen Wissenschaftszweigen kommen, auch von Ihnengewünscht. So viel Souveränität hätte auch von Ihnenund letztendlich auch von den beiden Fraktionen der Op-position kommen müssen.
Ich werfe Ihnen die Fragen, die Sie in Ihrem Antragaufgeführt haben, nicht vor. Darüber kann man diskutie-ren, zum Beispiel über den Umgang mit unbemanntenFlugkörpern, die möglicherweise mehr und mehr in denmilitärischen Alltag überführt werden. Warum sollte ineinem solchen Gremium nicht auch darüber diskutiertwerden? Das ist letztlich eine Herausforderung für dieSicherheitspolitik in Deutschland, weil diese Flugkörpermöglicherweise von hier aus gestartet werden. Dadurchleitet sich aus dem Völkerrecht das Recht ab, Angriffs-kriege zu führen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt,der diskutiert werden muss.Zu den Grünen. Da ist mir zum Beispiel berichtetworden, dass die Organisation Ziviler Friedensdienstüberhaupt nicht glücklich über die Vermengung von zi-vilen und militärischen Fragen im Parlamentsbeteili-gungsrecht ist. Diese Organisation will sich eben nichtmit dem militärischen Auftrag identifizieren. Ich ver-stehe das; das ist auch vollkommen richtig. Auch so et-was hätte in dieser Kommission besprochen werden kön-nen. Warum nicht? Ich glaube, die Kommission istsouverän genug, um über Transparenz und auch vielesandere zu sprechen.Der letzte Aspekt, den ich in diese Diskussion ein-bringen will: Durch die Verweigerung zur Mitarbeit ver-engen Sie ohne Not die Debatte, die nach dem Ende derArbeit der Parlamentskommission diesen DeutschenBundestag erreichen wird. Ich finde, Sie sollten sichnoch einmal überlegen, ob Sie das wollen. Wollen Sie indiesem Bericht, den die Kommission am Ende ihrer Ar-beit dem Deutschen Bundestag vorlegen wird, Ihre Ar-gumente wiederfinden und diskutieren lassen, oder wol-len Sie sie in diesem Bericht nicht haben? Deswegen istmeine herzliche Bitte: Überlegen Sie sich Ihre Entschei-dung, gar nicht mitzuarbeiten. Ich finde, es wäre im Inte-resse des Parlaments und der Öffentlichkeit. Die Einla-dung zur Mitarbeit besteht weiterhin.Vielen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen erteile ich als nächsterRednerin der Kollegin Agnieszka Brugger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ent-scheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehrsind für uns Abgeordnete, so empfinde ich das, die
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1860 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Agnieszka Brugger
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schwierigsten. Niemand von uns kann sich dabei hinterseiner Fraktion verstecken, sondern muss sich nament-lich für oder gegen einen Einsatz entscheiden.
Das führt zu intensiven und kontroversen Debatten,nicht nur in den Fraktionen und Parteien, sondern auchmit den Bürgerinnen und Bürgern und auch hier in unse-rem Parlament. So wird eine breite demokratische Legi-timation von Auslandseinsätzen ermöglicht. So wirdaber auch verhindert, dass diese Entscheidung nur einigewenige treffen oder diese gar zu leichtfertig. Deshalbfinde ich, die Parlamentsbeteiligung ist ein sehr hohesGut.
20 Jahre Parlamentsbeteiligungsgesetz, das wäre ei-gentlich ein guter Anlass, um es als Errungenschaft un-serer Demokratie zu feiern. Es wäre auch ein guter Zeit-punkt, um gemeinsam zu evaluieren, wie sich dieserGrundsatz deutscher Außen- und Sicherheitspolitik be-währt hat und wie man ihn verbessern und weiterentwi-ckeln kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,egal wie oft Sie das behaupten – ich sage es hier nocheinmal ganz klar –: Wir Grüne verweigern uns keines-wegs prinzipiell einer Mitarbeit in einer Kommission zurÜberprüfung, Sicherung und Stärkung der Parlaments-rechte bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
Im Gegenteil: Wir haben uns bereits in den letzten Jah-ren mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigt, und wirhaben sehr viele Ideen, die wir gerne mit Ihnen diskutierthätten.
Noch in der Parlamentsdebatte in der letzten Wochehaben Sie mit großen Worten beteuert, dass Sie die Par-lamentsbeteiligung nicht aufweichen wollen und dassdie von Ihnen vorgesehene Kommission ergebnisoffentagen sollte. Allerdings haben gleichzeitig designierteMitglieder dieser Kommission einige Mandatsdebattenals „reine Routine“ bezeichnet oder sich öffentlich inBezug auf integrierte Streitkräfte für ein reines Rückhol-recht des Bundestages ausgesprochen. Ich finde, nichtnur das spricht Bände und zeigt deutlich, wohin Sie ei-gentlich wollen.
Ein einfacher Blick in Ihren Antrag zur Einsetzungder Kommission genügt vollkommen. Es soll um dieAbstufung der Intensität der parlamentarischen Beteili-gung gehen. Das ist doch entlarvend und zeigt, worum esIhnen wirklich geht, nämlich die Aufweichung undSchwächung des Parlamentsvorbehalts.
Und noch ein anderer Umstand verrät Sie: Sie legen– auch das entgegen Ihrer Beteuerungen – offensichtlichkeinen allzu großen Wert darauf, die Opposition mit ih-ren Ideen mitzunehmen. Auch im Antrag der Linken gibtes einige gute und interessante Punkte, die man hätte dis-kutieren können,
beispielsweise die unzureichende Unterrichtungspraxisbeim Einsatz der Spezialkräfte. Auch wir Grünen habenIhnen nicht nur im vorliegenden Antrag unsere konkre-ten Ideen unterbreitet, sondern auch schon im Vorfeldund vorgestern im Ausschuss versucht, mit Ihnen ge-meinsam einen Kommissionsauftrag auf den Weg zubringen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undder Union, das ist nicht an uns, sondern an Ihnen ge-scheitert. Schon ganz früh haben Sie nämlich klarge-macht, dass Sie nicht bereit sind, Ihren Antrag auch nureinen Millimeter zu ändern.
– Wenn das falsch ist, dann hätten Sie ja auf einen unse-rer Vorschläge eingehen können, zum Beispiel auf dasThema „integrierte Mandate“, das gerade angesprochenwurde. Wir wissen alle: Die Auslandseinsätze der Bun-deswehr können nur dann einen Beitrag zu mehr Stabili-tät, Sicherheit und Frieden leisten, wenn sie in eine trag-fähige und gut durchdachte Gesamtstrategie eingebettetsind, die die Konfliktursachen bearbeitet.
Solche integrierten Mandate würden die jeweilige Bun-desregierung stärker darauf verpflichten, auch diploma-tische, polizeiliche, entwicklungspolitische und zivileAnsätze zur Krisenbewältigung für jeden Konflikt aus-zubuchstabieren und die Stimmigkeit der Instrumentegründlich abzuwägen und darzustellen. So würden sichdie Diskussionen nicht immer nur auf das militärischeEngagement fokussieren.Meine Damen und Herren, wir haben zudem vorge-schlagen – das war für uns ein ganz zentraler Punkt –,dass der Kommissionsauftrag nicht nur die Überprüfung,sondern auch die Stärkung der Parlamentsrechte zumZiel hat. Ich würde jetzt wirklich gerne ganz konkret vonIhnen hören, warum Sie auch diesen Vorschlag so kate-gorisch abgelehnt haben, wenn es Ihnen angeblich nichtum die Aufweichung des Parlamentsvorbehaltes geht.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1861
Agnieszka Brugger
(C)
(B)
Auch das offenbart doch deutlich, dass die Ergebnisof-fenheit der Kommission, von der Sie reden, nicht mehrals eine Fassade ist.
Ich erwarte auch nicht, dass Sie die grünen Vor-schläge richtig finden. Aber ich erwarte – gerade wennSie immer wieder beteuern, dass Sie uns ja ach so gernemit im Boot gehabt hätten –,
dass Sie wenigstens die Bereitschaft zeigen, so etwas zudiskutieren und in den Antrag aufzunehmen.
Nicht wir sind es also, die sich verweigern, sondernSie sind gegen alles, was nicht nach Ihrer Pfeife tanzt.
– Nein, es ist genau so, wie ich es sage.
Meine Damen und Herren, wir bedauern es sehr – unddas ist dann wieder weniger lustig –, dass Sie, um Ihrefragwürdigen politischen Ziele zu verfolgen, die Stär-kung der Parlamentsbeteiligung ausschließen wollen.
Wir machen bei diesem durchsichtigen Manöver nichtmit, und wir sind ganz sicher auch nicht das grüne Fei-genblatt für den schwarz-roten Angriff auf die Parla-mentsrechte.
Deshalb können und wollen wir uns aus guten Gründennicht an dieser Kommission beteiligen.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die
Kollegin Elisabeth Motschmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsind uns sicher alle darin einig, dass es nicht gut ist,wenn einer alleine über den Einsatz von Soldaten ent-scheidet. Das sehen wir aktuell auf der Krim. Vor diesemHintergrund wird unser Thema „Einsetzung einer Kom-mission zur Überprüfung und Sicherung der Parlaments-rechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen derBundeswehr“ nicht nur aktuell, sondern es gewinnt auchan Bedeutung.Uns wird bewusst: Die parlamentarische Beteiligungan der Entscheidung über die Bundeswehreinsätze bzw.das Parlamentsbeteiligungsgesetz hat sich bewährt. Da-durch ist eine breite Verankerung der Bundeswehr undihrer Einsätze in der Gesellschaft gewährleistet, und dasist – Frau Brugger, ich sehe das genauso wie Sie – einganz hohes Gut. Nicht jedes Land, auch nicht in Europa,hat einen solchen Parlamentsvorbehalt.Immer wieder stehen wir aber vor neuen verteidi-gungspolitischen Herausforderungen und Aufgaben, dieauch die Strukturen der Bundeswehr verändern und An-passungen notwendig machen. Inzwischen haben wireine Armee, die in vielen Teilen der Welt eingesetztwird. Wir haben eine Armee, die in integrierten Struktu-ren und Stäben auf NATO- und EU-Ebene mitwirkt.Unsere Sicherheit kann nur mit unseren Bündnispart-nern gemeinsam hergestellt werden. Deshalb müssen wirnationale militärische Kapazitäten bündeln – Stichwort„Sharing und Pooling“ –, und dadurch können wir von-einander profitieren. Die nationalen Streitkräfte werdenintegriert und damit partiell auch voneinander abhängig.Diese notwendige und sinnvolle Auffächerung von Auf-gaben macht es erforderlich, dass wir die Parlaments-rechte sichern und unseren Einfluss auf die Einsatzent-scheidungen neu justieren.Herr Gauck hat uns in München gemahnt,
„sich als guter Partner früher, entschiedener und substan-zieller“ einzubringen. „Guter Partner“ bedeutet Verläss-lichkeit. „Guter Partner“ heißt, dass Entscheidungenzügig getroffen werden, dass Entscheidungen im Schul-terschluss mit den Bündnispartnern erfolgen und dasswir zu unseren getroffenen Entscheidungen auch stehen.Deshalb stellen wir uns schon seit längerem die Frage,ob das Parlamentsbeteiligungsgesetz weiterentwickeltwerden kann oder weiterentwickelt werden muss. Dieeinzusetzende Kommission soll prüfen, wie die Parla-mentsrechte bei Auslandsmandaten der Bundeswehrunter den neuen Auftragsbedingungen gewährleistetwerden können.Im Gegensatz zu den Grünen wollen wir ergebnisof-fen tagen; das ist ein wichtiger Unterschied.
– Genau, das ist Toleranz. – Die Grünen klammern mitihrer parlamentarischen Kommission den Nutzen einersolchen Kommission von vornherein aus.
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1862 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Elisabeth Motschmann
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Sie begrenzen und beschränken die Kommissionsarbeit.Ihr Vorschlag steht im Übrigen im Widerspruch zumKoalitionsvertrag. Das stört natürlich Sie nicht, aber unsschon.
Sie hatten die Chance, sich an diesem Antrag zu beteili-gen und ihn dadurch auf ein breites Fundament zu stel-len. Dass Sie das ablehnen, kann man nur bedauern. Dasist eine vertane Chance. Schade!Die Thematik ist hochkomplex und bedarf einer juris-tischen, sicherheitspolitischen und militärischen Bera-tung. Deshalb tun wir gut daran, auch externe Fachleutemit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Sie sollen uns be-gleiten und beraten. Ich freue mich zusammen mit meinerFraktion, dass Volker Rühe bereit ist, den Vorsitz einersolchen Kommission zu übernehmen. Er bringt große Er-fahrung mit als ehemaliger Verteidigungsminister.
Davon können wir doch nur profitieren. Ich freue michübrigens auch, dass diese Kommission von sozialdemo-kratischer Seite unterstützt werden soll, nämlich vonWalter Kolbow.Den Antrag der Linken verstehe ich nicht.
Sie wollen doch keine Auslandseinsätze. Warum schrei-ben Sie dann einen dreiseitigen Antrag dazu? Das machtgar keinen Sinn. Wenn Sie keine Auslandseinsätze wol-len, brauchen Sie auch keinen Antrag zu diesem Themazu stellen. Sie haben doch selber gesagt, Herr Neu: DieCDU/CSU will eine Mitmachautomatik. – Sie wolleneine Nichtmitmachautomatik.
Das wiederum wollen wir nicht. Deshalb kann ich nursagen: Stimmen Sie unserem Antrag zu. Er ist gut undrichtig. Lassen Sie die anderen Anträge von Grünen undLinken links liegen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Reinhard Brandl für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Brugger – bitte aufpassen! –,
da Sie gerade wieder versucht haben, uns eine andereMotivation zu unterstellen, möchte ich zu Beginn meinerRede eines klarstellen: Die vorgeschriebene Beteiligungdes Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen derBundeswehr ist eine Stärke unserer Demokratie. Geradebei diesen schwierigen Fragen, bei denen es um Lebenund Tod gehen kann und über die man oft unterZeitdruck und bei unvollständiger Informationslage ent-scheiden muss, übernehmen wir als Parlament gemein-sam mit der Regierung Verantwortung. In der Praxis– Sie wissen das – heißt das: eine breite parlamentari-sche Mehrheit für jeden Einsatz.Einsätze der Bundeswehr spielen in Wahlkämpfenpraktisch keine Rolle. Ich weiß, die Linken haben einenanderen Schwerpunkt, aber ich lasse sie jetzt einmal au-ßen vor. Weder die Soldaten noch unsere Bündnispartnermüssen befürchten, dass nach einer Wahl eine neueRegierung einen vollkommen neuen Kurs einschlägt.Auch das ist eine Form von Bündnisfähigkeit. Wir wärenverrückt, wenn wir dieses gute Instrument der Parla-mentsbeteiligung in irgendeiner Form infrage stellenoder schwächen würden.
Auf der anderen Seite gibt es unter anderem bei denGrünen, Frau Brugger, das wohlgepflegte Klischee, dieBundesregierung und die Union würden, wenn sie nurkönnten, die Bundeswehr noch viel häufiger in den Ein-satz schicken,
nur das Parlamentsbeteiligungsgesetz und die guten Grü-nen verhindern das. Das ist so eingängig wie falsch.
Das wissen Sie genau. Sie sind bei den Beratungen im-mer selbst mit dabei, aber dennoch versuchen Sie, mitaller Kraft dieses Klischee unterschwellig aufrechtzuer-halten.Dabei sind wir uns doch im Grundsatz einig, und wirsind uns auch bei großen Teilen der Problembeschrei-bung einig. Sie selbst beantragen heute eine Kommis-sion zur Weiterentwicklung der Parlamentsrechte
und haben in großen Teilen wortwörtlich unseren Antragübernommen.
Ein Thema, das Sie und uns bewegt, ist, dass mit der ver-stärkten militärischen Integration in der NATO und derEU Spannungsverhältnisse zur Parlamentsbeteiligungentstehen können.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1863
Dr. Reinhard Brandl
(C)
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Was heißt das konkret? Ein Soldat arbeitet zum Bei-spiel das ganze Jahr über in einem Planungsstab derNATO. Plötzlich gibt es einen Einsatz, der von derNATO geführt wird, an dem dieser Stab direkt oder indi-rekt beteiligt ist. Deutschland – vor allem um den Fallgeht es – entscheidet sich zum Beispiel im Parlament,nicht an diesem Einsatz teilzunehmen. Die Frage, diesich dann stellt, lautet: Unter welchen Voraussetzungenkann der Soldat in seinem Stab weiterarbeiten? Ab wannbrauchen wir für den Mann oder die Frau ein eigenesMandat mit erster, zweiter und dritter Lesung, mit Aus-schussberatungen und namentlicher Abstimmung?Was würde es bedeuten, wenn wir in so einem Fallunsere Leute gleich von vornherein abziehen würden?Welche Positionen würden wir dann zum Beispiel in derNATO nicht bekommen? Die Fragen sind nicht trivial,aber, ehrlich gesagt, sind sie auch nicht weltbewegend.
– Herr Nouripour, das muss man in der Abwägung se-hen: Es geht wirklich um Spezialfragen, um die wir unskümmern, die nicht trivial sind, die aber lösbar sind.
Dazu stellen sich Fragen – in dem Antrag ist auch vonder Auffächerung der Aufgaben die Rede –, zumBeispiel wie wir die Parlamentsbeteiligung an die Artder Einsätze besser anpassen können.Ich sage Ihnen, wie es ist. Es gibt auch bei uns in derFraktion unterschiedliche Meinungen dazu; es gibt in derSPD unterschiedliche Meinungen dazu. Aus meinerSicht könnten wir auch teilweise Einsätze der Polizeimandatieren. Aber das sind Fragen, die wir in dieserArbeitsgruppe konkret abwägen wollen. Dazu wollenwir externe Experten einladen. Genau deswegen etablie-ren wir heute diese Arbeitsgruppe.Die Grünen können sich jetzt entscheiden, ob sie da-ran mitarbeiten oder ob sie weiter an ihrem Klischeefesthalten wollen. Ich rate Ihnen, ehrlich gesagt, vondem Baum wieder herunterzukommen, auf den Sie jetztmit Ihrer Boykottandrohung geklettert sind. Es kannnämlich gut sein, dass die Kommission zu ganz vernünf-tigen Lösungen kommt, die vielleicht auch in IhremSinne wären. Sie wissen, wie es dann politisch ist. Siehaben von vornherein gesagt, Sie arbeiteten nicht mit.Dann können Sie natürlich auch nachher den Ergebnis-sen, selbst wenn sie gut sind, nicht zustimmen. Siemüssen Ihren Anhängern dann auch erklären, dass Sieausgerechnet bei einem Thema wie der Parlamentsbetei-ligung an Auslandseinsätzen der Bundeswehr, das Ihnenso wichtig ist, auf die Mitarbeit verzichten.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-sache 18/870. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme desAntrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD aufDrucksache 18/766 mit dem Titel „Einsetzung einer‚Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parla-mentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsät-zen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?– Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 11. UnterBuchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derAusschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/775 mit demTitel „Einsetzung einer ‚Parlamentarischen Kommis-sion zur Überprüfung, Sicherung und Stärkung derParlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslands-einsätzen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktiongegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenund der Fraktion Die Linke angenommen.Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 18/839 mitdem Titel „Einsetzung einer ‚Parlamentarischen Kom-mission zur Überprüfung, Sicherung und Stärkung derParlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslands-einsätzen der Bundeswehr‘“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenAnnalena Baerbock, Dr. Julia Verlinden, OliverKrischer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUrteil des Bundesverfassungsgerichts ernstnehmen – Bundesberggesetz unverzüglichreformierenDrucksache 18/848Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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1864 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
(C)
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Am 5. März 2014 hat das Sächsische Staats-ministerium des Innern den Antrag für den Braunkoh-letagebau Nochten II genehmigt, damit das KraftwerkBoxberg noch bis Ende 2045 – wenn wir eigentlichschon eine kohlenstoffarme Gesellschaft sein wollen –Braunkohle verstromen kann. Dafür sollen 1 500 Men-schen zwangsumgesiedelt werden. Ähnlich sieht es inBrandenburg aus. Hier droht 1 700 Menschen dieZwangsumsiedlung, um Kohle in einem der dreckigstenKraftwerke Europas ebenfalls bis Mitte der 2040er-Jahrenoch verstromen zu können.Klimapolitisch ist das ein ziemlicher Hammer. Nochschwieriger wird es aber, wenn man in diese Regionenreist und in Dörfern mit Kirchen, die im 12. Jahrhunderterbaut worden sind, erklären muss, auf welcher Rechts-grundlage diese idyllische Landschaft eigentlich abge-baggert werden soll. Denn nicht nur, dass die Rechts-grundlage für den Abbau von Bodenschätzen 150 Jahrealt ist, nein, die entscheidende Regelung für die Zwangs-umsiedlung stammt aus dem Jahr 1937. Obwohl wirbekanntermaßen wirtschafts- und energiepolitisch seitdiesen Jahren einiges in unserer Gesellschaft veränderthaben, bedienen wir uns 2014, 2015, 2020 einer gesetzli-chen Regelung, die eigentlich dazu gemacht war, denungehinderten Zugriff auf kriegswichtige Ressourcen zusichern, ohne dass man sich weiter um die Folgen für dieBetroffenen zu kümmern hätte. Das ist wirklich uner-träglich.
Das sehen nicht nur wir so, meine sehr verehrten Da-men und Herren; die Reformbedürftigkeit des Bundes-berggesetzes sieht auch das Bundesverfassungsgericht.So hat es am 17. Dezember letzten Jahres zum TagebauGarzweiler II geurteilt, dass zukünftig bei Genehmi-gungsverfahren der Interessenschutz von Betroffenenstärker berücksichtigt werden muss, dass wir hier neuerechtliche Grundlagen schaffen müssen.Ich finde es ein ziemlich starkes Stück – das sage ich,auch wenn bei diesem Thema vonseiten der Bundesre-gierung jetzt fast niemand mehr da ist
– eine Person –,
dass auf die Frage meines Kollegen Oliver Krischer, wieman denn nun im Lichte dieses Bundesverfassungsge-richtsurteils verfahren möchte, aus dem Wirtschafts-ministerium lediglich die Antwort kam, beim ThemaFracking wolle man aktiv werden – das ist auch gut so –,aber was die Frage der Nutzungskonkurrenzen im Berg-bau angehe, so plane man eine Verbesserung der Daten-grundlage. Sorry, liebe Damen und Herren! Das Bundes-verfassungsgericht hat uns als Gesetzgeber geradeermahnt, Art. 14 des Grundgesetzes besser zu beachten,und Sie wollen Daten sammeln! Das ist wirklich un-glaublich. Das können wir als Parlamentarier so nichthinnehmen.
In unserem Antrag fordern wir daher dazu auf, dasUrteil des Bundesverfassungsgerichts ernst zu nehmenund eine Novellierung des Bergrechts unverzüglich an-zupacken, um die Belange der vom Bergbau Betroffenenbesser zu sichern.
– Ja, Glück auf! Ich hoffe, Sie arbeiten mit uns daran.Das Bundesverfassungsgericht hat uns noch in eineranderen Frage ermahnt. Wir müssen die energiepoliti-schen Planungen auf Landesebene und auf Bundesebenebesser verknüpfen. Es gibt keine Antwort auf die Frage,wie das passieren soll – schließlich ist es ja ein Gerichtund kein politischer Entscheidungsträger –, aber es wirftdie entscheidende Frage auf: Was ist eigentlich das öf-fentliche Interesse im 21. Jahrhundert? Ist energiepoli-tisch das öffentliche Interesse im 21. Jahrhundert das-selbe wie zu Kaisers Zeiten? Wir meinen, meine Damenund Herren: Das ist es definitiv nicht. Es ist definitivnicht im öffentlichen Interesse im Jahr 2040, also zudem Zeitpunkt, zu dem wir klimapolitisch internationaleigentlich eine Reduktion von CO2 um mindestens 80Prozent erreicht haben wollen, noch Braunkohle verstro-men zu wollen. Es kann auch nicht im Interesse der Bun-desregierung sein, die sich international dazu verpflich-tet hat, den Treibhausgasausstoß bis 2020 um 40 Prozentzu reduzieren – auch wenn Sie von CDU und CSU nichtglauben können, dass Sie selber das einmal wirklich mitbeschlossen haben –, weiter daran festzuhalten, Braun-kohle zu verstromen.Schon heute – das hat die Bundesumweltministerinbekannt gegeben – müssen wir jährlich mindestens27 Millionen Tonnen CO2 mehr einsparen, um Ihre Zielefür 2020 überhaupt noch erreichen zu können. Wie solldas denn funktionieren, wenn wir ein Kraftwerk haben,nämlich Jänschwalde – Herr Freese, Sie wissen bestensBescheid –,
aus dem jährlich 24 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßenwerden? 27 Millionen Tonnen CO2 deutschlandweit ein-zusparen, wenn von einem Kraftwerk allein jährlich24 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen werden, das passtvorne und hinten nicht zusammen. Deswegen muss hierder Gesetzgeber aktiv werden. Deswegen sagen wir klarund deutlich: Die Kohle muss dort bleiben, wo sie ist:unter der Erde. Dieser Bundestag muss Nein sagen zuneuen Tagebauen.
Sie könnten dann Vorreiter im internationalen Klima-schutz sein und sagen: Deutschland steigt aus der Braun-kohleverstromung aus. – Dann bräuchten Sie sich auchnicht hinter Polen oder anderen Ländern zu verstecken,wenn Sie sagen, dass Sie in der EU ja leider nichts tunkönnen. Sie könnten also Vorreiter sein und dazu unse-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1865
Annalena Baerbock
(C)
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rem Land wirtschafts- und finanzpolitisch noch einengroßen Gefallen tun.Denn Handlungsbedarf besteht auch noch bei derFrage der Förderabgabe. In § 31 des Bundesberggesetzesheißt es, dass mindestens 10 Prozent als Förderabgabegezahlt werden müssen. Ich kann nur sagen: Schön wärees, wenn das passierte!
Kollegin Baerbock, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie
müssen zum Schluss kommen.
Ja. – Die Vorgabe ist löchrig wie ein Schweizer Käse.
Gerade bei der Braunkohle wird nämlich keine Förder-
abgabe gezahlt. Für Ostdeutschland ist das im Eini-
gungsvertrag so geregelt. Im Rheinischen Braunkohlere-
vier ist geregelt, dass für Tagebaue von vor 1982 keine
Förderabgabe gezahlt werden muss. Das ist wirklich ein
finanz- und wirtschaftspolitisches Armutszeugnis an ei-
nem Industriestandort.
Noch ein letztes Wort zum Thema Fracking.
Das wird jetzt nicht mehr stattfinden, Kollegin
Baerbock. Das Minus vor der Zahl vor Ihnen zeigt an,
dass Sie die Redezeit schon überschritten haben.
Ich hatte Sie darauf aufmerksam gemacht. Sie müssen
jetzt einen Punkt setzen.
Ich komme zum Schluss. – Es reicht nicht aus, dass
wir beim Fracking Umweltverträglichkeitsprüfungen
einführen, sondern wir müssen uns ganz klar zu dem be-
kennen, was wir alle im Wahlkampf versprochen haben:
Nein zum Fracking in unkonventionellen Lagerstätten
mit chemischen Giftstoffen!
Auch das muss im Gesetz neu geregelt werden.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
Ich mache vorsorglich alle, die es noch nicht wissen,
darauf aufmerksam, dass ich hier einen Knopf habe, mit
dem ich letztendlich dieses Mikrofon abschalten kann.
Bei Überschreitung eines gewissen Toleranzrahmens
werde ich das auch tun.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Herlind Gundelach für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Bundesverfassungsgericht hat im Dezember vergan-genen Jahres Recht gesprochen – diesbezüglich möchteich einmal etwas richtigstellen – und dabei eindeutig dieVerfassungsmäßigkeit des Tagebaus Garzweiler II bestä-tigt.
Es hat damit sowohl den bergbautreibenden als auch denvom Bergbau betroffenen Menschen in der Region Si-cherheit und Klarheit gegeben.Lassen Sie mich daher kurz auf das geltende Berg-recht in Deutschland und auf seine Grundlagen einge-hen.
Die letzte grundlegende Änderung liegt 30 Jahre zurück;das Recht ist also nicht ganz so alt, wie Sie das geradedargestellt haben. Vorher war Bergrecht Landesrecht.Seither wurde es mehrfach und vollständig an neue undvor allen Dingen umweltrechtliche Vorgaben aus euro-päischen Richtlinien einschließlich der daraus folgendenÖffentlichkeits- und Betroffenenbeteiligung angepasst.Zudem hat die Rechtsprechung das Gesetz weiter aus-geformt. Nur zum Vergleich: Unser Zivilrecht ist deut-lich älter als das Bergrecht. Unser Bergrecht entsprichtdaher heute vollumfänglich europäischem und auch na-tionalem Recht, insbesondere auch in Umweltfragen. Imeuropäischen Ausland gilt es vor allem aufgrund der sehrhohen Schutz- und Vorsorgeaufwendungen für Umweltund Betroffene sogar als vorbildlich.Man kann es daher nicht anders sagen: Das deutscheBergrecht hat sich in seiner Ausgestaltung im Grundsatzbewährt.
Daher habe ich den Eindruck, dass die im Antrag derGrünen geforderten Änderungen und Verschärfungendes Bergrechts vor allem darauf abzielen, die Förderungvon Rohstoffen in Deutschland erheblich zu erschweren;am liebsten würden Sie sie wahrscheinlich ganz verbie-ten.
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1866 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Dr. Herlind Gundelach
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Die Folgen würden dann aber nicht nur die Braunkohlebetreffen, sondern auch andere Grund- und Rohstoffewie Magnesium, Kies, Kaolin und Kalk, auf die unsereWirtschaft in hohem Maße angewiesen ist.Ich möchte an dieser Stelle anmerken: Deutschlandhat völlig zu Unrecht den Ruf, ein rohstoffarmes Landzu sein; denn drei Viertel unserer benötigten Rohstoffefördern wir im eigenen Land. Wir brauchen sie beispiels-weise für die Wirtschaftszweige Bau und Verkehr, fürdie chemische Industrie und auch für die Landwirtschaft.Die Konsequenzen einer Unterbindung der heimischenRohstoffförderung wären folglich höchst problematisch.Und vor allem besteht hierzu kein Anlass; denn es gibtkeinen Bedarf für eine Änderung des Bergrechts. Zu-mindest kann ich im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kollegin-nen und Kollegen von den Grünen,
keinen derartigen Auftrag aus dem von Ihnen angeführ-ten Urteil des Bundesverfassungsgerichts ableiten.
– Auf den Punkt kommen wir vielleicht noch zu einemspäteren Zeitpunkt. – Meines Erachtens versuchen Siedas Urteil so umzudeuten, wie es Ihnen passt. Sie nutzenes für ein Sammelsurium von zusätzlichen Forderungen.Ich möchte deswegen noch einmal etwas genauer aufdieses Urteil und vor allem auf die ihm zugrundelie-gende Klage eingehen. Konkret geht es ja um denBraunkohletagebau Garzweiler II im RheinischenBraunkohlerevier in Köln;
es ist übrigens der zweitgrößte Tagebau in Europa. Diedort geförderte Braunkohle ist die Basis für 6 Prozentder heimischen Stromproduktion.Bergbau ist standortgebunden und kann daher nichtbeliebig verschoben werden. Das wissen Sie selber. Des-halb ist es manchmal notwendig, das Gemeinwohl überdas Schicksal Einzelner zu stellen. In diesem Fall bedeu-tete das, dass die Anwohner für die Förderung umgesie-delt werden mussten und dafür finanziell entschädigtwurden. Ich kenne diese Gegend relativ gut; denn ichhabe dort 40 Jahre gelebt. Deswegen weiß ich aus Erfah-rung, dass diejenigen, die umgesiedelt wurden, mit derUmsiedlung in der Regel sehr zufrieden waren, weil siesich nämlich deutlich verbessert haben.
Gegen Garzweiler II hatte nun ein Grundstückseigen-tümer gemeinsam mit dem BUND geklagt und war da-mit bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Aufder Entscheidung des Gerichts basiert nun auch Ihr An-trag. Zum weiteren Verständnis möchte ich noch hinzu-fügen, dass dieser Fall bereits 2006 vor dem Bundesver-waltungsgericht verhandelt worden war. Dem Klägerwar damals eingeräumt worden, dass bereits bei der Vor-habenzulassung eine Gesamtabwägung aller öffentlichenund privaten Belange erforderlich sei, die für und gegendas Vorhaben sprechen, und nicht erst bei der Enteig-nung. Insoweit, denke ich, war das etwas, was ihmdurchaus entgegenkam.Mit diesem Urteil wurde dem damaligen Kläger – undseitdem grundsätzlich allen Bergbaubetroffenen inDeutschland – Rechtsschutz bereits zum Zeitpunkt derVorhabenzulassung gewährt. Somit werden seit 2006 dieInteressen von Anwohnern und Grundstückseigentü-mern frühzeitig und stärker berücksichtigt als vorher.
Aufgrund des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts in2006 wurde der Fall neu eröffnet mit dem Ziel, einenneuen Rahmenplan aufzustellen. In diesem Verfahrenkam man allerdings – unter Abwägung aller Gründe –zum gleichen Ergebnis, nämlich dass der Kläger zumWohle der Allgemeinheit umgesiedelt werden müsse.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich festhalten,dass ich die Entscheidung des Bundesverwaltungsge-richts auf rechtzeitige Beteiligung uneingeschränkt gut-heiße; denn alles andere ist nicht mehr zeitgemäß. InDeutschland können und dürfen wir keine Großprojektemehr – sei es der Ausbau der Stromnetze, sei es der Bauvon Flughäfen, Bahnhöfen oder Straßen – ohne weitrei-chende Information und Beteiligung der Bevölkerungdurchsetzen.Aufgrund meiner Erfahrung kann ich sagen, dass mandurch umfassende Aufklärung und Information sehr vielerreichen kann. Folglich bin ich ganz klar für eine fun-dierte Öffentlichkeitsbeteiligung. Ich denke, darin sindwir uns wieder einig. In Ihrem Antrag fordern Sie aberDinge, die zu einem großen Teil bereits geregelt sind.Ich möchte auf das Urteil zurückkommen. Das Bun-desverfassungsgericht hat in seinem Urteil explizit dieRechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts von2006 aufgegriffen und bestätigt; denn wie schon gesagt:Schon seit 2006 müssen die Interessen der betroffenenGrundstückseigentümer bereits bei der Rahmenbetriebs-planzulassung im Wege einer umfassenden Gesamtab-wägung über § 48 Abs. 2 Satz 1 Bergbaugesetz berück-sichtigt werden.
– Nein. Es wird nach den Gepflogenheiten genauso zu-gelassen, die sowohl im Gesetz als auch im Richterrechtgeregelt worden sind.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1867
Dr. Herlind Gundelach
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Das entscheidende Argument des Gerichts lautet:Dem Rahmenbetriebsplan kommt im gestuften Zulas-sungsverfahren im Tagebau die Funktion einer fakti-schen Zulassungsentscheidung mit Außenwirkung zu.Dementsprechend ist den Betroffenen seit 2006 auch dieKlagemöglichkeit eröffnet. Damit ist der von Ihnen ge-forderte effektive Rechtsschutz gewährleistet; denn eswird gewährleistet, dass der Grundstückseigentümerfrühzeitig in die Planung und Umsetzung einbezogenwird.
Ich stimme Ihnen aber zu, dass es durchaus überlegens-wert ist, dieses Richterrecht, das gilt und angewandtwird, bei geeigneter Gelegenheit auch vom Gesetzgeberbestätigen zu lassen.
– Ja, das heißt aber nicht, dass es nicht schon angewandtwird. Es steht nur nicht im Gesetz. Richterrecht wird ge-nauso angewandt wie geschriebenes Recht.
– Doch. Ich habe die ganze Zeit ausgeführt, dass es an-gewandt wird.
– Weil es bereits angewandt wird. Ich habe gesagt, dassich nichts dagegen habe, wenn es irgendwann ins Gesetzgeschrieben wird. Es muss aber nicht sein, weil dasRecht bereits gilt. Insofern ist es gegenwärtig ausrei-chend; das heißt, der Rechtsschutz ist gewährleistet.
– Dann müssen Sie einmal vor Gericht gehen. Richter-recht wird genauso angewandt wie geltendes Recht, dasvom Gesetzgeber niedergelegt wird. Beides ist bei derRechtsprechung zu beachten.
Lassen Sie mich abschließend kurz zusammenfassen:Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteilvom 17. Dezember 2013 ausdrücklich die Verfassungs-mäßigkeit des Bergrechts bestätigt. Es besteht folglichauch keine Notwendigkeit für die von Ihnen geforderteumfassende Novellierung. In seiner Entscheidung hatdas Verfassungsgericht aber auch betont, dass die Ent-scheidung, wie die Energieversorgung in unserem Landerfolgt – das haben auch Sie gerade gesagt –, eine politi-sche Entscheidung ist.Mit dem Abbau von Braunkohle wird ein– ich zitiere das Bundesverfassungsgericht –gesetzlich hinreichend bestimmtes und ausreichendtragfähiges Gemeinwohlziel umgesetzt. … DieLandesregierung– gemeint ist die von SPD und Grünen geführte Landes-regierung in Nordrhein-Westfalen –
führt für ihr Konzept, das die jederzeitige Verfüg-barkeit eines traditionellen Rohstoffs für einen si-cheren Energiemix in den Vordergrund stellt, ge-wichtige Gemeinwohlgründe an.Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen.Ihre Forderungen nach einer Änderung des Berg-rechts sind meines Erachtens vor allem ideologisch ge-prägt. Sie wollen nach dem Ausstieg aus der Kernener-gie nun schnellstmöglich auch einen Ausstieg aus derBraunkohle – das ist aus Ihren Worten gerade deutlichgeworden –, unter Hinweis auf die hohe CO2-Belastungaus der Verstromung von Braunkohle, die zweifellos ge-geben ist.
Die Braunkohle ist aber neben den erneuerbarenEnergien die einzige Energieart, die uns in unseremLand zur Verfügung steht, die wir nicht importierenmüssen wie Steinkohle und Gas, was man gerade in die-sen Tagen vielleicht auch nicht ganz außer Acht lassensollte.
Insofern gibt uns die Braunkohle ein gewisses Maß anSicherheit, was unsere Versorgung angeht; denn wir sindfür absehbare Zeit auch auf die Nutzung fossiler Ener-gien angewiesen.Um Ihre Forderung zu unterstreichen, werden Sieauch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Anteilder Braunkohle an unserem Energiemix in den letztenMonaten deutlich gestiegen ist. Sie vergessen dabei aber,zu sagen, dass der CO2-Ausstoß aus der Braunkohletrotz des höheren Einsatzes der Braunkohle insgesamtgesunken ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter fürdie Fraktion Die Linke.
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1868 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das geltende Bundesberggesetz von 1980 ist im Kern
noch das Bergrecht aus der Nazizeit, insbesondere die
sogenannte Rohstoffsicherungsklausel, die es praktisch
unmöglich macht, zwischen den Interessen von Bürge-
rinnen und Bürgern und denen, die Rohstoffe aufsuchen
möchten, abzuwägen. In der vergangenen Legislatur ha-
ben Linke und Grüne in jeweils eigenen Anträgen den
ersten Anlauf seit Jahrzehnten unternommen, das Berg-
recht grundsätzlich zu reformieren. Leider sind wir da-
mals an der Mehrheit gescheitert. Grundfrage aber ist
und bleibt: Soll das Bergrecht die Rechte der Menschen,
die vor Ort leben, und die der Natur auf ewige Zeiten
brechen können? Oder leben wir inzwischen in einer
Zeit, in der Ressourcen als endlich angesehen werden
und insbesondere im Energiebereich Alternativen vor-
handen sind? Hat die Bundesrepublik ein neues Ver-
ständnis darüber erlangt, wie mit Bürgerinnen und Bür-
gern umzugehen ist?
Wir unterstützen den Grünenantrag, fordern aber da-
rüber hinaus einen Nachweis, ob Bergbauvorhaben er-
forderlich sind, sowie eine Prüfung von Alternativen.
Der Vorhabenträger müsste dann nachweisen, dass ein
unabweisbarer volkswirtschaftlicher Bedarf für den
Rohstoff besteht und der Abbau wirklich notwendig ist.
Dieser Nachweis dürfte bei vielen Braunkohlevorhaben,
die gegenwärtig diskutiert werden, kaum zu erbringen
sein; denn glücklicherweise wächst die Stromerzeugung
aus erneuerbaren Energien rasant. Darum braucht diese
klimaschädliche Kohle spätestens ab 2040 – wahrschein-
lich schon weit früher – niemand mehr. So hält unsere
Bundestagsfraktion beispielsweise Welzow II in Bran-
denburg für nicht erforderlich; das sagt auch das DIW.
Garzweiler II halten wir im Übrigen für genauso über-
flüssig.
Die Kohle wird nicht gebraucht. Die erneuerbaren Ener-
gien und Gaskraftwerke sind die einzig richtige und
machbare Alternative.
Die damals von Linken und Grünen eingebrachten
Anträge unterschieden sich voneinander; sie hatten je-
weils eine etwas andere Philosophie. Das gilt auch für
den heute vorliegenden Grünenantrag. Gemeinsam ist
Grünen und Linken jedoch die Kernforderung, den auto-
matischen Vorrang des Abbaus von Rohstoffen vor allen
anderen Interessen zu beenden.
Dafür soll künftig unter anderem ein Planfeststellungs-
verfahren mit UVP, also einer Umweltverträglichkeits-
prüfung, an die Stelle der bisherigen Verfahren treten.
Zudem sollen Abbaurechte erst dann an Unternehmen
verliehen werden, wenn ein Abbau in einem demokrati-
schen Verfahren beschlossen wurde, und zwar unter Ab-
wägung aller Interessen und nach einer sorgfältigen Um-
weltverträglichkeitsprüfung, und keinen Tag vorher.
Zu einem demokratischen Ablauf gehören mehr
Transparenz und mehr Beteiligungs- und Klagemöglich-
keiten für Bürgerinnen und Bürger sowie für Verbände
und Kommunen. Wir wollen auch, dass in Haftungs- und
Entschädigungsfragen künftig die Position der Anwoh-
nerinnen und Anwohner deutlich gestärkt wird. Würden
die Forderungen von Linken und Grünen in die Tat umge-
setzt, hätten die Bürgerinnen und Bürger zudem erstmals
eine realistische Chance, Abbauvorhaben gerichtlich
überprüfen zu lassen. Gemeinden, betroffenen Anwoh-
nern und Umweltverbänden stünde auch dann der Klage-
weg offen, wenn es um Fragen der Bedarfsfeststellung
oder der Umweltauswirkungen insgesamt ginge. Aner-
kannte Umweltorganisationen beispielsweise sollten
also im Verfahren nicht nur um den reinen Naturschutz
streiten können, sondern auch um den Wasserhaushalt
oder den Klimaschutz.
Noch ein Satz zum Antrag der Grünen, der auch das
Thema Fracking aufgreift, was mich sehr freut. Die im
Antrag enthaltene Position verstehe ich als Verschärfung
Ihrer bisherigen Position in Bezug auf das Thema Fra-
cking.
Als die Linke vor zwei Jahren einen Antrag auf Verbot
von Fracking in Deutschland einbrachte, haben die Grü-
nen dem nicht zugestimmt.
Sie wollten nur ein Moratorium von Fracking prüfen. Ich
würde es begrüßen, wenn sich das Meinungsbild der
Grünen hier dem unseren angenähert hätte.
Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Bernd Westphal für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! In Deutschland werden jährlich 770 MillionenTonnen Rohstoffe gewonnen. Damit stellt der Rohstoffim Bergbausektor noch immer einen bedeutenden Wirt-schaftsfaktor dar.Wenn wir an die Wirtschaftswunderjahre nach demZweiten Weltkrieg denken, dann erinnern wir uns, fürwelche wirtschaftliche Dynamik der Bergbau steht. Dieenorme Beschäftigungsentwicklung und der schnellewirtschaftliche Aufschwung in Deutschland sind starkmit dem Bergbau verbunden. Durch den Bergbau konnteein Fundament für Wohlstand in Deutschland geschaffenwerden. Zudem liegt im Bergbau mit seiner jahrhunder-
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Bernd Westphal
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tealten Tradition der Ursprung für viele soziale Errun-genschaften, die heute auch in anderen Bereichen alsselbstverständlich gelten. Ich erinnere in diesem Zusam-menhang an die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes,aber auch an die Mitbestimmung, die tarifliche Entloh-nung sowie die Mitbestimmung in Aufsichtsräten.Beim Bundesberggesetz handelt es sich in erster Linieum ein Wirtschaftsgesetz. Es beinhaltet alle bergrechtli-chen Fragen vom Aufsuchen über das Gewinnen undFördern eines Rohstoffs bis zur Schließung des Berg-baus oder des Tagebaus. Das deutsche Bergrecht ist einaltes Gesetz, dessen Ursprünge bis ins Mittelalter zu-rückgehen. Das ist im Übrigen nichts Ungewöhnliches:Denken wir an unser zivilrechtliches Bürgerliches Ge-setzbuch. Es stammt aus dem Jahr 1900 und muss des-wegen nicht schlecht sein.Gesetze, auch das Bundesberggesetz, werden natür-lich ständig an die sich ändernden Ansprüche und Be-dürfnisse angepasst. Die letzte Reform – darauf ist schonhingewiesen worden – wurde in den 80er-Jahren durch-geführt. Ich will darauf hinweisen, dass hier viele euro-päische Initiativen gerade aus dem Bereich Umwelt-schutzstandards eingeflossen sind. Das Bergrecht hat inseiner Geschichte in vielen Punkten eine Vorreiterrolleübernommen. So werden zum Beispiel soziale und öko-logische Aspekte schon seit langem berücksichtigt, wes-halb es im europäischen Ausland als sehr vorbildlich an-gesehen wird.In der Technologie zum Abbau von Rohstoffen liegtheute gewaltiges Innovationspotenzial. Bergbau undRohstoffgewinnung sind Hightech. Viel Hightech würdein Deutschland nicht funktionieren, wenn wir nicht dieBergleute hätten, die für Nachschub an Rohstoffen sor-gen.
Deshalb besteht auf den globalen Märkten eine großeNachfrage nach deutscher Bergbautechnologie.Es lässt sich nicht vermeiden, dass der Abbau von Bo-denschätzen meist mit Auswirkungen auf die Umweltverbunden ist. Im Bergbau in Deutschland gibt es dieweltweit höchsten Sicherheits- und Umweltstandards;die Belastungen für die Arbeitnehmer und die Umweltsind so gering wie möglich. Aufgabe des Gesetzgebersist es, das Bergrecht an die Entwicklungen anzupassen,sodass die jeweils gültige Fassung immer zeitgemäß undrechtskonform ist. So muss das Bergrecht unter Einbe-ziehung umweltrechtlicher Vorschriften immer neu jus-tiert werden. Zum Beispiel soll eine obligatorische UVPals Bestandteil des Genehmigungsverfahrens für die Ge-winnung bestimmter Rohstoffe eingeführt werden. Dasgilt auch für die seit 50 Jahren in Niedersachsen – undich komme aus Niedersachsen – praktizierte Erdgasför-derung durch das Fracking-Verfahren.Des Weiteren muss das Bergrecht in Zukunft den ge-stiegenen Bedürfnissen der Bevölkerung nach Öffent-lichkeitsbeteiligung und Transparenz im Verfahren nochstärker gerecht werden. Dies kann schon im Vorfeld ei-ner Entscheidung zu einer Entspannung zwischen denInteressen der Investoren und der betroffenen Menschenbeitragen. Wir wollen den Rechtsrahmen für den Roh-stoffabbau neu justieren, aber den Bergbau damit nichtverhindern.
Bei der Anpassung muss aber auch den berechtigtenInteressen der Unternehmen auf InvestitionssicherheitRechnung getragen werden. Wir müssen daran denken,dass bergbauliche Vorhaben unter und über Tage mit er-heblichen Vorlaufinvestitionen verbunden sind. Diesebenötigen Rechtssicherheit, die über einen sehr langenZeitraum Gültigkeit haben muss. Deshalb darf ich Sie,Kollegin Baerbock, darauf hinweisen, dass das Bundes-verfassungsgericht in seinem Urteil, gerade was Garz-weiler II angeht, die Verfassungsmäßigkeit festgestellthat.
Für die deutsche Industrie hat die Versorgung mitRohstoffen und Materialien eine große Bedeutung. Inseiner Urteilsbegründung hat das Bundesverfassungsge-richt deshalb auch die Versorgung des Marktes mit Roh-stoffen als ein Gemeinwohlziel im Sinne des Grundge-setzes bezeichnet und über das private Eigentum gestellt.Das muss auch so bleiben. Sonst wären große Infrastruk-turmaßnahmen gar nicht mehr möglich.Die Gewinnung von Rohstoffen in Deutschland unddie Nutzung eigener Ressourcen macht Deutschland un-abhängiger von Rohstoffimporten. Außerdem könnenwir bei einem Abbau in Deutschland garantieren, dassdie in Deutschland geltenden hohen sozialen Standards– ich denke hier vor allen Dingen an die Arbeitsschutz-standards – und die hohen ökologischen Standards ein-gehalten werden. Das ist bei Rohstoffen, die wir aus demAusland beziehen, oft nicht möglich.Das Urteil, auf das schon hingewiesen worden ist, istaber kein Ruhekissen. Es muss für uns Politiker Anspornsein, das Bundesberggesetz an aktuelle Bedürfnisse an-zupassen. Sonst hätten wir Stillstand. Wir stehen als SPDaber für Fortschritt,
und das mit einem nachhaltigen Bergbau.Herzlichen Dank. Glück auf!
Der Kollege Andreas Lämmel hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Grünen haben uns hier ein schönes Ei insNest gelegt. Es ist zwar noch nicht Ostern, aber wir sindja nicht mehr weit davon entfernt. Endlich lassen Sie die
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Andreas G. Lämmel
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Katze aus dem Sack. In der letzten Legislaturperiode ha-ben Sie einen ähnlichen Antrag formuliert. Damals ha-ben Sie noch verklausuliert von der Modernisierung desBergrechts gesprochen. Heute sagen Sie ganz klar, wo-rum es Ihnen geht: Der Braunkohlebergbau muss inDeutschland verboten werden.
Damit zeigen Sie Ihr wahres Gesicht. Es geht Ihnenüberhaupt nicht um eine Modernisierung des Gesetzes,sondern ganz einfach darum, einen weiteren Baustein Ih-rer Ideologie umzusetzen.Nachdem die Abschaltung der Atomkraftwerke be-schlossen ist, soll nun dem Braunkohlebergbau der Gar-aus gemacht werden. Deutschland braucht aber Rohstoff-förderung, und Deutschland braucht die Braunkohle, unddas aus zwei Gründen: zum einen natürlich zur Verstro-mung
und zum anderen, weil die Braunkohle weniger Kohlen-stoff als Steinkohle enthält. Das können Sie von denGrünen aber nicht so genau wissen, weil Sie ja ständiggegen die Naturwissenschaften polemisieren.
Sie sind sogar dafür, dass in der Schule ganze Fächer ge-strichen werden. In Baden-Württemberg haben Sie sichjetzt dafür eingesetzt, dass Biologie aus dem Lehrplangestrichen wird. Das ist Ihre Methode.
Zum Glück haben wir in Deutschland die Braunkohle.Sie trägt ganz entscheidend zur Energieversorgungssi-cherheit bei. Das ist uns natürlich sehr wichtig.Wenn Sie heute in die Tagespresse schauen, könnenSie einen großen Artikel Ihres Fraktionsvorsitzenden le-sen, in dem er schreibt: „Njet zu Gazprom“ und davonspricht, dass die starke und einseitige Abhängigkeit vonEnergieimporten gefährlich ist.
Vielleicht sollten Sie sich in Ihrer Fraktion einmal da-rüber klar werden, was Sie wollen.
Wollen Sie von Importen unabhängiger werden? Daskönnen wir nur, indem wir einheimische Energieroh-stoffe besser nutzen. Klären Sie erst einmal in IhrerFraktion, was Sie überhaupt wollen.
Schauen Sie sich Ihre Forderungen doch einmal an.Die erste Forderung habe ich ja schon genannt: Verbotdes Braunkohlebergbaus.
Das ist das Ziel. Unter dem siebten Spiegelstrich schrei-ben Sie, dass die für die ostdeutschen Länder geltendenSonderregelungen abgeschafft werden sollen. Auch daswar schon immer Ihre Zielrichtung. Das war schon beimInfrastrukturplanungsgesetz Ihre Zielrichtung.
Sie wollen nicht, dass dieses Gesetz zum Beispiel beimBau von Energieversorgungsleitungen angewendet wird.Auch das haben Sie verhindern wollen. Überall dort, woes um Gesetzesvereinfachungen geht, stehen die Grünenin vorderster Linie, um das zu verhindern.
Meine Damen und Herren, was die Verantwortung fürdie Renaturierung angeht, kann man den Braunkohleta-gebau im Osten als hervorragendes Beispiel anführen.An dieser Stelle schaue ich in Richtung der Linken, diesich hier ja auch immer wieder ereifern. Teile der Parteihaben über 40 Jahre lang ein Land regiert, und damalshat man Braunkohletagebaue sehr intensiv betrieben,aber eben ohne deutsches Bergrecht.
Was ist geblieben? Was haben Sie hinterlassen? 120 000Hektar durch Tagebau und Braunkohleveredelungsanla-gen zerstörte Landschaft
– danke für diese Gabe –, eine enorme Belastung mitSchwefeloxiden und Staub und enormste Eingriffe inden Wasserhaushalt, die zum Teil bis heute nicht beho-ben werden konnten,
und die Verklappung von Abbauresten und Industrieab-fällen – das ist die Hinterlassenschaft des Bergbaus ohnedeutsches Bergrecht.
Was geschah nach 1990? Nach der deutschen Einheitkam es zur Renaturierung, und zwar auf der Basis einergesamtdeutschen Gesetzgebung. Allein in Thüringensind 100 Betriebsanlagen – Kokereien, Kraft- und Heiz-kraftwerke und Ähnliches – entsorgt worden. 215 Tage-baurestlöcher, die wild in der Landschaft verstreut wa-ren, mussten verfüllt werden.
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Andreas G. Lämmel
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Es mussten 12,7 Milliarden Kubikmeter Grundwasserausgeglichen werden. Bisher sind 9,1 Milliarden Euroaufgewendet worden, um diese Schäden zu beseitigen.Deswegen kann man nur sagen: Das deutsche Bergbau-gesetz ist eines der modernsten Bergbaugesetze derWelt. Es ermöglicht Bergbau. Genau das wollen wir; dashat der Kollege Westphal deutlich gesagt. Deutschlandist ein Land des Bergbaus. Ich komme aus Sachsen; dagilt das erst recht.Noch ein Tipp für die Grünen. Weil Sie, Frau Kolle-gin, aus Brandenburg kommen, sage ich Ihnen: Die Lin-ken stellen dort den Wirtschaftsminister. Vielleicht spre-chen Sie, bevor Sie hier im Bundestag große Redenhalten, erst einmal mit ihm darüber, wie er das sieht.
Er wird Ihnen möglicherweise eine ganz andere Mei-nung kundtun.
Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Meiwald?
Nein danke, das wird dadurch auch nicht besser.
– Richtig.
Ich komme zum Schluss. Den Grünen empfehle ich,
einen Blick in den Koalitionsvertrag der Großen Koali-
tion zu werfen. Ich nenne Ihnen sogar die Seitenzahl, die
ich meine, damit Sie das schneller finden. Auf Seite 44
wird zum Bergrecht Stellung genommen. Da steht ganz
klar:
Die Koalition wird kurzfristig Änderungen für ei-
nen besseren Schutz des Trinkwassers im Wasser-
haushaltsgesetz sowie eine Verordnung über die
Umweltverträglichkeitsprüfung … bergbaulicher
Vorhaben vorlegen …
Meine Damen und Herren, Ihre Aufforderungen brau-
chen wir nicht. Wir wollen, dass weiterhin Bergbau be-
trieben wird.
Wir werden die Gesetze so fortentwickeln, dass Bergbau
in Deutschland in den nächsten 50 Jahren auch ohne Sie
ermöglicht wird.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ein Ostfriese spricht zum Bergrecht. Dasklingt ungewöhnlich, macht aber durchaus Sinn. Zwargibt es in meiner Heimat im Umkreis von 200 Kilome-tern keinen Berg. Aber das Bergrecht spielt, wie in ganzDeutschland, auch bei uns eine große Rolle, zum Bei-spiel bei der Gasproduktion, im Hinblick auf die Kaver-nen zur Speicherung von Gas und sogar beim Sand- undKleiabbau, den wir dringend brauchen.Der vorliegende Antrag wirft in Bezug auf das Urteildes Bundesverfassungsgerichtes zu Garzweiler II einezentrale Frage auf. Sie lautet: Ist das deutsche Bergrechtnoch zeitgemäß, oder bedarf es einer Veränderung?Viele im Urteil zur Konkretisierung aufgeführten Rege-lungstatbestände gibt es bereits seit langer Zeit im Bun-desberggesetz und in den dazugehörigen Rechtsgrundla-gen. Dazu gehören die Abwägung der öffentlichengegenüber den privaten Interessen – an dieser Stelle seiübrigens angemerkt, dass dies eine Debatte ist, die wirauch bei der Reform der erneuerbaren Energien führen,dort jedoch meistens in umgekehrter Richtung –, Rege-lungen zum Rechtsschutz der Betroffenen und Verwal-tungsverfahrensregelungen. Obwohl es diese Regelun-gen bereits gibt, ist eine Überarbeitung des Bergrechtesnicht nur, aber auch wegen des Urteils des Bundesver-fassungsgerichts sinnvoll.
– Herzlichen Dank. – Allerdings geht Gründlichkeit vorSchnelligkeit. Klatschen Sie nicht zu früh, sondern erstam Ende.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen be-nennt als Konsequenz aus dem Garzweiler-Urteil 20 so-genannte wesentliche Aspekte für notwendige Gesetzes-änderungen. Da der Antrag noch druckfrisch ist undnoch in den Ausschüssen beraten werden wird, bezieheich mich nur auf die Punkte, die heute über ein geringesKonfliktpotenzial verfügen.
Dazu gehört zum Beispiel die stärkere Einbindung derPolitik bei den im Wesentlichen bergrechtlichen Ent-scheidungen. Aus meiner Sicht kann niemand, schon garnicht ein Parlament, gegen eine stärkere Beteiligung derPolitik sein. Schließlich haben wir die Auswirkungenunserer Politik vor Ort vor den Bürgerinnen und Bürgernzu vertreten.
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1872 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Johann Saathoff
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Dazu gehört eine stärkere Einbindung der Umwelt- undKlimaschutzbelange in der Gesamtabwägung der öffent-lichen Interessen. Das entspricht dem ganzheitlichenAnsatz von Politik, die die Bürgerinnen und Bürger vonuns erwarten können. Dazu gehört auch der Rechts-schutz für die Betroffenen. In einem Rechtsstaat istRechtsschutz selbstverständlich. Zu einem ausreichen-den Rechtsschutz gehört auch die nötige Transparenz derVerfahren.Unsere allgemeinen energiepolitischen Ziele behaltenwir auf jeden Fall im Auge. Diese zielen darauf ab, dassnach einer Übergangszeit nicht nur der Ausstieg aus derAtomenergie vollzogen ist, sondern wir spätestens bis2050 auch mindestens zu 80 Prozent Strom aus erneuer-baren Energien im Netz haben. Das hat neben dem Zielder deutlichen CO2-Reduktion natürlich auch Auswir-kungen auf die konventionellen Energieträger.
Auch das Thema Fracking wird im Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen angesprochen. Eigentlich ist das nichtThema des zitierten Urteils des Bundesverfassungsge-richtes. Es gibt dazu auch klare Regelungen in unsererKoalitionsvereinbarung. Ich möchte an dieser Stelle dasBeispiel Niedersachsen erwähnen. Der SPD-Wirt-schaftsminister Olaf Lies und der grüne UmweltministerStefan Wenzel haben kürzlich ihr Konzept zum Frackingvorgelegt.
Abgelehnt wird Fracking in unkonventionellen Schiefer-gaslagerstätten wegen der unvorhersehbaren Risiken. InOstfriesland würden wir sagen: Keen Strund in’t Grund.Diese niedersächsische Position haben Sie sich zu ei-gen gemacht. Fracking in konventionellen Lagerstättenunter 2 500 Metern Sandstein wird in Niedersachsennicht grundsätzlich abgelehnt, weil es mit dieser Art vonErdgasförderung seit mindestens 30 Jahren Erfahrunggibt. Allerdings werden die Voraussetzungen deutlichverschärft. Für jede Tiefbohrung wird eine Umweltver-träglichkeitsprüfung verpflichtend. In Wasserschutz- undTrinkwassergebieten wird Fracking grundsätzlich verbo-ten. Genauso wie Sie finde ich, dass die Initiative derNiedersächsischen Landesregierung den richtigen Wegweist.
Die Bundesregierung befindet sich bereits in den ent-sprechenden Verhandlungen. Das Thema wird uns alsoohnehin im zuständigen Ausschuss noch weiter intensivbeschäftigen.Abschließend sei eines erwähnt: Erdgas ist zwar auchein fossiler Energieträger, aber im Sinne des Klima-schutzes mit all seinen Folgen aus meiner Sicht immernoch besser als Kohle, mindestens hinsichtlich der CO2-Bilanz.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/848 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,Bau und Reaktorsicherheit zuder Verordnung der BundesregierungSechste Verordnung zur Änderung der Ver-packungsverordnungDrucksachen 18/496, 18/526 Nr. 2, 18/830Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 18/830, der Verordnung der Bundesregierung aufDrucksache 18/496 zuzustimmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 18/854. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FraktionDie Linke abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, ChristineBuchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEDen NATO-Bündnisfall umgehend beendenDrucksachen 18/202, 18/349Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.1) Anlage 3
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeThomas Hitschler für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nachdem wir vor wenigen Wochen bereitsüber den vorliegenden Antrag diskutiert und ihn zur wei-teren Beratung in die zuständigen Ausschüsse überwie-sen haben, beraten wir heute über die endgültige Be-schlussempfehlung. Ich will zu dieser späten Stunde – esist Primetime, liebe Kolleginnen und Kollegen – diegroße Überraschung vorwegnehmen: Ich werde Ihnenam Ende meines Beitrages nahelegen, der Beschluss-empfehlung des Ausschusses zu folgen.
– Ja, so ist es.Lassen Sie uns aber den ursprünglichen Antrag nocheinmal anschauen. Die Kolleginnen und Kollegen derLinken stellen drei Forderungen auf. Unter Punkt 1 for-dern sie die Bundesregierung auf, sich auf der Ebene derNATO-Mitgliedstaaten und des NATO-Rates dafür ein-zusetzen, den Bündnisfall zu beenden.
– Warten Sie einmal! – Das ist mehr als zwölf Jahre nachdessen Erklärung sicherlich nachvollziehbar. – Jetzt dür-fen Sie.
Es ist im Übrigen schon länger sozialdemokratischePosition, das deutsche Engagement in NATO-Missionenauf eine andere Grundlage als den Bündnisfall zu stellen.Dies hat die Bundesregierung anerkannt; auch sie hatfestgestellt, dass der Bündnisfall nicht mehr die richtigeGrundlage für laufende Operationen darstellt. Deswegenhat sie im vergangenen Jahr zum Beispiel konkrete Än-derungsvorschläge zum Operationsplan der OperationActive Endeavour eingebracht. Im April wird dies in dieBeratungen zur Einsatzüberprüfung eingehen. Die Be-schlussfassung wird voraussichtlich im Herbst stattfin-den. Die deutschen Vorschläge an die NATO spiegeln imÜbrigen auch die Beschlusslage hier im Haus wider, ge-tragen von einer großen Mehrheit, liebe Kolleginnen undKollegen.Erst vor wenigen Wochen haben wir hier im Plenumund in den entsprechenden Ausschüssen über eine Ände-rung der Operationsgrundlage für OAE diskutiert. Teilder im Antrag beschlossenen Neuausrichtung war, dasssich die deutsche Beteiligung auf die Ständigen Mariti-men Verbände der NATO im Mittelmeer, auf Aufklä-rungs- und Frühwarnflüge sowie den Austausch von La-gedaten beschränken wird. Im damaligen Antrag wurdeweiter angeführt – ich zitiere –:Deutschland setzt sich im Bündnis kontinuierlichdafür ein, die Einsatzgrundlagen von OAE auchkonzeptionell an die tatsächlichen Einsatzrealitätenanzupassen. Auf deutsche Initiative hat der Nordat-lantikrat im April 2013 die Option eröffnet, OAEperspektivisch in eine Operation zu überführen, diesich nicht mehr auf Artikel 5 des Nordatlantikver-trages stützt.Die Linke hat im Übrigen damals gegen den Antrag ge-stimmt, nicht sehr überraschend natürlich, aber ich darfbetonen: leider. Sie sehen, Kolleginnen und Kollegen derLinken: Grundsätzlich ließe sich Ihrem Antrag bis hier-hin durchaus etwas abgewinnen.
Sie haben es allerdings nicht bei einer Forderung be-lassen, sondern sind noch weiter gegangen. UnterPunkt 2 fordern Sie, dass Deutschland den Bündnisfallzur Not unilateral für beendet erklärt. Das ist eine – nen-nen wir es einmal so – kreative Idee. Die Möglichkeitder einseitigen Entscheidung, den Bündnisfall nachArt. 5 für beendet zu erklären, gibt es bei der NATOnicht. Eine solche Entscheidung muss in den Gremiendes NATO-Rates im Konsens mit den übrigen Mitglie-dern getroffen werden. Mehrere Partner, etwa die USAund die Türkei, wollen das OAE-Mandat in seiner der-zeitigen Form fortsetzen. Hier muss Überzeugungsarbeitgeleistet werden, was natürlich noch etwas dauern wird.Durch unilaterale Erklärungen wird aber gar nichts er-reicht werden. Ein einseitiges Vorgehen Deutschlandsliefe dem Konzept eines Verteidigungsbündnisses auchgrundsätzlich zuwider. Ein Bündnis, gerade eines zurVerteidigung, funktioniert durch Einigkeit und durchGeschlossenheit, wohlgemerkt: nie kritikfrei. Der Bünd-nisfall wurde gemeinsam festgestellt; folglich sollte erauch gemeinsam für beendet erklärt werden. Alles an-dere würde das Bündnis schwächen und das Vertrauenunter den Mitgliedern unterminieren. Die Tatsache, dassSie im Begründungsteil des Antrages bestreiten, dass derBündnisfall je vorgelegen habe, ändert daran übrigensnichts.Mit der dritten Forderung in Ihrem Antrag führen Siediesen Gedanken sogar noch weiter. Danach soll dieBundesregierung sämtliches Engagement in Missionen,die auf Grundlage des Bündnisfalls begonnen wurden,umgehend einstellen.Werte Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier überOperationspläne, die mit monatelangem Vorlauf ausge-arbeitet wurden. Operationen dieser Größenordnung set-zen Verlässlichkeit der Bündnispartner voraus. DerAntrag, über dessen Beschlussempfehlung wir heute ab-stimmen, drückt das Gegenteil davon aus: Er implizierteinen Mangel an Wertschätzung gegenüber den Bünd-nispartnern und dem Bündnis. Diese Haltung Ihrer Seiteüberrascht aber wenig.Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihre grund-sätzlich ablehnende Haltung zur NATO ist lange bekanntund oft Thema in diesem Hause gewesen. Ich hoffe sehr,dass irgendwann die Zeit kommt, in der Pazifismus, wieSie ihn vertreten, realistisch sein wird. Diesen Zeitpunkthaben wir gegenwärtig aber noch nicht erreicht. Die ak-tuellen Ereignisse zeigen, dass sich Bündnisse, wie dieNATO eines ist, eben noch nicht überlebt haben.
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1874 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Thomas Hitschler
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Ein unilaterales Vorgehen, wie es in dem ursprüngli-chen Antrag gefordert wird, ist definitiv kein Weg, denwir einschlagen können oder sollten. Wir müssen unsereAllianzen wertschätzen und Partnerschaften pflegen;denn die Zeiten sind offensichtlich noch nicht so weit,wie wir das lange erhofft haben.Nach einer Phase, in der ideologisch motivierte nicht-staatliche Akteure bestehende Sicherheitsstrukturen he-rausgefordert haben, deutet sich derzeit eine Rückkehrzu – nennen wir es einmal so – klassischeren Szenarienan. Staaten und Bündnisse werden anscheinend sicher-heitspolitisch wieder eine zentrale Rolle einnehmen. Ausdiesem Grund werden wir auf absehbare Zeit weiter inder NATO engagiert bleiben. Dazu gehört es, Strukturenund Partner zu respektieren. Unsere Verbündeten müs-sen sich darauf verlassen können, dass Deutschland ge-gebene Zusagen einhält und übernommene Aufgaben er-füllt.Mit dem Beitritt zu einem Bündnis bekennt man sichzu den Werten dieses Bündnisses. Die NATO ist aus demBedürfnis demokratischer Staaten entstanden, sich ge-genseitig zu schützen und zu unterstützen.
Aktuelle Entwicklungen lassen es so aussehen, dass siedieses Bedürfnis auch künftig erfüllen muss.Die Mitgliedschaft in der NATO war für die Bundes-republik auch eine Möglichkeit, einer Demokratie ange-messene militärische Strukturen zu etablieren, die mitVerbänden anderer Nationen zusammenarbeiten können.Ich kann Ihnen aus aktuellen Beobachtungen – ich warvor kurzem in Afghanistan – berichten, dass diese Struk-turen auch multinational hervorragend funktionieren undso auch eine Art Friedensgarantie für alle darstellen.
Aus diesen Gründen werden wir die NATO-Mitglied-schaft auch weiterhin achten, und aus diesen Gründenwerden wir auch weiterhin vermeidbare Alleingänge un-terlassen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie, wiebereits angekündigt, bitten, der Beschlussempfehlungdes federführenden Ausschusses zu folgen.Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Frak-
tion Die Linke das Wort.
Danke sehr. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich verhehle überhaupt nicht, dass Sie ineinem Punkt völlig recht haben, Herr Hitschler. WennSie mir einen Mangel an Wertschätzung für das NATO-Bündnis unterstellen, so stimmt das. Ich habe einenMangel an Wertschätzung für dieses Bündnis. Ich hattedie Hoffnung, dass sich nach der Auflösung des War-schauer Vertrages irgendwann einmal auch die NATOauflöst.
Das wäre eine Friedensdividende, die wir hätten einbrin-gen können. Dort hätte eine deutsche Regierung Initiati-ven ergreifen müssen.Das, was wir jetzt beantragen, ist relativ simpel – Siehaben die drei Punkte schon sehr richtig genannt –:Erster Punkt. Wir möchten, dass der NATO-Bündnis-fall beendet wird. Das war ein Ausnahmerecht. DerBündnisfall ist ein einziges Mal in der Geschichte derNATO ausgerufen worden – vor 13 Jahren. Ein Ausnah-merecht ist zum Dauerrecht gemacht worden. Dasspricht schon dafür, darüber nachzudenken, diesenNATO-Bündnisfall jetzt endlich zu beenden.
Dass auch die Bundesregierung darüber nachdenkt – ichkenne ja die Papiere – finde ich völlig in Ordnung. Ichbitte Sie: Denken Sie intensiver darüber nach und han-deln Sie vor allen Dingen in dieser Richtung. Uns wärees am liebsten, wenn der NATO-Bündnisfall im NATO-Rat auf Initiative der Bundesregierung beendet würde.Falls nicht – das ist unser zweiter Punkt; er ist um-stritten, und ich komme gleich noch darauf –, sollte dieBundesrepublik Deutschland ihn einseitig als beendet er-klären.Dritter Punkt. Wir wollen, dass nicht weiterhin Ein-sätze damit begründet werden. Der NATO-Bündnisfallwar die Grundlage für den Krieg gegen den Terror. Oderumgekehrt: Der Krieg gegen den Terror korrespondiertmit dem NATO-Bündnisfall. Der Krieg gegen den Terrorist unendlich gescheitert!
Wir haben Ihnen immer wieder vorgetragen – dawerde ich auch nicht müde –, dass man den Terror be-kämpfen kann, indem man seine Ursachen bekämpft.Der Krieg gegen den Terror hat nur immer wieder Ter-ror, Gewalt, Tod und Vernichtung ausgelöst; das ist dochdie Tatsache. Wenn man das nicht will, dann muss manvon dieser Grundlage weg. Wir werden sehen, dass derMilitäreinsatz in Afghanistan, den Sie so loben und denich so sehr kritisiere, dass dieser Krieg gegen den Terrordurch Verhandlungen beendet werden muss. Verhandelnmuss man mit seinen Feinden. Mit seinen Freundenbraucht man es meistens nicht zu tun, manchmal mussman aber auch das.Es bleibt der zweite Punkt – der ist umstritten, dasgebe ich Ihnen zu –: Wir sagen: Es muss das Recht einesjeden Staates geben, für sich selbst festzustellen: DieserPunkt ist für uns erledigt. Die NATO hat den Bündnisfallim Konsens beschlossen; anders kann sie das gar nichtbeschließen. Die NATO beruht auf Konsensentscheidun-gen. Wenn jetzt also ein Staat in den Verhandlungen, obder Bündnisfall fortgeführt wird, feststellt, dieser Kon-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1875
Wolfgang Gehrcke
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sens sei nicht mehr gegeben, wäre es eine rechtlichePosition, zu sagen: Auf dieser Grundlage muss auch derBündnisfall beendet werden. Wir wollen von der deut-schen Politik, dass festgestellt wird: Der Konsens zurFortführung des Bündnisfalles ist nicht mehr gegeben.
Ich will immer mit dem Kopf durch die Wand; das istschon okay. Manchmal muss man auch einen Umwegsuchen.
– Ja, wenn eine da ist.
– Okay, darüber können wir uns gleich einigen.Ich möchte Ihnen jetzt einen Vorschlag machen. Wiewäre es, wenn die deutsche Bundesregierung für dienächste NATO-Vollversammlung einen Antrag auf eineDebatte darüber einbringen würde, den NATO-Bündnis-fall dort zu beenden? Auch die Parlamentarische Ver-sammlung der NATO kann sich mit diesem Themabefassen, aber sie kann es nicht beschließen. Aber Siekönnen vorangehen, auch wenn Sie unseren Vorschlagfür schlecht halten. Beantragen Sie für die nächsteNATO-Vollversammlung, die Beendigung des Bündnis-falles zu debattieren! Das möchte ich gerne sehen.Lassen Sie mich zum Schluss sagen – ich werde viel-leicht auch schon gemahnt –: Mit diesem NATO-Gene-ralsekretär werden Sie keinen Blumentopf gewinnen.Wer jetzt in Europa in dieser Situation fordert, dass dieMilitärausgaben steigen sollen, wer eine solch aggres-sive Politik betreibt, der schadet der NATO mehr, als iches je gekonnt hätte.Danke sehr.
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat nun für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr KollegeGehrcke, Sie haben, wie so oft, eine Chance vertan.Nicht dass Sie die Tür nicht gefunden haben und durchdie Wand wollten, sondern Sie haben die Chance vertan,hier eindeutig klarzustellen, dass die Aggression nichtvon der NATO ausgeht, sondern von Russland. Sie ha-ben die Chance vertan, hier eindeutig klarzustellen, wiedie Position der Linkspartei ist. Offensichtlich stehen Siefür Aggression und für militärische Auslandseinsätzedes postsowjetischen Russlands. Das ist enttäuschend,aber war auch nicht anders zu erwarten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen heuteüber den Antrag, den NATO-Bündnisfall zu beenden.Ich möchte das kurz abhandeln und dann über die NATOselbst sprechen. Wir sind uns, glaube ich, einig – derKollege Hitschler hat es angesprochen –, dass zu einersolchen Änderung nicht nur die BundesrepublikDeutschland gehört, sondern alle 28 Mitglieder der NATO.Wir wissen sehr genau, dass es mindestens zwei Bünd-nismitglieder gibt, die darauf bestehen, dass der Bünd-nisfall fortbesteht. Die Bundesregierung ist seit zweiJahren dabei, hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Wirwerden sicherlich eine Änderung des Mandats bekom-men, vorausgesetzt, wir erleben Entwicklungen, die unsberuhigen, dass sich die NATO auch weiterhin vorrangigum die kollektive und kooperative Sicherheit kümmernkann.Die NATO hat sich seit dem Lissabonner Abkommen,dem neuen NATO-Vertrag von 2010, drei Aufgaben ge-widmet: erstens der kollektiven Verteidigung, zweitensder gemeinsamen Krisenbewältigung und drittens derkooperativen Sicherheit. Gerade die Operation ActiveEndeavour bietet die Chance zu einer Plattform für ko-operative Sicherheit, weil viele Staaten des nördlichenAfrikas daran mitwirken. Aber wir erleben in diesen Ta-gen auch, dass ein Land wie Polen erstmals in der Ge-schichte der NATO Art. 4 des Nordatlantikvertrags auf-ruft, nämlich Konsultationen innerhalb des Bündnisses.Das muss uns mit Sorge erfüllen,
weil wir hier die Sicherheitsempfindungen unserer östli-chen Nachbarn hautnah erleben. Was wir gerade mitbe-kommen, ist, dass Russland alles umstößt, was in denletzten 15 Jahren aufgebaut wurde. Wir sehen Angstver-breitung, Beunruhigung und auch Vertrauensverlust, unddas bei Volksabstimmungen, die ohne Hoheitsabzeichenquasi von einer Miliztruppe überwacht durchgeführtwerden und unter Verfassungsbruch und vor allen Din-gen unter Bruch des Völkerrechts stattfinden.Wir befinden uns derzeit in einer sehr großen, umfas-senden strategischen Debatte darüber, wie es nach ISAFund angesichts von Cyber-Bedrohungen weitergeht.Wenn wir in solch einer strategischen Debatte innerhalbder NATO solche Angebote russischerseits erleben müs-sen, werden wir zunehmend wieder unsere Fähigkeitenmit Blick auf Art. 5 des Nordatlantikvertrags betrachtenmüssen, damit wir in der Lage sind, Schutz zu bietenund Vertrauen auszustrahlen.Mitgliedschaft in der NATO ist etwas Freiwilliges.Die Staaten, die nach dem Kalten Krieg die Mitglied-schaft gesucht haben, sind freiwillig zu uns gekommenund fühlen sich in diesen Tagen bestärkt, dass sie hier ei-nen sehr klugen Schritt für die Zukunft ihrer Gesell-schaft gemacht haben.
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1876 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Roderich Kiesewetter
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Deshalb ist es unerträglich, dass Sie bei der Behand-lung dieses Antrags nicht einmal auch nur in Ansätzenüber die Leistungen der NATO für die Befriedung Euro-pas sprechen.
Sie sprechen es nicht an. Sie sprechen auch nicht an,welche Verletzungen von russischer Seite begangen wor-den sind. Im Gegenteil, Sie verlangen, dass die NATOaufgelöst wird, dass diejenigen, die sich sicher fühlen,nicht mehr den Schutzrahmen haben, den wir brauchen.Ich glaube, wir, die große demokratische Seite diesesParlaments – ich appelliere dabei auch sehr stark an dieOppositionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen –, solltenuns bewusst sein, dass die Gräben zu solch einer Ge-schichtsauffassung viel zu tief sind, als dass wir es auchnur einmal zulassen dürfen, dass die Linke Verantwor-tung für die Bundesrepublik Deutschland übernimmt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir weisenden Antrag zurück. Wir empfehlen, der Beschlussemp-fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu folgen. Ichbitte uns alle, die Entwicklungen in der NATO mit ge-schärfter Aufmerksamkeit zu begleiten, damit wir wei-terhin ein starkes Bündnis für Sicherheit und Frieden inEuropa bleiben.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat nun für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Eine Debatte um das Thema, wie man mit dem
NATO-Bündnisfall, der vor 13 Jahren – Kollege Hitschler
und ich waren damals in einem Alter, in dem wir gerade
ans Abitur dachten – ausgerufen wurde, umgeht, ist im-
mer ein Drahtseilakt, auf der einen Seite nicht zu staats-
tragend zu sein und auf der anderen Seite nicht zu sehr
über das Ziel hinauszuschießen.
Ich will eines vorwegschicken: Vor 13 Jahren hatten
wir es mit einer kollektiven Abwehr einer konkreten Be-
drohung der Vereinigten Staaten von Amerika zu tun.
Ich hoffe, dass wir uns alle darin einig sind, dass diese
konkrete Bedrohung heute nicht mehr besteht. Ich habe
in dieser Debatte auch mit Freude vernommen, dass ei-
nige in der Koalition sagen, dies halte auch nicht mehr
als Begründung für Auslandseinsätze bzw. Missionen
her. Deswegen sind wir uns mit der Linken durchaus ei-
nig darin, dass man den NATO-Bündnisfall beenden
sollte.
Aber wenn wir darüber sprechen, auf welche Art und
Weise wir diese Beendigung erreichen sollen, dann will
ich es so formulieren: Man muss die Spielregeln ändern,
statt sie zu verletzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Aus Sicht meiner Fraktion stellt es eine Verletzung
der Spielregeln dar, wenn Deutschland jetzt unilateral
den Bündnisfall für beendet erklären würde.
Deshalb fordern wir – bevor die Union in die Verlegen-
heit kommt, Beifall klatschen zu müssen – die Bundes-
regierung mit Nachdruck auf, sich für die Beendigung
des Bündnisfalls einzusetzen.
Ich will einen Schritt weitergehen. Wir müssen in die-
sem Parlament initiativ werden und darüber diskutieren,
wie wir Art. 5 des Nordatlantikvertrags weiterentwi-
ckeln können. Wir brauchen eine Antwort, wie wir,
wenn dieser Konsens nicht mehr gegeben ist, einen Me-
chanismus entwickeln können, der eine regelmäßige
Überprüfung des Bündnisfalls durch die Vertragspartner
ermöglicht und zu einer Beendigung führt, wenn eine
überwiegende Zahl der Staaten der Auffassung ist, dass
der Bündnisfall nicht mehr gegeben ist.
Liebe Kollegen von der Linken, wir werden uns bei
der Abstimmung über Ihren Antrag enthalten. Sie stellen
eine Forderung auf, die wir schon in der letzten Legisla-
turperiode in Anträgen mehrfach erhoben haben, näm-
lich diesen Bündnisfall endlich zu beenden. Aber leider
schießen Sie aus unserer Sicht – wie so oft in der Vertei-
digungspolitik – über das Thema hinaus, indem Sie ei-
nen unilateralen Ausstieg aus dem Bündnisfall fordern.
Wir glauben nicht, dass dies möglich ist. Ich glaube auch
nicht, dass wir – es ist von der SPD-Fraktion durchaus
erwähnt worden – unsere Position, wenn es darum geht,
Spielregeln zu ändern und Mechanismen zu überarbei-
ten, dadurch stärken, dass wir unilateral an dieser Stelle
aussteigen.
Der NATO-Bündnisfall, die kollektive Verteidigung,
ist ein hohes Gut. Gerade deshalb muss man damit sorg-
sam umgehen. Man darf ihn nicht länger festgestellt las-
sen, als Gründe dafür vorhanden sind. Deshalb sollten
wir uns alle gemeinsam – die Bundesregierung vorweg –
bei der NATO spätestens auf dem Herbstgipfel endlich
für eine Beendigung des Bündnisfalls nach 13 Jahren
einsetzen.
Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin JuliaBartz das Wort.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1877
(C)
(B)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Nur im Bündnis der NATO und mit dem
europäischen Gedanken konnte unser Land zu dem
wachsen, was es heute ist. Wiedervereinigung und wirt-
schaftlicher Wohlstand konnten nur im Rahmen kollekti-
ver Bündnissysteme wie NATO und EU erfolgen. Doch
Teil eines Bündnisses zu sein, heißt auch, in diesem Ver-
antwortung zu übernehmen. Im äußersten Fall bedeutet
das, Bündnispartner militärisch zu unterstützen, wie es
Art. 5 des Nordatlantikvertrags vorsieht.
Am 12. September und 4. Oktober 2001 wurde dieser
Fall nach den Anschlägen auf das World Trade Center
und das Pentagon ausgerufen. Nach den verbrecheri-
schen Angriffen gegen unseren Bündnispartner stellten
sich die NATO-Mitglieder geschlossen an die Seite der
USA, um dem transkontinentalen Terrorismus entgegen-
zutreten. Die Anschläge von London, Madrid und nicht
zuletzt das versuchte Bombenattentat in Bonn haben uns
gezeigt, dass die Gefahr des religiös motivierten Terro-
rismus auch Europa bedroht. Nur in einer solidarischen
Gemeinschaft können wir dieser Herausforderung wir-
kungsvoll begegnen.
Dabei wurden nicht nur reine Kampfeinsätze wie ISAF,
sondern auch Überwachungs- und Beobachtungsmissio-
nen zur Terrorismusprävention und -abwehr etabliert.
Die Teilnahme an der Operation Active Endeavour ist
der aktuelle Beitrag Deutschlands zum kollektiven
Bündnisfall. Eine Fortführung von OAE als Überwa-
chungsmission zur Sicherstellung eines detaillierten
Lagebildes ist nach wie vor notwendig. Die politischen
Entwicklungen im Nahen Osten und in Nordafrika ma-
chen die Präsenz der Bündniskräfte im Mittelmeerraum
erforderlich.
Wie wir hier schon mehrfach erwähnt haben, streben
wir eine Weiterentwicklung von OAE hin zu einer nicht-
Artikel-5-gestützten Mission an. Eine entsprechende
Initiative ist bereits im April vergangenen Jahres von der
Bundesregierung in den NATO-Rat eingebracht worden.
Auch unsere aktuelle Bundesregierung verfolgt dieses
Ziel mit Nachdruck. Um diese Umwidmung zu vollzie-
hen, braucht es aber die Zustimmung aller 28 Mitglied-
staaten. Ein multilateraler Konsens in einer solchen
Dimension braucht Zeit.
Das ändert jedoch nichts an dem Sinn und Zweck die-
ser Mission. Das Mittelmeer ist eine der strategisch
wichtigsten Schifffahrtsrouten der Welt.
25 Prozent aller Rohöllieferungen und ein Drittel aller
Seehandelsgüter werden zwischen der Straße von Gib-
raltar und dem Suezkanal verschifft. Der Schutz dieser
wirtschaftlichen Lebensader ist von vitalem Interesse für
Europa, für die NATO und somit für Deutschland. Un-
sere Präsenz im Mittelmeer hat eine vorbeugende
Schutzfunktion.
Somit steht OAE auch in vollem Einklang mit den
Verteidigungspolitischen Richtlinien. In diesen heißt es
auch, dass Deutschland als einer der wichtigsten
Bündnispartner der NATO Verantwortung trägt. Dieser
werden wir mit unserer Beteiligung an Missionen der
NATO, der Vereinten Nationen und der EU gerecht. Ein
eigenmächtiges Ausscheren aus OAE hätte einen fatalen
Ansehensverlust in der internationalen Gemeinschaft zur
Folge. Nationale Einzelgänge führen ins politische und
diplomatische Abseits.
Die Teilnahme an NATO-Missionen und UN-Missio-
nen hingegen ist ein wichtiger Beitrag zur international
vernetzten Sicherheit. Hier hat sich OAE – der Kollege
Kiesewetter hat es bereits angesprochen – zu einer wich-
tigen Kommunikationsplattform über die NATO-
Grenzen hinaus entwickelt. Auch Staaten der Partner-
schaft für den Frieden haben sich an dieser Mission
beteiligt.
Wie gesagt: Wir befürworten eine Neukonzeption der
Operation Active Endeavour. Wir lehnen jedoch eine
Beendigung des deutschen Engagements in dieser
Mission entschieden ab. Deutschland ist und bleibt ein
verlässlicher Bündnispartner.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Den NATO-Bündnisfall umgehend been-den“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 18/349, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 18/202 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten LuiseAmtsberg, Tom Koenigs, Omid Nouripour, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENVerantwortung übernehmen – Zügig mehrsyrische Flüchtlinge aufnehmenDrucksache 18/846Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Jan van Aken, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE
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1878 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Vizepräsidentin Petra Pau
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Für eine schnelle und unbürokratische Auf-nahme syrischer Flüchtlinge in Deutschlandund in der EUDrucksache 18/840Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Mit 9 Millionen Vertriebenen hat der Bürgerkriegin Syrien längst das größte Flüchtlingsdrama weltweitausgelöst. Seit dem Ausbruch des Konflikts vor dreiJahren flohen nach UN-Angaben mehr als 2,5 MillionenSyrer ins Ausland; weitere 6,5 Millionen sind zu Vertrie-benen in ihrem eigenen Land geworden. Mindestens dieHälfte der vom Krieg vertriebenen Menschen sindKinder.Angesichts der unübersichtlichen Konfliktlage undder nur geringen Aussichten auf eine politische Lösungist damit zu rechnen, dass die Not weiter zunehmen wirdund noch viel mehr Menschen flüchten müssen.Was ist die derzeitige Lage? Die Türkei hat mehr als625 000 Syrer aufgenommen. Die weitaus meistenFlüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs – nahezu 1 Mil-lion Menschen – leben im Nachbarland Libanon. DerRest verteilt sich auf die Länder Irak, Jordanien undÄgypten.Europa hat bisher 4 Prozent der geflüchteten Syreraufgenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wirfinden: Europa kann mehr, Europa muss mehr, undDeutschland ist für diesen Diskurs die entscheidendeTriebfeder.
Seit Sommer 2013 haben alle Bundesländer – alle au-ßer Bayern – eigene Aufnahmeprogramme für syrischeFlüchtlinge auf den Weg gebracht. Nach dem erstenKontingent des Bundes ist der Deutsche Bundestag imletzten Jahr einen wichtigen humanitären Schritt gegan-gen und hat fraktionsübergreifend ein zweites Auf-nahmekontingent für weitere 5 000 syrische Flüchtlingebeschlossen.Trotz des engagierten Einsatzes von Bund, Ländernund Kommunen reicht der deutsche Beitrag für dieUnterstützung von Schutzsuchenden aus Syrien leidernicht aus. Denn für die zusätzlichen 5 000 Aufnahme-plätze liegen mindestens zehnmal so viele Anmeldungenin den Ländern vor. Das sind zwischen 50 000 und60 000 Menschen, überwiegend mit familiärem Bezugzu Deutschland. In Anbetracht dieser Situation siehtmeine Fraktion nach wie vor dringenden Handlungsbe-darf.
Da es in der Debatte immer wieder angeführt wird,möchte ich mich darauf einmal beziehen: Als überzeugteEuropäerin bin ich natürlich immer daran interessiert,dass es eine gemeinsame faire europäische Lösung fürdie europäischen Herausforderungen gibt. Mir ist auchbewusst, dass sich Deutschland in dieser Frage sehrengagiert. Trotzdem bedeuten Europa und europäischeSolidarität für mich nicht, dass wir uns hinter der fehlen-den Bereitschaft anderer Mitgliedstaaten verstecken dür-fen, im Gegenteil.
Lassen Sie uns gemeinsam vormachen, was Humani-tät und großherzige Hilfe, die der humanitären Notlagein Syrien spürbar etwas entgegensetzen, bedeuten undwie sie aussehen können. Unser Antrag fordert daher,ein neues Kontingent aufzulegen, das sich an den derzeitgestellten Anträgen in den Ländern orientiert.Aber lassen Sie uns auch konkret in unserer nationa-len Gesetzgebung unsere Spielräume nutzen. Es ist undbleibt ein Unding, dass Asylbewerberinnen und Asylbe-werber aus Syrien, die Verwandte in Deutschland haben,immer noch im Rahmen der Dublin-Verordnung in an-dere EU-Staaten zurückgeführt und für diesen Zweckauch in Abschiebehaft genommen werden können.Lassen Sie uns in den Dialog mit den Bundesländerngehen und dafür sorgen, dass die Abschiebestopps nachSyrien verlängert werden und die hohen Hürden bei denAufnahmeprogrammen in den Ländern, vor allen Din-gen was die Verpflichtungserklärungen angeht, reduziertwerden.
Lassen Sie uns weiter dafür kämpfen – auch das istBestandteil unseres Antrages –, dass die Kommissionaufhört, die von der Bundesregierung mit Nachdruckverlangte Pledging-Konferenz zu blockieren; denn dasist wirklich ein Skandal.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das gestrige Be-richterstattergespräch im Innenausschuss hat mir nocheinmal verdeutlicht, dass es fraktionsübergreifend eintiefes Bewusstsein für die humanitäre Notlage in Syriengibt. Auch das Bundesinnenministerium ist bemüht, dieVerfahren zur Aufnahme zu verbessern und die bürokra-tischen Hürden abzubauen. Das ist gut. Ich begrüße dasausdrücklich und hoffe, dass wir auf dieser Grundlageund vor allen Dingen mit diesem Bewusstsein zu einergemeinsamen Lösung kommen werden. Ich denke, wirwerden nicht darum herumkommen, über eine Auswei-tung des Kontingentes nachzudenken. Wie sie aussehenwird, das möchten wir gerne diskutieren. Dafür ist unserAntrag eine Grundlage. Ich hoffe, da auch bei Ihnen aufoffene Ohren zu stoßen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1879
Luise Amtsberg
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Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Nina Warken für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Meine Damen und Herren! Die Lage in Syrien istnach wie vor dramatisch; das ist uns allen bewusst. Lautjüngsten Berichten des UNHCR sind inzwischen über9 Millionen Syrer auf der Flucht. Das sind mehr als40 Prozent der Bevölkerung des gesamten Landes. Etwa2,5 Millionen Menschen sind mittlerweile in die Nach-barstaaten geflohen. Das sind vor allem der Libanon,Jordanien und die Türkei.Deutschland tut viel, um diesen Menschen zu helfen.Da die syrischen Nachbarstaaten die Massenflucht alleinnicht bewältigen können, setzt unsere Hilfe genau dortan, wo sie gebraucht wird. Deutschland unterstützt diebetroffenen Länder seit 2012 mit rund 483 MillionenEuro für humanitäre Hilfe, Infrastruktur und Krisen-bewältigung. Das THW ist beispielsweise mit zahlrei-chen Helfern vor Ort und leistet Hilfe in Flüchtlings-lagern, vor allem durch die Bereitstellung von sauberemTrinkwasser. Ohne das würden viele Menschen krankwerden und sterben.Deutschland ist sich seiner humanitären Verantwor-tung bewusst. Die Bundesregierung hat schon im Mai2013 ein Bundesprogramm zur Aufnahme von 5 000 be-sonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Syrien ge-startet. Diese Menschen kommen entweder selbst nachDeutschland oder werden mit Charterflügen eingeflo-gen. Gleichzeitig haben auch die Länder eigene Aufnah-meprogramme ins Leben gerufen. In diesem Rahmenwurden bereits 2 300 Visa erteilt.Um es noch mehr Menschen aus Syrien zu ermögli-chen, Schutz zu suchen, wurde im vergangenen Dezem-ber ein zweites Bundesprogramm zur Aufnahme vonweiteren 5 000 syrischen Flüchtlingen eingerichtet. Beidem liegt der Schwerpunkt auf der Aufnahme von Perso-nen mit Verwandten in Deutschland.Bislang sind im Rahmen der beiden Bundespro-gramme 4 000 Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschlandgekommen. Davon sind allein 1 755 Menschen, die nichtin der Lage sind, selbst nach Deutschland einzureisen,mit Charterflügen gekommen. Auch in Zukunft sind je-den Monat zwei Flüge mit jeweils 300 Flüchtlingen ge-plant.Insgesamt sind also seit 2011 mehr als 30 000 Men-schen aus Syrien nach Deutschland gekommen. DasBundesamt für Migration und Flüchtlinge bearbeitet je-den Monat mehr als 1 500 Asylanträge syrischer Flücht-linge. Schon seit drei Jahren wird niemand mehr nachSyrien abgeschoben, und jeder Antragsteller bekommtzumindest subsidiären Schutz. Das alles wird schon jetztgetan.Natürlich ist es leicht, immer mehr zu fordern, wie esdie Opposition jetzt tut, ohne zu berücksichtigen, dassdie Aufnahmekapazitäten für Asylbewerber in unserenLändern und Kommunen mittlerweile an ihre Grenzenstoßen. Zweifelsohne haben Bund und Länder bereits inder Vergangenheit entschieden gezeigt, dass sie denFlüchtlingen aus Syrien helfen wollen. Die Aufnahme-aktion über die beiden Bundesprogramme sowie dieProgramme der Länder sind in vollem Gange, und diezuständigen Behörden tun alles, um die besondersSchutzbedürftigen so schnell wie möglich ins Land zuholen.Ein positives Signal ist es, dass Bund und Länder er-örtern wollen, unter welchen Bedingungen weitere Men-schen aus Syrien aufgenommen werden können, sobalddie bestehenden Kontingente ausgeschöpft sind. Den-noch wäre es illusorisch, sich bei den Aufnahmekontin-genten nur an den Interessenbekundungen zu orientie-ren. Wir werden niemals allen Anforderungen gerechtwerden können, da in Syrien nahezu das halbe Land aufder Flucht ist. Deshalb ist es richtig, dass der Schwer-punkt unserer Hilfe vor Ort liegt; denn in der Region er-reicht man mit den eingesetzten Mitteln viel mehr Men-schen, als es durch Flüchtlingsaufnahme möglich ist.
Auch die weitere Forderung der Opposition nachmehr Personal ist wenig hilfreich. Das Personal wurdesowohl hier in Deutschland als auch in der Krisenregionbereits aufgestockt. Hier muss man verstehen, dass Per-sonal mit entsprechender Qualifikation sowie sichereRäumlichkeiten vor Ort, die für die Abwicklung derAusreise der Flüchtlinge notwendig sind, begrenzt sind.Davon abgesehen sind die Schwierigkeiten, die durchdie Sicherheitslage in den Nachbarstaaten oder bei derErteilung von Ausreisegenehmigungen durch die lokalenSicherheitsbehörden bestehen, auch durch mehr Perso-nal nicht lösbar.Statt einfach nur mehr zu fordern, muss an dieserStelle auch einmal gesagt werden, wie wichtig es ist,dass wir Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzego-wina sowie Albanien und Montenegro zu sicheren Her-kunftsländern erklären. Dann stehen wieder mehr Kapa-zitäten zur Aufnahme von Flüchtlingen, auch denvorrangig Schutzbedürftigen aus Syrien, zur Verfügung.
Auch die immer wieder vorgebrachte Kritik von Grü-nen und Linken am Dublin-Verfahren kann ich nur zu-rückweisen. Deutschland macht nach meiner Kenntnissehr wohl von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch,wenn Menschen beispielsweise medizinisch versorgtwerden müssen. Ebenso wird entsprechend der EU-Ver-ordnung darauf geachtet, dass die Kernfamilie stets zu-sammenbleiben kann.Es kann allerdings nicht das Ziel sein, dass Deutsch-land alle syrischen Flüchtlinge aufnimmt, die nach Eu-
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1880 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Nina Warken
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(B)
ropa kommen. Unsere europäischen Nachbarn habenhier auch eine humanitäre Pflicht, die wir einfordernmüssen.
Aus unserer Sicht befinden wir uns also auf einem gu-ten Weg, was die Aufnahme syrischer Flüchtlinge inDeutschland angeht. Die Opposition konnte mit ihrenbeiden Anträgen hier nichts Neues beitragen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
grausame Krieg in Syrien läuft bereits seit drei Jahren,
und weit mehr als 100 000 Menschen sind ums Leben
gekommen. 10 Millionen Menschen sind auf der Flucht,
davon ungefähr 7,5 Millionen im Land selber auf der Su-
che nach Alternativen. 2,5 Millionen registrierte Flücht-
linge befinden sich in Anrainerstaaten Syriens und in
Ägypten. Ich muss wirklich sagen: Es ist eine Schande,
dass es bis heute nur einem Bruchteil der Flüchtlinge ge-
lungen ist, in die Europäische Union zu kommen, um
Zuflucht zu finden.
Meine Damen und Herren, an den Außengrenzen der
EU treffen Flüchtlinge auf eine immer massivere und
brutalere Abschottung. Die Landesgrenzen Griechen-
lands und Bulgariens zur Türkei wurden zum Beispiel
mit Zäunen und Stacheldraht abgeriegelt. Soldaten grei-
fen Flüchtlinge in der Ägäis auf und schaffen sie zurück
in die Türkei. Wie viele Menschen die gefährliche Über-
fahrt über die Ägäis und das Mittelmeer nicht überleben,
weiß wirklich niemand. Täglich sterben an den Außen-
grenzen der EU – das ist leider bittere Wahrheit – uner-
träglich viele Menschen. Das muss dringend beendet
werden.
Trotz all dieser Abschottungsbemühungen haben es in
den vergangenen zwei Jahren etwa 70 000 Flüchtlinge
aus Syrien geschafft, in die Europäische Union zu flie-
hen. Gut ein Drittel wurden in der Tat in der Bundesre-
publik aufgenommen. Im gleichen Zeitraum wurde ge-
rade einmal 12 000 Menschen die Zusage für eine
Aufnahme in einem EU-Staat gegeben; nur diese haben
also sichere und legale Einreisemöglichkeiten. Von ih-
nen nimmt allein die Bundesrepublik 10 000 Flüchtlinge
auf. Doch das bedeutet noch lange nicht, dass sich die
Bundesrepublik auf ihren Verdiensten ausruhen darf. Ein
Vergleich, um sich das einfach einmal vorzustellen: Im
Libanon hat es einen Bevölkerungszuwachs um 19 Pro-
zent gegeben. Das würde für Deutschland bedeuten, dass
es innerhalb von zwei Jahren einen Bevölkerungszu-
wachs von 15 Millionen Menschen gegeben hätte. Die
Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik kann mehr
tun, muss mehr tun, und es muss vor allen Dingen syri-
schen Flüchtlingen schneller und unbürokratischer ge-
holfen werden.
Syrische Asylsuchende, die über einen anderen EU-
Staat nach Deutschland eingereist sind, geraten wirklich
in die Mühlen der Asylbürokratie. Man muss sich ein-
fach einmal vorstellen: Sie fliehen aus ihrem Land vor
Krieg, sie fliehen über die Meere und gefährden ihr Le-
ben, dann kommen sie nach Deutschland und werden
mit der Dublin-Verordnung konfrontiert. Und was pas-
siert? Als Allererstes gehen sie in Abschiebegefäng-
nisse, weil sie überstellt werden sollen. Das ist ein Ver-
fahren, das unbedingt abgeschafft werden muss.
Deswegen fordert die Linke auch, die Dublin-Verord-
nung ganz schnell für syrische Flüchtlinge auszusetzen.
Es ist wirklich ein bürokratischer Irrsinn, der hier betrie-
ben wird. Man muss wirklich an das Bundesinnenminis-
terium sowie die Innenminister der Länder und der euro-
päischen Staaten appellieren, dass das geändert wird.
Es ist hier schon angesprochen worden, dass viele
Flüchtlinge Verwandte in Deutschland haben. Auch die-
sen muss unbegrenzt und unbürokratisch ermöglicht
werden, dass sie von den entsprechenden Ländern aufge-
nommen werden und zu ihren Familien reisen können.
Übrigens wäre das die schnellste und einfachste Art, den
Flüchtlingen zu ermöglichen, ein Leben in Sicherheit zu
führen. Daneben muss sich die Bundesrepublik auch
weiterhin an humanitären Aufnahmeprogrammen des
UNHCR beteiligen.
Meine Damen und Herren, auch auf EU-Ebene muss
mehr getan werden. Deutschland muss Druck machen.
Ohne mit der Wimper zu zucken, werden Gelder in Mil-
liardenhöhe bereitgestellt, um die Grenzen abzusichern.
Wir meinen, dass die Gelder viel sinnvoller für Flücht-
linge eingesetzt wären. Das Wichtigste ist: Wir sollten
nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen und endlich dafür
sorgen, dass Waffenlieferungen nach Syrien, und zwar
an alle Seiten, gestoppt werden.
Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Christina
Kampmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Un-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1881
Christina Kampmann
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abhängig vom Ausmaß des Elends, unabhängig von derDimension des Leidens und unabhängig von der Viel-zahl menschlicher Schicksale neigen Flüchtlingsdramendazu, aus dem öffentlichen Bewusstsein nahezu zu ver-schwinden, wenn sie nur lang genug andauern und weitgenug von uns entfernt scheinen.Vor ziemlich genau drei Jahren gingen die Menschenin Syrien auf die Straße, um friedlich für Werte zu de-monstrieren, deren Verteidigung auch bei uns höchstePriorität hat: für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demo-kratie. Doch was seit diesem März 2011 geschah, spottetjeder Beschreibung: das brutale Vorgehen des Assad-Re-gimes, welches seinen vorläufigen Höhepunkt im Ein-satz von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerungfand, die Radikalisierung und Zersplitterung der Opposi-tion, die dazu geführt hat, dass es inzwischen zahlreicheNebenkriegsschauplätze gibt, die das ursprünglich fried-liche Ansinnen der Menschen in Syrien in Vergessenheithaben geraten lassen. Es sind die Menschen, die heuteauf der Flucht sind, weil sie in ihrer Heimat um ihr Le-ben fürchten müssen, weil sie Opfer von Verfolgung undvon Gewalt sind.Liebe Frau Amtsberg, Deutschland versteckt sichnicht. Deutschland hat mehr Flüchtlinge aufgenommenals jedes andere europäische Land. Das wissen Sie auch.
Der Bund hat sich zu seiner Verantwortung bekanntund die Aufnahme von insgesamt 10 000 Flüchtlingenbeschlossen. Es besteht Einigkeit darüber, dass auchnach Ausschöpfung der vorhandenen Kontingente de-nen, die aus Syrien geflüchtet sind, Schutz in Deutsch-land gewährt werden soll. Viele Länder haben inzwi-schen Verlängerungen bezüglich der Antragsfrist für dieAufnahme beschlossen; darunter Hessen, Niedersach-sen, Nordrhein-Westfalen und andere.Aber wir wissen auch: Angesichts einer Zahl von2,4 Millionen Syrern, die laut UNHCR im AuslandSchutz suchen, und 3,6 Millionen Menschen, die inner-halb der syrischen Grenzen auf der Flucht sind, ange-sichts dieser schier unvorstellbaren Zahlen kann das,was wir tun, niemals genug sein.
Deshalb müssen wir uns weiter für eine gemeinsameeuropäische Initiative engagieren. Es kann nicht sein,dass alle anderen europäischen Staaten zusammen nochnicht einmal die Hälfte des Kontingents anbieten, daswir inzwischen zugesagt haben. Deshalb dürfen wir abertrotzdem nicht müde darin werden, auch alle anderenLänder der Europäischen Union immer und immer wie-der an unsere gemeinsame europäische Verantwortungzu erinnern, an die Werte von Solidarität und Mit-menschlichkeit, die wir nicht immer nur vor uns hertra-gen, sondern an denen wir uns auch selbst messen lassenmüssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Die Anträge vom Bündnis 90/Die Grünen und vonder Fraktion Die Linke entsprechen zu großen Teilen ge-nau dem, was wir in den letzten Monaten bereits umset-zen konnten.
– Warten Sie einmal ab, Herr von Notz.
– Es kommt noch etwas, seien Sie darauf gefasst. – Dazuhaben wir im Übrigen schon am Ende der letzten Legis-latur einen fraktionsübergreifenden Antrag gemeinsammit CDU/CSU, FDP und den Grünen verabschiedet.Dass es bei diesem Thema einen so großen Konsensgibt, ist auch gut so; denn das Schicksal der Menschen,die aus Syrien flüchten, sollte für uns alle Anlass sein,um alles Mögliche dafür zu tun, das Leiden dieser Men-schen zu mindern. Gerade weil ich an vielen Stellen ei-nen Konsens zwischen unseren Parteien sehe, schlageich vor, dass wir uns hinsetzen und einen fraktionsüber-greifenden Entschließungsantrag einbringen,
der nicht nur unsere gemeinsame Verantwortung im Hin-blick auf die schwierige Situation der Flüchtlinge unter-streichen würde, sondern der sowohl der Länderebeneals auch der europäischen Ebene signalisieren würde,dass wir in dieser Frage zusammenstehen, weil uns dasLeid der Menschen, die ihre syrische Heimat verlassenmussten, Anlass sein muss, alles dafür zu tun, die Situa-tion der Flüchtlinge in den Anrainerstaaten, aber auchderer, die zu uns nach Europa kommen, so menschen-würdig wie nur möglich zu gestalten.
Dabei müssen wir im Blick haben, dass wir hier vorOrt nur einen kleinen Teil zur Verbesserung der Situationbeitragen können. Wenn wir schnellere und vor allemauch zielgerichtetere Hilfe anbieten wollen, dann musses zum einen darum gehen, dass wir weiter darauf hin-wirken müssen, dass organisatorische und administrativeHindernisse in den syrischen Nachbarländern weiter re-duziert werden, damit denjenigen, die dort auf Hilfe war-ten, schnell geholfen werden kann. Es muss aber auchdarum gehen, dass wir humanitäre Hilfe vor Ort bereit-stellen. Deshalb ist es gut, dass Deutschland zu dengrößten bilateralen Gebern in der Syrien-Krise gehörtund insgesamt 440 Millionen Euro bereitgestellt hat.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Carolin Emckeschreibt in Ihrer Reportage im Zeit-Magazin über Men-schen, die bei uns Zuflucht suchen:Was Ghayeb– ein kurdischer Flüchtling aus Syrien –und all die anderen brauchen, ist keine weitere Ge-schichte über ihre Verzweiflung wie diese, sondern
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1882 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014
Christina Kampmann
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ein Asylrecht, das mindestens die Möglichkeit im-pliziert, dass ein Flüchtling wirklich jemand seinkönnte, der vor etwas geflohen ist.Das, was sich gerade in und um Syrien abspielt, istohne Zweifel die größte humanitäre Katastrophe diesesJahrhunderts. Was einst mit einem friedlichen Protest be-gann, endet heute in unermesslicher Not. Es ist unserepolitische und menschliche Pflicht, Verantwortung fürdie Menschen in Syrien zu übernehmen und uns, ganzim Sinne von Carolin Emcke, das Bewusstsein dafür zubewahren, dass ein Flüchtling ein Mensch ist, „der voretwas geflohen ist“. Wenn wir von Syrien reden, danngeht es dabei um nichts Geringeres als um das eigeneLeben.Danke schön.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Andrea Lindholz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Geschehnisse in der Ukraine und aufder Krim überschatten die humanitäre Katastrophe inSyrien. In den deutschen Medien findet der Bürgerkriegin Syrien zurzeit kaum noch statt.
Doch die Situation in Syrien ist unverändert katastro-phal. Hunderttausende Tote hat der Bürgerkrieg gefor-dert, darunter auch 14 UN-Mitarbeiter und 32 Helfer desarabischen Roten Halbmondes. Über 40 Prozent der sy-rischen Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig.Der syrische Staat zerfällt mehr und mehr.Das Assad-Regime ist heute nur noch eine von insge-samt vier großen Konfliktparteien in Syrien, die sich ge-genseitig brutal bekämpfen und die Bevölkerung insElend stürzen. Wir haben es gehört: 9,3 Millionen Syrerbefinden sich auf der Flucht und brauchen dringend hu-manitäre Hilfe. Wir haben die moralische und humani-täre Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen, und ge-nau das tut Deutschland längst wie kaum ein anderesLand.
Seit 2012 hat die Bundesregierung – wir haben es heuteAbend schon gehört – 483 Millionen Euro für die syri-sche Flüchtlingshilfe bereitgestellt.Neben den Hilfskräften gilt auch den Mitarbeitern derdeutschen Botschaften und Konsulate unser Dank; dennsie alle arbeiten unter schwierigsten Bedingungen undschaffen die Grundlage für die Asylverfahren, über diewir heute sprechen. Auch hier hat die Bundesregierungreagiert und zusätzliches Personal bereitgestellt.Das große Engagement der Bundesregierung machtsich auch im Asylbereich bemerkbar. Seit 2011 sind rund30 000 Syrer nach Deutschland gekommen. Über1 500 syrische Asylanträge pro Monat werden inDeutschland registriert. Seit Jahren gilt ein Stopp für dieAbschiebung nach Syrien.Deutschland bietet im Rahmen von Bundesprogram-men 10 000 Syrern Schutz. Die anderen EU-Staaten stel-len bisher zusammen ein Kontingent von gerade einmal3 900 Plätzen bereit. Wir nehmen also bereits zwei Drit-tel aller syrischen Flüchtlinge auf. Angesichts dieserZahlen wirkt es absurd, wenn die Linke in ihrem Antragder Bundesregierung eine „Abschottungspolitik“ vor-wirft; das Gegenteil ist der Fall.
Die Zahl der Asylanträge in Deutschland steigt seitJahren, allein im letzten Jahr stieg sie um 70 Prozent.Deutschland alleine kann diese Flüchtlingskrise nicht lö-sen.
Angesichts von 9,3 Millionen syrischen Flüchtlingenkann deutsches Asyl, Frau Kollegin, nur in begrenztemUmfang eine Lösung sein. Der tatsächliche Bedarf anAsyl wird nie zu decken sein.
Der Ansatz der Bundesregierung, den Fokus daher vorallem auf die Hilfe vor Ort zu richten, die wir weitausbesser leisten können als die relativ aufwendige Hilfe inDeutschland, ist daher richtig.Letztendlich muss in der Syrien-Krise der gleicheGrundsatz gelten wie in der Euro-Krise: Deutschlandgeht gerne mit gutem Beispiel voran, Deutschland ist so-lidarisch und hilft, aber auch Deutschlands Stärke ist be-grenzt. Es kann nicht sein, dass Deutschland als einzigerEU-Staat substanzielle Verantwortung für die syrischenFlüchtlinge übernimmt. Während wir 10 000 Flüchtlingeaufnehmen, nehmen andere europäische Länder zwi-schen 400 und 500 Syrer auf. Allein 2013 hat das BAMF127 000 Asylanträge bearbeitet, Tendenz steigend. Indiesem Bereich werden wir mehr Personal zur Verfü-gung stellen.
Wir brauchen dringend ein gemeinsames europäi-sches Aufnahmeprogramm. Die Bundesregierung for-dert das schon lange. Die Kommission muss endlich ak-tiv werden und eine Geberkonferenz für Syrien auf EU-Ebene einberufen. Unsere europäischen Nachbarn müs-sen mehr Verantwortung für die Opfer dieses schreckli-chen Bürgerkrieges übernehmen.In meinen Augen haben die Anträge der Grünen undder Linken ihren wesentlichen Zweck erfüllt. Sie habenSyrien zurück auf unsere Tagesordnung gebracht, unddas begrüße ich ausdrücklich.
Über die Verbesserung der laufenden Aufnahmever-fahren und eine weitere Aufstockung des deutschen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 23. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. März 2014 1883
Andrea Lindholz
(C)
Kontingentes beraten bereits die Innenminister vonBund und Ländern. Ich bin mir sicher, dass es hier zu ei-nem weiteren guten Ergebnis kommen wird.Gerade Bayern kommt seiner Verpflichtung nach. InBayern leben über 4 600 syrische Staatsangehörige.Bayern nimmt im Rahmen des Bundesprogrammes al-lein 15 Prozent der Syrer auf und wird auch weitere Sy-rer aufnehmen. Der Asylbewerberstrom steigt bei uns inBayern daher überdurchschnittlich.Inhaltlich laufen beide Anträge ins Leere. Angesichtsdes massiven Engagements der Bundesregierung in Sy-rien ist ein zusätzlicher Anstoß durch einen Antrag über-flüssig. Im Rahmen des Berichterstattergespräches indieser Woche wurde das Engagement der Bundesregie-rung ausdrücklich gelobt. Wir sprechen uns daher füreine Ablehnung der Anträge aus.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/846 und 18/840 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile Ihnen mit,
dass sich die Fraktionen darauf verständigt haben, den
Tagesordnungspunkt 15 – es handelt sich hier um die
Beratung des Antrags der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG neu und
verantwortungsvoll besetzen“ – abzusetzen. Sind Sie mit
dieser Vereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 21. März 2014, 9 Uhr,
ein. Ich wünsche Ihnen bis dahin alles Gute.
Die Sitzung ist geschlossen.