Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen unduns gute Beratungen.Die heutige Sitzung des Bundestages beginnt gleichmit einem ersten Höhepunkt: Der Kollege Dr. PeterStruck feiert heute seinen 65. Geburtstag.
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu sehrherzlich und wünsche alles Gute. – Lieber Peter, ichempfinde es als Ausdruck des Respekts und der Einsicht,dass die guten Wünsche des ganzen Hauses nicht mitdem Kommentar „Die können mich mal!“ zurückgewie-sen werden.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionenRededer CDU/CSU und der SPD:Energie- und Klimapaket der EU-Kommission
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBarth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPUniversitäre Exzellenz sichern – Exklusivitätdes Promotionsrechts wahren– Drucksache 16/7842 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungtzungen 24. Januar 2008.00 Uhrb) Beratung des Antrags der Abgeordneten GrietjeBettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMedienabhängigkeit bekämpfen – Medien-kompetenz stärken– Drucksache 16/7836 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIELINKE:Aufgaben von Bundeswehrkampftruppen alsQuick Reaction Forces in AfghanistanZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derFDP:Haltung der Bundesregierung zu den Äuße-rungen des ehemaligen Bundeswirtschafts-textministers Wolfgang Clement zur Energiepoli-tikVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.Die abschließende Beratung des Gesetzes zur Ände-rung des Bundespolizeigesetzes – das ist der Tagesord-nungspunkt 4 – wird auf morgen verschoben. DasThema soll nach dem Tagesordnungspunkt 21 aufgeru-fen werden. Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 11– dabei handelt es sich um die zweite und dritte Lesungdes Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetzes – abge-eren Tagesordnungspunkte der Koalitions-rden dementsprechend vorgezogen.mit diesen Änderungen einverstanden? –setzt. Die andfraktionen weSind SieDas ist der Fall. Damit ist das so beschlossen.
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Präsident Dr. Norbert LammertIch rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahreswirtschaftsbericht 2008 der Bundes-regierung – Kurs halten– Drucksache 16/7845 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch hierzuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Mi-chael Glos.
Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Titel des Jahreswirtschaftsberichts heißt: „Kurshalten!“ Das ist etwas, was natürlich auch ein Fraktions-vorsitzender tun muss. Deswegen gratuliere ich dem Pe-ter Struck auch von hieraus ganz herzlich zu seinem Ge-burtstag.
Nun weiß ich aus eigener Erfahrung, dass man in ei-nem wichtigen Führungsamt im Parlament viel mehr Ge-legenheit hat, von einem ganz strengen Kurs abzuwei-chen, und mehr Manövriermasse hat. Wenn manRegierungsmitglied ist, ist das – das weiß auch Peter –anders. Deswegen versuche ich, mich so weit als mög-lich exakt an den Kurs der Bundesregierung zu halten.
– Soweit das möglich ist.Kurs halten, das ist ein Appell, der sich, wie ichmeine, an uns alle richtet, Herr Westerwelle. Wir sehennatürlich mit Sorge, was an den Börsen der Welt ge-schieht. Wir können das nicht direkt beeinflussen, son-dern wir können nur durch unser eigenes Verhalten einStück weit ein Beispiel geben und vor allen Dingen denMenschen ein Stück weit Vertrauen in den Kurs unsererWirtschaftspolitik geben.Worauf es ankommt, ist – ich sage es noch einmal –Vertrauen in die Solidität unseres Banken- und Finanz-systems. Trotz der bekannten Einzelfälle kann es darankeinen Zweifel geben. Immer dann, wenn Banken inDeutschland in Krisensituationen geraten sind, haben dieSicherungsinstrumente ausgereicht, um sie zu stützen.Diese werden wir auch weiterhin nutzen. Wir hoffen al-lerdings, dass keine weiteren Fälle mehr auftreten.
Des Weiteren: Vertrauen in die Wirtschaftspolitik.Wir müssen alles tun, um unsere Wirtschaft zu stärkenund sie gegen Konjunkturrisiken zu impfen. Der Titel„Kurs halten!“ ist ein Appell an diejenigen, die inDeutschland wirtschaftspolitische Verantwortung tragen,betrifft also auch das ganze Haus hier. Dies ist aber aucherstens ein Appell an die Unternehmen, ihre Wettbe-werbsfähigkeit weiter zu verbessern, und zweitens einAppell an die Tarifparteien, ihre verantwortungsvolleLohnpolitik der vergangenen Jahre fortzusetzen. Die Ta-rifpartner wissen am allerbesten, wo Spielräume sind,wo man aufgrund der Gewinnentwicklung diese Spiel-räume besser nutzen kann und wo sich Spielräume mög-licherweise verengen. Das verstehe ich unter einer ver-antwortungsvollen Lohnpolitik.
Dies ist drittens ein Appell an die Bürgerinnen und Bür-ger in unserem Land. Auch wenn es uns die Bilder unddie Nachrichten aus Bochum schwer machen: Wir müs-sen den Strukturwandel weiterhin als Chance begreifenund ihn da, wo wir können, aktiv gestalten.„Kurs halten“ ist vor allen Dingen eine Aufforderungan uns selbst in der Koalition, bei unserem erfolgreichenKurs zu bleiben; denn Deutschland ist insgesamt auf ei-nem guten Kurs.
Die Bilanz der Bundesregierung kann sich sehen lassen.Die Reformen der letzten Jahre zahlen sich aus: für denStaat in Form von gesunden Staatsfinanzen, für die Un-ternehmungen in Form von höherem Absatz und höhe-ren Gewinnen.
– Ich freue mich sehr, Herr Lafontaine, dass Sie sich da-rüber freuen.
Denn nur prosperierende Unternehmungen können er-folgreich sein und den Menschen Arbeit und die Sicher-heit geben, die sie gerne hätten.
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Bundesminister Michael GlosDie Reformen zahlen sich auch für die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer in Form von zusätzlichen undsichereren Arbeitsplätzen aus,
aber auch in Form von wieder günstigeren Einkommens-perspektiven. Mit über 40 Millionen Erwerbstätigenwurde 2007 ein historischer Höchststand erreicht. Insbe-sondere die sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung nahm mit einem Plus von 0,7 Millionen Personenoder 2,6 Prozent außerordentlich kräftig zu. Seit 2005haben wir zusätzlich über 1 Million Menschen, die wie-der in Lohn und Brot stehen.
Nun haben vom Aufschwung auch diejenigen profi-tiert, die es bisher schwer hatten, einen neuen Job zu fin-den: die Älteren, die Langzeitarbeitslosen und die Ar-beitnehmer mit einfachen Qualifikationen,
aber vor allen Dingen die Jugendlichen, die sehr vielleichter wieder Lehr- und Ausbildungsplätze finden.Auch das ist das Ergebnis der guten Konjunktur und derbesseren wirtschaftlichen Lage.
Diesen Erfolg dürfen wir nicht kaputtmachen. Wir dür-fen das Erreichte nicht verspielen. So hat es der Sachver-ständigenrat in seinem letzten Gutachten formuliert.Über dieses Gutachten diskutieren wir heute.Die Ausgangslage ist nach wie vor gut. Das Jahr 2007war für Deutschland ein hervorragendes Jahr. DasWachstum war mit 2,5 Prozent besser als prognostiziert.Der seit fast drei Jahren anhaltende Wachstumsprozessin Deutschland wird sich auch in diesem Jahr fortsetzen.Auch wenn die Risiken gestiegen sind und ein geringe-res Tempo prognostiziert wird, geht es weiterhin vor-wärts.Die Immobilienkrise in den USA ist die Korrekturrealwirtschaftlicher Entgleisungen. Der Vergleich zur In-ternetblase am Anfang des Jahrtausends drängt sich auf.Jetzt ist der Gewinn- und Konsumrausch in den USA zu-nächst einmal vorbei. Wir sehen natürlich die Bemühun-gen, neues Geld in den dortigen Markt zu pumpen. Wirbegrüßen die Maßnahmen, die die Fed dort getroffen hat.Wir Deutsche haben bisher über unseren Export undüber die zusätzlichen Wachstumskräfte, die von dort aus-gehen, von der Entwicklung in den USA profitiert.
Wer aber in die eine Richtung dabei war, kann nichtausschließen, dass er auch in die andere Richtung einStück dabei ist. Wir wollen alles tun, was sich dagegenmachen lässt. Aber Risiken sind einfach vorhanden. Wirkennen die genauen Folgen dieser Bereinigung, die jetztzwangsläufig geschieht, nicht. Es gibt aber keinen Grundfür Panikmache, wie sie von vielen selbsternannten Bör-senexperten betrieben wird. Wir wissen, dass es an derBörse immer ein Auf und Ab gibt. Jeder, der sein Geldanlegt, muss wissen: Das ist keine Einbahnstraße. DerGewinn ist nie garantiert. Es wird nicht geklingelt. Ichsage es noch einmal: Es gibt weder Grund für Paniknoch Grund für Ignoranz.Der Außenhandel verliert etwas von der treibendenKraft, die er bisher für unseren Aufschwung darstellte.Wir müssen schauen, dass wir die Inlandskonjunkturstärken. Die deutsche Wirtschaft steht, wie gesagt, imVergleich zu anderen gut da. Es zeigt sich zum Beispielan der anhaltend guten Investitionstätigkeit, dass immernoch Vertrauen in unser Land besteht. Auch beim Kon-sum der privaten Haushalte erwarten wir wie auch an-dere – das ist nicht nur die Erwartung der Bundesregie-rung, sondern auch die vieler Forschungsinstitute –, dasses in diesem Jahr wieder einen klareren Impuls nachoben gibt.Wir rechnen mit einem weiteren Arbeitsplatzaufbauin Deutschland. Das halte ich für ganz besonders wich-tig. Wir rechnen damit, dass die Arbeitslosenzahlen imJahresverlauf per saldo um 330 000 sinken werden.Auch das ist eine gute Nachricht.Alles in allem erwarten wir für das Gesamtjahr einenZuwachs des realen Bruttoinlandsproduktes von 1,7 Pro-zent. Das liegt am unteren Ende der Spannbreite der ak-tuellen Prognosen. Sie wurden nicht unter kurzfristigenEindrücken gemacht, wie sie zum Beispiel Bilder aus In-dien auslösen, wo die Börsen geschlossen werden muss-ten. Sondern unsere Prognose beruht auf nüchterner,sachlicher Kalkulation und auf vieljähriger Erfahrungderer, die sie erarbeitet haben. Unsere Prognose im Jah-reswirtschaftsbericht ist damit vorsichtiger als unserePrognose im Herbst. Die Risiken sind durchaus mit be-rücksichtigt worden. Umso wichtiger ist es – das sageich noch einmal –, dass wir den eingeschlagenen Kurshalten. Deswegen ist „Kurs halten!“ genau der richtigeTitel für den Jahreswirtschaftsbericht.
Wir müssen weiter dafür sorgen, dass Beschäfti-gungschancen entschlossen und flexibel genutzt werdenkönnen. Wir haben flexible Elemente im Arbeitsmarkt:Teilzeitarbeit, tarifliche Öffnungsklauseln, befristete Ar-beitsverträge, Zeitarbeit, Minijobs und Zeitkonten. Dasalles sind Instrumente, die wir weiter nutzen und erhal-ten müssen.Ein wichtiges weiteres Reformziel ist es, die Lohnzu-satzkosten dauerhaft unter 40 Prozent zu halten. Das istimmer eine anspruchsvolle Daueraufgabe. Je mehr Men-schen Arbeit haben und Beiträge in unser Sozialversi-cherungssystem zahlen, umso leichter lässt sich diesesZiel erreichen. Deswegen muss die Beschäftigung imMittelpunkt unserer Maßnahmen stehen.
Wir haben zum 1. Januar 2008 den Beitragssatz zur Ar-beitslosenversicherung auf 3,3 Prozent senken können.Dies hat noch der Kollege Müntefering ins Werk gesetzt.Dafür bedanken wir uns noch einmal ausdrücklich. Dies
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Bundesminister Michael Glosentlastet die Wirtschaft und stärkt unsere Wettbewerbs-fähigkeit. Gleichzeitig bleibt mehr Netto vom Brutto inden Geldbeuteln der Beschäftigten. Das ist ganz beson-ders wichtig.
Wo immer Spielraum bleibt, müssen wir ihn für weitereEntlastungen nutzen. Gleichzeitig müssen wir die staatli-chen Ausgaben so trimmen, dass mehr für Bildung, For-schung und wachstumsfördernde Infrastrukturen übrigbleibt. Nur so können wir das Erreichte halten und si-chern; denn wir wissen, dass sich die Welt täglich ändert.
Also weiter Vorfahrt für Wachstum!Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mit-arbeiter sind nur stark, wenn auch die Unternehmenstark sind. Das mag bei international tätigen Konzernen,die ausschließlich auf Gewinnmaximierung in der gan-zen Welt Wert legen, anders sein.
Aber es ist gottlob so, dass die deutschen Unternehmenbis auf Ausnahmen beherzigen, dass sie nur so starksind, wie ihre Mitarbeiter stark sind. Die Mitarbeiterwissen ebenfalls, dass sie nur so stark sind, wie ihre Un-ternehmen stark sind.
Das ist Teil unserer Unternehmenskultur, und das mussauch so bleiben.Wir haben mit der Unternehmensteuerreform inter-national wettbewerbsfähige Steuersätze geschaffen. Dasist für die Investoren aus dem Ausland ganz besonderswichtig, um die wir ständig werben. Ich habe deswegenInvest in Germany noch einmal gestärkt und unsereWirtschaftsförderinstrumente stärker unter einem Dachzusammengeschlossen. Wir müssen immer wieder selbstüber unsere Stärken reden; andere werden es nicht tun.
Wir brauchen natürlich auch die Umsetzung von Ver-sprochenem. Wenn etwas, was versprochen wurde, nichteintritt, dann gibt es Enttäuschung. So ist zum Beispieleine Erbschaftsteuerreform angekündigt, die Unter-nehmensübergaben erleichtert. Ich bin sehr optimistisch,dass das Parlament dies in die Tat umsetzen und es zuLösungen kommen wird, die hinterher nicht mehr Ent-täuschungen als erfüllte Erwartungen übrig lassen. Eswird auf jeden Fall eine Reform werden, die entlastet.Auch wenn nicht jeder einzelne Wunsch erfüllt wird,muss man das im Mittelpunkt sehen, worum es geht. Wirwollen insbesondere die Unternehmensübergänge er-leichtern.
Ein Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren:Die hohen Energiekosten machen mir Sorge. Der Wirt-schaftsstandort Deutschland muss sich im Wettbewerbbewähren. Dafür braucht unser Land eine sichere Ener-gieversorgung und Preise, bei denen auch die energiein-tensiven Industrien in Deutschland noch eine Chancehaben. Dort, wo die Vorschläge der Europäischen Kom-mission dies nicht entsprechend berücksichtigen, müs-sen wir dagegen kämpfen.Wir haben ein integriertes Energie- und Klimaschutz-programm beschlossen. Es ist die richtige Antwort aufdie anstehenden Herausforderungen. Wir müssen unsvon importierter und fossiler Energie unabhängiger ma-chen. Das ist gut für den Standort Deutschland undgleichzeitig gut für den Klimaschutz.
Ein Ministeramt zu übernehmen, heißt auch, einStück Kontinuität im Hinblick auf das zu übernehmen,was in diesem Haus geschehen ist. Ich kann nur sagen,dass ich mich, was Kontinuität angeht, stärker zu derEnergiepolitik bekenne, die Wolfgang Clement gemachthat, als zu der, die unter seinem Vorgänger Werner Mül-ler gemacht worden ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine ma-ritimen Kenntnisse sind zwar unterentwickelt – ich habedeswegen eigens eine Beauftragte für die maritime Wirt-schaft –; aber ich weiß natürlich, dass Kurshalten beischwerer See schwieriger als bei Sonnenschein ist. Wennsich jetzt eine schwerere See zeigt, dann müssen wir dasRuder umso kräftiger halten. Dazu gibt es keine Alterna-tive.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
Das ist schon einmal richtig. – Herr Präsident! MeineDamen und Herren! Die Finanzkrise hat die Banken inDeutschland und mittlerweile auch die Börse voll er-reicht. Den freien Fall der Börsenkurse rund um die Welthat die überraschend massive Zinssenkung der amerika-nischen Notenbank zunächst gebremst. Die New YorkTimes schreibt dazu, dass es keine Panik der Privatanle-ger, sondern eine Panik der Profis sei. Bundeskanzlerinund Bundeswirtschaftsminister erklären dazu, es gebe inDeutschland keinen Grund zur Sorge, die Konjunktur seistabil.Allerdings haben Befürchtungen Hochkonjunktur,dass der Aufschwung schon bald zu Ende gehen könnte.Die Menschen in Deutschland sorgen sich. Sie haben
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Rainer Brüderleauch Grund dazu. Noch ist die Lage der Wirtschaft gut.Die Aussichten sind allerdings trüber geworden. Wir ha-ben eine Vertrauenskrise. Die Menschen vertrauen denBanken nicht mehr so recht. Das liegt auch an einer zumTeil miserablen Informationspolitik. Die Banken ver-trauen sich untereinander nicht mehr. Der Geldmarktdrohte teilweise zusammenzubrechen.Die Regierung aber betreibt keine Politik, die das Ver-trauen wieder stärken könnte. Vertrauen gewinnt mannur mit Ehrlichkeit zurück. Die Bundesregierung rechnetsich allenfalls die Dinge schön. Das ist auch im Jahr derMathematik, das gerade begonnen hat, nicht seriös.In den Vereinigten Staaten geht das Gespenst derStagflation um. Die Zinssenkung der Notenbank amDienstag war eine Entscheidung zur Konjunkturstüt-zung, die aber mit dem Risiko der Verstärkung der Infla-tionsgefahr verbunden ist. Wenn diese Aktion die dro-hende Rezession nicht auffangen kann, dann gerätAmerika in eine Stagflation.Schon im letzten Jahr sind die Verbraucherpreise inden Vereinigten Staaten um über 4 Prozent gestiegen.Durch Zinssenkung immer mehr Geld in die Märkte zupumpen, löst langfristig keine Probleme, sondern schafftneue. Der Druck auf den Dollar wird weiter wachsen.Das verteuert unsere Exporte in den Dollarraum und ver-stärkt die Tendenzen einer schwächelnden internationa-len Wirtschaft. Die Ursache der Misere – die Immobili-enkrise – ist noch längst nicht behoben.Die Rezessionsgefahr in den Vereinigten Staaten istder größte Risikofaktor für die deutsche Konjunktur.Professor Snower, der Präsident des Kieler Instituts fürWeltwirtschaft, warnt – ich zitiere –:Wenn es in den USA zu einer Rezession kommt,dann ist davon auch Deutschland mit höchstens ei-nem Jahr Verspätung betroffen.In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht warnen Sie deutlichvor diesen Risiken, Herr Minister Glos. Die Bundesre-gierung hätte aber schon längst Vorsorge dagegen treffenkönnen, nein: treffen müssen.
Schwarz-Rot hat sich aber lieber darauf verlassen, dassandere Länder die Konjunktur für uns in Schwung brin-gen.
Ein exportgetriebener Aufschwung ist schön; aber ohneeine dauerhafte und robuste Binnenkonjunktur kanndas schnell zu einem Strohfeuer werden.
Die Regierung hat sich zu lange in der guten Kon-junktur gesonnt und Zeit verspielt, statt Strukturrefor-men, die die Abwehrkräfte der Volkswirtschaft – sozusa-gen ihr Immunsystem – stärken, auf den Weg zu bringen.Selbst als die Gewitterwolken über Amerika schon er-kennbar waren, hatte Schwarz-Rot nichts Besseres zutun, als eine Politik des Abschwungs zu betreiben. DieSteuererhöhungen werden 2009 fortgesetzt, wenn fürMillionen Anleger die Besteuerung der Wertsteigerungeingeführt wird. Die geplante Gesundheitsreform mit derEinführung des Gesundheitsfonds treibt die Kassenbei-träge in die Höhe.Woher nimmt die Regierung die Hoffnung, dass dieBürger trotzdem mehr konsumieren werden? Der Jahres-wirtschaftsbericht nennt das Risiko. Aber warum hat dieBundesregierung nicht längst die Einkommen- undLohnsteuer gesenkt, damit die Menschen netto mehr zurVerfügung haben und deshalb mehr Geld ausgeben undden Konsum fördern können? Nein, Sie haben nichtsBesseres zu tun, als die Steuern zu erhöhen.Die Steuerbelastung ist seit Amtsantritt dieser Bun-desregierung 2005 um 23 Prozent gestiegen.
Die Antwort auf unsere Kleine Anfrage, wie sich die realverfügbaren Einkommen der privaten Haushalte seitAmtsantritt der Regierung geändert haben, lautet: Siesind um 0,4 Prozent gesunken. Die verfügbaren Einkom-men in Deutschland sind nicht gestiegen, sondern gesun-ken.
All diese Maßnahmen wie die Einführung der Min-destlöhne und die Mehrwertsteuererhöhung sind nichtgeeignet, wirtschaftliche Impulse auszulösen. Mindest-löhne bedeuten Arbeitslosigkeit auf Termin.
Damit kann allenfalls das Postmonopol zementiert wer-den.Die Bundesregierung ist in vielen Punkten zerstritten.Sie zankt sich öffentlich über den Mindestlohn. HerrGlos warnt zu Recht vor zu kräftigen Lohnerhöhungenin den anstehenden Tarifrunden. Seine SPD-Kollegenfordern landauf, landab, kräftig zuzulangen. Das ist ge-nau das Gegenteil dessen, was der Bundeswirtschafts-minister sagt. Ich sage noch einmal: Wichtig ist, dass dieBürger netto mehr in der Tasche haben und dass der Auf-schwung bei ihnen ankommt.
Das, was Sie mit der Einführung von Mindestlöhnenbetreiben, ist ein Angriff auf die Tarifautonomie. Wirbrauchen mehr Selbstbestimmung in den Betrieben undmehr Lohnflexibilität. Flächendeckende, staatlich sank-tionierte Löhne, wie sie der SPD vorschweben, führen zustaatlich festgelegten Preisen auch in anderen Sektoren.Das ist der Weg in Dirigismus und planwirtschaftlicheSteuerung.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben im ver-gangenen Jahr an dieser Stelle gesagt, Sie wollten denAufschwung für Reformen nutzen. Was ist herausge-
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Rainer Brüderlekommen? Eine Unternehmensteuerreform, die es für dieUnternehmer noch komplizierter macht und die vieleUnsicherheiten birgt, eine Gesundheitsreform, die dieKrankenkassenbeiträge nach oben treibt, ein Anschlagauf die Tarifautonomie und auf den Wettbewerb in unse-rem Land. Sie haben diesen Jahreswirtschaftsbericht mitden Worten überschrieben: „Kurs halten!“ Das klingtnett. Aber welchen Kurs überhaupt? Man kann nur einenKurs halten, der erkennbar ist. Das Prinzip Hoffnung al-lein ist kein Konzept und kein Kurs in der Wirtschafts-politik.
Die Unternehmensnachfolge soll erleichtert werden,aber bei der Erbschaftsteuerreform ist bis zur Stundenichts klar. Viele Betriebe müssen angesichts dessen,was diskutiert wird, befürchten, dass sie mehr Erbschaft-steuer zahlen.
Geben Sie Kompetenz an die Länder ab. Lassen Sie denWettbewerb unter den Ländern dafür sorgen, dass dieErbschaftsteuer abgeschafft wird, was am besten wäre,weil sie eine unsinnige Steuer ist.
Der Wirtschaftsminister will ermöglichen, dass demMittelstand mehr Wagniskapital für Investitionen zurVerfügung gestellt wird. Gleichzeitig wird aber im Wirt-schaftsministerium ein Gesetz vorbereitet, das ausländi-sche Investitionen in Deutschland beschränken soll.Drahtzäune sind kein Weg. Der Weg in Protektionismus,in Kapitalverkehrsbeschränkungen führt zu Gegenreak-tionen anderer Länder und nicht zur Stärkung der deut-schen Volkswirtschaft. Das ist der falsche Weg.
Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Prognoseeines Wachstums von 1,7 Prozent 2 Milliarden Euro we-niger Steuereinnahmen bedeutet. Die Berechnungen, dieSie hierzu vorgelegt haben, basieren auf einem Wachs-tum von 2 Prozent und sind somit falsch. Sie hätten denBundeshaushalt rechtzeitig kräftiger konsolidieren kön-nen. Sie hätten den Haushalt ohne Neuverschuldung ver-abschieden können. Das haben Sie nicht gemacht. Dieeinzige Vorsorge, die Sie gegen den drohenden Ab-schwung treffen, besteht darin, die Arbeitslosenstatistikzu schönen. Das ist aber keine Lösung. Was Sie tunmüssten, ist, das Netto der Menschen zu erhöhen, indemSie sie steuerlich entlasten. Damit stärken Sie die Bin-nenkonjunktur und die eigenen Abwehrkräfte gegen dro-hende Gewitterwolken draußen in der Weltwirtschaft.
– Herr Präsident, es gibt etwas zu tun.
Der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage
stellen, und der Kollege Brüderle will sie offenkundig
gerne beantworten. – Bitte schön.
Herr Kollege Brüderle, ich habe aufmerksam ge-
lauscht und gehört, was Sie alles zu Steuererhöhungen
und dergleichen mehr gesagt haben. Sie haben aber et-
was für die Wirtschaft und die Mitbürger ganz Wichtiges
vergessen, nämlich dass wir zum Beispiel den Beitrag
zur Arbeitslosenversicherung halbiert haben und dass
wir dadurch in den Taschen der Wirtschaft und der ein-
zelnen Mitbürger jährlich 23 Milliarden Euro mehr las-
sen. Das sollte doch einer Erwähnung wert sein, wenn
Sie einen sach- und fachgerechten Vortrag halten wollen.
Sehr geschätzter Herr Kollege Hinsken, gern gehe ichauf Ihre Zwischenbemerkung ein. Ich hätte noch Vielessagen müssen, aber das Zeitbudget ist leider begrenzt.
Ich hätte zum Beispiel sagen müssen, dass Sie zum1. Januar 2007 die größte Steuererhöhung aller Zeiten indieser Republik durchgeführt und damit bei den Men-schen in einem Umfang wie noch nie abkassiert haben.
Ich sagte vorhin, dass wir heute in Deutschland eine um23 Prozent höhere Steuerbelastung haben als 2005. Dasist fast ein Viertel mehr. Das bedeutet ein kräftiges Zu-langen, das nicht ausreichend dadurch gerechtfertigtwerden kann, dass Sie den Beitrag zur Arbeitslosenver-sicherung gesenkt haben. Sie haben vielmehr die Ba-lance zwischen der Ermöglichung privater Eigenverant-wortung und staatlicher Gestaltung nicht zugunsten derprivaten, eigenverantwortlichen Gestaltung verändert.Mein Kernvorwurf ist, dass Sie keine Vorsorge getroffenhaben, um die Volkswirtschaft zu stärken und die Men-schen in die Lage zu versetzen, etwas aus eigener Kraftkonkret für die Alterssicherung, die Gesundheitsvor-sorge und die Pflege zu tun. Die Nettoeinkommen, dieverfügbaren Einkommen der Menschen in Deutschland,sind – so die Antwort der Bundesregierung auf eine un-serer Anfragen – gesunken. Sie haben die Kaufkraft alsonicht gestärkt. Sie haben die Wirtschaft nicht stärker ge-macht. Sie haben vielmehr den billigsten Weg gewählt.Sie haben nämlich versucht, den Haushalt durch Abkas-sieren zu konsolidieren. Statt an die Ausgaben heranzu-gehen, haben Sie den Haushalt kräftig aufgebläht um13 Milliarden Euro. In Deutschland sparen nur die Bür-ger. Das ist zu wenig. Der Mittelstand in Deutschland hateine bessere Politik verdient; denn er ist Träger derZukunftserwartungen und der Arbeitsplatzchancen fürDeutschland.
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Sie beabsichtigen hoffentlich nicht, nach der Beant-
wortung der Frage jenseits Ihrer Redezeit jetzt noch zu
einem Schlusswort anzusetzen, Herr Kollege Brüderle;
das könnte ich nämlich nicht zulassen.
Leider hat sich kein Kollege für eine weitere Frage
gefunden. Ich hätte noch viel zu sagen.
Die Vorbereitung war früher auch schon mal besser,
Herr Brüderle.
Nächster Redner ist der Kollege Stiegler, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Be-merkungen des Präsidenten zur Rede des Kollegen Brü-derle waren so treffend, dass ich jetzt gar nicht weiterdarauf eingehen muss. Der Kollege würde sich wün-schen, dass er mit seinem Wunschpartner die Ergebnissefeiern könnte, die die deutsche Wirtschaft rechtzeitigzum 65. Geburtstag von Peter Struck in gemeinsamerAnstrengung mit uns geliefert hat.
Die Hauptaufgabe besteht darin, jetzt zu verhindern,dass die Spekulationskrise und die Folgen der Betrüge-reien auf den Finanzmärkten auf die Realwirtschaftdurchschlagen. Wir haben es quasi mit zwei Reichen zutun: der Welt der Spekulation, die nur immer behauptet,sie schaffe Werte, und der Welt der Mittelständler, über-haupt der Unternehmen, bei denen für die MenschenGüter erzeugt und Dienstleistungen erbracht werden.Unsere Aufgabe ist, diese reale Welt der Arbeit vor denFolgen der Spekulationen zu schützen.Man muss einmal daran denken, was manche diesergroßmögenden Bankherren noch vor Jahren dazu gesagthaben, was sie an Werten geschaffen haben – alle dieseWerte schmelzen jetzt dahin wie der Schnee in derSonne –; nun bedrohen sie die Weltwirtschaft. Wermusste sie retten? Die Zentralbanken und letzten Endesdie Staatsanleihen! Ohne die sicheren Häfen der Staats-anleihen wären alle diese Spekulanten abgebrannt. Sosieht die Realität aus! Das gibt uns das Recht, diesenHerrschaften in Zukunft strenger auf die Finger zuschauen, damit sie die ordentliche Arbeit nicht verder-ben können.
Aber zum Thema: Der Jahreswirtschaftsbericht istüberschrieben mit „Kurs halten!“ und das Jahresgutach-ten mit „Das Erreichte nicht verspielen“. Ich habe wirk-lich meine hermeneutischen Künste bemüht, um heraus-zufinden, was uns die Dichter sagen wollen. ImGutachten des Sachverständigenrats und zwischen denZeilen des Wirtschaftsministers ist zu lesen, dass mandie Sorge hat, man würde vom Kurs abweichen, weilman die Lage der Arbeitslosen verbessert habe. Dazusage ich den Sachverständigen genauso wie ihren Sekun-danten im Bundeswirtschaftsministerium: Wir wollen ei-nen Aufschwung für alle. Dafür halten wir Kurs. Wirwollen mehr Freiheit durch gute Arbeit und nicht durchHungerlöhne.
Wir wollen mehr Freiheit für die Menschen durch so-ziale Sicherheit.Wir haben ein paar gute Jahre hinter uns. Es gibtdurchaus Streit über die Ursachen, darüber, was dieHenne und was das Ei ist. Die Sachverständigen schrei-ben: Nur weil viele Instrumente flexibilisiert wordensind, ist der Aufschwung gekommen. – Ich sage umge-kehrt: Nur weil wir am Anfang dieser Legislaturperiodeeine aktive Politik für mehr Nachfrage betrieben haben,konnte die Nachfrage in Arbeitsplätze umgesetzt wer-den.
Das ist das Entscheidende, anstatt hier erst alles zu zer-brechen und zu glauben, die Menschen würden schon,wenn man die Sozialleistungen um 30 Prozent und mehrabsenken würde, wie Roland Koch und andere das wol-len, wie Rebhühner im kalten Winter in die Küche lau-fen. Nein, meine Damen und Herren, wenn in der Küchenicht gekocht wird, dann haben auch die Rebhühner danichts zu suchen.
Der Bundeswirtschaftsminister lobt die Anpassungs-fähigkeit des flexibilisierten Arbeitsmarktes. So weit, sogut. Wir sehen aber auch die Schattenseiten dieser Flexi-bilisierung, die wir in der Form, wie sie jetzt existiert,nicht gewollt haben. Bei „wir“ denke ich auch an die frü-heren Partner von den Grünen; ich sehe hier zum Bei-spiel Thea Dückert, die ja bei den Verhandlungen mit imBoot war. Wir wollten den Missbrauch bei der Leih-arbeit, wie wir ihn heute beobachten können, nicht.
– Hören Sie doch auf! Sie können doch nur motzen. Siehaben doch überhaupt keine Vorstellung von dem, wasda läuft.
Wir wollten mehr Flexibilität bei anständigen Tarifver-trägen. Das war damals das Angebot. Daraus ist gewor-den, dass manche Konzerne unter Androhung von Aus-lagerungen und mithilfe von gelben GewerkschaftenHungerlöhne vereinbart haben. Das hatten wir mit der
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Ludwig StieglerFlexibilisierung bei der Leiharbeit nicht beabsichtigt.Das sind keine guten Arbeitsverhältnisse.
Unserem Programm entspricht auch nicht die Aus-weitung der Niedriglohnzone. Es gibt ja manche, die sieweiter ausweiten wollen. Sie ist nicht nur groß genug,sondern schon zu groß. Deshalb kämpfen wir gegenHungerlöhne. Wir wollen die Unsicherheiten, mit de-nen Arbeitnehmer leben müssen, die in befristeten Be-schäftigungsverhältnissen stehen oder zur GenerationPraktikum gezählt werden, beseitigen. Diese Aufgabenstehen vor uns. Diese müssen wir lösen und werden wirlösen.
– Sie können nur demonstrieren. Wir können handeln.Wer will, dass es in Deutschland besser wird, der mussauf die Sozialdemokratie und ihre Partner vertrauen.
Darum geht es letzten Endes.
Meine Damen und Herren, wir haben also dafür zusorgen, dass der Aufschwung alle erreicht, dass Min-destlöhne auch gegen das Geschrei der FDP durchge-setzt werden.
– Ja, das werden wir auch gegen Ihr Geschrei durchset-zen. Mit uns gibt es keine Hungerlöhne.
Wir sehen auch, dass es nicht stimmig ist, wie dasBruttoinlandsprodukt verteilt wird. Der Anteil der Ar-beitnehmereinkommen am Volkseinkommen stagniert.Hier besteht Entwicklungsbedarf. Wie soll der privateVerbrauch zunehmen, wenn die Arbeitnehmerein-kommen nicht steigen? Wir erinnern auch an dieZiffern 714 ff. ganz am Ende des Sachverständigengut-achtens, wo schüchtern die Einkommensverteilung an-gesprochen wird. Wir stellen eine unverhältnismäßighohe Konzentration von Einkommen und Vermögen beieinem ganz kleinen Personenkreis fest. So ist es keinWunder, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeitund Vermögen stärker steigen als die der Arbeitnehmer.Dieses Verteilungsverhältnis müssen wir wieder umdre-hen: Die Arbeitnehmereinkommen bestimmen den pri-vaten Verbrauch, der zugleich das größte Aggregat fürunser Bruttoinlandsprodukt darstellt.
Bei den Tarifrunden im Jahre 2008 muss dafür ge-sorgt werden – diese Forderung unterstützen wir –, dassdie Arbeitnehmereinkommen wieder steigen. Demjeni-gen, der jetzt sagt, jetzt ziehen aber dunkle Wolken auf,entgegne ich: Die Ergebnisverbesserungen, die 2007aufgrund der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer ein-gefahren werden konnten, müssen nun fair verteilt wer-den. Dafür ist Platz. Das erfordert auch die soziale Ge-rechtigkeit.
Ich bin auch froh, dass die Bundesregierung aus-drücklich erklärt, dass sie die Initiative der beiden Koali-tionsfraktionen, mehr Arbeitnehmerbeteiligung zuermöglichen, unterstützt. Das ist eine ganz wichtige Auf-gabe, mit der wir dafür sorgen, dass die Verteilungs-schieflage unserer Volkswirtschaft begrenzt oder garbeseitigt wird. Wir müssen dafür sorgen, dass der Pro-duktivitätsfortschritt auch bei den Arbeitnehmereinkom-men ankommt.
Ich bin ganz froh, dass jetzt sogar Herr Piepenburgvon der PIN Group sagt: Jawohl, ich stehe zu den Min-destlöhnen. – Interessant! Noch interessanter ist, dass erauf Folgendes hinweist: Viele Auftraggeber haben ge-sagt: Du bekommst keine Aufträge mehr, wenn du keineanständigen Löhne zahlst. Das ist die richtige Antwortder deutschen Wirtschaft auf die, die Geschäftsmodelleauf Hungerlöhnen aufbauen wollten. Das wollen wirnicht, und das werden wir verhindern.
Ich finde es zum Beispiel gut, dass die IG Metall beiBMW und Audi dafür gesorgt hat, dass auch die Leih-arbeitnehmer anständig bezahlt werden. Früher war eshäufig so, dass sich die Gewerkschaften und die Be-triebsräte um ihre Kernbelegschaften gekümmert haben.Jetzt haben sie ihre schwächeren Brüder und Schwesternentdeckt und erfolgreich gehandelt. Herzlichen Dank da-für. Das ist ein richtiger Weg; wir kommen auf ihmvoran. Die Aufnahme der Leiharbeit in das Arbeitneh-mer-Entsendegesetz ist einer der wichtigen nächstenSchritte, damit wir mehr soziale Gerechtigkeit im Auf-schwung haben.
– Natürlich ist das Politik für den Abschwung, und zwarbei denen, die meinen, dass die Leute quasi für Hunger-löhne arbeiten müssen und dass der Staat sie am Lebenhält. Das ist keine Wirtschaft, wie wir sie wollen.Sie haben mir das richtige Stichwort gegeben. Ichhabe mit meinem Kollegen Laurenz Meyer immer wie-der heftige Diskussionen.
Er sagt: Viele Unternehmer sind gegen die Mindest-löhne, weil sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Ichsage Ihnen dagegen: Ein Wettbewerb, der auf die Kno-
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Ludwig Stieglerchen der Arbeitnehmer geht, ist gegenüber den Arbeit-nehmern nicht in Ordnung und ist auch volkswirtschaft-lich nicht in Ordnung. Deshalb werden wir diesen Wegnicht mitgehen.
Also werden wir miteinander in den nächsten Wo-chen an das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und an das„Franz-Müntefering-Jugendfreundin-Erinnerungsgesetz“,MiA, herangehen und werden die Mindestarbeitsbe-dingungen verbessern. Das wirkt noch nicht flächende-ckend – das wissen wir –; die Union ist nämlich nochnicht so weit. Aber sie ist immerhin in Bewegung. Wirwerden hier einen Schritt vorankommen.Michael Glos hat gesagt: Starke Unternehmen garan-tieren starke Arbeitsplätze. Ich sage Ihnen daher aus ak-tuellem Anlass: Große Unternehmen, ob nationale oderinternationale, müssen wissen, dass sie hier in Deutsch-land auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft unddes Grundgesetzes agieren; Arbeitnehmer sind nicht ir-gendwelche Zahlen auf einem Excel-Sheet, sondernMenschen mit Würde und Achtungsanspruch. Wir müs-sen gerade im Zeitalter der Globalisierung eine Koopera-tion zwischen Wirtschaft und Staat organisieren, die denStrukturwandel ordentlich begleitet und die Menschennicht nur nach dem Prinzip „Heuern und Feuern“ behan-delt. Das muss der Nokia-Vorstand hier lernen.
Wir müssen den Kurs halten, durch bessere Arbeit,durch einen Aufschwung für alle, mit mehr sozialer Ge-rechtigkeit, mit einer hohen Teilnahme am Erwerbsle-ben, mit Qualifikation und Weiterbildung, mit For-schung und Entwicklung. So weit, so gut. Der Blick istdabei in den Rückspiegel gerichtet, und wenn man denBlick allein in den Rückspiegel richtet, dann fährt mannicht gut vorwärts, weil es vor der Hacke duster ist, wiePeer Steinbrück immer zu sagen pflegt. Wir müssen se-hen, dass der Aufschwung schon vor der Subprime-Krise an Kraft verloren hat, weswegen die Kurve in eineandere Richtung ging.Wir müssen wissen: Nur Nachfrage schafft Arbeits-plätze. Alle, die den Keynesianismus für Teufelszeughalten, sollten sehen: Die Amerikaner sind dabei, wiederKeynesianer zu werden. Lassen Sie uns im Auge behal-ten: Nur dann, wenn wir die private und die öffentlicheNachfrage steigern, werden wir die notwendigen Ar-beitsplätze sichern, nur dann werden wir aus der Staats-verschuldung herauswachsen. Wir können uns nicht he-raussparen. Wir sind 2006 und 2007 durch Wachstum zuIhrer Freude, Herr Kampeter, erfolgreich gewesen.Wenn wir damals Ihrem strengen Haushälterweg gefolgtwären, dann würden wir jetzt tief unten im Keller sitzen.Aber wir wollen mit Ihren Kolleginnen und Kollegenweiter herauswachsen.Wir haben noch eine Menge Pfeile im Köcher: privateInvestitionen, Gebäudesanierung und Klimaschutz, auchin der gewerblichen Wirtschaft. Vor allem müssen wirdarauf aufpassen, dass die kleinen und mittleren Unter-nehmen nicht Opfer der Bankspekulationen werden undProbleme mit der Kreditversorgung bekommen. Wirhaben gemeinsam mit den Förderbanken von Bund undLändern die Aufgabe, das zu verhindern. Gott sei Dankhat die KfW nach wie vor gute Kreditprogramme, mitdenen wir arbeiten können. Daher müssen wir nichtheute schon überstürzt Aktionen ankündigen. Wenn dieHurrikanmeldungen kommen, kann ich aber nicht sagen:Er wird schon an uns vorbeigehen. Dann muss ichschauen, wie ich mein Dach dichtmachen kann, wie ichVorsorge treffen kann. – Wenn der Sturm kommt, sindwir vorbereitet. Das muss in aller Stille geschehen, damites uns nicht wie den unklugen Jungfrauen geht, sondernwie den klugen Jungfrauen in der Bibel.Wir haben noch eines gelernt: Es kommt auch auf denStaat an. Die privaten Banken haben sich gegenseitignicht mehr vertraut. Sie wären an ihrem gegenseitigenMisstrauen kaputtgegangen, wenn die Zentralbanken sienicht gerettet hätten. Der Staat hat sichere Häfen gebo-ten, ist lender of last resort, wie es in England heißt. Dasheißt, wir können mit diesen Herrschaften in Zukunft et-was selbstbewusster umgehen; denn wenn sie sich ver-spekuliert haben, kommen sie zu uns und laden die Ver-luste bei Peer Steinbrück ab. Er muss nämlich ein Dritteldieser Spekulationsverluste tragen. Das möchten wirnicht. Herr Kampeter, das Geld soll lieber in die Kassevon Herrn Steinbrück fließen. Dafür zu sorgen, ist un-sere Aufgabe. Rainer Wend wird nachher sagen, was wirvon den Banken und den Aufsichtsbehörden erwarten,damit nicht private Gier und Spekulationen eine ganzeVolkswirtschaft ins Elend stürzen. Im Reich der Real-ökonomie müssen wir die Lebensverhältnisse der Men-schen auch in Zukunft durch gute Arbeit verbessern.Danke.
Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Glos, hatgesagt, dass der Jahreswirtschaftsbericht unter der Über-schrift „Kurs halten!“ steht. Für die Fraktion Die Linkemöchte ich hier sagen: Wir möchten, dass der nächsteWirtschaftsbericht und Ihr Handeln unter einer ganz an-deren Überschrift stehen, nämlich: Kurs wechseln!
Denn wenn Sie den Kurs halten, dann setzen Sie all dasfort, was in den letzten Jahren eingetreten ist.Ich beginne mit Ihrem Jahreswirtschaftsbericht:„Deutschland ist auf gutem Kurs: mit einem Auf-schwung für alle“. Wenn Sie hier feststellen, der Auf-schwung sei für alle da, dann ist das eine Verarschungder Bevölkerung.
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Oskar Lafontaine80 Prozent der Menschen in Deutschland sagen: DerAufschwung kommt bei uns nicht an. Aber Sie erdreis-ten sich, hier zu sagen: Aufschwung für alle.
Erklären Sie das Wahlvolk für blöd, oder was ist IhreAbsicht? Wie können Sie so etwas sagen? Es gibtGründe, warum die Bevölkerung sagt: Der Aufschwungkommt bei uns nicht an.Im ersten Satz des Jahreswirtschaftsberichtes heißt esweiter, dass wir eine „Rekord-Beschäftigung“ haben.Das ist richtig. Die Frage ist nur: Was für eine Art vonBeschäftigung ist das? Weil Sie diese Frage nicht stellen,wissen Sie nicht, dass der Aufschwung nicht bei allenankommt. Wenn die Menschen nur noch befristete Ar-beitsverträge haben, schlechte Löhne erhalten und nurnoch Minijobs oder Leiharbeit ausüben können, dann istdas kein Aufschwung für alle. Den Menschen nutzt IhreBeschäftigungsbilanz überhaupt nichts! Das ist das, wasdie Menschen denken, die Ihnen draußen zuhören müs-sen, wie Sie hier solche Sprechblasen in die Welt setzen.
Natürlich gibt es Anzeichen für eine weltweite Krise.Die kann wirklich niemand mehr übersehen. Nun würdeman vielleicht erwarten, dass der Bundesminister fürWirtschaft eine Idee hat, was er da machen könnte. Viel-leicht hat die Bundeskanzlerin, die gerade in Gesprächevertieft ist, ja eine Idee; man soll die Leute ja nicht unbe-dingt überfordern. In der Financial Times Deutschlandkönnen wir lesen: „Glos denkt über Notfallplan nach.“Bravo, Herr Bundesminister für Wirtschaft, die FraktionDie Linke macht Ihnen ein Kompliment: Sie denkennach! Weiter ist aber zu lesen: „Die Schublade ist nochleer. Aber selbstverständlich muss man sich Gedankenmachen.“ Bravo, muss man sagen.
Es wäre natürlich nett, wenn die Schublade wenigstensein bisschen voll wäre.
Sie sollten versuchen, zu erreichen, dass die Schubladeein bisschen voll wird, damit Sie irgendetwas haben,falls die exportgetriebene Konjunktur der letzten Jahrenun durch die weltweite Krise – das wäre logisch – be-schädigt wird.Es ist ja richtig – das hat ein Redner hier gesagt –,dass die Amerikaner wie selbstverständlich keynesiani-sche Rezepte anwenden, wenn die Konjunktur nach un-ten rasselt. Die keynesianischen Rezepte, die hier immervon allen möglichen Fachleuten – ich will sie gar nichtalle zitieren – in großer Attitüde für falsch und überholterklärt worden sind, heißen nun einmal: Wenn die Kon-junktur schwächelt, setzt man die Geldpolitik ein. – Dasist überall auf der Welt so, nur in Europa ist es nicht sogemacht worden. Das hat dann natürlich Folgen. DerKommentator, der heute in der Financial Times Deutsch-land fragt, warum denn die Geldpolitik nicht einsetzt,hat recht. Wir können nachweisen, dass die verfehlteGeldpolitik der Europäischen Zentralbank über vieleJahre mit dazu beigetragen hat, dass wir in Europa nichtWachstumspotenziale erschlossen haben wie andere In-dustriestaaten dieser Welt.Das Zweite, das man einsetzen kann, ist die Binnen-nachfrage. Sie haben dafür gesorgt, dass die Binnen-nachfrage über viele Jahre nur stranguliert und abge-würgt wurde. Ich möchte hier deutlich sagen, dassSteuersenkungen ein Instrument der Binnennachfragesind. Die Amerikaner setzen dieses Instrument wieselbstverständlich ein, und zwar rechtzeitig. Wenn manwegen der Staatsfinanzen zögerlich ist, dann sollte manzumindest dem Antrag stattgeben, den wir hier schonmehrfach vorgetragen haben: Man sollte den Steuertarifglätten und insbesondere die mittleren Einkommen ent-lasten, das heißt die Facharbeiter und die Kleinbetriebe.Dann kann man den Steuertarif durchziehen, wenn manaufgrund der Einnahmeausfälle Probleme hat.
Wir haben das hier immer wieder vorgetragen. Es ist un-gerecht und wirtschaftlich unvernünftig, Facharbeiterund Kleinbetriebe über Gebühr zu belasten.Nun greife ich das auf, Herr Kollege Stiegler, was Siehier gesagt haben. Natürlich geht Binnennachfrage nichtohne steigende Löhne. Natürlich geht Binnennachfragenicht ohne wachsende Renten. Natürlich geht Binnen-nachfrage nicht ohne steigende soziale Leistungen imRahmen des Möglichen. Wenn man aber alles tut – dasind die meisten hier mitverantwortlich –, dass sowohldie Löhne und die Renten als auch die sozialen Leistun-gen sinken, dann trägt man die Verantwortung dafür,dass in Deutschland die Binnennachfrage über vieleJahre überhaupt nicht auf die Beine kommt.
Der Bundeswirtschaftsminister hat auf seine liebens-werte Art hier vorgetragen: Die Tarifparteien sollen ihreverantwortungsvolle Lohnpolitik fortsetzen. Mit sol-chen Sprechblasen kann man über die Wirklichkeit hin-wegtäuschen. Auch im letzten Jahr hatten wir stagnie-rende Reallöhne. Das sieht man, wenn man dieTarifvertragsabschlüsse ansetzt und mit der Inflationverrechnet. Was in Wirklichkeit passiert, ist etwas ganzanderes. Das erfassen wir ja statistisch überhaupt nicht.Das heißt, in Wirklichkeit hatten wir auch im letzten Jahrein zurückgehendes Volkseinkommen. Ich denke an Ar-beitnehmer, an Rentner und an die, die soziale Leistun-gen empfangen. Sie setzen diese Politik ununterbrochenfort. Kollege Stiegler, wenn Sie das alles beklagen, danndürfen Sie diesem Bericht nicht zustimmen, dann dürfenSie die Politik nicht in vollem Umfang mitmachen.
Im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass Sie weiterhin„Teilzeitarbeit und tarifliche Öffnungsklauseln, befris-tete Arbeitsverträge“ und Leiharbeit vorantreiben wol-len. Die Leiharbeit nennen Sie im Bericht vornehmer-weise „Zeitarbeit“. Als weitere Beispiele nennen sie„Minijobs und Zeitkonten“. All dies wollen Sie weitereinsetzen, um Anpassungsflexibilität zu erreichen. Das
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Oskar Lafontaineheißt, Sie wollen das Programm zur Lohnsenkung weitervorantreiben. Das ist die Botschaft des Jahreswirt-schaftsberichtes.
An einer Stelle ist der Bericht dann auch ehrlich. Erzeigt – wie in all den vergangenen Jahren – schlicht undeinfach eine unverschämte Bilanz der Umverteilung, ander sich überhaupt niemand mehr stört. In jedem Jahres-wirtschaftsbericht steht: Arbeitnehmerentgelte nix, Ren-tenerhöhungen wird es nicht geben und soziale Transferssowieso nicht. Die große Mehrheit der Bevölkerung– das steht im Bericht – ist vom wirtschaftlichen Zu-wachs ausgeschlossen. Nichts anderes steht hier seit Jah-ren. Das sieht man, wenn man bereit ist, Zahlen zurKenntnis zu nehmen.Im Bericht steht zur Projektion, dass Unternehmens-und Vermögenseinkommen diesmal nur in Höhe von5,6 Prozent steigen werden. 7 Prozent war die Projektionin den letzten Jahren. Aber das ist ja nur die Hälfte des-sen, was passiert. Im letzten Jahr sind allein die Aktien-kurse um über 20 Prozent gestiegen. Die Einkommender Arbeitnehmerschaft sind gesunken. Andere Gewinn-spannen möchte ich hier gar nicht vortragen.Das alles schreiben Sie. Das ist weiterhin Ihre Ab-sicht. Sie sind eine Große Koalition der Umverteilung.Wenn Sie das von den Erträgen der Arbeitnehmerent-gelte usw. nicht ableiten wollen, dann schauen Sie nurIhre Steuerpolitik an: Sie haben auf der einen Seite diegroße Mehrheit der Bevölkerung mit 20 Milliarden Europro Jahr durch die Mehrwertsteuererhöhung belastet unddie Unternehmen – ich denke hier an Steuersenkungenund die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitra-ges – um 20 Milliarden Euro entlastet. Man muss keingroßer Rechenkünstler sein, um zu wissen, dass hier einereine Umverteilung vorgenommen wurde.
Ich möchte hier nun unsere Vorschläge zur Festigungder Konjunktur in Deutschland vortragen, die dann not-wendig ist, wenn der Export nicht mehr läuft. Die Ren-ten und die Löhne können noch so niedrig sein – wirkönnten auch Sklavenlöhne einführen –: Der Exportläuft trotzdem weiter. Aber die Binnenkonjunktur ver-kraftet die Philosophie, die in den letzten Jahren domi-nierte, nicht.Das Erste, was wir brauchen, ist eine Lohnpolitik, mitder die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsäch-lich wieder am Wachstum der Volkswirtschaft beteiligtwerden. Das muss als Allererstes geschehen.
Das heißt für uns: Im Gegensatz zur Entwicklung derletzten Jahre müssen die Löhne im Rahmen von Inflationund Produktivität steigen. Was nützt die Beschwörungder Produktivität, wie von Kollege Stiegler vorgetragen,wenn die Löhne in den letzten Jahren im Rahmen derProduktivität überhaupt nicht mehr gewachsen sind? Damuss man sich doch die Frage stellen, warum das derFall war. Die Erklärung ist ganz simpel: Die Gewerk-schaften wurden über Hartz IV, befristete Arbeitsver-träge, Minijobs und Leiharbeit so systematisch ge-schwächt, dass sie nicht mehr auf die Füße kamen. Siehaben mit der fatalen Gesetzgebung, die Sie zu verant-worten haben, das Sinken der Löhne programmiert.
Als Zweites müssen die Armutsrenten zurückge-nommen werden. Ich rede hier von der unsinnigen Ren-tenpolitik, die Sie über all die Jahre gemacht haben. Wiewollen Sie denn die Binnenkonjunktur bei sinkendenRealeinkommen und sinkenden Einkommen der Rentne-rinnen und Rentner in Gang bringen? Diese hören unsheute zu, und sie wissen genau, dass sie an Kaufkraftverloren haben. Sie wissen auch, dass Sie immer weiterdarüber nachdenken, wie Sie die Renten weiter kürzenkönnen. Sie waren schließlich stolz darauf, dass Sie eineRentenreform verabschiedet haben, mit der die Rente fürviele weiter gekürzt wird. Nehmen Sie doch zur Kennt-nis, dass das Desaster, dass für die jetzt Beschäftigten inZukunft Armutsrenten programmiert sind, bereits einge-treten ist.Wenn selbst der Vater dieser Reformen, Herr Rürup,begriffen hat, was er angerichtet hat, und wenn er des-halb vorschlägt, eine steuerfinanzierte Grundrente einzu-führen, um dieses Desaster zu vermeiden, dann ist diesein Ausweis von Ratlosigkeit. Ändern Sie die Rentenfor-mel, damit die Rentnerinnen und Rentner endlich wiederam wachsenden Wohlstand teilnehmen können.
Zum Steuertarif habe ich bereits etwas gesagt. Ichmöchte aber einen weiteren Punkt erwähnen. Wir brau-chen gerade in der jetzigen Situation im Steuerrechtkeine weiteren flächendeckenden Senkungen der Unter-nehmensteuern. Vielmehr brauchen wir im Unterneh-mensteuerrecht einen Umbau, der dazu führt, dass derinvestierende Unternehmer belohnt und der spekulie-rende Unternehmer nicht belohnt wird. Das heißt, die de-gressive Abschreibung von Investitionen muss wiedereingeführt werden.
Es war ein großer Fehler, dieses bewährte Instrument,das über viele Jahre Kernelement des Handelns vonWirtschaftsministern war, die die Steuerung der Kon-junktur noch im Programm hatten, abzuschaffen.Was wir auch brauchen, sind Ausgaben in der öffent-lichen Infrastruktur, um gegenzusteuern. Man kann esnicht oft genug sagen: Wir können es uns als Industrie-staat nicht erlauben, dass die Investitionsquote in unse-ren öffentlichen Haushalten im Vergleich mit den euro-päischen Nachbarn nur halb so hoch ist. Das ist eineeindeutige Zahl. Wie lange, glauben Sie, können wir unsVersäumnisse auf einem Gebiet leisten, in dem die Zu-kunft des Staates definiert wird, nämlich bei den öffentli-chen Investitionsausgaben? Die anderen sind nicht düm-mer oder klüger als wir, aber sie haben teilweise deutlichbessere Ergebnisse.
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Oskar LafontaineDas, was ich gesagt habe, gilt natürlich auch für dieAusgaben in Bildung und Forschung, insbesondere fürdie Bildung. Das, was teilweise in den Ländern in denletzten Jahren geschehen ist – die Schulzeit wurde ver-kürzt, um die Menschen möglichst schnell auf den Ar-beitsmarkt zu werfen –, ist ein Wahn. Dahinter stehtnicht mehr die Idee, dass Bildung die Entwicklung einerPersönlichkeit ermöglicht und dazu beiträgt, eigene Ak-tivitäten zu entfalten. Vielmehr geht es darum, die Men-schen möglichst schnell für den Arbeitsmarkt auszubil-den. Das ist ein Fehler. Das wird noch durch den Abbauvon Lehrpersonal ergänzt. Die Lehrpläne sind überfrach-tet. Viele Eltern beklagen sich mittlerweile darüber, manraube den jungen Menschen die Kindheit. Deshalb brau-chen wir in Deutschland eine andere Schul- und Bil-dungspolitik.
– Herr Finanzminister, ich hätte gerne die Zeit, mich mitIhnen auseinanderzusetzen. Wir müssten eigentlich überall das reden, was Sie so auf den Finanzmärkten treiben.Ich kann Ihnen nur sagen: Was sollte hier eben das Ge-jammer über die Finanzmärkte, wenn Sie die Geldpolitiknach wie vor so missachten, wie das derzeit geschieht?Solange in Europa die aktuelle Verfassung der Zentral-bank gilt, die im krassen Gegensatz zu den Verfassungender Zentralbanken der übrigen Welt steht, insbesondereder amerikanischen Zentralbank und der britischen Zen-tralbank, so lange wird die Geldpolitik zur Steuerung derKonjunktur nicht eingesetzt werden können. Das abergeht zulasten der Beschäftigten in Gesamteuropa.
Wenn Ihnen sonst nichts einfällt, dann schreiben Sie ein-fach die Verfassung der amerikanischen Zentralbank ab.Ein weiterer Punkt ist die Regulierung der Finanz-märkte. Immer, wenn die Linke gefordert hat, die Fi-nanzmärkte zu regulieren, dann haben Sie hier erklärt,dass das einzig Wichtige die Transparenz sei. Was mei-nen Sie mit Transparenz? Sie ist weitgehend vorhanden.Wir wissen, wo überall spekuliert wird. Wir wissendoch, wie unsicher die einzelnen Derivate sind. Wir wis-sen, wo die Risiken liegen. Nein, wir brauchen eine Re-regulierung der Finanzmärkte, wenn wir wieder Ord-nung in das Chaos der weltweiten Finanzmärktebekommen wollen.
Mit der Reregulierung der Finanzmärkte müssen wirbei unseren eigenen Gesetzen beginnen. Wenn wir jetztbeklagen, dass Banken, die teilweise sogar in öffentli-chem Besitz sind, Nebengeschäfte gemacht haben, dannmüssen wir uns doch die Frage stellen, was wir da ei-gentlich versäumt haben.Nebenbei möchte ich sagen: Es gibt auch bedeutendeAufsichtsratsvorsitzende, die gepennt haben. Sie habendort, wo sie verantwortlich waren, nicht erkannt, dass ingroßem Umfang Nebengeschäfte getätigt und sogar bi-lanziert wurden. Wenn wir so sehr pennen, dann werdenwir keine Ordnung in die internationalen Finanzmärktebekommen. Wir müssen bei uns selbst anfangen, meinesehr geehrten Damen und Herren;
ich hoffe, dass dieser Wink verstanden worden ist.Ich fasse zusammen: Natürlich könnte man diesePolitik, die dem Export wenig schadet, fortsetzen. Aufden Glanzfeldern unserer Wirtschaft – dem Automobil-bau, dem Maschinenbau, der Chemieindustrie, der Elek-trotechnik usw. – verfügen wir Gott sei Dank über guteIngenieure und Konstrukteure, die dafür sorgen, dass un-sere Produkte weltweit vermarktet werden können undAbsatz finden. Das ginge aber auch bei sehr niedrigenLöhnen, weil diese Ziele dadurch überhaupt nicht ge-fährdet werden.Wenn Sie irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen,dass der Binnenmarkt für die Volkswirtschaft einer gro-ßen Industrienation von Bedeutung ist, dann müssen Siedaraus Konsequenzen ziehen. Vor allen Dingen einesdürfen Sie nicht tun: eine verfehlte Politik, die zu sin-kenden Löhnen, sinkenden Renten und sinkenden sozia-len Leistungen führt, betreiben und dann noch die Frech-heit besitzen, zu behaupten: Der Aufschwung kommt beiallen an.
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht, über den wirheute sprechen, hat den Titel „Kurs halten!“. Ich finde,wenn man Kurs halten will, muss man erst einmal einenKurs haben.
Wenn ich mir die Debatten über die aktuellen Problemeder Wirtschaftspolitik vor Augen führe, dann kann ichnicht feststellen, dass die Bundesregierung über einengemeinsamen Kurs verfügt.Wenn es um die Mindestlöhne geht, verfolgen Sievöllig unterschiedliche Konzepte; das gilt übrigens fürLohnfragen insgesamt. Die Union dilettiert beim ThemaMindestlohn. Zuerst wollte sie überhaupt keinen Min-destlohn. Dann hat sie gesagt: In ein oder zwei Branchenkönnen wir ihn vielleicht einführen. Nun wundert sichdie Union, dass auch andere Leute auf die Idee kommenund fragen: Was ist bei uns? – Manche reden schon voneinem flächendeckenden Mindestlohn. Es geht ständighin und her.
Ein anderes Beispiel ist Ihre Gesundheitspolitik.Durch die geplante Einführung des Gesundheitsfondszum 1. Januar 2009 werden die Beitragssätze zur Kran-kenversicherung wahrscheinlich um 0,7 Prozentpunkte
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Fritz Kuhnsteigen. Das ist doch einfach Murks, und man kann nichtsagen, das sei ein Kurs. Einerseits senken Sie die Lohn-nebenkosten durch eine Senkung des Beitragssatzes zurArbeitslosenversicherung. Andererseits machen Sie einePolitik, die dazu führt, dass die Lohnnebenkosten im Ge-sundheitsbereich, nämlich beim Beitragssatz zur Kran-kenversicherung, steigen. Das ist kein Kurs, sondern einunsystematisches Hin und Her, durch das unser Landund unsere Wirtschaft nicht vorangebracht werden.
Im Jahreswirtschaftsbericht von Michel Glos lesenwir: Diesmal soll es der Binnenmarkt richten, und dastrotz all der finsteren Wolken, die sich unter anderemüber den USA am Horizont zeigen. Im Jahreswirt-schaftsbericht ist für den Binnenkonsum von einemWachstum in Höhe von 3,1 Prozent die Rede; preisberei-nigt entspricht das einem Wachstum des Binnenmarktesum 1,4 Prozent. Herr Glos, ich muss Sie fragen: In wel-cher Welt leben Sie eigentlich?
Die Leute bekommen gerade die Nachricht, dass diePreise in allen möglichen Bereichen steigen: beim Gas,beim Wasser, beim Öl usw. Wenn sie einkaufen gehen,stellen sie fest, dass auch die Preise für Grundnahrungs-mittel steigen: bei der Milch, beim Fleisch und bei vie-lem, was die Familien in unserem Land brauchen. Sieaber sagen: Diesmal wird es der Binnenmarkt richten.Glauben Sie etwa, dass irgendjemand einkaufen geht,weil Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht schreiben„Wir wollen Kurs halten! Beruhigt euch, Leute!“? Wiestellen Sie sich das eigentlich vor?
Außerdem fordern Sie eine maßvolle Lohnpolitik.Das heißt für die Leute: Es wird nicht mehr Geld geben.Hören Sie auf mit der Märchenstunde, der Binnenmarkt,der private Konsum werde es diesmal richten! Es gibtkeine empirische Evidenz, dass das so sein wird.
Auch was jetzt über die Börsenkrise zu lesen ist, wirdnicht dazu beitragen, dass die Leute Vertrauen entwi-ckeln.Wir gehören nicht zu denen, die es als eine Aufgabeder Opposition sehen, die Konjunktur schlechtzureden.Wir können dieser Versuchung widerstehen, Herr Lafon-taine. Wir machen dieses Spiel nicht mit. Die kleinenLeute, bei denen der Aufschwung noch nicht ankommt,haben nämlich umso größere Chancen, je besser sich dieKonjunktur entwickelt.Wir bräuchten jetzt eine Bundesregierung, die mit ih-rer Wirtschafts- und Sozialpolitik – das gehört ja zusam-men – Vertrauen bei den Leuten schafft, dass der Auf-schwung bei allen ankommt, auch bei denen, die sozialnicht so gut dastehen.
Anstatt herumzunölen, will ich Vorschläge machenund Ihnen sagen, wo Sie als Große Koalition agierenmüssen und aufhören müssen, ihre Köpfe in den Sand zustecken, Herr Glos: Das Erste ist die Frage der Lohnent-wicklung, insbesondere die Frage, wie es bei den Min-destlöhnen weitergeht. Die Große Koalition kann sichnicht darauf einigen, wie das Prinzip, das ja alle bejahen– dass, wer ganztags arbeitet, von seiner Hände oder sei-nes Kopfes Arbeit leben können muss –, in die Praxisumgesetzt werden soll. Solange Sie sich nicht einigenkönnen, was Sie wollen – Kombilöhne oder Mindest-löhne, flächendeckend oder wie auch immer –, kann esan dieser Stelle nicht aufwärtsgehen. Wir sagen, dass wirMindestlöhne brauchen – aber branchen- und regional-spezifisch. Der Vorschlag, den BundesarbeitsministerScholz gemacht hat, ist nicht schlecht; er geht ja auf un-seren Vorschlag, eine Mindestlohnkommission einzu-richten, zurück. Aber man muss beides machen: Manmuss das Entsendegesetz entsprechend ausweiten, eineMindestlohnkommission einrichten und, eines Tages, ei-nen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einfüh-ren. Es darf nicht sein, dass jemand trotz Arbeit Aufsto-cker sein muss.
Die Leute können kein Vertrauen haben, Herr Meyer,wenn sie wissen: Du kannst ganztags arbeiten, aber le-ben kannst du davon nicht. – Auch wäre es ein falschesSignal an die Wirtschaft, aufzustocken und damit gewis-sermaßen einen flächendeckenden Kombilohn einzufüh-ren. Es ist Murks und Unsinn, was die Union an derStelle anbietet.
Das Zweite. Sie müssen sich endlich bemühen, dochmehr für den Mittelstand zu tun. Die Unternehmensteu-erreform hat vielen Personengesellschaften, die Einkom-mensteuer zahlen, nichts gebracht. Im Gegenteil, HerrSteinbrück: Weil die Gewerbesteuer ausgedehnt wurde– es war ja richtig, Zinsen und Pacht einzubeziehen –,sind diejenigen Personengesellschaften, die, weil siekeine Einkommensteuer zahlen, Gewerbesteuer und Ein-kommensteuer nicht miteinander verrechnen können, so-gar zusätzlich belastet worden. Deswegen sagen wir: DieGewerbesteuer muss in diesem Sinne vorgetragen wer-den, damit die mittelständischen Betriebe in diesem Be-reich tatsächlich entlastet werden.
– Da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln! HörenSie sich einfach einmal an, was die Mittelständler, die indieser Situation sind, dazu sagen!Das Dritte ist der Gesundheitsfonds. Es würde schoneinen Schub für die Konjunktur bringen, wenn Sie einse-hen würden, dass dieser Fonds Murks ist, und daraufverzichten würden, etwas einzuführen, was neun Monatespäter – wenn wir eine andere Gesundheitspolitik habenwerden – ohnehin wieder abgeschafft wird. Auch daswäre gut dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbrau-cher Vertrauen entwickeln.
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Fritz Kuhn
Es gibt noch ein weiteres Thema, das wir wichtig fin-den. Darin unterscheiden wir uns massiv von Herrn La-fontaine, den ja das ganze Thema Lohnnebenkostenüberhaupt nicht interessiert. Vieles, was er vorgetragenhat, ist schön und wünschenswert; aber es führt zu einerSteigerung der Lohnnebenkosten und damit zu einerVerschlechterung der Bedingungen für das Entstehenneuer Arbeitsplätze. In einem haben Sie allerdings recht,Herr Lafontaine, und da teilen wir Ihre Ansicht: Vor al-lem den Beziehern kleiner Einkommen bleibt zu wenignetto. Sie haben zwar einen Arbeitsplatz; aber sie verdie-nen zu wenig. Deswegen will ich unseren Vorschlag er-neuern, die Lohnnebenkosten im unteren Bereich zu sen-ken. Nicht überall haben wir hier ein Problem; aber denGeringverdienern bleibt zu wenig netto.
Ich frage mich, wann sich die Bundesregierung hier end-lich bewegt. Wir Grünen haben zur Lösung dieses Pro-blems ein Progressivmodell vorgeschlagen.Herr Glos, an dieser Stelle ist für die Mittelschichtauch die kalte Progression zu nennen. Wir müssen dieSteuertarife ändern, weil die Menschen bei einer Lohner-höhung ansonsten nicht das in der Tasche haben, was sieeigentlich haben sollten, da ihnen die Lohnerhöhungdurch die Steuer doppelt wieder weggenommen wird.Ich nenne ein Thema, das für die CDU/CSU und dieSPD ganz unangenehm ist. Es geht nämlich um dieFrage, ob sich die Riester-Rente wirklich in allen Fällenlohnt. Selbstverständlich ist hier eine Verunsicherungentstanden. Ich frage mich, ob Sie eine passende Ant-wort haben. Wir von den Grünen sagen: Es ist richtig,dass die Menschen mit der Riester-Rente zusätzlich et-was ansparen und sich so privat für das Alter stärken. –Aber natürlich sind die Leute verunsichert, weil sowohlbeim Arbeitslosengeld II als auch bei der Rente – dann,wenn die Menschen eine Sozialrente erhalten – zu vielauf privat angespartes Geld für das Alter zugegriffenwird. Es ist einfach nicht okay, dass das dann verrechnetwird.
Daraus folgt aber keine pauschale Polemik gegen dieRiester-Rente, wie sie Lafontaine gerne verwendet, son-dern daraus folgt, dass die Mittel, die die Leute durchihre Altersvorsorgemaßnahmen privat erwirtschaftet ha-ben, zum Beispiel auf ein Altersvorsorgekonto überwie-sen werden sollten und eben nicht angetastet werdendürfen. Wenn Sie das nicht wollen, dann machen Sie dasüber Freibeträge. Man kann den Leuten doch nicht er-zählen – gerade den kleinen Leuten –: „Spart im Rahmender Riester-Rente!“, während diese Mittel selbstver-ständlich verrechnet werden, wenn sie zu wenig Renteerhalten und aufgestockt werden muss.Mit Ihrer Verweigerung, eine neue Lösung auf denTisch zu legen, verhindern Sie die Bewältigung deswichtigen Problems der privaten Altersvorsorge. Bei denVerhandlungen damals lagen ja viele Lösungen auf demTisch. Ich fordere Sie hier auf, sich an dieser Stelle zubewegen.
Ich will einen weiteren Punkt nennen, der wichtig ist,wenn man etwas für die Wirtschaft tun will. Uns gehen inDeutschland viele Arbeitsplätze verloren, weil die GroßeKoalition nicht in der Lage ist, die Einwanderungsbe-dingungen für gut ausgebildete Arbeitskräfte zu erleich-tern. Senken Sie die Grenze von 84 000 Euro, die man alsVerdienst nachweisen muss, um hierher zu dürfen, undwir werden hochqualifiziertes Personal bekommen.Selbstverständlich wollen wir deutsche Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer ausbilden, aber wir brauchen so-fort Arbeitskräfte. In der Globalisierung kann man nichtsagen, dass man zwar überallhin exportieren, aber lieberkeine Leute von woanders haben will, die eine gute Qua-lifikation haben. Das ist Wirtschaftspolitik von vorges-tern, aus Gründen, die vielleicht mit Ihrer Politik im In-nern zu tun haben. Wirtschaftspolitisch beweist diesjedenfalls keine Vernunft.
Herr Glos, eines stört mich an Ihrem Bericht und IhrerKommentierung noch mehr. Wir haben doch erkannt,dass es in Deutschland ein großes Wachstumsfeld gibt,nämlich die ökologische Modernisierung: Energie ein-sparen und effizienter mit Energie umgehen. – Sagen Siedoch einmal, dass Sie dies im Binnenmarkt zum Wachs-tumsfeld machen wollen, treten Sie nicht dauernd auf dieBremse und nölen Sie nicht dauernd gegen mehr Ener-gieeinsparung und eine bessere Energiepolitik!Mit grünen Ideen kann man schwarze Zahlen schrei-ben und Arbeitsplätze schaffen. Das muss auch der Wirt-schaftsminister dieses Landes endlich kapieren.
Sie würden also Vertrauen schaffen – auch in denBinnenmarkt –, wenn Sie diese Vorschläge beherzigenwürden. Ich sage aber noch einmal: Die Große Koalitionhat bei keinem dieser Punkte eine gemeinsame Linie.Deswegen ist sie an der entscheidenden Stelle auch nichthandlungsfähig.Zum Abschluss will ich noch etwas zur Börsenkrise,zur Immobilienkrise in den USA und dazu sagen, wasdas für uns bedeutet. Erst einmal: Die Entwicklung inden USA ist dramatisch. Das hat verschiedene Gründe.Die Zeit, dass man viel mehr ausgeben kann – auch imprivaten Konsum –, als man systematisch einnimmt, istjetzt endgültig vorbei. So gesehen findet dort auch eineMarktbereinigung statt, auf die man warten konnte,wenn man die Entwicklung in den letzten Jahren beob-achtet hat.Selbstverständlich wird dies Auswirkungen auf diedeutsche Wirtschaft haben. Gott sei Dank werden sienicht so drastisch und wahrscheinlich auch nicht soschnell eintreten wie in den USA, aber es soll hier dochniemand so tun, als würde dies nicht auch wachstums-dämpfend wirken. Ich sage Ihnen voraus, dass das Wirt-schaftswachstum stärker als um die 0,3 Prozent sinken
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Fritz Kuhnwird, die Sie in Ihrer Prognose heruntergegangen sind.Das kostet uns Milliarden Euro.Ausgerechnet an einer solchen Stelle fängt die Bun-desregierung – von der Bundeskanzlerin bis hin zu SPD –mit der unseligen Debatte über die Staatsfonds an, nachdem Motto: Jetzt bitte nicht ohne Weiteres ausländischesGeld von ausländischen Staatsfonds in die Bundesrepu-blik Deutschland. Andere Länder, wie die Schweiz, dieaufgrund der Immobilienkrise auch Milliardenbeträgeabschreiben mussten, werden gerade durch ausländischeStaatsfonds gestützt. Ich kann wirklich nicht verstehen,warum Sie gerade in Zeiten – das ist gegen jede politi-sche Vernunft –, in denen man Geld braucht, sagen: Bittekein Geld von ausländischen Staatsfonds. – Das ist gegenjede ökonomische Vernunft. Das, was Sie hier veranstal-ten, ist Unsinn.
Die Zockerökonomie, die wir zum Teil auf der Welthaben, ist zum Vertrauensproblem für die reale Ökono-mie geworden. An die Adresse der Herrschaften von derFDP kann ich nur sagen:
Selbstverständlich brauchen wir neue und klare Regelnfür die internationalen Finanzmärkte. Sie haben dieAufgabe, dafür zu sorgen, dass Kredite zu überschauba-ren und nachvollziehbaren Risiken an die Stellen kom-men, wo Investitionen stattfinden. Dafür sorgen sie abernicht mehr, wenn wir systematisch das Verstecken, Ver-briefen und Auslagern von Risiken bei Banken und Fi-nanzmarktinstitutionen so lange zulassen, bis bei keinemInstitut mehr durchblickt wird, wo genau die Risiken lie-gen. Das muss sich ändern.
Eigentlich haben alle begriffen, dass wir neue Regeln fürdie internationalen Finanzmärkte brauchen. Auch bei derWeltbank und dem IWF wird über nichts anderes mehrgeredet, übrigens, Herr Lafontaine, weit mehr als überTransparenz. Die Einzigen, die es in Deutschland nichtbegriffen haben, sind die Liberalen. Meine Damen undHerren von der FDP, ich fordere Sie daher auf, aufzuwa-chen und Vorschläge zu machen.
Wir müssen selbstverständlich die Finanzmarktauf-sicht in Deutschland stärken. Das Aufsichtsstrukturmo-dernisierungsgesetz muss endlich auf den Weg gebrachtwerden. Union und SPD blockieren sich aber gegensei-tig bei der Bewertung der Kompetenzverteilung zwi-schen BaFin und Bundesbank. Wir müssen die Risikenim Bankensektor auch in Deutschland besser wahrneh-men. Zweckgesellschaften der Banken müssen im Rah-men von Basel II in die Finanzmarktaufsicht einbezogenwerden. Anders geht es nicht.
Dies muss systematisch sowie mit Ruhe und Kraft ge-schehen. Sonst kommt nur Unsinn dabei heraus. DieHedgefonds und die Private-Equity-Gesellschaften müs-sen unter die Finanzaufsicht gestellt werden. Sie müssenweltweit registriert werden. Dabei sind auch viele natio-nale Fragen zu klären.Wir müssen die Rolle der öffentlichen Banken inDeutschland überdenken. Ich frage mich schon lange,warum Landesbanken in der Weise spekulative Ge-schäfte auf internationaler Ebene tätigen müssen, wie eszum Beispiel in Sachsen und bei der West LB geschehenist.
Das ist nicht die genuine Aufgabe der Landesbanken.Ich erwarte von der Politik Schritte, das zu unterbinden.Vielleicht hilft es, wenn die Aufsichtsgremien nicht nachParteibuch, sondern nach Sachverstand besetzt werden.Viele Probleme resultieren nämlich daraus, dass die Ver-waltungsräte und Aufsichtsgremien nicht entsprechendagieren.
Ich komme zum Schluss. Herr Wirtschaftsminister, esgibt viel mehr zu tun, als zu beschwichtigen. Ich fordereSie auf, den Schlafmichel aufzugeben und aktiv einevertrauenschaffende Wirtschaftspolitik in Deutschlandzu betreiben. Ihre Abwieglungsreden glaubt Ihnen so-wieso niemand mehr.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir diskutieren über den Jahreswirtschaftsbe-richt 2008 vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichenEntwicklung und der aktuellen Börsenentwicklung. Esgibt aus meiner Sicht zwei wesentliche Punkte, die dazubeigetragen haben, dass diese Entwicklungen so einset-zen. Das eine ist, dass man nach dem 11. September2001 versucht hat, mit dem süßen Gift billigen Geldeskonjunkturell wieder Fahrt aufzunehmen. Das andere ist,dass man auf dieser Grundlage komplexe Finanzpro-dukte entwickelt hat. Ich möchte massiv davor warnen,die Probleme, die zum Teil auf billiges Geld zurückzu-führen sind, erneut mit billigem Geld lösen zu wollen.Das führte nur zu neuen Problemen in der Zukunft. Wirbrauchen stabiles Geld. In diesem Zusammenhangmöchte ich der Europäischen Zentralbank ein Kompli-ment machen; denn sie hat im Zeitraum von ihrer Errich-
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Dr. Michael Meistertung bis heute einen Stabilitätskurs, einen für die Finanz-märkte stabilisierenden Kurs und einen Kurs für stabilewirtschaftliche Rahmenbedingungen verfolgt.
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. KollegeLafontaine hat ja massive Kritik am Bundesfinanzminis-ter geübt. Ich möchte namens meiner Fraktion erklären:Ich freue mich, dass Herr Steinbrück nach wie vor seineVerantwortung, die sowohl in puncto Haushaltskonsoli-dierung wie auch in puncto Herausforderungen durch dieFinanzmärkte schwierig ist, wahrnimmt. Er ist nicht beiNacht und Nebel durch die Hintertür vor den Problemengeflüchtet, sondern er versucht gemeinsam mit derKoalition, die sich ergebenden Herausforderungen anzu-gehen.
Das ist das, was wir von einem verantwortlichen Politi-ker in diesem Land erwarten: nicht groß reden, sondernVerantwortung wahrnehmen.
Wir haben eine Wachstumsprognose von 1,7 Pro-zent. In dieser Debatte wurden sehr deutlich die Risikenvorgetragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müs-sen. Das ist zu Recht geschehen. Ich will allerdings auchdarauf hinweisen, dass die Wachstumsprognose auf An-nahmen basiert, die schon von einem Ölpreis von95 Dollar pro Barrel und einem Leitzins von 4 Prozentausgehen. Was ich mit diesen beiden Beispielen sagenwill: Ein Teil der genannten Risiken ist in den Annah-men des Jahreswirtschaftsberichts abgebildet. Deshalbhalte ich die Wachstumsprognose, die hier unterstelltwird, für einen vernünftigen und realistischen Wert.Meine Antwort lautet nicht, dass wir in dieser Situa-tion mehr Verteilungspolitik brauchen, wie das heuteMorgen schon verschiedentlich gefordert worden ist.Meine Antwort lautet an dieser Stelle: Wir müssen dieWachstumspolitik der vergangenen drei Jahre weiterfüh-ren, indem wir bei einem klaren Reformkurs bleiben, fürmehr strukturelles Wachstum in Deutschland sorgen unddamit Wohlstand für alle, Wachstum für alle und Arbeitfür alle in diesem Land schaffen.
Es gibt auch positive Anzeichen, die man in einer sol-chen Debatte nicht vergessen sollte: Die Zahl der Auf-tragseingänge in der Industrie ist im Zweimonatsver-gleich um 5 Prozent gewachsen. Wenn man das inVerbindung mit dem Geschäftsklima sieht, das weiterhinauf einem ansprechenden Niveau ist, und wenn mansieht, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt – immerhinwar im vergangenen Jahr bei der Beschäftigung ein Zu-wachs von 600 000 Menschen zu verzeichnen, und derAusblick zeigt, dass wir auf dem Arbeitsmarkt auch imlaufenden Jahr eine positive Entwicklung haben werden –,dann ist klar: Es gibt durchaus Anlass zu einem optimis-tischen Blick auch auf die Binnenkonjunktur.Deshalb sollten wir das nicht herunterreden, HerrKuhn. Sie haben so getan, als würde die Regierungnichts für die Schaffung von Vertrauen tun. Wir müssenklarmachen, dass wir ein Konzept haben – das habenwir; das kommt auch im Jahreswirtschaftsbericht zumAusdruck –, dass wir uns nicht durch irgendwelche Ta-gesmeldungen nervös machen lassen und dass wir unserKonzept Schritt für Schritt umsetzen. Wenn Sie sich dieArbeit der Koalition in den letzten beiden Jahren an-schauen, dann stellen Sie fest, dass wir unsere Agendakonsequent abgearbeitet haben. Wir haben nicht ständigkorrigiert, wie Sie das in Ihrer Regierungszeit getan ha-ben. Das schafft Vertrauen, und auf diesem Weg werdenwir weiteres Vertrauen bei den Menschen gewinnen.
Wir haben, Herr Brüderle, durch Haushaltskonsoli-dierung, Unternehmensteuerreform und sinkende Lohn-nebenkosten strukturelle Vorsorge für eine bessereKonditionierung des Wirtschaftsstandorts Deutschlandgetroffen. Ich wundere mich, wenn Sie hier gegen diesePunkte polemisieren. Die Unternehmensteuerreformwar nicht nur für die Aktiengesellschaften und GmbHs,sondern auch für den deutschen Mittelstand.
Wir haben sowohl bei den Steuersätzen als auch bei denAnsparmöglichkeiten für neue Investitionen entlastet,und wir haben bei der Gewerbesteuer dafür gesorgt, dassdie Messzahl sinkt und dass die Anrechenbarkeit auf dieEinkommensteuer verbessert wird. Das sind alles Maß-nahmen, die im Mittelstand positiv ankommen. Wir soll-ten diese Ergebnisse nicht zerreden, sondern den Men-schen deutlich machen, dass es an dieser Stelle seit1. Januar wesentlich bessere Konditionen gibt.
Es gibt in diesem Haus Stimmen, die sagen, wir soll-ten jetzt endlich mit den Reformen innehalten. Es gibtauch Stimmen in diesem Haus, die sagen, wir müsstenvielleicht einen Teil der Reformen wieder zurückdrehen.Meine Antwort ist: Wir sollten nicht innehalten undnicht zurückdrehen, sondern wir müssen den Reform-weg konsequent weiter vorangehen. Das ist das, was wirjetzt brauchen; ansonsten geraten wir auf einen Irrkurs.Unsere Fraktion steht zu weiteren Reformen, nicht zumInnehalten und nicht zum Zurückdrehen, meine Damenund Herren.
Wir halten an dem Ziel der Haushaltskonsolidierungund des Haushaltsausgleichs im Jahr 2011 fest. Das istein sehr anspruchsvolles Ziel, das wir dort formulieren.Ich möchte in diesem Zusammenhang sagen: Alle Wün-sche nach Mehrausgaben, die gegenwärtig vorgetragenwerden, müssen sich in den nächsten drei Jahren demZiel eines ausgeglichenen Bundeshaushaltes unterord-nen.
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Dr. Michael MeisterWir müssen auch an dieser Stelle Vertrauen in diesemLand schaffen. Das gelingt uns, wenn wir das Ziel einesausgeglichenen Haushaltes 2011 erreichen.
Durch unsere Entscheidungen, speziell durch die Ab-senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages, habenwir die Quote bei den Lohnnebenkosten auf unter40 Prozent gedrückt. Dieses Ziel, das wir jetzt erreichthaben, haben wir lange mit vielen harten Entscheidun-gen angesteuert. Ich will an dieser Stelle sagen: Auch beiden Entscheidungen, die in diesem Jahr vor uns liegen,müssen wir darauf achten, dass wir bei den Lohnneben-kosten unter der Grenze von 40 Prozent bleiben. Es stehtnoch die Entscheidung über den allgemeinen Beitrags-satz in der gesetzlichen Krankenversicherung an. Essteht eine Entscheidung über die Pflegeversicherung an.Außerdem steht – hoffentlich – die Entscheidung an, denBeitragssatz zur Arbeitslosenversicherung weiter zu sen-ken, wenn die Beschäftigungssituation noch besser ge-worden ist.In diesem Kontext müssen wir dafür sorgen, dass Ar-beit in Deutschland weiterhin günstiger wird und dassdie Menschen netto mehr in der Tasche haben. Das istder Effekt von sinkenden Lohnnebenkosten. Dadurchkommt es zur Teilhabe aller Arbeitnehmer. Das ist einePolitik, bei der alle vom Aufschwung profitieren.
Heute Morgen ist auch das Thema Tarifverhandlun-gen angesprochen worden. Ich würde mir wünschen,dass wir Tarifautonomie großschreiben würden. Ichwundere mich darüber, dass zwar die Tarifautonomie imGrundgesetz vorkommt, die Politik aber bei vielen Gele-genheiten gute Ratschläge erteilt. Uns würde etwas mehrZurückhaltung besser anstehen. Trotzdem müssen wirdie Verantwortung derjenigen anmahnen, die die Tarif-verhandlungen führen. Sie haben in den vergangenenJahren einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dasswir wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch eine solchtolle Bilanz haben, indem sie vernünftige Tarifergeb-nisse erzielt haben. Meine Bitte ist, dass sie diesen Wegder Vernunft gemeinsam weitergehen und ihre Verant-wortung wahrnehmen. Damit tun sie den Menschen inunserem Lande etwas Gutes.
Es wird suggeriert, dass man für die Sicherheit derArbeitsplätze etwas tun könnte, wenn man mehr Sicher-heitsregeln und mehr Starrheit ins Arbeitsrecht einbaut.Meine These ist: Das ist eine Scheinsicherheit. Wenn wirArbeitsplätze in Deutschland sicherer machen wollenund wenn wir mehr Arbeit in Deutschland schaffen wol-len, brauchen wir mehr Flexibilität. Durch mehr Flexibi-lität, aber nicht durch mehr Starrheit bekommen dieMenschen eine größere Chance auf Arbeit. Wenn wir fürdie Menschen etwas tun wollen, sollten wir uns darumbemühen, dass wir an dieser Stelle mehr Flexibilitätschaffen. Das gibt ihnen eine Zukunftsperspektive.Ein wesentliches Thema, das heute Morgen am Randeangeklungen ist, ist die Energiepreisentwicklung. VieleMenschen leiden unter dem Anstieg der Lebensmittel-preise und der Energiepreise. Ich will an dieser Stelledarauf hinweisen, dass diese Entwicklung auch etwasmit Angebot und Nachfrage zu tun hat. Die Nachfrageist über einen gewissen Zeitraum relativ konstant. Aberauf der Angebotsseite wird permanent eingegriffen. Des-halb bin ich nicht der Meinung, dass wir Sozialtarife beiden Energiepreisen brauchen. Wir brauchen vielmehr so-ziale Energiepreise insgesamt, die wir hinbekommenkönnen, indem wir die Politik der Angebotsverknappungbeenden.
Wir brauchen eine Angebotserweiterung; denn die An-gebotserweiterung führt zu günstigeren Tarifen für alle.
Ich bin sehr wohl für den weiteren Ausbau der erneu-erbaren Energien. Ich halte es für verdienstvoll, dassman nicht nur die Produktion, sondern auch den Grund-lastanteil erneuerbarer Energien ausbaut. Ich bin aberauch der Meinung, dass wir nicht durch Herausnahmeder Kernkraft aus dem Strommarkt und der Grundlast zueiner Angebotsverknappung kommen dürfen. Denn da-durch greift man den Menschen in den Geldbeutel. Daskostet die Menschen Wohlstand. Deshalb möchte icheine solche Politik, die zulasten der Menschen in unse-rem Land geht, nicht verantworten.
Ich freue mich, dass der Bundeswirtschaftsminister inden vergangenen beiden Jahren eine sehr erfolgreichePolitik gemacht hat und einen realistischen Kurs bei derEnergiepolitik in Deutschland eingeschlagen hat. Ichmöchte ausdrücklich dafür Danke sagen, dass er nichtmit zu starken ordnungsrechtlichen Eingriffen, sondernmit Förderung und Marktanreizen versucht, die Ziele,die wir uns energiepolitisch und klimapolitisch gesetzthaben, zu erreichen. Das ist der Versuch, politische Zielemit marktwirtschaftlichen Instrumenten in Deutschlandumzusetzen. An dieser Stelle ist er auf dem richtigenWeg.
Meine Damen und Herren, wir alle haben in den ver-gangenen Tagen mit großem Bedauern die Entwicklungbei Nokia in Nordrhein-Westfalen verfolgt. Ich glaube,unsere Antwort muss sein, zu versuchen, den Mittelstandin Deutschland mit seinen Talenten, seinen Fertigkeiten,seiner Flexibilität zu stärken. Deshalb will ich Ihnen hiersagen: Wir als Union setzen eine Erbschaftsteuerreformum, die verfassungsgemäß ist und dafür sorgt, dass mit-telständische Unternehmen günstiger an die nächsteGeneration weitergegeben werden können; dafür stehenwir. Damit schaffen wir ein Stück Vertrauen in diesemLand, und mittelständische Strukturen werden gestärkt.
Wir sorgen dafür, dass über das Thema Mitarbeiterbe-teiligung gesprochen wird. Das stärkt die mittelständi-
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Dr. Michael Meisterschen Unternehmen, das stärkt die Arbeitnehmer. Wirwollen ein mittelstandsfreundliches Vergaberecht, wirwollen den Abbau von Bürokratie, und wir wollen dieErfolgsgeschichte der Zeitarbeit weiterführen, um auchdort für mehr Flexibilität zu sorgen.
Wenn wir das tun, dann werden neue, tragfähige Struktu-ren errichtet, und dann wird nicht nur über Strukturengejammert, die leider momentan in Gefahr sind.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und hoffe,dass wir gemeinsam tatkräftig an der Umsetzung arbei-ten.
Martin Zeil ist der nächste Redner für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerJahreswirtschaftsbericht trägt die Überschrift „Kurs hal-ten!“. Der Sachverständigenrat sagt über die Politik die-ser Regierung:Es ist keine klare wirtschaftspolitische Strategieund Richtung erkennbar.Das ist der Grund, warum viele Menschen gerade imMittelstand das Motto „Kurs halten“ eher als Drohungempfinden.
Haben Sie denn überhaupt einen Kurs und, wenn ja, ei-nen, der gehalten werden sollte?Ich nenne ein paar Beispiele: Sie machen ein bürokra-tisches Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, stattendlich Barrieren beim Eintritt in den Arbeitsmarkt ab-zubauen.
Sie machen ein Steuerrecht, das immer komplizierterstatt einfacher und gerechter wird. Sie haben es ja jetztwieder vom Bundesfinanzhof um die Ohren gehauen be-kommen: Was Sie machen, ist zum Teil auch verfassungs-widrig. Sie treiben die Abgaben und Lohnnebenkosten inallen Bereichen – Rente, Pflege, Krankenversicherung –per saldo in die Höhe, statt sie wirklich spürbar abzusen-ken. Sie machen eine Unternehmensteuerreform über-wiegend auf Kosten des Mittelstandes, Herr Wirtschafts-minister, statt den Mittelstand so zu entlasten, dass er esauch wirklich merkt.
Sie legen eine Erbschaftsteuerreform vor, mit der Sienicht nur hinter Ihre eigene Koalitionsvereinbarung zu-rückfallen, sondern die so bürokratisch, so übergabe-feindlich, so arbeitsplatzgefährdend ist, dass sie gera-dezu ein Schlag in das Gesicht der mittelständischenFamilienunternehmen ist.
Ja, wir sind heute alle durch die Entscheidung von Nokiabetroffen, vor allen Dingen durch die Art und Weise. Woaber ist die Glaubwürdigkeit der Regierung bei diesemThema, wenn sie ein Vielfaches an Arbeitsplätzen durchgesetzlich verordnete Mindestlöhne vernichtet?Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Ihrem konkre-ten Regierungshandeln. All das hat mit den Prinzipiender sozialen Marktwirtschaft, mit dem Mut zu Reformennicht das Geringste zu tun. Noch schlimmer: Mit diesemZickzackkurs schaden Sie auch der Glaubwürdigkeit vonPolitik insgesamt. Nehmen wir nur das Thema Mindest-lohn. Ich zitiere den Beschluss des CDU-Parteitages imDezember letzten Jahres. Die Überschrift heißt:Was mit uns nicht zu machen istDann kommt:Wer Unternehmen zwingen will, einen Lohn zuzahlen, der nicht zu erwirtschaften ist, der sorgt da-für, dass viele Menschen gar keinen Lohn mehr be-kommen. Deshalb wird es mit der CDU Mindest-löhne, die Arbeitsplätze vernichten und Wettbewerbaushebeln, nicht geben.Nur eine Woche später hatten wir den ersten Mindest-lohn.
Sie brechen Ihr Wort und erwarten, dass die MenschenIhnen noch glauben. Das kann nicht funktionieren undschafft kein Vertrauen.Ich möchte noch ein Wort zur aktuellen Diskussionüber Subventionen in Deutschland und Europa sagen.Wir sollten über einen grundsätzlichen Politikwechselnachdenken. Wäre es oft nicht besser, öffentliche Mittelin den Ausbau unserer Infrastruktur zu stecken und un-sere Standorte nachhaltig zu stärken, anstatt eine An-siedlungspolitik zu treiben, die das Risiko des Verfalls-datums schon in sich birgt?
Der Bericht, den wir heute debattieren, soll mit schö-nen Überschriften verschleiern, dass diese Regierunglängst einen Kurswechsel zu mehr Staat und wenigerMarktwirtschaft eingeleitet hat. Damit kann man viel-leicht vorübergehend Ängste dämpfen, aber man ver-spielt damit auch die Zukunftschancen der Menschen.Soziale Marktwirtschaft heißt Verbindung von Frei-heit, Wettbewerb und sozialem Ausgleich. Die sozialeMarktwirtschaft hat sich als einzigartiges Erfolgsmo-dell erwiesen. Wir können aber die Prinzipien der sozia-len Marktwirtschaft nur dann glaubwürdig exportierenund ihre Beachtung auch von anderen erwarten, wennwir sie im eigenen Land nicht ständig mit Füßen treten,sondern endlich wieder zur Geltung bringen.Herzlichen Dank.
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Der Kollege Spiller hat nun als Nächster für die SPD-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir schauen auf ein wirtschaftlich erfolgreichesJahr 2007 zurück, das uns die besten Zahlen seit langemgebracht hat: einen kräftigen Rückgang der Arbeitslosig-keit, eine Zunahme der Beschäftigung insbesondere beiden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-hältnissen, eine sehr mäßige Inflationsrate von um die2 Prozent und einen brillanten Abschluss unserer Leis-tungsbilanz im Wirtschaftsverkehr mit dem Rest derWelt. Normalerweise bestünde nur Grund für Zuversichtund für Zufriedenheit über das Erreichte. Die Auftrags-bücher der deutschen Unternehmen sind gut gefüllt, unddie Wettbewerbsfähigkeit ist ungebrochen.Aber es gibt weltweit und auch bei uns Krisensorgen.Sie resultieren – Herr Kollege Stiegler hat das am An-fang sehr deutlich dargestellt – aus unverantwortlichemHandeln bei spekulativen Bankgeschäften. Es ist gera-dezu bedrückend, dass genau in jenen zwei, drei Jahren,in denen wir im Deutschen Bundestag, aber auch in vie-len internationalen Gremien darüber gesprochen haben,wie man sicherstellen kann, dass Kreditrisiken besser alsbisher erfasst werden und Banken ein saubereres Systemder Risikoabschätzung und der Risikokontrolle einfüh-ren – Stichwort: Basel II; das ist, wie ich finde, nach lan-gen Anstrengungen zu einem sehr eindrucksvollen undguten Ergebnis gebracht worden –, weltweit, aber ebenauch in Deutschland bei den Kreditinstituten eine Welledes unverantwortlichen Zockens begonnen hat. Wir ste-hen jetzt in der wirklich bedrückenden Konstellation,dass die hervorragenden realwirtschaftlichen Grundla-gen durch Sorgen in der Finanzwirtschaft gefährdet wer-den. Dies geht so weit, dass auch die Europäische Zen-tralbank und die Deutsche Bundesbank abwägenmüssen, ob sie ihre Geldpolitik an den primären Belan-gen von Geldwertstabilität ausrichten oder ob sie wie dieamerikanische Notenbank sagen, sie müssten für mehrLiquidität sorgen, um weitere Erschütterungen an denFinanzmärkten zu vermeiden.Was ist die Antwort? Was muss man in dieser Situa-tion tun? Alles, was in der Vergangenheit über Deregu-lierung, lieber Herr Kollege Zeil,
und die Freiheit der Marktwirtschaft gesagt worden ist,kann meines Erachtens nicht darüber hinwegtäuschen,dass es in der Finanzwirtschaft klare Regelungen gebenmuss.
Das fängt nicht mit der staatlichen Aufsicht an, sondernmit der Leitung der Institute selbst und der Verantwor-tung des Vorstandes. Die Vorstände müssen sich der Ver-antwortung dafür bewusst sein, was sie tun, wenn sie diedritte oder vierte Ableitung von irgendeinem Produkt füreine risikobewusste Anlage halten. Das setzt auch vo-raus, dass die vorhandenen Gremien – insbesondere derAufsichtsrat – ihre Verantwortung wahrnehmen. DerAufsichtsrat hat ein sehr wichtiges Hilfsorgan, nämlichdie Wirtschaftsprüfer. Es ist niederschmetternd, dass beijeder größeren Krise eines Unternehmens – insbesonderebei den Banken – der Prüfungsvermerk des Wirtschafts-prüfers bescheinigt, dass alles in Ordnung ist und die Ri-siken gut erfasst sind.Wenn wir zu den Schlussfolgerungen kommen, dannmüssen wir uns also nicht nur mit der Organisation derBankenaufsicht in Deutschland befassen, sondern auchmit den Aufgaben, der Haftung und vielleicht auch denMöglichkeiten von Wirtschaftsprüfern. Wir müssen auchzu einer Verbesserung der Bankenaufsicht in Deutsch-land kommen. Das ist nicht nur eine nationale Aufgabe,aber jeder muss in dem Bereich anfangen, für den er zu-ständig ist, und wir sind für die Bankenaufsicht inDeutschland zuständig.Die Bankenaufsicht in Deutschland wird seit lan-gem von zwei Institutionen getragen. Die laufende Kon-trolle ist Aufgabe der Deutschen Bundesbank. Darüberhinaus gibt es die BaFin, die Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht, die aus der Zusammenlegungder drei Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, dasVersicherungswesen und den Wertpapierhandel hervor-gegangen ist. Die beiden Institutionen, in denen vielSachkenntnis vorhanden ist, versuchen zu Recht, sichmöglichst selbstständig über ihre Richtlinien der konkre-ten Ausführung der Bankenaufsicht zu verständigen.Aber wir warten jetzt schon eine ganze Weile darauf,dass diese Verständigung zu einem Ergebnis führt.Ich erinnere daran, dass es nach dem Kreditwesenge-setz möglich ist, dass der Bundesfinanzminister Vorga-ben macht oder Beschlüsse fasst. Das mag der Bundes-bank nicht recht sein, aber in diesem Bereich ist dieBundesbank keine autonome Behörde; sie ist an die Re-geln des Kreditwesengesetzes gebunden. Auch das ist zuberücksichtigen, wenn es darum geht, zu einem Ergebniszu kommen.Ich bin sicher, dass wir in den nächsten Monaten zueiner umfassenden Neuregelung kommen müssen. Auchder Bundestag wird sich damit befassen müssen; er kanndas nicht ausschließlich der Bundesbank und der BaFinüberlassen.Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung zu derEigenverantwortung der Banken. Es gibt die großeSorge, dass sich die Unsicherheit bis in den Frühsommerhinein fortsetzt, weil die Hauptversammlungen zum Teilerst im Mai oder Juni stattfinden. Es wäre angemessen,wenn die Banken, die derzeit einander misstrauen – esist ein Problem, dass die Banken nicht nur bei dem Restder Wirtschaft und bei vielen Kunden Vertrauen verlo-ren haben, sondern dass sie auch einander nicht mehrtrauen –,
zumindest die Termine ihrer Bilanzpressekonferenzenvorziehen. Es kann nicht sein, dass sich diese Unsicher-heit bis in den Frühsommer fortsetzt.
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14616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Jörg-Otto Spiller
Laurenz Meyer ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Debatte heute Morgen anhört, dann
stellt man zunächst fest, dass es wohltuend ist, dass der
Wirtschaftsminister in einer sehr unaufgeregten Art
die Risiken, die am Horizont sind, behandelt und erklä-
ren kann – das unterscheidet uns von Vorgängerregierun-
gen –, dass man sich bei den Prognosen im Jahreswirt-
schaftsbericht unter Beachtung der Risiken an dem
unteren Ende der heute vorhandenen Prognosen zur
Wirtschaftsentwicklung orientiert hat; denn die Verunsi-
cherung in der Bevölkerung, die wir bisher hatten, lag zu
guten Teilen darin begründet, dass immer wieder nach
unten korrigiert werden musste. Dass die Bundesregie-
rung diesen Weg nicht einschlägt, ist wirklich verdienst-
voll. Das schafft Sicherheit über den Kurs und sorgt für
Stabilität.
Ich verstehe manche Reaktionen zurzeit überhaupt
nicht. Man konnte die Risiken in die Prognosen einbe-
ziehen; denn wer sich als interessierter Laie nur halb-
wegs mit der Finanzierungssituation am amerikanischen
Immobilienmarkt und mit der Verschuldungssituation
amerikanischer Privathaushalte beschäftigt hat, der
musste wissen, dass das System auf Dauer so nicht funk-
tionieren kann, und der musste froh sein, dass wir in
Deutschland ein solches System nicht haben und es des-
halb bei uns solche Vorgänge nicht geben wird.
Lassen Sie mich an der Stelle zwei Punkte sagen, in
denen ich mich von dem Kollegen Brüderle unter-
scheide. Er ist gerade nicht da, aber er wird wahrschein-
lich noch irgendwo sein.
Ich sage es trotzdem: Wir brauchen mehr Transparenz
über die Vorgänge an den Finanzmärkten, und die Ab-
sicht der Bundesregierung, diese herzustellen, unterstüt-
zen wir als Fraktion nachdrücklich.
Ich sage auch ganz klar zu dem, was er hier etwa zum
Thema Staatsfonds vorgetragen hat: Die FDP sollte in
sich gehen und ihre Haltung überprüfen. Ich sage Ihnen
klipp und klar meine Meinung dazu: Wenn ich will
– möglicherweise im Gegensatz zu der einen oder ande-
ren Fraktion hier im Parlament –, dass sich der deutsche
Staat aus deutschen Unternehmen zurückzieht und kei-
nen politischen Einfluss auf Unternehmensentscheidun-
gen ausübt,
dann will ich erst recht nicht, dass ausländische Staaten
mit ihren Staatsfonds auf deutsche Unternehmen politi-
schen Einfluss nehmen. Dass wir da Beschränkungen
vorsehen, Grenzen setzen und für Transparenz sorgen
müssen, müsste, so glaube ich, jedem einleuchten, ei-
gentlich auch der FDP, weil sie die Grundannahme teilt.
Lieber Herr Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Fricke?
Ja.
Herr Kollege Meyer, es ist immer einfach, wenn man
sich Vorurteile sucht und darauf die Argumentation auf-
baut. Ich glaube, wir sind uns vollkommen darüber ei-
nig, dass wir nicht wollen, dass irgendeiner aus der Poli-
tik – sei er aus dem Binnenland, sei er aus dem Ausland –
politischen Einfluss nimmt. Dazu will ich fragen: Heißt
das, Sie wollen grundsätzlich nicht, dass ausländische
Fonds, etwa aus Norwegen, sich an deutschen Unterneh-
men beteiligen, etwa an deutschen Banken, um den Ban-
kenstandort zu sichern? Heißt das, Sie wollen, wenn es
keinen politischen Einfluss gibt – den wollen wir beide
nicht –, die Beteiligung trotzdem nicht, oder sagen Sie:
Wenn es ohne politischen Einfluss geht, dann hätte ich
sie gerne? Diese Differenzierung hätte ich recht gerne.
Das andere wäre mir doch ein bisschen zu einfach.
Es ist klar gesagt worden – das haben wir in der bis-herigen Diskussion auch zum Ausdruck gebracht, lieberKollege Fricke –: Es geht darum, ob an irgendeinerStelle entscheidend Einfluss genommen werden kann.
Wir wollen Transparenz darüber. Die Frage ist nicht, obsich privatwirtschaftlich organisierte Fonds an deutschenUnternehmen beteiligen – auch da wollen wir Transpa-renz; wir wollen um die Vorgänge wissen und Kenntnisdavon haben, wer dahinter steht –; vielmehr geht es umdie Frage, inwieweit zum Beispiel Staatsfonds aus Russ-land, aus China oder aus anderen Ländern hier entschei-dend Einfluss nehmen.
– Norwegen müssen wir nach unserer Rechtslage selbst-verständlich genauso behandeln wie andere auch. –Wenn es um Staatsfonds geht, sollten ausländischeStaatsfonds, wenn sie denn Anteile in einem Umfang er-werben, dass politischer Einfluss möglich ist, nicht an-ders behandelt werden als etwa der deutsche Staat und
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Laurenz Meyer
die übrigen EU-Staaten. Anders können wir im Übrigengar nicht handeln. Wir müssen die Beteiligung aus Dritt-ländern und die Beteiligung aus EU-Ländern gleich be-handeln. Wir würden sonst Vertrauen in unsere Kapital-märkte zerstören.Der Kollege Stiegler hat vorhin zur Entwicklung derArbeitnehmereinkommen und der Kapitaleinkommenvorgetragen. Unter Bezugnahme auf die aktuelle Situa-tion könnte man sagen: Lieber Ludwig Stiegler, alles dasist überholt. Innerhalb von zwei Tagen ist die Statistik,die Sie hier zitiert haben und aus der hergeleitet wird,was wir alles tun sollen, hinfällig geworden. Das hat sichin Wohlgefallen aufgelöst. Innerhalb von zwei Tagen hatsich das völlig geändert.
Manch ein Arbeitnehmer wird sich darüber freuen, dasser ein gesichertes Einkommen hat und nicht von solchenEinnahmen abhängig ist.Meine Damen und Herren, liebe Freunde aus demParlament hier, wir müssen uns mit der Grundfrage be-schäftigen: Was ist die Lösung – das ist auch von HerrnKuhn angesprochen worden –, wenn man feststellt, dassdie Arbeitnehmer netto letztlich zu wenig in der Taschebehalten?
Das ist die Frage, die uns am meisten beschäftigt, wobeiich das eingrenzen will. Ich betone: Wir beschäftigenuns zu viel, in manchen Bereichen ausschließlich mit derSituation von Transferempfängern. Die eigentlich Ge-kniffenen in unserer Bevölkerung, die unsere höchsteAufmerksamkeit verdienen, sind die Arbeitnehmer, diekein BAföG mehr bekommen, die keine Energiekosten-zuschüsse mehr bekommen, die für sich und ihre Familiemit ihrem Einkommen selbst sorgen müssen. Das ist dieGruppe, mit der wir uns beschäftigen müssen.
– Damit sind wir voll beim Thema.Dazu haben Sie zwei Lösungswege aufgezeigt. Siehaben die Progression bei den Sozialversicherungsbei-trägen angesprochen und haben sich zum Mindestlohngeäußert.Zunächst zu dem, was Sie zum Mindestlohn gesagthaben – ich hätte Ihnen gar nicht zugetraut, dass Sie dashier wirklich vortragen, weil ich Sie für einen intelligen-ten Menschen halte –: Niemand soll mehr Aufstockersein in Deutschland. – Lieber Herr Kuhn, wollen SieMindestlöhne von 12 Euro für eine Familie mit zweiKindern? Sie wissen doch – wenn nicht, dann lesen Siedas bitte in der Studie des IAB über die Zusammenset-zung der Gruppe der Aufstocker nach –: Wenn wir voneinem Mindestlohn von 7,50 Euro reden, geht es maxi-mal um 60 000 Arbeitnehmer in Deutschland, und zwaralleinstehende Vollzeitbeschäftigte. Alle anderen sindvon dieser Diskussion überhaupt nicht betroffen. DerSozialminister führt immer die Zahl von 1,2 Millionenim Munde. Das ist eine Phantomdiskussion. Hier soll et-was geschürt werden, weil man ein bestimmtes politi-sches Ziel hat.Wir müssen den Menschen sagen, dass sich in ihremPortemonnaie überhaupt nichts ändert, wenn diese Plänefür einen flächendeckenden Mindestlohn umgesetzt wer-den. Maximal wird ein Teil der sozialen Transferleistun-gen, die der Bundesfinanzminister zur Verfügung stellenmuss, gegen einen Teil, der vom Arbeitgeber kommt,ausgetauscht. Und für dieses Risiko sollen wir den Kol-lateralschaden von ein paar Hunderttausend wegfallen-den Arbeitsplätzen einplanen? Das wird es mit derUnionsfraktion nicht geben.
Zu der Ankündigung, dass nach den Tarifverhandlun-gen bei der Bahn ein Antrag auf Mindestlohn gestelltwerden soll – die Bitte war an Sie, sehr verehrte FrauBundeskanzlerin, und Ihre Bundesregierung gerichtet;ich habe das heute Morgen im Fernsehen gesehen –, willich klipp und klar sagen: Es gibt bei der Bahn anders alsbei der Post kein Gesetz, das uns zwingt, irgendwelcheBedingungen zu schaffen. Wir werden bei der Bahnnicht bereit sein, die Tarife in einen Mindestlohntarifver-trag zu kleiden; das würde den aufkeimenden Wettbe-werb, den es da in Ansätzen gibt, zerstören. Hier sollWettbewerb stattfinden. Den werden wir nicht kaputtma-chen. Das ist die Meinung der Unionsfraktion; da bin ichmir ganz sicher.
Wir müssen hier auch über den zweiten Punkt disku-tieren, den Sie, Herr Kuhn, angesprochen haben, näm-lich die Sozialversicherungsbeiträge. Da gehen Sie ja ei-nen Schritt weiter als wir. Nach unserer Meinung sollteman die Krankenversicherungsbeiträge teilweise vonden Arbeitnehmereinkommen abkoppeln. Deshalb un-ser Vorschlag zur Einführung einer Gesundheitsprämie.Sozial gestalten könnte man das, indem ein Ausgleichüber steuerfinanzierte Leistungen stattfindet, also eineUmschichtung in der Form, dass man die für Sozialver-sicherungssysteme typische Bindung an die Arbeitneh-mereinkommen aufhebt und das stärker über Steuernfinanziert. Ich halte das für den richtigen Weg. Wir müs-sen in diesen Bereichen umschichten, damit insbeson-dere die, die wenig verdienen, mehr in der Tasche haben.Der Weg über steuerfinanzierte Leistungen ist da derrichtigere, weil er der sozial gerechtere ist.Sie schlagen im Kern nichts anderes vor, als eine neueSteuer für Gesundheit einzuführen; das gilt ja auch fürandere Bereiche wie die Pflege, während Sie bei derRente diesen Weg nicht beschreiten wollen. Indem Sienun fordern, eine neue Steuer für diesen Bereich einzu-führen, gehen Sie noch einen Schritt weiter und tretenfür eine völlige Abkopplung ein. Man muss sich da überdie Frage unterhalten – ich halte das für eine spannendeDiskussion –, wie man das machen kann. Sinnvoll er-scheint es mir auf alle Fälle, dass der Normalarbeitneh-mer nicht mehr alle Rentner und die entsprechenden
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Laurenz Meyer
Ausgaben für Kinder mitfinanzieren muss. Hier hat dieBundesregierung entsprechende Beschlüsse gefasst. Wirwerden das nach und nach, Schritt für Schritt umsetzen;denn das ist richtig so.
Meine Damen und Herren, es ist hier vorgetragenworden, welche Folgen die Globalisierung im Momentmit sich bringt. Ich will ganz klar sagen, dass Deutsch-land zu den Gewinnern der Globalisierung gehört.
600 000 neue Arbeitsplätze im letzten Jahr – das ist eindeutlicher Beweis dafür.
Natürlich müssen wir uns mit dem Problem beschäfti-gen, dass es die Geringqualifizierten, also diejenigen, diekeinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung ha-ben, in Zeiten der Globalisierung schwerer haben als an-dere. Darauf müssen wir reagieren und uns über dieFrage unterhalten, wie wir dafür sorgen können, dass dieArbeitsplätze, die aufgrund der Globalisierung bei unsgefährdet sind, erhalten werden können bzw. die Arbeit-nehmer und ihre Familien genügend Einkommen haben.Unsere Antwort darauf ist die Sicherstellung eines Min-desteinkommens für jeden in Deutschland unter sozialenGesichtspunkten. Ich bitte Sie, lieber Kollege Stiegler,darüber noch einmal nachzudenken. Dies macht mehrSinn, als sich darüber zu beklagen, dass immer mehr Ar-beitsplätze abwandern. Das ist einfach eine Tatsache. Dazieht auch ein Vergleich mit Großbritannien nicht; dennvon London aus kann man zum Beispiel Wäsche nichtzum Waschen nach Polen schaffen, von Berlin aus aberjederzeit. Das ist doch der Punkt, auf den wir hinweisenmüssen. Wir werden das immer und immer wieder tun.Ich habe heute Morgen gelesen, dass der KollegeStiegler gestern Abend einen anderen SPD-Politiker als„Endmoräne des Montanzeitalters“ bezeichnet hat. Dazusage ich klipp und klar: In Wahlkampfzeiten nehme iches ja noch hin, dass der Kollege Stiegler so etwas sagt.Aber er ist viel zu intelligent, um nicht zu wissen, dassdas Unsinn ist, was er da vorträgt. Wenn wir uns gemein-sam darum bemühen und es schaffen, dass bis 202030 Prozent oder gar – Herr Kuhn, lassen Sie uns einmaltheoretisieren; das halte ich technisch durchaus für mög-lich – 40 Prozent des Energiebedarfs aus regenerativenEnergien erzeugt werden, dann ist zugleich klar, dass dieanderen 60 Prozent auch irgendwie erzeugt werden müs-sen; denn ohne ausreichende Energie geht unsere Wirt-schaft ein. Zur Deckung dieser 60 Prozent bleiben nurKohle und Kernenergie übrig, weil auf zusätzliches Erd-gas aus Russland für Kraftwerke niemand in diesem Saalmehr setzen will. Wer angesichts dieser Situation denLeuten in Hessen weiszumachen versucht, wir bräuchtenkeine neuen Kohlekraftwerke, um die alten zu ersetzen,und damit eine völlig andere Position als die eigene Par-tei hier im Bundestag vertritt, der erzählt den Leutenschlicht und ergreifend die Unwahrheit; denn das ist Un-sinn.
Wer dann noch hinzufügt, sämtliche Alternativenergien,Wind, Wasser und Sonne, seien umsonst, der soll docheinfach einen Blick in die Haushaltszahlen für das CO2-Programm werfen: Dort sind Milliardenbeträge zurFinanzierung der Umsteuerung unserer Volkswirtschafteingestellt.Es kommt noch etwas hinzu – lieber Ludwig Stiegler,ich bitte Sie, ernsthaft darüber nachzudenken –: Technik-feindlichkeit und Angst vor Neuerungen – Chemie, Bio-und Gentechnik, Energietechnik, all diese Bereiche – sindin unserem Land weit verbreitet.
Wir müssen uns aber dazu bekennen, dass Deutschlandein Industrieland ist und bleiben muss, wenn wir hierdie Dienstleistungen finanzieren wollen, von denen beiuns in Zukunft immer mehr Menschen leben sollen.Deshalb müssen wir bereit sein, Neuerungen vorzu-nehmen. Wir müssen uns darauf einstellen – darauf hatFrau Merkel schon hingewiesen, bevor sie Bundeskanz-lerin wurde –: Da die Erzeugung in unserem Land teuerist, müssen wir immer so viel besser sein, wie wir teurersind. Das ist ein einfacher Satz; aber er stimmt nach wievor und ist nicht umzustoßen. Ich halte manche Argu-mente, die in den jetzt stattfindenden Wahlkämpfen vor-getragen werden, für sehr gefährlich, weil sie Feindlich-keit schüren.Ich komme zum Schluss. Um die Debatte komplett zumachen, Herr Lafontaine – Sie haben einen Kurswechselgefordert –: Fragen Sie einmal die 600 000 Menschen,die im letzten Jahr einen neuen Arbeitsplatz bekommenhaben – manchmal nach Langzeitarbeitslosigkeit –, obsie den Kurs wechseln wollen! Ich füge hinzu: FragenSie vor allen Dingen die Leute, die in Bundesländern le-ben, in denen die PDS oder Die Linke jemals mit an derRegierung gewesen ist. Überall dort, wo sie mit an derRegierung war, ging es nach unten und befand man sicham Ende der Skala; nirgendwo gab es Erfolge. Immerdann, wenn die Regierung gewechselt hat und Sie ausder Regierung herausflogen, ist es besser geworden.
Deswegen sind wir nach wie vor der Überzeugung: Mitunserem Kurs geht es den Menschen in Deutschland bes-ser, und deshalb wird er fortgesetzt.
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort die KolleginGudrun Kopp.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Lieber Kollege Meyer, bei Ihnen klaffen Reden und
Handeln völlig auseinander.
Sie beklagen die Debatte um den Mindestlohn. Dennoch
hat die Union gerade dem Postmindestlohn zugestimmt,
und das trotz der Wettbewerbsnachteile, die für alle
Wettbewerbsteilnehmer damit verbunden sind. Denken
Sie an den Mehrwertsteuervorteil und weitere Vorteile
– Stichwort „Unfallversicherung“ –, durch die die Deut-
sche Post AG privilegiert ist und bleibt.
Sie wundern sich, dass auch an anderen Stellen De-
batten aufkommen und Begehrlichkeiten geweckt wer-
den, Stichwort – Sie haben es eben genannt – „Deutsche
Bahn“, das Quasistaatsunternehmen. Schauen Sie doch
einmal nach Großbritannien: Die Bahn hat dort gerade
eine Regionalbahn im Wert von 200 Millionen Euro ge-
kauft. In Großbritannien wird Offenheit praktiziert. Sie
hier in Deutschland denken dagegen darüber nach, das
Außenwirtschaftsgesetz dahin gehend zu ändern, dass
sensible Infrastruktur künftig durch Staatsfonds und
staatliche Beteiligungen vor Einflussnahme geschützt
wird. An dieser Stelle haben Sie also einen völlig ande-
ren Weg eingeschlagen.
Wir haben in der Tat eine Vertrauenskrise in verschie-
denen Bereichen – der Kollege Brüderle hat es heute
Morgen hier sehr deutlich gesagt –: bei den Banken, in
der Energiewirtschaft und auch, wie der Fall Nokia
zeigt, im Telekommunikationssektor. Ich als Nordrhein-
Westfälin möchte ausdrücklich sagen: Wir prangern die
mangelnde Kommunikation in dieser Sache an, und wir
nehmen die Ängste und Nöte der Menschen sehr ernst.
Es ist aber nicht zu akzeptieren, dass hier einige durch
Boykottaufrufe Symbolpolitik zu betreiben versuchen.
Ich halte das für in größtem Maße unseriös. Wir müssen
über politische Handlungen nachdenken und darüber, ob
wir an bestimmter Stelle noch richtig aufgestellt sind.
Ich will etwas vertiefen, was auch der Kollege Zeil
eben angesprochen hat, nämlich unsere Förderpolitik.
Als Beispiel nenne ich die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die in den
letzten fünf Jahren mit 4,4 Milliarden Euro ausgestattet
war. Wir müssen überlegen, ob wir an dieser Stelle rich-
tig handeln. Der Bericht des Bundesrechnungshofs stellt
richtigerweise dar, dass erstens der Einsatz dieser Bun-
desmittel unzureichend kontrolliert wird, zweitens das
Parlament über die Wirkung der Fördermittel unvoll-
ständig informiert wurde und wird sowie drittens die An-
gaben der Länder über neugeschaffene Dauerarbeits-
plätze überhaupt nicht vorliegen. Für mich ist völlig klar,
dass wir uns mit folgenden Fragen auseinandersetzen
müssen: Was nützen Förderungen eigentlich? Sind sie
nicht eher wettbewerbsfeindlich? Bringen sie die Struk-
turen nicht eher durcheinander, als dass sie hilfreich
sind? Darüber müssen wir natürlich diskutieren. Die
GA-Fördermittel werden ohne Prüfung einer wirtschaft-
lichen Bedürftigkeit des Empfängers verteilt. Diese Mit-
tel werden ausschließlich eingesetzt, um in struktur-
schwachen Regionen Unternehmen anzulocken. Wenn
das der einzige Grund ist, hat diese Förderung kein trag-
fähiges Fundament. Ich fordere insbesondere die Große
Koalition auf, sich hierüber Gedanken zu machen. Wir
jedenfalls tun das und fordern ein entsprechendes Han-
deln von Ihnen ein.
Lieber Kollege Stiegler, ich möchte auf Sie zu spre-
chen kommen.
– Ich habe Sie gesehen. – Ich bitte Sie, in Sachen Ener-
giepolitik seriös und wahrheitsgemäß zu argumentieren.
71 Prozent der Stromproduktion werden im Augenblick
aus Kernenergie und Kohle gewonnen: 27 Prozent aus
Kernenergie und 44 Prozent aus Kohle. Diese Zahl wird
nach neuesten Gutachten bis zum Jahr 2020 in etwa be-
stehen bleiben. Sie haben Herrn Clement angeprangert,
weil er darauf hingewiesen hat, dass es eine unseriöse
Aussage Ihrer Kollegin in Hessen zum Thema Energie-
politik gibt, weil er darauf hingewiesen hat, dass die Lü-
cke in der Stromproduktion nicht allein durch den Ein-
satz erneuerbarer Energien zu füllen ist – ganz zu
schweigen von den Energiepreisen und der Frage der
Versorgungssicherheit.
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Letzter Satz. – Es ist unseriös, wenn Sie der Bevölke-
rung weismachen wollen, das sei tatsächlich leistbar. Ich
bitte Sie wirklich, in sich zu gehen, seriös zu argumen-
tieren und den Energiestandort Deutschland nicht auf ein
unsicheres Fundament zu stellen.
Vielen Dank.
Nun hat noch einmal der Kollege Ludwig Stiegler das
Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerKollege Laurenz Meyer hat wie in alten Zeiten, als wirnoch gegeneinander arbeiten durften, meinen Adrenalin-spiegel erhöht.
– Nein, wir arbeiten jetzt gut und freundschaftlich zu-sammen. Wir kommen zwar von unterschiedlichenUfern, aber wir finden immer wieder Brücken, und seienes Pontonbrücken.
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Ludwig Stiegler
Da, wo die Liberalen sich scheuen, gehen der Meyer undich hinüber. Wir kommen schon ans Ufer.Frau Kopp, Sie verbreiten hier Unwahrheiten über diehessische Energiepolitik. Hier wird unterstellt, AndreaYpsilanti oder Hermann Scheer hätten gesagt, sie woll-ten alles mit erneuerbaren Energien machen. Die Wahr-heit ist, dass sie auf Kraft-Wärme-Kopplung setzen – auchund gerade aufbauend auf Kohlebasis – und wir als SPDhinterher sind, dass die Unternehmen gerade in einemdicht besiedelten Land wie Hessen, wo es Wärmesenkengenug gibt, das Thema Kraft-Wärme-Kopplung ange-hen. Wir setzen nicht auf Riesenkraftwerke, sondern ge-hen die Dezentralisierung an. Hessen wird mit dieserEnergiepolitik nicht schlechter dastehen, sondern besser.Es wird regionale Arbeitsplätze und regionale Wert-schöpfung haben, was es heute so nicht hat. Deshalb sinddie Vorwürfe an Andrea Ypsilanti und Hermann Scheerfalsch.
Die hessische SPD steht für Hessen als ein Industrieland.Der Kollege Meyer hat erklärt, er mache sich wegender Technologiefeindlichkeit Sorgen. Es gibt keine bes-sere Hochtechnologie als die erneuerbare Energie.
Die Energie, genauer gesagt, die Primärenergie, ist zwarumsonst. Aber wir wissen natürlich, dass wir Intelligenzund Geld investieren müssen, damit wir die in Überfüllevorhandene erneuerbare Energie nutzen können. HermannScheer hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass RolandKoch mit seiner Sturheit, etwa gegen die Windenergie,sehr viele Entwicklungschancen für Hessen verpasst hat.Hessen zahlt für Energie von außen, statt die eigenenKräfte zu nutzen. Deshalb ist die Energiepolitik der hes-sischen SPD gut aufgestellt.Herr Riesenhuber, Sie müssen keine Angst haben,dass die von Ihnen kontrollierten Unternehmen ohneStoff dastehen.
Diese werden weiter – das sieht man schon jetzt in Hes-sen-Süd – ihre Energie aus Bayern kaufen. Es ist interes-sant, dass die CSU zwar manchmal von erneuerbarerEnergie spricht und sich dabei wie Laurenz Meyer an-hört. Aber in der alltäglichen Praxis geht sie den Paktmit dem Teufel durchaus ein und nutzt die Möglichkei-ten der erneuerbaren Energien. Fliegen Sie einmal überBayern. Die bayerischen Landwirte sind in Sachen So-larenergie und Biogasanlagen in Deutschland führend.Ich sage Ihnen: Die Vorwürfe, die Wolfgang Clement,der aufgrund seiner NRW-Vergangenheit an Großkraft-werken hängt – allerdings reden wir über Hessen undnicht über NRW –, gegen die hessische SPD erhobenhat, sind und bleiben unberechtigt. Wir können sie zu-rückweisen. Der Kurs der SPD in der hessischen Ener-giepolitik, die ab Sonntag eine Mehrheit vom hessischenVolke haben wird,
sichert Hessen auch in Zukunft eine Energieversorgungohne Atomkraft und damit in Frieden mit der Natur. Dasgönne ich den Hessen; denn Hessen muss vorn bleiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Meyer? Sie haben eben so schnell ohne Punkt
und Komma geredet, dass ich Sie nicht unterbrechen
wollte.
Das ist zwar gefährlich, aber ich wage es einmal.
Herr Kollege Meyer, bitte sehr.
Technikfeindlichkeit, darüber haben wir gerade gere-
det!)
Ich stelle so selten Zwischenfragen. – Herr Kollege
Stiegler, wir sind doch über die Ziele beim Ausbau der
regenerativen Energien einer Meinung. Darüber gibt es
keinen Streit. Habe ich Sie richtig verstanden – so wie
Sie das vorgetragen haben, fand ich das sehr amüsant –,
dass wir der regenerativen Energie, die eigentlich um-
sonst ist, mit sehr viel Geld zum Durchbruch verhelfen
müssen? Ist es Ihre Diktion, dass diese Energieform ei-
gentlich umsonst ist, wir ihr aber doch mit viel Geld auf
die Beine helfen müssen?
Eine zweite Frage: Sind Sie mit mir der Meinung,
dass im Vergleich zu den Mitteln, die wir dafür einsetzen
müssen, selbst die Subventionen für die deutsche Stein-
kohle eine relativ wirtschaftliche Angelegenheit waren?
Die Sonne scheint umsonst. Aber damit wir sie nutzenkönnen, müssen wir Geld und Intelligenz – so habe ichdas gesagt – einsetzen. Das schafft Arbeitsplätze in Hes-sen und sichert auf lange Zeit die Energie, weil dieSonne erst dann versiegt, wenn wir alle schon dahinsind. Diese Energiequelle sollten wir nutzen.
Genau das macht die hessische SPD.Wer sich anschaut, wie sich die Kosten für die erneu-erbaren Energien und wie sich die Energiepreise für diefossilen Energieträger entwickeln, der wird sehen, dasses nicht zu der von Ihnen befürchteten finanziellen Über-forderung kommen wird. Das ist immer ein Rechenwerk
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Ludwig Stieglerfür sich. Jeder rechnet sich nach Belieben reich oderarm.Die hessische SPD hat ein Konzept vorgelegt, mitdem der hessischen Industrie Versorgungssicherheit ge-währt wird und der hessischen Bevölkerung Arbeits-plätze gesichert werden. Damit wird insgesamt einenachhaltige Energieversorgung ohne Atomkraft begrün-det. Das sollte uns alle Anstrengungen wert sein.Glück auf!
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage der Kollegin Kopp?
Ja.
Bitte sehr, Frau Kopp.
Danke schön. – Herr Kollege Stiegler, gehen Sie da-
von aus, dass die gesamte Energieversorgung für Hessen
ohne den Einsatz von Großkraftwerken sichergestellt
werden kann? Denn darum geht es gerade.
Es geht um Folgendes: Wir haben in Hessen Groß-
kraftwerke, und es geht um den verstärkten Ausbau der
Kraft-Wärme-Kopplung. Die Kraft-Wärme-Kopplung
hat, wie wir wissen, eine hohe Effizienz. Sie kann die
notwendigen Bedarfe decken. Es stellt sich die Frage:
Will man das? Die Großkraftwerke haben, weil die Wär-
mesenken nicht in der Nähe sind, in aller Regel nicht
diese Effizienz. Deshalb ist der hessische Weg, auf er-
neuerbare Energien, auf Kraft-Wärme-Kopplung und auf
Energieeffizienz zu setzen, auf Dauer effizienter, billi-
ger, wirtschaftlicher und sicherer. Darum haben die Hes-
sen am Sonntag eine gute Wahl.
– Dass Sie das nicht hören wollen, ist klar. Man kann ei-
nem Ochsen ins Ohr petzen. Wenn er es nicht hören will,
kann auch ich es nicht ändern.
Aber so ist die Situation. Sie sind hier verblendet. Sie
werden sehen, dass Sie, wenn Andrea Ypsilanti in den
nächsten Jahren ihre Politik entfaltet, sagen werden: Ui,
das hätte ich nicht gedacht. Wir sagen: Die, die vom Irr-
tum zur Wahrheit reisen, das sind die Weisen. Die, die
im Irrtum verharren, das sind die Narren.
Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7845 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungs-
gesetzes
– Drucksachen 16/7077, 16/7485 –
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Steuerberatungsgesetzes
– Drucksache 16/7250 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 16/7867 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Lydia Westrich
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel,
Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Steuerberatung zukunftsfähig machen
– Drucksachen 16/1886, 16/7867 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Lydia Westrich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe
und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort für die Bundesregierung der Frau Parla-
mentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl.
N
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Parlament wird heute – die Mehrheit vorausgesetzt –einen Gesetzentwurf verabschieden, der nach langerDiskussion nun doch noch zu einem sehr guten Ergebnisführt. Das Gesetz zum Berufsrecht der steuerberatendenBerufe wird nicht nur europäische Vorgaben umsetzen,sondern zusätzlich ein weiteres Stück frischen Wind – sonenne ich es einmal – in dieses Berufsrecht bringen.
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Parl. Staatssekretärin Nicolette KresslEs ist gelungen, die ursprüngliche Zielsetzung derBundesregierung, das Berufsrecht der steuerberatendenBerufe zu liberalisieren, erfolgreich umzusetzen. Beson-ders erfreulich ist dabei, dass wir nach den konstruktivenBeratungen im Finanzausschuss – so habe ich es emp-funden; ich darf den Kolleginnen Westrich und Tillmanndanken – heute ein Gesetz verabschieden werden, das inwesentlichen Teilen nicht nur die Zustimmung des Deut-schen Bundestages, sondern auch der betroffenen Be-rufsverbände findet. Es ist immer wichtig, dass wir einStück Akzeptanz erreichen.Der Gesetzentwurf hat im Wesentlichen drei Schwer-punkte: die Liberalisierung des Berufsrechts der steu-erberatenden Berufe, die Umsetzung der entsprechendeneuropäischen Richtlinie und die Neuorganisation derSteuerberaterberufe. Lassen Sie mich auf einige Aspekteetwas näher eingehen.Es ist endlich gelungen – das hat, wie ich finde, dieZustimmung des ganzen Ausschusses gefunden –, dieZulassung des sogenannten Syndikus-Steuerberatersdurchzusetzen. Das wird vielen Unternehmen erleich-tern, steuerlichen Sachverstand zu rekrutieren. Steuerbe-rater erhalten die Möglichkeit, sich zukünftig auch in derRechtsform der GmbH und Co. KG zusammenzuschlie-ßen, Kooperationen mit partnerschaftsfähigen Berufeneinzugehen und Bürogemeinschaften mit Lohnsteuerhil-fevereinen zu bilden. Die Steuerberaterkammern erhal-ten die Möglichkeit, Ausnahmen vom Verbot gewerbli-cher Tätigkeiten von Steuerberatern zuzulassen, wenndadurch – das betone ich ausdrücklich – keine Verlet-zung von Berufspflichten zu befürchten ist. Die be-währte Arbeit der Lohnsteuerhilfevereine wird durch dieim Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen, insbesonderedie Anhebung der Beratungsgrenzen, die im Laufe derBeratungen noch ein Stück höher angesetzt worden sind,auch für die Zukunft gesichert.Was sicherlich und nicht erst seit dieser Gesetzesbera-tung heiß umstritten war: Buchhalter, geprüfte Bilanz-buchhalter und Steuerfachwirte erhalten keine weiterge-henden Befugnisse als im bisherigen Recht. Immerhin:Es wird zu einer Neufassung ihrer Werbebefugnissekommen. Wir gehen davon aus, dass es dadurch viel we-niger standardisierte Abmahnungen geben wird. Das istfür die Betroffenen sicherlich eine Erleichterung. In Zu-kunft sollen allein die Grundsätze des für alle Gewerbe-treibenden geltenden Gesetzes gegen den unlauterenWettbewerb Anwendung finden.Ich will noch kurz auf den Bundesrat zu sprechenkommen; denn uns ist wichtig, dass wir in dieser Fragezusammenzuarbeiten. Die Fraktionen haben im Finanz-ausschuss einen Kompromiss zur Durchführung derSteuerberaterprüfung gefunden. Wir sind davon über-zeugt, dass er den berechtigten Interessen der Finanzver-waltung, aber auch denen des Berufsstandes Rechnungträgt. Die Qualität der Steuerberaterprüfung bleibt erhal-ten. Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit werden ge-währleistet. Die Finanzverwaltung wird von ihren Auf-gaben bei der Abwicklung der Steuerberaterprüfungentlastet. Die Bundesregierung ist der Meinung: DieserKompromiss ist fachlich sinnvoll, und es gibt für uns gu-ten Grund, anzunehmen, dass diese Regelung auch dieZustimmung des Bundesrates finden wird.Zusammengefasst: Wir beschließen heute einen wei-teren sinnvollen Schritt zur Modernisierung des Berufs-rechts. Es wäre gut, wenn dieser Schritt anschließend mitso viel parlamentarischer Unterstützung wie möglich be-schlossen werden könnte.Vielen Dank.
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Volker Wis-
sing für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich kann Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegenvon der Großen Koalition, attestieren: Ihr Gesetzentwurfist nicht ganz schlecht.
Zumindest ist er nicht so schlecht, dass man ihn durch-weg ablehnen müsste. Ich übersehe nicht, dass Sie mitIhrem Gesetzentwurf einen relevanten Beitrag zur Mo-dernisierung eines wichtigen Berufsstandes leisten wol-len. Ja, man findet darin sogar Schritte der Liberalisie-rung, zum Beispiel die Einführung des Syndikus-Steuerberaters; das begrüße ich ausdrücklich. Sie dürfenauch klatschen, wenn Sie einmal gelobt werden.
Das gilt übrigens auch für die SPD; denn an dieser Stellelobe ich auch Ihre Staatssekretärin.Bevor ich auf die Punkte, die kritisch zu bewertensind, zu sprechen komme, möchte ich auf einige positiveAspekte eingehen. Wir begrüßen die Übertragung derSteuerberaterprüfung auf die Kammern. Auch die ge-setzliche Regelung der Fortbildung begrüßen wir. DiesePunkte sind in diesem Hause erfreulicherweise weitge-hend Konsens. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.Wie gesagt, ist Ihr Gesetzentwurf nicht ganz schlecht.In einem wichtigen Punkt hätte er sich aber noch verbes-sern lassen: hinsichtlich der Zulassung von Büroge-meinschaften von Steuerberatern und Dritten. Dazu hatdie FDP dem Ausschuss einen Änderungsantrag unter-breitet, den Sie leider abgelehnt haben. Ich sage „leider“,weil es hierbei um einen wirklich wichtigen Bereichgeht, nämlich um die datenschutzrechtlichen Interessender Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.Sie wollen zulassen, dass Vereine, die zum Teil nochnicht einmal einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14623
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Dr. Volker Wissingunterliegen, künftig eine Bürogemeinschaft mit Steuer-beratern eingehen können. Sie wollen, dass die Aktender Steuerzahler künftig in Bürogemeinschaften verwal-tet werden, für die nur noch zum Teil das Beschlagnah-meverbot und das Zeugnisverweigerungsrecht gelten.Sie wollen, dass Mitarbeiter von Vereinen der Land- undForstwirtschaft in einer Bürogemeinschaft mit Steuerbe-ratern arbeiten. Diese Mitarbeiter könnten mit sensiblenDaten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Berüh-rung kommen, obwohl sie nicht einmal einer gesetzli-chen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Die Frage,wie dabei die schutzwürdigen Interessen der Steuerzah-lerinnen und Steuerzahler gewahrt bleiben sollen, lassenSie unbeantwortet.
Das bedauert die FDP außerordentlich.
Es wäre konsequent gewesen, wenn Sie zumindesteine Hinweispflicht eingeführt hätten. Sonst sind Sieüberall für Hinweispflichten. Auch hier hätten Sie zu-mindest die Hinweispflicht einführen können, dass derDatenschutz in solchen Bürogemeinschaften künftignur noch eingeschränkt gewährleistet ist. Dann würde je-der Mandant wissen: Wenn ich zu einem Steuerberatergehe, der in einer Bürogemeinschaft tätig ist, dann mussich damit rechnen, dass in dieser Bürogemeinschaft auchsolche Personen mit meinen Daten in Kontakt kommenkönnen, die keiner gesetzlichen Verschwiegenheits-pflicht unterliegen und für die Beschlagnahmeverbotund Zeugnisverweigerungsrecht nicht gelten. Das ist fürmich ein wichtiger Aspekt des Verbraucherschutzes, denSie einfach ausgeklammert haben.Die Grünen halten all das sowieso für überflüssig. Siebeschäftigen sich mit Fragen des Datenschutzes im Be-reich des Steuerrechts schon lange nicht mehr.
– Als es um die Abschaffung des Steuergeheimnissesging, haben Sie kräftig mitgemacht, Frau Scheel.
Wenn man es mit dem Verbraucherschutz ernst meint,hätte man an dieser Stelle etwas tun müssen. Die GroßeKoalition hat das gläserne Konto, den gläsernen Compu-ter geschaffen. Datenschutz spielt für Sie – was Sie hierzeigen, ist mehr als eine Tendenz – im Steuerrecht bes-tenfalls die Rolle eines Stiefkindes.Besonders ärgerlich ist, dass Sie mit zweierlei Maßmessen: Bei der Verabschiedung des Rechtsdienstleis-tungsgesetzes hat die Große Koalition die Möglichkeitder Bildung von Bürogemeinschaften für Rechtsanwälte,Patentanwälte und Notare auf eng begrenzte Berufsgrup-pen beschränkt. Hier verabschiedet die gleiche Koalitiondas Gegenteil. Logisch ist das nicht, und es ist auch nichtim Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die ihren Steu-erberatern ja Einblick in sehr sensible Daten geben müs-sen.
Ihr Gesetzentwurf mag gegenüber der bisherigenRechtslage viele Verbesserungen enthalten; in SachenDatenschutz hätten Sie besser auf die FDP gehört undunserem Antrag zugestimmt.
Dann wäre der Entwurf an dieser Stelle um einiges bes-ser. Wir machen doch nicht Gesetze für die Verwaltung,wir machen Gesetze für die Bürgerinnen und Bürger. Ichkann verstehen, dass das Steuergeheimnis für den Staatund die Verwaltung immer wieder störend sein mag. Soüberrascht es nicht, dass wir vom BMF im Ausschussgehört haben, dass das alles völlig unproblematisch seiund dass man nicht nachvollziehen könne, was die FDPda bemängele. Nicht nachzuvollziehen ist ganz im Ge-genteil, dass Sie als Große Koalition in diesem Parla-ment die Interessen der Bürgerinnen und Bürger nichtverteidigen. Darum ging es bei unserem Änderungsan-trag. Für die Menschen sind die datenschutzrechtlichenBelange enorm wichtig, und es ist unsere vornehmsteAufgabe hier im Parlament, diese Dinge zu verteidigen.Die Große Koalition hat es bisher nicht fertigge-bracht, auch nur ein Gesetz zu verabschieden, das dieRechte der Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Da-tenschutzes verbessert. Hier hätten Sie erneut eineChance gehabt. Sie haben sie vertan. Ich bedauere das,gestehe aber ein, dass das Gesetz unter dem Strich vieleVerbesserungen bringt. Ich habe schon eingangs die Li-beralisierungsbestrebungen erwähnt. Schade, dass Sieauf unsere Verbesserungsvorschläge nicht eingegangensind, vielleicht beim nächsten Mal.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Antje Tillmann das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrte Zuhörer! Nach jahrelan-gen Bemühungen haben wir heute die Möglichkeit, dieVerhandlungen über die Änderung des Steuerberatungs-gesetzes zu einem guten Ende zu führen. Wir haben inden Finanzausschussberatungen und in den AnhörungenKompromisse gefunden, bei denen selbst die Oppositioneingesteht, dass das Gesetz, das wir heute vorlegen,„nicht ganz schlecht ist“. Das spricht für dieses Gesetz.Die Bedenken, die Sie haben, Herr Dr. Wissing, teilenwir nicht; ich werde gleich darauf eingehen.
Es ist uns gelungen, Verbesserungen für alle Berufs-verbände durchzusetzen. Wir haben Anliegen aufgegrif-fen, die von den Einzelverbänden seit Jahren angemahntwurden. Ich glaube, es liegt ein Gesetz vor, das von ei-
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Antje Tillmannnem guten Ausgleich zwischen den verschiedenen Inte-ressen geprägt ist. Insbesondere bringt das GesetzVerbesserungen für die ratsuchenden Bürgerinnen undBürger. Der Datenschutz ist natürlich ein wichtiges An-liegen; dem tragen wir aber durchaus Rechnung.Wir haben die gesetzlichen Vorgaben aus der EU-Be-rufsqualifizierungsrichtlinie umgesetzt und die Verfah-ren an den Bologna-Prozess angepasst. Darüber hinaushaben wir Anliegen der Berufsverbände aufgegriffen, sodie Einführung des Syndikus-Steuerberaters. Wir allewissen, dass die Steuerberater seit langem darum bitten,ihren Titel, wenn sie eine Angestelltentätigkeit aufneh-men, weiterführen zu dürfen. Das wird mit diesem Ge-setz möglich. Ich bitte Sie dringend, den Weg dafür frei-zumachen.
Eine Liberalisierung ist insofern durchgesetzt, als Ko-operationen mit anderen freien Berufen zulässig werden:Steuerberater dürfen demnächst mit Ärzten, Wirtschafts-prüfern und Architekten zusammenarbeiten. Auch dieseBerufe haben kein Zeugnisverweigerungsrecht, zumin-dest was die Architekten anbetrifft; doch da hat die FDPkeine Sorgen gehabt, dass der Schutz der Mandantennicht gewährleistet sein könnte.Wir haben andere Rechtsformen für Steuerberatungs-gesellschaften zugelassen. Es kann nämlich nicht unsereAufgabe sein, zu reglementieren. Wir vertrauen darauf,dass die Berufsstände ihre Pflichten so organisieren,dass der Schutz der Mandanten sichergestellt ist.Wir haben eine Fortbildungspflicht für Steuerberaterin das Gesetz aufgenommen. Das ist uns wichtig, weildas zur Qualitätssicherung beiträgt. Und die Qualität istdie Rechtfertigung dafür, dass wir zum Beispiel in derFrage der Erweiterung der Befugnisse der Bilanzbuch-halter zurückhaltend reagiert haben. Wir wollen, dass dieBeratung mit einem sehr hohen Qualifizierungsgrad er-folgt. Deswegen haben wir hier auch die gesetzliche Ver-pflichtung eingeführt.Erst in den Beratungen nach der Anhörung und mitden Betroffenen ist uns eine Lösung hinsichtlich derSteuerberaterprüfung gelungen. Hier weichen wir so-wohl vom Regierungsentwurf als auch vom Bundesrats-entwurf ab. Beide Seiten haben aber signalisiert, dass siemit diesem Kompromiss gut leben können. Uns ist wich-tig, dass die Steuerberaterprüfung staatlich bleibt unddass es eine einheitliche schriftliche Prüfung gibt. Selbstdie Kammern weisen darauf hin, dass es nötig ist, dassdiese Prüfung auch von den Finanzministerien legiti-miert wird, weil bei einer hohen Durchfallquote, wie siebei den Steuerberaterprüfungen üblich ist, natürlich sehrschnell der Verdacht aufkommt, man wolle sich unlieb-same Konkurrenz vom Hals halten. Das ist nicht derFall. Wir werden diese staatliche Prüfung weiter forcie-ren und den Ländern trotzdem die Möglichkeit geben,sich von unnötigen Verwaltungsaufgaben zu befreien.
So weit zu den Verbesserungen für die Steuerberater.Auch die Lohnsteuerhilfevereine haben natürlich dieGelegenheit genutzt, uns ihre Sorgen mitzuteilen. Wirhaben noch einmal auf die Anhörung reagiert und in vie-len Punkten den vorgetragenen Anliegen aus der Anhö-rung Rechnung getragen.Schon im Gesetzentwurf war ja eine Befugniserweite-rung – Frau Staatssekretärin hat darauf hingewiesen –für Lohnsteuerhilfevereine enthalten, zum Beispiel auf-grund der Veränderung des Gemeinnützigkeitsgesetzes,aber auch der Änderungen bei der Kinderbetreuung.Gleichzeitig haben wir die Beratungsbefugnis für Lohn-steuerhilfevereine hinsichtlich der anderen Einkünfte– außer Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit –erweitert, indem wir die Einnahmegrenze von bisher9 000 und 18 000 Euro auf 13 000 und 26 000 Euro er-höht haben.Das war ein wesentliches Anliegen der Lohnsteuer-hilfevereine und ist auch im Sinne der Mandanten, weiles immer wieder vorkommt, dass Mandanten aufgrundder Einkommensschwankungen und der entsprechendenBefugnis zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuer-beratern hin und her gehen müssen. Wir wollten dieMöglichkeit geben, sich langfristig nur einer Vertrauens-person zu öffnen.
Herr Dr. Wissing, dem gleichen Ziel, nämlich dem In-teresse der Mandanten und nicht dem Interesse von Steu-erberatern oder Lohnsteuerhilfevereinen, dient auch dieMöglichkeit, Bürogemeinschaften zu bilden. Denn esist wichtig, dass ein Berater auch die vorangegangeneBeratungspraxis kennt. Deshalb lassen wir Bürogemein-schaften zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuer-beratern zu, aber selbstverständlich nur unter der Voraus-setzung, dass der Datenschutz gewahrt ist und dass dieMandantenrechte geschützt werden. Das ist möglich.Die Berater können das so organisieren, dass dieseRechte geschützt bleiben.
Damit aber nicht genug: Die Kammern und die Finanz-ministerien haben eine Aufsichtspflicht.Das ist für die Berater auch nur ein Angebot. Die Be-rater, die ihre Meinung teilen und es für schwierig hal-ten, den Mandantenschutz zu sichern, sind ja nichtgezwungen, in einer solchen Bürogemeinschaft aufzuge-hen. Ich weiß, dass die Kammern eher zurückhaltenddarauf reagieren. Sie werden in ihren Berufsordnungenmit Sicherheit sicherstellen, dass der Mandantenschutzgewahrt bleibt.
Bei den Lohnsteuerhilfevereinen haben wir darüberhinaus der Tatsache Rechnung getragen, dass wir mit derUnternehmensteuerreform zum 1. Januar 2009 die Ab-geltungsteuer eingeführt haben. Durch die Abgeltung-steuer werden die meisten Kapitaleinkünfte gar nichtmehr erklärungspflichtig. Wir wollen vermeiden, dassMandanten nur deshalb diese Kapitaleinkünfte erklären
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Antje Tillmannmüssen, um beim Lohnsteuerhilfeverein beratungsfähigzu sein. Deshalb sagen wir: Solange die Kapitalein-künfte der Abgeltungsteuer unterliegen, fallen sie nichtunter die Höchstgrenze bei den „anderen“ Einkünften.Erst dann, wenn der Mandant von dem Veranlagungs-wahlrecht Gebrauch macht, sind die Grenzen einzuhal-ten, sodass es dann durch eine Beratung des Steuerbera-ters gegebenenfalls zu einer Veranlagung kommen wird.Auch hier kommen wir Mandanten und Lohnsteuerhilfe-vereinen entgegen. Wir vereinfachen das Verfahren undziehen Folgen aus den Gesetzen, die wir im letzten Jahrbeschlossen haben.Die nächsten Berufsgruppen sind die Buchhalter, diegeprüften Bilanzbuchhalter und die Steuerfachangestell-ten. Sie sind mit der Regelung hinsichtlich der Befugnis-erweiterung auf Umsatzsteuervoranmeldungen natürlichnicht zufrieden. Das war auch die einzige kritischeStimme in den Anhörungen.Wir haben sehr lange darüber diskutiert. Im Referen-tenentwurf war ursprünglich eine andere Regelung vor-gesehen. Wir haben dieses Thema über Jahre hinwegdiskutiert, was immer wieder dazu geführt hat, dass dasSteuerberatungsgesetz nicht geändert werden konnte.Jetzt sind wir aber zu dem Ergebnis gekommen, dassdiese Befugniserweiterung nicht sachgerecht ist. DieStimmen in der Anhörung haben uns recht gegeben. Dieüberwiegende Mehrheit der Angehörten hat darauf hin-gewiesen, dass eine Befugniserweiterung zu zusätzli-chen Risiken bei der Steuererhebung führen könnte.Trotzdem haben wir den Berufsangehörigen verspro-chen, uns der Gruppe der Buchhalter und geprüftenBilanzbuchhalter auch in Zukunft mehr zu widmen, in-dem wir zum Beispiel ein Berufsbild für einen Buchhal-ter erstellen. Bisher ist es möglich, sich Buchhalter zunennen, ohne eine Prüfung abzulegen. Es gibt keinen ge-schützten Titel Buchhalter und auch keinen Ausbil-dungsberuf Buchhalter. Wir haben den betreffenden Ver-bänden direkt nach der Anhörung zugesagt, uns diesesProblems anzunehmen und zu versuchen, Verbesserun-gen für diesen Berufsstand herbeizuführen.
Wir haben ein weiteres wichtiges Anliegen dieses Be-rufsstandes aufgegriffen; Frau Staatssekretärin Kresslhat bereits darauf hingewiesen. Neben der Befugniser-weiterung sind die Abmahnverfahren bei unlautererWerbung ein Problem für diesen Berufsstand. Auch hierkonnten sich die Koalitionspartner nach der Anhörungauf eine Lösung verständigen. Wir werden darauf ver-zichten, eine eigene Lösung im Steuerberatungsgesetz zuformulieren. Wir wollen, dass Gesetze übersichtlichbleiben, und wollen nur das regeln, was zwingend erfor-derlich ist. In diesem Fall ist aus unserer Sicht eine Re-gelung im Steuerberatungsgesetz nicht erforderlich, weilwir das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb haben. Wirsind optimistisch, dass diese Regelung auch den Bedürf-nissen des Berufsstandes der Bilanzbuchhalter, der Steu-erfachangestellten und der Buchhalter Rechnung trägt.Abschließend danke ich allen Beteiligten für die guteZusammenarbeit, sowohl dem Ministerium und meinerKollegin Westrich als auch den Vertretern der Opposi-tionsfraktionen im Finanzausschuss. Ich glaube, es wa-ren gute Beratungen, die heute zu einem gutenAbschluss geführt werden. Die Zustimmung zu den Än-derungsanträgen im Finanzausschuss hat gezeigt, dasswir – bis auf wenige Einzelpunkte – eine breite Mehrheitfür dieses Konzept haben. Das ist gut als Rücken-deckung für die Berufsstände und die ratsuchenden Steu-erpflichtigen. Wir sollten den Weg heute frei machen.Wir haben für das Gesetz schon viel zu lange gebraucht.Die Betroffenen warten auf uns. Deswegen bitte ich umIhre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bürgerinnen und Bürger interessiert natürlich, wiees sich zukünftig mit den steuerberatenden Berufen ver-hält, insbesondere mit dem Steuerberater oder der Steu-erberaterin sowie den Lohnsteuerhilfevereinen. Hier istviel erreicht. Wir werden den Gesetzentwurf heute ver-abschieden. Aber das Grundübel der Steuergesetzgebungbleibt bestehen. Sie ist in den letzten Jahren nicht einfa-cher, sondern auch in der Zeit der Großen Koalition im-mer komplizierter geworden. Sie von der CDU/CSU undder SPD haben mit Ihrer Mehrheit und gegen die Stim-men der Opposition dafür gesorgt, dass die Steuerbera-terhonorare nicht mehr als Sonderausgaben im privatenTeil der Einkommensteuererklärung anerkannt werden.Zudem gibt es insbesondere bei den Kosten für die Bera-tung bei Lohnsteuerhilfevereinen – das sind Pauschalen –weiterhin Schwierigkeiten der Unterscheidung. Das istnoch immer ein Grundärgernis für viele Bürgerinnenund Bürger, die aufgrund der komplizierten Steuerge-setzgebung Beratung in Anspruch nehmen müssen.Wir, die Linke, bemessen den vorliegenden Gesetz-entwurf nach drei Kriterien. Erstens. Verbessert sichdurch das Gesetz der ordnungsgemäße Vollzug der Steu-ergesetze? Zweitens. Inwieweit ist eine kompetenteBeratung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ge-währleistet? Drittens. Inwieweit erfolgte tatsächlich eineAnpassung an veränderte Lebensrealitäten? Es handeltsich sicherlich um ein Spannungsfeld, wenn man fürQualitätssicherung sorgen will, ohne eine Zementierungder ständischen Interessen vorzunehmen. Ich glaube, indieser Hinsicht ist einiges gelungen. Aus diesem Grundhaben wir im Ausschuss unsere Zustimmung zu den Än-derungsanträgen der Koalition deutlich gemacht, diesich auf die Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit derSteuerberaterprüfung beziehen; das ist ein wichtigerPunkt. Aber wir werden darüber nachdenken müssen,wie es sich bei den anderen steuerberatenden Berufen
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Dr. Barbara Höllverhält. Was ist zum Beispiel mit den Steuerfachwirtin-nen und Steuerfachwirten?Wir begrüßen ausdrücklich das Eingehen auf die For-derungen der Lohnsteuerhilfevereine: die Erhöhungder Einnahmegrenze für die Beratungsbefugnis und dieteilweise Nichtberücksichtigung von Kapitaleinkünftenbei der Berechnung hinsichtlich der Einnahmegrenze.Das ist ein wirklicher Beitrag zur Wahrung einer kosten-günstigen Steuerberatung für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer insbesondere vor dem Hintergrund, dassein Teil der Beratungskosten nicht mehr absetzbar ist.Wir begrüßen ebenfalls die Möglichkeit zur Bildung vonBürogemeinschaften zwischen Lohnsteuerhilfeverei-nen sowie Steuerberaterinnen und Steuerberatern. Auchdas ist eine Qualitätsverbesserung.Kritisch bleibt anzumerken, dass es keine Erweite-rung der Befugnisse für geprüfte Buchhalterinnen undBuchhalter sowie Steuerfachwirtinnen und Steuerfach-wirte gibt, zumindest wenn es um das Anfertigen derUmsatzsteuervoranmeldung geht.Ich glaube, die damit verbundenen Probleme sind lös-bar: bezüglich der Qualifizierung, bezüglich der Haft-pflicht, aber auch bezüglich solcher Anforderungen, wiesie Steuerberaterinnen und Steuerberater haben, dieselbst ausbilden, was Bilanzbuchhalter bisher noch nichtkönnen und nicht machen.Man muss sagen, dass diese Nichterweiterung der Be-fugnisse tendenziell insbesondere Frauen behindert;denn die steuerberatende Tätigkeit ist etwas, was man,zumindest zum Teil, von zu Hause aus erledigen kann.Deshalb ist bei diesem Berufsbild eine gute Vereinbar-keit von Beruf und Familie gegeben und ein flexiblesReagieren auf sich verändernde Familiensituationenmöglich.Kritisch möchte ich auf alle Fälle noch etwas zu IhrerGebührenanpassung bei den Steuerberaterprüfungensagen. Die Begründung der Kostendeckung für dieseAnpassung kann man teilen; aber die Erhöhung ist dochmassiv. Für die Zulassungsverfahren wollen Sie die Ge-bühren von 75 auf 200 Euro erhöhen, für das Prüfungs-verfahren von 500 auf 1 000 Euro. Vor dem Hintergrund,dass 55,58 Prozent, also etwas über die Hälfte, der in2005/2006 zur Prüfung zum Steuerberater Angetretenendiese nicht geschafft haben und vielleicht noch einezweite Prüfung machen müssen, ist das natürlich einesehr hohe Hürde. Man könnte die Vermutung haben,dass hier Ständeinteressen gewahrt werden sollen. Aberauch die Steuerberaterinnen und Steuerberater brauchenNachwuchs. Deshalb können wir dem nicht zustimmen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Insgesamt überwiegt das Negative das Positive. Des-
halb werden wir uns bei der Abstimmung über diesen
Gesetzentwurf enthalten.
Ich danke Ihnen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vorab eine Bemerkung zu den Ausführungen von unse-rem Kollegen Volker Wissing, der behauptet hat, dieGrünen hätten kein Interesse am Thema Datenschutz imZusammenhang mit dem Steuerrecht. Ich muss das klarzurückweisen und die FDP daran erinnern, dass es indiesem Zusammenhang einen Antrag der Grünen gibt,der Kooperationen von allen freien Berufen, von selbst-ständigen Buchhaltern bis hin zu den Lohnsteuerhilfe-vereinen, begrüßt, aber auch verlangt, dass mit Blick aufdie Bildung von Bürogemeinschaften „berufsrechtlicheRechte und Pflichten, vor allem Verschwiegenheitspflicht,Gewissenhaftigkeit, Auskunftsverweigerungsrecht, Zeug-nisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot,“ ent-sprechend angepasst werden. Entweder haben Sie unse-ren Antrag nicht gelesen, oder es ist eine gemeineUnterstellung.
Ich hätte mir sehr gewünscht – es ist ja anders ausge-gangen –, dass wir eine tiefgreifende Novelle des Steuer-beratungsgesetzes bekommen. Wir haben jahrelang da-rüber diskutiert. Wenn ich mir anschaue, was dabeiherausgekommen ist, sehe ich, dass es zwar ein bisschenvorangegangen ist; aber ich glaube nicht, dass das mitBlick auf die Existenz von vielen selbstständigenBilanzbuchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen, Steuer-fachwirten und Steuerfachwirtinnen ausreicht. Dass wirmit diesem Gesetz die Erhaltung von deren Arbeitsplät-zen und einen Ausbau in diesem Bereich erreichen,glaube ich nicht. Das finde ich sehr schade; denn dashätte zu einer Liberalisierung dazugehört.
Hier siegt – das muss man an dieser Stelle auch ein-mal sagen – ein Stück weit die Klientelpolitik. Wirhatten ja heute Morgen die Debatte über die Wirtschafts-politik. Dabei wird immer auf faire Wettbewerbsbedin-gungen verwiesen. Wenn aber auf der einen Seite faireWettbewerbsbedingungen gefordert werden, die natür-lich volkswirtschaftlich sinnvoller sind als hohe Markt-zugangsbarrieren, und auf der anderen Seite, wenn eskonkret wird, die Pfründe von bestimmten Berufsgrup-pen geschützt werden sollen, dann ist das nicht in Ord-nung. Wir fordern: Reden Sie nicht nur über faire Wett-bewerbsbedingungen, sondern setzen Sie sie für dieBerufsgruppen dann auch um! Das ist genau der Punkt,auf den wir hier verwiesen haben. Deswegen sind wirziemlich enttäuscht, was diese Regierungsvorlage anbe-langt.Gestern haben wir im Finanzausschuss eine Debattedarüber geführt, was denn noch geändert werden könnte.Die grüne Seite hat sich den drei Änderungsanträgen an-geschlossen. Ich weiß, dass der grüne Vorschlag mitBlick auf die Beratungsgrenzen bei den Lohnsteuerhilfe-
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Christine Scheelvereinen nicht eins zu eins umgesetzt worden ist. Aberman muss sagen, es geht in die richtige Richtung. Esbleibt gesichert, dass sich die durchschnittlichen Arbeit-nehmer und Arbeitnehmerinnen und auch Rentner undRentnerinnen weiterhin kostengünstig bei den Lohn-steuerhilfevereinen beraten lassen können. Dies ist gut.Es ist auch gut gewesen, dass die Abgeordneten dieseRegelung gemeinsam geändert haben. Ich halte es auchfür richtig, dass der Status eines Syndikus-Steuerbera-ters endlich eingeführt wird. Das bringt mehr Flexibili-tät; das haben die Grünen schon sehr lange gefordert.Jetzt ist es umgesetzt. Auch das ist positiv.Letztendlich muss man aber sagen, dass der Gesetz-entwurf den Anforderungen an ein modernes und libera-les Berufsrecht der Steuerberater bei weitem nichtgerecht wird. Es fehlt der Mut, in diesem Kontext über-fällige Reformen anzugehen und alte Zöpfe abzuschnei-den. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab. Wirfordern Sie auf, dem grünen Antrag zuzustimmen. Dasrichtet sich vor allem an die Adresse der Oppositions-fraktionen. Wir könnten an dieser Stelle einmal zusam-menhalten und für ein gutes Recht stimmen.Ich denke, dass der grüne Antrag allen Selbstständi-gen im Steuer- und Buchhaltungswesen ausreichendeMarktchancen und faire Wettbewerbsbedingungen ein-räumt, wobei wir den notwendigen Verbraucherschutzim Auge haben.Vielen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Von einem Gesetz, das so viele Jahre der Vorbereitungbraucht, erwarten wir Bedeutungsvolles. Dass Änderun-gen im Bereich des Berufsrechts so viel Zeit in Anspruchnehmen, ist eher selten.Etwa 50 000 Steuerberater – das gilt natürlich auchfür die Lohnsteuerhilfevereine und andere – freuen sich,dass ihre teilweise langjährigen Forderungen jetzt end-lich bei der achten Änderung des Steuerberatungsgeset-zes umgesetzt worden sind.
Die Anforderungen an den Berufsstand sind relativhoch. Deshalb müssen wir auch die Ausbildungs-, Prü-fungs- und Arbeitsbedingungen ständig den wechseln-den Bedingungen unserer Volkswirtschaft anpassen.
– Herr Ausschussvorsitzender, Sie stören ein bisschen. –So ist mir die Verankerung der Fortbildungspflichtwichtig, weil sie das Vertrauensverhältnis zu den Klien-ten weiter stärkt.Ich freue mich auch, dass wir die Frage der zukünfti-gen Regelung der Steuerberatungsprüfung so einver-nehmlich mit Kammerverband und Bundesrat behandelthaben. Die Länder können ihren Verwaltungsaufwanderheblich reduzieren, was von ihnen auch immer wiedergefordert wird. Die Prüfung bleibt trotzdem staatlich undvor allem bundeseinheitlich. Das ist, wie wir aus bittererErfahrung wissen, längst nicht selbstverständlich. Diehohe Qualität der Prüfung schlägt sich natürlich auch inden Gebühren nieder, Frau Höll. Aber sie bilden beileibekeine unüberwindliche Hürde für diesen Berufsstand,wie Sie das darstellen.
Wir haben mit diesem Gesetz den Berufsstand ge-stärkt und es tatsächlich geschafft, zumindest einigeLiberalisierungen durchzusetzen. Liberalisierungen beiBerufsrechten, um nicht zu sagen: Standesrechten, sindin den freien Berufen immer etwas schwerfällig durch-zusetzen. Sie sind im Rahmen früherer Änderungen häu-fig vom Bundesverfassungsgericht quasi erzwungenworden. Zur Einführung des Syndikus-Steuerberatershabe ich Briefe vorliegen, die viele Jahre alt sind. Es istfür uns alle immer wieder eine Freude, wenn wir alteVorgänge positiv erledigt zur Seite legen können. Es istwirklich nicht mehr zeitgemäß, dass man einen durcheine schwere Prüfung erworbenen Titel ablegen muss,wenn man in eine abhängige Beschäftigung tritt.Wir haben den Steuerberatern die Bildung von GmbHund Co. KGs erlaubt, die Kooperation mit freien Berufen– nicht nur den artverwandten, Herr Wissing – zugelas-sen. Das unterscheidet dieses Gesetz zum Beispiel vomBerufsrecht der Rechtsanwälte. Wir werden deshalb dar-über hinaus auch Bürogemeinschaften mit Lohnsteuer-hilfevereinen und mit landwirtschaftlichen Buchstellenzulassen. Ich bin davon überzeugt, dass dies nicht nurzum Vorteil dieser Bürogemeinschaften, sondern auchzum Vorteil aller ratsuchenden Bürgerinnen und Bürgerist. Solche Gemeinschaften existieren ja schon. DerWunsch kam nicht vom Gesetzgeber, sondern von Be-troffenen, die ihre Zusammenarbeit gerne legalisierenwollen. Herr Wissing, Sie können ja einmal herumfra-gen, wie viele Steuerberater, die landwirtschaftliche Kli-entel haben, bei ihren speziellen steuerrechtlichen Fra-gen gerne auf den Sachverstand der landwirtschaftlichenBuchstellen zurückgreifen. Dann würden Sie einsehen,dass die Zulassung dieser Bürogemeinschaften einesinnvolle Liberalisierung des Berufsstandes darstellt.Das gilt in gleicher Weise natürlich für die Lohnsteuer-hilfevereine.Natürlich gibt es hier eine Verschwiegenheitspflicht.Sie ist nicht strafbewehrt. Aber für Leute, die täglich mitdem Steuergeheimnis umgehen, muss das auch nicht ex-tra sein, sondern das ist selbstverständlich. Sie als FDP-Fraktion messen einfach mit zweierlei Maß, wenn Siehier Bedenken anmelden.Was eine drohende Beschlagnahme von Akten be-trifft, weiß ich keinen Fall aus den letzten Jahren, derLohnsteuerhilfevereine betroffen hätte. Aber ich habe al-lein in meinem Wahlkreis drei Fälle, in denen Lohnsteu-
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Lydia Westricherhilfevereine sich bei gegebenen BürogemeinschaftenSorge um ihr eigenes Renommee machen müssten.Trotzdem ist es für mich wichtig, dass der Charakterder Lohnsteuerhilfevereine als Selbsthilfeeinrichtun-gen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhaltenbleibt. Wir haben ihre Beratungsbefugnisse deshalb an-gemessen angepasst, Frau Scheel, zum Beispiel denGrenzbetrag für Einnahmen aus anderen Einkunftsartenum fast 45 Prozent auf jetzt 13 000 Euro angehoben. Daswar überfällig. Zudem haben wir eine sinnvolle Rege-lung zur Beratungsbefugnis bei Kapitaleinkünften er-gänzt.
Wie starr das Berufsrecht noch ist, zeigen dieAbmahnverfahren gegen Buchhalter. Schon etlicheMale haben wir versucht, diese Flut einzudämmen –ohne Erfolg. Sogar Einträge in Gelbe Seiten, die ja kurzsein müssen, ziehen Abmahnverfahren nach sich. Da wirdas Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb haben,muss eine Werberegelung für Gewerbetreibende nichtnoch zusätzlich im Berufsrecht verankert werden. Des-wegen hoffen wir, dass diese Maßnahme gegen die Ab-mahnverfahren hilft. Aber wir werden das weiter über-prüfen.Die SPD-Fraktion stellt sich unter liberalisierten Re-gelungen eine breitere Öffnungsmöglichkeit vor. Selbstunter Verbraucherschutzaspekten könnten geprüfte Bi-lanzbuchhalter mehr, als sie dürfen. Die breite Unterstüt-zung des DIHK bei der Forderung nach einer begrenztenBefugniserweiterung für die hochqualifizierten Bilanz-buchhalter zeigt, dass ein Verband, der kleine und mittel-ständische Unternehmen vertritt, durchaus keine Sorgeum die Qualität der Beratung seiner Mitglieder hat. Des-wegen hätten wir da durchaus etwas machen können.
Die Finanzverwaltung, die Länder und die Steuerge-werkschaft waren da leider anderer Meinung. Wir war-ten also, bis das Bundesverfassungsgericht oder europäi-sches Recht eingreift, um da eine weitere Liberalisierungvoranzubringen.Insgesamt gesehen hat sich die lange Beratungszeitfür dieses Gesetz gelohnt. So viel Lob hat der Finanzaus-schuss selten bei einer Anhörung vernommen. Wir bie-ten den Steuerpflichtigen und dem beratenden Berufs-stand eine sichere Basis, weiterhin unser kompliziertesSteuerrecht zu meistern.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.Zunächst Tagesordnungspunkt 6 a. Abstimmung überden von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf einesGesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes. DerFinanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/7867, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/7077und 16/7485 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis an-genommen.Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zumEntwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung desSteuerberatungsgesetzes: Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/7867, den Gesetzentwurf des Bundesrates aufDrucksache 16/7250 für erledigt zu erklären. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Ist jemand dagegen? –Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mitden Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 6 b, Beschlussempfehlung des Fi-nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Steuerberatung zukunftsfähigmachen“: Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7867,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/1886 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undEnthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 csowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:24 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des InVeKoS-Daten-Gesetzes und des Direktzahlungen-Verpflich-tungengesetzes– Drucksache 16/7827 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBericht der Bundesregierung über die Maß-nahmen zur Förderung der Kulturarbeitgemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in denJahren 2003 und 2004– Drucksache 15/5952 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Auswärtiger AusschussInnenausschuss
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldtc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungStraßenbaubericht 2006– Drucksache 16/3984 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBarth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPUniversitäre Exzellenz sichern – Exklusivitätdes Promotionsrechts wahren– Drucksache 16/7842 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungb) Beratung des Antrags der Abgeordneten GrietjeBettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMedienabhängigkeit bekämpfen – Medien-kompetenz stärken– Drucksache 16/7836 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/7827 zu Ta-gesordnungspunkt 24 a soll zur federführenden Beratungan den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz und zur Mitberatung an den Haus-haltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 25 a bis25 o. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 a auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Neuregelung des Grundstoffüberwa-chungsrechts– Drucksache 16/7414 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 16/7828 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marlies VolkmerDer Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/7828, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7414 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Ist jemand dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hausesangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dieser Gesetzentwurfist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.Tagesordnungspunkt 25 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung seeverkehrsrechtlicher, ver-kehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mitBezug zum Seerecht– Drucksache 16/7415 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 16/7843 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter HettlichDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt unter Ziffer I seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/7843, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 16/7415 in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derFraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion DieLinke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange-nommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom-men.Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 25 b. Un-ter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/7843 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist damit angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Ge-genstimmen der Fraktion der FDP.
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtTagesordnungspunkt 25 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung des Betriebsprämien-durchführungsgesetzes– Drucksache 16/7685 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
– Drucksache 16/7846 –Berichterstattung:Abgeordnete Marlene MortlerGustav HerzogHans-Michael GoldmannDr. Kirsten TackmannCornelia BehmDer Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/7846, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 16/7685 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen, den Stimmen der FDP und der Fraktion derLinken bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis, dasheißt bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen, angenommen.Tagesordnungspunkt 25 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDen kostenfreien Empfang von Rundfunk viaSatellit sicherstellen– Drucksachen 16/3545, 16/7346 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelJörg TaussChristoph WaitzDr. Lukrezia JochimsenGrietje BettinDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/7346, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3545 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Ge-genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undder Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 25 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENErhaltung der Weinbaukultur durch vernünf-tige Reform der EU-Weinmarktordnung– Drucksachen 16/6959, 16/7568 –Berichterstattung:Abgeordnete Julia KlöcknerGustav HerzogDr. Volker WissingDr. Kirsten TackmannCornelia BehmDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/7568, den Antrag auf Druck-sache 16/6959 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 25 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 9über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht– Drucksache 16/7770 –Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-men.Tagesordnungspunkt 25 g:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pie-per, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPDas Internationale Polarjahr 2007/2008 undKonsequenzen für eine deutsche Beteiligung– Drucksachen 16/4454, 16/7854 –Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer
Dr. Ernst Dieter RossmannCornelia PieperDr. Petra SittePriska Hinz
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/7854, den Antrag der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/4454 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltungender Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 25 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 337 zu Petitionen– Drucksache 16/7755 –Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 337 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 25 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 338 zu Petitionen– Drucksache 16/7756 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 338 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 25 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 339 zu Petitionen– Drucksache 16/7757 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 339 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und derFDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.1)Tagesordnungspunkt 25 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 340 zu Petitionen– Drucksache 16/7758 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 340 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und derFraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.1) Anlage 2Tagesordnungspunkt 25 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 341 zu Petitionen– Drucksache 16/7759 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 341 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undder Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 25 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 342 zu Petitionen– Drucksache 16/7760 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke beiGegenstimmen der Fraktion der FDP und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 25 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 343 zu Petitionen– Drucksache 16/7761 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 343 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke undder Fraktion der FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 25 o:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 344 zu Petitionen– Drucksache 16/7762 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 344 ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.Damit haben wir die Abstimmungen zu diesem Blockerledigt.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:Aktuelle StundeAufgaben von Bundeswehrkampftruppen alsQuick Reaction Forces in AfghanistanDie Fraktion Die Linke hat diese Aktuelle Stunde be-antragt.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Fraktion DieLinke das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Gestern lasen wir in der Onlineausgabe derWelt:NATO fordert Kampftruppe der Bundeswehr an.Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afgha-nistan rückt offenbar immer näher. Die Nato hatjetzt unmissverständlich klargemacht, dass sie vonder Bundeswehr Kampfeinsätze erwartet. Dasbringt Verteidigungsminister Franz Josef Jung inNöte. Der will den neuen Einsatz erst nach der Hes-sen-Wahl verkünden.Aus diesem Grunde haben wir den Punkt heute auf dieTagesordnung gesetzt. Ich bin der Auffassung, vor zweiso wichtigen Wahlgängen wäre es nur ein Gebot der Ehr-lichkeit und der Wahrhaftigkeit, hier zu sagen, ob Sievorhaben, Kampftruppen in diesen Krieg zu schicken.
Wenn der Chef der Eingreiftruppe sagt, Deutschlandmüsse sich auf Tote einstellen, dann müssten eigentlichalle Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sehen,worum es hier geht, und müssten sich die Frage stellen,ob wir berechtigt sind, das zu tun. Im Übrigen darf mandaran erinnern, dass schon in der Vergangenheit Tote zubeklagen waren. Hier soll nur gesagt werden, dass beiKampfeinsätzen noch mehr deutsche Soldaten ums Le-ben kommen werden. Wir wollen hinzufügen, dass beidieser sogenannten Militärintervention im letzten Jahrüber 6 000 Todesopfer zu beklagen waren, darunter vieleZivilisten. Wir halten diesen Krieg nicht mehr für ver-antwortbar. Ziehen Sie die Bundeswehr zurück!
Bisher ist nach außen immer gesagt worden, bei ISAFhandele es sich um eine Friedensmission. Es wird derEindruck erweckt, als gehe es darum, Brunnen zu boh-ren, Schulen zu bauen usw. So haben Sie das der Bevöl-kerung immer wieder erklärt. Langsam wandelte sich dieArgumentation. Jetzt ist klar, dass alles das, was in denletzten Jahren gesagt worden ist, nicht zutrifft. Auchdiese Truppe wird immer weiter in den Krieg einbezo-gen. Das ist das, was wir gesagt haben.Kürzlich habe ich im Stern etwas gelesen, das mir dieSprache verschlagen hat. Das möchte ich hier doch er-wähnen, weil ich den Aufschrei vermisst habe. Dortwurde geschildert, wie ISAF-Truppen überprüfen, ob einFeld minenfrei ist. Es wurde geschildert, dass die Solda-ten Äpfel auf ein Feld werfen und Kinder dann auf dasFeld laufen sollen. Wenn keine Mine hochgeht, ist dasFeld minenfrei.Welch ein Zynismus! Sind wir berechtigt, uns an Mis-sionen zu beteiligen, bei denen solche Dinge einreißen?Das ist in meinen Augen ein unglaublicher Skandal.
Ich hätte zu gern erlebt, dass irgendjemand dazu irgend-etwas gesagt hätte.
– Entschuldigen Sie! Wenn Sie behaupten, alles das, wasin der Presse dargestellt werde, sei falsch, dann müssenSie das hier klarstellen.
– Es genügt nicht, dass Sie das in irgendwelchen Aus-schusszirkeln klarstellen. Sie sollten hier klarstellen, obdiese Meldungen richtig oder falsch sind.
Wir haben in der letzten Zeit viel zu oft gehört, dass Er-klärungen der zuständigen Kommandeure nicht zutrafen.Darauf können Sie sich nicht berufen. So einfach kom-men Sie hier nicht davon.
Im Übrigen ist es eine Tatsache, dass wir 6 000 zivileOpfer zu beklagen haben. Wir machen in Zukunft dabeimit. Tun Sie doch nicht so, als könnten Sie das mit läppi-schen Bemerkungen vom Tisch wischen!
Wir von der Linken wollen das schlicht und einfachnicht.
Wir sind in diesen Krieg tiefer verstrickt, als Sie dashier zugeben wollen; das wird sich in nächster Zeit im-mer wieder zeigen.
Wir haben nach wie vor festzustellen, dass dieserKrieg völkerrechtswidrig ist und dass all diejenigen daszu verantworten haben, die diesem völkerrechtswidrigenEinsatz zugestimmt haben.Die deutsche Bevölkerung hat in ihrer großen Mehr-heit kein Verständnis für diesen Einsatz der Bundeswehr.Wir überwachen dort die Opiumproduktion. Hier muss
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Oskar Lafontaineich einmal die Frage stellen: Ist das wirklich Aufgabeunserer Soldatinnen und Soldaten? In der Regierung– das weiß jeder – sitzen Kriegsverbrecher. Die Situationim Land wird immer schlechter, von Jahr zu Jahr. Den-noch will man aus der Sackgasse nicht wieder heraus.Kehren Sie endlich um! Ziehen Sie die Bundeswehr ausAfghanistan zurück!
– Zu dem Zwischenruf „Und überlassen Sie das Landden alten Kriegsverbrechern!“ muss ich sagen: Die sit-zen doch in der Regierung. Haben Sie das immer nochnicht gemerkt? Sie paktieren mit alten Kriegsverbre-chern. Das ist die Wahrheit in Afghanistan.
Im Übrigen haben Sie die Aufgabe – wir sagen dasnoch einmal ganz klar –, unser Land sicherer zu machen.Das ist die Aufgabe der Sicherheitspolitik. Ein unver-dächtiger Zeuge, der Ministerpräsident des Landes Bay-ern, hat vor einiger Zeit gesagt: Mit solchen Auslands-einsätzen erhöhen wir die Terroranschlagsgefahr imeigenen Land. Das ist seine Feststellung. Sie gehen ein-fach blind darüber hinweg. Wir sagen: Holen Sie dieTruppen zurück! Sonst erhöhen Sie die Terroranschlags-gefahr im eigenen Land. Es ist nicht unsere Aufgabe,den Terror nach Deutschland zu holen.
Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard Beck
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Herr Kollege Lafontaine, was Sie hier abgelieferthaben, war unverantwortlich.
Das war Wahlkampf pur.Sie haben auf einen bestimmten Vorfall angespielt,der leider auch im deutschen Fernsehen groß herausge-stellt worden ist. Dazu hätten Sie von Ihrem KollegenSchäfer erfahren können, dass wir im Verteidigungsaus-schuss diese Angelegenheit besprochen haben und dassniemand da war, der so etwas unterstützt hätte. Wir stel-len ausdrücklich fest: Es waren keine deutschen Solda-ten beteiligt. Das müssen Sie den Leuten sagen.
Ich finde es einfach auch unverantwortlich, wenn Siemeinen, für den hessischen Wahlkampf noch ein paarStimmen einsammeln zu können, indem Sie hier alsFriedensengel auftreten.
Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie argumen-tieren, längst aus einer seriösen sicherheitspolitischenDebatte verabschiedet.
Ich halte Ihre Forderung, die Truppen abzuziehen, fürverantwortungslos. Ich stimme da dem Kollegen Nacht-wei ausdrücklich zu, der sagte: Wenn wir unsere Trup-pen abziehen, überlassen wir Afghanistan den Kriegs-verbrechern. Das wäre unverantwortlich.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, worum gehtes eigentlich in dieser Geschichte? Sie, Herr Lafontaine,haben gesagt, es gehe um Kampftruppen.
– Herr Lafontaine, hören Sie bitte einmal einen Augen-blick zu. – Soldaten, die eingesetzt werden, müssen auchkämpfen können.
Dies ist doch ganz klar. Es sollte auch ausgesprochenwerden. Im Rahmen des ISAF-Mandats haben sie denAuftrag, dieses Land zu stabilisieren, Aufbauarbeit zuverrichten und dort, wo Sicherheit hergestellt werdenmuss, dies auch mit militärischen Mitteln zu tun.
Dies ist ganz klar. Wer hat das denn bisher gemacht? Einbisschen Sachlichkeit würde dieser Debatte schon guttun.
– Nein.Der Zeitpunkt und das Vorgehen überraschen dochgar nicht. Jeder weiß, dass Norwegen am 30. Juni dasKommando über die Quick Reaction Force abgibt. Dasist doch schon lange bekannt. Was heißt Quick ReactionForce? Schnelle Eingreiftruppe.
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Ernst-Reinhard Beck
Sie stellt, gnädige Frau, eine Art Feuerwehr, eine takti-sche Reserve dar, die jeder verantwortliche militärischeKommandeur vorhalten muss. Sie hat die Stärke einerKompanie. Das ist, für eine Region, die gemessen an dereuropäischen Geografie vom Rhein bis nach Warschaureicht, im Grunde wenig genug.Welche Aufgaben hat diese Einsatzreserve? Sie gehenher und sagen, sie nehme im Grunde die Aufgabe einerKampftruppe wahr.
Was haben denn die Norweger in den letzten zwei Jah-ren, Frau Enkelmann, getan? Das kann ich Ihnen sagen:Es liefen ganze zwei Einsätze als Alarmreserve. Dererste Einsatz fand beim Absturz eines Hubschraubersund der zweite beim Beschuss des deutschen Lagers inMasar-i-Scharif statt. Alle übrigen Einsätze waren Pa-trouillen oder Sicherungsmaßnahmen, die der Unterstüt-zung der PRT-Tätigkeit dienten. Diese Aufgaben habendie Norweger wahrgenommen.Wenn man auf diese Erfahrungen zurückgreift, dannkommt man doch zu dem Schluss: Es handelt sich umeine fatale Verdrehung, wenn Sie davon sprechen, mantrete jetzt in eine neue Kampfphase ein. Dies ist schlicht-weg falsch. Wir weisen das in aller Klarheit und Deut-lichkeit zurück.
Die Frage ist: Wer übernimmt diese wichtige Auf-gabe? Da ist, wie ich meine, noch nichts entschieden.Die Truppenstellerkonferenz wird die Entscheidung tref-fen. Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Wir als führendeNation, als Lead-Nation, stehen im Norden in der Ver-antwortung und können uns nicht darauf verlassen, dassim Falle eines Falles schon irgendjemand kommen wird.Ich sage auch ganz klar: Wir sind bereit und in der Lage,diese Aufgabe zu übernehmen, weil es sich um einewichtige Aufgabe für die Sicherung der Aufbauarbeit imgesamten Nordbereich handelt. Dieses sollte man an die-ser Stelle einfach festhalten.Bei einer seriösen Diskussion hierüber ist in der Tatdas ISAF-Mandat maßgebend. Es handelt sich bei derEingreiftruppe nicht um eine Wiederaufbautruppe; dasist richtig. Aber es handelt sich um eine Truppe, die imRahmen des ISAF-Mandats eine Stabilisierungsfunktionwahrnimmt. Dies ist der Hauptauftrag, zeitlich undräumlich begrenzt; außerhalb dieser begrenzten Regionnur dann, wenn der Gesamtauftrag von ISAF infrage ge-stellt ist. Sie kennen diese Klausel, die unser Mandat ent-hält. Dafür Verantwortung zu übernehmen, sind wir be-reit.Für unsere Fraktion und die Regierung möchte ich sa-gen: Unsere Soldaten können mit unserer weiteren Un-terstützung bei diesem gefährlichen und schwierigenAuftrag rechnen.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit
Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Worum es hier geht, zeigen die von der Linken benann-ten Redner und der Auftritt, den der Kollege Lafontaineeben hingelegt hat.
Neben dem „Verteidigungsexperten“ Lafontaine soll jaauch noch der „Verteidigungsexperte“ Gysi sprechen.Daran wird deutlich: Es geht Ihnen schlicht und ergrei-fend nur um Wahlkampf.
Wenn Sie hier sagen, es gehe Ihnen um die Sache,dann entgegne ich Ihnen: Diese Sache war letzte Wocheaktuell. Letzte Woche hat ein Kollege hier erklärt, es seischon alles entschieden und beschlossen. Daraufhin gabes eine Debatte, nicht nur im Verteidigungsausschuss desDeutschen Bundestages, sondern auch in aller Öffent-lichkeit. Daran haben Sie nicht teilgenommen, und daswar Ihnen völlig egal.
Das zeigt klipp und klar, dass es Ihnen nicht um die Sa-che geht. Dieses Thema diese Woche zu behandeln,passt Ihnen schlicht und ergreifend besser ins Kalkül.
Es kommt etwas hinzu: Der Sachstand seit der letztenWoche ist unverändert. Vielleicht muss man Sie einmaldarüber aufklären, Herr Lafontaine: Die Sache ist nichtneu. Die Norweger haben sehr frühzeitig erklärt, dass siediese Aufgabe ab Mitte dieses Jahres nicht mehr werdenwahrnehmen können. Darüber hat der Generalinspekteurim Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestagesinformiert. Wir haben darüber diskutiert. Es hat im Übri-gen in der Haushaltsdebatte letztes Jahr – auch öffent-lich – eine Rolle gespielt. Das heißt, es geht nicht darum,dass wir hier irgendwelche Informationen von der Bun-desregierung erzwingen müssten. Was Sie wollen, ist,Angst machen und Verunsicherung der Menschen schü-ren. Sie machen Wahlkampf auf dem Rücken der Solda-tinnen und Soldaten, vor allen Dingen derer, die in Af-ghanistan einen gefährlichen Dienst versehen.
Das, Herr Lafontaine, ist durchsichtig, unredlich undschäbig.
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Birgit Homburger
Ich möchte hier in aller Deutlichkeit noch einmalklarstellen: Es geht hier nicht um Krieg gegen Afghanis-tan.
Wir sind auf Anforderung und auf Wunsch der afghani-schen Regierung in Afghanistan, um den Wiederaufbauzu unterstützen. Es ist Ihnen so klar wie uns, dass dieserWiederaufbau nur mit militärischer Absicherung funk-tionieren kann. Genau deshalb wird es gemacht. Darüberhaben wir hier zigmal diskutiert. Es bleibt dabei: Es gehthier nicht um Krieg, sondern darum, die afghanische Re-gierung dabei zu unterstützen, dieses Land zu stabilisie-ren und beim Wiederaufbau zu helfen.
Ich sage ebenfalls ganz klar, an die Bundesregierungund auch an den Vorredner, Herrn Beck, gerichtet: Wirbrauchen einen ehrlichen Umgang mit der Sache.
Ein ehrlicher Umgang im Zusammenhang mit derschnellen Eingreiftruppe bedeutet, dass man die Qualitätdieser Eingreiftruppe so darstellen muss, wie sie ist. Andieser Stelle geht es nicht nur um Patrouille, Evakuie-rung und Absicherungsmaßnahmen, sondern auch umoffensive Operationen. Auch das ist nichts Neues. Daswüssten Sie, wenn Sie im Verteidigungsausschuss wärenund wenn Sie sich damit schon einmal auseinanderge-setzt hätten, Herr Lafontaine.
Es ist tatsächlich so, dass es an dieser Stelle um offen-sive Operationen geht. Offensive Operationen sind ebenkeine Stabilisierungseinsätze; dabei geht es vielmehrganz klar um Kampf. Das muss man in aller Nüchtern-heit und aller Klarheit so sagen.Das sind die Rahmenbedingungen. Herr Verteidi-gungsminister, sollten Sie sich entscheiden, diese Auf-gabe zu übernehmen, dann wäre das nach der Entschei-dung, Tornados nach Afghanistan zu entsenden, eineerneute Erweiterung des Aufgabenspektrums und hätteeine neue Qualität.
Ich möchte sehr deutlich sagen: Wenn diese Aufgabeübernommen wird, dann erwarten wir von der Bundesre-gierung, dass sie nicht immer nur mit weiteren Aufgabenund noch mehr Soldaten kommt. Sie sollte vielmehrklarstellen, was das Ziel dieses Einsatzes ist. Ich erwarte,dass die Bundesregierung der Öffentlichkeit vermittelt,dass das politische Ziel im Zentrum steht.
Ich möchte an dieser Stelle noch Folgendes sagen:Sollte sich die Bundesregierung für die Übernahme die-ser Aufgabe entscheiden, dann muss das Augenmerknoch stärker als bisher auf Ausrüstung und Ausstattunggelegt werden. Ich möchte hier auf einen Bericht desKommandeurs Warnecke aufmerksam machen, der mit-geteilt hat, dass es bei der Operation „Harekate Yolo-2“,die im letzten Herbst stattgefunden hat, Schwierigkeitengab, weil das ISAF-Kontingent im Verantwortungsbe-reich Nord offensichtlich nicht entsprechend ausgestattetwar. Hier, Herr Bundesverteidigungsminister, erwartenwir, dass die Bundesregierung bei ihrer Entscheidungberücksichtigt, ob sie die nötige Ausrüstung stellenkann. Es ist nur verantwortbar, Soldatinnen und Soldatenin einen Einsatz zu schicken, wenn sie mit der bestmög-lichen Ausrüstung ausgestattet sind.
Abschließend, Herr Bundesverteidigungsminister,bitte ich noch um eines: dass Sie endlich dazu überge-hen, eine offensive Informationspolitik zu betreiben. DerBericht der Generäle vom Juli des vergangenen Jahres,in dem eine Bewertung vorgenommen wird, liegt demParlament immer noch nicht vor. Wir haben erneut ausder Öffentlichkeit davon erfahren. Ich fordere Sie auf:Legen Sie diesen Bericht endlich auch dem Parlamentvor! Sie schaden mit dieser Geheimniskrämerei der Bun-deswehr und sich selbst. Machen Sie endlich eine offen-sive Informationspolitik!Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte zu Beginn meiner Rede die kanadischen Kol-leginnen und Kollegen auf der Tribüne sehr herzlich be-grüßen und bei uns im Parlament willkommen heißen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Ihre Anwesenheitgibt dieser Debatte eine besondere Bedeutung. Wir spre-chen in dieser Aktuellen Stunde über gemeinsame Aktio-nen und gemeinsames Leiden in Afghanistan. Kanadahat viele Opfer gebracht, derer wir mit Solidarität in die-ser Debatte gedenken. Wir sind an Ihrer Seite.Deswegen sage ich: Politische Entscheidungen, dieletztlich eine Entscheidung über Leben und Tod seinkönnen, zu Wahlkampfzwecken zu benutzen, halte ichfür nicht erlaubt,
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Walter Kolbow
auch nicht unter Bezug auf die Frage, die Sie, Herr Kol-lege Lafontaine, zu Beginn Ihrer Einlassungen vorgetra-gen haben. Ich weiß, dass wir mit der Verantwortung fürdie Entscheidung Schuld auf uns laden können und wiruns in Kämpfe verstricken können. Das ist die Verant-wortung des Parlaments. Daraus populistischen Nutzenzu ziehen, ist jedoch nicht nur antiaufklärerisch – wirsollten eigentlich aufgeklärt sein –, sondern schlicht undeinfach nicht in Ordnung, meine Damen und Herren vonder Linksfraktion.
Von dieser Stelle aus ist wiederholt gesagt worden,dass dieser Einsatz, den das Parlament beschlossen hat,nicht völkerrechtswidrig ist, sondern den Stempel derVereinten Nationen trägt und in der Verantwortung derinternationalen Gemeinschaft liegt.
Wollen Sie dem kanadischen Parlament vorhalten, völ-kerrechtswidrig entschieden zu haben? Ich denke, dassSie Ihre Einlassungen relativieren müssen.Herr Kollege Lafontaine, Sie müssen auch Ihre Aus-sage relativieren, in Afghanistan seien Kinder als Mi-nensucher missbraucht worden. Sie wollen damit Wahl-kampf machen. Lassen Sie sich informieren: Über dieseVorkommnisse liegen keine Erkenntnisse vor,
außer dass sie vor fünf Jahren zwar von jemandem zurKenntnis genommen worden sind, dieser es aber nichtfür notwendig gehalten hat, einen so markanten Vorgangseinen Vorgesetzten sofort zur Kenntnis zu bringen, wasdie Regel ist.
Informieren Sie sich bei den Fach- und Sachkundigenüber den Sachstand, bevor Sie hier Behauptungen ein-bringen, die durch nichts, aber auch gar nichts zu bele-gen sind.
Der Außenminister und der Verteidigungsministersind ihrer Aufgabe mehr als nur gerecht geworden. AlleInformationen werden nicht nur den Ausschüssen, son-dern auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfü-gung gestellt. Diese Informationen weisen eindeutig da-rauf hin, dass eine Einheit im Rahmen eines normalenTruppenstellerverfahrens ersetzt werden muss. DieseEinheit wird dringend gebraucht, damit die internatio-nale Gemeinschaft die Ziele, die sie in Afghanistan ver-folgt – ziviler Wiederaufbau, Verhinderung von Kriegund Vermeidung von terroristischen Anschlägen, undzwar auch bei uns in Europa –, erreichen kann. Das istder Sinn. Dafür ist auch die Rapid Reaction Force not-wendig. Wenn wir diese Entscheidung treffen müssen,wird uns die Regierung rechtzeitig informieren.Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wirdie Erfolge, die wir im Norden von Afghanistan zu ver-zeichnen haben, in der Debatte nicht untergehen lassendürfen. Millionen von Flüchtlingen, die auf die Entwick-lung in ihrem Land vertrauen, sind nach Afghanistan zu-rückgekehrt, weil sie der internationalen Gemeinschaftund zunehmend auch den afghanischen Streitkräften, derafghanischen Polizei und den afghanischen AutoritätenVertrauen schenken. Diese Entwicklung kann sich nichtnur sehen lassen, sondern sie kann und muss auch ausge-sprochen werden.
Dass da natürlich – um es einfach auszurücken – nocheine Menge zu tun ist, wissen wir alle. Aber das gehtnicht in der Art und Weise, dass wir aus Afghanistan ab-ziehen, sondern das geht nur in der Art und Weise, dasswir mit der vernetzten Sicherheitsstrategie, die wir inDeutschland mit Herrn Jung, Herrn Steinmeier, der Bun-deskanzlerin, Frau Wieczorek-Zeul und mit der Mehr-heit dieses Hauses entwickelt haben, auch mit den not-wendigen militärischen Entscheidungen, wenn sie dennanstehen, Afghanistan eine Zukunft geben. Wir wartenauf die Erkenntnisse, die unsere Regierungsvertreter ausden Truppenstellerkonferenzen in der NATO mitbringen.Dann werden sie uns mit ihrer verantwortungsbewusstenEntscheidung an ihrer Seite sehen.
Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich möchte die Kolleginnen und Kollegen aus demkanadischen Parlament sehr herzlich begrüßen. Kanadahat eine sehr lange Tradition der Teilnahme an Friedens-missionen im Auftrag der Vereinten Nationen. Als wirkürzlich in Ottawa waren und dort die AusstellungAfghanistan: A Glimpse of War gesehen haben, habenwir erfahren und empfunden, wie die kanadische Gesell-schaft mit dem Afghanistan-Engagement, das für ihreSoldaten tatsächlich auch ein Kriegseinsatz ist, umgehtund um den richtigen Weg ringt.Kollege Lafontaine, die Vorfälle, die Sie aus demStern zitieren, sind, wenn sie tatsächlich so geschehensind, schändlich. Ich denke, das ist hier die einmütigeBewertung.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14637
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Winfried NachtweiEs ist versucht worden, weitere Hinweise dafür zu be-kommen, ob diese Meldungen der Wahrheit entsprechen.Bisher haben wir keine gefunden. Aber die Bewertungist völlig eindeutig.
Unabhängig von dem, was Sie gerade genannt haben:Kollege Lafontaine, vielleicht haben Sie Anfang Dezem-ber 2007 die Umfrage von ABC, BBC und ARD zurKenntnis genommen, die überraschende Ergebnissebrachte. Die Leute, die mit dieser Umfrage zu tun haben,sind bekannt, und es handelt sich hier mit Sicherheit umeine seriöse Umfrage. Das Ergebnis war, dass die Bevöl-kerung gegenüber dem internationalen Engagement undauch gegenüber ISAF viel positiver eingestellt ist, alswir das hierzulande wahrnehmen. Zwar ist – das mussman ganz nüchtern dazusagen – die Tendenz bröckelnd,aber die Mehrheit ist eindeutig dafür. Vielleicht sollte Ih-nen das etwas zu denken geben.
Unabhängig von der Auseinandersetzung mit Ihnenfinde ich, dass die Fragen und Befürchtungen zum Ein-satz der Quick Reaction Force völlig berechtigt sind. Ge-raten wir in eine Eskalation hinein? Geraten wir in einenKriegssumpf hinein? Diese Fragen treiben sicherlich alleum. Man muss auch angesichts der Tatsache misstrau-isch sein, dass gewichtige Stimmen darauf drängen, dassdie Quick Reaction Force ausdrücklich an Kriegseinsät-zen teilnimmt.Worum geht es bei dieser „Schnellen Reaktions-truppe“? Was ist zu verantworten und was nicht? Um esklar zu sagen: Es geht um eine relativ kleine militärischeReserve und Verstärkungseinheit für bestimmte Not-situationen, wenn die sowieso schon sehr schwachenKräfte der Wiederaufbauteams, die in einem riesigen,komplizierten Raum verteilt sind, nicht mehr klarkom-men. Kollege Beck hat vorhin schon Beispiele aus demletzten Jahr dafür genannt, welche Einsatzformen daswaren. Diese bewegen sich vollkommen im Rahmen derbisherigen Erfahrungen der ISAF im Norden des Lan-des. Sie gestatten, dass ich regional differenziere, weil esin anderen Regionen, mit denen auch unsere kanadi-schen Freunde zu tun haben, ganz krass anders aussieht.Darüber kann man nicht hinwegsehen.Allerdings – auch das ist völlig richtig – ist dieseQuick Reaction Force Ende Oktober, Anfang Novemberletzten Jahres zum ersten Mal in ein Gefecht gekommenund hatte einen ausdrücklichen Kampfeinsatz. Das kannman nicht verniedlichen.Zusammengefasst: Diese Truppe liegt mit ihrer Auf-gabenstellung noch im Rahmen des bisherigen ISAF-Nord-Mandates; das ist eindeutig. Allerdings sind be-stimmte Punkte klar zu garantieren. Erstens darf es nureine Unterstellung unter den Commander Nord geben.Zweitens ist es – wie es im Mandat festgelegt ist – einEinsatz im Norden. Drittens ist die Aufgabenstellungnicht so, wie sie von manchen fahrlässig beschriebenwurde, dass es jetzt um offensive Terroristenjagd oderoffensive Aufstandsbekämpfung gehe. Nein, es gehtweiterhin um Stabilisierungsunterstützung, allerdingsmit härteren militärischen Anforderungen, und es istauch riskanter; da gibt es kein Vertun.Wir sind hier auf dem Sicherheitssektor. Hier geht esum schnelle Reaktion. Gestatten Sie, dass ich noch zu ei-nem anderen Punkt komme, nämlich zu Yolo II. DieserEinsatz in Nordwest-Afghanistan war notwendig, weildie Polizeikräfte vor Ort äußerst schwach waren. Wiesieht es nun – Herr Staatssekretär Bergner, das geht jetztauch sehr stark an Ihre Adresse – mit dem Polizeiaufbauaus, von dem wir alle wissen, dass er für nachhaltigeSicherheit in Afghanistan von strategischer Bedeutungist?
Wir haben im letzten August, September und Oktoberfestgestellt, dass die EUPOL-Mission der EuropäischenUnion nicht in die Pötte kam, dass sie viel wenigerschaffte als das deutsche Polizeiprojekt. Wie sieht eszurzeit aus? Im März sollen dort 195 Polizisten sein.Zurzeit sind dort 30 internationale Polizisten. Wie siehtes mit den deutschen Polizisten aus? Bis zum letztenJahr waren über 40 da. Jetzt sind gerade noch 15 dort.Das bedeutet nichts anderes als: Hier wird die Kapitula-tion der Europäischen Union und der BundesrepublikDeutschland im entscheidenden Bereich des Polizeiauf-baus vorbereitet.
Ich muss der Bundesregierung sagen: Ich bin inzwischenausgesprochen zornig darüber, wie die Beschönigungder Situation in diesem Bereich aus den Reihen der Bun-desregierung bis gestern – heute haben Sie die Chance,das zu ändern – fortgesetzt wurde.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss; aber ich bin zornig.
Das ändert nichts daran, dass Sie Ihre Redezeit über-
schritten haben.
Worauf das so hinausläuft: Wir verlieren das beson-dere Vertrauen der Afghanen. Wir machen uns in derStaatengemeinschaft lächerlich. Jetzt tut das not, was dieKanadier und die Briten machen, was die Amerikanerzweifach machen: endlich einmal eine unabhängigeÜberprüfung des Afghanistan-Engagements, um klar zu
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Winfried Nachtweisehen, wie es aussieht, und nicht nur immer zu erzählen,was Schönes gemacht wird. Wie sieht es aus? Waskommt dabei heraus? Wo müssen wir umsteuern? Bitte,die Entscheidung drängt!
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Schmidbauer
für die Fraktion CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir sind im siebten Jahr unserer Anstren-
gungen, Afghanistan zu helfen und nicht mehr zuzulas-
sen, dass es Terror gibt und dass es von diesem Gebiet
aus unter einem terroristischen Regime in allen Ländern
dieser Erde zu Anschlägen kommt, die, lieber Herr La-
fontaine, ungeheuer viele unschuldige Opfer gefordert
haben.
Auch Menschen, die in keinem Zusammenhang mit den
Auseinandersetzungen in Afghanistan standen, wurden
Opfer dieses Terrors, der sich über viele Jahrzehnte auf-
gebaut hat. Alle Anschläge in unseren Ländern haben ih-
ren Ausgangspunkt irgendwo in Afghanistan. Schon dies
ist Grund dafür, sich zu engagieren, Terror in der Welt zu
verhindern.
Was Sie gemacht haben, war sehr einfach.
– Da täuschen Sie sich gewaltig. Denken Sie auch an die
Zehntausende Toten in Afghanistan selbst. Sportplätze
wurden als Hinrichtungsstätten genutzt. Denken Sie da-
ran, welche Chancen Kinder hatten, in die Schule zu ge-
hen, und welche Chancen Frauen hatten, in diesem Land
an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Lieber
Herr Lafontaine, Sie müssten aus Ihrer Erfahrung, die
Sie teilweise auch in Regierungsverantwortung gemacht
haben,
sehr genau wissen: Es gibt nichts Verbrecherischeres auf
dieser Welt als das, was in der Vergangenheit in Afgha-
nistan passiert ist. Und dann sollen die Bürger und soll
die Bundesrepublik Deutschland etwa wegsehen? Soll
die Solidarität aller Demokraten, zu der es nach den An-
schlägen in den Vereinigten Staaten gekommen ist, be-
endet werden? Nein, ich denke, dass wir gut daran tun,
unser Engagement fortzusetzen.
Mit Ihnen und Ihren Genossen werden wir diese De-
batten immer wieder führen müssen.
Dass sie ständig vor Landtagswahlen stattfinden, ist al-
lerdings äußerst billig.
Glauben Sie bloß nicht, dass die Hessen darauf herein-
fallen, wie Sie hier auftreten!
Glauben Sie nicht, dass es Hessen gibt, die so primitiv
sind, dass sie Ihre Manöver nicht durchschauen und ent-
sprechend reagieren!
Von den Argumenten, die Sie anführen, habe ich per-
sönlich die Nase voll.
Was wollen Sie eigentlich erreichen? Sie wollen, dass
wir Pazifismus praktizieren, unser Engagement beenden
und uns aus Afghanistan zurückziehen; denn Sie mei-
nen, dann kehrt dort Frieden ein.
Würden wir so vorgehen, würde sich der Terror überall
ausbreiten, und zwar noch viel schlimmer als bisher. Das
würden Sie in Kauf nehmen.
Zu dem, was Sie im Hinblick auf den bayerischen
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Natür-lich hat er recht. Natürlich ist es möglich, dass sich derTerror gegen diejenigen, die sich engagieren, wendet.Man muss damit rechnen, selbst im Visier dieser Verbre-cher zu sein. Sie wollen nämlich nicht, dass wir uns en-gagieren. Genau deshalb möchte ich, dass wir unserEngagement fortsetzen.Wir müssen die Prinzipien, die wir selbst entwickelthaben, einhalten. Dabei geht es vor allem um die Kon-zentration unseres Engagements im Norden des Landes.Täglich können wir dort viele positive Meldungen ver-nehmen. Unser Engagement wird positiv aufgenommen,und unsere Soldaten tun gemeinsam mit der Bevölke-rung alles, um dieses Land aufzubauen. Richtig ist aberauch, dass uns aus dem Süden des Landes und aus denangrenzenden Provinzen Pakistans jeden Tag negativeMeldungen erreichen.Tatsache ist aber – das sage ich auch an die anwesen-den Gäste gerichtet –: Wir müssen uns solidarisch ver-halten.
Ich glaube nicht, dass wir andere Nationen einfach au-ßen vor lassen können und bestimmen sollten: Die einenmachen die Arbeit im Süden, die anderen machen dieArbeit im Norden. Hier steht die Solidarität auf demPrüfstand. Auch die NATO steht auf dem Prüfstand. Wir
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Bernd Schmidbauermüssen uns im Norden und im Süden gemeinsamengagieren.
– Das ist überhaupt kein Problem. Allerdings ist esschwierig, Ihnen das klarzumachen; das versuche ichaber schon gar nicht mehr.Ich will noch einige Bemerkungen zu den Ausführun-gen von Herrn Nachtwei machen. Lieber Herr Nachtwei,mit dem, was Sie zu EUPOL gesagt haben, haben Sievöllig recht. Ich rede mir in den letzten Monaten denMund fusselig, um darauf hinzuweisen, was sich im Be-reich von EUPOL abspielt.
Leider ist hier nur sehr wenig passiert. Es muss aller-dings positiv hervorgehoben werden, dass unsere Solda-ten derzeit verstärkt mit der Ausbildung von Polizistenbeschäftigt sind. Das ist nicht ihre primäre Aufgabe, aberhier tut sich wenigstens etwas. Das möchte ich an dieserStelle gerne positiv herausstellen.
Ich sage ganz deutlich: Wir setzen den Schwerpunktunseres Engagements im Norden Afghanistans. Wenn esum Nothilfe geht, sind wir aber auch im Süden des Lan-des vertreten. Gerade in den jüngsten Tagen ist wiedereiniges zu tun. Wir müssen unsere Solidarität unter Be-weis stellen. Im Norden des Landes sind wir im Rahmenziviler und militärischer Missionen vertreten. Wir verfü-gen über ein Aufgabenprofil, an das wir uns halten. Er-folg wird uns aber nur dann zuteil – das wiederhole ich;denn das muss immer wieder betont werden –, wenn wiruns im Rahmen der NATO insgesamt solidarisch verhal-ten.Allerdings gibt es Indiskretionen. Von Frau Hombur-ger wird uns vorgeworfen, es gebe nicht genug Informa-tionen. Frau Kollegin, Sie haben sich toll aufgeregt. Dashat aber nur zur Folge, dass der Verteidigungsministerseine Anstrengungen zur Information an der richtigenStelle fortsetzen wird.
Es gibt auch solche Indiskretionen, die ich nicht ver-stehe und die vielen erneut einen Vorwand liefern kön-nen, das gesamte Engagement infrage zu stellen. Dawird polemisiert, da wird diskriminiert, und da wird ausBüchern zitiert, die derzeit auf dem Markt sind. Wennman genau hinsieht, stellt man allerdings fest, dass dieVerfasser dieser Bücher ihre Aussagen schon relativierthaben und an bestimmten Stellen Abstriche machen.Zum Beispiel wird argumentiert, OEF sei nicht durchdas Mandat gedeckt, und die Ausrüstung wird kritisiert.Selbst Bob Gates hat sich in den letzten Tagen zum Ein-satz im Süden Afghanistans geäußert. 48 Stunden späterhat er seine Aussage relativiert. Durch dieses Verhaltenträgt man dazu bei, dass die Öffentlichkeit immer weni-ger Sympathie für unser Engagement hat. Das ist natür-lich Absicht. Man möchte den Einsatz unserer Soldatenin der Öffentlichkeit diskreditieren.
Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Danke. Auch ich bin zornig, aber ich halte mich an
das, was Sie sagen.
Vielleicht ist es ein guter Hinweis, dieses Argument an-
zuführen.
Ich glaube, dass wir am 6. oder 7. Februar dieses Jah-
res die Entscheidung treffen werden, uns am Einsatz der
Quick Reaction Forces zu beteiligen. Warum eigentlich
nicht? Er dient der Sicherheit aller Soldaten. Dies dient
auch der Sicherheit in diesem Land; deswegen unter-
stütze ich das sehr. Soldaten in Afghanistan sind – das
will ich noch einmal sagen – keine Entwicklungshelfer;
aber sie garantieren die Sicherheit, ohne die Entwick-
lungshelfer nicht tätig sein können. Deshalb müssen wir
unseren Soldaten für ihren Einsatz danken. Ohne die
Hilfe unserer Soldaten gibt es keinen Frieden in diesem
Land.
Herr Kollege, mit oder ohne Zorn: Die Redezeit ist
weit überschritten.
Frau Präsidentin, ich beuge mich. – Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Gregor Gysi
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieFDP, die Union und die SPD haben uns vorgeworfen,hier Wahlkampf zu führen. Es ist interessant, darübernachzudenken. Man müsste zunächst einmal definieren,was Wahlkampf ist. Für mich ist Wahlkampf der Ver-such, Menschen von meinen politischen Auffassungenzu überzeugen. Das mache ich als Politiker die ganzeZeit; so gesehen bin ich immer im Wahlkampf, ist dasfür mich nichts Besonderes.
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Dr. Gregor GysiAber es gibt fairen Wahlkampf und es gibt unfairenWahlkampf, und da muss man unterscheiden. Nichts vondem, worum es hier geht, hat die Linke entschieden; dasalles haben andere entschieden. Deshalb stellen wir daszur Diskussion.Wie man auf Welt Online lesen kann, rückt lautNATO der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr offenbarimmer näher. Das bringt den Bundesverteidigungsminis-ter in Nöte, sodass er diesen Einsatz erst nach der Hes-senwahl verkünden will. Da Sie mir das nicht glaubenwerden, zitiere ich den SPD-Verteidigungspolitiker JörnThießen, der, wie es in Bild steht, „vermutet, dass dieBekanntgabe des neuen Einsatzes bewusst nach denLandtagswahlen erfolge“. Ein ganz übler Wahlkampf istdas, unehrlich ist das! Sagen Sie so etwas vorher!
Herr Schmidbauer, Sie haben gesagt, kein Hessewerde auf uns hereinfallen. Ich sage Ihnen: Den mieses-ten Wahlkampf führt nun wirklich Herr Koch. Ichmöchte, dass von der Hessenwahl ein Signal ausgeht:dass man in Deutschland mit ausländerfeindlichen Paro-len keine Wahlen mehr gewinnt.
Oskar Lafontaine hat über einen Bericht des Stern ge-sprochen. Als Sie sich in diesem Zusammenhang aufreg-ten, dachte ich, Sie wollten das dementieren. Das woll-ten Sie gar nicht. Sie wollten nur sagen, dass dieBundeswehr nicht beteiligt war und Sie dagegen sind. Erhat gar nicht behauptet, dass Sie dafür sind; ich glaube,es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir alle dagegensind. Aber wir werden doch noch sagen dürfen, was inAfghanistan passiert, woran man sich beteiligt, wennman Truppen dorthin schickt!
Noch etwas Interessantes: Norwegen zieht seineschnelle Eingreiftruppe ab, weil die politischen Kräftesagen: Das ist der falsche Weg.
Und dann meldet sich Deutschland und bietet an, ent-sprechende Truppen zu schicken!
Sie reden hier die ganze Zeit davon, dass es darumgeht, Afghanistan aufzubauen. Eine schnelle Eingreif-truppe hat mit der Ausbildung der Polizei, mit der Aus-bildung der Armee, mit Mädchen, die zur Schule gehenkönnen, nichts zu tun.
Die Bundeswehr ist jetzt seit fast sieben Jahren dort.Was hat sie in den sieben Jahren gemacht? Es gibt keinenennenswerte Polizei, es gibt keine nennenswerte Ar-mee, das Bildungswesen ist rückständig.
Aber Sie haben immer noch die Illusion, mittels KriegTerror bekämpfen zu können.
Nun zum Inhalt; was uns vorgeworfen wird, ist jaschwerwiegend. Der Chef der norwegischen Eingreif-truppe hat gesagt, die Soldaten seien darauf vorzuberei-ten, Krieg zu führen und das eigene Leben zu verlieren.Das sagt Rune Solberg, nicht wir. Was meint Bundes-wehrgeneral Kasdorf dazu? In der FAZ vom 17. Januarsteht zu lesen, wie er gefragt wurde:Ist das sogenannte Targeting,– das muss man übersetzen –gezieltes Ausschalten gegnerischer Kämpfer, einVorgehen der Isaf wie von OEF?Seine Antwort:Das gibt es in beiden Operationen. Das ist Teil desTargeting, das ist Teil der Operationsführung.Das ist gezieltes Töten, und das hat mit der Ausbildungvon Mädchen nichts zu tun, wenn ich das einmal sagendarf.
Herr Schmidbauer, Sie haben behauptet, dass manmittels Krieg Terror bekämpfen kann. Terror verurteilenwir alle. Doch ist dieser Weg der Bekämpfung des Ter-rors wirklich der richtige? Denken Sie einmal darübernach: Wir sind in einer Spirale der Gewalt. Wenn Sieeine Bombe werfen, wenn Sie gezieltes Töten und an-dere Dinge verrichten, treffen Sie immer auch Unschul-dige. Das gilt auch in Afghanistan. Sie wissen, dass Siezum Beispiel Unbeteiligte und Unschuldige in Hoch-zeitsgesellschaften und Geburtengesellschaften getrof-fen haben. Diese haben Freunde und Angehörige. Dortentsteht Hass. Irgendein reicher Bin Laden nutzt danndiesen Hass und rekrutiert Terroristen – übrigens auchSelbstmordterroristen. Er macht das ja nicht selber, son-dern findet immer andere. Sie müssen meine Wut garnicht schüren; die ist schon da. Wir antworten dann wie-der mit Bomben. Dann entstehen wieder neuer Hass undneuer Terror.Wenn die Industriegesellschaften nicht endlich Ver-nunft zeigen und aus der Spirale der Gewalt herausge-hen, dann gibt es keine Lösung.
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Dr. Gregor GysiDeshalb sagen wir: Die Bundeswehr muss aus Afghanis-tan zurückgezogen werden.
Nun hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Herr Gysi und Herr Lafontaine hätten wirklich ei-nen Oscar für diese reife schauspielerische Leistung, diesie hier abgeliefert haben, verdient. Sie war wirklich sen-sationell.
Der Inhalt Ihres Stückes ist aber wirklich so billig, dassich fast versucht bin, in diesem Zusammenhang von ei-ner Schmierenkomödie zu reden.
Wir führen heute deshalb eine überflüssige Debatte,
weil wir uns im Rahmen des im Oktober sehr sorgsamberatenen Mandates bewegen. Die Anzahl der Soldaten,die Aufgaben und die nördliche Provinz – all das habenwir sorgsam abgewogen und im Oktober diskutiert undentschieden. Deshalb ist diese Debatte heute wirklichüberflüssig.Wir bewegen uns im Rahmen des Mandates der Ver-einten Nationen. Sie versuchen immer, das Völkerrechtfür sich zu reklamieren. Sie sollten sich das Kapitel 7 derUN-Charta einmal sorgsam durchlesen. Dann würdenSie nämlich feststellen, dass alle Mitglieder der Verein-ten Nationen aufgefordert sind, Beistand zu leisten,wenn die Vereinten Nationen rufen. Sie koppeln sich vondieser ethischen und moralischen Verpflichtung leiderdramatisch ab.
Es wurde hier auch deutlich, dass die Aufgaben, diediese schnelle Eingreiftruppe hat, nicht mit einem Wortzu fassen sind.
Es sind vielfältige Aufgaben. Klar ist: Für die deutschenSoldaten wäre nur ein Modul neu, nämlich, dass sie aucheine Sicherheitsvorsorge betreiben. Was läge denn näher,als dass die Deutschen im Norden Sicherheitsvorsorgefür die Deutschen betreiben? Ohne dieses Modul wäreder gesamte Einsatz nicht verantwortbar.Sie sagen hier die Unwahrheit, wenn Sie behaupten,die Norweger zögen ab, weil sie das Risiko nicht mehreingehen wollen. Die Norweger leisten in Afghanistanweiterhin sehr schwierige und ernsthafte Beiträge. Nacheiner seriösen einjährigen Vorankündigung leisten siedieses Modul nun nicht mehr, weil ihre kleine Armee indiesem Bereich keine Durchhaltefähigkeit für viele Jahrehat. Dies und nichts anderes ist die Wahrheit.
Zu dieser Sicherheitsvorsorge gehört natürlich auch– das gibt die UNO vor –, dass die staatliche Ordnung inAfghanistan im Zweifelsfall mit militärischen Mittelndurchgesetzt werden muss. Deshalb sind auch Soldatenund nicht nur technische Hilfswerke da. Wir brauchenbeides; denn beides ist wichtig. Dies ist aber die Auf-gabe der Soldaten. Das ist auch verantwortbar und imÜbrigen nicht gefährlicher als die Aufgaben, die dasPRT auf der Straße oder bei den Patrouillen ansonstenleistet. Die Norweger haben in diesem Bereich in denvergangenen Jahren glücklicherweise keine Verluste ge-habt.Nein, wir müssen das einmal vor dem Hintergrundvon Schuld und Verantwortung diskutieren, Kolleginnenund Kollegen von den Linken. Wir wissen, dass wir einegroße Verantwortung übernehmen.
Entsprechend sorgsam beraten wir das auch in meinerPartei. Wir machen es uns nicht leicht. Wir machen unsdiese Gedanken, und wir machen es uns auch internwirklich sehr schwer.Das Gegenteil von Verantwortung übernehmen istverantwortungsloses Handeln. Wir wissen, dass man ineinem solchen Einsatz möglicherweise auch Schuld aufsich lädt. Eines ist aber auch klar: Wer in der Welt helfenkann und wissentlich zuschaut, wie ein Volk unterdrücktund ermordet wird, der lädt auf jeden Fall Schuld aufsich. Diesen Zusammenhang müssen sich die Linkenwirklich einmal klarmachen.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie klat-schen, wenn Herr Schmidbauer von Pazifismus spricht.In unserer Gesellschaft muss Pazifismus sicherlich Platzhaben. Auch in meiner Partei, der Sozialdemokratie,sind Pazifisten willkommen. Aber Afghanistan ist mög-licherweise kein besonders geeigneter Ort, um den Men-schen mit pazifistischen Ideen zu helfen. Herr Lafon-taine, in Wirklichkeit bedienen Sie eine ganz andere,eine rechte, national denkende Klientel, wenn Sie denMenschen einreden, es sei gut, wenn sich Deutschlandzuerst um sich selber kümmere und wenn es die Schottendicht mache. Sie wollen keine Verantwortung in der Welt
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Rainer Arnoldübernehmen. Es ist schlimm, dass Sie als sogenannterLinker dieses Lager ansprechen.
Klar ist: Folgten der Deutsche Bundestag und 37 Na-tionen – eine ist auf der Zuschauertribüne vertreten – Ih-rem Ratschlag, fielen die Menschen in Afghanistan in ei-nen Steinzeitislamismus und eine Welt zurück, in derDrogenkartelle allein das Sagen hätten. Sie sind damitvöllig isoliert. Wir sind auf einem schwierigen Weg.Aber wir werden ihn in aller Sorgfalt weitergehen, bis dieMenschen in Afghanistan selbst in der Lage sind – unddarum geht es –, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.Dabei helfen ihnen die deutschen Soldaten jeden Tag,und zwar nicht als Haudraufs, sondern verantwortungs-voll, vorsichtig und mit angemessenen Mitteln. Dafürsind wir sehr dankbar.
Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Von Skandinavien kann man eine Menge lernen, zum
Bespiel wie eine Volkswirtschaft so organisiert wird,
dass bei den Menschen genügend für ein soziales Leben
ankommt. Man kann aber auch lernen, wie in der Bevöl-
kerung geführte Debatten von der Politik aufgenommen
und die Anregungen in die Praxis umgesetzt werden.
Aus dem Unmut über das Missverhältnis zwischen mili-
tärischen Ausgaben und ziviler Aufbauhilfe hat die nor-
wegische Regierung Konsequenzen gezogen: Die Mittel
für die Aufbauhilfe wurden gesteigert, die militärischen
Kosten wurden gesenkt. Diese deutliche Akzentver-
schiebung führt dazu, dass die norwegische schnelle
Eingreiftruppe ab Mitte 2008 dem deutschen Komman-
deur des Regionalkommandos Nord nicht mehr als
Kampftruppe zur Verfügung stehen wird. Sie wird statt-
dessen zum besseren Schutz der eigenen Aufbauteams
eingesetzt. Angesichts der kriegstreiberischen Rhetorik
und des rücksichtslosen Vorgehens anderer Verbündeter
ist dieser Schritt geradezu ein Akt der Vernunft.
In Deutschland hingegen gehen die Uhren offensicht-
lich völlig anders. Sie wollen dem Beispiel von gleich
hohen Ausgaben für zivile Hilfe und militärischen Ein-
satz nicht folgen. Bundesregierung und parlamentarische
Mehrheit scheren sich auch keinen Deut darum, dass die
überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen Aus-
landseinsätze der Bundeswehr ist, wie eine Allensbach-
Umfrage vom Oktober 2007 zeigt. Offenkundig verfängt
die Propaganda nicht mehr, den Krieg in Afghanistan als
eine Art Entwicklungshilfe in Uniform zu beschönigen.
Die Regierung in einer funktionierenden Demokratie
muss doch Konsequenzen daraus ziehen, wenn ihr Sou-
verän, das Volk, in den fundamentalen Fragen von Krieg
und Frieden nicht mehr hinter ihr steht.
Sie hingegen haben das Politische verlassen und sich
auf die Ebene der militärischen Logik begeben. Das ist
jedoch nicht Ihre Aufgabe. Mit der leider absehbaren
Entscheidung, das norwegische Kontingent durch eine
deutsche schnelle Eingreiftruppe zu ersetzen, geben Sie
einem seit Monaten medial aufgebauten Druck nach, der
ausschließlich mit militärischen Argumenten unterlegt
wurde, einem Druck, an dem sich auch Ihre eigenen Ge-
nerale vor Ort und der Vorsitzende des Bundeswehrver-
bandes beteiligt haben. Das norwegische Beispiel zeigt
aber, auf welchem Irrweg Sie voranschreiten. Zug um
Zug lassen Sie zu, dass Deutschland immer tiefer in ei-
nen neokolonialen Krieg verstrickt wird, der den Wider-
stand der Afghanen gegen Besatzung und Besetzung
brechen soll.
Die Zahl der Anschläge im Winter 2007/2008 ist si-
gnifikant höher als ein Jahr zuvor. Was dies für den
Sommer bedeuten kann, kann sich jeder ausrechnen.
Wollen Sie dann wiederum militärisch eskalieren? Gene-
ral Kasdorf, der Chef des ISAF-Stabes, hat am 17. Ja-
nuar in einem FAZ-Interview schon Kampfpanzer ins
Gespräch gebracht.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Hören Sie auf, sich
von Generälen politisch beraten zu lassen!
Wohin das führt, hat schon Hindenburg gezeigt und zeigt
heute der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militäraus-
schusses Naumann mit seinen hanebüchenen Forderun-
gen nach einer nuklearen Ersteinsatzdoktrin für die
NATO. Stimmen Sie stattdessen dem Antrag der Linken
zu, damit Sie nicht ebenso von Ihren Sünden eingeholt
werden wie jetzt im Fall Kosovo!
Danke schön.
Der Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Thomas
Kossendey hat jetzt das Wort.
T
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsiden-tin! Ich bedanke mich im Namen der Bundesregierungfür die intensive Anteilnahme, die das Parlament an dermöglichen Entsendung einer Quick Reaction Force nachAfghanistan nimmt. Ich will allerdings neben den vielenkonstruktiven Beiträgen, die es hier gegeben hat, sehrdeutlich sagen: Das, was die Kollegen Lafontaine undGysi hier vorgetragen haben, gehört einer Art Demago-gie an, die wir in Deutschland eigentlich überwundenglaubten.
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Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey
Über diese Einheit, die möglicherweise in Afghanis-tan ihren Dienst tun soll, ist hier einiges gesagt worden,was nicht ganz richtig war. Deswegen lassen Sie michnoch einmal einige Fakten zusammentragen:Im November hat unser Generalinspekteur die Gene-ralinspekteure der anderen im Norden Afghanistans ver-tretenen Nationen zu einer Besprechung über die Frageeingeladen, wer nach dem Ausscheiden der Norwegerdie Quick Reaction Force übernimmt. Daraufhin hat dieNATO eine Umfrage unter den zehn beteiligten Natio-nen veranstaltet, die Ende Januar beendet sein soll. Bisdahin sollen mögliche Kontingente für die Nachfolge derNorweger genannt werden. Die Ergebnisse werden dannausgewertet und am 7./8. Februar in Vilnius zu einerkonkreten Entscheidung gerinnen.
– Lieber Herr Gehrcke, halten Sie doch die NATO nichtfür so kleinkariert, dass sie auf deutsche LandtagswahlenRücksicht nimmt! Ich glaube, da gibt es andere Krite-rien.
Ich denke, wenn die Entscheidung ansteht, wird dasMinisterium die entsprechenden Ausschüsse und dasParlament unterrichten. Dann können wir gerne in Ruheweiter darüber diskutieren.Lassen Sie mich aber zu der Art und Weise, wie dieQuick Reaction Force arbeiten soll, noch einige Stich-worte sagen; die Erfahrungen der Norweger zeigen, wasdort zu tun ist. Die Truppe der Norweger war in den letz-ten zwei Jahren insgesamt 26-mal im Einsatz, davonzweimal in Alarmeinsätzen. Im Wesentlichen ging es umPatrouilleneinsätze, Absicherungsoperationen, den Ein-satz gegen gewaltbereite Menschenmengen, vor denenMenschen geschützt werden sollten, auch um Evakuie-rungsaktionen, Zugriffs- und Durchsuchungsoperationen,um offensive Operationen gegen gegnerische Kräfte;außerdem waren sie als taktische Reserve im NordenAfghanistans eingesetzt.Ich glaube, diese Truppe ist wichtig, weil dadurch derAnsatz, den wir mit unseren über 3 000 Soldaten inAfghanistan verfolgen, unterstützt wird. Das Arbeitenunserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch der zivilenHilfsorganisationen wird dadurch sicherer. Ich denke,deswegen ist es auch wichtig, dass sie gemeinsam mitden afghanischen Sicherheitskräften, mit der afghani-schen Armee, die übrigens mittlerweile durch gute Aus-bildung zur Hälfte aufgebaut worden ist, und mit den af-ghanischen Polizeikräften, die schon zu einem gerütteltMaß existent sind und ihre Aufgabe wahrnehmen, ope-riert.Dies bedeutet auch keine neue Qualität unserer Ar-beit. Das ist zwar eine neue Aufgabe – das sollte mansehr deutlich sagen –; aber diese Eingreiftruppe warschon immer eine wichtige Teilkomponente der Arbeitder Soldatinnen und Soldaten im Norden. Sie wurde bis-lang von den Norwegern gestellt und unterstand demKommando des deutschen Generals. Das heißt, wir hat-ten auch bislang schon für die Quick Reaction Force derNorweger nicht nur eine politische, sondern auch einemilitärische Verantwortung.Wir brauchten diese Soldaten dort nicht, wenn esnicht zumindest ein in Teilen feindliches Umfeld gäbe.Was einige glauben, was unsere Soldaten dort tun könn-ten – in Oliv Brunnen bohren oder Schulen bauen, sozu-sagen als Ersatz für das Technische Hilfswerk –, hat Ih-nen diese Regierung nie vorgegaukelt.
Wir haben immer wieder sehr deutlich gemacht, dass imRahmen der ISAF-Operationen Soldaten helfen, aberauch kämpfen können müssen, um den Aufbau dort vo-ranzubringen. Sie müssen kämpfen können, wenn es da-rauf ankommt; das hat Minister Jung in diesem Hausemehrfach gesagt.Frau Kollegin Homburger hat die Ausrüstung ange-sprochen. Ich möchte Sie, Frau Kollegin Homburger,darauf hinweisen, dass gerade in den letzten zwei Jahrendie Ausrüstung in den Einheiten, die in Afghanistan sta-tioniert sind, massiv verbessert worden ist. Wir haben ei-nen Anteil an geschützten Fahrzeugen, der so hoch istwie noch nie. Mit Blick auf den Bericht von GeneralWarnecke sollten Sie sich vielleicht das in Erinnerungrufen, was gestern im Ausschuss gesagt wurde. GeneralWarnecke hat an keiner Stelle seines Berichtes die Mei-nung geäußert, dass die Ausrüstung seiner Einheiten un-zureichend sei. Er hat Optimierungsbedarf aufgezeigt.Wir erwarten von unseren Kommandeuren, dass sie inihren Berichten die Situation ehrlich und ungeschöntdarstellen.Ich komme nun zu dem vom Stern abgedrucktenBuch, das hier erwähnt worden ist. Das Ministerium hatjedes einzelne Kapitel daraufhin durchgesehen, was so-wohl für deutsche wie auch für NATO-Soldaten zutref-fen könnte. Wir haben bei keinem dieser Vorwürfe vonMenschenrechtsverletzungen einen präzisen Anhalts-punkt dafür gefunden, dass sie zutreffen könnten. DasBeispiel mit den Äpfeln haben wir ausführlich bespro-chen. Wir haben bei unseren Verbänden und bei allen an-deren NATO-Verbänden nachgeforscht, ob es irgendje-manden gibt, der davon Kenntnis hat. Es hat sichniemand gemeldet. Ich muss Sie fragen: Wie glaubwür-dig ist eigentlich ein Zeuge, der fünf Jahre mit diesemschrecklichen Geheimnis lebt, um es dann – wahrschein-lich gegen Geld – einer Illustrierten zu verkaufen? Siesollten bei der Nennung von Zeugen etwas vorsichtigersein.
Der Kollege Gysi hat wieder einmal gefragt: Was hatdas, was wir als QRF bezeichnen, mit den Rechten vonFrauen, mit dem Bau von Schulen usw. zu tun? Sehr
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Parl. Staatssekretär Thomas Kossendeyviel, Herr Kollege Gysi. Denn die Frauen könnten heutenicht frei in Afghanistan leben, wenn es dort nicht dieISAF-Truppe gäbe.
Die Schulen würden nicht wieder aufgebaut, wenn es dieTruppe dort nicht gäbe. Es wären dort auch keine8 Millionen Schülerinnen und Schüler in der Lage, in dieSchule zu gehen, wenn wir dort nicht wären.
Wir werden an unserem Konzept festhalten. Es lassensich für unsere Aufgabe vier Stränge nennen: Wir wer-den schützen, helfen, vermitteln, und wir werden da, woes notwendig ist, auch kämpfen. Das ist ein Auftrag, denunsere Soldaten dort schon haben. Wir werden auch inZukunft so handeln, wie es der Deutsche Bundestag be-schlossen hat. Egal um welche Aufgabe unserer Solda-ten es sich in Afghanistan handelt: Wir werden sie man-datskonform wahrnehmen.
– Herr Kollege Gehrcke, zu dem Thema „gezielte Tötun-gen“ wird der Kollege Ströbele eine sehr ausführlicheAntwort bekommen. Denn das, was Sie aus dem Inter-view von General Kasdorf herauslesen, nämlich dasssich unsere Soldatinnen und Soldaten dort möglicher-weise völkerrechtswidrig verhalten, trifft in keinem ein-zigen Fall zu. Dies wird auch in Zukunft nicht so sein,weil sich unsere Soldatinnen und Soldaten nach den ih-nen vorgegebenen Regeln richten. Darauf können Siesich verlassen.
Wir werden mandatskonform arbeiten. Wir werden inder Nordregion bleiben und die Obergrenze von3 500 Soldaten einhalten. Wenn irgendein Einsatz außer-halb des Nordens erforderlich sein sollte, werden wirdies so regeln, wie es durch das Mandat festgelegt wor-den ist. Wir werden darüber in den Ausschüssen berich-ten. Von der politischen Leitung wird dann entschieden.Daran brauchen Sie keinen Zweifel zu haben. Das habenwir in der Vergangenheit auch so gemacht.Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich bitte Sie alleganz herzlich um Ihre Unterstützung hinsichtlich einersachgerechten Information über den Afghanistan-Ein-satz vor allem mit Blick auf mögliche Veränderungen.Wir brauchen in Afghanistan einen langen Atem. UnsereMaßnahmen und die unserer Partner zur Ausbildung derafghanischen Streitkräfte und der afghanischen Polizeibeginnen langsam Früchte zu tragen. Was der KollegeNachtwei in Bezug auf die Polizeiausbildung angemahnthat, ist ein Kapitel – das wissen wir aus langen Beratun-gen im Ausschuss –, das uns natürlich nach wie vor be-schäftigt. Wir werden Ende März mit 195 Kräften beiEUPOL vertreten sein. Wir werden durch die Verstär-kung der Feldjäger die Arbeit effektiver gestalten. Es istuns aber auch klar, dass es dabei zu Rückschlägen kom-men kann.Wir werden uns davon nicht beirren lassen und wer-den unseren Beitrag im Rahmen eines vernetzten Ansat-zes auch in Zukunft einbringen. Wer heute den Abzugunserer Soldatinnen und Soldaten fordert, der gibt grü-nes Licht für die Rückkehr des Terrors. Das kann nichtunser Wille sein.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion ist Detlef Dzembritzki der
nächste Redner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren wahrlich nicht zum ersten Mal über dasThema Afghanistan. Einige in diesem Haus wollen aller-dings immer wieder den Eindruck erwecken, als wennwir über die Ereignisse, die im Augenblick in Afghanis-tan stattfinden, überrascht sein müssten.In einigen Reden ist gesagt worden, es gehe nur umWahlkampf. Herr Gysi, Sie haben diesen Gedanken hierzu Recht eingebracht. Auch ich finde es bedrückend, mitwelchen stilistischen Mitteln bei uns Wahlkampf geführtwird. Eines muss ich Ihnen allerdings sagen: Sie werfendem hessischen Ministerpräsidenten zu Recht vor, erversuche, mit Ausländerfeindlichkeit Wahlkampf zu ma-chen. Ich kann Sie nur dringend bitten, nun nicht denVersuch zu machen, mit Populismus, der noch überzoge-ner ist, gleichzuziehen und unsere Bevölkerung imWahlkampf mit völlig falschen Informationen zu beden-ken.
Herr Kollege Lafontaine, ich finde es wirklich ver-messen,
wenn Sie aus einem Buch zitieren, dessen Argumentenicht belastbar sind, und wenn Sie den Eindruck erwe-cken – dies versuchen Sie zumindest –, wir, das Parla-ment, könnten mit dem Tatbestand einverstanden sein,den Sie uns hier vorgeworfen haben. Dieser Versuch istin schlimmer Weise populistisch und reicht fast andemagogisches Verhalten heran.Herr Kollege Lafontaine, ich habe alle Ihre Zurufe beiden Reden zuvor ertragen müssen. Sie sagen, es gehe umMenschenleben. Natürlich geht es um Menschenleben:um das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, um dasLeben unserer Entwicklungshelferinnen und Entwick-lungshelfer und um das Leben der afghanischen Bevöl-kerung, um Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesensind.
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Detlef Dzembritzki
Bei dem furchtbaren Attentat in der Zuckerfabrik inBaghlan ist kein einziger Militär ums Leben gekommen.Es waren ausschließlich afghanische Zivilisten, Abge-ordnetenkolleginnen und -kollegen, die dort umgebrachtworden sind. Natürlich geht es um Menschenleben.Menschen zu schützen, das ist mit die Aufgabe, die un-sere Bundeswehr und ihre Partner dort haben.Es ist doch überhaupt nicht wegzudiskutieren, dassdie Lage in Afghanistan höchst schwierig und komplexist. Wenn das nicht der Fall wäre, wären wir nicht da. Ichhabe vorhin gehört, dass wir von der Koalition den Ein-druck erweckt hätten, bei der Bundeswehr handele essich um eine Art THW. Ich habe von dieser Stelle ausmehrfach darauf hingewiesen, dass wir zur Bewältigungder Aufgaben dort nicht das THW entsenden können,sondern dass wir auf das Militär, auf eine entsprechendeRobustheit, angewiesen sind, um uns die notwendigeZeit, die wir für den zivilen Aufbau brauchen, zu erar-beiten, der ohne diesen militärischen Schutz nicht denk-bar ist.
Kollege Nachtwei hat dankenswerterweise die Mei-nungsumfragen, die zu unterschiedlichen Zeiten zum ei-nen von kanadischer Seite und zum anderen von derARD angestellt worden sind, angesprochen. Ich fand dashochinteressant, weil wir hier ja häufig über ein Bild dis-kutieren, das zum Teil nur durch die veröffentlichte Mei-nung gezeichnet wird und nicht durch Präsenz im Land.Wir haben hier zum Beispiel gehört, dass die großeMehrheit der afghanischen Bevölkerung mit der militäri-schen Präsenz nicht nur einverstanden ist, sondern sieauch weiterhin wünscht. Das Empfinden ist dort dochnicht, dass wir als Besatzer oder als Kriegstreiber ge-kommen wären. Die Menschen wissen vielmehr, dasswir eine Schutzfunktion wahrnehmen. Sie wären bitterenttäuscht, wenn wir aus Afghanistan herausgingen.
Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, sich dieseUntersuchung anzuschauen, dann stellen Sie natürlichfest, dass die Hoffnungen nicht voll erfüllt worden sind.Sie sehen auch, dass es 2006 und 2007 minimale Enttäu-schungen gab. Sie werden aber feststellen, dass einebreite Mehrheit die Erwartung hat, dass die Solidaritätmit Afghanistan weitergeht; sie ist im Norden noch grö-ßer als im Süden. 60 Prozent der Menschen in ganzAfghanistan sind der vollen Überzeugung, dass wir dortunsere Arbeit leisten müssen. Schauen Sie sich zum Bei-spiel die Zustimmung zur Militärausbildung und zurPolizei an: Über 75 Prozent der Menschen in Afghanis-tan finden das richtig.Umso wichtiger ist es dann – ich unterstreiche diesauch von unserer Seite noch einmal –, die Effektivität imzivilen Tun enorm zu erhöhen. Dies gilt für die Polizei,die Justiz, die Bildung und die Gesundheit. All die Dis-kussionen, die wir hier im Augenblick führen, ob nunzur schnellen Eingreiftruppe oder zu unserem militäri-schen Einsatz, machen nur dann Sinn, wenn wir in derLage sind, im zivilen Bereich die Erwartungen zu erfül-len, die etwa im Afghanistan Compact zusammengetra-gen worden sind und die die Menschen in Afghanistanan uns haben. Nur dann ist die Sinnhaftigkeit des militä-rischen Handelns gegeben.Deswegen mein dringender Appell an die Bundes-regierung: Nehmen Sie all die Debatten ernst, die wir ge-rade zum zivilen Bereich geführt haben, unterstützen Siedie internationale Zusammenarbeit und steigern Sie dieEffektivität. Die Menschen in Afghanistan, aber auch dieMenschen hier in Deutschland warten darauf.Vielen Dank.
Hans Raidel spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Damit es nicht untergeht, will ich zuallererst un-seren Soldaten im Einsatz für ihren verantwortungsvol-len Dienst herzlich danken und sie vor jedem Klamaukund Krawall sowie vor jeder unseriösen Behandlung die-ses Themas in Schutz nehmen. Das ist notwendig.Lieber Herr Lafontaine, lieber Herr Gysi, Sie wollendoch ernst genommen werden. Denken Sie bitte einmaldarüber nach, dass es von der Erhabenheit zur Lächer-lichkeit nur ein ganz kleiner Schritt ist.
– Ja, an Ihnen; das haben Sie heute bewiesen. Das ist ge-nau der Punkt.Meine Damen und Herren, Fakt ist: Wir haben diesesMandat beschlossen und unsere sicherheitspolitischenInteressen und Verpflichtungen seinerzeit ausreichendbegründet. Die Zielsetzungen und die politischen Vorga-ben sind unverändert geblieben. Wir bewegen uns mitunseren Aufgaben, auch wenn neue dazukommen, nurinnerhalb dieses Mandates. Alles andere erforderte eineneue Beschlussfassung in diesem Hause.Derzeit liegt noch keine konkrete Anfrage vor. DieseDebatte ist also eigentlich nicht zwingend erforderlich.Sie macht nur dann Sinn, wenn wir militärisch wie poli-tisch die richtigen Signale geben. Das erste Signal heißtSolidarität. Unsere Verbündeten bei der NATO und un-sere Partner im Einsatz haben einen Anspruch darauf– dies sollen sie zweifelsfrei wissen –, dass wir unverän-dert engagiert bleiben. Wir tragen für die Nordregion inAfghanistan die Führungsverantwortung, in die übrigensauch die Norweger eingeschlossen sind. Wenn sich Nor-wegen jetzt aus dieser Aufgabe zurückzieht, bleiben sienach ihrem eigenen Bekunden mit einer neuen Aufga-benstellung weiterhin dort.
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Hans RaidelFür uns bedeutet dies Folgendes: Fiele diese Schutz-komponente ersatzlos weg, entstünde ein nicht vertretba-res Sicherheitsrisiko für die ISAF insgesamt, aber natür-lich insbesondere für unsere Soldaten. Im Sinne derSicherheitsvorsorge ist es also zwingend erforderlich,dass diese Lücke wieder geschlossen wird. Für unsereneigenen Selbstschutz ist es notwendig, auch darübernachzudenken, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, na-türlich bei bester Ausbildung und bester Ausrüstung so-wie mit besten Kräften und bei entsprechend großemVerantwortungsbewusstsein der politischen und militäri-schen Führung.Das zweite Signal sollte an unsere Bevölkerung ge-hen. Unsere Sicherheitsinteressen müssen der Bevölke-rung immer wieder klargemacht werden. Es musshervorgehoben werden, dass unser ISAF-Einsatz einernsthaftes politisches und militärisches Engagement ist,das, wie ich meine, mehr gesellschaftliche Aufmerksam-keit verdient.Jeder Bürger weiß – wir sollten das noch einmal klar-machen –, dass solche Einsätze immer auch ein Wagnisfür Leib und Leben unserer Soldaten sind. Vorhin wurdegesagt, dass der Tod näherrückt. Das ist je nachdem, wiesich kritische Situationen entwickeln, durchaus richtigund darf auch nicht verschwiegen werden.Das dritte Signal muss an unsere Soldaten gehen. VonAnfang an war klar, dass das Mandat auch Bewährungim Kampf bedeuten kann. Deswegen darf es keinenZweifel daran geben, dass wir, das Parlament bzw. dieRegierung, in schwierigen und fordernden Situationeneine besondere Verantwortung haben und an der Seiteunserer Soldatinnen und Soldaten stehen.Wir müssen die politische Verantwortung und dieFürsorge für unsere Soldaten in den Mittelpunkt stellen.Ich meine, alles andere wäre ein falsches Signal. Deswe-gen ist die Forderung richtig, den Ausschuss sehr detail-liert über das Einsatzkontingent, die Ausbildung und dieAusrüstung zu informieren, damit wir dazu beitragenkönnen, die Weichen richtig zu stellen. Wir haben vollesVertrauen in die militärische und politische Führung.Das vierte Signal muss an die afghanische Regierungund die afghanische Bevölkerung gehen. Sie sollen wis-sen, dass wir dort verstärkt engagiert bleiben. Das giltauch für die militärische Versorgung und Absicherung.Denn wie jeder weiß, ist ohne diese Absicherung derWiederaufbau in allen Bereichen der Daseinsvorsorgenicht möglich.Das fünfte Signal muss an die Taliban gehen. Siemüssen verstehen lernen, dass wir mit verbesserten ope-rativ-taktischen Maßnahmen auch ein klares politischesZeichen für unseren festen Willen geben, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– in Afghanistan weiter für Menschenwürde, Demokra-
tie, Frieden, Freiheit und Wohlstand einzutreten. Ich
hoffe, dass diese Zeichen dort auch richtig verstanden
werden.
Herr Kollege!
Für den Fall, dass die NATO-Anfrage kommt, signali-
sieren wir schon heute unsere positive Einstellung dazu.
Herzlichen Dank.
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde bekommt
der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Lafontaine, lieber Kollege Gysi, ich habeeine herzliche Bitte, auch wenn ich nicht weiß, ob dasnoch zu Ihnen vordringt
– ich bin mir da nicht ganz sicher –: Es geht in der Tatum Menschenleben, um Tod und um Gewalt. Beides gibtes in diesem Land, wie Sie wissen. Herr Lafontaine, ichdarf Sie als früheren Sozialdemokraten in allem Freimutbitten, eine Lehre, die uns Herbert Wehner mitgegebenhat, sehr ernst zu nehmen. Diese Lehre besagt, dass mansich in den politischen Debatten auch darüber im Klarensein sollte, ob nicht die Argumente und Instrumente, dieman in der Debatte gebraucht, bestimmte Grenzen über-schreiten. Wenn – wie Herbert Wehner, glaube ich, zu-treffend festgestellt hat – kriegswissenschaftliche Me-thodik in einer Debatte in der Weise eingesetzt wird,dass die Verantwortung der Politik im Mark getroffenwerden soll, dann muss man genau wissen, welche Gren-zen man überschreitet.Was Sie vorgetragen haben, hat die Grenzen über-schritten.
Das will ich Ihnen deutlich sagen.
Es gibt nämlich sehr wohl das Problem, lieber KollegeLafontaine, dass man Menschenleben als Instrumenteinsetzt. Sie sind derjenige, der den Tod instrumen-talisiert und als Waffe in der Politik benützt. Damit istdie Grenze deutlich überschritten, lieber Kollege Lafon-taine.
Ich will dazu nur eines sagen:
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Gert Weisskirchen
Es wird die Zeit kommen, in der über Schuld und Ver-antwortung im Detail debattiert werden wird. Ich rekla-miere, dass wir, die Sozialdemokratie, in jedem Fallunserer historischen Verantwortung dann, wenn es da-rum ging, unschuldigen Menschen zu helfen und, wennes sein musste, auch begrenzte militärische Gewalt ein-zusetzen, gerecht wurden und wir uns in langwierigen,ernsthaften und quälenden Diskussionen darüber ver-ständigt haben. Im Falle von Afghanistan sind wir diesenWeg gegangen, und er ist richtig, weil dies den Men-schen in Afghanistan hilft, ihren eigenen, selbstbestimm-ten Weg zu gehen, lieber Kollege Lafontaine.
Der entscheidende Schlüssel – insofern finde ich esetwas bedauerlich, dass wir dieses Jahr gerade mit dieserDiskussion beginnen –, um Afghanistan voranzubringen,ist Entwicklung.
Der Außenminister sagte, dass wir den Menschen in Af-ghanistan in diesem bitteren Winter helfen und ihnen zu-sätzliche Millionen an Finanzmitteln zur Verfügung stel-len. Die Menschen in Afghanistan haben Angst vor demWintereinbruch, der gegenwärtig erkennbar ist. Wir wol-len ihnen helfen, damit sie über den Winter hinwegkom-men und im Frühling und Sommer Perspektiven haben,ihr Land durch Arbeit voranzubringen. Das ist es, wasnötig ist. Wir müssen mithelfen, damit dieses Land eineChance hat, sich selbst zu verändern und die Situation zuverbessern.Lieber Kollege Lafontaine, wir alle sollten dieÄngste, Sorgen und Nöte, die alle in diesem Land haben,nicht instrumentalisieren, sondern wir sollten unsereVerantwortung wahrnehmen und helfen, damit Afgha-nistan eine Chance hat, sich so zu entwickeln, dass einziviler Aufbau in diesem Land möglich ist. Das ist un-sere erste und wichtigste Aufgabe hier in diesem Parla-ment. Wir erfüllen diese Aufgabe; aber wir wissen auch,dass es notwendig ist, diesen Aufbau in begrenzterWeise militärisch zu sichern und zu unterstützen. DieAfghanen sollen wissen: Wir lassen sie nicht allein.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kinderarmut bekämpfen – Kinderzuschlag
ausbauen
– Drucksache 16/6430 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Hierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevormir wieder vorgeworfen wird, dass wir Wahlkampf ma-chen – man traut sich kaum noch, etwas zu sagen –,räume ich ein, dass ich wirklich viele Menschen davonüberzeugen möchte, ernsthaft etwas gegen Kinderarmutnicht nur bei uns hier in Deutschland, aber auch bei unszu tun.
Wir sind eine der reichsten Gesellschaften auf derErde. Das kann niemand leugnen. Wir sind eines derökonomisch stärksten Länder. Es besteht aber eine zu-nehmende Kinderarmut.Es gibt in jeder Gesellschaft nur eine unschuldigeGruppe. Wir alle gehören nicht dazu. Wir alle habenschon unsere Fehler begangen etc. Es gibt aber eine un-schuldige Gruppe: die Neugeborenen. In Deutschlandliegen aber schon Welten zwischen den Chancen des ei-nen und der anderen Neugeborenen. Die Gesellschaftkann all diese Probleme nicht lösen; das weiß ich. Wirmüssen aber ernsthafte Maßnahmen ergreifen, um Kin-derarmut zu überwinden. Kinderarmut kann man natür-lich nur überwinden, wenn man Elternarmut überwindet.Einen anderen Weg gibt es nicht.
Ich will Ihnen, Sozialdemokraten und Grünen, eineSache sagen – Sie werden die Sache nicht los; es seidenn, sie korrigieren sich an diesem Punkt mal richtig –:Das Deutsche Kinderhilfswerk hat am 15. Dezember2007 im Kinderreport Deutschland 2007 festgestellt,dass sich die Zahl der armen Kinder in Deutschland seitder Einführung von Hartz IV Anfang 2005 verdoppelthat; das ist eine direkte Folge. Es sind derzeit 2,6 Millio-nen.Jetzt möchte ich etwas zum Wahlkampf sagen: So-wohl Herr Jüttner als auch Frau Ypsilanti sagen: DieAgenda 2010 ist richtig. Hartz IV ist richtig. – Wennman so etwas sagt, dann will man die Kinderarmut fort-setzen. Wir aber wollen hier einen anderen Weg gehen.
Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung undJugendberufshilfe hat für den Vergleichszeitraum 2005und 2006 festgestellt, dass die Anzahl der Kinder, dieauf Sozialgeld angewiesen sind, um 12,2 Prozent gestie-gen ist. Sie reden immer vom Aufschwung. Sie sagen, erkomme überall an. Die Realität ist aber, dass wir immermehr arme Kinder in Deutschland haben.
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Dr. Gregor Gysi
Ich sehe diese Kinder in Berlin und in anderen Städ-ten, auch in Suppenküchen.Ich möchte Herrn Koch einmal sagen: Wenn man et-was gegen Jugendkriminalität und gegen Gewaltbereit-schaft tun will, muss man dort ansetzen. Gewaltbereit-schaft entsteht, wenn ich Kinder in die Suppenkücheschicke und sie damit frustriere.
Das Gefängnis kommt viel zu spät. Hier müssen wir frü-her etwas tun.
Wir haben immer mehr Kinder in Ostdeutschland, de-ren Familien auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind,und vor allem ausländische Jugendliche, deren Familienzunehmend darauf angewiesen sind. Die Bundeskanzle-rin hat am 28. November 2007 hier im Bundestag zumThema Kinderzuschlag Folgendes erklärt – ich bitte heutehier um Aufklärung –:Wir wollen, dass niemand wegen der Kinder in dieBedürftigkeit fällt; deshalb muss der Kinderzu-schlag weiterentwickelt werden.Dann:Deshalb werden wir den Kinderzuschlag erhöhenund vereinfachen.Daraufhin hat unsere Fraktion eine Kleine Anfrage andie Bundesregierung gestellt. Zwei Wochen später, am14. Dezember 2007, kam die Antwort der Familienmi-nisterin. Was teilte Sie mit? Wörtlich:Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Kinder-zuschlag zu erhöhen.Das können Sie in der Drucksache 16/7586 auf Sei-te 8 nachlesen.Das heißt, die Kanzlerin erklärt in der Debatte hiergegenüber der Bevölkerung der BundesrepublikDeutschland, dass sie das Kindergeld erhöhen wird.
Die zuständige Ministerin sagt zwei Wochen später: Aneine Erhöhung wird gar nicht gedacht.
Gestern hat sie das im Ausschuss noch einmal bestätigt.Ich sage Ihnen: Das ist ein Skandal!
– Kinderzuschlag. Habe ich „Kindergeld“ gesagt? Dannhabe ich mich versprochen; Entschuldigung. Beidemeinten den Kinderzuschlag. Ich rede nicht vom Kinder-geld, sondern vom Kinderzuschlag. Die Kanzlerin hatgesagt, dieser Zuschlag werde erhöht; die Familien-ministerin schließt es aus. Das ist die Wahrheit.Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt: Der Kinder-zuschlag ist ohnehin viel zu gering. Er beträgt nur140 Euro.
Wissen Sie, wie viele Familien den Zuschlag bekom-men? Geplant waren 530 000 Familien. Bis jetzt sind esgerade mal 130 000. Also haben wir uns entschieden,fünf Forderungen zu stellen.Erstens. Erhöhung und Reform des Kinderzuschlags.Wir müssen den Kinderzuschlag von maximal 140 Euroerhöhen, und zwar für unter 14-Jährige auf 200 Euro undfür 14-Jährige und Ältere auf mindestens 270 Euro. DieEinkommensgrenzen der Eltern nach unten müssen ent-fallen. Es geht doch nicht an, dass man jemandem sagt:Sie sind so arm; Sie können schon Sozialhilfe beantra-gen; dann bekommen Sie keinen Kinderzuschlag mehr. –Wo leben wir denn hier?
Diese Grenzen müssen entfallen. Wenn das geschieht,wird auch der Kreis derjenigen viel größer, die den Kin-derzuschlag beziehen. Wir müssen das Wohngeld um15 Prozent erhöhen, weil es entsprechende Mietsteige-rungen gegeben hat.Wir müssen zweitens den Hartz-IV-Regelsatz für Kin-der erhöhen, und zwar auf rund 300 Euro; sonst könnenHartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger nicht dafürsorgen, dass ihre Kinder in der Bundesrepublik Deutsch-land auch nur halbwegs chancengleich aufwachsen kön-nen.
Dann kommen wir zu einem dritten Punkt – er ist mirganz wichtig –: Die öffentliche Bildung muss gebühren-frei sein und muss flächendeckend in höchster Qualitätbereitgestellt werden. Wir sind hier nicht in Dubai. Un-sere Gold- und Erdölvorkommen sind sehr begrenzt. DieStärke Deutschlands bestand immer darin, eine top aus-gebildete Bevölkerung zu haben. Jetzt sind wir in Europaunterdurchschnittlich geworden. Das ist die Wahrheit.Der Punkt ist, dass Kinder aus ärmeren Familien be-sonders schlechte Chancen in unserem Bildungssystemhaben. Das muss sich ändern.
Deshalb müssen wir ganz andere Angebote machen, obin Krippen, Kindertagesstätten, Schulen oder Unis. Dazugehört auch ein kostenloses Mittagessen. Ich möchtenicht, dass Schulkinder in die Suppenküche gehen müs-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14649
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Dr. Gregor Gysisen. Das demütigt sie, das frustriert sie. Das können wiruns als eines der reichsten Länder der Erde nicht leisten.
In dem Zusammenhang möchte ich auch darauf hin-weisen, dass der Anteil der Kinder aus einkommensstar-ken Familien an den Studierenden enorm zugenommenhat. Dagegen ist der Anteil der Kinder aus einkommens-schwachen Familien an den Studierenden von 23 auf12 Prozent gesunken. Damit liegt bei uns der Anteil ausdieser Gruppe noch unter dem Niveau in den USA. Dasist doch nicht hinnehmbar.Wir brauchen keine Studiengebühren. In Berlin gibtes keine Studiengebühren. Wissen Sie, was jetzt passiert,nachdem Hessen, Niedersachsen und viele andere Län-der Studiengebühren eingeführt haben? Die Kinder ausärmeren Familien kommen zum Studieren nach Berlin.Nun regen sich natürlich die Berliner Eltern auf, weilihre Kinder hier keinen Platz mehr bekommen. So gehtes nicht. Es darf in ganz Deutschland keine Studienge-bühren geben, wenn wir Chancengleichheit bei der Bil-dung herstellen wollen.
Wir brauchen auch mehr Gesamtschulen. Bis zurzehnten Klasse können alle Kinder sehr wohl gemein-sam zur Schule gehen. Damit erhöhen sich nämlich dieBildungschancen für Kinder aus ärmeren Familien ganzgewaltig. Behaupten Sie bloß nicht, dass man daschlecht ausgebildet würde. Ihre Bundeskanzlerin hateine Gesamtschule besucht; ich habe eine Gesamtschulebesucht. Auf uns trifft vieles zu, aber nicht, dass wirschlecht ausgebildet wären. Das ist die Wahrheit.
Weiterhin müssen wir den Sonderfonds zur Stärkungder Kinder- und Jugendarbeit aufstocken. Das haben wirbeantragt. Mindestens 150 Millionen Euro brauchenBund, Länder und Kommunen jährlich.Schließlich muss auch das Kindergeld aufgestocktwerden, in einem ersten Schritt auf 200 Euro. So könnenwir Kinderarmut bekämpfen.Jetzt werden Sie argumentieren, das alles sei nicht be-zahlbar. Dazu sage ich Ihnen nur eines: Die Steuer- undAbgabenquote, also nicht nur die Steuerquote, beträgt inDeutschland 35,6 Prozent. Im EU-Durchschnitt unterEinschluss von Bulgarien, der Slowakei, von Estlandetc. beträgt die Steuer- und Abgabenquote 40,8 Prozent.
Würden wir sie nur auf den EU-Durchschnitt anheben,hätten wir jährlich 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen.Damit könnten wir all das bezahlen und Kinderarmut inDeutschland überwinden.
Die Kollegin Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich bin baff. Herr Gysi, dass ich auf Sie direkt antwortendarf, ist mir eine besondere Freude. Sie haben sich ja ge-rade so aus dem Fenster gelehnt, dass die Zuhörer undZuschauer vor dem Fernseher und hier auf der Tribüneglauben, Sie wollten etwas gegen Kinderarmut tun undsie sogar beseitigen.
– Wollen Sie?
Dann frage ich Sie ernsthaft, wie Sie es mit Ihrem Ge-wissen verantworten können, gegen Kinderarmut zukämpfen und zugleich einem Konzept wie dem der„Arche“ in Berlin – in diesem Land tragen Sie ja auchRegierungsverantwortung –, das bundesweit Anerken-nung findet, die Mittel komplett zu streichen.
In der „Arche“ bekommen Kinder eine warme Mahlzeit,wenn sie sie brauchen; indem in ihr Kinder betreut wer-den, übernimmt sie auch Aufgaben der Jugendhilfe.Sieht so Ihre Bekämpfung von Kinderarmut aus?
Sie haben in Berlin die Mittel für die Kinder- und Ju-gendhilfe um 160 Millionen Euro gekürzt. Jetzt behaup-ten Sie hier ernsthaft, Sie wollten etwas dagegen tun?Eine Lachnummer ist das.
Ich könnte die Liste noch verlängern und Sie an vie-len Beispielen vorführen.
Das ist ja das Herrliche, Herr Gysi: Sie verkündenDinge, die Ihnen die Menschen draußen gerne glauben,weil sie denken, Sie erzählten hier die Wahrheit. Aber inWirklichkeit erzählen Sie wissentlich die Unwahrheit.Sie wollen gar nicht das, was Sie hier erzählen. Ihnengeht es nur um Propaganda und Populismus.
Das möchte ich aber nicht, weil die Sache zu wichtig ist.
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14650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Ingrid FischbachIch wäre froh, Herr Gysi, wenn Sie jetzt zuhörten,denn Sie können jetzt noch etwas lernen. Sie haben näm-lich offensichtlich noch nicht verstanden, worum es beidem Kinderzuschlag eigentlich geht. Deshalb werde ichIhnen jetzt etwas dazu sagen.
Außerdem werde ich Ihnen gleich noch ein Wort zurKanzlerin sagen. Hören Sie zu! Sie lernen etwas für dasLeben. Das ist manchmal ganz gut.Herr Gysi hat hier über den Kinderzuschlag gespro-chen. Ich habe festgestellt, dass er nicht verstanden hat,warum der Kinderzuschlag zu welchem Zeitpunkt undmit welchen Zielsetzungen eingeführt wurde. Als er zuBeginn des Jahres 2005 eingeführt wurde, sollte denjeni-gen Eltern geholfen werden, die, nur weil sie Kinder ha-ben – sie selbst haben genügend Einkommen, um ihreneigenen Lebensunterhalt zu bestreiten –, Arbeitslosen-geld II beziehen müssen.
Frau Fischbach!
Deshalb war der Ansatz, an dieser Stelle etwas zu tun,
richtig und wichtig.
Frau Fischbach, der Kollege Wunderlich möchte eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Ja.
Bitte schön, Herr Wunderlich.
Frau Fischbach, es geht um das Thema „Arche“. Der
Berliner Senat, der Mangel bewirtschaften und verwal-
ten muss, hat die Zuschüsse für den Verein „Arche“, der,
um seinen Betrieb aufrechtzuerhalten, jährlich Hundert-
tausende von Euro – exakte Zahlen kann ich nicht nen-
nen – braucht, gekürzt. Dieser Zuschuss war im Verhält-
nis zu den Betriebskosten gering, weil diese Kosten
durch Spendenmittel bei weitem gedeckt wurden. Daher
hat der Senat die eingesparten Mittel lieber Vereinen ge-
geben, die ohne diese Zuschüsse nicht überleben könn-
ten. Stimmen Sie mir zu, dass der Senat damit sozialver-
träglich gehandelt hat?
Im Übrigen ist der Ausbau des Kinderzuschlags im
Koalitionsvertrag vereinbart. Ich weiß nicht, ob Sie mir
auch in diesem Punkt zustimmen können.
Herr Kollege, lesen Sie doch einmal nach, was IhrKollege nach der Abstimmung gesagt hat: Er bedauerte,dass das abgelehnt werden musste; er hätte gern andersgehandelt.
Ein weiteres Beispiel. Sie geben mir jetzt die Gele-genheit, die Situation hier vor Ort – Sie sprechen überden Berliner Senat – aufzugreifen.
– Ich bin noch nicht fertig. Ich würde auf Ihre Frage,Herr Wunderlich, gern noch weiter antworten. Ich hoffe,Sie sind damit einverstanden, Frau Präsidentin. HerrWunderlich, Sie geben mir jetzt die Gelegenheit, nochetwas auszuholen. Das würde ich gerne tun.Sie haben gerade auch gesagt: Wir wollen, dass jedesKind ein kostenloses Mittagessen bekommt.
Hier vor Ort hat der Senat beschlossen, den Anteil an derFinanzierung dieses Vorhabens zu erhöhen. Das, wasman beschlossen hat, sieht aber anders aus, als das, waszum Beispiel Roland Koch in Hessen oder ChristianWulff in Niedersachsen gemacht haben. Beide ließen ih-ren Beschlüssen Taten folgen, das heißt, die Landeszu-schüsse flossen, unmittelbar nachdem diese Beschlüssegefasst worden waren. Hier in Berlin wurde der Be-schluss gefasst; aber es steht noch gar nicht fest, wie erumgesetzt werden soll. Obwohl das Ganze seit dem1. Januar dieses Jahres angeboten werden soll, gibt esnoch nicht die notwendigen Verordnungen. Also wurdenauch hier wieder leere Versprechungen gemacht. So vielzu Ihrer Arbeit hier im Senat. – Danke schön.
Durch den Kinderzuschlag sollte denjenigen Elterngeholfen werden – an diesem Punkt war ich, bevor derKollege Wunderlich den Exkurs in die Berliner Landes-politik begann –, die wegen der Kosten für ihre KinderArbeitslosengeld II beziehen müssen. Nach geltendemRecht beträgt der Kinderzuschlag pro Kind bis zu140 Euro im Monat. Er wird um eventuelle Einkommenund Vermögen des Kindes gemindert; das ist gar keineFrage. Die Eltern müssen, um den Kinderzuschlag zu be-kommen, eine Mindesteinkommensgrenze in Höhe desBedarfs der Eltern erreichen und dürfen die Höchstein-kommensgrenze nicht überschreiten. Außerdem muss imkonkreten Fall die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB IIvermieden werden. Die Einkommen aus der Erwerbstä-tigkeit werden zu 70 Prozent angerechnet. Die Dauer desBezuges war auf 36 Monate beschränkt.Wie Sie gerade schon gemerkt haben, ist es sehr kom-pliziert; es gibt sehr viele Details. Deshalb hat die Bun-desregierung in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen – –
– Über die Dauer haben wir schon das letzte Mal gere-det, Frau Golze. Angesichts dessen, wie viel Zeit Sie füretwas brauchen, sollten Sie ganz ruhig sein. – Ich wie-derhole: Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitions-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14651
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Ingrid Fischbachvertrag beschlossen, den Kinderzuschlag zu überarbeitenund weiterzuentwickeln. Das ist richtig und wichtig. Dererste Schritt wurde bereits im letzten Jahr vollzogen, alsdie Befristung aus der Regelung herausgenommenwurde.
Jetzt komme ich auf Ihren Irrtum oder auf das Miss-verständnis bezüglich der Worte der Kanzlerin zu spre-chen. Auch wir wollen, dass mehr Eltern in den Genussdes Kinderzuschlags kommen. Wenn sie ihn brauchen,dann müssen sie die Möglichkeit haben, diesen Zuschlagzu erhalten. Deshalb werden wir die Anzahl derjenigen,die den Kinderzuschlag beziehen können, erhöhen. Wirwollen, dass die Bewilligungsquote höher ist als 12 oder13 Prozent: Mehr bedürftige Familien sollen den Kin-derzuschlag bekommen, sodass über 500 000 Kindernicht mehr unter die Arbeitslosengeld-II-Regelung fal-len.
Wir werden im Ministerium prüfen, wie wir die Rege-lung zum Kinderzuschlag in Zukunft vereinfachen undmehr Transparenz erreichen können.
– Sie haben den Antrag im letzten Jahr geschrieben. Jetztist Januar. Insofern sind Sie der Zeit nicht gerade vorausgewesen. Das hätten Sie eher machen können.Wir setzen auf drei Bausteine:Erstens. Das Ministerium will auf die Begrenzungnach unten und oben verzichten. Wir wollen eine einheit-liche Bemessungsgrenze einführen, nach der pauschalgehandelt werden kann. So wollen wir eine flexiblereAusgestaltung des Kinderzuschlags ermöglichen. Durchden Wegfall der Begrenzung nach unten sollen die Elterndie Möglichkeit haben, zwischen Arbeitslosengeld II undKinderzuschlag zu wählen. Das ist richtig und wichtig.Herr Müntefering lächelt. Ich weiß, dass es zu dem einenoder anderen Punkt andere Vorschläge gibt. Um der Sa-che willen werden wir hinsichtlich der Ausgestaltung desKinderzuschlages zu einer vernünftigen Einigung kom-men.Jetzt muss ich erst einen Schluck trinken. Herr Gysihat mich doch erregt. Dass er das noch schafft, hätte ichnie gedacht.
– Auch bei diesem ernsten Thema sollten wir das Lachenab und zu nicht vergessen.Die zweite Säule ist die Anrechnung des Erwerbsein-kommens. Wir sollten darüber nachdenken, die Anrech-nungsquote von 70 auf 50 Prozent zu reduzieren. Dannwürde es sich gerade für Eltern lohnen, mehr zu verdie-nen und das eigene Erwerbseinkommen zu erhöhen. Daswürde sich für die Familien netto rechnen, weil sie dannnicht durch Gegenrechnung wieder weniger in der Ta-sche hätten.Die dritte Säule ist die Herausnahme der Befristung.Das ist bereits erledigt.Bildung ist nichtsdestotrotz wichtig. Sie ist derHauptschlüssel im Kampf gegen Armut. Wir haben dies-bezüglich die eine oder andere Initiative auf den Weg ge-bracht. Bildung sorgt dafür, dass man auf dem Arbeits-markt Fuß fassen kann, und nur wer arbeitet, hat dieMöglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.Dazu wird gleich meine Kollegin reden.
Dann können Sie ja jetzt zum Schluss kommen.
Genau. Ich bin beim letzten Punkt, Frau Präsidentin.
Ich folge den Worten des Bundespräsidenten Horst
Köhler, der sagte:
Wir brauchen Achtsamkeit für Kinder vor allem in
den Herzen und Köpfen der Erwachsenen.
Wenn das überall angekommen ist, bin ich mir sicher,
dass wir gemeinsam für eine Verbesserung beim Kinder-
zuschlag eintreten werden.
Jetzt spricht für die FDP-Fraktion die Kollegin Ina
Lenke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stel-len fest: Herr Gysi und die Linken haben diesen Show-antrag in dieser Woche platziert, um gute Munition fürdie Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zu ha-ben. Das ist kein ernstgemeinter Antrag, sondern ein fürdie Wahlen hergestellter.
Herr Gysi hat, wie Frau Fischbach gesagt hat, die Katzeaus dem Sack gelassen. Herr Gysi, Sie brauchen Steuer-erhöhungen, damit Sie all die Versprechen, die Sie IhrerWählerklientel gemacht haben, bezahlen können.Die FDP wollte die Mehrwertsteuererhöhung nichthaben. Die FDP fordert – um ins Detail zu gehen –, dassKindern und Erwachsenen bei Einkommensteuer undLohnsteuer der gleiche Grundfreibetrag eingeräumt wird.Keiner von Ihnen ist auf diese Idee gekommen, und un-sere Anträge dazu sind immer abgelehnt worden. Sie ge-ben den Eltern für ihre Kinder einen geringeren Freibe-trag, obwohl Kinder im Jahr vier Paar Schuhe brauchenund Erwachsene nur ein Paar, weil ihre Füße nicht mehrwachsen. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob danicht etwas passieren müsste.
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14652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Ina LenkeDie Linke fordert in ihrem Antrag die Erweiterungder Regelungen des Kinderzuschlages, der als Konzeptder Bundesregierung die Menschen nicht erreicht. DasKonzept des Kinderzuschlages dieser und auch der altenBundesregierung – Sie müssen hier wahrhaftig sein – istgescheitert.Eben hat Frau Fischbach das ganz klar gesagt: Nur12 Prozent der Antragsteller – das waren im Jahr 2006circa 600 000 – haben überhaupt den Kinderzuschlag be-kommen. Frau Fischbach, diese Menschen haben garan-tiert nicht die Höchstsumme von 140 Euro im Monat er-halten. Man muss auch sehen, dass das Verfahren sehrbürokratisch ist. 18 Prozent der Gesamtsumme sind Ver-waltungskosten, also Bürokratiekosten. Was haben Siedagegen gemacht?Bei diesem bisher erfolglosen Konzept, Kinder ausder Armut zu holen, setzt nun die Linke-Fraktion darauf,alles zu verschlimmbessern. Familienministerin von derLeyen und Herr Müntefering, SPD, haben zu Beginn ih-rer Zusammenarbeit – dieses Ziel stand schon im Koali-tionsvertrag; das wusste ich gar nicht – vor zwei Jahrendie Chance verpasst, die Regelungen des bereits seit2005 bestehenden Kinderzuschlages im Bundeskinder-geldgesetz zu verbessern. Dieses Gesetz ist nicht verbes-sert worden. Vor zwei Jahren haben Sie sich das in dieHand versprochen. Jetzt wollen Sie in der letzten Phasedieser Legislaturperiode etwas machen.Die Entfristung des Kinderzuschlages bringt zwar denFamilien jetzt etwas, aber es ist kein Gesamtkonzept.Das Konzept ist falsch. Diese Regelung ist nur eine Not-maßnahme der Großen Koalition; denn die Strukturendes Kinderzuschlages sind grundsätzlich nicht verbessertworden. Das heißt, die Große Koalition ist bis heutenicht in der Lage, sich auf vernünftige Regelungen desKinderzuschlages zu einigen. Frau Fischbach, auch IhreRede war kein positiver Beitrag; denn Sie selber habengesagt, dass der Kinderzuschlag viel zu kompliziert ist.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre-gierung auf, erst einmal – damit ist sie schon seit fast an-derthalb Jahren beschäftigt – die 145 ehe- und familien-bezogenen Leistungen zu überprüfen, die 180 MilliardenEuro ausmachen. Wenn sie das gemacht hat, dann müs-sen die Fraktionen, alle, wie sie hier in ihren unter-schiedlichen Farben vertreten sind, Gesamtkonzepte aufden Tisch legen. Es darf nicht wieder an irgendwelchenkleinen Schräubchen in die falsche Richtung gedrehtwerden. Unter der alten Regierung, an der die SPD betei-ligt war, und auch unter der neuen Regierung, an der dieSPD wiederum beteiligt ist, ist die Kinderarmut gewach-sen. Das können Sie nicht wegdiskutieren. Da hat dasDrehen an kleinen Schrauben überhaupt keine Wirkung.Sie müssen sich schon etwas anderes einfallen lassen.
Auf die Bewertung der Analyse der 145 ehe- und fa-milienbezogenen Leistungen im Umfang von 180 Mil-liarden Euro warten wir schon seit 2007. Was sagt dasMinisterium? Herr Kues, Sie haben gesagt, die Analysewerde im April vorliegen. Wollen wir mal sehen, ob sieim April tatsächlich auf dem Tisch liegt. Danach mussman über die Analyse nachdenken. Erst Ende des Jahreswerden wir eine echte Analyse auf dem Tisch haben.Dann aber ist das dritte Jahr dieser Legislaturperiodeverstrichen, ohne dass ein Konzept vorliegt. Wir hörenimmer wieder: Wir wollen mal sehen. Aus diesemGrunde pocht die FDP darauf, dass die Analyse endlichauf den Tisch kommt. Ich jedenfalls dränge im Aus-schuss darauf. Auch die Antworten auf die Anfragen andie Bundesregierung lassen auf sich warten. Bisher liegtalso nichts auf dem Tisch.Ich komme zum Schluss. Die FDP-Bundestagsfrak-tion schlägt vor, erst einmal die Analyse über die Wirkun-gen der ehe- und familienbezogenen Leistungen aufzu-zeigen. Erst dann werden wir die Leistungen an Familien,bei denen keine positiven Effekte zu beobachten sind, undsolche, mit denen Familien wirklich geholfen wird, be-werten können. Erst danach sollten wir über effektivereFamilienleistungen nachdenken. Aus diesem Grund wer-den wir diesem aufgeregten Antrag der Linken kurz vorden Wahlen in Hessen und Niedersachsen jedenfalls un-sere Stimme nicht geben.
Der Kollege Wolfgang Spanier spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich weiß nicht, Herr Gysi, ob ich Sie jetzt enttäusche, aberIhre Rede hat mich nicht erregt, sondern eher enttäuscht.Sie haben hier wieder einmal den üblichen Katalog vonForderungen heruntergerasselt. Vor ein paar Monaten lagIhre Forderung bei etwa 157 Milliarden Euro an jährli-chen zusätzlichen Ausgaben. Diese Summe – das habeich in den letzten Wochen gehört – ist mittlerweile weitüberschritten. Ich vermute, Ende des Jahres sind Sie soweit, dass Sie in Ihren Forderungen die Höhe der Steuer-einnahmen des Bundes mit 238 Milliarden Euro erreichthaben. Das heißt, letztlich fordern Sie indirekt eine Ver-dopplung der Steuern. Aber gut, das ist Ihre Sache.
Zu Ihnen, Frau Lenke: Ich glaube, das ist der falscheWeg. So recht Sie haben, dass wir alle Familienleistun-gen überprüfen sollten, so unrecht haben Sie, wenn Siesagen: Erst einmal die Analyse, dann eine Auswertung,dann ein Gesamtkonzept, und dann entscheiden wir überkonkrete Maßnahmen. Ich glaube, so viel Zeit solltenwir uns nicht lassen. Möglicherweise sind wir dann imJahr 2009 oder 2010.
Für uns Sozialdemokraten ist das Ziel klar – ich gehe da-von aus, dass wir alle in diesem Parlament darin überein-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14653
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Wolfgang Spanierstimmen –: Wir wollen gleiche Lebenschancen für alleKinder. Ich glaube, da stimmen wir überein.
Es geht nicht nur um materielle Armut, es geht auchum das, was Wissenschaftler die Lebenslage der Kindernennen, zum Beispiel das erhöhte Gesundheitsrisiko, diedeutlich schlechteren Bildungschancen, natürlich auchdas Wohnumfeld und viele andere Faktoren. Herr Gysihat es vorhin angesprochen. Es ist natürlich eine Binsen-weisheit, wenn man sagt: Armut der Kinder ist letztlichdie Armut der Eltern. Aber es ist wichtig, dass man dasberücksichtigt und betont.Ursachen der Armut – auch da sind wir uns alle einig –sind in erster Linie Arbeitslosigkeit, aber auch Schei-dung und in unserem Land leider auch Kinderreichtum.Wenn man etwas gegen Kinderarmut tun will, dann istdas Wichtigste, dass man an genau diesen Ursachen, vorallem an der Hauptursache, nämlich Arbeitslosigkeit derEltern, ansetzt. Mir ist aufgefallen, Herr Gysi, dass Siedazu kein Wort gesagt haben.
– Das lag vielleicht an den sieben Minuten Redezeit, daswill ich Ihnen zugestehen.Zu Ihrem Antrag zum Kinderzuschlag. Sie äußern sichgar nicht zum Kinderzuschlag, wie wir ihn konzipiert ha-ben, sondern Sie fordern etwas in Richtung bedarfsorien-tierter Grundsicherung. Darüber kann man sicherlich dis-kutieren. Aber der Antrag ist so kurz gefasst, dass erWichtiges übersieht, nämlich die Zusammenhänge mitanderen Leistungen: Kindergeld, Steuerfreibeträge usw.Wenn das, wie Sie es vorschlagen, verwirklicht würde,würden wir große Schwierigkeiten und Probleme be-kommen; von den Kosten – das habe ich vorhin schonangesprochen – ganz zu schweigen.Der Kinderzuschlag ist nicht so erfolglos, wie er hierheute dargestellt worden ist. Immerhin haben 120 000 Kin-der davon profitiert. Das heißt, mithilfe dieses Kinderzu-schlags sind die Eltern zusammen mit ihren Kindern ausdem Bezug von Leistungen nach dem SGB II herausge-kommen. Ich denke, das ist zunächst einmal gut.
Die zusätzliche Leistung pro Kind beträgt im Durch-schnitt 93 Euro. Nachweislich haben in erster Linie kin-derreiche Familien davon profitiert. Soweit, so gut.Wir haben gemerkt – das ist das Problem –, dass dieübergroße Zahl der Anträge abgelehnt werden mussteund dass die Einkommensgrenzen überarbeitet werdenmüssen. Das heißt im Klartext – ich will hier nicht in dieEinzelheiten gehen; Frau Fischbach ist schon darauf ein-gegangen –: Wir müssen die Hürden abbauen, um aufdiese Weise zu erreichen, dass mehr Familien und damitmehr Kinder den Kinderzuschlag bekommen. So könnenwir sie aus der Armut, aus dem Bezug von Leistungennach dem SGB II, herausholen. Das ist unser Ziel.
Dann ist es ein Dreiklang von Familienleistungen:Kindergeld plus Kinderzuschlag plus Wohngeld. Ich per-sönlich – ich glaube, da stehe ich in diesem Saal nichtallein da – habe mich darüber gefreut, dass Minister Tie-fensee einen Vorschlag in dieser Richtung gemacht hat.Diesen Dreiklang müssen wir dabei im Auge behalten.Beim Wohngeld ist der Aspekt der Kinder sicherlichstärker zu berücksichtigen. Das haben wir bereits bei derletzten Wohngeldreform so gemacht.Ich will Ihnen gern zugestehen – Herr Münteferinghat das als Minister eingeleitet –, dass wir noch einmalüber die Regelsätze und vor allen Dingen über die zeitli-chen Abstände ihrer Anpassung beim Bezug von Leis-tungen nach dem SGB II nachdenken müssen. Das ist si-cherlich nicht ganz so leicht zu bewerkstelligen. Das istjetzt keine Ausrede, sondern Fakt. Ich glaube, dass dieNeubemessung im zeitlichen Abstand von fünf Jahrender tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung nicht ge-recht wird.Schlüssel zur Bekämpfung von Armut und Kinderar-mut ist also Arbeit. So ist der Kinderzuschlag konzipiert.Er erreicht die Eltern, die Leistungen nach dem SGB IIbeziehen und arbeiten, aber ein Einkommen erzielen, dasunterhalb der Regelsätze der Sozialhilfe liegt.In meinem Wahlkreis, in Herford, sind 25 Prozent derAnträge, die bei der Arge gestellt werden, Anträge aufAufstockung. Diese Anträge werden von Eltern gestellt,die zwar Arbeit haben, die aber mit ihrer Arbeit ein Ein-kommen erzielen, das unterhalb der Sozialhilfesätzeliegt. Nicht wenige von ihnen sind Vollzeitbeschäftigte.Deswegen sage ich Ihnen – jetzt schaue ich zu denen, diein diesem Hause rechts von der Mitte sitzen –: Wer überKinderarmut redet, darf zum Thema Mindestlohn nichtschweigen.
Wir brauchen existenzsichernde Löhne. Armut hatnicht nur mit materiellen Aspekten zu tun. Zur Bekämp-fung von Armut ist Geld wichtig, aber nicht hinreichend.Ein ganz entscheidender Schlüssel zur Bekämpfung undVermeidung von Kinderarmut ist Bildung. Die Entwick-lung, die in unserem Land in diesem Bereich stattfindet,ist ein Skandal; das sage ich mit meinem beruflichenHindergrund als Lehrer.
– Hier geht es nicht nur um ein paar Jahre. Das ist in un-serem Land seit 30, 40 Jahren der Fall. Es ist völligwurscht, wer regiert.
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14654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Wolfgang SpanierEs handelt sich um verfestigte Strukturen, die dazu füh-ren, dass die soziale Herkunft für die Bildungschancenin unserem Land ganz entscheidend ist. Wer gleiche Le-benschancen für alle Kinder schaffen will, muss an ge-nau dieser Stelle ansetzen.
Wir haben das erkannt. Der Stellenwert der frühenFörderung der Kinder, vor allen Dingen der sozial be-nachteiligten Kinder, ist in Deutschland in den letztenMonaten deutlich gestiegen. Wir haben Maßnahmen er-griffen. In diesem Zusammenhang muss man sehen, dasswir bis zum Jahre 2013 für 35 Prozent der unter Dreijäh-rigen Kitaplätze schaffen wollen. In diesem Zusammen-hang muss man auch sehen – darauf pochen wir ganz be-sonders –, dass es danach einen Rechtsanspruch gebenwird. Das ist ein ganz entscheidender Schritt, um die Le-benschancen und die Bildungschancen aller Kinder zuverbessern.Zu diesen Maßnahmen gehört auch das Ganztags-schulprogramm. Ich darf daran erinnern, dass unserLand durch das Investitionsprogramm des Bundes deut-lich vorangebracht wurde. In meinem Wahlkreis nehmenfast alle Grundschulen an dem Ganztagsschulprogramm,das ein offenes Angebot ist, teil. Das ist ein Schritt, umgleiche Lebenschancen für alle Kinder zu verwirklichen.
Es hilft überhaupt nicht, im Bildungsbereich zusätzli-che finanzielle Hürden aufzubauen. Dazu gehören Studi-engebühren. Ob man Studiengebühren in Form von Dar-lehen oder auf anderem Wege organisiert, ändert nichtsdaran, dass es sich um eine zusätzliche Hürde handeltund dass sie kontraproduktiv sind.Sicherlich müssen wir über gezielte finanzielle Hilfenim Bildungsbereich nachdenken. Das betrifft den Eltern-beitrag, das wichtige Thema Lernmittelfreiheit und denEssenszuschuss. Das ist nicht auf Bundesebene zu re-geln, sondern muss auf Landes- bzw. auf kommunalerEbene geregelt werden.Damit wird eines klar: Wenn wir es mit der Vermei-dung und Bekämpfung der Kinderarmut ernst meinen– wir meinen das ernst –, dann müssen Bund, Länderund Kommunen in ihrer jeweiligen Zuständigkeit zu-sammenarbeiten. Dabei ist die kommunale Ebene, diedicht und direkt an den Menschen ist, entscheidend;meine Kollegin Marlene Rupprecht wird gleich Ausfüh-rungen zur Bedeutung der kommunalen Ebene und zurKinder- und Jugendhilfe machen.Zum Schluss habe ich eine Bitte. Ich glaube, wir allesind uns einig, dass wir etwas an der erschreckendenZahl von 2,5 bis 2,6 Millionen sozial benachteiligtenKindern und Jugendlichen in Deutschland ändern wol-len. Kinder und Jugendliche haben eine Lobby; als Bei-spiele seien die Wohlfahrtsverbände und der Kinder-schutzbund genannt. Ich würde mir wünschen – das istwirklich nicht die übliche Floskel –, dass sich auch derBundestag als Lobby sozial benachteiligter Kinder ver-steht. Erste Ansätze haben wir gemacht. Wir müssen siekonsequent weiterentwickeln. Das halte ich für eine derwichtigsten sozialpolitischen Aufgaben, die wir bewälti-gen müssen, wenn es uns ernst ist, dass wir für mehr so-ziale Gerechtigkeit sorgen wollen. Wir Sozialdemokra-ten werden uns daran beteiligen.Schönen Dank.
Ina Lenke hat eine Kurzintervention angemeldet.
Herr Spanier, Sie und ich, wir arbeiten partnerschaft-
lich zusammen. Trotzdem muss ich diese Kurzinterven-
tion machen. Sie haben der FDP vorgeworfen, dass sie
Zeit ins Land gehen lässt, dass sie erst einmal abwartet,
was die Analyse der familienpolitischen Leistungen er-
gibt.
Herr Spanier, Sie haben das in Ihrem Koalitionsver-
trag stehen. Jetzt ist die Hälfte der Legislaturperiode vor-
bei. Deshalb muss ich Ihnen vorwerfen, dass Sie bisher
nichts getan haben.
Ich möchte, dass sich die SPD-Bundestagsfraktion
– die ja diese Regierung stützt, nicht stürzt – für diese
Dinge einsetzt und der Regierung Beine macht. Ich
finde, es ist durchaus seriöse Politik, einzuräumen, dass
man die mittlerweile 145 familien- und ehebezogenen
Leistungen zunächst einmal analysieren muss. Diese
Leistungen bauen ja nicht aufeinander auf. Vielmehr hat
jede Regierung der Vergangenheit etwas für die Familien
tun wollen und irgendeine neue Leistung eingeführt. Es
geht der FDP darum, ob dieser Aufbau stringent ist, ob
er effektiv ist, ob er die Familien erreicht; es geht der
FDP nicht darum – wie ich das aus Ihren Worten heraus-
hören konnte –, die Umsetzung neuer Ideen zu verzö-
gern. Sie wissen genau – das ist im besten Sinne typisch
für die FDP –: Wenn Sie im Bundestag gute Vorschläge
vorlegen, stimmen wir mit Ihnen dafür. Deshalb ist mir
das auch so ernst.
Herr Spanier.
Ich gebe Ihnen recht: Natürlich ist die Überprüfungaller Familienleistungen vielleicht nicht überfällig, aberdoch dringend geboten. Ich gebe Ihnen auch recht, dasswir erst auf dieser Grundlage an der einen oder anderenStelle zu einer Neujustierung kommen.Was Sie vorgetragen haben, klang aber anders: Erstnoch eine gründliche Analyse, dann ein Gesamtkonzept. –Wissen Sie, bei „Gesamtkonzept“ werde ich unruhig.Das ist ein so schwammiger Begriff; dahinter verbirgtsich nichts. Und dann erst wollen Sie entscheiden.Ich glaube, dass wir über den Kinderzuschlag, überdas Wohngeld und anderes zügiger entscheiden müssen.
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Wolfgang SpanierIch will gerne einräumen: Auch ich persönlich – da binich nicht alleine – bin ein wenig unzufrieden, dass es mitden konkreten Vorschlägen der Bundesregierung zumKinderzuschlag und zu anderem, was damit zusammen-hängt, doch schon – ich weiß, dass das kompliziert ist –einige Zeit gedauert hat. Ich hoffe, dass wir das im Früh-jahr vorgelegt bekommen, beraten und dann zügig aufden Weg bringen können. Das ist das Entscheidende.
Jetzt spricht die Kollegin Ekin Deligöz für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!An diesem Schlagabtausch wird eines deutlich: dass dieKoalition in der Frage Kinderarmut/Kinderzuschlag mitleeren Händen dasteht, dass sie keine Konzepte hat. HerrSpanier, wenn Sie sagen, das Wort „Gesamtkonzept“macht Sie unruhig, dann macht es mich unruhig, dassdieses Wort Sie beunruhigt; denn ein Gesamtkonzept istgenau das, was Sie liefern müssen.
Ich muss Frau Lenke recht geben: Im Koalitionsver-trag heißt es nicht: „Wir wollen irgendwann“, sondern esheißt:Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren undhierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab demJahr 2006 weiterentwickeln.
Wir sind jetzt schon ein Jahr weiter.
– Zwei Jahre weiter. – Das Einzige, was Sie uns hier prä-sentieren, ist die Entfristung des Kinderzuschlags. Die-ser Schritt ist durchaus begrüßenswert; aber er geht nichtweit genug. Anstatt dass Sie den Kinderzuschlag endlichso ausgestalten, dass er bei den Familien, die ihn benöti-gen, ankommt; anstatt dass Sie dieses Instrument – dasich nach wie vor für richtig und wichtig halte – weiter-entwickeln, bekommen wir von Frau von der Leyen undHerrn Müntefering – der gar nicht mehr im Amt ist – einSchauspiel aufgeführt, wer eigentlich dafür zuständigsein soll.
Wir brauchen eine Entbürokratisierung und eine Verein-fachung, wir bekommen aber nur Profilierungskämpfeder beiden Koalitionsfraktionen zu sehen – und nichtsanderes.
Kommen wir zu dem eigentlichen Antrag, über denwir heute reden. Bei diesem Antrag der Linken ergebensich für mich ehrlich gesagt mehr Fragen als Antworten.Sie schlagen unter anderem vor, dass der Kreis der an-spruchsberechtigten Empfänger des Kinderzuschlagesdeutlich erweitert werden soll. Das ist richtig. Das mussman fordern. Das ist ein richtiges Ziel.Sie wollen diesen Kreis aber nach unten hin auswei-ten. Was heißt das? Sie wollen, dass insbesondere Fami-lien, die über kein eigenes Erwerbseinkommen verfügen,dieses Geld bekommen. Ich kann nur sagen: Sie habendas Instrument nicht verstanden.
Bei diesem Instrument geht es nämlich nicht darum, denKreis der Hartz-IV-Empfänger zu vergrößern, sonderndarum, die Menschen aus dem Hartz-IV-Bezug heraus-zuholen.
Es geht darum, die Rahmenbedingungen so auszugestal-ten, dass sich Erwerbstätigkeit rentiert. Es geht darum,dass wir Familien aus diesem Armutskreislauf herausho-len. Mit dem, was Sie hier vorschlagen, erreichen Sie ge-nau das Gegenteil.Sie werfen uns vor, dass wir die Anzahl der Kinder inArmut erhöht und dass wir sie in das Dunkelfeld der Ar-mut hineingebracht haben. Ich kann Ihnen vorwerfen:Mit Ihrem Vorschlag wird sich die Anzahl der Kinder imHartz-IV-Bezug nicht verdoppeln, sondern verdreifa-chen oder gar vervierfachen. Das sollten Sie sich genauüberlegen.
Sie sagen einerseits, dass die Regelleistungen gemäßSGB II und SGB XII durch den Kinderzuschlag ersetztwerden sollen. In einer Pressemitteilung vom 21. Januar2008 sagte Herr Ernst für die Fraktion Die Linke aber,dass das Kindergeld auf 200 Euro erhöht wird und dassdie Regelsätze auf 300 Euro erhöht werden. Der Kinder-zuschlag solle zusätzlich erhöht werden. Das, was Siehier vorschlagen, und das, was Herr Ernst äußert, istzweierlei. Das passt nicht zusammen.
Man kann hier nicht von einem Gesamtkonzept reden.Man kann überhaupt nicht von einem Konzept reden.Man kann nicht einmal von Stückwerk reden.
Sie wollen einfach verschiedene Dinge.Wenn ich das richtig verstanden habe, dann fordernSie faktisch eine Grundsicherung von 420 Euro für alleKinder, ohne übrigens zu sagen, wie viele MilliardenEuro das erstens verschlingt und woher das Geld zwei-tens überhaupt kommen soll.
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14656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Ekin DeligözDas verschweigen Sie uns lieber in Ihren Anträgen. Ehr-lich gesagt: Auch das, was Herr Gysi gesagt hat, hatmich nicht überzeugt. Das war zwar eine allgemeine,wunderbare Wahlkampfrede,
wenn Sie es so haben wollen, aber das war nicht zu die-sem Thema. Man kann nur sagen: Setzen, sechs, Themaverfehlt.
Sie sagen: Wir brauchen eine Stärkung der Bildung,der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. – Ja, das ist richtig.Schauen wir uns doch einmal an, was gerade hier in Ber-lin passiert. Ich nenne jetzt nicht die „Arche“, sondernich sage das nur einmal im Allgemeinen. Ich habe einenBlick in den Haushaltsplan geworfen:
Die Mittel für die Jugendhilfe sind gekürzt worden. DieMittel für die Familienhilfe sind gekürzt worden. DieMittel für die Gesundheitshilfe wurden gekürzt. Selbstdie guten neuen Schulkonzepte scheitern in der Praxisdaran, dass Sie nicht genug Personal haben, also unterPersonalmangel leiden. Das, was Sie hier behaupten,und das, was Sie in der Regierung tun, passt nicht zu-sammen.
Sie sorgen hier in Berlin für einen Scherbenhaufen.
Das ist kein kinderpolitischer Aufbruch, sondern eineVolksverdummung.
Man muss sagen, dass man die finanzielle Unabhän-gigkeit der Kinder nicht unabhängig vom Status der El-tern erreichen kann. Nicht die Kinder sind arm, sonderndie Haushalte, in denen sie leben, sind arm.
In den Haushalten herrscht Erwachsenenarmut. Dasspiegelt sich auch bei den Kindern wider. Selbst dann,wenn die Kinder finanziell unabhängig sind, sind sie vonihren Eltern nach wie vor abhängig.Weiter zum Thema. Was brauchen wir? Wir braucheneine hochwertige Betreuungs- und Bildungsinfrastruk-tur, die die bestehende Ungleichheit nicht zementiert,sondern dabei hilft, Armutskarrieren zu durchbrechen,damit sie nicht fortgeschrieben werden.Herr Gysi, ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist:Ihre Fraktion hat in dieser Woche einen Antrag in unse-ren Ausschuss eingebracht, mit dem genau das Gegenteilgemacht wird. Sie haben gesagt, dass die Studiengebüh-ren bei den BAföG-Empfängern in Zukunft hinzuge-rechnet werden sollen. Damit ist Ihre Fraktion die ersteFraktion in diesem Bundestag, die Studiengebühren ak-zeptiert und die das legalisiert.
Das muss man doch deutlich sagen. Sie stellen einen An-trag, mit dem Sie die Studiengebühren akzeptieren.
Hier tun Sie so, als seien Sie dagegen. Warum stellen Siedann einen solchen Antrag? Seien Sie doch einmal ehr-lich und stehen Sie zu Ihren Anträgen, die Sie stellen.
– Nein, Herr Gysi. Sie sollten sich Ihren Antrag einmalgenau anschauen.
Wir wollen die Erwerbstätigkeit der Eltern steigern.Das ist das Beste gegen Kinderarmut. Aber das könnenwir nur durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen errei-chen. Wir müssen die Eltern bei der Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf sowie der Aufnahme von Jobs unter-stützen, bei denen die Einkommen so hoch sind, dass sienicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern auchden ihrer Kinder bestreiten können. Wir brauchen eineInfrastruktur für Kinder, die ihnen Chancen gibt. Des-halb schlagen wir Grüne nicht nur eine Reform des Kin-derzuschlags und des Wohngeldes vor, was das Mindesteist. Vielmehr müssen die Lohnnebenkosten gerade imNiedriglohnbereich gesenkt werden. Wir brauchen zu-dem Mindestlöhne.
Wir brauchen ein Arbeits- und Beschäftigungsförder-system, das wirkliche Chancen gibt. Wir brauchen ziel-gruppen- und sozialraumorientierte Hilfssysteme. Diesewerden in Berlin gerade abgeschafft. Wir wollen nicht,dass Familien zu ALG-II-Empfängern werden, sondernwir wollen die Selbsthilfe stärken. Klar ist: StrukturelleHilfen sind erst dann wirksam, wenn eine materielleExistenzsicherung gegeben ist. Das gilt aber auch umge-kehrt.
Frau Deligöz, Sie müssen zum Ende kommen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14657
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Alle bisherigen Vorschläge dienen dem nicht, weder
die von der PDS noch die von der Regierung.
Danke schön.
Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen undKolleginnen! Wir debattieren heute über einen Antrag,den die Linke-Fraktion schon vor anderthalb Jahren fastwort- und inhaltsgleich eingebracht hat, aber ohne Er-folg. Der federführende Familienausschuss hat schon da-mals mit einer breiten Koalition aller Parteien
diesen Antrag abgelehnt. So wurde es vom Parlament imZusammenhang mit der Debatte über den Zwölften Kin-der- und Jugendbericht beschlossen.
Sie haben wahrscheinlich nicht zur Kenntnis genommen,mit welchen abstrusen Forderungen Sie an den Bundes-tag herantreten.
Sie wärmen das Ganze nun noch einmal auf, wahr-scheinlich mit dem gleichen Erfolg. Das prognostiziereich Ihnen.
Eigentlich reichte es, Ihnen die Protokolle von damalszum Lesen zu geben,
anstatt eine Stunde bester Debattenzeit mit einem sol-chen abstrusen Antrag zu verbringen.
Es ist Fakt, dass in Deutschland zu viele Kinder undJugendliche in Armut leben. Wir alle hier im Haus neh-men die Aufgabe sehr ernst, hier zu Verbesserungen zukommen sowie allen Kindern ein gesundes Aufwachsenund Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung zugarantieren.
Aber Fakt ist auch, dass das nicht geht, wenn man ein-fach voraussetzungslos Transferleistungen gewährt unddiese ständig erhöht. Mehr Geld für arme Kinder, das isteine zutiefst populistische Forderung. Gerade die Väterund Mütter, die morgens aufstehen und ihre Kinder ineine Betreuungseinrichtung bringen, bevor sie zur Arbeitgehen, Geld verdienen, Steuern zahlen und 154 EuroKindergeld bekommen,
werden wenig Verständnis haben, wenn sie Ihre Forde-rung nach 420 Euro pro Monat – das bezeichnen Sie alssozioökonomisches Existenzminimum – finanzieren sol-len.Zu den Kosten und der Finanzierbarkeit sagen Sieweder im ersten noch im zweiten Aufguss Ihres Antragsein Wort. Nun hat Herr Gysi eben gesagt, woher er dasGeld nehmen will. Sie wollen zusätzlich 120 MilliardenEuro Steuereinnahmen generieren. Wir haben gerade ge-rechnet und festgestellt, dass das ungefähr 1 500 Europro Person sein müssten.
Woher soll das denn kommen? Wie viele Firmen werdenSie damit aus Deutschland vertreiben?
Wie viele Familienväter werden ihren Arbeitsplatz ver-lieren, wenn die Unternehmen ins Ausland gehen, weilsie dort billiger produzieren können?
Es wurde bereits gesagt, dass Kinderarmut immer da-mit einhergeht, dass Eltern zu wenig verdienen. Es istebenfalls gesagt worden, dass die Eltern in die Lage ver-setzt werden müssen zu arbeiten.
Sie brauchen Infrastruktur und mehr Chancen auf demArbeitsmarkt. Hier haben wir schon weitreichendeSchritte unternommen und gute Erfolge vorzuweisen.Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das Phä-nomen der vererbten Armut. Es ist gefährlich, wenn Kin-der es als normal erleben, dass die Familie von Transfer-leistungen lebt, dass Eltern dauerhaft nicht arbeiten. Dasführt dazu, dass Kinder das für sich als Lebensmodellübernehmen. Der Leiter der Hamburger Arche hat einejunge Frau mit den Worten zitiert: Ich habe mehr Angstvor der Arbeit als vor der Arbeitslosigkeit. – Das ist eineganz symptomatische Äußerung, die zeigt, dass hier diesozialen Kompetenzen für die Teilnahme am Arbeits-markt verloren gehen und dass es notwendig ist, diesenTeufelskreis zu durchbrechen. Wenn wir das nicht errei-chen, dann perpetuieren wir diese Leistungen ad infini-tum und schaffen uns im Prinzip die nächste Generation,die genauso leben und das weitergeben wird. Das kannja wohl nicht das Ziel unserer Sozialpolitik sein. Es ent-
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14658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Elisabeth Winkelmeier-Beckerspricht jedenfalls nicht unserem Menschenbild in derPolitik.
Deshalb ist es so wichtig, hier Anreize zur Aufnahmevon Arbeit zu schaffen, und deshalb muss es einen Un-terschied machen, ob die Erwachsenen wenigstens ihrenBedarf aus eigener Arbeit decken können. Niemand, derseinen eigenen Bedarf selber deckt, soll nur deshalbALG II beziehen müssen, weil er Kinder hat. Da setztder Kinderzuschlag an; mit ihm soll der zusätzliche Be-darf gedeckt werden.Wir tun doch auch etwas. Die Befristung haben wirschon aufgehoben. Als Nächstes geht es um die Auswei-tung,
damit mehr Familien davon profitieren können. Wir pei-len an, dass dann bis zu 550 000 Kinder davon profitie-ren können. Wenn das Geld, das ja immer fehlt, dafürschon einmal zur Verfügung steht, dann können Sie einegewisse Hoffnung haben, dass auch die entsprechendeRegelung bald kommen wird.
Das Familienministerium hat bereits ein Konzept dazuvorgelegt; das kennen Sie alle. Sie wissen, dass viele, ei-gentlich alle entscheidenden Punkte, die auch hier ge-nannt worden sind, darin enthalten sind. Jetzt geht es da-rum, das intern mit dem Bundesarbeitsministeriumabzustimmen.Ich freue mich, dass wir den früheren Bundesarbeits-minister in den Kreis der Familienpolitiker aufnehmenkonnten. Vielleicht führt das dazu, dass alles noch etwaskonstruktiver und schneller vonstatten geht. Ich bin opti-mistisch, dass wir hier zu einem guten Konzept kom-men, das genau diesen Arbeitsanreiz setzt.
Unabhängig davon möchte ich noch einmal sagen: Esmuss selbstverständlich sein, dass in Deutschland dasExistenzminimum des Kindes sichergestellt ist. Wo El-tern nichts verdienen, geschieht das in Deutschlanddurch Sozialgeld und Wohngeld. Über die Höhe werdenwir uns dieses Jahr noch unterhalten, wenn der neue Be-richt zum Existenzminimum vorgelegt wird. Man kann,glaube ich, ohne die Sphinx zu sein, voraussagen, dassdas Existenzminimum heraufgesetzt wird. Aber 420 Eurowird es mit Sicherheit nicht erreichen. Das ist schlicht-weg utopisch.Wenn das Existenzminimum erhöht wird, werden da-von alle Familien profitieren; denn das macht sich beimFreibetrag, beim Kindergeld und beim Sozialgeld be-merkbar. Aber für den Kinderzuschlag, der ja zusätzlichgegeben wird, muss weiterhin Beschäftigung ein Krite-rium sein.Vielleicht muss man die schematische Berechnung,die 60 Prozent für Kinder und 80 Prozent für Jugendli-che vorsieht, noch einmal überdenken. Ich weiß, wasKinder, wenn sie wachsen, am Tag so alles verputzenund wie viele Klamotten sie brauchen. Deshalb ist dieRechnung vielleicht zu schematisch und noch einmal zuüberdenken. Aber es bleibt dabei: Wir müssen Anreizezur Arbeitsaufnahme schaffen. Eine Megasozialleistungnach Ihrem Stil, die Sie nur mit „Kinderzuschlag“ etiket-tieren, wird es in diesem Sinne nicht geben.
Frau Kollegin.
Unser Konzept des Kinderzuschlags ist zielführend
und wird uns helfen, die Kinderarmut in Deutschland
deutlich zu bekämpfen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Miriam Gruß spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am Sonntag hat die Frankfurter AllgemeineSonntagszeitung zutreffend daran erinnert, dass frühervon der Armut an Kindern die Rede war; heute müssenwir uns mit der Armut von Kindern auseinandersetzen.Kinderarmut geht uns alle an. Wir brauchen aber etwasmehr Unaufgeregtheit in der Debatte. Daher werde ichzum Schluss noch auf den Herrn Kollegen Gysi einge-hen.Wir müssen uns einmal die Fakten in Deutschland an-sehen. Es gibt 2,5 Millionen arme Kinder. Mehrheitlichsind es Kinder von Alleinerziehenden oder Kinder ausZuwandererfamilien. Der Tagesablauf jedes sechstenKindes wird von Armut geprägt. Wenn ich von Armutspreche, dann meine ich nicht nur das fehlende Geld imPortemonnaie, sondern eben auch – das ist auch schonangesprochen worden – die ideelle Armut.In der ersten World-Vision-Kinderstudie von den re-nommierten Forschern Professor Klaus Hurrelmann undFrau Professor Andresen, die im letzten Herbst veröf-fentlich wurde, werden Fakten genannt, die zeigen, wasArmut für den Lebensalltag von Kindern bedeutet. Faktist, dass eben nur 1 Prozent der Kinder aus der Unter-schicht ein Gymnasium besuchen; 19 Prozent besuchendie Förderschule. Regelmäßigen Freizeitaktivitäten ge-hen nur 47 Prozent der Kinder aus der Unterschichtnach. Der Durchschnitt liegt bei 73 Prozent.Mit einem Anteil von 60 Prozent erleben diese Kindermehrheitlich Mobbing und Gewalt in ihrem Alltag. DerBundesverband der Kinder- und Jugendärzte nimmtauch mit Sorge zur Kenntnis, dass, wie Studien gezeigthaben, neben erhöhten Gesundheitsrisiken als Folge vonFehlernährung und Bewegungsmangel auch eine höhere
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Miriam GrußWahrscheinlichkeit psychosomatischer und psychischerErkrankungen bei armen Kindern besteht.Aber eben nicht die Kinder sind arm, sondern die Fa-milien, in die sie hineingeboren werden. Es ist tatsäch-lich unsere Aufgabe, diesen Zyklus aus oftmals vererbterArmut und Perspektivlosigkeit zu durchbrechen.
Es hat tatsächlich nichts mit Chancengleichheit, die wiralle wollen, zu tun, wenn nicht der Grips über den Bil-dungsweg entscheidet, sondern der soziale Status der El-tern.Deshalb brauchen wir vor allen Dingen Bildung, Bil-dung, Bildung.
Das ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Wir brau-chen qualitativ hochwertige Kindertagesstätten, um Kin-der so früh wie möglich fördern zu können. Da kann sichdie CSU nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir brau-chen kein Betreuungsgeld, das gerade Eltern mit gerin-gem Einkommen motiviert, die Kinder nicht in dieKrippe zu schicken, wodurch den Kindern die frühkind-liche Bildung vorenthalten wird.
Wir müssen das Geld direkt in die Kinder investierenstatt in staatliche Umverteilungsmaßnahmen. Wir gebenin Deutschland im OECD-Vergleich verhältnismäßigviel für Finanzhilfen an Familien aus. Aber das Geldkommt nicht dort an, wo es gebraucht wird.
Wir müssen all jene entlasten, die Kinder haben. Siesind es nämlich, die in Deutschland nach wie vor diehöchste Steuer- und Abgabenlast zu tragen haben. MeineDamen und Herren von der Großen Koalition, Sie habenes geschafft, dass eine durchschnittliche Familie im letz-ten Jahr 1 400 Euro mehr ausgeben musste als in denJahren zuvor.
Es kommt hinzu, dass wir die Elternkompetenz stär-ken und den Eltern Möglichkeiten eröffnen müssen, aufdem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sie ihr Leben indie eigenen Hände nehmen können. Kinder können nichtarbeiten gehen; sie können auch kein Geld verdienen.Sie sind es auch nicht, die wider besseres Wissen dasKindergeld für Smarties statt für Spinat ausgeben.Handeln muss die Devise für 2008 lauten, aber ohneIdeologie und ohne Propaganda. Ich lade Sie, Herr Gysi,ganz herzlich in den Familienausschuss ein; wir habendort schon einen prominenten Gast, nämlich HerrnMüntefering. Dann können Sie einmal die Ausgaben zu-sammenzählen, die Ihre Kolleginnen und Kollegen unsjeden Mittwoch unterbreiten. Mit diesen Mehrausgabenwerden Sie noch mehr Väter und Mütter in die Arbeits-losigkeit bringen, anstatt sie herauszuholen.
So wird die nächste soziale Frage des Jahrhunderts ent-stehen.Danke.
Jetzt spricht die Kollegin Marlene Rupprecht für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Ich habe lange Zeit mit Kindern gearbeitet; das wis-sen Sie. Wenn man mit Kindern zu tun hat, dann benutztman Bilder. Ich will Ihnen ein Bild beschreiben, anhanddessen deutlich wird, worum es geht.Über den Teich des Lebens führt ein Steg. Er ist aberan vielen Stellen morsch und daher nicht mehr sehr sta-bil. Jetzt fallen welche in den See. Ich kann ihnen einenRettungsring zuwerfen; das ist in der akuten Situationvernünftig. Ich kann ihnen einen Luxusrettungsring zu-werfen und sagen: „Schwimmt ruhig weiter!“ Oder ichtue zwei Dinge: Ich repariere erstens den Steg und über-prüfe, ob er noch tauglich ist für die, die darüber gehen,um das Leben zu bewältigen, und ich bringe ihnen zwei-tens das Schwimmen bei.Ich will Ihnen mit diesem Bild zeigen: Wir haben aufzwei Ebenen zu arbeiten. Die eine Ebene sind die Struk-turen, die die Gesellschaft setzen muss. Bei dem, was je-mand auf dieser Ebene fordert, kommt dessen Men-schenbild zutage. Zu meinem Menschenbild gehörenselbstständige, eigenverantwortliche, freie Entscheidun-gen und aufrechter Gang, ohne Almosen erbitten oderTransferleistungen beziehen zu müssen. Dazu braucheich den Steg. Damit ich im Falle von Unbill nicht ab-saufe, muss ich schwimmen lernen. Diese Forderunggeht an mich: Ein bisschen anstrengen muss ich mich,um nicht unterzugehen.Diese beiden Dinge setzen ein Gesellschaftsbild vo-raus, in dem Teilhabe aller Menschen, ob gescheit oderdumm, ob behindert oder nicht behindert, möglich ist.
Dies setzt voraus, dass wir frei entscheiden können. Freizu entscheiden, heißt aber auch, keine Anträge stellenund keine Bittgänge machen zu müssen, sondern das,was ich brauche, dank meiner Fähigkeiten zur Verfü-gung zu haben, und zwar – in der Erwerbsgesellschaft –aufgrund von Erwerbstätigkeit. Dazu muss ich Men-schen durch Bildung befähigen.Kinder kommen – das sage ich als Kinderbeauftragte;ich glaube, da stimmen alle zu – wissbegierig zur Welt.Sie wollen die Welt entdecken. Wir Erwachsene schaffenes nur sehr häufig, ihnen diese Wissbegierde zu nehmen.Aber Kinder wollen die Welt entdecken. Sie sind manch-mal schneller, manchmal langsamer. Wir als Gesell-schaft müssen die Einrichtungen, die wir vorhalten, für
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Marlene Rupprecht
alle gestalten. Das nennt man heute Inklusion. Ich findees schön, die Welt in Vielfalt zu denken und die Kinderdort abzuholen, wo sie sind. Unseren Kindern müssenalle Fördermöglichkeiten offenstehen, damit die Fähig-keiten in ihnen tatsächlich zutage treten. Das, denke ich,ist das Wichtigste.Aus der Hirnforschung wissen wir: Wenn ich gelernthabe, dass es schon irgendwie geht, dass ich mich garnicht anstrengen muss, dann kenne ich nicht das guteGefühl des Erfolgs, nachdem ich mich angestrengt habe.Wenn ich diese Kultur des Sich-Anstrengens nicht ken-nengelernt habe, dann ist das in meinem Hirn nicht ver-ankert, dann weiß ich gar nicht, wie gut sich das anfühlt.Deshalb müssen wir bei den Kindern anfangen, sie ausdieser Mühle herausholen. Dazu müssen aber alle, dieGesellschaft und die Wirtschaft, umdenken. Es genügtnicht, dass die einen von den Kindern fordern, sich anzu-strengen, wenn die anderen sagen: Wir wollen euch garnicht. Du kannst dich zwar anstrengen, du kannstschwimmen und alles Mögliche tun; aber eigentlich hät-test du gar nicht auf die Welt kommen müssen. Damit dunicht stirbst, geben wir dir jetzt eine Grundsicherung. –Eine solche Haltung halte ich in einer Demokratie für fa-tal. Sie setzt voraus, dass man nicht alle Menschen alsvor Gott gleich ansieht, wie es im Grundgesetz verankertist.Gleichheit bedeutet, dass man jedem, der hier an-kommt, das Gefühl vermittelt: Ich bin mit Fähigkeitenausgestattet, die ich entwickeln darf und mit denen ichmir die Teilhabe ermöglichen kann. – Das bedeutet aberauch: Ich muss heraus aus dem Bezug von Transferleis-tungen, wenn ich Demokratie will. Ein Versorgungsstaatbeschränkt die Freiheit kolossal. Er ist nicht mein Ziel.Ich muss die Menschen durch Erwerbstätigkeit in dieLage versetzen, frei zu sein und frei ihr Leben zu gestal-ten. Ich muss Familien so weit bringen, dass sie ihreKinder gut aufziehen können.
Dazu brauche ich natürlich ab und zu einen Rettungs-ring. Wir brauchen Rettungsringe, und wir müssen über-prüfen, ob sie das aushalten, was wir von ihnen fordern.Aber nur die Welt mit Rettungsringen auszustatten, da-mit man nicht absäuft, halte ich für fatal und menschen-verachtend. Deshalb ist es mein Wunsch, dass wir dieWirtschaft auffordern, die Menschen aufzunehmen, sieauszubilden und in Arbeit zu bringen und ihnen gerechteLöhne zu zahlen, und von klein auf Strukturen für ein„Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ – davonspricht der Elfte Kinder- und Jugendbericht – schaffen.Wir dürfen nicht weggucken, sondern müssen hingu-cken, damit unsere Kinder die guten Demokraten derZukunft werden.Danke schön.
Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Lieber Herr Gysi, Kollegin Fischbach hatvorhin versehentlich gesagt, Sie hätten sie erregt. In Ab-stimmung mit der Kollegin stelle ich klar: Sie haben sienicht erregt, Sie haben sie aufgeregt.
Sie hätten sich einiges an Aufregung sparen können– bei allem engagierten Vortrag und angesichts Ihrer ge-schwollenen Halsschlagader während Ihres Vortrags –,wenn Sie sich zumindest der Mühe unterzogen hätten,Ihren eigenen Antrag anzuschauen. Der Antrag datiertvom 18. September 2007; das ist per se noch nichtsSchlechtes. Aber in dem Antrag steht eine Ziffer 5 – ichweiß nicht, ob Sie es gelesen haben –, in der es heißt:Die Befristung der Bezugsdauer des Kinderzuschla-ges auf höchstens 36 Monate wird aufgehoben.In welcher Welt leben Sie denn? Was haben Sie denn inden letzten Monaten mit Ihren Familienpolitikern be-sprochen? Diese Befristung ist mit Wirkung vom1. Januar 2008 aufgehoben. Die Ziffer 5 Ihres Antragshätten Sie sich also komplett schenken können.Ich muss noch einige weitere Sätze zu Ihnen sagen,lieber Herr Gysi, bevor ich zu meinem eigenen Themakomme. Sie haben ausgeführt, in der DDR hätten unsereKanzlerin Angela Merkel und Sie eine Ganztagsschulebesucht.
Meines Wissens waren das Polytechnische Oberschulen.– Eine Ganztagsschule?
– Eine Gemeinschaftsschule; das lasse ich mir gern sa-gen. Gleichwohl liefert diese Gemeinschaftsschule im-merhin den Beweis dafür, dass auch aus diesem Schul-system sehr differenzierte, qualitativ unterschiedlicheErgebnisse herausgekommen sind.
– Das ist wahr, Herr Gysi.Meine Damen und Herren, trotz der konjunkturellenBelebung in den letzten beiden Jahren – die Vorrednerhaben zum Teil bereits darauf hingewiesen – und derTatsache, dass nunmehr im Vergleich zum Dezember2006 immerhin 1,2 Millionen Mitbürgerinnen und Mit-bürger weniger in Arbeitslosigkeit sind und innerhalbvon zwei Jahren fast 900 000 Mitbürgerinnen und Mit-bürger mehr in sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnissen sind, bleibt die traurige Tatsache,dass in Deutschland eine zunehmende Anzahl von Kin-dern, insbesondere von Kleinkindern, nach wie vor inArmut aufwachsen muss.Nach EU-Definition ist ein Haushalt mit zwei Er-wachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren dann ar-mutsgefährdet, wenn er monatlich über weniger als
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Paul Lehrieder1 640 Euro verfügt. Doch auch bei einem derart gerin-gen Einkommen ist in Deutschland keine Familie vonakuter Hungersnot bedroht. Wohl aber gehen mit derdrohenden Armut häufig gesundheitliche Probleme,Lernschwierigkeiten – Herr Kollege Spanier hat diesebenfalls angesprochen –, niedrigere Schulabschlüsseund eine höhere Wahrscheinlichkeit delinquenten Ver-haltens mit der Häufung späterer Arbeitslosigkeit einher.Zunehmende Kinderarmut ist nicht nur im Einzelfalltragisch, sondern kann auch zu erheblichen negativenLangzeitfolgen für die Gesellschaft als Ganze führen.Deshalb ist es unserer Fraktion klar, dass es mehr Sinnmacht, Kinder schon in der Kindertagesstätte zu fördern,anstatt später Schulabbrecher in sogenannten Hartz-IV-Karrieren – das ist fast das Unwort des Jahres geworden –zu unterstützen. Wir wollen lieber Geringqualifiziertemit einem Mindesteinkommen in Arbeit bringen, anstattsie mit Sozialleistungen für den Verlust von Arbeit undTeilhabe an der Gesellschaft abzufinden. Kollege Lau-renz Meyer hat im Rahmen der Wirtschaftsdebatte heuteMorgen genau dies bestätigt.Vorbeugen statt hartzen – so lässt sich auch das Er-gebnis eines Symposiums unserer Fraktion zum Thema„Familien in sozial schwierigem Umfeld“ auf den Punktbringen, das wir in der vergangenen Woche im Reichs-tagsgebäude veranstaltet haben. Kinder aus dem Sozial-transfer zu holen, das ist zwar vor allem aufseiten derKommunen ein Kostenfaktor, entlastet aber auf Dauerdie sozialen Sicherungssysteme. An diesem Symposiumhat auch die „Arche“ Berlin teilgenommen. Ich nutze dieGelegenheit, allen engagierten Mitbürgerinnen und Mit-bürgern landauf, landab, ob in München, Frankfurt,Hamburg oder Berlin, die in ähnlichen Projekten mitar-beiten und uns helfen, Kinder in ein vernünftiges, men-schenwürdiges Leben zu geleiten, herzlich für ihrenMut, ihr Engagement und ihre Arbeit zu danken, die zumTeil eine Sisyphusarbeit ist.
Wir sollten parteiübergreifend prüfen – damit greifeich den Vorschlag des Kollegen Spanier auf –, inwiefernwir unter dem Gesichtspunkt „mens sana in corporesano“ – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper –mit einer gesunden Ernährung, angefangen bei denkleinsten Kindern von null bis drei Jahren bis zumSchulalter über die Bezuschussung eines warmen Mit-tagessens, den Kindern da helfen können, wo es am al-lernötigsten ist. Mit einem vollen Bauch kann man sichden Aufgaben und Anforderungen – sei es in der Kinder-krippe, im Kindergarten oder in der Schule – besser stel-len. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn in einer Kin-dertagesstätte – ob in der Krippe oder im Kindergarten –manche Kinder ein vernünftiges und gesundes Mittages-sen von zu Hause mitbringen, während andere gar nichtsdabei haben. Es darf nicht an den Kosten scheitern, dieseKinder in gleichem Maße zu versorgen.
– Ich kenne Ihren Antrag, Frau Lopez. – Wir sollten unsdamit befassen, welche Möglichkeiten wir in diesem Be-reich haben und wie die Kosten gerecht verteilt werdenkönnen.Wie wichtig das ist, wird deutlich, wenn wir uns vorAugen führen, dass in Deutschland schätzungsweise2,6 Millionen Menschen in der sogenannten ererbten So-zialhilfe leben. Diese Menschen leben bereits in zweiteroder dritter Generation ausschließlich von staatlichenTransferleistungen. Die betroffenen Kinder erleben da-mit staatliche Transfers als langfristige Lebensnormali-tät. Sie kennen keine Eltern oder Großeltern, die mor-gens zur Arbeit gehen und das Einkommen der Familiesichern. Diese Kinder leben nicht nur in Armut, sondernlaufen auch Gefahr, den zum Teil apathischen Lebensstilihrer Eltern nachzuleben.Mit einer finanziellen Steigerung der Sozialtransfersallein ist diesen Kindern nicht geholfen.
Ihre Familien brauchen vor allem eines: Hilfe zur Selbst-hilfe. Umgekehrt kann über die Hilfe für die Kinder invielen Fällen auch eine Veränderung in der Lebensein-stellung der Eltern erreicht werden. Dazu müssen dieaufsuchenden Strukturen verstärkt werden; wir müssenauf die Familien zugehen und sie im Alltag stärken, da-mit das Vererben des Lebensstils, von Sozialtransfers ab-hängig zu sein, wirkungsvoll verhindert werden kann.Leistungsfähige, starke und intakte Familien sind derbeste Kinderschutz und auch der beste Weg, Kinderar-mut entgegenzuwirken.
Dazu gehört aber auch, dass wir uns für bessere Chancenfür alle Eltern auf dem Arbeitsmarkt starkmachen. Kin-der geraten insbesondere dann in Armut, wenn ihre El-tern keine Arbeit haben. Deshalb ist die wachsendeNachfrage am Arbeitsmarkt gemeinsam mit dem zügi-gen Ausbau der Kinderbetreuung der entscheidendeWeg, Kinderarmut mittelfristig und dauerhaft zu senken.Mehr Betreuungsangebote für unter Dreijährige sindinsbesondere eine gute Antwort auf das hohe Armutsrisikovon Alleinerziehenden. Der Ausbau der Kinderbetreu-ungseinrichtungen und die Einführung des Elterngeldessind wirksame Maßnahmen, die die Bundesregierungbereits ergriffen hat.
Herr Kollege!
Ich habe gesehen, dass Sie mich mahnen, zum Endezu kommen, Frau Präsidentin. Ich habe mich am Anfangleider mit Herrn Gysi aufhalten müssen und bin deshalbnoch nicht ganz fertig mit meinen Ausführungen.
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Das ist aber zulasten Ihrer Redezeit gegangen.
Bitte gestatten Sie mir, meine Bemerkung noch zu
Ende zu bringen.
Die Bundesregierung hat, wie gesagt, bereits wirk-
same Maßnahmen ergriffen, um Armut gerade auch bei
den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft – den unter
Dreijährigen – entgegenzuwirken.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau
Präsidentin, für Ihre Geduld.
Jetzt hat Caren Marks das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Armut beschämt nicht die betroffenen Menschen,
Armut beschämt die Gesellschaft.
Dieses Zitat von Ruth Dreifuss, einer Schweizer Sozial-
demokratin, fordert uns alle auf, Armut nicht hinzuneh-
men und aktiv zu werden. Mit Populismus wird aller-
dings kein einziges Kind aus der Armut geholt, Herr
Gysi.
Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, Kindern
gleiche Chancen auf Teilhabe an der Gesellschaft zu er-
öffnen. Die SPD findet sich nicht damit ab, dass immer
mehr Kinder in Armut aufwachsen. Deswegen ist die
Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut seit jeher
ein Schwerpunkt unserer Politik.
Dabei ist uns bewusst, Herr Gysi, dass Kinderarmut
viele Gesichter hat. Materielle Armut ist nur eines da-
von.
Ausreichende finanzielle Mittel sind die Vorausset-
zung, um am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzu-
haben. Aus diesem Grunde haben wir in der letzten
Legislaturperiode den Kinderzuschlag auf den Weg ge-
bracht, und wir werden ihn auch weiterentwickeln. Der
beste Schutz vor Kinderarmut ist aus unserer Sicht, El-
tern Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Auch hier waren
wir erfolgreich; die Zahlen für den Arbeitsmarkt belegen
dies. Ein weiterer wichtiger Schritt ist der Abbau der
Einkommensarmut durch existenzsichernde Löhne. Der
von der SPD geforderte gesetzliche Mindestlohn – das
richte ich an unseren Koalitionspartner – würde Eltern
und ihre Kinder unabhängiger von staatlichen Transfers
machen.
Eltern zu ermöglichen, Familie und Beruf wirklich
besser miteinander zu vereinbaren, verringert ebenfalls
Kinderarmut. Dies gilt insbesondere für Alleinerzie-
hende. Hier haben wir viel erreicht. Wir haben Milliar-
denbeträge in die Hand genommen und in frühkindliche
Bildung und Betreuung sowie Ganztagsschulen inves-
tiert. Bildungschancen für alle führen dazu, dass wich-
tige Potenziale von Kindern und Jugendlichen nicht ver-
loren gehen. Gute Bildung verbessert die Chance auf ein
wirklich selbstbestimmtes Leben ohne Armut. Gleiche
Bildungschancen beginnen bei den Kleinsten. So hat
sich die SPD auch in der Großen Koalition erfolgreich
für den Ausbau der frühen Kinderbetreuung und -förde-
rung ab eins eingesetzt. Wir investieren noch einmal
4 Milliarden Euro. Der Rechtsanspruch auf einen Be-
treuungsplatz ab eins und der Ausbau von Ganztags-
schulen sorgen für optimale Förderung von Kindern, und
zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.
Die SPD setzt sich darüber hinaus für die Beitragsfrei-
heit der Kitas und die Lernmittelfreiheit ein. All diese
Aspekte, meine Damen und Herren von der Linken, ha-
ben Sie in Ihrem Antrag komplett ausgeblendet.
Defizite im sozialen Umfeld von Kindern sind ein
weiteres Gesicht von Kinderarmut. Wir setzen seit Jah-
ren auf bewährte Programme wie „Soziale Stadt“ oder
„Lokale Bündnisse für Familie“; denn wir wissen: Ak-
tive Stadtteilpolitik in den Kommunen, das Entschärfen
sozialer Brennpunkte sowie die Stärkung von Eltern-
kompetenz verbessern die soziale Lebenslage von Kin-
dern. Kinderarmut zeigt sich aber auch in Form von
schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung. Des-
halb fördert gerade unsere Bundesgesundheitsministerin
Ulla Schmidt gesundheitliche Prävention, gesunde Er-
nährung und Früherkennung von Krankheiten bei Kin-
dern.
All dies zeigt: Die SPD hat die unterschiedlichen Ge-
sichter von Kinderarmut im Blick. Unter der Leitung
von Wolfgang Jüttner haben wir aktuell alle Kräfte ge-
bündelt
und eine Gesamtstrategie entwickelt. Unsere Ziele sind
eine kinderfreundliche Gesellschaft und gleiche Lebens-
und Verwirklichungschancen für wirklich jedes Kind.
Hier sind wir alle gefordert, nicht nur im Bund, sondern
auch in den Ländern und in den Kommunen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, die Vor-lage auf Drucksache 16/6430 an die in der Tagesordnung
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardtaufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung desWahl- und Abgeordnetenrechts– Drucksache 16/7461 –– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Bundeswahlgesetzes – Drucksache 16/1036 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 16/7814 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer
Klaus Uwe BenneterGisela PiltzPetra PauSilke Stokar von Neufornb) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Achtzehnten Gesetzes zur Än-derung des BundeswahlgesetzesBeschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 16/7815 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer
Gabriele FograscherDr. Max StadlerPetra PauSilke Stokar von Neufornc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. GesineLötzsch, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEWahlmanipulationen wirksam verhindern– Drucksachen 16/5810, 16/7816 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer
Klaus Uwe BenneterGisela PiltzJan KorteSilke Stokar von NeufornHierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Red-ner dem Kollegen Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Das Wahl- undAbgeordnetenrecht steht zugegebenermaßen auf der po-litischen Agenda nicht immer ganz oben, aber alle politi-schen Parteien sollten gut daran tun, sich intensiv mitdem Wahl- und Abgeordnetenrecht zu beschäftigen;
denn Wahlen sind neben Abstimmungen nach unseremGrundgesetz die Form, in der das Volk die Staatsgewaltausübt. Die Volkssouveränität ist die Materie, die für un-sere demokratische Gesellschaftsordnung grundlegendist. Das Wahl- und Abgeordnetenrecht dient meines Er-achtens auch dazu, der offenbar zunehmenden Politik-und Politikerverdrossenheit entgegenzuwirken. Ein gu-tes Wahl- und Abgeordnetenrecht kann meines Erach-tens auch dazu beitragen, die Partizipation der Bevölke-rung am politischen Geschehen und damit letztendlichan Wahlen zu erhöhen.Es trifft nicht zu – dies wurde teilweise kolportiert –,dass wir nichts am Wahlrecht ändern. Ganz im Gegen-teil: Das Wahl- und Abgeordnetenrecht wird einfacher,unbürokratischer und bürgerfreundlicher.
Ich möchte die wichtigsten Aspekte der Novellierungdes Wahl- und Abgeordnetenrechts darstellen.Wir ändern das Berechnungsverfahren für die Vertei-lung der Wahlkreise auf die Länder sowie für die Vertei-lung der Sitze auf die Landeslisten. Von dem bisherigenBerechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer wird zumVerfahren nach Sainte Laguë/Schepers übergegangen.Ein Vorteil des neuen Berechnungsverfahrens – es wirdbeispielsweise schon bei den Bürgerschaftswahlen inBremen und Hamburg angewandt, aber auch bei denLandtagswahlen in Baden-Württemberg – ist, dass esnicht zu paradoxen Ergebnissen kommen kann – das istzugegebenermaßen sehr selten der Fall –, wie das beidem Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer mög-lich ist. Dies wäre der Fall, wenn Parteien, die mehrStimmen bekommen, einen Rückgang der Mandate zuverzeichnen haben. Ein weiterer Vorteil des Berech-nungsverfahrens nach Sainte Laguë/Schepers ist, dassdie Wahlkreiskontinuität erhöht wird. Das heißt, dass esweniger Hin und Her bei der Berechnung der Wahlkreisegibt, die auf die einzelnen 16 Bundesländer verteilt sind.
Des Weiteren führen wir nunmehr das aktive Wahl-recht für alle im Ausland lebenden Deutschen ein. Dasmag auf den ersten Blick vielleicht etwas verwundern.Bisher war es so, dass nur die im Ausland lebendenDeutschen, die sich in Mitgliedsländern des Europaratesaufhielten, ein unbefristetes aktives Wahlrecht hatten.Das ist aber anachronistisch, weil es mittlerweile imZeitalter des Internets und der modernen Kommunika-
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Stephan Mayer
tionsmethoden meines Erachtens von überall auf derWelt gleichermaßen möglich ist, sich über das politischeGeschehen in Deutschland und über die politischen undgesellschaftlichen Vorgänge zu informieren.Ein wichtiger Punkt im Bereich der Entbürokratisie-rung ist folgender: Wir verzichten in Zukunft darauf,dass die Bürgerinnen und Bürger, die die Briefwahl inAnspruch nehmen, die Gründe ihrer Verhinderungglaubhaft machen müssen. Die Briefwahl ist ein wichti-ger Bestandteil der Wahlen insgesamt. Allein bei derBundestagswahl 2005 haben 18,7 Prozent der Wählerin-nen und Wähler nicht von der Urnenwahl, sondern vonder Briefwahl Gebrauch gemacht. Es waren immerhin9 Millionen Wählerinnen und Wähler, die man dazu ver-pflichtet hat, ihre Verhinderungsgründe am Wahltagglaubhaft zu machen. Einmal abgesehen davon, dass daseine Regelung war, die im Einzelfall ohnehin nicht über-prüft werden konnte, damit meines Erachtens vollkom-men sinnlos war und übertriebenen und unnötigen For-malismus darstellte, ist es wichtig, mit dem Verzicht aufdie Glaubhaftmachung den Weg zur Teilnahme an derBriefwahl zu erleichtern und zu vereinfachen. Deswegenist es ein wichtiger Aspekt zum Thema Entbürokratisie-rung, wenn nunmehr auf die Glaubhaftmachung verzich-tet wird.
Ich komme zu einem Punkt, der dazu beitragen soll,dass die Wahlbeteiligung nicht, wie in der Vergangen-heit, zurückgeht, sondern vielleicht sogar wieder steigt.Auch in Zukunft ist die Teilnahme an der Briefwahl kos-tenlos. Diese Regelung war erforderlich, nachdem dasBriefmonopol für Briefe unter 50 Gramm zum 1. Januar2008 aufgehoben wurde. Nunmehr bleibt es bei der Kos-tenfreiheit der Teilnahme an der Briefwahl.Eine Regelung hat in der Vergangenheit nie Relevanzgehabt: Nach der Wahl zum Bundestagsabgeordnetenmusste man erst eine förmliche Mandatsannahmeerklä-rung abgeben. – Es gab keinen einzigen Fall, in dem einKollege oder eine Kollegin von uns das errungene Di-rektmandat nicht angenommen und diese Mandatsan-nahmeerklärung nicht abgegeben hat. In Zukunft ver-zichten wir auf die Mandatsannahmeerklärung. Auchdas ist ein positiver Aspekt.Im Wahlgesetz soll ausdrücklich festgestellt werden,dass eine Nachwahl – eine solche war leider Gottes im-mer wieder einmal notwendig – auch am Tag der Haupt-wahl stattfinden kann. Diese Praxis ist schon bisher ge-übt worden. Jetzt schreiben wir das explizit insWahlgesetz.In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf denGesetzentwurf des Bundesrates eingehen, der die Mög-lichkeit vorsieht, in Zukunft fakultativ Ersatzbewerberaufzustellen. Ich möchte uns ermahnen, diesen Gesetz-entwurf nicht anzunehmen. Hintergrund des Entwurfs istdie Nachwahl in Dresden, die bei der Bundestags-wahl 2005 erforderlich gewesen ist. Dazu möchte ichganz deutlich sagen: So unschön diese Nachwahl, wennauch nicht hinsichtlich des Ergebnisses, für die Unionwar, so wenig würde diese Fallkonstellation durch die imGesetzentwurf des Bundesrates vorgeschlagenen Rege-lungen gelöst werden. Zum einen steht im Gesetzent-wurf des Bundesrates, dass die Aufstellung von Ersatz-bewerbern nur fakultativ ist, also keine Verpflichtungbesteht, Ersatzbewerber aufzustellen. Zum anderen be-steht theoretisch die Möglichkeit, dass auch ein Ersatz-bewerber noch vor der Durchführung der Hauptwahlverstirbt. Selbst wenn die Gesetzeslage so wäre, wie sieder Bundesratsentwurf vorsieht, wäre bei bestimmtenFallkonstellationen die Notwendigkeit einer Nachwahlnicht gänzlich ausgeschlossen.Ein weiterer Punkt: Für den Fall, der immer wiedereinmal vorkommt, dass Stimmzettel aus einem anderenWahlkreis in einer Wahlurne landen, ist zukünftig vorge-sehen, dass zumindest die Zweitstimme gewertet wird.Die Erststimme kann natürlich nicht gewertet werden,aber die Zweitstimme soll gewertet werden, um demWählerwillen, der ja erkennbar ist, in größtmöglicherArt und Weise Rechnung zu tragen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in politi-scher Hinsicht vielleicht der wichtigste Punkt der Novel-lierung des Wahl- und Abgeordnetenrechts ist meinesErachtens, dass es in Zukunft nicht mehr erlaubt seinwird, dass parteifremde Bewerber auf Listenplätzen kan-didieren. Bei der Bundestagswahl 2005 gab es dieseKonstellation. Es besteht gerade in Zukunft die großeGefahr, dass sich verstärkt kleine und Kleinstparteienzusammentun und in produktiver Weise zusammenarbei-ten, um damit über die 5-Prozent-Sperrklausel zu kom-men.Das Verfassungsgericht hat ja ganz klar festgestellt,dass es das Monopol der Parteien ist, Kandidaten aufzu-stellen, und zwar deshalb, weil die Homogenität einesWahlvorschlages insbesondere durch das Parteipro-gramm, auf das sich die Mitglieder einer Partei verstän-digt haben, hergestellt wird. Ich glaube, es würde zuneh-mend zu Wählertäuschungen kommen, wenn wir eszulassen würden, dass weiterhin verdeckt gemeinsameListen aufgestellt werden. Es ist deshalb in politischerHinsicht eine ganz wichtige Neuerung, dass diese ver-deckt gemeinsamen Listen in Zukunft nicht mehr erlaubtsind. Parteilose Bewerber dürfen natürlich auf Wahllis-ten kandidieren; aber parteifremde Bewerber dürfen inZukunft, nach der Novellierung des Wahlrechts, nichtmehr kandidieren.
Natürlich war es, wie in jeder Legislaturperiode, auchunsere Aufgabe, die 299 Wahlkreise neu einzuteilen.Dies ist nicht immer einfach. Man kann bei diesem Vor-haben nicht immer allen Wünschen und allen Vorstellun-gen gerecht werden. Wir haben dies meines Erachtens ingrößtmöglicher Seriosität und Geschlossenheit ge-schafft. Es war leider nicht zu verhindern – das möchteich nicht verhehlen –, zwei Wahlkreise aufgrund des Be-völkerungsrückgangs in den betreffenden Bundeslän-dern zu transferieren. Es trifft dieses Mal die beiden Ost-länder Sachsen und Sachsen-Anhalt.
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Stephan Mayer
Das ist bedauerlich; ich möchte das hier in aller Deut-lichkeit festhalten. Um aber bei der Bundestagswahl2009 wirklich mit Sicherheit verfassungsgemäße Wah-len durchführen zu können, war es, um dem Grundsatzder Wahlgleichheit Genüge zu tun, erforderlich, zweiWahlkreise zu verschieben, und zwar einen Wahlkreisvon Sachsen nach Baden-Württemberg und einen ande-ren Wahlkreis von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen.Wir werden insoweit den Vorgaben des Wahlgesetzesund auch des Bundesverfassungsgerichtes gerecht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,wir bieten mit diesem Vorschlag, den wir zur Novellie-rung des Wahl- und Abgeordnetenrechts unterbreiten,insgesamt eine ausgewogene, eine sachgerechte und einevernünftige Grundlage für die Durchführung der Bun-destagswahl 2009 an. Wir legen Hand ans Wahlrecht.Wir tun etwas. Es könnte natürlich immer noch mehr ge-macht werden, aber dazu bedarf es einer Verständigung.Das wird jetzt nicht die letzte Novellierung des Wahl-und Abgeordnetenrechts sein. Es wird mit Sicherheitauch in der nächsten Legislaturperiode wieder einer No-vellierung bedürfen. Ich glaube aber, wir können mitStolz feststellen: Nach dieser Novellierung haben wir einaußerordentlich modernes, sachgerechtes und praktika-bles Abgeordneten- und Wahlrecht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist zu begrüßen, dass die Koalitionsfraktionenuns heute einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, um eineAnpassung der Wahlkreise vorzunehmen. Das ist not-wendig, damit wir den Grundsatz der Gleichheit derWahl in unserem Land auch wirklich realisieren können.Jeder Wahlkreis repräsentiert circa 250 000 Wähler. Manmuss feststellen: Durch die Ost-West-Abwanderung istdie Anzahl der Menschen in einzelnen Wahlkreisen, vorallem in Sachsen und Sachsen-Anhalt, so weit gesunken,dass eine Anpassung dringend notwendig ist.Eines bedauern wir als FDP-Fraktion besonders: Esist uns immer noch nicht gelungen, mindestens zweiWahlkreise, nämlich Krefeld und Rotenburg-Verden, sozurechtzuschneiden, dass es dem Willen der Bürger ent-spricht und mehr oder weniger den Stadtkreis abbildet.Manchmal ist das nicht so einfach möglich.
Auch wenn die Zeit drängt, weil die Wahlvorbereitun-gen für die Bundestagswahl ab März beginnen und damiteine intensive Phase des Wahlkampfs vor uns liegt, soll-ten wir uns in diesem Parlament immer noch auf einenrespektvollen Umgang verständigen. In Angelegenhei-ten, die das Parlament selbst betreffen – dazu gehörennatürlich Wahlangelegenheiten –, werden vor der Ein-bringung eines solchen Gesetzentwurfs normalerweiseBerichterstattergespräche geführt. Das hat es diesmalnicht gegeben. Wir stellen fest, dass das eine weiterePerpetuierung des Zustands der „groben Koalition“ ist.Sie sind sich selbst genug, Koalition und Opposition ineinem. Da muss man nicht mehr mit der wahren Opposi-tion sprechen. Wir bedauern das sehr.
Eines ist klar: Das Wahlrecht für den Bundestag geht unsalle an, die wir hier sitzen, und nicht nur Sie in der Mittedes Hauses. – Das ist aber auch alles an Mitte.
Den meisten Punkten, die Sie geändert haben – dashaben wir im Ausschuss schon besprochen –, könnenwir zustimmen. So haben wir seit langem gefordert, dasBerechnungsverfahren, um Wählerstimmen in Abgeord-netenmandate umzurechnen, zu ändern. Ungereimthei-ten, die bei anderen Berechnungsmethoden auftretenkönnen, werden mit dem Verfahren Sainte Laguë/Schepers vermieden. Zudem wird mit diesem Verfahrendie Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen optimiert.Auch dem Vorschlag, den im Ausland lebenden Deut-schen ein zeitlich unbefristetes Wahlrecht einzuräumen,können wir folgen. Ich glaube, das ist in Zeiten, in denenman sich über das Internet immer gut darüber informie-ren kann, was zu Hause los ist, eigentlich eine Selbstver-ständlichkeit. Es ist übrigens auch ein Beitrag zur Ent-bürokratisierung.Einen Beitrag zum Bürokratieabbau stellt ebenfalls– das haben auch Sie, Herr Mayer, gesagt – der Vor-schlag zur Briefwahl dar. Die Briefwahl erfreut sich ei-ner steigenden Beliebtheit. Das können wir alle verste-hen: Wenn man nicht genau weiß, ob man am Wahltagzu Hause sein wird oder nicht, dann möchte man seineStimme abgeben können. Ich denke, es ist nachvollzieh-bar und sicher sehr richtig, dass wir jetzt dafür sorgen,dass den Bürgern Briefwahl möglich ist, ohne dass sielügen müssen – so muss man es einmal nennen – undohne dass die Verwaltung gehalten ist, Nachprüfungenvorzunehmen.Auch das, was Sie zu den Briefumschlägen, mit de-nen die Stimmzettel verpackt werden, vorgeschlagen ha-ben, ist klug. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe früherin einem Amt für Wahlen und Statistik gearbeitet. Ichkann Ihnen sagen: Es ist nicht selbstverständlich, dassdiese Umschläge in der richtigen Reihenfolge eingetütetwerden. Auch da leisten wir unseren Beitrag dazu, dassjede Stimme beim Auszählen gewertet wird. So viel zuIhrem Gesetzentwurf.Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung können wirhingegen nicht folgen. Dieser Entwurf sieht zwar die fa-kultative Benennung eines Ersatzkandidaten für einenWahlkreisbewerber vor.
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Gisela Piltz– Des Bundesrats natürlich. Entschuldigung, ich habemich versprochen. So nah wollte ich Ihnen jetzt nichttreten, dass ich Ihnen das unterstelle.
– Ach, Herr Benneter, morgen führen wir doch eine sehrspannende Debatte zur Bundespolizei. Diese Wochewäre ich, ehrlich gesagt, nicht so vorlaut. Aber bitte!
Wir können dem Gesetzentwurf des Bundesrats nichtzustimmen; denn danach wären die für einen ausgefalle-nen Wahlkreiskandidaten abgegebenen Stimmen ungül-tig. Ich glaube, es ist klar: Das ist nicht der richtige Weg.Wir als FDP-Bundestagsfraktion hätten uns eine Ände-rung in diesem Fall sehr gewünscht. Das, was wir in die-ser Legislaturperiode erleben mussten – Kollegen warenfaktisch im Bundestag und fielen durch eine Nachwahlwieder heraus –, war nämlich sicherlich keine Stern-stunde für dieses Haus.Dem Antrag der Linken, den wir hier mit beraten,werden wir nicht zustimmen. Es ist keine Frage, dassman sich damit beschäftigen muss, inwieweit Wahl-maschinen unseren Anforderungen technisch entspre-chen. Im Prinzip tun sie das aus unserer Sicht im Mo-ment noch nicht, weil man nicht überprüfen kann, obeine Stimme tatsächlich so abgegeben worden ist, wiesie gezählt wurde. Dabei haben wir es in den letzten Jah-ren mit vielen Problemen zu tun gehabt. Wären wir aller-dings technikfeindlich – Sie schlagen vor, ein für alleMal festzulegen, dass wir das nicht machen –, verschlös-sen wir, glaube ich, unsere Augen vor dem, was möglichist. In anderen Ländern wird uns das vorgemacht, zumBeispiel mit Onlinewahlen. Wenn wir die Leute aufDauer zur Abstimmung bewegen wollen, müssen wirneue Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Wir lehnen Ih-ren Antrag ab, weil wir der Ansicht sind, dass man dasauf Dauer nicht ablehnen kann. Wir sehen aber das Pro-blem.Ich komme damit zum Schluss. Wir würden uns indiesem Hause gerne mit anderen Möglichkeiten der Or-ganisation von Wahlen und Partizipation beschäftigen.Dazu liegen drei Gesetzentwürfe vor. Wir würden unsfreuen, wenn Sie uns bei dem einen oder anderen Ge-setzentwurf unterstützen würden. Ob Menschen zurWahl gehen, hängt nach unserer Ansicht nämlich nichtnur davon ab, dass sie ihre Stimme per Briefwahl abge-ben können. Sie müssen auch das Gefühl haben, sichwirklich einbringen zu können.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter von
der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-ginnen und Kollegen! Kollege Mayer hat zwar die meis-ten Punkte, auf die ich hinweisen wollte, schon ange-sprochen; lassen Sie mich aber trotzdem ganz kurz aufein paar Aspekte eingehen.Frau Piltz, Frau Stokar von Neuforn, entschuldigenSie, dass wir Sie nicht einbezogen haben. Ich bitte umNachsicht.
Wir haben viele Gespräche führen müssen und sind des-halb aus Zeitnot nicht dazu gekommen. Frau Piltz, ichhabe Ihren Worten entnommen, dass wir in ideeller Hin-sicht all das berücksichtigt haben, was Sie sich wün-schen. So habe ich Sie verstanden.
Bewerber, die einer anderen Partei angehören als der,auf deren Landesliste sie stehen, werden in Zukunft zurWahl nicht mehr zugelassen. Bei der letzten Bundestags-wahl haben WASG und PDS gemeinsame Kandidatenaufgestellt.
Die Landeswahlausschüsse mussten darüber entschei-den, hatten aber keine gesetzliche Grundlage dafür. Siehaben das oftmals mit Bauchschmerzen zugelassen, ob-wohl unser Gesetz Listenverbindungen nicht vorsieht.
Wir haben Parteien, weil sich viele Menschen auf ge-meinsame Ziele und gemeinsame Ideen verständigt ha-ben. Bei einer Wahlentscheidung geht es um Klarheit fürdie Wählerinnen und Wähler. Sie müssen wissen, fürwen sie sich entscheiden können. Deswegen muss jedePartei mit einer eigenen Liste antreten. Auf diese Artund Weise soll verhindert werden, dass sie die Zielset-zung, keine Splitterparteien im Parlament zu haben,umgehen können. Zu diesem Zweck haben wir die Fünf-prozentklausel, die Grundmandatsklausel sowie die Un-terschriftsquoren für Wahlkreisbewerber und für Par-teien, die sich bisher in keinem Parlament bewährthaben. All das sind Kriterien, die helfen, den Parlamen-tarismus vernünftig zu organisieren. Deshalb haben wirsolche Verbindungen für die Zukunft ausgeschlossen.Die neue Regelung wird für alle Parteien gelten, auch fürdie inhaltlich und personell zerstrittenen Parteien am äu-ßersten rechten Rand. Auf diese Art und Weise könnensie sich auch in Zukunft nicht gegenseitig ins Parlamenthelfen. Ich denke, das ist ein großer Vorteil.Lassen Sie mich noch einen Wermutstropfen anbrin-gen: Auch wenn das Wahlrecht durch dieses Gesetz hin-sichtlich der Berechnungsmethoden besser und für dieBürger in der Anwendung unbürokratischer, klarer und
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Klaus Uwe Benneterzielgenauer wird, ist es uns nicht gelungen, uns auf einegemeinsame Regelung für die Nachfolge bei Überhang-mandaten zu verständigen. Ich halte es weiterhin für einUnding, dass Mandate während der Legislaturperiodeersatzlos wegfallen können, weil Abgeordnete aus Bun-desländern, die Überhangmandate hatten, sterben,schwer erkranken oder aus sonstigen Gründen auf ihrMandat verzichten müssen und aus dem Parlament aus-scheiden müssen. Die Bürger der betroffenen Wahlkreisewünschen sich eine Nachfolgeregelung. In diesem Fallverlieren sie nämlich eine wichtige Stimme für ihre Re-gion im Deutschen Bundestag. Ich denke, auch das sollteman berücksichtigen.Mir geht es vor allem darum, dass eine der wichtigs-ten Funktionen des Wahlrechts sichergestellt wird: Dasam Stichtag festgestellte Wahlergebnis muss eine stabileGrundlage für eine während der ganzen Legislatur-periode stabile Regierung bilden. Das ist bisher nicht im-mer gewährleistet. Insoweit bleibt dieses Problem für dienächste Wahlperiode auf der Tagesordnung. KollegeMayer hat schon darauf hingewiesen, dass auch in dernächsten Wahlperiode wieder über eine weitere Verfei-nerung des Wahlrechts nachzudenken sein wird.Ich komme noch zum Antrag der PDS-Fraktion. Wirsollen auf ein Verbot von Wahlcomputern und der Inter-netwahl hinwirken. Die Internetwahl gibt es bei uns garnicht. Deshalb ist sie nicht verboten. Aus diesem Grundebraucht man sich dazu nicht zu äußern. Die Möglichkeitdes Einsatzes von Wahlgeräten steht in Deutschland seit1975 – das sind nun schon mehr als 30 Jahre – im Wahl-gesetz. Wir haben bisher nicht einen einzigen ernst zunehmenden Hinweis darauf, dass es beim bisherigenEinsatz von Wahlgeräten – sie sind tatsächlich schonumfassend eingesetzt worden – zu Wahlmanipulationengekommen ist.Im Übrigen ist beim Bundesverfassungsgericht in Sa-chen Wahlcomputer eine – zugegeben gut begründete –Wahlprüfung anhängig. Falls sich nach einer Entschei-dung Handlungsbedarf ergeben sollte, können wir dieseFrage ganz in Ruhe angehen. Jetzt werden wir erst ein-mal den Antrag der PDS ablehnen.Danke.
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zum Verfahren ist hier schon etwas gesagt worden.Auch wir finden es äußerst bedenklich, dass man bei ei-ner solchen Frage nicht die Oppositionsfraktionen ein-bindet. Es sollte beispielsweise darauf Rücksicht genom-men werden, dass in Sachsen-Anhalt, Herr Bergner,gerade eine Kreisgebietsreform durchgeführt wurde. Fürdie Abgeordneten aus Sachsen-Anhalt, die nicht derSPD oder der CDU angehören, ist nicht nachvollziehbar,inwieweit das berücksichtigt wurde. Das erschließt sichaus Ihrer Vorlage überhaupt nicht. Deswegen hätten wires sinnvoll gefunden, wenn hier alle eingebunden wor-den wären. Mir haben Kollegen aus allen Fraktionen, diedem Bundestag schon mehrere Jahre oder sogar Jahr-zehnte angehören, gesagt, dass das früher möglich gewe-sen ist.Trotzdem stehen in dem Gesetzentwurf einige sinn-volle Sachen; das ist völlig unbestritten. Ich möchte nuran zwei Punkten deutlich machen, warum es politischein Problem ist, dass über den Gesetzentwurf nicht dis-kutiert wurde. Der erste Punkt ist, dass Ostdeutschlandzwei Wahlkreise in Sachsen und Sachsen-Anhalt ver-liert. Das ist nicht nur ein arithmetisches Problem, dasman mit der Notwendigkeit der Reform erklären könnte.Vielmehr ist es auch ein politisches Problem. Das hättenwir doch gemeinsam diskutieren müssen.
Die Folge ist, dass die Regionen in diesem Land, diedie größten strukturellen und sozialen Probleme haben,dadurch an Repräsentanz verlieren. Das hätte man zumAnlass nehmen können, über folgende Fragen zu disku-tieren: Wie können wir die weitere Abwanderung auf-halten? Wie können wir jungen Menschen im OstenPerspektiven geben? Wie können wir endlich zu gleich-wertigen Lebensverhältnissen in Ost und West kommen?
Genau das interessiert die Menschen. Ich finde, das istnur bedingt witzig. Diese wichtigen Fragen hätte mandiskutieren können, um so mit den Menschen aus Ost-deutschland ins Gespräch zu kommen.Der zweite Punkt, der angesprochen worden ist undbei dem es einen Dissens gibt, ist die Regelung derWahllisten. Es geht darum, dass Parteimitglieder nichtfür eine andere Partei kandidieren dürfen. Wir als Linkehaben mit genau dieser Regelung sehr gute Erfahrungengemacht, was auch unsere Debatten sehr bereichert hat.Deswegen finde ich diese Regelung nicht sehr sinnig.Vielmehr empfinde ich sie als einen Eingriff in die Auto-nomie der Parteien.
Kollege Benneter, das Problem der Rechtsextremenist bei allen Debatten, die wir führen, zuallererst eine Sa-che der politischen zivilgesellschaftlichen Auseinander-setzung. Das werden wir mit einem solchen Gesetzent-wurf nicht lösen können. So viel dazu.Abschließend komme ich zu unserem Antrag „Wahl-manipulationen wirksam verhindern“. Es ist eben nichtso, dass es mit dem Einsatz von Wahlcomputern keineErfahrungen gibt. Im Gegenteil: Es gibt damit sehrschlechte Erfahrungen. Diese wurden in den Niederlan-den gemacht; die niederländische Regierung hat dieWahlgeräte daher aus dem Verkehr gezogen.Warum ist das auch grundsätzlich ein Problem? DasVerfahren der Wahl, vom Aufstellen der Urne über das
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Jan KorteEinwerfen des Wahlzettels bis hin zum Auszählen, ist öf-fentlich. Der Bürger kann also nachvollziehen, was dortpassiert. Das Problem ist, dass das bei einem Wahlcom-puter nicht möglich ist. Nicht möglich ist es auch, Fehlerauszuschließen, wie jeder an seinem PC mindestens ein-bis zweimal im Jahr feststellen kann. Auch das ist einProblem.
Kollege Korte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Mayer?
Ja.
Wie viele Fälle von Wahlmanipulation mit Wahlcom-
putern in Deutschland sind Ihnen bekannt?
Das Problem ist, dass Wahlmanipulation möglich ist.
Einen solchen Fall gab es gerade in Hamburg; dort hat
übrigens auch die SPD nun gesagt: Die Wahlcomputer
müssen wir aus dem Verkehr ziehen. Der Chaos Compu-
ter Club hat nachgewiesen, dass eine Manipulierbarkeit
jederzeit möglich ist. Wir wollen das von vornherein
ausschließen. Deswegen haben wir diesen Antrag ge-
stellt. Er ist weit in die Zukunft schauend, aber doch
praktisch in der Tagespolitik. Es ist nun in mehreren Fäl-
len nachweisbar gewesen, dass Manipulationen möglich
und technisch ein Leichtes sind und vor allem dass es
Anfälligkeiten bei Computern gibt. Das ist doch völlig
unbestritten. Auch hier kann wohl niemand ernsthaft be-
gründen, warum es bei Wahlcomputern anders sein sollte
als bei privaten PCs. Der Antrag blickt in die Zukunft
und soll Irritationen im Vorfeld verhindern.
Letzte Anmerkung, die ich dazu machen will. Wir
wollen nicht irgendwann wie in Florida enden, dass wir
also Wahlcomputer haben, die nicht funktionieren. Dort
wurde zu allem Überfluss der Falsche zum Präsidenten
gewählt, weil der Computer nicht funktionierte. Das geht
nicht. Ich glaube, auch hier im Hause gibt es eine Mehr-
heit, die nicht unbedingt will, dass Angela Merkel, wenn
sie real knapp verliert, wegen einer Computerpanne
noch einmal Bundeskanzlerin wird. Das wollen wir aus-
schließen. Es sollte eine genaue Wahl geben.
Deswegen fände ich es sinnig, wenn Sie diesem, wie ich
finde, sehr guten Antrag zustimmen würden.
Eine letzte Anmerkung an Kollegin Piltz gerichtet:
Natürlich ist es so, dass wir das wieder ändern können,
wenn nachgewiesen ist, dass Wahlcomputer sicher sind.
Das wäre kein Problem. Das kann ja nicht davon abhal-
ten, dem Antrag jetzt zuzustimmen. Denn klar ist: Wo
der Fortschritt ist, ist auch immer die Linke.
Deswegen ist das kein Hinderungsgrund.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neufornfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hättemich gern intensiv mit den Änderungen des Bundes-wahlgesetzes befasst. Ich hätte mich auch gern damit be-fasst, ob zum Beispiel in Niedersachsen die Neuauftei-lung der Wahlkreise genau so vonstatten gehen muss.Lieber Kollege Benneter, Ihre Bitte um Entschuldigung,dass der Dauerstreit der Großen Koalition nun zu einemVerlust an gewachsener parlamentarisch-politischer Kul-tur führt, kann ich nicht annehmen. Es kann nicht sein,dass Sie sich so lange mit Herrn Grindel streiten
und uns, den Oppositionsfraktionen, dann sagen, dasswir aufgrund des Dauerstreits in der Großen Koalitionjetzt halt nicht mehr, obwohl das in den vergangenenJahren immer der Fall gewesen ist,
an der Neuaufteilung der Bundestagswahlkreise beteiligtwerden.Ich erinnere mich sehr gut, dass wir unter Rot-GrünVerfahren hatten, die den ganzen Tag in Anspruch genom-men haben, und zwar aus guten Gründen. Ich möchte esweder der Software WEGIS überlassen, die Bundestags-wahlkreise aufzuteilen, noch ist es eine vernünftige Vor-gehensweise, wenn die Regierungsfraktionen das hinterverschlossenen Türen selbst bestimmen, uns die Ergeb-nisse einen Abend vor der Sitzung des Innenausschusseszukommen lassen und wir hier nur noch zustimmen kön-nen. Ich kann den Niedersachsen nicht erklären, warum esdiese Neuaufteilung gibt. Ich hätte es gern gemacht, wennich eingebunden worden wäre.
Zu den anderen Punkten im Bundeswahlgesetz ist eini-ges gesagt worden. Auch wir begrüßen die Umstellungdes Auszählverfahrens. Es scheint das bessere mathema-tische Verfahren zu sein. Auch wir begrüßen das unbe-schränkte aktive Wahlrecht für im Ausland lebende Deut-sche.Ähnlich wie die Linksfraktion, obwohl sie hier ja ei-gentlich in klammheimliche Freude ausbrechen müsste,sind auch wir gegen die Änderung, dass es jetzt ein sorestriktives Verbot gibt, Mitglieder einer anderen Parteimit auf die Liste zu nehmen. Hier hätten andere Rege-lungen für Transparenz sorgen können, indem man daszum Beispiel auf dem Wahlzettel kenntlich macht. DasErgebnis ist: Die Linkspartei muss sich nicht mehr mit
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Silke Stokar von Neuforndem Wunsch der DKP, ihre Mitglieder in ihre Listen auf-zunehmen, auseinandersetzen.
Deshalb sage ich: Eigentlich müssten Sie eine klamm-heimliche Freude empfinden. Aus Demokratiegründenhalte ich dieses Mittel für zu restriktiv. Für mich gilt hierdie Autonomie der Parteien. Mit anderen Regelungenhätten wir für Transparenz sorgen können.Ich komme zu meinem letzten Punkt: den Wahlcompu-tern. Ich finde es bemerkenswert, dass 45 000 Wählerinnenund Wähler beim Bundestag eine Petition eingereicht ha-ben, in der sie ausgeführt haben, dass sie Manipulationdurch den Einsatz von Wahlcomputern befürchten und dasssie den Bundestag auffordern, eine gesetzliche Regelung zuschaffen, die es verhindert, dass entsprechende Modellver-fahren durchgeführt werden. Damit würde man natürlichein bestimmtes Interesse verfolgen; deswegen ist die FDPin dieser Frage auf einmal nicht mehr Bürgerrechtspartei,sondern Wirtschaftspartei.
Es gibt in Europa nur wenige Unternehmen, die dieWahlen in Deutschland nutzen wollen, um in einem Mo-dellversuch mit Wahlmaschinen, die überhaupt nochkeine Marktreife haben, in die Wahlen einzugreifen.
Dies ist in Hamburg nachgewiesen worden. Ich finde espeinlich, dass ausgerechnet Herr Koch in Hessen Wahl-maschinen der Firma Nedap zulässt, die in den Nieder-landen aufgrund ihrer Fehleranfälligkeit gerade erst ausdem Verkehr gezogen worden sind.
Ich kann gut nachvollziehen, dass sich Herr Koch an denletzten Strohhalm klammert. Er hat wohl im Hinterkopf,dass ihm Wahlmaschinen vielleicht noch zu einem zwei-felhaften Sieg verhelfen könnten.
Eines ist eine Selbstverständlichkeit: Solange dieBürgerinnen und Bürger berechtigte Sorgen haben, dassWahlen durch den Einsatz von Wahlmaschinen manipu-liert werden können, darf das ökonomische Interessehier nicht im Vordergrund stehen. Wir stehen dem Ein-satz technischer Verfahren bei Wahlen offen gegenüber,wenn sie ausgereift sind. Bundestags- und Landtagswah-len sind aber ein viel zu ernster demokratischer Vorgang,als dass sie zu einem Experimentierfeld für zweifelhafteGeschäftsideen gemacht werden sollten.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPD-
Fraktion.
Danke schön. – Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich werde mich in meinem Beitragzur Änderung des Bundeswahlgesetzes äußern. Dahinterverbirgt sich die Neueinteilung der Bundestagswahl-kreise für die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag.In jeder Wahlperiode legt die Bundeswahlkreiskommis-sion dem Deutschen Bundestag einen Bericht über Ände-rungen der Bevölkerungszahlen im Bundesgebiet vor. Umeine verfassungsgemäße Bundestagswahl – Stichwort„Gleichheit der Stimmen“ – zu gewährleisten, müssen dieWahlkreise annähernd gleiche Einwohnerzahlen haben.Änderungen der Verteilung der Bundestagswahlkreise aufdie Länder und die Einteilung innerhalb der Länder ergebensich aufgrund von Bevölkerungswanderungen.Die Grundsätze, an die wir uns auch bei dieser Neu-einteilung gehalten haben, sind: Die Ländergrenzen wer-den eingehalten. Die Zahl der Wahlkreise in den einzel-nen Ländern muss soweit wie möglich dem Anteil an derGesamtbevölkerung entsprechen. Der Wahlkreis mussein zusammenhängendes Gebiet umfassen. KommunaleGrenzen sollten möglichst weitgehend eingehalten wer-den.Eine Neuzuschneidung von Wahlkreisen kann durch-geführt werden, wenn die Bevölkerungszahlen plus/mi-nus 15 Prozent vom Bundesdurchschnitt abweichen. Siemuss durchgeführt werden, wenn die Abweichung mehrals plus/minus 25 Prozent beträgt oder eine solche Ent-wicklung im Laufe der Legislaturperiode als sehr wahr-scheinlich gilt.Leider setzte sich in den vergangenen Jahren dieBevölkerungswanderung von Ost nach West fort. So ver-loren Sachsen und Sachsen-Anhalt knapp 50 000 Ein-wohner. Baden-Württemberg dagegen registrierte einenZuzug von mehr als 55 000 Einwohnern. Herr Korte, na-türlich kann eine Wahlkreisreform diese strukturellenProbleme nicht lösen.Aufgrund der Daten, die dem Bericht der Wahlkreis-kommission und dem Nachbericht zugrunde liegen, sindzwei Wahlkreistransfers nötig. Die Länder Sachsen undSachsen-Anhalt verlieren jeweils einen Wahlkreis, Ba-den-Württemberg und Niedersachsen erhalten je einenzusätzlichen Wahlkreis.Sowohl beim Wegfall eines Wahlkreises als auch beider Schaffung eines zusätzlichen Wahlkreises in einemBundesland sind erhebliche Eingriffe in die bestehendenWahlkreisgrenzen unvermeidlich. Die abgebenden Län-der Sachsen und Sachsen-Anhalt stehen vor einer Kreis-gebietsreform bzw. haben diese schon durchgeführt.Deshalb orientiert sich die Neuzuschneidung der Wahl-kreise weitgehend an den neuen kommunalen Grenzen.In Baden-Württemberg gibt es im RegierungsbezirkTübingen den neuen Wahlkreis Ravensburg. Deshalbmussten die umliegenden Wahlkreise neu zugeschnitten
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Gabriele Fograscherwerden. Drei Wahlkreise in diesem Regierungsbezirkbleiben unverändert. Für den Zuschnitt des WahlkreisesBiberach hätten sich meine Kollegen im Bundestag undviele vor Ort eine andere Lösung vorstellen können.Aber in Abwägung der für die anderen Wahlkreise ge-fundenen Lösungen tragen wir diesen eigenwilligen Zu-schnitt mit.In Niedersachsen wird der neu zu bildende Wahlkreisden Landkreis Harburg umfassen. Die erheblichen Ver-änderungen der umliegenden Wahlkreise sind Folge die-ses neu zu schaffenden Wahlkreises.In Brandenburg haben wir aufgrund des enormen Be-völkerungswachstums Verschiebungen zwischen demWahlkreis 61 und dem Wahlkreis 62 vornehmen müssen.Auch beim Wahlkreis Hamburg-Mitte hätten wir unseinen anderen Zuschnitt vorstellen können; doch daraufkonnten wir uns nicht einigen. Deshalb bleibt es bei demVorschlag der Wahlkreiskommission, jetzt nichts zu ver-ändern.Es ist schon heute abzusehen, dass die Bevölkerungs-entwicklung in einigen Bundesländern in der nächstenLegislaturperiode erneut Wahlkreisanpassungen notwen-dig machen wird. Deshalb haben wir dieses Mal nur die-jenigen Anpassungen vorgenommen, die unbedingt not-wendig waren, um eine verfassungsgemäße Wahl des 17.Deutschen Bundestages zu gewährleisten.Ich bedanke mich an dieser Stelle nochmals bei allen,die sich sehr kenntnisreich in die Diskussion eingebrachthaben, und beziehe diesen Dank auch auf die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums und desStatistischen Bundesamtes.Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzent-wurf.Danke sehr.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abge-ordnetenrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814,den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU undder SPD auf Drucksache 16/7461 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungmit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktionund der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurfist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen derFraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf des Bundesrates zur Änderung des Bundeswahl-gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814, denGesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1036abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht derFall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungeinstimmig abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-schäftsordnung die weitere Beratung.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 b, zurAbstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSUund der SPD eingebrachten Entwurf eines AchtzehntenGesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes.Mir liegen hierzu Erklärungen nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung des Kollegen Scheelen aus der SPD-Frak-tion sowie der Kollegen Fricke, Lenke und Ackermannaus der FDP-Fraktion vor; diese nehmen wir zu Proto-koll.1)Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/7815, den Gesetzent-wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD aufDrucksache 16/7462 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,der SPD-Fraktion und der Mehrheit der FDP-Fraktiongegen die Stimmen von zwei Abgeordneten der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung desInnenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel: „Wahlmanipulationen wirksam verhin-dern“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/7816, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/5810 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen.1) Anlage 3
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Vizepräsidentin Petra PauIch rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ViertenGesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes– Drucksachen 16/7080, 16/7417 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 16/7819 –Berichterstattung:Abgeordneter Patrick DöringNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte diejenigen, die an dieser Debatte nicht mehrteilhaben wollen oder können, ihre Gespräche draußenzu führen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.Die Aussprache ist eröffnet. Das Wort hat der Parla-mentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick. – Bitte.
U
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa wächst zusammen. Durch den Verkehrsbereich
ist ein besonderer Beitrag zu leisten, weil die grenzüber-
schreitenden Verkehre dazu beitragen müssen, dass wir
schnell und zügig einen gemeinsamen Wirtschaftsraum
entwickeln.
Die europäische Rechtsetzung wächst zusammen. Wir
sprechen heute an dem Beispiel von Fahrlehrern über die
wechselseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen.
Davon ist ein ganzes Gewerbe maßgeblich und umfas-
send betroffen. Wir vollziehen damit die Richt-
linie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 7. September 2005 und setzen sie eins zu eins
in nationales Recht um. Davon sind Staatsbürger der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, des Europäi-
schen Wirtschaftsraumes und der Schweiz betroffen.
Wir regeln die vorübergehende und gelegentliche
Dienstleistungserbringung, die auch grenzüberschrei-
tend erfolgen kann, und erklären sie ausdrücklich für zu-
lässig. Wir stellen daneben sicher, dass die Qualität der
Ausbildung, die wir in Deutschland erreicht haben, auch
künftig gesichert bleibt, weil sich jeder, der in Deutsch-
land eine solche Ausbildung anbieten will, einem Aner-
kennungsverfahren zu unterziehen hat, das nach deut-
schen Standards geregelt ist.
Wer die Voraussetzungen nach deutschem Recht nicht
erfüllt, muss sich einem Anpassungslehrgang oder einer
Eignungsprüfung unterziehen. Auf diesem Wege wollen
wir sicherstellen, dass es zu keinem Niveauverlust bei
den Qualitätsstandards der deutschen Ausbildung
kommt.
Es ist in der Vergangenheit diskutiert worden, ob die
Voraussetzungen, die in Deutschland gelten, dass man
nämlich im Besitz der Fahrerlaubnis für alle Fahrzeug-
klassen sein muss, Bestand haben. Das ist der Fall. Wenn
beispielsweise ein Bewerber aus der Schweiz in
Deutschland eine solche Ausbildung anbieten will, dann
muss er die Fahrerlaubnisse für alle Fahrzeugklassen
vorlegen. Wenn er das nicht kann, dann gibt es Anpas-
sungsmaßnahmen – in der Regel in Form von Weiterbil-
dungsmaßnahmen und Lehrgängen –, denen er sich zu
unterziehen hat.
Wichtig ist, dass es eine unterschiedliche Regelung
für vorübergehende oder gelegentliche Dienstleistungen
gibt. Das ist von dem Fall zu unterscheiden, dass jemand
dauerhaft eine Fahrschule in Deutschland eröffnen will.
In der zurückliegenden Debatte mit den Abgeordneten
des zuständigen Ausschusses ist darüber ausführlich dis-
kutiert worden.
Wichtig ist für uns die Arbeitsteilung mit den Län-
dern. Die Überwachung der Fahrschulen obliegt den
Ländern. Der Bund hat keine Regelungskompetenz. Wir
haben aber vonseiten des Verkehrsministeriums den
Ländern eine Kooperation angeboten, damit wir uns auf
Kriterien für die Anerkennungsverfahren verständigen
können. Die zuständigen Landesbehörden sind diejeni-
gen Stellen, bei denen diejenigen, die diese Dienstleis-
tung erbringen, jährlich formlos Meldung zu erstatten
haben. Wer gegen diese Meldepflicht verstößt, begeht
eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahn-
det werden kann. Bei der praktischen Durchführung der
Richtlinie, die wir nun in Deutschland umsetzen, hat das
Bundesverkehrsministerium den Ländern eine enge Ko-
operation angeboten. Uns freut besonders, dass die Bun-
desvereinigung der Fahrlehrerverbände ihre Mitarbeit
zugesagt hat. Wir stehen also in engem Kontakt mit den
Fachleuten aus der Community. Wir haben auch die
deutschen Botschaften in den betreffenden Ländern ge-
beten, uns entsprechende Informationen über die Ausbil-
dung und die Berufsqualifikation der dort tätigen Fahr-
lehrer zu übermitteln.
Ein wichtiges Ziel ist, auf der einen Seite europäi-
sches Recht umzusetzen – das Verkehrsressort ist davon
besonders betroffen – und auf der anderen Seite Ver-
kehrssicherheit und Qualität der deutschen Fahrschul-
ausbildung zu sichern. Wir sind der Überzeugung, dass
das mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, gelingen
wird. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Döring das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Staatssekretär, es wäre vielleicht einer Erwähnungwert gewesen, dass die Bundesregierung den Gesetzent-wurf verspätet eingebracht hat. Fast ein halbes Jahr
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Patrick Döringnachdem er hätte umgesetzt werden müssen, haben Siedas Parlament damit befasst. Dafür hätten Sie sich in Ih-rer Rede entschuldigen können; denn das Parlamentsollte zeitnah an der Umsetzung einer solchen Richtliniebeteiligt werden.
Wir haben im Ausschuss intensiv darüber diskutiert,ob es bei der Umsetzung nicht zu Inländerdiskriminie-rung kommt. Dazu war bei Ihnen kein Wort zu hören.
Ich will die Wirklichkeit deutlich machen, Frau KolleginWright. Der Markt der Fahrschulen ist außerhalbDeutschlands völlig anders organisiert. In Frankreichgibt es Fahrschulen mit bis zu 1 500 angestellten Fahr-lehrern und in den Niederlanden Fahrschulen mit mehrals hundert angestellten Fahrlehrern. Wir setzen mit demGesetz nun europäisches Recht um. Aber einige Aufla-gen, die wir Fahrschulen, die ihren Betriebssitz inDeutschland haben, auferlegen, erlegen wir den europäi-schen Fahrschulen nicht mehr auf. Das sind die obligatori-sche Betriebshaftpflichtversicherung und die Verpflich-tung für den Inhaber einer Fahrschule, den Führerscheinin den Klassen zu haben, die unterrichtet werden. Zu-künftig müssen europäische Unternehmer das nicht mehrnachweisen. Dieser Vorteil für Wettbewerber außerhalbDeutschlands ist aus unserer Sicht falsch.
Man kann sicherlich den Zugang zum Beruf des Fahr-lehrers vereinfachen und die Gründung eines Betriebeserleichtern – gerne und jederzeit –, aber dann zu glei-chen Bedingungen für alle. Was wird in den grenznahenGebieten passieren? Ich denke an Niedersachsen an derGrenze zu den Niederlanden und an Gebiete an derGrenze zu Frankreich. Wir werden die dort tätigen deut-schen Fahrschulen durch die Erleichterungen für europäi-sche Unternehmer in eine Wettbewerbssituation bringen,in der sie nicht gewinnen können. Es ist leicht dahinge-sagt, dass es bei einer Berufshaftpflichtversicherung nurum ein paar Hundert Euro Prämie gehe. Aber auch dashat eine wirtschaftliche Schlechterstellung des Inländersgegenüber dem ausländischen Kettenkonzern zur Folge.Heute Morgen haben Herr Stiegler und andere wohlfeileReden zum Thema Mittelstand gehalten. Wenn es aberkonkret wird, sind Sie diejenigen, die die Strukturennicht befördern.
Mir geht es darum, die hohe Qualität der Fahrlehre-rinnen und Fahrlehrer sowie die mittelständische Struk-tur der Fahrschulen in Deutschland zu erhalten, gleicheWettbewerbsbedingungen zu schaffen, ob in den Nieder-landen, in Portugal oder in Deutschland, und sicherzu-stellen, dass die Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer, diedeutsche Jugendliche bzw. in Deutschland lebende Ju-gendliche ausbilden, so organisiert und ausgebildet sind,dass das hohe Niveau der Ausbildung in Deutschland ge-halten wird und dass die Zahl der Toten und Verletztenunter den Fahranfängern weiter zurückgeht, und dassnicht Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer aus europäischenLändern mit einer geringeren Ausbildung aufgrund wirt-schaftlicher Erleichterungen hier einen Betrieb aufma-chen.
Es ist, Herr Staatssekretär, zum Beispiel überhauptnicht klar, auch nicht nach der Novelle, wer von den1 500 angestellten Fahrlehrern in einer französischenFahrschulkette überhaupt die Nachprüfung machenmuss. Ist das der Betriebsleiter? Ist das einer? Sind dasalle? Und wer soll überhaupt kontrollieren, ob einer derangestellten Fahrlehrer, der dann in Baden-Württembergeine Ausbildung macht, diese Nachschulung gemachthat oder nicht? Es ist wirklich naiv zu glauben, dass dasin dieser Wettbewerbssituation geschieht. Deshalb wärees vernünftig gewesen, Sie hätten die Änderungsanträge,die wir im Ausschuss gestellt haben, mitgetragen. DieOppositionsfraktionen haben das getan. Manchmal kannman auch Dingen zustimmen, wo FDP draufsteht. Ausmeiner Sicht ja fast immer;
aber auch aus Ihrer Sicht hätte man an dieser Stelle tat-sächlich zustimmen können. Das wäre gut gewesen fürdie mittelständische Struktur und für die Sicherheit. Da-rum, liebe Kolleginnen und Kollegen, können Sie nichterwarten, dass wir jetzt dieser Novelle zustimmen.Herzlichen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Gero
Storjohann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute werden wir das Vierte Gesetz zur Ände-rung des Fahrlehrergesetzes verabschieden. Mit diesemGesetz soll – das hat der Herr Staatssekretär Kasparickausgeführt – eine Richtlinie der Europäischen Union fürden Bereich des Fahrlehrerrechts in nationales Rechtumgesetzt werden, welche die Anerkennung von Berufs-qualifikationen, die in den Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union erworben wurden, erleichtert.Es geht hier darum, in einem zusammenwachsendenEuropa den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu eröffnen,sich in jedem EU-Mitgliedsland niederzulassen oder dortden Beruf auszuüben. Das ist und bleibt das Ziel des eu-ropäischen Binnenmarktes. Die Richtlinie gilt für alleStaatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die als Selbst-ständige oder als abhängig Beschäftigte einen reglemen-tierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausübenwollen als in dem, in welchem sie ihre Berufsqualifika-tion erworben haben.Damit dient die Richtlinie der Beseitigung der Hin-dernisse für den freien Personen- und Dienstleistungs-
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Gero Storjohannverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Dies ist eingrundsätzlich zu begrüßender und ein weiterer Schrittzur Verwirklichung der Freizügigkeit von Arbeitneh-mern in Europa. Dazu steht die Union.
Herr Döring hat hier nach meiner Auffassung über-zeichnet. Er hat zu Recht angesprochen, dass die Eins-zu-eins-Umsetzung eher hätte erfolgen können. Wenndie Umsetzung jedoch rechtzeitig erfolgt, manchmalauch schon vorzeitig, wird gerade von der FDP ein Vor-wurf erhoben: Könnte man mit der Umsetzung nicht et-was warten? Warum müssen wir Musterknabe sein?
– Das habe ich von der FDP sehr wohl gehört. Insoferngibt es beide Aspekte.
Hier haben wir das so festzustellen.Zu Ihrer Kritik, dass der Markt in Deutschland sichplötzlich ganz anders gestalten wird, wenn Berufskolle-gen aus anderen Ländern sich hier bewerben und ihreDienstleistung anbieten können: Ich glaube nicht, dassdas Fahrschulgewerbe in Deutschland so schwach ist,dass es überrollt wird.
Deswegen bin ich sehr zuversichtlich, dass wir hier ei-nen guten Schritt machen.Wir werden den europäischen Binnenmarkt mit dieserRichtlinie gestalten, und wir werden ihn insgesamt ver-einheitlichen. Gegenstand ist die Neuregelung der Aner-kennung von Berufsqualifikationen für Fahrlehrer, dieentweder von Staatsangehörigen eines EU-Landes, einesVertragsstaates des Abkommens über den EuropäischenWirtschaftsraum, also des EWR, oder der Schweiz er-worben wurden. Deswegen müssen fahrlehrerrechtlicheVorschriften hieran angepasst werden.Der Gesetzentwurf enthält allgemeine Regelungenzur Wirkung der Anerkennung einer Befähigung zurFahrschülerausbildung, die nicht in Deutschland erwor-ben wurde. Um es gleich vorweg klar zu sagen: Es gehthier nicht um eine grenzenlose Anerkennung aller aus-ländischen Fahrlehrer. Es geht einzig und allein um sol-che Befähigungen von Fahrlehrern der eben genannteneuropäischen Staaten. Die Richtlinie erfasst dabei imÜbrigen bewusst auch die inländischen Staatsangehöri-gen, welche ihre Berufsqualifikation nicht in Deutsch-land, sondern in der EU, einem EWR-Staat oder derSchweiz erlangt haben. Damit sind alle Anforderungenan die Berufsqualifikation, also an Eignung und Befähi-gung der Bewerber, in der Richtlinie abschließend gere-gelt worden. Dies schließt auch die Fälle ein, in denenUnterschiede zwischen der bisherigen ausländischenQualifikation der Bewerber und der bei uns in Deutsch-land geforderten Fahrlehrerausbildung bestehen.Im Interesse einer qualifizierten und fundierten Aus-bildung sieht das Gesetz hier die Teilnahme ausländi-scher Fahrlehrer an einem Anpassungslehrgang oder aneiner Eignungsprüfung vor.
Dies ist etwa dann der Fall, wenn beispielsweise einFahrlehrer aus einem EU-Mitgliedstaat in DeutschlandFahrunterricht für Pkw, also für die Klasse BE, erteilenwill. Wir haben hier mit § 2 a Abs. 2 des Gesetzentwurfseine Regelung, die sicherstellt, dass der Bewerber in ei-nem solchen Fall zur Teilnahme an einem Anpassungs-lehrgang oder einer Eignungsprüfung herangezogenwird – das gilt für jeden Bewerber und nicht nur für denInhaber einer großen Fahrschule –, da er im Gegensatzzu seinen deutschen Kollegen nicht im Besitz der Fahr-erlaubnisklassen A und CE für Motorräder und Lkw seinmuss.Mit der Aufnahme dieser Regelung in das Gesetzes-werk hat die Bundesregierung daher im Interesse derChancengleichheit für die Marktteilnehmer gehandelt.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb diehierfür vorgesehenen Maßnahmen ausdrücklich.Die Regelungen unterscheiden darüber hinaus zwi-schen der eben erwähnten Niederlassung, bei welcherder Beruf dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat aus-geübt wird, und der Dienstleistungserbringung, also dervorübergehenden und gelegentlichen grenzüberschrei-tenden Erbringung. Diese Dienstleistungserbringungwird dabei entsprechend der Richtlinienvorgabe aus-drücklich für zulässig erklärt. Dabei muss die Dienstleis-tungserbringung aber von vorübergehendem und auchgelegentlichem Charakter sein. Dies kann natürlich nurim Einzelfall anhand der Kriterien Dauer, Häufigkeit, re-gelmäßige Wiederkehr und Kontinuität der Dienstleis-tung beurteilt werden.Ich denke da etwa an den dänischen Fahrlehrer – je-der denkt in diesem Zusammenhang an seine Nachbar-staaten –, der gelegentlich auch deutsche Fahrschüler inmeiner Heimat Schleswig-Holstein unterrichtet. Für ihnwürde bei vorliegender Voraussetzung die eben er-wähnte Eignungsprüfung gemäß § 2 a Abs. 3 des Ge-setzentwurfs entsprechend gelten. Auch in diesem Fallwahren wir also die Chancengleichheit im europäischenMarkt.Außerdem enthält das Gesetz die Regelung, dass alleFahrlehrer über die für die Fahrschülerausbildung erfor-derlichen Sprachkenntnisse verfügen müssen. Dies istfür eine effektive und sichere Ausbildung der deutschenFahrschüler unabdingbar.Um Qualitätsverluste in der Fahrschülerausbildungim Interesse der Verkehrssicherheit zu vermeiden, müs-sen wir bei allen Bestrebungen zur Dienstleistungsfrei-heit weitere Schritte unternehmen. Ich kann mir zumBeispiel vorstellen, die Fahrlehrerausbildung durch einPraktikum zu Beginn der Ausbildung und durch eine
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Gero Storjohannanschließende Eignungsprüfung zu ergänzen. Damitkönnte verhindert werden, dass unqualifizierte Fahrleh-reranwärter bis zuletzt eine kostenintensive Ausbildungdurchlaufen, dann zu scheitern drohen oder nur deshalbdie Prüfung bestehen, weil man vielleicht alle Augen zu-drückt. Das passiert heute leider schon sehr häufig undgefährdet im Endergebnis die Verkehrssicherheit.Außerdem unterstütze ich die Bestrebungen der deut-schen Fahrlehrerschaft, ein effektives und wirksamesQualitätssicherungssystem von Fahrschulen zu etablie-ren. Dabei müssen Anforderungen gesetzt werden, dieüber den bloßen gesetzlichen Mindeststandard hinausge-hen. Das Bundesverkehrsministerium ist deshalb aufge-fordert, den Entwurf einer Verordnung hierzu, der sichbereits in der Anhörung befindet, alsbald in diesemSinne auf den Weg zu bringen.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will Unterschiedeim Ausbildungsniveau ausländischer Fahrlehrer mög-lichst ausgleichen. Wir setzen auf Dienstleistungsfreiheitund eine hohe Qualität der Ausbildung gleichermaßen.Auf diesem Wege können wir allen Interessen – nationalund auch auf europäischer Ebene – gerecht werden. Des-halb wird die Union dem Entwurf eines Vierten Gesetzeszur Änderung des Fahrlehrergesetzes ihre Zustimmungerteilen.
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Än-
derung des Fahrlehrergesetzes ist ein Lehrstück dessen,
was nicht sein darf. Der Gesetzestext, den uns hier die
Ministerialbürokraten vorgelegt haben, ist absolut miss-
verständlich, sodass sich sein Anliegen kaum einem er-
schließt oder gar allgemeinverständlich ist.
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
rungsfraktionen und aus dem Ministerium, Ihre Inten-
tion, Fahrlehrer aus EU-Staaten, aus assoziierten Staaten
und der Schweiz bei der Ausbildungsberechtigung mit
inländischen Fahrlehrern gleichzustellen, ist ja in Ord-
nung. Das begrüßen wir. Schließlich müssen Ausbilder
hierzulande neben dem Pkw-Führerschein auch Fahr-
erlaubnisse für Motorrad und Lkw besitzen.
Aber wenn selbst der Fachverband der Fahrlehrer den
Gesetzentwurf so interpretierte, als würden die Änderun-
gen nichtinländische Fahrlehrer begünstigen, dann ist an
diesem Text irgendetwas faul, dann zeugt das schlicht
von grober handwerklich-sprachlicher Undeutlichkeit.
Dem können wir unsere Zustimmung nicht geben.
Wenn selbst Fachverbände, in denen Fachleute und der
Sachverstand sitzen, Gesetzestexte nicht mehr verstehen
oder fehlinterpretieren, wie sollen wir Abgeordnete, un-
sere wissenschaftlichen Mitarbeiter oder gar der Bürger
draußen dann das, was wir hier beschließen wollen, ver-
stehen und diese Gesetze dann anwenden und realisie-
ren?
Martin Luther erwartete einmal, dass man dem Volk
aufs Maul schaue. Aber das reicht nicht. Wir sollten
auch so sprechen und schreiben, dass das Volk uns ver-
steht. Das ist zumindest hier nicht gelungen.
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, steht im Grund-
gesetz. Dann müssen Gesetze aber so gefasst sein, dass
sie vom Volk auch verstanden werden können. Wenn uns
das nicht mehr gelingt, dann ist das bürokratische Geis-
terfahrerei. Aber dafür werden wir Linke nicht die Hand
zur Zustimmung heben.
Wir haben am Sonntag in Hessen und Niedersachsen
Wahlen. Das ist heute hier schon ein paarmal angespro-
chen worden. Aber wenn ich im Wahlkampf mit Bürgern
so spräche, sei es am Stand, sei es an der Haustür oder in
der Kneipe, wenn ich so kryptisch antwortete, wie dieser
Gesetzestext formuliert ist, dann würde ich keine Wähle-
rin, keinen Wähler gewinnen. Das ist unabhängig davon,
welcher Partei man angehört: Die Menschen müssen uns
und das, was wir wollen, verstehen.
Wir Linken sprechen aber die Sprache des Volkes,
sei es beim Thema Mindestlohn, bei der Rente mit 67,
bei Hartz IV oder bei der Börsenbahn,
wo wir jeweils die Mehrheitstrends auf unserer Seite ha-
ben. In den Landtagen in Hessen und Niedersachsen, wo
die Linke künftig vertreten sein wird, werden wir ver-
ständlich und volksnah reden.
Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab, allein
weil dieses Kauderwelsch niemandem verständlich ist.
Bürger, die auf Gesetze hören sollen, müssen sie erst ein-
mal verstehen können.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit der vierten Änderung des Fahrlehrerge-setzes wird die EU-Richtlinie vom 7. September 2005 innationales Recht überführt. Es wurde schon erwähnt,dass wir mit der Umsetzung mal wieder etwas zu spätdran sind. Auch sind bereits die Kernpunkte dargestellt
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Dr. Anton Hofreiterworden. Es geht um die Anerkennung unterschiedlicherBerufsqualifikationen. Für uns ist entscheidend, dass da-bei die hohen Standards erfüllt werden. Denn die Ausbil-dung von Fahrlehrern hat etwas mit Verkehrssicherheitzu tun.Wie ist nun dieser Gesetzentwurf zustande gekom-men, und wie verliefen die Beratungen im Ausschuss?Es ist, glaube ich, relativ unumstritten, dass es sich hierum kein ideologisch besonders hoch aufgeladenes Ge-setz handelt.
– Patrick hat jetzt etwas heftig und durchaus sehrengagiert dargestellt, was die FDP in den Ausschuss ein-gebracht hat.
Aber – ehrlich gesagt – handelte es sich dabei nur um einpaar technische Verbesserungen und Klarstellungen, dieden Gesetzentwurf eindeutiger gemacht hätten. Im Aus-schuss haben dem FDP-Änderungsantrag die FDP, aberauch die Grünen und die Linke zugestimmt. Allein diesmacht deutlich, dass er nicht sonderlich stark ideolo-gisch umstritten ist. Es war auch zu bemerken, dass eineganze Reihe von Abgeordneten der Großen Koalitiondem Änderungsantrag eigentlich gern zugestimmt hätte.Stattdessen haben sie ihn abgelehnt.Da fragt man sich schon, wie weit es eigentlich mitder Gesetzgebungskompetenz des Parlaments gekom-men ist. Es ist Ihnen nicht einmal möglich, in einernichtöffentlichen Ausschusssitzung bei einem ideolo-gisch völlig unumstrittenen Thema technische Verände-rungen zu akzeptieren, wenn sie von der Opposition ein-gebracht werden.
Ist das nicht peinlich, Leute?
Man hat manchmal das Gefühl, dass in den Zeiten derGroßen Koalition dieses Parlament vom Gesetzgeber– offiziell sind wir die erste Gewalt im Staate – zum Ge-setzesentgegennehmer verkommen ist. Wer macht dennGesetze, die Regierung oder wir? Offensichtlich machtdie Gesetze inzwischen die Regierung, die sie eigentlichausführen sollte. Das liegt nicht daran, dass das Parla-ment formale Rechte abgegeben hätte, sondern schlicht-weg daran, dass die beiden ach so großen, aber in Wirk-lichkeit völlig schwachen Regierungsfraktionen nichtdas Rückgrat haben, einmal ihrer Regierung zu wider-sprechen und etwas Eigenständiges zu machen.
Dies bemerkt man ganz eindeutig auch bei wichtigenThemen. Wie gehen Sie denn zum Beispiel mit demThema Bahn um? Die Regierung hat einen Gesetzent-wurf eingebracht, und Sie sind nicht in der Lage, imAusschuss über ihn zu debattieren. Das ebenso wichtigeThema deutsche Flugsicherung lassen Sie mit IhrerMehrheit von der Tagesordnung absetzen. Fragt mannach einem so wichtigen Thema wie der Weiterentwick-lung des ÖPNV, wird einem geantwortet, man sagenichts darüber, was in der Debatte sei. Nachher könntenoch darüber gesprochen werden! Das war gerade in derletzten Ausschusssitzung so.
Was ist denn das für ein Zustand? Ist das hier der Gesetz-geber?
– Schweigen im Raum. Offensichtlich hat die GroßeKoalition es aufgegeben.
Ganz unabhängig von den inhaltlichen Fragen ist al-lein die Art und Weise, wie die beiden großen und dochso schwachen Koalitionsfraktionen inzwischen die Ge-setzgebungsarbeit in diesem Parlament haben verkom-men lassen, Grund genug, dass diese große und dochschwache Koalition so schnell wie möglich weg gehört.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Heidi
Wright das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe am Anfang befürchtet, dass wir eine einfacheSache, die kompliziert aufgeschrieben wurde, langweiligdiskutieren. Nein, es ist Stimmung hereingekommen.
Ich versuche, jetzt zusammenzufassen, worum es geht:um den Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Fahrlehrergesetzes, um die Eins-zu-eins-Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Weil es umdie Umsetzung geht, war in diesem Moment kein Hand-lungsspielraum für weitere Regelungen gegeben.
– Wir machen eine Eins-zu-eins-Umsetzung in einem et-was verzögerten Zeitablauf, wie Sie schon sagten, undwir setzen es so um, wie wir es in Abstimmung mit demBundesrat aufgeschrieben haben.Ich weise nochmals ausdrücklich darauf hin, dass beiwesentlichen Unterschieden zwischen der bisherigen
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Heidi Wrightausländischen Qualifikation der Bewerber und der im In-land geforderten Fahrlehrerausbildung Bewerber umeine inländische Erlaubnis wie bisher – das ist wichtig –an einem Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprü-fung teilnehmen müssen. Das ist gut so; denn nur sowird sichergestellt, dass die Fahrschulausbildung in je-dem Fall nur durch Fahrlehrer erfolgt, die ausreichendqualifiziert sind. Das ist unser Anliegen, Kolleginnenund Kollegen, und das ist auch das Anliegen der Fahr-lehrerverbände. Deshalb nehmen wir den Brief, der unszugegangen ist, ernst. Wir haben ihn überprüfen lassen,und wir werden dem Verband auch schreiben. Wir kön-nen die Kritikpunkte durchaus aushebeln. Es ist schondeutlich gesagt worden: Die Bedenken in Bezug auf eineGefährdung der Verkehrssicherheit und der Qualität derdeutschen Fahrschulausbildung sind nicht begründet.Das ist mir als Berichterstatterin für Verkehrssicherheitaußerordentlich wichtig.Es wird weiter befürchtet, dass die gesetzlichen Be-rufsregelungen umgangen werden können, indem dieBerufsanerkennung von Inländern im Ausland erworbenwird. Auch das kann ich in Abrede stellen. Ich kannIhnen versichern, dass die Anerkennung der Berufsqua-lifikation von Inländern schon wegen des Gleichheits-grundsatzes nicht untersagt werden kann, wenn dieseQualifikation anderswo erworben wurde.
Bewerber müssen aber, wie gesagt, an einem Anpas-sungslehrgang oder an einer Eignungsprüfung teilneh-men.
Es wird auch kritisiert, dass mit dem Gesetzentwurfeine altbewährte Regelung aufgegeben wird, nach wel-cher ein Fahrlehreranwärter, auch wenn er nur die Fahr-lehrererlaubnis für die Pkw-Ausbildung erwerben will,im Besitz der Fahrerlaubnis für Motorrad und Lkw seinmuss. Das bleibt auch weiterhin der Fall. Frau KolleginMenzner hat das verstanden. Herr Kollege Döring, Ihnenversichere ich noch einmal ausdrücklich, dass das sobleibt.
Weiter ist festzustellen, dass die neu einzuführendeFahrlehrererlaubnis und die Fahrschulerlaubnis der vol-len Fahrschulüberwachung durch die zuständigen Lan-desbehörden unterliegen. Verstöße sind – das hat derStaatssekretär deutlich gemacht – Ordnungswidrigkeitenund somit bußgeldbewehrt. Die Fahrschulüberwachungwird von den Ländern in eigener Zuständigkeit wahrge-nommen. Bundesrechtliche Regelungen zu Umfang undVerfahren der Fahrschulüberwachung sind verfassungs-rechtlich ausgeschlossen.Wir erleichtern die Überwachung durch die Einfüh-rung einer neuen Meldepflicht. Der Inhaber einer Fahr-lehrer- bzw. Fahrschulerlaubnis, die zur vorübergehen-den und gelegentlichen Fahrschülerausbildungberechtigt, muss den zuständigen Landesbehörden jähr-lich formlos Meldung machen, wo er beabsichtigt, indem betreffenden Jahr Fahrschüler auszubilden. Auchder Verstoß gegen diese Meldepflicht ist eine Ordnungs-widrigkeit und somit bußgeldbewehrt.Ich komme zum Schluss. Ich begrüße, dass zur prakti-schen Durchführung der Anerkennung ausländischer Be-rufsqualifikationen das Bundesverkehrsministerium denLändern seine aktive Mitarbeit angeboten hat. Auch dieBundesvereinigung der Fahrlehrerverbände wird sichbeteiligen. Ich erinnere daran, dass der Bundesrat in sei-ner Stellungnahme vom 30. November 2007 mehrereÄnderungen des Gesetzentwurfs empfohlen hat. DieBundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung zwei dieserÄnderungsvorschläge akzeptiert.Ich bitte um Ihre Zustimmung und danke für IhreAufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Fahrlehrergesetzes. Der Ausschuss für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/7819, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa-chen 16/7080 und 16/7417 in der Ausschussfassung an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktionenund der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BrigittePothmer, Markus Kurth, Kerstin Andreae, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGegen Armut trotz Arbeit – Strategie zur Stär-kung geringer Einkommen– Drucksache 16/7751 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschuss
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Vizepräsidentin Petra PauNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeiterhalten soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dannist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Armuttrotz Arbeit ist inzwischen für viele Menschen inDeutschland die Wirklichkeit ihres Alltags geworden.Sie wissen: Weit über 1 Million Menschen erhalten er-gänzend zu ihrer Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II.Über die Hälfte von ihnen sind sozialversicherungs-pflichtig beschäftigt. Die weitere Gruppe, die davon be-troffen ist, ist die Gruppe derer, die im Niedriglohnbe-reich arbeiten und deren Zahl zunimmt. EineUntersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung hat ergeben, dass der Niedriglohnbereichin wenigen Jahren von 15,3 auf 18,3 Prozent angestiegenist. Diese Entwicklung hält leider ungebrochen an.Armut ist aber nicht nur eine Frage der Höhe vonLöhnen. Armut hat in Deutschland leider auch sehr vielmit dem Familienstand zu tun. Immer noch sind inDeutschland Kinder ein Armutsrisiko. In besondererWeise negativ betroffen sind die Alleinerziehenden, aberauch die Paare mit mehreren Kindern.Es ist nicht so, dass die Bundesregierung dieses Pro-blem nicht sieht, aber sie hat keine abgestimmte Strate-gie, um der Verarmung von Erwerbstätigen wirklich ent-gegenzuwirken. Sie können sich nicht über denMindestlohn verständigen – dieses Theater haben wirhier über Monate miterlebt –, Sie können sich aber leiderauch nicht darüber verständigen, mit welchen anderenunterstützenden Maßnahmen Sie Armut verhindern wol-len. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der im Bundesar-beitsministerium diskutierte Erwerbstätigenzuschlag istmit Sicherheit nicht die Lösung.
Damit schaffen Sie letztlich nichts anderes als ein Paral-lelsystem zum Arbeitslosengeld II, das überhaupt keineVerbesserungen für die Geringverdienerinnen und Ge-ringverdiener bringt. Die Erstbeantragung, aber auch dieWiederbeantragung ist hochbürokratisch, und die Prüf-bürokratie unterscheidet sich nicht wirklich von der beider Beantragung von Arbeitslosengeld II.Was ich als Skandal empfinde: Die Kosten für diesenErwerbstätigenzuschlag sollen die Beitragszahler über-nehmen. Ich bitte Sie. Warum sind eigentlich die Bei-tragszahlerinnen und Beitragszahler dafür zuständig, dieRahmenbedingungen für den Niedriglohn zu verbes-sern?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe undmüsste im Zweifel aus Steuern finanziert werden.
Sie müssten dafür viel Geld in die Hand nehmen; denndie Mitnahmeeffekte, die zu erwarten sind, sind nichtvon Pappe.Der Erwerbstätigenzuschlag bringt denjenigen mitgeringen Einkommen nichts, er ist hochbürokratisch undteuer. Das scheint nun auch der neue Arbeitsminister Sc-holz langsam begriffen zu haben. Es dämmert ihm, dassdie Erbschaft, die er von Herrn Müntefering übernom-men hat, wirklich keine gute Erbschaft ist.
Ich kann Ihnen, Herr Scholz, nur sagen: Beerdigen Siedieses Projekt, und zwar schnell, und beerdigen Sie eslautlos!
Wenn wir die Abhängigkeit von Menschen von derGrundsicherung wirklich beenden wollen, dann brau-chen wir kein ALG light. Wir sollten stattdessen die klei-neren Einkommen stärken und die vorgelagerten Sys-teme verbessern, sodass die Menschen erst gar nicht indie Abhängigkeit von ALG II kommen. Dafür haben wirals Oppositionsfraktion Ihnen ein wirklich gutes, abge-stimmtes Konzept vorgelegt. Ich will die Punkte ganzkurz nennen.Wir wollen die Situation der Geringverdienerinnenund Geringverdiener verbessern, indem wir ganz gezieltdie Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereichmit unserem Progressivmodell absenken. Wir wollenMindestlöhne für alle Branchen – partielle Lösungen rei-chen bei weitem nicht aus –, und wir müssen die Maß-nahmen zur Existenzsicherung von Kindern verbessern.Wir haben heute umfangreich über den Kinderzuschlagdiskutiert. Das ist ein Instrument, um die Situation vonEltern und auch Alleinerziehenden zu verbessern.Schließlich müssen wir das Wohngeld reformieren. Dareichen verwaltungstechnische Änderungen wirklichnicht aus.
Von dem, was Sie vorlegen, kann sich nun wirklich kei-ner und keine etwas kaufen. Die Aufwertung des Wohn-geldes wäre ein Instrument, das dazu führen würde, dassdie Menschen erst gar nicht Arbeitslosengeld II beziehenmüssten.Es ist ein umfangreiches und sehr konsistentes Kon-zept, das wir Ihnen hier vorlegen. Die Bundesregierungliefert nur einen Streit um den Mindestlohn, einen Profi-lierungskampf zwischen Familienministerium und Ar-beitsministerium in Sachen „Kinderzuschlag versus Er-werbstätigenzuschlag“ und einen Streit um die Erhöhungdes Wohngelds – Tiefensee gegen Steinbrück. Wie Kaiaus der Kiste kommt jetzt auch noch UmweltministerGabriel und sagt: Armutsbekämpfung? Das können wirdoch auch lösen, indem wir die Energieversorger auffor-dern, Sozialtarife anzubieten.
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Kollegin Pothmer, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss
kommen.
Ich komme sofort zum Schluss.
Ich sage Ihnen: Das ist kein Konzept gegen Armut. Es
hilft den Armen nicht. Es ist armselig.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Refor-men am Arbeitsmarkt, Neustrukturierung der Betriebe,insbesondere der inhabergeführten Klein- und Mittelbe-triebe, motivierte, gut qualifizierte und verantwortungs-bewusste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einegute Weltkonjunktur und nicht zuletzt eine verlässlichePolitik der Großen Koalition haben zu mehr Beschäfti-gung, einem erheblichen Abbau von Arbeitslosigkeitund besseren Bedingungen für die Arbeitnehmer ge-führt.
Die Zahl der Arbeitslosen ist im Dezember 2007 aufknapp 3,4 Millionen gesunken. Das ist ein Rückgang um1,2 Millionen seit 2005. Vor zwei Jahren war in den Um-fragen bei den Bürgerinnen und Bürgern die Sorge umden Arbeitsplatz noch das Topthema. Bei aktuellen Um-fragen ist dies zurückgefallen. Wir sagen Ihnen: Dasmag ein gutes Zeichen sein. Es wird uns in der GroßenKoalition aber nicht davon abhalten, das Thema Arbeits-losigkeit weiterhin in den Mittelpunkt unserer Politik zustellen.
Besonders freue ich mich darüber, dass auch Lang-zeitarbeitslose vom konjunkturellen Aufschwung profi-tieren. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen konnte in denletzten zwei Jahren um über 400 000 gesenkt werden.Aber hierzu sage ich Ihnen: 2,37 Millionen Langzeit-arbeitslose sind auch aus unserer Sicht noch zu viel.
Es gibt geringe Löhne, die dazu führen, dass immermehr Erwerbstätige trotz Beschäftigung vom Staat un-terstützt werden müssen. Diese Menschen bezeichnenSie in Ihrem Antrag per se als arm. Als Beleg dafür wirddie wachsende Zahl der sogenannten Aufstocker ange-führt, also derjenigen, die zusätzlich Mittel nach demSozialgesetzbuch II bekommen.Die Zahl der Aufstocker an sich ist nach meinem Da-fürhalten aber noch kein hinreichendes Indiz für die ge-samte Situation, die Sie skizziert haben. Wir müssen dieBewertung des Bundeswirtschaftsministeriums und desDeutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ernst neh-men, nach der die große Zahl der Aufstocker auch eineFolge von Regelungen im SGB II ist. Wir finden unterden Aufstockern eine hohe Zahl solcher Personen, dienur vorübergehend in dieser Empfängersituation sind.Untersuchungen zeigen, dass bereits nach 65 Tagen nurnoch die Hälfte Leistungen nach dem SGB II beziehen.Das wechselt also. Wir haben es nicht mit einem monoli-thischen Block zu tun, sondern mit ständiger Verände-rung.In der Untersuchung des Bundeswirtschaftsministeri-ums wird übrigens auch festgestellt, dass sich für Allein-stehende eine Arbeitsaufnahme erst bei einem Bruttovon 1 200 Euro und für einen Alleinverdiener mit zweiKindern erst bei einem Brutto von 2 050 Euro lohnt. Dashängt mit der Familienkomponente zusammen und stelltsich in dieser Kombination arbeitsmarktpolitisch durch-aus als Problem dar.Frau Pothmer, der Titel Ihres Antrags lautet „GegenArmut trotz Arbeit“.
Doch was bedeutet „arm“? Arm nach der Definition derVereinten Nationen ist, wer weniger als 1 US-Dollar amTag zum Leben hat, keine medizinische Versorgung,kein sauberes Wasser und keine Chance hat, Lesen undSchreiben zu lernen.
Davon sind 1,2 Milliarden Menschen betroffen. Ich sageIhnen: eine Katastrophe.
Die Weltgesundheitsorganisation definiert denjenigenals arm, der weniger als die Hälfte des Durchschnittsein-kommens seines Heimatlandes zur Verfügung hat.Armut hat viele Facetten, doch in Deutschland – dassage ich an dieser Stelle sehr bewusst – fällt dank derGrundsicherung niemand ins Bodenlose. Um es auf denPunkt zu bringen: Arbeitslosengeld II macht nicht arm,sondern bewahrt vor absoluter Armut.
Ich kann es nicht nachvollziehen, warum diese Grundsi-cherung zu einem Schimpfwort geworden ist, obgleichdie Menschen Geld, übrigens von Steuerzahlern erarbei-tet und eingezahlt, und gemäß den gesetzlichen Grundla-gen Hilfe erhalten, um aus der Arbeitslosigkeit heraus-zukommen.
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Karl SchiewerlingMeine Damen und Herren, ja, es gibt arme Menschenin Deutschland. Es gibt auch zu viele arme Menschen inDeutschland. Aber an dieser Stelle rate ich uns, den Ar-muts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung abzu-warten. Wir werden über ihn in diesem Hause sicherlichdiskutieren.Frau Pothmer, in Ihrem Antrag fordern Sie de factodie Einführung von Mindestlöhnen für alle Branchen.
Sie vermeiden dabei den Begriff des gesetzlichen Min-destlohns. Sie wollen die Tarifautonomie stärken. Dashalten wir für richtig. Aber Sie setzen die Bedingungenso, dass de facto doch ein gesetzlicher Mindestlohn da-bei herauskommt.
Ich will mich nicht auf eine volkswirtschaftliche Diskus-sion einlassen. Ich will auch nicht sagen, wie die einzel-nen Diskussionsstränge zu bewerten sind.
Gestatten Sie mir jedoch einige grundsätzliche Ausfüh-rungen zu dieser Frage unter anderen Gesichtspunkten.Wir wollen, dass die Tarifpartner untereinander dieLöhne aushandeln. Der Staat hat hier nicht einzugreifen.
Die Tarifautonomie ist ein Pfeiler der freiheitlich-demo-kratischen Grundordnung unseres Staates und muss diesauch in Zukunft bleiben. Selbst bei den Gewerkschaftenist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns um-stritten. Hubertus Schmoldt und der Vorsitzende der IGMetall in Nordrhein-Westfalen haben jüngst darauf hin-gewiesen.In einer sich zunehmend individualisierenden Gesell-schaft wird immer mehr vom Staat gefordert. Statt derGesellschaft soll der Staat alle Probleme lösen. In unse-rer sozialen Marktwirtschaft haben allerdings die Arbeit-nehmerorganisationen, sprich die Gewerkschaften, unddie Arbeitgeberverbände die Aufgabe, im Rahmen ihrerwirtschaftspolitischen Verantwortung Löhne auszuhan-deln. Mit großer Besorgnis sehe ich, dass immer mehrArbeitgeber ihren Organisationen den Rücken kehren
worüber?und sich nicht mehr genügend Mitglieder in den Ge-werkschaften organisieren. Ordnungspolitisch geht dasin Deutschland auf Dauer gesehen nicht gut. Das müssenwir den Arbeitgebern genauso wie den Arbeitnehmernsagen.
Wenn der Staat alle Probleme lösen soll, wird er über-fordert. Das gilt übrigens auch für alle anderen Bereicheunserer Gesellschaft. Die Konsequenz wären mehr Ge-setze, mehr Regelungen, zusätzliche Bürokratie undmehr Politikverdrossenheit bei den Menschen. MehrStaat heißt nämlich nicht mehr Gerechtigkeit.
Allerdings treibt mich wie viele andere hier in diesemHohen Hause die Sorge um, dass bestimmte Arbeitgeberdie Gesamtsituation zu Lohndumping nutzen
und sich so einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrerlästigen Konkurrenz verschaffen. Ich halte dies unterdem Gesichtspunkt, dass wir eine Marktwirtschaft ha-ben, für eine Katastrophe.
Deswegen erwarte ich, dass sich die betroffenen Bran-chen wehren und mit den Gewerkschaften auch aus eige-nem betrieblichen Interesse eine Lohnuntergrenze ver-einbaren. Im Übrigen ist die Koalition dabei, genau dieseFrage im Mindestarbeitsbedingungengesetz und im Ent-sendegesetz zu regeln.Ich teile ausdrücklich das von den Grünen in ihremAntrag formulierte Ziel, zukünftig die Abhängigkeit vonstaatlichen Transferleistungen zu verringern. Hierzu for-dern Sie in Ihrem Antrag, die Vereinbarkeit von Er-werbs- und Familienarbeit zu verbessern. Das wollenwir auch. Deswegen hat die Große Koalition den Ausbauder Betreuungsangebote für unter Dreijährige beschlos-sen und familienpolitische Maßnahmen ergriffen, diezwischenzeitlich schon auf den Weg gebracht wurden.Frau Pothmer, Sie fordern in Ihrem Antrag die Sen-kung der Lohnnebenkosten.
Genau das haben wir gemacht.
Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherungkontinuierlich gesenkt. Gestartet sind wir bei 6,5 Pro-zent. Jetzt liegt dieser Beitrag bei 3,3 Prozent. Ein Ar-beitnehmer mit 2 000 Euro brutto hat im Jahr etwa750 Euro mehr in der Tasche.
Ich sage Ihnen: Wir müssen die Lohnnebenkosten füralle senken. Dann haben alle etwas davon, nicht nur alleBeschäftigten, nicht nur die sogenannten Geringverdie-ner, also die, die wenig verdienen, sondern auch und be-sonders die sozialen Sicherungssysteme; denn die Sen-kung von Lohnnebenkosten schafft Beschäftigung, und
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Karl SchiewerlingBeschäftigung schafft mehr Beitragszahler. Das habenwir getan. Das nenne ich eine erfolgreiche Politik.
Auch wenn das Bemühen im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen um eine sachgerechte Lösung sichtbar ist – dassage ich ausdrücklich –, so können wir diesem Antrag ausden inhaltlichen Gründen, die ich gerade dargelegt habedennoch nicht zustimmen.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg Rohde
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Herr Schiewerling, was Ihren Beitrag an-geht, möchte ich etwas Lob und Kritik äußern.Zunächst möchte ich Kritik üben. Die Definition vonArmut der EU hat mir bei Ihnen gefehlt. Hätten Sie dieseDefinition zugrunde gelegt, wären Sie ein bisschen nä-her an den deutschen Verhältnissen.Loben möchte ich ausdrücklich Ihr Bekenntnis zurTarifautonomie. Das hat uns als Liberale sehr gefreut.Aber ein richtig klares Bekenntnis „Wir machen keinengesetzlichen Mindestlohn“ hat mir in Ihren Ausführun-gen gefehlt.
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, aufvier Seiten führen Sie aus, was die FDP schon seit lan-gem mit vier Worten zum Ausdruck bringt: Mehr Nettovom Brutto.
Das ist es, was die Geringverdiener in Deutschland brau-chen.Ihr Antrag enthält viele richtige Feststellungen. Lei-der ziehen Sie aus den meisten Erkenntnissen aber diefalschen Schlüsse. Zugegeben, auf den ersten Blick er-scheint Ihr Vorschlag einer Progression der Sozialversi-cherungsbeiträge interessant. Aber schon einem zweitenBlick hält er leider nicht stand; denn, erstens, entziehenSie den Sozialversicherungen Beiträge in erheblicherHöhe und, zweitens, segmentieren Sie den Arbeitsmarktzusätzlich. Wenn Sie bei 2 000 Euro eine Grenze einzie-hen, ab der erst volle Sozialversicherungsbeiträge fälligwerden, müssen Sie in Kauf nehmen, dass viele Arbeit-nehmer diese Hürde niemals überwinden werden. JederArbeitgeber wird sich zweimal überlegen, ob er einenArbeitsplatz nicht so gestalten kann, dass er ihn auch mitweniger als 2 000 Euro entlohnen kann, weil die Lohn-nebenkosten dann niedriger sind.
Leidtragend bei einer solchen Sozialversicherungspro-gression wäre die breite Mitte der Gesellschaft. Das kön-nen Sie nicht wirklich wollen.
Lohnnebenkosten senken ist richtig, aber wenn, dannfür alle und nicht nur für wenige.
Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzesauf weitere Branchen oder die Einführung eines allge-meinen Mindestlohns ist nicht der richtige Weg zu mehrBeschäftigung, sondern maximaler Unsinn.
Ein zu hoch angesetzter Mindestlohn vernichtet Arbeits-plätze und stärkt allein die Schwarzarbeit. Ein zu niedrigangesetzter Mindestlohn ist wirkungslos. Das tragen wirLiberalen Ihnen gebetsmühlenartig vor.
Im Lohngefüge spiegeln sich die Nachfrage nach Ar-beitskräften und die Produktivität der Beschäftigten wi-der. Hier per Gesetz einzugreifen, ist nichts anderes alsPlanwirtschaft. Die Konsequenzen kennen wir: Unter-nehmen und Arbeitsplätze wandern ab, und allein dieSchwarzarbeit wird blühen.
Vor allem Geringverdiener wären dabei die Leidtragen-den; denn um deren Arbeitsplätze geht es. Wenn Sie Ge-ringverdiener stärken wollen, müssen Sie bei den Lohn-nebenkosten entlasten. Dann bleibt vom Brutto auchmehr übrig.Herr Schiewerling, Sie haben die Arbeitslosenversi-cherung angesprochen. Daher will ich nur an die Renten-versicherung und an die Pflegeversicherung erinnern.Bezüglich der Krankenversicherung machen wir alle eingroßes Fragezeichen, wenn es um die Frage geht, wasam Ende des Jahres auf uns zukommt.
– Ich würde Ihnen ausnahmsweise zustimmen, wenn Siebehaupten, dass es in diesem Jahr vielleicht noch zu ei-ner Entlastung kommt. Wir haben es schon gesagt: Imletzten Jahr gab es erhebliche Belastungen, die durch diekleine Entlastung in diesem Jahr nicht ausgeglichen wer-den können.
Das alles holen Sie über die mittleren und hohen Ein-kommen nicht wieder herein.
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Jörg RohdeAuch die Forderung, die Existenzsicherung von Kin-dern zu verbessern, ist zweifellos richtig. Ob aber alleineine Ausweitung des Kinderzuschlags auf mehr An-spruchsberechtigte die Lösung ist, bezweifle ich.
Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Förderung auf je-den Fall beim Kind ankommt und zu dessen Wohle ver-wandt wird? Ich habe die Sorge, dass bei einer reinenGeldleistung zu viele Kinder durchs Raster fallen. Mirscheint es richtig zu sein, die Rahmenbedingungen so zugestalten, dass alle Kinder die gleichen Startchancen ha-ben. Wir brauchen ein breites, vielfältiges und für allebezahlbares Kinderbetreuungsprogramm, das jedemKind zugute kommt, optimale Bildungsangebote ab demKindergartenalter, und vor allem müssen wir bessereRahmenbedingungen für erwerbstätige Eltern schaffen;denn der beste Schutz gegen Kinderarmut ist die Berufs-tätigkeit beider Elternteile. Liebe Kolleginnen und Kol-legen von den Grünen, das stellen Sie in Ihrem Antragselbst fest.Schade finde ich, dass Sie, werte Grüne, in Ihrem An-trag keine Auskunft darüber geben, wie die von Ihnengeplante Aufwertung des Wohngeldes finanziert werdensoll und vor allem von wem. Mehr Anspruchsberech-tigte, höhere Freibeträge bei der Einkommensanrech-nung, eine Erhöhung und eine stärkere Berücksichtigungder Nebenkosten – das sind ja gleich vier Wünsche aufeinmal. Das geht nun wirklich nicht, vor allem nicht beiden Kommunen.Ich stimme Ihnen zu, dass wir beim Wohngeld etwasmachen müssen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Beziehervon Arbeitslosengeld II Unterkunfts- und Heizkostenfast vollständig vom Staat ersetzt bekommen, währendBezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zur Grund-miete und zu den sogenannten kalten Betriebskosten er-halten. Auch steigende Nebenkosten müssen Berück-sichtigung finden. Wir dürfen aber nicht so tun, alsmüsse man das Geld nur drucken. Lassen Sie bitte Ver-nunft einkehren und uns nach einer gerechten Lösungsuchen, die auch finanziert werden kann.Meine Damen und Herren aller Fraktionen, ich fassenoch einmal zusammen:
Wir brauchen keinen Mindestlohn, wir brauchen keinenErwerbstätigenzuschuss, wir brauchen keinen Rabatt beiden Sozialversicherungsbeiträgen, sondern wir brauchenmehr Arbeitsplätze, und zwar in allen Lohngruppen.
Der einfachste Weg dahin liegt in einer konsequentenSenkung der Beiträge zur Sozialversicherung. Dannrechnet sich Arbeit in Deutschland besser, und dann kön-nen mehr Arbeitsplätze in Deutschland entstehen. Damitwürde sich auch die Finanzierung der Sozialversiche-rungssysteme in Deutschland entspannen.
Kollege Rohde, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
Ein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Eine flexible Regelung des Renteneintrittsalters bei
gleichzeitiger Abschaffung aller Zuverdienstgrenzen
und die Einführung des liberalen Bürgergeldes wären die
richtigen Weichenstellungen für mehr Arbeitsplätze.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Rolf Stö-
ckel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unbe-stritten ist, dass tatsächliche oder relative Armut für zuviele Menschen trotz Arbeit Realität ist. Die FraktionBündnis 90/Die Grünen fordert deshalb zu Recht ein ab-gestimmtes Konzept, mit dem die „Verarmung Erwerbs-tätiger erfolgreich bekämpft und ihre Abhängigkeit vonder Grundsicherung“ nach SGB II „vermieden werdenkann“. Das fordert sie in Übereinstimmung mit der SPD-Bundestagsfraktion und der überwältigenden Mehrheitder Menschen in der Bundesrepublik, wenn man den re-präsentativen Umfragen Glauben schenken kann. Diegroße Zustimmung in der Bevölkerung zeigt sich übri-gens auch bei der Unterschriftenaktion für Mindest-löhne, die die SPD in Hessen durchführt.Ich darf daran erinnern, dass wir während der rot-grü-nen Regierungszeit gemeinsam ein abgestimmtes Kon-zept arbeitsmarktpolitischer Reformen entwickelt haben,das wir nun in der Großen Koalition gemeinsam mit derCDU/CSU-Fraktion auf der Grundlage des Koalitions-vertrages und im Lichte der Realitäten weiterentwickeln.Ich erinnere daran, dass die Regelungen der Mini- undMidijobs, die zu widersprüchlichen Wirkungen geführthaben, von SPD und Grünen gemeinsam beschlossenworden sind. Das heißt nicht, dass sie nicht verändertwerden könnten. Darüber werden wir uns mit unseremKoalitionspartner auseinandersetzen.
Ich glaube, beiden Regierungen ist eines gemeinsam,nämlich das Ziel – das ist heute wie damals unbestritten –,möglichst viele Menschen zu qualifizieren und in gut be-zahlte Beschäftigung zu vermitteln. Gerade für Familienmit Kindern und Alleinerziehende ist das aber keine Ga-rantie für ein existenzsicherndes Einkommen, das ober-halb der Bedürftigkeitsgrenze liegt; das müssen auch Sie
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Rolf Stöckeleingestehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass so-wohl seitens der Arbeitgeber als auch der Erwerbstätigendas Bedürfnis nach Teilzeitarbeit steigt, und es zuneh-mend gebrochene Erwerbsbiografien gibt. Wir müssenauch die Entwicklungen im Bereich der Zeitarbeit zurKenntnis nehmen.Bezüglich der Zahlen zu den sogenannten Aufsto-ckern beziehen Sie sich auf eine IAW-Studie vonNovember 2007. Ich will an dieser Stelle deutlich ma-chen, dass man die Problematik der Aufstocker nicht sopauschal beurteilen kann. Rund 459 000 Personen ge-hörten 2005 zehn Monate und länger zu den Aufsto-ckern. 325 000 Personen bezogen 2005 ganzjährig auf-stockend ALG II; das sind fast 10 Prozent allererwerbsfähigen Hilfsbedürftigen. Wer nicht mehr auf-stockt, beendet noch lange nicht den Bezug von ALG II.In 20 Prozent der Fälle endet das Aufstocken nach einemMonat, und zwar je hälftig wegen Aufgabe der Erwerbs-tätigkeit oder wegen Beendigung der Hilfsbedürftigkeit.Ich will damit nur sagen, dass wir dieses Problemnicht so pauschal beurteilen können, wie Sie es in IhremAntrag getan haben. Vielmehr brauchen wir differen-zierte Lösungskonzepte. Frau Pothmer, es ist eindeutigein Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen, dassdie Arbeitslosigkeit insgesamt spürbar gesunken ist,mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ge-schaffen wurde und zunehmend auch Langzeitarbeits-lose wieder eine Perspektive erhalten. Die Zahl der Ar-beitsuchenden ist von 5 Millionen im Jahre 2005 auf3,8 Millionen gesunken. Nach den neuesten Zahlen desStatistischen Bundesamtes ist die relative Armutsquotevon 13,5 Prozent im Jahre 2002 um knapp einen Pro-zentpunkt auf 12,7 Prozent im Jahre 2005 gesunken, beiden erwerbstätigen Personen sogar auf 5,5 Prozent. Dasreicht uns noch lange nicht; aber die Zahlen zeigen, dasswir mit Sicherheit auf dem richtigen Weg sind.
Im Übrigen haben wir im Rahmen der Reformen derAgenda 2010 geregelt, dass Geringverdiener ihren Lohnmit ALG II aufstocken können und damit quasi einKombi-Einkommen erzielen. Die Zahl derjenigen, dieals Aufstocker ALG II beziehen, ist gewachsen, weil wirRechtsansprüche auf höhere Hinzuverdienste und einhöheres Schonvermögen und damit Beschäftigungs-anreize im Bereich der Teilzeitarbeit geschaffen haben.Dazu kann man sich bekennen; es war nämlich gewollt.Es ist besser, wenigstens einen Teil des Lebensunterhaltsals Arbeitnehmer selbst zu verdienen, als voll von staat-lichen Transferleistungen zu leben.
Davon profitieren nicht nur Erwerbstätige, sondern auchdie Steuerzahler. Würde sich ein Aufstocker arbeitslosmelden – etwa weil er die falsche Moral vertritt, manmüsse sich vom Staat holen, was er bietet –, dann stiegendie Ausgaben für ALG II. Auch die Hilfe für Teilzeitlerwar vom Gesetzgeber gewollt. Damit sollten vor allemAlleinerziehende unterstützt werden; der Einstieg in denBeruf sollte insgesamt erleichtert werden.
Insgesamt kann die Aufstockerregelung als Sprung-brett in eine existenzsichernde Arbeit betrachtet werden.Es ist wahrscheinlich nie ganz auszuschließen, dass esMitnahmeeffekte gibt und dass Arbeitgeber die Rege-lung für Lohndumping missbrauchen. Dem wollen wir– da sind wir uns einig – mit Mindestlöhnen entgegen-treten.
Ich freue mich, dass die Schlussfolgerung aus unsererdamaligen Zusammenarbeit zu der Frage der Ursachenvon Armut – beispielsweise die fehlende Vereinbarkeitvon Beruf und Familie sowie der Mangel an Kinderbe-treuung und Ganztagsschulen – der europäischen Sicht-weise entspricht, dass die Berufstätigkeit beider Eltern-teile – Kollege Schiewerling hat es gesagt – der besteSchutz vor Armut, insbesondere vor Kinderarmut, ist.
Wenn Sie das skandinavische Sozialstaatsmodell zumVorbild nehmen – dafür spricht eine Menge, nicht nurIhr Antrag –, dann müssen Sie der Öffentlichkeit aberdie ganze Wahrheit sagen. Wenn das seriös finanziertwerden soll, müssen nicht nur die sozialen Leistungssys-teme effizienter werden, sondern auch die Staatsquote– Steuern und Abgaben – konsequent erhöht werden.Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag aber überhaupt nichts.Er ist offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt und istdamit ein typischer Oppositionsantrag. Er enthält keineAngaben zu den Finanzierungsfragen.Man sucht vergebens ein abgestimmtes Konzept undeine Einschätzung der Wirkungen im Gesamtzusammen-hang.
Sie etikettieren das Freibetragsmodell des DGB in dasgrüne Progressivmodell um. Sie plädieren also für eineAbsenkung der Sozialversicherungsbeiträge der Gering-verdiener und ihrer Arbeitgeber und tun so, als sei dasschon die Lösung. Sie behaupten, höhere Einkommenwürden stärker belastet; irgendeinen Hinweis darauf, wiedas geschehen soll, suche ich in Ihrem Antrag aber ver-gebens.
Sie verwerfen das Konzept des Beschäftigtenbonus,wollen aber gleichzeitig mit einem Kinderzuschlag undeiner Wohngelderhöhung dafür sorgen, dass Aufstockerden Bezug von Arbeitslosengeld II beenden können.
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Rolf StöckelDie SPD hat ein abgestimmtes Konzept zur guten Arbeitvorgelegt. Darüber verhandeln wir mit unserem Koali-tionspartner.Wir haben einen Koalitionsbeschluss vom 18. Juni2007. Der Arbeitsminister wird zeitnah – wir hoffen,noch vor der Sommerpause – ein Konzept für ein neuesArbeitnehmer-Entsendegesetz und für ein Mindestar-beitsbedingungengesetz vorlegen, um die Mindestlöhnedurchzusetzen, und zwar mit dem Vorrang tariflicherMindestlöhne, so wie Sie es auch verfolgen. Dass dieCDU/CSU da noch nicht ganz folgen kann, wird sichvielleicht nach dem nächsten Sonntag ändern. Wir hof-fen das sehr.Ich bin sicher, dass unser Konzept im Sinne unserergemeinsamen Zielsetzung, nämlich gute Arbeit, gerechteLöhne und vor allen Dingen neue Regelungen, neue so-ziale Sicherungen im Sinne einer flexiblen Sicherheitund neue Arbeitsverhältnisse in einer neuen Kultur derArbeit, gelingen wird.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Mein persönlicher Wahlslogan imJahr 2005 war: Von Arbeit muss man leben können.
Darum unterstütze ich jede grundlegende Reform, diediesem Ziel dient.
Aber ich glaube, wir müssen an die Dinge grundlegendherangehen.Ich möchte daran erinnern, dass im Jahr 2003 auf Vor-schlag von Bundeskanzler Schröder Rot-Grün die Hartz-Gesetze beschlossen hat. Meine Kollegin Petra Pau, diejetzt als Präsidentin hier vorne sitzt, und ich haben vordiesen Hartz-Gesetzen gewarnt und darauf verwiesen,dass diese Gesetze massenhaft Armut erzeugen werden.Wir haben die Situation in den USA beschrieben. Dortlebten schon viele Menschen trotz Arbeit in Armut. Siewaren schon damals gezwungen, mehrere Mc-Jobs an-zunehmen, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zukönnen. Unsere Warnungen wurden damals einfachignoriert. Jetzt müssen wir feststellen, dass die Hartz-Gesetze genau die Wirkungen hervorgerufen haben, vordenen wir damals gewarnt haben.
CDU/CSU, SPD und Grüne haben die Verarmung vonMillionen von Menschen billigend in Kauf genommen.
Dazu, dass Kollege Stiegler von der SPD heute Morgenim Plenum sagte, man konnte ja nicht wissen, dass dieUnternehmen die Gesetzgebung über die Leiharbeit soausnutzen würden, frage ich: Wie naiv können führendeSozialdemokraten sein? Das ist doch wirklich nicht zufassen.
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich for-dere aber auch Sie auf, einmal darüber nachzudenken, obes nicht redlich wäre, in Ihrem Antrag selbstkritisch überIhre Fehler einige Worte zu verlieren und eine grundle-gende Reform der Hartz-Gesetze einzufordern. Sie ver-suchen, über Ihre eigene Geschichte stillschweigend hin-wegzugehen. Doch ich kann Ihnen versichern: Sovergesslich sind die Menschen nicht.
– Wir gehen über unsere eigene Geschichte, verehrterHerr Kollege Brauksiepe, nicht stillschweigend hinweg.Wir setzen uns damit intensiv auseinander.
Das unterscheidet uns voneinander.
Im Antrag der Grünen wird auf die schnell steigendeZahl von Menschen hingewiesen, die trotz Arbeit ihrenLebensunterhalt nicht finanzieren können. Wir haben– das muss man hier einmal betonen – die absurde Situa-tion, dass es eine Anzahl von Unternehmen in unseremLand gibt, die die Löhne ihrer Mitarbeiter mit dem Hin-weis senken, dass sie sich das restliche Geld doch vomStaat holen können. Ich denke, diese Situation ist nichthinnehmbar.
Uns von den Linken wird gern vorgeworfen, wirkönnten nicht rechnen und wüssten nicht, wie man Geldzusammenzählt. Darum möchte ich hier, obwohl ichnicht kleinkariert bin, auf eine sehr ärgerliche Ge-schichte eingehen. Ich hatte die Bundesregierung ge-fragt, wie viel Geld der Bund im Jahr 2007 für die Auf-stocker gezahlt hat. Vor einigen Monaten wurde mir erstdie Zahl von 8 Milliarden Euro pro Jahr genannt, dannwaren es plötzlich 13 Milliarden Euro.
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Dr. Gesine Lötzsch
Ich muss Ihnen sagen: Wenn das Ministerium, das dafürverantwortlich ist, sich um 50 Prozent irrt und uns vonKollegen aus der SPD vorgeworfen wird, wir könntennicht rechnen, dann ist das für mich keine Kleinigkeit.Dann sage ich das auch in aller Öffentlichkeit.
Ungefähr 9 Milliarden Euro werden im Jahr für Auf-stocker ausgegeben. Auch das ist keine Kleinigkeit. Umdas für die Zuhörer einmal im Vergleich darzustellen: Soviel gibt der Bund in einem Jahr für Wissenschaft undForschung aus. Um die Situation zu verbessern, gibt esein Mittel, das uns allen bekannt ist: den gesetzlichenMindestlohn. Es ist an der Zeit, den gesetzlichen Min-destlohn endlich einzuführen, nicht mit Unterschriften-listen dafür durch Landtagswahlkämpfe zu ziehen, son-dern hier im Deutschen Bundestag, wo er beschlossenwerden kann, dafür die Hand zu heben und abzustimmen
und nicht zu behauten, dass diejenigen, die ordnungsge-mäße Anträge in den Deutschen Bundestag zu dieserFrage einbringen, Populisten seien. Die Populisten sinddie, die mit Unterschriftenlisten in die Wahlkämpfe zie-hen, dann aber im Bundestag Anträge auf Einführung ei-nes gesetzlichen Mindestlohnes ablehnen,
obwohl es hier im Plenum eine strukturelle Mehrheit fürden Mindestlohn gibt.
Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig. – Über die Kin-derarmut haben wir heute Nachmittag schon gesprochen;darauf kann ich nicht mehr eingehen.
Wir müssen die grundlegenden Ursachen beseitigen, diedazu führen, dass Menschen nicht von ihrer Arbeit lebenkönnen. Was wir brauchen, sind gute Arbeit und sichereArbeitsverhältnisse. Wir müssen die Gesetze im Bundes-tag so gestalten, dass sich die Menschen darauf verlassenkönnen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7751 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Kontopfändungsschutzes
– Drucksache 16/7615 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe dem Parla-
mentarischen Staatssekretär Hartenbach das Wort erteilt,
nicht dem gesamten Plenum. Ich bitte darum, die nötige
Aufmerksamkeit herzustellen.
A
Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr herzlich fürdiese Bevorzugung. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Verehrtes Präsidium! Eine Reform des Kontopfän-dungsschutzes ist notwendig. Viele Menschen inDeutschland warten schon ungeduldig auf das neueRecht.
Wir wollen – Herr Thiele, an dieser Stelle sollten auchdie Finanzpolitiker zuhören –,
dass die Schuldner auf einem besonderen Girokonto,dem Pfändungsschutzkonto, einen automatischen Basis-pfändungsschutz erhalten. Dazu wird es auf diesemKonto einen Sockelpfändungsschutz von knapp1 000 Euro geben. Das entspricht dem Freibetrag, denein alleinstehender Arbeitnehmer oder Rentner mindes-tens behalten darf, wenn sein Einkommen gepfändetwird. Wenn Unterhaltspflichten bestehen, wird dieserBetrag natürlich entsprechend erhöht.Diese Reform hängt eng mit der Forderung nach ei-nem Girokonto für jedermann zusammen. Schätzungenbesagen, dass in Deutschland circa 500 000 Haushaltekein Girokonto haben.
Viele von Ihnen können sich vielleicht gar nicht vorstel-len, was das für die Betroffenen heißt. Jede Rechnungmuss bar bezahlt werden. Das ist umständlich und kostet
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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbachjedes Mal zusätzliche Gebühren, und das gerade diejeni-gen, die oft nicht wissen, ob ihr Geld bis zum Mo-natsende reicht.Wer kein Girokonto hat, bekommt oft keinen Telefon-anschluss und wird es schwer haben, einen Arbeitsplatzzu finden. Wegen Kontopfändungen erfolgen derzeitcirca 60 Prozent der Kontokündigungen, weil den Ban-ken bei einer Kontopfändung, wie sie sagen, ein zu gro-ßer Aufwand und zu hohe Kosten entstehen. Das könnenund dürfen wir nicht hinnehmen.
Jetzt reformieren wir den Pfändungsschutz, wie wir esim vierten Bericht zur Umsetzung der Empfehlungen desZentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jeder-mann angekündigt haben. Der Aufwand für den Pfän-dungsschutz wird in Zukunft deutlich geringer sein, weilauf dem Pfändungsschutzkonto ein automatischer Pfän-dungsschutz in Höhe eines Sockelbetrages von knapp1 000 Euro pro Monat besteht. Es muss also nicht erstnoch die Entscheidung eines Gerichts herbeigeführt wer-den. Das entlastet die Banken und auch die Gerichteganz erheblich
und kann von den Banken deshalb künftig nicht mehr alsBegründung für die Kündigung eines Girokontos heran-gezogen werden.
Im Übrigen gilt: Der Staat darf seinen Zwangsapparatnicht zur Verfügung stellen, um einem Schuldner dieMittel zu entziehen, die er für seinen eigenen Mindest-unterhalt und den seiner Familie benötigt. Das liegt auchim öffentlichen Interesse. Ließe man zu, dass die Gläubi-ger alles bis zum letzten Euro pfänden, wäre es wiederdie Allgemeinheit, die mit Sozialtransfers für den Unter-halt des Schuldners aufkommen müsste. Damit würdenprivate Verlustgeschäfte sozialisiert. So etwas ist nichtnur in Zeiten knapper Kassen abzulehnen. Wir könnennicht mit der Rechten beim Wegnehmen helfen und dasmit der Linken wiedergutmachen; das war jetzt nichtpolitisch gemeint.
Das Argument des Missbrauchs durch den Schuldnerlasse ich nicht gelten. Die Instrumente der Kontrolle undÜberwachung reichen aus, vor allem die Androhung ei-ner Bestrafung. Wir brauchen auch keine Registrierung;wir wollen doch gerade weniger Bürokratie.Meine Bitte daher: Lassen Sie uns die Beratungenüber diesen Gesetzentwurf zügig durchführen! Dannkann das neue Gesetz noch am Ende dieses Jahres inKraft treten. Viele Bürgerinnen und Bürger in unseremLand warten darauf.
Ich appelliere von dieser Stelle aus auch an die Kre-ditwirtschaft: Leisten Sie Ihren Beitrag zum Gelingender Reform und unterstützen Sie das Pfändungsschutz-konto! Dann entschärfen Sie auch die Diskussion überden Rechtsanspruch auf ein Girokonto.Ich danke Ihnen.
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild
Dyckmans das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit der Zunahme des bargeldlosen Zahlungsverkehrs istein stetiger Anstieg der Zahl der Kontopfändungen ver-bunden. Nach Angaben der Bundesregierung erfolgenbundesweit 350 000 bis 370 000 Kontopfändungen proMonat. War die Kontopfändung bei der Zwangsvollstre-ckung in früheren Jahren die Ausnahme, so ist sie heutefast der Regelfall.Es ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen, wenn dieBundesregierung nach einigen Anläufen nun einen Ge-setzentwurf für eine umfassende Reform des Kontopfän-dungsrechts vorgelegt hat.
Ich begrüße für die FDP-Fraktion auch ausdrücklich,dass die Bundesregierung zugleich von der Einführungeines Girokontos für jedermann Abstand genommen hat.Ich weiß, dass das eine Forderung ist, die seit Jahren er-hoben wird und die allgemein populär ist.
Dennoch sind wir ebenso wie die Bundesregierung derAuffassung, dass die gesetzliche Einführung eines Giro-kontos für jedermann nicht der richtige Weg ist. DieKreditwirtschaft hat gezeigt, dass sie sehr wohl in derLage ist, dieses Problem durch ein funktionierendes Sys-tem der Selbstregulierung in den Griff zu bekommen.
Nun zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Die Bun-desregierung schlägt vor, dass der Kunde bei seinerBank auf vertraglicher Grundlage die Einrichtung einesPfändungsschutzkontos beantragen kann. Damit soll,wie der Herr Staatssekretär es eben erwähnt hat, ein mo-natliches Guthaben von etwa 1 000 Euro automatischgeschützt werden. Wird nach dem geltenden Recht einKonto gepfändet, so muss der Schuldner bei Gericht dieAufhebung der Pfändung beantragen. Die Kontopfän-dung – das ist eine Tatsache – führt dann oft zur Kündi-gung des Girovertrags. Das kann so nicht mehr hinge-nommen werden.Mit dem Pfändungsschutzkonto erspart sich derSchuldner den Gang zum Gericht und kann künftig trotzder Vollstreckung seine täglichen Geldgeschäfte bar-geldlos abwickeln. Die Neuregelung erscheint daher aufden ersten Blick sachgerecht.
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Mechthild DyckmansMit dem Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt, so dieBundesregierung in ihrer Begründung, den Aufwand fürdie Banken und Sparkassen in vertretbarem Rahmen zuhalten. Wir haben gewisse Zweifel, ob dies gelingt.Schließlich muss man sehen, dass hier Aufgaben, diebisher die Gerichte wahrgenommen haben, auf die Kre-ditwirtschaft verlagert werden. Zwar soll der Pfändungs-schutz für Guthaben einheitlich ausgestaltet werden unddeshalb zu Deregulierung führen – auf die Art der Ein-künfte soll es nicht mehr ankommen; aber auch hier liegtein Problem –; man muss aber sehen, dass dafür anderePrüfungsaufträge auf die Bank zukommen. Denn wenndas geschützte Guthaben erhöht werden soll, etwa weilder Schuldner Unterhaltsverpflichtungen nachkommenmuss, haben die Kreditinstitute zu prüfen, welche Be-träge von der Pfändung erfasst werden und welche nicht.Ob es da tatsächlich zu einer Entlastung auch der Kredit-institute kommen wird, erscheint mir fraglich.
Ebenso glaube ich, dass die Vollstreckungsgerichtenur zum Teil entlastet werden;
denn wenn ein bestimmtes Guthaben nicht von der Voll-streckung erfasst wird, kann man erst einmal einen An-trag bei dem Vollstreckungsgericht stellen. Auch beiZweifeln an der konkreten Berechnung kann das Voll-streckungsgericht angerufen werden. Es gibt also nur ge-ringfügige Entlastungen.Kritisch gesehen werden muss meines Erachtens auchdie Regelung, wonach der Schuldner gegenüber demKreditinstitut lediglich zu versichern hat, dass er nur eineinziges Pfändungsschutzkonto hat. Ob diese Versiche-rung des Schuldners ausreicht, bedarf meines Erachtensnoch der ausführlichen Prüfung.Die Reform des Kontopfändungsrechts kann für unsnur dann zustimmungsfähig sein, wenn die Regelungenzu einem fairen und sachgerechten Interessenausgleichzwischen Schuldner, Gläubiger und Kreditinstitut füh-ren. Das heißt erstens, dass das verfassungsrechtlich ga-rantierte Existenzminimum geschützt werden muss. Dasheißt zweitens aber auch, dass die legitimen Rechte desGläubigers durchsetzbar bleiben müssen. Drittens heißtdas, dass die Verlagerung der Berechnung von Pfän-dungsschutzfreibeträgen von den Vollstreckungsgerich-ten auf die Kreditinstitute diese nicht unverhältnismäßigbelasten darf.Ich nehme an, dass wir das Gesetz ausführlich beratenwerden. Wir werden sehen, wie weit wir damit kommenwerden und ob die eine oder andere Änderung noch vor-genommen wird.Danke schön.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Michael
Grosse-Brömer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Den Menschen, die dieser Debatte jetzt folgen, wird esso wie mir gehen, als ich gehört habe, dass wir einenKontopfändungsschutz einrichten wollen. Da stellt mansich erst einmal die Frage, warum es so etwas gebenmuss. Diejenigen, die ein zu pfändendes Konto haben,haben im Zweifel nämlich Schulden gemacht. Wennman pfänden kann, dann besitzt man auch schon einenTitel, um diese Schulden einzutreiben. Das heißt, dasssich ein Gericht im Regelfall damit beschäftigt und ge-sagt hat: Es gibt einen Anspruch, der zu Recht besteht. –Man stellt sich dann die Frage, warum man einen Kon-tenpfändungsschutz braucht.
– Sie werden in wenigen Minuten ja noch einmal Ihrefulminanten Rechtsausführungen dazu machen.Ich glaube, für die allermeisten Menschen ist es eineSelbstverständlichkeit, ihr Girokonto Tag für Tag zu be-nutzen, um die Miete zu bezahlen, um ihr Gehalt zu kas-sieren und um Überweisungen zu tätigen. Dieser bar-geldlose Zahlungsverkehr ist eben Alltagsgeschäft.Demzufolge ist die Sperrung oder Kündigung eines sol-chen Kontos natürlich eine massive Einschränkung derfinanziellen Mobilität. Wenn man nicht aufpasst, kann esauch schnell in eine finanzielle Abwärtsspirale gehen.Wem ein Konto gekündigt wird, sodass er keines mehrhat, der bekommt irgendwann keine Wohnung und auchkeine Arbeit mehr. Deswegen ist es richtig, wenn mansich Gedanken darüber macht, wie man dem Einhalt ge-bieten kann.Um den Folgen einer Kontolosigkeit zu begegnen, hatder Zentrale Kreditausschuss schon im Jahre 1995 eineEmpfehlung – Stichwort: „Girokonto für jedermann“ –herausgegeben. Die in diesem Ausschuss zusammenge-schlossenen Verbände haben sich verpflichtet, für jeder-mann ein Girokonto zur Verfügung zu stellen, sofern dasnicht unzumutbar ist. So weit, so gut.Wir wollen jetzt gesetzlich etwas daran ändern. Imvierten Bericht zu den Auswirkungen dieser ZKA-Emp-fehlung über dieses Girokonto für jedermann stellt dieBundesregierung fest, dass dieses Konto weitgehend zurWirklichkeit geworden ist. Es existieren nur noch Ein-zelfälle, für die es einen Handlungsbedarf – zum Bei-spiel hinsichtlich einer Härtefallregelung – gibt.Schätzungsweise 97 Prozent der Bevölkerung verfü-gen über ein Girokonto. Gleichwohl ist es eines der we-sentlichen Ziele, das mit dem Kontopfändungsschutzverfolgt wird, die Zahl der aufgrund von Pfändungenausgesprochenen Kontokündigungen zu reduzieren. Da-neben sollen auch eine Vereinfachung des Pfändungs-rechts und damit insgesamt eine größere materielle Ge-rechtigkeit erreicht werden. – So weit zu den Zielen, diemit dem Gesetzentwurf verfolgt werden.Ich bin heute bei der ersten Lesung noch nicht derAuffassung, dass diese Ziele vollständig erreicht wer-den. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass Schuld-
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Michael Grosse-Brömernerschutz, so sinnvoll er ist, nicht zu einer Benachteili-gung der Gläubiger führen darf.
Beide, Gläubiger und Schuldner, haben verfassungs-rechtlich abgesicherte Interessen. Keinem Schuldnerdarf das letzte Hemd vom Leib gepfändet werden. Esgibt das Gebot der Menschenwürde und das Sozialstaats-gebot in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes. Umgekehrtgilt: Dem Gläubiger kommt die Eigentumsgarantie inArt. 14 des Grundgesetzes zugute. Es gibt zudem sinn-vollerweise einen Justizgewährungsanspruch, also einenAnspruch auf Durchsetzung gerichtlich festgestellterRechte.Wird der vorliegende Gesetzentwurf der notwendigenAbwägung der unterschiedlichen Interessen gerecht?Kern des Gesetzentwurfs ist die Einrichtung eines soge-nannten P-Kontos mit einem Sockelfreibetrag in Höhevon 985,15 Euro. Warum es genau dieser Betrag seinsoll, habe ich nicht genau verstanden. Aber so ist es je-denfalls festgelegt. Weiterhin gibt es bei diesem Kontoeine Begrenzung der Pfändungswirkung auf 90 Tage.Danach kann erneut gepfändet werden. Wenn ich es rich-tig verstanden habe, soll es die Möglichkeit geben, nichtverbrauchte Freibeträge in den nächsten Monat zu über-tragen. Es handelt sich also um ein kleines pfändungs-freies Sparbuch. Möglichkeiten zur Vollstreckungs-umgehung ist damit meiner Ansicht nach Tür und Torgeöffnet. Es wird den raffinierten Schuldner geben, derneben seinem P-Konto diverse andere Konten habenwird. Es wird den betrügerischen Schuldner geben – die-ser ist für den Gesetzentwurf nicht maßgebend –, der aufdie Idee kommen wird, mehrere P-Konten einzurichten.Die spannende Frage ist: Wer überprüft das alles eigent-lich? Nach meinem Verständnis wird diese Frage im Ge-setzentwurf nicht beantwortet. Lediglich die Banken sol-len sich darum kümmern. Aber eine Erklärung reichtaus.Mit dem Gesetz wird sicherlich mehr Schutz vorKontopfändung erreicht – darauf wird auch in der Über-schrift der Presseerklärung des BMJ hingewiesen –, al-lerdings aus meiner Sicht ein Stück weit zulasten derGläubiger. Aufgrund dieses Gesetzes wird es wohl zurRückkehr zur guten alten Lohntüte kommen; denn jederSchuldner ist gut beraten – man muss noch nicht einmalAnwalt sein wie die meisten im Rechtsausschuss, um aufdiese Idee zu kommen; dafür braucht man keine anwalt-liche Empfehlung –, sich künftig Gehalt und Sozialleis-tungen bar auszahlen zu lassen,
auf dem P-Konto nur einen Betrag in Höhe von985,15 Euro stehen zu lassen und alles, was darüber hi-nausgeht, in den nächsten Monat mitzunehmen.
– Sie waren doch einmal Staatssekretär. Sie sind so klugund intelligent, dass ich Ihnen meine Sätze nicht erklä-ren muss. Sie sollten nicht so viel dazwischenrufen, son-dern vorrangig zuhören.
Gerade durch die Möglichkeit, überhängende Beträgeanzusparen, kann es zum Beispiel dazu kommen – da-rüber sollten wir diskutieren –, dass ein Gläubiger seinetitulierten 1 000 Euro nicht pfänden kann, obwohl2 000 Euro auf dem Konto des Schuldners sind. Daraufmüssen wir eine Antwort finden.
Es gibt eben unterschiedliche Interessen, die hierbei eineRolle spielen. Handelt es sich tatsächlich um eine Stär-kung der materiellen Gerechtigkeit, wenn die von mirbeschriebene Abwägung der Interessen stattfindet?
Ich glaube, auch eine Vereinfachung des Kontopfän-dungsrechts wird nicht unbedingt erreicht. Frau KolleginDyckmans hat darauf hingewiesen, dass das P-Kontound der damit verbundene Schutz vorrangig sind. Abernach wie vor gelten die bestehenden Pfändungsschutz-maßnahmen. Künftig sollen nicht mehr Gerichte, son-dern Banken sich darüber Gedanken machen, wie hochder pfändungsfreie Betrag sein soll, und festlegen, ob derpfändungsfreie Sockelbetrag gegebenenfalls erhöht wer-den kann, wenn der Schuldner entsprechende Möglich-keiten nutzt, wenn er zum Beispiel Kinder hat. Wenn esdabei bleibt, wird es spannend sein, zu sehen, wie sichdas in der Praxis auswirkt.Zusätzliche Kosten für zusätzliche Aufgaben, die denBanken wohl entstehen, sind nach BGH-Rechtsprechungzwar nicht direkt an den Kontoinhaber weiterzugeben.Aus meiner Sicht ist es aber nicht auszuschließen, dasses nach Inkrafttreten unseres Gesetzentwurfes eventuellzu mehr Kontokündigungen kommt und nicht zu weni-ger. Damit träfe das Gesetz dann eher diejenigen, die eseigentlich schützen wollte.Eine zentrale Datei über bestehende P-Konten wird eswohl nicht geben. Wer überprüft also, wie viele P-Kon-ten für einen einzelnen Schuldner bestehen? Da habenwir noch keine vernünftige Antwort gefunden; jedenfallshabe ich im Entwurf keine gesehen.Ich denke, die gute Entwicklung aufgrund der ZKA-Empfehlung „Girokonto für jedermann“ wird durch denEntwurf, zumindest nach meiner ersten Sicht, nicht un-bedingt gefördert. Ungeachtet dessen finden sich auchpositive Punkte in diesem Entwurf, zum Beispiel derverbesserte Pfändungsschutz für Selbstständige. Das gabes bislang nicht. § 850 i ZPO war bislang nach allgemei-ner Auffassung unzureichend.Ich will deswegen abschließend zu dem Fazit kom-men, dass der Entwurf in der derzeitigen Fassung die In-teressenabwägung zwischen Gläubiger und Schuldner
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Michael Grosse-Brömernoch nicht perfekt löst. Ich glaube, da haben wir nochein Stück weit Diskussionsbedarf. Das sehen nicht nurGläubigerschutzverbände oder die Bankenvertretung so,sondern ebenso der Bundesrat und im Übrigen auch Ver-treter der Wirtschaft. Vielleicht lesen Sie da einmal nach.
Professor Bitter von der Universität Mannheim hat daähnliche Auffassungen.Lassen Sie uns bei den anstehenden Beratungen die-sen Gesetzentwurf optimieren. Ich denke, wenn wirkeine Anhörung durchführen, sollten wir uns zumindestin einem erweiterten Berichterstattergespräch darüberunterhalten, wie dieser Entwurf zu optimieren ist. Ichsehe dafür jedenfalls die Notwendigkeit.Herzlichen Dank.
Der nächste Redner ist Wolfgang Nešković, Fraktion
Die Linke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wenn der Gesetzgeber die Instru-
mente für die zwangsweise Durchsetzung privatrechtli-
cher Forderungen bereitstellt, so ist er – Herr Hartenbach
sagte es bereits – auch gehalten, dafür zu sorgen, dass
diese Instrumente dem Schuldner nicht die Mittel für ein
menschenwürdiges Dasein entziehen können. Das folgt
auch aus dem Sozialstaatsprinzip unseres Grundgeset-
zes. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung bemüht sich der
Deutsche Bundestag seit dem Jahre 1972 um einen wirk-
samen Kontopfändungsschutz. Während dessen gesetz-
geberische Ausgestaltung eher mühsam vorankam,
verwandelte die Informationstechnologie unsere Lebens-
wirklichkeit in Siebenmeilenschritten.
So trat zum ersten sozialen Problem ein zweites. Die
elektronische Kontoführung und der digitale Zahlungs-
verkehr sind die gesellschaftliche Regel geworden. Sie
mögen einen erheblichen Vorteil darstellen für jeden, der
daran teilnehmen darf. Für solche Menschen aber, die
– das wurde hier schon erwähnt – ihr Girokonto verloren
haben oder schon keines erhalten können, bedeutet dies
wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung. Bargeld lacht
schon lange nicht mehr.
Die Einführung eines einheitlichen Pfändungsschutz-
kontos, dessen Pfändungsfreibetrag auch im Falle der
Pfändung weiter verfügbar bleibt, gibt nicht nur dem
Schuldner mehr sozialen Schutz, sondern – davon geht
die Begründung aus – verringert wohl tatsächlich die
Neigung der Banken, im Falle einer Kontopfändung den
Girovertrag mit dem Schuldner zu kündigen.
Damit ist allerdings noch nichts für die Gruppe von
Menschen getan, die überhaupt kein Girokonto besitzt.
Auf dem Weg zum Girokonto für jedermann kommt die-
ser Entwurf als zweiter Schritt vor dem ersten daher.
Dass diese Art des Gehens zu Stürzen führen kann, ist
allgemein bekannt. Denn anders als die Entwurfsverfas-
ser meine ich nicht, dass der Entwurf die jahrelange Dis-
kussion mit den Kreditinstituten zur Einführung eines
Girokontos für jedermann erleichtert. Ich denke, eine
verringerte Neigung zu Kündigungen und eine gestei-
gerte Neigung zu Neuabschlüssen von Giroverträgen
sind zwei Paar Schuhe.
Dazu zwei Beispiele: Erstens. Nach dem Entwurf sol-
len den Banken die Kosten, die ihnen aus der Bearbei-
tung von Kontopfändungen entstehen, nicht ersetzt
werden. Zweitens. Wegen § 394 BGB – „Keine Aufrech-
nung gegen unpfändbare Forderung“ – haben die Kredit-
institute auch keine Möglichkeit, die Kontoführungsge-
bühren mit dem geschützten Pfändungsfreibetrag zu
verrechnen. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Um-
stände die Banken ganz und gar nicht beflügeln werden,
kontolosen, überschuldeten Personen ein Pfändungs-
schutzkonto erstmals einzurichten.
Als zweiter Schritt vor dem ersten sorgt der Entwurf
also nicht für weniger, sondern für mehr Gegenwind.
Mit meiner Fraktion sehe ich allerdings diesem Mehr an
Gegenwind sehr gelassen entgegen. Denn sollte der Ent-
wurf Gesetz werden, so sorgt er als zweiter Schritt vor
dem ersten im Grunde genommen nur dafür, dass der
erste Schritt umso konsequenter nachzuholen sein wird:
in Form einer gesetzlichen Lösung, die die Banken nicht
im Wege der Selbstverpflichtung, sondern im Rahmen
ihrer Gemeinwohlverpflichtung nach Art. 14 Abs. 2
Grundgesetz verpflichtet, ein Girokonto für jedermann
vorzusehen.
Dazu hat unsere Fraktion Ihnen bereits eine taugliche
Vorlage geliefert,
die am 9. März 2006 zur Beratung in die Fachausschüsse
überwiesen wurde. Nutzen Sie diese Vorlage!
Dann kann das zwölfjährige, wie ich finde, peinliche
Warten auf die soziale Einsichtigkeit der deutschen Kre-
ditinstitute noch in dieser Legislaturperiode ein Ende
finden.
Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
Kollege Jerzy Montag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Grosse-Brömer, Sie haben eine großeAnzahl hochinteressanter Fragen ausgebreitet. Aller-dings haben wir von Ihnen keine Antwort gehört.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14689
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Jerzy Montag
Als Ergebnis Ihrer Fragen habe ich aber Ihre Positionverstanden: Sie wollen dieses Gesetz eigentlich nicht.
Ich sage Ihnen: Wir Grüne wollen dieses Gesetz. Wirfinden es richtig; Kontopfändungsschutz muss sein. Esgibt allerdings noch einige Fragen, über die zu diskutie-ren sein wird. Das werden wir im Ausschuss tun.Der vorliegende Gesetzentwurf löst aber das Haupt-problem nicht.
Das Problem ist, dass man in der heutigen Gesellschaftder Bundesrepublik Deutschland ohne ein Girokontokeine Arbeit bekommen kann und keine Wohnung mie-ten kann.
Man kann also am täglichen Leben nicht teilnehmen.
Deswegen ist es richtig, was Ihre Bundesregierung
2006 in ihrem Bericht geschrieben hat – ich darf zitie-ren –:Gemeinsames Ziel von Staat und Kreditwirtschaftmuss es … sein, allen Bürgerinnen und Bürgernschnell, einfach und auf praktikable Weise die Teil-nahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr zu er-möglichen.Aber die Bundesregierung legt keinen Gesetzentwurffür die Umsetzung der Forderung eines Girokontos füralle vor. Das wäre aber ein notwendiger Schritt. DieserSchritt wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aller-dings nicht verwirklicht.
Stattdessen redet dieses Parlament inzwischen seit zehnJahren über ein Girokonto für alle. Die erste Beschluss-fassung dieses Hohen Hauses stammt vom 5. Juni 1997,die zweite vom 31. Januar 2002 und die dritte vom30. Juni 2004. In allen diesen Beschlussfassungen hatdas Parlament die Bundesregierung aufgefordert, dochdafür zu sorgen, dass es zu einem Girokonto für allekommen möge. Bis heute ist die Forderung dieses Ho-hen Hauses nicht erfüllt worden.Nein, wir haben keine Selbstverpflichtung der Kredit-wirtschaft für ein Girokonto für alle, sondern lediglicheine Empfehlung des Dachverbandes, ein solches Giro-konto einzuführen. Zu dieser Empfehlung und zu derTatsache, dass sich nichts verbessert hat, schreibt dieBundesregierung – Herr Kollege Grosse-Brömer, Siemüssen den Bericht einmal lesen –:Dieses nach zehnjähriger Implementierungspraxisernüchternde Ergebnis ist … in erster Linie demCharakter der Empfehlung geschuldet. Sie ver-pflichtet gegenüber dem Kunden zu nichts – sie istweder für den Zentralen Kreditausschuss noch fürdie einzelnen Kreditinstitute mit einer Rechtspflichtverbunden.Es ist völlig klar: Wir brauchen zumindest eineSelbstverpflichtung, die einen rechtsverbindlichen Cha-rakter hat. Dazu sagt der Bundesverband der deutschenBanken Nein.Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht als kleinenSchritt vorgeschlagen, dass zumindest die Entscheidun-gen der Schlichtungsstellen verbindlich sein sollen.Dazu sagt der Bundesverband der deutschen BankenNein.Seit zehn Jahren bestreiten die Banken die Zahl, diewir jetzt gerade von der Bundesregierung gehört haben:Es gibt mindestens eine halbe Million Menschen inDeutschland, die gar kein Konto haben. Hinzu kommteine hohe Dunkelziffer, die nicht erfasst ist. Deswegensagen wir Grüne: Wir brauchen das Girokonto für jeder-mann und jedefrau. Wir brauchen auch den Kontrahie-rungszwang. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben.Dass das kein Ende der Vertragsfreiheit in Deutschlandist
– nein –, das zeigen uns die Sparkassen. Die Sparkassenhaben sich nämlich bereits
freiwillig zu einem Kontrahierungszwang verpflichtet.In zehn Bundesländern gibt es das.
Dort sind die Marktwirtschaft und die Vertragsfreiheitaber nicht abgeschafft. Deswegen können wir das auchim ganzen Bundesgebiet einführen. Wir Grüne werdenuns dafür einsetzen.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollege Dirk Manzewski, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen und zahlreiche Freunde derRechtspolitik! Dem Girokonto kommt aufgrund des zu-nehmenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs in der heuti-
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Dirk Manzewskigen Zeit – das ist hier schon deutlich gemacht worden –eine immer größere Bedeutung zu. Dementsprechendwiegen natürlich die im Zusammenhang mit der Pfän-dung von Guthaben immer häufiger vorkommendenKündigungen von Girokontoverbindungen umso schwe-rer. Der Grund liegt – auch das ist schon gesagt worden –in der Regel in der weitreichenden Blockadewirkung,die durch solch eine Kontopfändung ausgelöst wird. Fürden Betroffenen stellt das aufgrund der Bedeutung desGirokontos in der Regel einen schwerwiegenden Ein-griff mit weitreichenden persönlichen Folgen dar.Herr Staatssekretär, das Ansinnen der Bundesregie-rung, hier eine Verbesserung zu erreichen, wird dahervon mir ausdrücklich geteilt, zumal das sich meist an-schließende Pfändungsschutzverfahren für die Vollstre-ckungsgerichte einen ungeheuren Aufwand bedeutet.Dies führt oft genug dazu – das muss man ganz deutlichsagen –, dass kein rechtzeitiger Schutz gewährt wird.Die Reform hat daher das berechtigte Ziel, einerseits füreinen effektiveren Schutz des Schuldners zu sorgen undandererseits – da gebe ich dem Kollegen Grosse-Brömerrecht – das Bankkonto als Objekt für den Zugriff vonGläubigern zu sichern. Nur, richtig ist natürlich – werwill dem widersprechen? –, dass dabei versucht wird,das Verfahren möglichst unkompliziert auszugestaltenund auch den Aufwand der Banken in einem vertretba-ren Rahmen zu halten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns da-rüber unterhalten – einige Debattenbeiträge gingen, wieich finde, am Thema vorbei –, wie das Ziel des Kon-topfändungsschutzes umgesetzt werden soll. DieseFrage ist entscheidend. Die Bundesregierung plant, dieder Existenzsicherung dienenden Einkünfte von Schuld-nern einem sogenannten P-Konto, also einem Pfän-dungsschutzkonto, gutzuschreiben. Dadurch soll dannder Schuldner im Rahmen der Pfändungsfreigrenzen, diefür Arbeitseinkommen gelten, die Geldgeschäfte destäglichen Lebens trotz Pfändung weiter vornehmen kön-nen.In der Diskussion, die sich an die heutige Debatte an-schließt, werden wir abzuklären haben, ob es für dieKreditinstitute tatsächlich immer so unproblematisch,wie prognostiziert wurde, ist, bei den durch Eingängeund Abbuchungen stetig wechselnden Beständen auf denKonten den Pfändungsfreibetrag feststellen zu können.Ich persönlich bin davon noch nicht überzeugt. Es han-delt sich, Kollege Montag, Kollege Nešković, um einrein praktisches Problem. Es geht darum, wie die Umset-zung erfolgen soll.In diesem Zusammenhang ist für mich auch nochnicht ganz klar – auch diese Frage möchte ich aufwer-fen –, wie eigentlich das grundsätzliche Regressrisikoder Kreditinstitute aussieht, wenn sie fehlerhaft über denPfändungsfreibetrag entscheiden.
Gut finde ich, dass die Bundesregierung sich in ihrer Ge-genäußerung für Fälle erhöhter Pfändungsfreigrenzendie Meinung des Bundesrates zu eigen gemacht hat undfür die Kreditinstitute die Gefahr der Haftung im Falleder Unrichtigkeit der in diesem Zusammenhang vorzule-genden Bescheinigungen minimieren will.Jeder Schuldner darf natürlich nur ein Pfändungs-schutzkonto führen. Die Pfändungsfreigrenze soll demSchuldner dabei quasi automatisch gewährt werden, undauf die Art der Einkünfte soll es dabei nicht mehr an-kommen. Gerade dadurch, dass nur noch das eine KontoPfändungsschutz genießt, soll nach dem Gesetzentwurfzugunsten der Gläubiger verhindert werden, dass derPfändungsschutz durch Führen mehrerer Konten mit derMöglichkeit der entsprechenden Inanspruchnahme vonFreibeträgen ausgehöhlt wird. Die Bundesregierung– auch dies ist von den Kollegen angesprochen worden –geht dabei davon aus, dass die Strafbarkeit nach§ 288 StGB und die vom Schuldner abzugebende Versi-cherung, keine weiteren Pfändungsschutzkonten mehrzu führen, ausreichend sind, Personen hiervon tatsäch-lich abzuhalten.Ich kann nicht ignorieren, dass es dazu kritische Stim-men gibt. So habe ich den Kollegen Grosse-Brömer ver-standen, und auch der Bundesrat und die BRAK habendies als nicht ganz unproblematisch angesehen. Daraufstelle ich ab, und deswegen sage ich an dieser Stelle nur,ohne eine Wertung abzugeben, dass wir uns in den anste-henden Beratungen mit dieser Problematik ausgiebigwerden auseinandersetzen müssen, nicht mehr und nichtweniger.
Geklärt werden sollte auch noch, warum bei der Kon-tenpfändung Befristungen eingeführt werden sollen– das habe ich noch nicht ganz verstanden – und warumoffenbar keine Dauerpfändungen mehr möglich sein sol-len. Darüber werden wir ebenfalls reden müssen. Ichwill damit nicht sagen, dass ich das nicht als richtig er-achte. Aber dazu fehlt mir im Gesetzentwurf eine ver-nünftige Begründung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zumSchluss. Sie sehen, dass wir ein sehr interessantes Ge-setzgebungsverfahren vor uns haben, dem jedenfalls ichgespannt entgegensehe.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/7615 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler,
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang ThierseMartin Zeil, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPKonsequenzen aus dem EntschädigungsfallPhoenix Kapitaldienst GmbH– Drucksachen 16/5786, 16/7645 –Berichterstattung:Abgeordnete Leo DautzenbergFrank SchäfflerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Hans-Ulrich Krüger, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn nichts mehr geht, wird es der Staatschon richten und den Zahlmeister spielen. Dieser Ein-druck drängt sich einem förmlich auf, wenn man sich dieGeschichte des skandalösen Betrugsfalls der PhoenixKapitaldienst GmbH einmal anschaut. Auf der einenSeite möchten Wertpapierhandelsunternehmen im gro-ßen Geschäft mitspielen und hohe Gewinne einfahren,auf der anderen Seite wollen sie Verluste sozialisieren,die aufgrund strafbarer Handlungen eines Anlegerdiens-tes begangen wurden. Dies ist nicht in Ordnung.Hintergrund der ganzen Tragödie ist die Tatsache,dass Anleger, die eine möglichst schnelle und höchst-mögliche Rendite erwarteten, bekanntlich bei derPhoenix Kapitaldienst GmbH in die falschen Hände ge-raten sind. 30 000 Menschen sind wegen dieser krimi-nellen Machenschaften um ihr Geld geprellt worden underwarten nun, zumindest einen Großteil ihres Geldes zu-rückzuerhalten. Keine Frage, sie müssen entschädigtwerden. Nur, den Bund und damit den Steuerzahler inHaftung zu nehmen, ist nicht nur falsch, sondern dasgeht auch an der Sachproblematik vorbei.
Die Sachproblematik besteht nämlich in folgendenFragen: Erstens. Was können wir tun, damit ein solcherWorst Case, wie wir ihn bei Phoenix erlebt haben, nichtwieder eintritt? Zweitens. Wie kann ein Sicherungssys-tem entwickelt werden, das funktioniert? Drittens. Wiekönnen letztendlich die Anleger durch die EdW entschä-digt werden? Wie wir alle wissen, belaufen sich diemöglichen Entschädigungszahlungen bzw. Forderungenauf circa 180 Millionen Euro, während die EdW aus denBeiträgen ihrer Mitglieder die vergleichsweise lächerli-che Summe von 5 bis 10 Millionen Euro zur Verfügunghat.Die FDP sieht einen Ausweg aus diesem Dilemma ineiner einheitlichen Sicherungseinrichtung, die alle Spar-kassen, Banken, Genossenschaftsbanken und Wertpa-pierhandelsunternehmen erfasst. Ich lehne dies ab. Eswäre nicht sachgerecht, Wertpapierunternehmen zu ge-statten, auf der einen Seite Geschäfte mit Maximalrendi-ten zu machen und sich auf der anderen Seite in das ge-machte Nest der Einlagensicherungssysteme der Bankenzu setzen.
Zudem würde bei einem einheitlichen Sicherungssys-tem ein bürokratischer Apparat entstehen, der die Risi-kokontrolle, das Management und den Informationsaus-tausch viel zu komplex und undurchsichtig machenwürde. Aber ein Sicherungssystem, das sich nur auf dieFunktion einer Paybox im Sinne eines zahlungsbereitenDritten, der immer bereitsteht, konzentriert, ist schon ausvolkswirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll.Des Weiteren würde die Chance, künftige Krisenla-gen frühzeitig zu erkennen, aufgrund der Unübersicht-lichkeit eines solchen Systems sinken. Der dabei entste-hende Vertrauensverlust wäre in der Tat nachhaltig undbeträchtlich.Als wichtigstes und vorrangiges Ziel zur Vermeidungkünftiger Schadensfälle bei der EdW sind daher präven-tive Maßnahmen notwendig. Zu denken ist an eine Ver-trauensschadenversicherung bzw. eine effiziente Risiko-kontrolle. Auch müssten Sicherungseinrichtungen wiedie EdW Sanktionskompetenzen erhalten, wenn einzelneInstitute Risiken erkennen lassen bzw. ihrer Pflicht zurZahlung der Beiträge nicht oder nur vermindert nach-kommen.Ein weiteres wichtiges Kriterium ist eine Neubeurtei-lung der Beitragsstruktur im Bereich der EdW. Die ein-zelnen Wertpapier- und Vermögensverwaltungen müssenverstärkt nach ihrer Größe und ihrem RisikoverhaltenBeiträge entrichten. Beiträge in Höhe von 300 Euro mi-nimal sollten und müssen der Vergangenheit angehören.
Es bleibt festzuhalten, dass es notwendig ist, ähnlichgute Standards für eine Risikosteuerung und Risikokon-trolle einzuführen, wie dies bei Banken und Sparkassenbereits der Fall ist.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch aufein Argument der Mitgliedsunternehmen der EdW ein-gehen, die der Ansicht sind, die aktuelle mitgliedschaft-liche Zusammensetzung sei verfassungswidrig und nurdurch eine Zusammenlegung mit den Entschädigungs-einrichtungen der Banken und Sparkassen könne mandiese Verfassungswidrigkeit beseitigen.
Ich meine, eine solche Zusammenlegung wäre erst rechtverfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt.
Denn eines ist klar: Die Risiken, die bei der Einlagen-sicherung und beim Institutsschutz einerseits sowie beider Anlegerentschädigung andererseits abgesichert wer-den, sind völlig unterschiedlich.
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Dr. Hans-Ulrich Krüger– Danke. – Bei den Wertpapierhandelsunternehmen wer-den Schadensfälle durch Kriminalitätsrisiken, wie wirsie bei Phoenix erlebt haben, ausgelöst. Bei der Einla-gen- und Institutssicherung geht es um realisierte Kredit-risiken, die ein Institut bedrohen können.
– Das kommt noch hinzu. – Insofern geht das Argumentder EdW-Mitglieder fehl.Fakt ist: Nur durch eine funktionierende Präventionkönnen Insolvenzen durch Betrügereien zwar nicht im-mer vermieden, aber hinsichtlich der Schadenssummenachhaltig beschränkt werden. Den Staat als Zahlmeisteraußerhalb des gültigen Sicherungssystems in die Pflichtzu nehmen und ihm den Schwarzen Peter aufzubrum-men, ist zwar bequem, aber der falsche Weg.Lassen Sie mich zum Schluss auf die Situation der30 000 geprellten Anleger zu sprechen kommen, dieheute noch auf ihr Geld warten und, wie es aussieht, lei-der noch weiter warten müssen. Es hat in der Vergangen-heit konstruktive Überlegungen gegeben. Ich erinnerenur an den Vorschlag, die erforderlichen Geldleistungendurch einen Kredit der KfW abzusichern bzw. zu be-schaffen. Dieser Vorschlag hätte meines Erachtens aller-dings auch von der Bereitschaft der EdW-Mitglieder ge-tragen werden müssen, sich freiwillig ihrer finanziellenVerantwortung zu stellen.
Dies alles ist bis heute nicht geschehen. Es liegt auchnoch kein rechtskräftiger Insolvenzplan vor. Der Gläubi-gerausschuss hat ihn zwar am 18. April 2007 angenom-men, aber Anleger haben dagegen Beschwerde einge-legt. Das führte letztendlich dazu, dass die EdW Endedes vergangenen Jahres Sonderbeiträge erhoben hat, ge-gen die jetzt wiederum Wertpapierhandelsunternehmenklagen. Ob diese Unternehmen mit ihrer Entscheidungzu einer Staatshaftungsklage gut beraten waren, möchteich nicht beurteilen. Das werden die Gerichte entschei-den. In einer Zeit – wie in der Welt vom 15. Januar diesesJahres zu lesen ist –, in der alle Seiten ganze Legionenvon Anwälten beschäftigen, um sich gegenseitig mitKlagen zu überziehen, ist die Politik meines Erachtensgut beraten, der Judikative den Vortritt zu lassen.Natürlich hat dies leider zur Folge, dass Entschädi-gungszahlungen nicht prompt und schnell erfolgen, son-dern noch weiter auf sich warten lassen werden. Aberdessen ungeachtet wird der Bund alle Handlungsmög-lichkeiten zu prüfen – ich denke, da sind wir uns einig –und das Gutachten, das demnächst vorliegt, zu analysie-ren und zu bewerten haben. Auf dieser Grundlage solltenwir hier bzw. im Finanzausschuss des Deutschen Bun-destages zukunftsorientiert über ein qualifiziertes Siche-rungssystem für Wertpapierhandelsunternehmen nach-denken, sicherlich mit mehr Fakten versehen, als esheute der Fall ist.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Seit wir Anfang letzten Jahres erstmalig im Finanz-ausschuss über den Fall Phoenix gesprochen haben undwir unseren Antrag hier vor einem halben Jahr zum ers-ten Mal debattiert haben, haben Sie seitens der Bundes-regierung keinerlei Fortschritte im Fall Phoenix erzielt.Dabei ist der größte Anlegerbetrugsskandal in Deutsch-land im Kern eine Bilanz des Versagens staatlicher Insti-tutionen. Erst wurde ein schlechtes Gesetz gemacht,dann hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-sicht ihren eigenen Bescheid auf Trennung der Sammel-konten bei Phoenix fünf Jahre lang nicht durchgesetzt,und jetzt sind Sie nicht einmal bereit, daraus Konsequen-zen zu ziehen. Dabei haben die BaFin und das Bundesfi-nanzministerium unmittelbar Mitschuld. Nur durch dasAufsichtsversagen der BaFin konnte das Schneeballsys-tem so lange – bis zum Insolvenzfall von Phoenix –unentdeckt bleiben. Jetzt ziehen Sie nicht einmal Konse-quenzen, sondern Sie drücken den überwiegend mittel-ständischen Finanzdienstleistungsunternehmen eine Lastvon fast 200 Millionen Euro auf.Sie haben in diesem Parlament zwei Jahre Zeit ge-habt, sich um dieses Problem zu kümmern. Sie haben esaber immer wieder verschoben. Sie haben ein Gutachtenin Auftrag gegeben, auf das wir jetzt schon mehrere Mo-nate warten und das immer noch nicht fertig ist. Gleich-zeitig haben Sie versprochen, eine Bürgschaft der KfWbereitzustellen.
Auch dazu ist es nicht gekommen, weil sie im zuständi-gen Haushaltsausschuss wegen der schlampigen Vorbe-reitung des Bundesfinanzministeriums nicht bewilligtwurde.Fakt ist: Deutschland hat auf der einen Seite die Anle-gerentschädigungsrichtlinie der EU europarechtswidrigumgesetzt. Die Entschädigungseinrichtung für Wertpa-pierhandelsunternehmen ist keine tragfähige Einrich-tung. Gleichzeitig sind die rechtschaffenen mittelständi-schen Finanzdienstleister in einen Topf mit dem grauenKapitalmarkt gesteckt worden. Nun sollen diese Unter-nehmen die Zeche bezahlen. Das ist mit uns von derFDP nicht zu machen.Auf der anderen Seite funktioniert das bestehendeSystem nicht. Der Entschädigungsfall wurde 2005 fest-gestellt, und die Anleger haben noch nichts von ihremGeld gesehen. Stattdessen hat eine Diskussion über dieBesteuerung von Scheingewinnen begonnen. So machenSie Politik. Sie wollen, dass sogar Steuern auf etwas ge-zahlt werden sollen, was in Wirklichkeit nie existiert hat.
Auch das ist mit uns nicht zu machen.
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Frank Schäffler
Die Bundesregierung hat auf Anfrage der FDP ange-kündigt, dass sie in diesem Jahr 6 000 Anleger entschä-digen will. Tatsächlich sind die Beitragsbescheide derEdW um Weihnachten herum direkt vor den Gerichtengelandet. Es gibt eine Vielzahl juristischer Einwände, diedie EdW nur schwerlich wird entkräften können. Dasaber bedeutet, dass die Anleger noch länger auf ihr Geldwarten müssen.Wir haben in Deutschland keine funktionierende An-legerentschädigung. Das wissen Sie. Deshalb schiebenSie das Problem hinaus. Weder bekommen die Anlegerfristgerecht ihre Entschädigung, noch gibt es eine Ent-schädigungseinrichtung, die zügig Rechtssicherheit fürdie Finanzdienstleister schafft und sie mit ihren Beiträ-gen nicht überfordert. Deshalb beantragen wir, diebestehenden Anlegerentschädigungssysteme zusammen-zulegen und nicht die Einlagensicherungssysteme zu-sammenzulegen. Das sind zwei Paar Stiefel. Es gibt zweiRichtlinien, die unterschiedliche Themen behandeln.Hier geht es um den Wertpapierhandel. Es geht um Un-ternehmen, die mit Wertpapieren handeln. Es geht nichtum Einlagen oder ähnliche Dinge. Erst wenn wir dieSysteme zusammenlegen, setzen wir auch die Anleger-entschädigungsrichtlinie korrekt um.Wir werden Sie nicht aus Ihrer Verantwortung entlas-sen. Sie beaufsichtigen durch das Bundesfinanzministe-rium die staatliche Finanzaufsicht. Gerade das Versagender BaFin hat den Fall Phoenix erst ermöglicht. Sie ha-ben aber mit Ihrer Parlamentsmehrheit eine Verantwor-tung dafür, dass die deutschen Gesetze, in diesem Falldas EAEG, den europäischen Vorgaben entsprechen.
Dies ist derzeit nicht der Fall, da unser System erkennbarnicht funktioniert.
– Ja, so ist es.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Schäffler, Sie haben in einigen Bemerkun-gen durchaus recht gehabt; da werde ich Sie gleich un-terstützen.Sie haben allerdings auch von einem schlechten Ge-setz aus dem Jahre 1998 gesprochen. Sie wissen, dassSie als FDP damals natürlich wesentlich an diesem Ge-setz beteiligt waren.
Gerade weil dieses Gesetz viele Probleme aufgeworfenhat, geht es für uns als Union um das Thema: Sorgfaltvor Schnelligkeit. Deswegen ist Ihr Antrag heute meinesErachtens fehl am Platz.
Den Fall Phoenix diskutieren wir seit gut einem Jahrin den Sitzungen des Finanzausschusses,
obwohl Phoenix in der breiten Kapitallandschaft schonseit zehn Jahren Thema ist. Wer Zeitschriften aus denJahren 1995 und 1996 heranzieht – Kapitalzeitschriften,Testzeitschriften oder Kapitalinformationsdienste –, sieht,dass Phoenix schon viele Jahre ein Thema gewesen ist,
weil diese Gesellschaft schon früh den Ruf hatte, unso-lide zu arbeiten und die Menschen abzuzocken.
Deswegen ist natürlich die Frage zu stellen, was wirtun müssen, wenn wir eine neue Sicherungseinrichtungschaffen. Dazu müssen wir auch die Informationen ausder Vergangenheit haben.Die Gesellschaft Phoenix hat Termingeschäfte undOptionsgeschäfte gemacht. Das kann man ja noch ak-zeptieren, aber sie hat es auf besondere Weise gemacht:Sie hat betrogen. Sie hat die Anleger systematisch betro-gen. In ihren Prospekten stand sogar, dass man wahr-scheinlich das Kapital verlieren wird. Dennoch habenwir eine Sicherungseinrichtung geschaffen, die auch beiBetrug jedem Zocker das Geld zurückerstattet. Da mussman fragen: Ist das der richtige Weg?
So haben sich auch beim Fall 2005, als der Skandalaufgedeckt wurde, die Insolvenz von Phoenix bestätigtwurde, viele Anleger keine Sorgen gemacht. Es ging um30 000 Anleger, die im Durchschnitt 22 000 Euro ange-legt hatten. Die Entschädigungseinrichtung sagte: Egalwas passiert, bis 90 Prozent der Einlage oder höchstens20 000 Euro werden von uns finanziert. – Das gab natür-lich manchen die Sicherheit, ruhig zu zocken, auf dasVersprechen zweistelliger Renditen zu vertrauen in demWissen: Das Geld ist doch ohnehin gesichert.Insgesamt konnten von den Kapitalien 200 MillionenEuro gerettet werden. Dennoch fehlen 180 MillionenEuro, die noch finanziert werden müssen. Der KollegeKrüger hat darauf hingewiesen, dass sich die Beiträgeauf ungefähr 5 Millionen Euro belaufen. Das heißt, wirhaben einen Schaden von 180 Millionen Euro, aber nurBeiträge von 5 Millionen Euro. Zumindest das 36-Fachemüsste jetzt finanziert werden.
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Klaus-Peter FlosbachNun gibt es Unternehmen, die Einzelkämpfer sind.Die zahlen 300 Euro. Sie müssen jetzt das 6,6-Fache be-zahlen. Aber es gibt auch Unternehmen, die 2,2 Prozentvom Umsatz bezahlen müssen. Das mal 6,6! Sie müssenalso 15 Prozent vom Umsatz als Beitrag bezahlen.
Es geht um den Umsatz, nicht um den Gewinn. Vielekönnen das unmöglich finanzieren.
Das Interessante ist eigentlich, dass in den letzten achtJahren schon 16 Fälle aufgetreten sind, die zu Schädenin Höhe von 14 Millionen Euro geführt haben. Deswe-gen ist für mich immer noch fraglich: Wie konnte so et-was passieren? Hat die Kontrolle nicht funktioniert?
Die Situation ist jetzt wie folgt: Es muss gezahlt wer-den. Herangezogen werden die 733 Mitglieder, die derEdW, der Entschädigungseinrichtung der Wertpapier-handelsunternehmen, angeschlossen sind. Das betrifft27 große Kapitalanlagegesellschaften und Tochtergesell-schaften von großen Banken, aber zu 90 Prozent kleineFinanzdienstleistungsinstitute.
Das Besondere an diesen Finanzdienstleistungsinsti-tuten – das sind zumeist Vermögensverwalter – ist, dasssie niemals die Möglichkeit hätten, Geld zu veruntreuen,weil sie gar nicht an das Konto herankommen.
Sie haben nur ein Dispositionsrecht. Das heißt, sie kön-nen nur entscheiden, welche Papiere gekauft oder ver-kauft werden, und die Depotbank kann als einzige aufdas Konto zugreifen. Diese werden jetzt mit herangezo-gen, obwohl sie niemals einen Schaden verursachenkönnen. Für unsere Fraktion kann ich nur sagen: EineStrafsteuer für diese Gruppe, möglicherweise in Höhevon 15 Prozent des Umsatzes, ist für uns absolut nichthinnehmbar.
Die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen, dassman bezüglich aller 733 Bescheide, die drei Tage vorWeihnachten mit den besten Weihnachtswünschen he-rausgeschickt wurden, mit Widersprüchen rechnen kann.Wir wissen, dass viele der größeren Einrichtungen ab-wandern wollen und bereits Gesellschaften im Auslandgegründet haben. Möglicherweise bleiben nur die klei-nen hier. Dadurch entstünde ein Schaden, der nicht ein-treten darf, den die Politik verhindern muss.Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut Gesetz müssenjetzt die Sonderbeiträge erhoben werden, aber es sindmeines Erachtens bis jetzt noch sehr viele Fragen nichtgeklärt. Deswegen sage ich auch in Richtung FDP: Wirkönnen hier nicht weiterdiskutieren, bevor wir nicht dasGutachten des Bundesministeriums der Finanzen haben.
Wir werden natürlich dann, wenn das Gutachten da ist,auch die Frage stellen: Welche Rolle hat das Bundesauf-sichtsamt für den Wertpapierhandel, die heutige BaFin,in den entsprechenden Jahren gespielt. Wir wissen, derBetrug war nur möglich, weil alle Anleger auf ein Sam-melkonto eingezahlt haben und Phoenix dadurch, dass esfrei über dieses Sammelkonto verfügen konnte, imGrunde den Anlagebetrug durchführen konnte.Bei einer ersten Prüfung 1999 ist bereits durch dasBundesaufsichtsamt festgestellt worden, dass diesesSammelkontoverfahren nicht legal sei. Man hat sogargegen Phoenix geklagt. Erst im Jahre 2003 hat das Bun-desverwaltungsgericht endgültig entschieden, dass esnicht notwendig war, ein solches Sammelkonto einzu-richten. Es ist aber nie ein Bescheid erlassen worden. Esist nie wieder überprüft worden, ob dieses Sammelkon-toverfahren überhaupt noch rechtens war.
Selbst Wirtschaftsprüfungsunternehmen, die das ge-prüft haben, haben hier keinen Fehler festgestellt, da dieKommunikation zwischen Aufsicht und Wirtschaftsprü-fern nicht funktioniert hat.
Deshalb stellen wir auch die Frage, welche Pflichten De-potbank, Geschäftsführer oder auch der Insolvenzver-walter in den letzten Jahren verletzt haben.Der Stand heute jedenfalls ist: Die Gläubiger klagengegen den Insolvenzplan, sodass selbst die200 Millionen Euro nicht ausgezahlt werden können.Wir rechnen hier mit weiteren Verfahren vor dem Bun-desgerichtshof. Die Finanzinstitute klagen, dass dasEdW-System, also das Entschädigungssystem, verfas-sungswidrig sei. Hinzu kommt inzwischen eine Staats-haftungsklage wegen mangelnder Aufsicht und schlech-ter Umsetzung der EU-Richtlinie.Es sind noch viele Fragen offen. Ich weiß auf jedenFall, dass dieses Gesetz von 1998 den Anforderungennicht gerecht wird.Nach Vorlage des Gutachtens werden wir also prüfenmüssen, ob nicht zunächst das vorhandene Guthabenausgeschüttet werden kann. An die Adresse der FDPkann ich sagen: Eine Aufnahme des Anspruchsüber-gangs bei Haftung Dritter in das Gesetz halten auch wirfür den richtigen Weg.
Wir werden aber auch darüber sprechen müssen, wieder Verbraucherschutz ausgestaltet werden soll. Hierstellt sich die Frage: Wo beginnt die Eigenverantwortungdes Anlegers? Muss jede Zockerei durch den Staat abge-
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Klaus-Peter Flosbachsichert werden? – Meines Erachtens ist das nicht derFall.
Wir werden auch fragen müssen, welche Kontrollauf-gaben die Aufsicht wahrnehmen kann, also was sie kannund, vor allen Dingen, was sie nicht kann.Meines Erachtens ist es weiterhin wichtig, dass wirbei einer Novellierung die Vermögensverwalter aus demEntschädigungssystem herausnehmen. Für sie würde al-lemal eine vernünftige Vermögensschadenhaftpflichtbzw. Vertrauensschadenhaftpflicht genügen, um alle Si-cherungsansprüche zu erfüllen.
Auf jeden Fall muss dieses Gesetz novelliert werden.In Richtung FDP sage ich noch einmal: Wir sollten aberaufpassen, dass wir nicht etwas kaputtmachen, was funk-tioniert.
Die Einlagen- und Institutssicherungssysteme der Ban-ken, Sparkassen und Volksbanken funktionieren meinesErachtens bisher bestens. Wir sollten also genauestensprüfen, ob wir wirklich ein einheitliches System inDeutschland benötigen oder ob wir damit nicht, wie derKollege Krüger sagte, unnötige Bürokratie aufbauen, dieSie von der FDP ja normalerweise nicht befürworten.
Zusammenfassend sage ich nur: Es geht in dieserFrage nicht um weniges. Es geht hier um die Zukunft desFinanzplatzes Deutschland. Es geht hier um die großeGruppe der privaten Vermögensverwalter, die in unse-rem Finanzmarkt eine hohe Bedeutung haben. Deswe-gen sage ich: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir können Ih-ren Antrag nicht unterstützen.
Das Wort hat nun Kollege Axel Troost, Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen derFDP, Sie rufen nach dem Staat. Das lässt natürlich auf-horchen; denn gewöhnlich tun Sie in Fragen der Wirt-schafts- und Sozialpolitik das Gegenteil. Staatsinterven-tionen sind für Sie sonst ohne Wenn und Aber eher einrotes Tuch. Daher stellt sich für uns die Frage: Ist derRuf nach dem Staat im Fall Phoenix eigentlich gerecht-fertigt? Ich fürchte, dass davon auszugehen ist, dass indiesem Fall der Ruf nach dem Staat – zumindest wasIhre Intention angeht – eher fragwürdig ist.
Erstens. Ist der Staat schuld, dass der Phoenix-Eignermit unlauterem Geschäftsgebaren Geld verzockt hat?Nein!Zweitens. Hat der Staat Schuld, dass die AnlegerGeld verloren haben? Ich meine, nein. Trotzdem rufenSie nach dem Staat.Daher drängt sich unmittelbar die Frage auf: Für weneigentlich? Wem sollen diese Maßnahmen helfen? Denvielen Tausend Kleinanlegern – die meisten davon übri-gens aus Ostdeutschland –, die mit gutem Glauben Ihresegensreichen Loblieder auf die hervorragenden Chan-cen des freien Kapitalmarktes für bare Münze genom-men haben und ihr Erspartes Betrügern gegeben haben?Denen hätte man helfen können, wenn man sehr kurz-fristig Liquiditätskredite zur Verfügung gestellt hätte,damit sie entsprechend hätten entschädigt werden kön-nen.Ich glaube, der Antrag der FDP richtet sich vor allemauf die Klientel Vermögensverwalter und Finanzdienst-leister. Die wollen keinen Kredit, mit dem schnell Scha-densersatz geleistet werden kann. Sie wollen überhauptnicht einstehen und verzögern deswegen, wo sie können.Das werden wir nicht unterstützen.Trotzdem ist nicht alles, was Sie fordern, in Bauschund Bogen abzulehnen. Das Problem muss aus unsererSicht allerdings umfassender angegangen werden, als esin Ihrem Antrag durchscheint. Phoenix könnte ein be-dauerlicher Einzelfall sein, würden wir nicht regelmäßigdie Erfahrung machen, dass aufsichtsrechtliche und voll-zugspraktische Schwierigkeiten – bisweilen sehendenAuges – in Kauf genommen und ignoriert werden, umden interessierten Lobbygruppen schnellstmöglich Voll-zug melden zu können.Wir müssen – daran kann aus unserer Sicht keinZweifel bestehen – die Aufsicht über diesen Bereich desFinanzmarkts verbessern. Dazu muss die Aufsicht neuorganisiert werden und personell so ausgestattet sein,dass die Stellen ihren Verpflichtungen auch wirklichnachkommen können.
Wir müssen – da stimmen wir mit Ihnen überein –auch verschiedene Entschädigungsstellen besser organi-sieren und neu einrichten. Wir müssen insgesamt einAufsichtssystem schaffen, das ganz generell im Einklangmit den entsprechenden EU-Richtlinien, insbesonderemit der EU-Entschädigungsrichtlinie, steht. Das ist bis-lang – das hat der Fall Phoenix gezeigt – nicht gegeben.Hauptkonsequenz ist für uns aber: Unabhängig vonden Folgewirkungen wird die Linke auch in Zukunft kei-nerlei Kapitalmarktpolitik unterstützen, bei der es denAufsichtsbehörden – sei es durch eine unzureichendeGesetzeslage, sei es durch eine unzureichende Personal-und Sachmittelausstattung – unmöglich gemacht wird,ihre Aufgaben im Sinne des Verbraucherschutzes wirk-lich zu erfüllen.Danke schön.
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14696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Das Wort hat nun Christine Scheel, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ichdenke, es ist schon gut, dass wir heute wieder einmalüber das Thema diskutieren, welche Konsequenzen wiraus dem Fall Phoenix zu ziehen haben und welche Hand-lungsmöglichkeiten es für die Politik überhaupt gibt.Was geschehen ist, ist in erster Linie eine Katastrophefür die Anleger und Anlegerinnen. Das sage ich, obwohlauch ich ein Stück weit die Meinung von Herrn Flosbachvertrete: Nicht jeder, der zockt, und zwar extrem, mussdie Sicherheit haben, dass er sein Geld immer wieder zu-rückbekommt. Irgendwo gibt es auch Grenzen; das istvöllig klar.Wir haben es mittlerweile mit der Situation zu tun,dass Anwälte betrogener Anleger Schadensersatz vonder Bundesregierung fordern. Diese Anwälte weisen aufdas Kontrollversagen der Bundesfinanzaufsicht und aufFehler bei der Umsetzung der EG-Anlegerentschädi-gungsrichtlinie hin.Ich finde, die Regierung hat diePflicht, deutlich zu machen, ob diese Vorwürfe ein Stückweit berechtigt sind. Es ist auch ihre Aufgabe, Probleme,die man in diesem Zusammenhang bereits erkannt hat,sehr zügig zu lösen und für die Zukunft mehr Sicherheitfür Anlegerinnen und Anleger zu schaffen.
Wir Grünen wollen den Anlegerschutz insgesamt ver-bessern. Aus diesem Grund sind wir dafür, dass alle ak-tuellen Gesetzesvorlagen, die Gesetzesvorlagen, die inZukunft vorgelegt werden, sowie alle Anträge, die indiesem Zusammenhang gemacht werden, unter dem As-pekt abgeprüft werden, ob sie Sinn machen und im Inte-resse der Anlegerinnen und Anleger sind.Man muss sich klarmachen, dass über viele Jahre hin-weg – das kann fast kein Mensch verstehen – über30 000 Personen um ihr Erspartes betrogen worden sind.Ich habe gehört, dass auch IKEA und andere große Un-ternehmen zum Kreis der Geschädigten zählen. Da denktman, diese Unternehmen haben Finanzabteilungen, diesich ein paar Gedanken machen, aber auch die sind da-rauf reingefallen. Sie alle sind betrogen worden, streitenimmer noch vor Gericht und haben noch keinen EuroEntschädigung gesehen.Wenn man sich das bewusst macht, sieht man ein,dass wir präventive Möglichkeiten zum Schutz brau-chen, vor allem, was die Verbesserung der Aufsichtanbelangt. Wir müssen uns auch überlegen, ob die ge-genwärtige Regelung der Entschädigung der Wertpapier-handelsunternehmen vernünftig und zielführend ist.Im Fall Phoenix liegen die Entschädigungsansprüchebei circa 180 Millionen Euro – die Zahlen wurden schongenannt –, während die Einlagen nur circa 7 MillionenEuro betragen. Die Angaben schwanken: Die einen sa-gen, es sind zwischen 6 und 7 Millionen Euro, und dieanderen sagen, es sind zwischen 7 und 8 Millionen Euro.Irgendwo dazwischen wird die richtige Zahl liegen.Zu den zwei Forderungen, die die FDP in ihrem An-trag gestellt hat, möchte ich gerne etwas sagen:Erstens. Der automatische Übergang von Forderun-gen der Geschädigten gegen Dritte kann etwas zur finan-ziellen Stabilisierung einer reformierten Anlegerentschä-digungseinrichtung beitragen. Ich denke, das ist so. Dasmuss aber so geregelt sein, dass eine Abtretung kraft Ge-setzes für die Anlegerinnen und Anleger keinen Nachteilbedeuten kann. Das kann nämlich zum Nachteil gerei-chen, wenn das nicht ordentlich gestaltet ist. Deswegenbedarf eine Novellierung entsprechender Vorgaben. Wirmüssen uns in Richtung Insolvenzordnung Gedankenmachen. Das muss mit einer zügigen Entschädigungs-leistung verbunden und an dieser Stelle in Einklang ge-bracht werden. Das bedeutet, dass wir uns auf der einenSeite aktiv für die Rechte der Anlegerinnen und Anlegereinsetzen müssen. Auf der anderen Seite müssen wiraber auch die Leistungsfähigkeit der Finanzdienstleisterberücksichtigen.Ihre zweite Forderung ist die Zusammenlegung derbestehenden Sicherungssysteme. Mir geht es da wie denKollegen der Union und der SPD: Ich halte diese Zusam-menlegung für nicht zielführend. Wenn selbst der Zen-trale Kreditausschuss darauf hinweist, dass die EdWkein ausreichendes Prüf- und Sanktionierungsinstrumen-tarium an der Hand hat, zeigt das doch, dass im SystemProbleme bestehen,
die nicht dadurch gelöst werden, dass man das Ganzegrößer macht. Dann ist zwar mehr Geld vorhanden. Daseigentliche Problem, das in der Struktur liegt, wird abernicht gelöst. Deswegen müssen wir uns über die Strukturunterhalten und fragen, wie man Krisenfälle frühzeitigerkennen kann.
Wir sollten nicht noch anderes mit hineinnehmen, ob-wohl wir genau wissen – der Kollege Krüger hat zuRecht darauf hingewiesen –, dass das in den BereichenManagement, Risikokontrolle und beim Zusammenfüh-ren von Informationen in Krisenlagen dann noch eher zuProblemen führen kann, weil diese Strukturen eine hoheKomplexität haben und undurchsichtig sind. Ich glaube,das führt uns insgesamt nicht weiter.Interessant ist, dass in der Vergangenheit eigentlichimmer die Prüfungseinrichtungen der Sicherungsfondsdie Probleme aufgedeckt haben und nicht die Aufsicht,die oben drüber steht. Auch das ist ein interessantes Phä-nomen, das man sich genauer anschauen muss.Auf jeden Fall ist die Entschädigung bei Phoenix einBeispiel für unklare Zuständigkeiten. Deswegen brau-chen wir eine Reform. Wir müssen für die Zukunft auf-gestellt sein. Es geht um den Finanzplatz Deutschland,es geht um Sicherheit und um das Vertrauen der Anlege-rinnen und Anleger.Danke.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Ti-
tel „Konsequenzen aus dem Entschädigungsfall Phoenix
Kapitaldienst GmbH“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7645, den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5786 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU,
SPD und der Linken gegen die Stimmen der FDP bei
Enthaltung der Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Vierter Bericht über die Entwicklung der Pfle-
geversicherung
– Drucksache 16/7772 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Hilde
Mattheis, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieGesundheitsministerin hat hier schon in der letzten Wo-che zum Vierten Bericht über die Entwicklung der Pfle-geversicherung Stellung genommen. Ich möchte mich andieser Stelle dafür bedanken. Der Bericht enthält grund-legende Informationen für die geplante und auf den par-lamentarischen Weg gebrachte Reform der Pflegeversi-cherung; dies hat sich nicht zuletzt in der elfstündigenAnhörung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz ge-zeigt.Prinzipiell bestätigt der Bericht, dass die Pflegeversi-cherung ein wichtiger Baustein im System der sozialenSicherheit ist. Er listet auf, bei welchen gesetzgeberi-schen Maßnahmen Aussagen des Dritten Berichtes von2004 aufgegriffen und umgesetzt worden sind. Im Be-richt wird anhand statistischer Erhebungen verdeutlicht:Bei allen positiven Aspekten dieses Versicherungszwei-ges brauchen wir Leistungsverbesserungen, eine Reformder Strukturen und die Stabilisierung der Finanzen.Die Solidarität mit Pflegebedürftigen und der Wunschnach Erhalt der Würde in dieser Lebensphase warenwichtige Beweggründe für den Aufbau der Pflegeversi-cherung. Die Versicherung sollte von Sozialhilfe unab-hängig machen. Das ist gelungen, denn von 1994 bis2000 sind die gesamten Bruttoausgaben der Träger derSozialhilfe für die Hilfe zur Pflege von 9,1 MilliardenEuro auf 2,9 Milliarden Euro zurückgegangen. Die Pfle-geversicherung hat also zu einer deutlichen Entlastungder Träger der Sozialhilfe beigetragen und hat dafür ge-sorgt, dass Pflegebedürftige nicht mehr Bittsteller sind.
Allerdings ist in den letzten Jahren des Berichtszeit-raums ein leichter Anstieg der Sozialhilfebedürftigkeitzu verzeichnen. Ebenfalls ist die Zahl derjenigen ange-stiegen, die ambulant oder stationär gepflegt werden,und zwar um 2,2 Prozent bzw. 7,3 Prozent. Vor demHintergrund dieser Entwicklung und unter Berücksichti-gung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ ist erst-mals seit 1995 eine deutliche Leistungsverbesserung ge-plant. Der Ausbau der Infrastruktur soll beschleunigtwerden.
Die Leistungsansprüche in den Pflegestufen der am-bulanten Pflege und in Pflegestufe III der stationärenPflege sowie für Härtefälle werden erhöht. Außerdemwerden Menschen mit eingeschränkter Alltagskompe-tenz einen Anspruch auf Betreuung in Höhe von bis zu200 Euro erhalten.
Diese Pauschale wird zusätzlich zu den Leistungen fürdie ambulante Pflege gezahlt. Sie wird benötigt, da dasPflegegeld einen Anteil von 23,5 Prozent an den Leis-tungsausgaben in der ambulanten Pflege ausmacht unddamit vor den Ausgaben für die Pflegesachleistungenliegt, die mit 14,1 Prozent zu Buche schlagen. So kanndas Ziel einer deutlichen Entlastung der pflegenden An-gehörigen erreicht werden.
Die Anzahl der Pflegeeinrichtungen ist gestiegen.11 000 ambulante Pflegedienste betreuen 472 000 Pflege-bedürftige, und 9 400 Pflegeheime bieten 676 000 Men-schen Heimat. Grundsätzlich ist zwar zu bemerken, dassdie Länder für den Aufbau der Pflegeinfrastruktur zu-ständig sind, aber natürlich ist der Grundsatz „ambulantvor stationär“ im SGB XI verankert und daher zu unter-stützen.Laut Bericht sind 40,3 Prozent der Menschen, die sichfür eine stationäre Pflege entscheiden, in Pflegestufe I,40,2 Prozent sind in Pflegestufe II und 19,6 Prozent inPflegestufe III. Diese Zahlen verdeutlichen, dass derAusbau der Pflegeinfrastruktur vielen Menschen ermög-lichen würde, weiter in ihrer Wohnung zu bleiben, diezum jetzigen Zeitpunkt oftmals deshalb in eine statio-näre Einrichtung gehen, weil sie die Alternativen nichtkennen.
Um eine bessere Beratung, Vernetzung und Koordi-nierung zu erreichen, sollen gerade für Menschen, dienoch nicht eingestuft sind, als erste Anlaufstelle Pflege-stützpunkte eingerichtet werden,
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Hilde Mattheisdie genau an der Schwäche dieses Systems ansetzen undbei der Beantwortung einfacher W-Fragen helfen: Womuss ich hingehen, wenn ich die Wohnung an die neueSituation anpassen muss? Wie beantrage ich eine Pflege-stufe? Welche Hilfsdienste gibt es? Wer ist für welcheUnterstützung zuständig? – Das alles sind Fragen, fürderen Beantwortung die Menschen heute oft von Pontiuszu Pilatus laufen und vor denen sie eventuell kapitulie-ren.Wer am Montag und am Mittwoch bei den Anhörun-gen zugehört hat, hat die breite Unterstützung für diesesVorhaben von Betroffenenverbänden und dem Verbrau-cherschutz gehört.
– Ich war dort. Die Zeitung schreibt nicht unbedingt das,was das Protokoll offenbaren wird. Gemach, liebe Kolle-gen!
Ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie das im Protokollnachlesen, Ihr Urteil revidieren werden.
Wenn Sie, Herr Zylajew, auf die Internetseite desLandkreises Siegen-Wittgenstein – der Landrat gehörtder Union an – gehen, dann werden Sie feststellen, dassauch Kommunen mit einer schwarzen Regierung durch-aus erkennen – auch der Kämmerer erkennt das –
– ja –, dass Pflegestützpunkte im Prinzip dazu beitragen,nicht nur den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu ver-wirklichen, sondern ein Stück weit auch die Haushaltezu schonen.
Mit der Zahl der Pflegebedürftigen ist auch die Zahlder in der Pflege Beschäftigten gestiegen. Im Berichtwird offenbar, dass wir in diesem Bereich sehr viel tunkönnen und wollen, nicht zuletzt – Entschuldigung, dieKollegen werden sich jetzt vielleicht wieder etwasechauffieren – durch einen Mindestlohn für in der PflegeBeschäftigte.
Auch das ist ein Punkt, den wir weiter im Blick haben.Es geht nicht zuletzt um die Finanzen. Auch da be-ziehe ich mich auf die Anhörung. Nicht alle Sachver-ständigen sind neutral; das wissen wir ja. Das betrifft vorallen Dingen einen von der FDP benannten, der heute inder Zeitung verkündet, dass die Beitragssätze vielleichtauf bis zu 7 Prozent steigen. Dazu muss ich sagen: DieseAuftragsarbeiten von Versicherungsunternehmen undBanken tragen nicht unbedingt zur Seriosität bei.
Wir haben uns geeinigt, dass durch eine Erhöhung desBeitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte die Pflegeversi-cherung bis 2014, 2015 eine gesicherte Finanzierung hat.Auch das wurde von Sachverständigen bestätigt.Es ist kein Geheimnis und wird Sie nicht erstaunen,dass unsere Idee einer Bürgerversicherung nach wie vorein Ziel für uns ist.
Genauso haben wir den Ausgleich der privaten Versiche-rung an die soziale Pflegeversicherung weiter im Blick.Dazu muss ich sagen, dass uns nicht zuletzt der Sachver-ständige, der von der CDU/CSU benannt worden ist, un-missverständlich gesagt hat, dass das durchaus möglichist und er sich nicht sicher ist, ob dieses Vorhaben ver-fassungswidrig ist.
In vielen Punkten des Vierten Berichts über die Entwick-lung der Pflegeversicherung sehen wir Diskussionsbe-darf; das ist klar.Mein Fazit an dieser Stelle lautet: Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz leiten wir richtige und wich-tige politische Schritte aus diesem Bericht ab. Wir habenwichtige Punkte wie die Bürgerversicherung, denFinanzausgleich, die bezahlte Freistellung und die Über-arbeitung des Pflegebegriffs im Blick und wissen, dasses dabei immer um die Lebensqualität der Menschengeht, die es zu verbessern gilt.Danke für das Zuhören.
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Natürlich beginnt jede Politik mit dem Erkennen derRealität, Frau Kollegin Mattheis. Ich glaube, Sie hättenin der Anhörung besser wach bleiben und zuhören sol-len.
Im Hinblick auf die im vorliegenden Bericht erwähnteFrage der Pflegestützpunkte will ich nur den Sachver-ständigen Professor Thüsing erwähnen, der sinngemäßgesagt hat: Was gewünscht wird, geht nicht, und was ge-hen würde, hilft nicht.
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Heinz Lanfermann
Die Leistungsgewährung aus einer Hand, durch diedie von Ministerin Schmidt eindrucksvoll beschriebenenMassenwanderungen von Pontius zu Pilatus beendetwerden sollten, kann es aus den verschiedensten prakti-schen und rechtlichen Gründen gar nicht geben. So kannder bei den Pflegekassen angestellte Berater zwar fürden Pflegebedürftigen einen individuellen Versorgungs-plan aufstellen, der auch die Sozialleistungen enthält, dieihm sinnvoll erscheinen. Die Sozialhilfeträger habenaber in der Anhörung deutlich gemacht, dass die Pflege-berater nicht für sie verbindlich Leistungen bewilligenkönnen; Frau Kollegin Mattheis, das haben doch wohlauch Sie gehört. Die Kompetenz der Pflegeberater bleibtvielmehr auf die Leistungen der Pflegeversicherung be-schränkt.
Auch bei der Bewilligung von Leistungen der Pflege-versicherung und insbesondere der Krankenversicherunggibt es einfache, aber wirkungsvolle Hürden. Stellen Siesich folgenden einfachen Fall vor: Ein Pflegebedürftigerwird in einem Pflegestützpunkt von einem Berater derKrankenkasse und damit wohl auch der Pflegekasse Aberaten, ist selbst aber bei der Krankenkasse B versi-chert. Mit der Beratung und vor allen Dingen mit derLeistungsbewilligung könnte die Kasse A Einfluss aufdie Ausgaben der Kasse B nehmen. Das wollen die abernicht, und das werden sie auch nicht akzeptieren. Es istgar nicht möglich, zu garantieren, dass die Bearbeitungdurch einen Mitarbeiter der jeweils zuständigen Kasseerfolgt.Schon an diesem einfachen Beispiel wird deutlich,was das wahre Ziel dieser Aktion ist. Funktionieren kannder Schmidt’sche Vorschlag der Pflegestützpunkte amEnde nämlich nur im Rahmen der von ihr angestrebtenEinheitskasse.
Ich sage Ihnen: Es werden sogar Schwierigkeiten provo-ziert, damit man später sagen kann: Seht mal, es würdeja gehen. Wir könnten diese Probleme überwinden,wenn wir nur eine Einheitskasse hätten.Mit dem Aufbau von bis zu 4 100 Stützpunkten imgesamten Bundesgebiet, dessen Kosten in dreistelligerMillionenhöhe den Großteil der durch die Beitrags-satzerhöhungen erzielten Mehreinnahmen verschlingenwerden, werden vielerorts Doppelstrukturen geschaffen.Das haben uns diejenigen berichtet, die landauf, landabviele Beratungen durchführen. Dass Sie die Pflegestütz-punkte im vorliegenden Bericht unter „Maßnahmen zurEntbürokratisierung“ aufführen, ist eine reine Realsatire.
Meine Damen und Herren, wenn ein Stützpunkt er-richtet wird – auch das haben uns die Sachverständigenbestätigt –, werden viele vor Ort bereits existierende Be-ratungs- und Koordinierungsangebote die Segel strei-chen müssen. Damit wird der Pflegeberater zu einemBeratungsmonopolisten, der mit der Entscheidung, beiwelchem Anbieter der Versorgungsplan umgesetzt wird,natürlich auch Einfluss auf die Marktchancen der vor Ortvorhandenen Leistungsanbieter nehmen kann. Über diePflegekassen gelingt so der Einstieg in die planwirt-schaftliche Staatspflege.Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf, der wirklich be-merkenswert ist, ansieht, ist all dies ziemlich durch-schaubar. Mit keinem Wort wird die Ausgangslage, wel-che Beratungsangebote es eigentlich gibt, dargestellt. Eswird eine Problemlösung angeboten, ohne dass das Pro-blem auch nur im Geringsten beschrieben wird. Es wer-den keinerlei Zuschreibungen von Kompetenzen aufge-führt. Die Frage, wer in welchem Fall über wessenGelder verfügen soll, bleibt weitestgehend offen.
Welche Größe diese Stützpunkte haben sollen, welcheKosten dort entstehen, wer das – abgesehen von der An-schubfinanzierung, die nicht viel bringt – bezahlen soll,all das bleibt offen.Leistungen aus einer Hand wurden versprochen.Kaum ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurBetreuung der Arbeitslosen in den Argen ergangen, wirdzurückgerudert und erklärt, es solle lediglich beraten undkoordiniert werden. Wenn aber nur beraten und koordi-niert wird, kann man nichts entscheiden. Wenn derje-nige, der eigentlich entscheiden soll, nur unterschreibendarf, was ein anderer aufschreibt, ist seine Kompetenzausgehöhlt; auch das funktioniert nicht.Die Ministerin schwankt von einer Aussage zur ande-ren. Sie hat hier kürzlich sogar behauptet, nicht die ein-zelnen Pflegekassen würden die Berater bezahlen, diesewürden vielmehr aus einem Topf bezahlt, gewisserma-ßen aus einem, um dieses schöne Wort anzubringen,Pflegekassenberaterfonds oder Ähnlichem – auch so et-was werden Sie sich noch einfallen lassen!
Sie werden dann noch darüber streiten müssen, wer vonIhnen, meine Damen, zur Pflegestützpunktbeauftragtenernannt wird, am besten im Range einer Parlamentari-schen Staatssekretärin.
Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen mit diesem Ge-setzentwurf!Danke schön.
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14700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Nun hat Kollege Willi Zylajew, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich willmich an der Tagesordnung orientieren und zum ViertenBericht über die Entwicklung der PflegeversicherungStellung nehmen. Ich halte fest, dass dieser Bericht deut-lich macht: Die Blüm’sche Pflegeversicherung hat sichbewährt, sie ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte.
Was die Herren Blüm und Dreßler und kluge Liberale1994/95 auf den Weg gebracht haben, war gut, ist gutund – ich sage dies mit Blick auf die Reform – bleibt gut.
1995 haben die Menschen praktisch von einem Tag aufden anderen in Diensten und Einrichtungen eine verläss-liche, eine kalkulierbare, eine auskömmliche Leistungund Hilfe bekommen. Dies hat sich bewährt.Dies ist auch heute noch so; der Bericht belegt das.Durch diese Beständigkeit sind im gesamten Bundesge-biet neue Einrichtungen und Dienste entstanden. DiePflegeinfrastruktur, die wir in der BundesrepublikDeutschland haben, ist vorzüglich. Der Bericht machtdeutlich, wie gut sich die Angebote entwickelt haben:Von 2001 bis 2005 ist die Zahl der stationären Einrich-tungen um 15 Prozent gestiegen. In diesem Zeitraum istdie Zahl der Versorgten um 12 Prozent gewachsen, dieZahl der Beschäftigten um 14,9 Prozent. Ich will daraufhinweisen, dass dies viel über die Qualität der Pflegeaussagt.Nicht anders das Bild im ambulanten Bereich: Von2001 bis 2005 ist die Zahl der in Einrichtungen Betreu-ten um 8,5 Prozent gestiegen, die Zahl der Beschäftigtenum 13,1 Prozent. Entscheidend ist für uns, dass laut Be-richt die Zahl der examinierten Kräfte um 50,4 Prozentangestiegen ist.
Diese Zahlen machen die Qualität der Pflegeversiche-rung deutlich. Ich will eine weitere Zahl nennen:300 000 Mitarbeiter mehr als 1995 sind heute in derPflege beschäftigt. Das ist gut und richtig, und davonprofitieren die Menschen.
Frau Ausschussvorsitzende, trotz dieser guten Zahlenmüssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es Reformbedarfgibt. Dieser Reformbedarf ergibt sich schon daraus, dassder Anteil der älteren Generation an der Gesamtbevölke-rung steigt.
– Wir haben in der Tat seit einigen Jahren Reformbedarf,Kollege Bahr. Dazu werde ich nachher noch etwas sa-gen.Trotz der wirtschaftlichen Schwäche von 1999 bis2005 wurden die Menschen – dies müssen wir zurKenntnis nehmen – gut versorgt. Die Blüm’sche Pflege-versicherung hat trotz der pflegepolitischen Nullrundenin den Jahren der Regierung von Schröder, Lafontaine,Clement und Fischer eine beständige und verlässlicheVersorgung der Menschen ermöglicht. Die Qualität derPflege in Deutschland ist gut. Ich will daran erinnern,dass es vorher so war, dass es in finanzstarken Gebiets-körperschaften gute Leistungen gab, in finanzschwachenweniger gute oder überhaupt keine. Heute ist dies an-ders. Wir haben eine positive Gesamtentwicklung.Aus den über 150 Seiten des Berichts wird allerdingsdeutlich, dass die Bearbeitung der Anträge auf Einstu-fung in die Pflege sowohl bei den Versicherungen alsauch bei den medizinischen Diensten zu lange dauert.30,4 Prozent der Anträge werden in vier Wochen erle-digt. Für den Rest brauchen sie bis zu acht Wochen undlänger. Dies ist nicht hinnehmbar und aus unserer Sichtunmenschlich.
Im stationären Bereich werden 43,1 Prozent der An-träge erst nach acht Wochen und länger beschieden. Wirhalten das für unmöglich; denn hieraus resultiert im End-effekt doch die schlechte Versorgung, die die MDKs aufder anderen Seiten kritisieren.
Ich denke: Die Krankenkassen und die MDKs zahlen dieGehälter pünktlich aus, dann sollen sie bitte auch die Be-scheide pünktlich herausgeben und die Leistungenpünktlich zahlen.
Wir werden dies im Rahmen der Reform ganz eindeu-tig ändern und eine Zeit festschreiben. Die Menschensollen wissen, dass sie einen Anspruch auf einen Be-scheid in einer angemessenen Zeit haben. Damit leistenwir einen Beitrag zur Qualitätssteigerung.
Optimierungsbedarf gibt es eindeutig auch bei derReha. Es ist leicht, „Reha vor Pflege“ zu sagen, aberdann müssen die Krankenkassen und die MDKs dieReha-Maßnahmen auch anordnen und sich sofort nach
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14701
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Willi Zylajeweinem gesundheitlichen Einbruch für eine Behandlungpositionieren.
Auch hier werden wir einiges tun. „Reha vor Pflege“ istunser Ziel. Damit werden wir uns durchsetzen.Ich sage Ihnen ganz eindeutig, dass es natürlich auchÜberlegungen gibt, über die wir in der Koalition nochlange diskutieren müssen. Kollegin Mattheis, ich habezur Kenntnis genommen, was bei der Propagandaveran-staltung im Ministerium am letzten Freitag geschehenist. Ich glaube, Sie verwechseln das Ergebnis dieser Ver-anstaltung mit dem Ergebnis der Veranstaltung am Mon-tag.
Wäre mein ältester Enkelsohn Jakob am Montag dabeigewesen, dann würde er sagen: Opa, Schiffchen ver-senkt. – Das gilt für die Stützpunkte und Fallmanagerganz eindeutig.
Es gibt nun niemanden mehr, der dafür ist. Von derAOK über die IKK, die BEK und alle Kassen, die vertre-ten waren, bis hin zu den kommunalen Spitzenverbän-den: Alle haben bescheinigt, dass wir die Stützpunkte indieser Form nicht benötigen.
– Ich habe das Lesen in der Schule gelernt. Der Berichtenthält Informationen über eine Situation von 2001 bis2005, die wir zu bewerten haben. In dieser Zeit gab eskeine Stützpunkte in der vom Ministerium gewünschtenForm.
Insofern gehört das in die Abteilung Poesie.
Man muss einfach zugestehen, dass so etwas auch ein-mal in einen Bericht hineinkommt. Wir müssen damit le-ben und werden das auch.
Wir muten den Beitragszahlern eine Steigerung derBeitragslast um 2,5 Milliarden Euro zu. Für uns alsCDU/CSU-Fraktion ist eines wichtig: Wir wollen, dassdiese 2,5 Milliarden Euro komplett, also ohne jeden Ab-zug, am Pflegebett, im Pflegebad, in der Wohnung undbei der ambulanten Versorgung ankommen. Das ist un-ser Ziel.
Wir wollen keine neuen bürokratischen Strukturenschaffen. In der Pflegeversicherung haben wir eh zuviele bürokratische Vorgaben. Wir werden dort so viel,wie uns möglich ist, ausdünnen.Wir sind sicher, dass es unsere Aufgabe ist – KolleginMattheis, hier sind wir doch einer Meinung –, etwas fürdie Pflegebedürftigen zu tun und keine neuen behördli-chen Pflegestrukturen zu schaffen. Ich denke, wir allewerden ein Stück weit an diesem Ziel arbeiten, sodasswir zu einem guten Ergebnis kommen. Der nächste Pfle-gebericht wird deutlich machen, dass das, was HerrBlüm 1995 begonnen hat, von Wolfgang Zöller und An-nette Widmann-Mauz in diesem Jahr fortgesetzt wurde.Darauf können wir alle dann gemeinsam stolz sein.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollege Ilja Seifert, Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da-men und Herren auf der Tribüne! Die Ministerin spracham Mittwoch vergangener Woche über den Pflege-bericht und berichtete aus dem Kabinett. In dieser Wo-che hatten wir zwei Tage Anhörung zur Pflegeversiche-rung. Jetzt gibt es noch diese Debatte im Bundestag.Man könnte fast meinen, dass wir über etwas Wichtigesreden.
Wichtig ist die Pflege. Aber die vorliegenden Papieresind alles andere als wichtig. Sie sind so dünn, liebe Kol-legin Spielmann, dass es kein Wunder ist, dass wir erstzu dieser späten Stunde darüber reden, wenn keinMensch mehr diese Debatte am Fernseher verfolgenkann, weil sie gar nicht übertragen wird.Welche Fakten gibt es denn? Uns liegt ein schönerBericht vor, in dem zum Beispiel steht,
angesichts der steigenden Beschäftigtenzahlen seigrundsätzlich festzustellen, dass derzeit kein generellerFachkräftemangel in der Altenpflege bestehe. Wo lebenSie denn? Haben Sie sich einmal das richtige Leben an-geschaut? Da fehlen die Fachkräfte hinten und vorne,rechts und links und oben und unten. Dass die Zahl derBeschäftigten im Pflegebereich insgesamt steigt, liegtdaran, dass es viel mehr Betriebe mit mehr Beschäftigten
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14702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008
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Dr. Ilja Seifertgibt, die zum Beispiel als Hausmeister tätig sind, dieaber nicht am Pflegebett oder an der Badewanne stehen,lieber Kollege Zylajew.
Noch etwas. Sie wollen, dass jeder Euro am Pflege-bett und an der Badewanne ankommt. Ich hingegen will,dass jeder Euro bei den Menschen ankommt. Das Betthat nichts vom Geld.
Es ist ein ganz entscheidender Unterschied, ob ich vonden Menschen her denke oder von den Betten. Das är-gert mich an Ihrer Argumentation jedes Mal. Sie denkenvon den Strukturen und vom Geld her, nicht aber vonden Menschen her.
– Ich lese doch Ihre Papiere und höre Ihre Reden. Spra-che ist verführerisch und auch verräterisch.Zurück zum vorliegenden Pflegebericht. Wer diePflegesituation wirklich verbessern will, muss mehrMenschen dazu bringen, Arbeit in der Pflege zu leisten.Wenn man das erreichen will, muss man diese Arbeitaufwerten, und zwar sowohl moralisch als auch finan-ziell.
Man kann diese physisch und psychisch schwere Arbeitnicht nebenbei leisten. Man muss die Menschen, diediese Arbeit leisten, ordentlich bezahlen – das ist zurzeitnicht der Fall – und ihnen Aufstiegschancen und die Per-spektive geben, eine Auszeit zumindest in Form einerSupervision zu nehmen. Das alles ist stark unterentwi-ckelt. Wenn zunehmend weniger Menschen an den Um-schulungen der Bundesagentur für Arbeit teilnehmen,um sich für eine Tätigkeit im Pflegebereich ausbilden zulassen, wird der Fachkräftemangel bald so groß sein,dass sich die Zahl gravierender Pflegefehler weiter erhö-hen wird. Es kann doch nicht sein, dass Dekubitus undandere Dinge massenhaft um sich greifen.Komischerweise – das ist der letzte Punkt, den ichhier ansprechen kann – ist in Ihrem Bericht davon dieRede, dass 10 Prozent schlecht versorgt werden. Wiesospricht der MDS von 30 Prozent und mehr? Lassen Sieuns zumindest die Fakten einmal genau ansehen. Selbstin Ihrem Bericht lese ich, dass zu den Pflegeproblemenfreiheitseinschränkende Maßnahmen – die Leute werdenans Bett gefesselt – gehören, dass die Inkontinenzversor-gung nicht in Ordnung ist, dass die Leute also nicht zurToilette gebracht werden. Wenn diese Dinge immer nochnicht abgestellt sind, dann braucht niemand von einemtollen Bericht und einer tollen Pflegeversicherung zusprechen. Wir haben ein großes Problem, und das mussendlich gelöst werden.Danke schön.
Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! In dem zur Debatte stehenden Vierten Bericht zur
Entwicklung der Pflegeversicherung ist unter anderem
ein Kapitel zur Pflegereform enthalten. Deshalb nehme
ich mir heute in meiner relativ kurzen Redezeit die Frei-
heit, diese Reform anzusprechen.
Gestern ist die öffentliche Anhörung zum Pflege-Wei-
terentwicklungsgesetz zu Ende gegangen. Ich muss sa-
gen, ich war offensichtlich auf der gleichen Veranstal-
tung wie Frau Kollegin Mattheis.
Von „Treffer, versenkt“, lieber Willi Zylajew, kann also
wirklich keine Rede sein. Wir befinden uns mit unseren
Schiffchen hier wohl eher im Auge des Pflegetaifuns.
Offen gesagt: Die Anhörung war alles andere als ein
Erfolg für diese Koalition.
Thema nachhaltige und gerechte Finanzierung: Die
Finanzierungsmaßnahmen der Pflegeversicherung rei-
chen gerade einmal in die nächste Wahlperiode hinein.
Das wurde von allen Experten und Verbänden bestätigt.
Mit sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit hat das
nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Thema Pflegestützpunkte: Ich sage Ihnen ganz klar:
Wir Grünen werden nicht in den Kanon derer einstim-
men, die hier freudig das Lied vom Ende der Pflege-
stützpunkte singen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zyla-
jew?
Sehr gern.
Frau Kollegin Scharfenberg, wären Sie bereit, zurKenntnis zu nehmen, dass der Berichtszeitraum 2001 bis2005 genau Ihre Regierungszeit abdeckt?
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14703
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Das ist richtig. Aber wir befinden uns im Moment inder Reformphase. Da müssen wir nach vorn schauen undDinge, die zu verbessern sind, verbessern.
Das ist der Sinn der Reform. Davor die Augen zu ver-schließen, nützt nichts.
Kollege Zylajew möchte noch einmal nachfragen.
Ich danke Ihnen, dass Sie meine Redezeit so verlän-
gern.
Frau Kollegin Scharfenberg, sind Sie mit mir glück-
lich darüber, dass die Regierung, die die aus Ihrer Sicht
unguten Entwicklungen 2001 bis 2005 zu verantworten
hat, bei dieser Reform nicht mehr mitgestalten kann?
Nein, darüber bin ich nicht glücklich. Ich denke, die
damalige Koalition würde, wäre sie noch heute an der
Regierung, zu einem leichteren und letztendlich für alle
Betroffenen, für alle Nutzerinnen und Nutzer besseren
System finden.
Zurück zum Thema Pflegestützpunkte. Wir fallen
also nicht in den Chor der Unkenrufe ein, die von der
rechten Seite des Plenarsaals kommen. Wir Grünen ha-
ben schon, als der erste Entwurf des Reformgesetzes
kursierte und Pflegestützpunkte erwähnt wurden, gesagt,
dass wir diesen Ansatz richtig finden.
Dazu stehen wir; das finden wir auch weiterhin. Der An-
satz ist richtig; aber die Ausgestaltung und die Aufgaben
der Stützpunkte und Pflegeberater sind es, die dringend
überarbeitet werden müssen. Die Stützpunkte und die
Pflegeberater müssen unabhängig und neutral sein.
Im bisherigen Konzept sind sie es – das müssen wir ganz
klar sagen – definitiv nicht. Das kann die Ministerin so
oft behaupten, wie sie möchte; sie schafft es nicht, sie
neutral zu reden.
Selbst die Ärzte-Zeitung – bei der wir es nicht unbe-
dingt mit einem linksliberalen Blatt zu tun haben – vom
gestrigen Mittwoch stellt fest – ich zitiere –:
Angesichts der unterschiedlichen Interessen der
Akteure im Milliardenmarkt Pflege und der Ten-
denz von Politikern, die steigenden Sozialausgaben
zunehmend restriktiv zu steuern, kann die Lösung
nur heißen: Ja zu den Stützpunkten, aber nur mit
unabhängigen Patientenanwälten.
Auch Pflegebedürftige verdienen Fairness – diese
beginnt mit einer unabhängigen Beratung.
Der Aufbau der Stützpunkte darf nicht nur auf das
Feld der Beratung beschränkt werden. Beratung ist ein
wichtiger, aber nur kleiner und kurzfristig wirkender Teil
dessen, was die Betroffenen letztendlich brauchen. Sie
brauchen darüber hinaus langfristig wirksame, individu-
elle Hilfen und Begleitung. Sie brauchen ein wirkliches
Fallmanagement, das in ihrem Interesse handelt. Aber
das braucht Unabhängigkeit, Vernetzung und Koordina-
tion. Diese Bedingungen erfüllen die Stützpunkte und
Berater bisher nicht. Das ist in der Anhörung mehr als
deutlich geworden.
Nun ein Wort zu den Kollegen der Union.
Ihr absurdes Modell der Beratungsgutscheine erfüllt das
im Übrigen alles nicht und bringt somit keinen Fort-
schritt.
Die wohl wichtigste Aufgabenstellung, die sich aus der
Anhörung für uns ergibt, ist es, die Situation der Pflege-
bedürftigen und ihrer Angehörigen zu verbessern. Dazu
müssen wir uns die Frage stellen, was diese Menschen
– also auch wir, unsere Kinder, unsere Eltern oder unsere
Schwiegereltern – brauchen und wie wir ihnen und uns
zu mehr Selbstbestimmung verhelfen können – und
nicht, was parteipolitisch gerade am besten in den Kram
passt.
Wir befassen uns hier nicht mit Theorie, sondern mit
der Lebensrealität, einer Lebensrealität, die viele Men-
schen in diesem Land, im Übrigen auch uns selbst, be-
trifft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/7772 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang ThierseIch rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten JörnWunderlich, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEArbeit familienfreundlich gestalten – Verein-barkeit von Familie und Beruf für Mütter undVäter lebbar machen– Drucksache 16/7482 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und SozialesNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenJörn Wunderlich das Wort für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Familienfreundliche Arbeitswelt – das klingttoll. Darüber wird in letzter Zeit viel gesprochen. DieArbeitswelt tatsächlich familienfreundlich umzugestal-ten, ist eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben im Rah-men der Familienpolitik. Der Wandel der Familienfor-men, der Wandel der gesellschaftlichen Rolle vonFrauen und Männern und der Wandel der Arbeit selbstmachen ein Umdenken nötig. Das darf nicht vom Entge-genkommen einzelner Betriebe abhängig gemacht wer-den.
– Hören Sie mir doch einmal zu, Frau Lenke!
Es gibt Betriebe, die familienfreundlich sind. Dasmuss man unumwunden anerkennen. In meinem Nach-barort befindet sich auch einer. Das ist ganz toll. Abernur 78 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Betriebenmit Betriebsrat, und nur 8 Prozent dieser Betriebe verfü-gen über eine Vereinbarung, die Familie und Beruf be-trifft. Diese Zahlen stehen in einer Informationsschriftdes Bundesministeriums.In unserem Antrag sind drei wesentliche Forderungenenthalten: Kündigungsschutz für Eltern ausweiten, Be-rufsrückkehr fördern und Gestaltung der Arbeitszeit er-möglichen.
Zum ersten Punkt. Es ist völlig klar, dass Vereinbar-keit von Familie und Beruf nur möglich ist, wenn einequalitativ hochwertige und eine für Eltern möglichst bei-tragsfreie Ganztagsbetreuung zur Verfügung steht. DieInitiativen hinsichtlich des Krippenausbaus sind zu be-grüßen. Aber sie gehen nicht weit genug. Zum Krippen-ausbau muss auch das Elterngeld hinzukommen. Aberauch das reicht noch nicht. Es ist nur konsequent, wennwir den Kündigungsschutz und gemäß unserem Antragauch die Elternzeit ausweiten, die man zumindest bis zurEinschulung gesplittet nehmen können sollte. Dann istes natürlich nur logisch, einen entsprechenden Kündi-gungsschutz einzufordern, wie es ihn bei der gegenwär-tigen Elternzeitregelung gibt.Für Gewerkschaften und Betriebsräte liegt in demThema auch die Chance, eine Stärkung der Arbeitneh-merrechte zu erreichen; denn wir brauchen eine Stär-kung tariflicher, sozialer und arbeitsrechtlicher Stan-dards.
Es ist auch Aufgabe des Gesetzgebers, diese Gestal-tungsmöglichkeiten zu erweitern und kollektive Lösun-gen zu stärken. Allein ein Appell reicht da nicht aus.
Mein Gott, was haben wir schon alles für Appelle ge-habt. Dann heißt es immer: Toll, die Appelle waren er-folgreich. – Es funktioniert aber nicht. Es geht nämlichnicht überall so. Das Betriebsverfassungsgesetz ruft Be-triebsräte ausdrücklich dazu auf, die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf zu fördern, doch nur circa ein Drittelder Betriebsräte befasst sich mit familienfreundlichenMaßnahmen. Das ist das Ergebnis der Appelle.Zweiter Punkt: Berufsrückkehr fördern. Für Familienmit Kindern und vor allem für Alleinerziehende ist derAlltag ein schwieriger Balanceakt. Viele kapitulierendann vor der letztlich doch noch vorherrschenden Fami-lienunfreundlichkeit in der Arbeitswelt und verlierendann auch manchmal ihren Arbeitsplatz. Vor allen Din-gen junge Mütter müssen mit dem Risiko leben, dass ih-nen nach der Elternzeit der Wiedereinstieg in den Berufentweder erschwert oder verwehrt wird und dass sie mitangeblich familienfreundlichen Minijobs – das ist einbeliebtes Spiel – abgespeist werden. Deswegen fordernwir eine Arbeitsplatzgarantie, die eine Rückkehr auf dengleichen oder zumindest einen vergleichbaren Arbeits-platz ermöglicht,
und während der Elternzeit eine weitere Teilhabe am be-trieblichen Geschehen durch betriebliche Weiter- undFortbildungsmaßnahmen oder möglicherweise sogardurch die Übernahme kurzer Vertretungen im Betrieb.
– Die CDU hat bei ihrer Wiesbadener Erklärung ja beiuns abgeschrieben. Warum sie das macht, wenn es dasalles schon gibt, Frau Griese, verstehe ich nicht.
Dritter Punkt: Gestaltung von Arbeitszeit ermögli-chen. Kinder brauchen Zeit. Zeit spielt in Familien mitKindern eine ganz wichtige Rolle. Erwerbstätige Elternund Pflegende benötigen mehr Zeitautonomie. Das ist in
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Jörn Wunderlichder zurückliegenden Familienpolitik kaum beachtet wor-den. Dieser Fakt ist vielmehr sträflich vernachlässigtworden. Der Siebte Familienbericht stellt dazu fest, dassviele Eltern die Balance zwischen Familie und Erwerbs-arbeit als unbefriedigend empfinden. 78 Prozent der Be-schäftigten, die in Elternzeit sind, wünschen sich Teil-zeitangebote, zeitlich begrenzt. Vorschläge erhalten nur29 Prozent.Wie es vor Ort aussieht, will ich Ihnen einmal schil-dern. Ich habe vor ein paar Tagen einen Brief einer jun-gen, alleinerziehenden Mutter aus Schleswig-Holsteinbekommen. Sie hat einen dreijährigen Sohn und arbeitetin einem großen Baumarkt, dessen Namen ich an dieserStelle nicht nennen will. Nach Ende der Elternzeit wolltesie mit einer 30-Stunden-Woche wieder anfangen, täg-lich in der Zeit zwischen 8.30 Uhr und 14.30 Uhr und anmaximal zwei Samstagen monatlich. Das war mit demBetrieb nicht hinzukriegen. Seit über einem Jahr klagtsie sich jetzt wegen dieser Arbeitszeitregelung durch dieInstanzen. Mal bekam sie recht, dann wurde das erst-instanzliche Urteil vom Landesarbeitsgericht aufgeho-ben, dann bekam sie wieder recht. Inzwischen ist das inder Revision beim Bundesarbeitsgericht. Im Dezember,sagte der Betrieb – das ist der letzte Sachstand, den siemir mitgeteilt hat –, brauche sie eine Woche nicht zu ar-beiten. Man stellte sie wegen einer einstweiligen Unter-sagung nicht ein. Aber für diese Zeit bekam sie auchkein Geld. Jetzt muss sie wahrscheinlich auch noch denLohn einklagen. Das ist die Kehrseite von familien-freundlichen Betrieben.
– Das ist der Alltag. – Und vom Betriebsrat hat sie auchkeine Unterstützung bekommen.Die Gestaltung der Arbeitszeit muss eben stärker denInteressen der Beschäftigten gerecht werden. Die Ar-beitszeit muss verkürzt und auf Männer und Frauengleichmäßiger verteilt werden.
Teilzeitarbeit darf nur noch aus dringenden betrieblichenGründen verweigert werden.Der CDU kann ich nur sagen: Unterstützen Sie unse-ren Antrag! Er deckt sich ja weitestgehend mit IhrerWiesbadener Erklärung. Insbesondere Punkt 7 der Wies-badener Erklärung ist ja im Grunde bei uns abgeschrie-ben, Herr Singhammer. Deswegen können Sie unserenAntrag völlig ideologiefrei unterstützen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegin Eva Möllring, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Kollege Wunderlich, sieben JahreKündigungsschutz pro Kind, Berufsrückkehr in verbes-serte Positionen und freie Wahl der Arbeitszeit – Sie bie-ten Eltern hier ein tolles Kaleidoskop und vergessen da-bei, dass auch Mütter und Väter sich im Wettbewerb desBerufslebens befinden. Wir müssen deshalb aufpassen,dass wir ihnen mit solchen Vorschlägen nicht mehrChancen vermasseln als eröffnen.
Flexible Arbeitszeit ist tatsächlich ein entscheidenderFaktor für Eltern, wenn es darum geht, Beruf und Fami-lie zu vereinbaren.
Das ist völlig klar und durch viele Studien über Jahre be-legt. Die Hans-Böckler-Stiftung, liebe Kollegen von derSPD, hat in einer aktuellen Umfrage festgestellt, dass El-tern sich kürzere Arbeitszeiten wünschen und durch-schnittlich mit einer Wochenarbeitszeit zwischen 20 und29,5 Stunden am zufriedensten sind. Deshalb, FrauLenke, kann ich mich Ihnen hier ausdrücklich nicht an-schließen, wenn Sie wie in der letzten Woche die Teilzeitverteufeln und Frauen rügen, die Teilzeit arbeiten.
– Doch.
Wir sollten nicht so tun, als könnte man einige Kindererziehen, gleichzeitig von morgens bis abends im Berufarbeiten, die Schwiegereltern pflegen, Wohnung oderHaus in Schuss halten und Ehrenämter pflegen. Stattdes-sen muss die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt wer-den. Eine der Lösungen ist, zumindest vorübergehenddie berufliche Arbeitszeit zu reduzieren; das ist völligrichtig. Damit dies möglich ist, haben wir seit Jahren diegesetzlichen Grundlagen insbesondere im Arbeitszeitge-setz, im Teilzeitgesetz und im Betriebsverfassungsgesetzgeschaffen. Arbeitnehmer können ihre Arbeitszeit ver-kürzen, sie haben ein Initiativrecht zur Gestaltung derArbeitszeit, und sie können von Nachtarbeit auf Tagesar-beit umstellen. Arbeitgeber dürfen diese Wünsche nurablehnen – hören Sie zu, Herr Wunderlich, falls Sie dasnoch nicht wissen –, wenn gravierende betrieblicheGründe entgegenstehen. Genau das, was Sie beantragthaben, steht also bereits im Gesetz. Sie laufen der Ent-wicklung leider ein paar Jahre hinterher.Dass Sie hier als Richter Richterschelte betreiben,Herr Wunderlich, ist Ihre Sache. Ich schließe mich demausdrücklich nicht an. Sie wissen, dass wir als Gesetzge-ber die Unabhängigkeit der Richter nicht reglementierenund angreifen dürfen.Das eigentliche Problem ist aber doch, dass viele El-tern befürchten, beruflich zurückzufallen, wenn sie dieseInstrumente tatsächlich nutzen. Deshalb geht es darum,dass diese Rechte in den Betrieben wirklich akzeptiertsind und mit einer echten Überzeugung begleitet wer-den. Was wir deswegen dringend ändern müssen, ist diePhilosophie in den Unternehmen. Gerade auf diesem
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Dr. Eva MöllringFeld, lieber Herr Wunderlich, hat die Bundesregierungin den letzten zwei, drei Jahren nun wirklich eine un-glaubliche Fülle von Erfolgen erzielt und nicht nur Sprü-che gemacht und Forderungen gestellt.
– Sie können gern sagen, Frau Griese, was Sie vorher ge-macht haben. Ich konzentriere mich auf die letzten zwei,drei Jahre, weil in dieser Zeit wirklich enorm viel pas-siert ist. Ich nenne als Beispiele nur das Unternehmens-netzwerk „Erfolgsfaktor Familie“, bei dem inzwischen– hören Sie zu – 1 300 Unternehmen Informationen undErfahrungen über familienfreundliche Maßnahmen aus-tauschen, und die Lokalen Bündnisse für Familien.
– Daran sind Sie nicht ganz unschuldig, aber inzwischensind dank der Propaganda 360 Kommunen dabei. – Indiesen Bündnissen engagieren sich 2 200 Unternehmen.Des Weiteren nenne ich das Audit „Beruf & Familie“,mit dem inzwischen 530 Unternehmen für familien-freundliche Maßnahmen ausgezeichnet wurden.
– Das werden Sie uns jetzt nicht wegnehmen wollen,meine lieben Kolleginnen von der SPD.
Das Bewusstsein für familienfreundliche Berufewächst also stetig, und das ist der entscheidende Punkt.Die Philosophie in den Unternehmen ändert sich wirk-lich. Heute sind viele Betriebe stolz darauf, familien-freundlich zu sein – das war übrigens vor drei Jahrennoch nicht so –, und das ist der richtige Weg.Es muss an dieser Stelle aber auch gesagt werden,Herr Wunderlich, dass es Grenzen bei dem gibt, was einBetrieb leisten kann. Eltern können natürlich nicht kom-men und gehen, wann sie wollen. Das wissen sie, unddas liegt auch gar nicht in ihrem eigenen Interesse, weilsie dann nämlich als unzuverlässig gälten.Das Gleiche gilt für den Kündigungsschutz. Ein Kün-digungsschutz, bis das jüngste Kind sieben Jahre alt ist,Herr Wunderlich, hört sich vielleicht traumhaft an, hataber mit der Realität nicht viel zu tun. Bei zwei, dreiKindern sind das zehn bis 15 Jahre. Wer kann nach die-ser langen Zeit noch ohne Weiteres in den alten Berufeinsteigen?
Der Trend verläuft da genau entgegengesetzt. Die jungenLeute wollen früh den Kontakt zum Arbeitsplatz wiederaufbauen. Deswegen glaube ich eher, dass Sie den Elternmit einer so langen Kündigungsfrist einen Bärendiensterweisen und riskieren, dass man junge Leute, die sichKinder wünschen, nicht einstellt.
Richtig ist, dass während der dreijährigen Elternzeitein Kündigungsschutz besteht und die Eltern wieder aufeinen Arbeitsplatz zurückkehren können, der gleich be-zahlt wird. Dies schafft Sicherheit, wenn man sich fürKinder entscheidet und in der frühen Phase viel Zeit fürsie aufbringt. Ich glaube allerdings nicht, dass wir dieBetriebe grundsätzlich verpflichten können, den Arbeits-platz drei Jahre lang freizuhalten oder die Person, die biszur Rückkehr als Vertretung eingesetzt wird, einfachwieder auszutauschen.
– Ja. – Das kann auch eine Mutter oder ein Vater sein,die bzw. der nach der Familienphase wieder in den Berufzurückgekehrt ist. Wir würden damit einen Arbeitneh-mer gegen den anderen ausspielen.
– Danke.Die entscheidenden Faktoren für eine erfolgreicheRückkehr an den Arbeitsplatz sind der Kontakt mit demArbeitgeber in der Familienzeit und die betrieblicheWeiterbildung. In diesem Punkt bin ich völlig Ihrer Mei-nung. Das habe ich in meiner letzten Rede im Bundestagvor einer Woche schon ausführlich erörtert, sodass ichdas nicht weiter vertiefen muss.Letztlich muss im konkreten Fall die Balance zwi-schen den Bedürfnissen der Mütter und Väter und denNotwendigkeiten am Arbeitsplatz gefunden werden. Ichbin felsenfest davon überzeugt, dass dabei das zuneh-mende Engagement gerade von Vätern für ihre Kindereine große Hilfe sein wird.Seit 1991 hat sich die Teilzeitquote von Vätern fastvervierfacht; überraschend viele Väter nehmen die El-ternzeit in Anspruch. Nach meiner Überzeugung wirddiese Entwicklung erheblich dazu beitragen, dass Ar-beitgeber mehr Rücksicht auf Familien nehmen, ohnedass Eltern Nachteile befürchten müssen. Deshalb binich der Meinung, dass wir gerade das Engagement derVäter weiter stärken müssen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Frau Möllring, ich findees sehr putzig, wie Sie mit der Kritik am Bundesgleich-stellungsgesetz, das Frauen helfen soll, Erwerbstätigkeitund Kinder miteinander zu vereinbaren, umgehen.
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Ina LenkeDurch dieses Schutzgesetz sind mittlerweile 91 Prozentder Frauen und damit nur 9 Prozent der Männer in Teil-zeit tätig.
Dieses Bumeranggesetz hilft Frauen nicht. Vielmehr ha-ben sie die gesellschaftliche Arbeit noch zusätzlich zu-geteilt bekommen. Man muss beides sehr unterschied-lich behandeln. Insofern ist das ungerecht.Sie sollten endlich die Frauen diskriminierendeSteuerklasse V – die meisten Frauen haben diese Steuer-klasse eingetragen – abschaffen.
Stattdessen haben Sie eine entsprechende Änderungsre-gelung, für die wir uns alle eingesetzt haben, aus demJahressteuergesetz herausgenommen. Die Frauen sollenerfahren, wer dies zu verantworten hat.Herr Wunderlich, es ist sehr wunderlich, wie Sie denvon Ihnen eingebrachten Antrag weichspülen. Die politi-schen Forderungen in Ihrem Antrag sind überzogen undirreal. Ihre Vorschläge stammen aus der Wunschkisteund sind weit von der deutschen Wirklichkeit und denErwartungen der Frauen, die sie auch an die Politik ha-ben, entfernt. Fragen Sie die Frauen selbst! Ich habe sieam Infostand zur Landtagswahl in Niedersachsen ge-fragt, ob sie sechs Jahre zu Hause bleiben wollen.Derzeit gibt es in der Elternzeit einen dreijährigenKündigungsschutz. Darauf haben wir alle uns geeinigt,und das ist auch gut und richtig. Wie Sie wissen, wollendiese Frauen aber schon vor Ablauf dieser drei Jahre inden Beruf zurückkehren – deswegen investieren wirschließlich Geld in den Ausbau der Krippenplätze –,weil sie Karriere machen und auf eine gute Rente hinar-beiten wollen und weil sie Interesse an der Arbeit haben.Sie wollen beides miteinander vereinbaren. Insofern sindIhre Vorschläge kontraproduktiv.
Ihre Vorschläge, Herr Wunderlich – ich habe michausführlich mit ihnen befasst –, sind Einstellungshinder-nisse für Frauen, die ins Berufsleben zurückkehren. Siesind ein Bumerang für Frauen mit Kindern. Wenn IhreVorschläge umgesetzt würden, würden sie massiv dieChancen für den Wiedereinstieg von Frauen in den Be-ruf verschlechtern. Bei so vielen Schutzgesetzen, die zuberücksichtigen sind, bis ein Kind zwölf Jahre alt ist,stellen die Unternehmer lieber Männer ein. Das ist nichtunser Ziel. Ich hoffe, dass wir uns darin gegen die Lin-ken einig sind.
Sie halten mit Ihrer verfehlten Politik Frauen von ei-ner kontinuierlichen Erwerbsbiografie ab, Sie halten siedavon ab, eigene Rentenansprüche zu erwerben und einexistenzsicherndes Gehalt zu erzielen. Sie können einemBetrieb nicht zumuten, einer Frau ohne weitere Fortbil-dung ein höheres Gehalt zu zahlen, wenn sie nach sechsJahren wieder einsteigt. Das geht nicht. Ich glaube, dieFrauen werden in dieser Beziehung nicht hinter Ihnenstehen.
Neben Ihrer Forderung, dass ein Arbeitsplatz in ei-nem Betrieb künftig sechs Jahre freigehalten werdensoll, erheben Sie die Forderung, dass ein Arbeitnehmermit Kindern zwölf Jahre lang seine tägliche Arbeitszeitselbst bestimmen kann. Die Frauen sollen zwölf Jahrelang bestimmen, wann sie morgens kommen und wannsie abends gehen. Das steht in dem Antrag der Linken.Wenn Überstunden anfallen, soll der Arbeitgeber auchnoch die Kinderbetreuungskosten zahlen. Das wird sehrlustig. Wir haben andere Regelungen, zum Beispiel diesteuerliche Absetzbarkeit. Man kann auch Zahlungendes Arbeitgebers lohnsteuerfrei und sozialversicherungs-frei gestalten. Es gab Zwischenrufe der Damen von derSPD – ich glaube, von Frau Griese – mit dem Tenor: Wirhaben schon vieles. – Ihre überzogenen Forderungenbrauchen wir nicht.Manche von Ihnen – nicht die Jungen von den Lin-ken – haben in der ehemaligen DDR gelebt. Auch ichhatte meine Verbindungen zur DDR, keine verwandt-schaftlichen, aber solche über die Kirche. Ich kann michsehr gut daran erinnern, wie die Frauen dort behandeltworden sind. Es hat nicht immer nur gute Regelungengegeben, und wir wollen andere.Wir haben den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, wirhaben den gesetzlichen Mutterschutz, wir haben die Ar-beitsbefreiung bei Krankheit von Kindern, wir haben dasKündigungsschutzgesetz, das Elternzeitgesetz, dasRecht auf Fortbildung, und wir haben das Arbeitszeitge-setz. Ich habe garantiert noch viele Schutzgesetze ver-gessen. Ich habe aber nur fünf Minuten Zeit, und deshalbkann ich das nicht wie Frau Möllring zehn Minuten aus-weiten.
Das heißt, wir haben Gesetze, die das Leben mit Kindernerleichtern. Wir werden – da sind wir uns alle einig, auchdie Linken – die Bewegungsspielräume von Müttern undVätern, die Familie und Beruf miteinander vereinbarenwollen, ausweiten und mehr Krippenplätze schaffen. Wiralle wollen dafür mehr Geld geben. Sie verkünden denMenschen eine heile Welt.Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Siebehaupten, wo kein Betriebsrat ist, würden die Mütter-rechte mit Füßen getreten – ich sage das einmal sinnge-mäß –, ich aber sage Ihnen: Viele mittelständische Un-ternehmen geben alles, um qualifizierte Frauen amArbeitsplatz zu halten. Deshalb verwahre ich mich dage-gen, dass Sie solche Aussagen machen.
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Das Wort hat nun Kollegin Helga Lopez, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ihr
Antrag, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, in
Ehren, aber zustimmen können wir dem nicht.
Wir haben überdeutlich gehört, woran das liegt. Wir hal-
ten Ihren Antrag für äußerst kontraproduktiv. Hätten wir
Vollbeschäftigung, könnten wir uns über Ihren Antrag
durchaus sachlich und in aller Ruhe unterhalten. Aber
die haben wir nicht. Deswegen bin ich der absoluten
Überzeugung, dass Ihr Antrag nur zu einem führen
würde: In jedem Auswahlverfahren hätten künftig El-
tern, insbesondere Frauen, auch junge Frauen, die noch
nicht Mütter sind, keine Chancen mehr auf Beschäfti-
gung.
Ich bin fast geneigt, zu sagen, dass ich nicht verstehen
kann, dass ausgerechnet die Linke mit einem Antrag
schlechtere Chancen für Frauen will.
Arbeitgeber sind immer dann zu Zugeständnissen bereit,
wenn sie einen Arbeitnehmer brauchen. Sie machen kei-
nerlei Zugeständnisse, wenn sie aus einem Pool von vie-
len Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auswählen
können. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Deswegen
ist der Antrag kontraproduktiv, und deswegen werden
wir ihm nicht zustimmen.
Wir haben hier gehört, welch immense Anstrengun-
gen die Große Koalition und zuvor Rot-Grün in den letz-
ten Jahren unternommen haben, um Maßnahmen zu tref-
fen, die alle dem Ziel der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf dienlich sind. Es gibt in der Tat noch viel zu tun.
Ich komme gleich darauf zurück.
Im Jahre 1975, als ich Mutter wurde, war von Flexibi-
lität keine Rede. Ich war schon verbeamtet, hatte aber
keinerlei Möglichkeit, Teilzeit arbeiten zu gehen. Ich
hatte acht Wochen, höchstens zwölf Wochen Mutter-
schaftsurlaub. Das war’s. Dann musste ich ganztags ar-
beiten gehen. Ich fand keinerlei Einrichtung bis zum
Ende der Grundschulzeit, in die ich mein Kind zur Be-
treuung hätte geben können. Ich musste eine Tagesmut-
ter suchen. Zum Glück habe ich eine hervorragende Ta-
gesmutter gefunden. Für sie musste ich ein Viertel
meines Gehalts aufwenden, aber ich konnte in Ruhe, mit
gutem Gewissen arbeiten gehen; denn ich wusste mein
Kind gut betreut. Die Betonung liegt hier auf „gut“. Ge-
nau an der Stelle haben wir noch zu tun.
Ich komme aus dem Bundesland Hessen. Hessen hat
für Kinderbetreuungseinrichtungen die Personalmindest-
standards gesetzt; andere Bundesländer haben in anderen
Bereichen Standards gesetzt. Die Personalstandards wa-
ren in Hessen also einmal gut. Vor einigen Jahren ist der
Mindestpersonalschlüssel auf 1,5 Fachkräfte pro Gruppe
heruntergesetzt worden. Eine Gruppe umfasst in Hessen
25 Kinder über drei Jahre oder 15 Kinder in altersge-
mischten Gruppen mit unter Dreijährigen.
1,5 Fachkräfte, inklusive Vor- und Nachbereitung und
ohne Kompensation für krankheits- oder kurbedingten
Ausfall oder für Weiterbildungsmaßnahmen. Faktisch
bedeutet das, dass tatsächlich nur eine Kraft pro Gruppe
zur Verfügung steht. Ich sage ganz deutlich: Hier gilt es
anzusetzen.
Qualität und frühkindliche Bildung – das sind unsere
Aufgaben. Die müssen wir angehen. Wir werden darüber
mit den Ländern zu reden haben; wir als Bund haben
aber auch dafür Sorge zu tragen, dass wir nicht nur über
frühkindliche Bildung reden, sondern sie auch mit Leben
erfüllt wird.
Dafür werden wir uns einsetzen, für Ihren Antrag nicht.
Das Wort hat nun Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieHerstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie isteine zentrale Herausforderung, gesellschaftlich wie öko-nomisch. Hier wurde unter Rot-Grün ja auch schon eineganze Reihe von Verbesserungen auf den Weg gebracht.Ein Beispiel dafür ist die Einführung von Elternzeit. Einzweites Beispiel dafür ist – es freut mich besonders, dassSie, Frau Möllring, das erwähnt haben – die Umsetzungdes Anspruchs auf Teilzeitarbeit. Das freut mich des-halb, weil Ihre Fraktion damals dagegen war. Ich kannmich noch erinnern, wie in den Debatten mit dem Argu-ment polemisiert wurde,
dass dadurch viele Arbeitsplätze verloren gingen. Heuteloben ausgerechnet Sie den Anspruch auf Teilzeitarbeit.Man kann immer dazulernen. An diesem Punkt zeigtsich, dass Sie von Rot-Grün tatsächlich etwas dazuge-lernt haben.
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Ekin DeligözEin anderer Baustein ist natürlich – ich gebe es zu –das Elterngeld. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dassauch das unter Rot-Grün zustande gekommen wäre,
wenn auch in manchen Punkten in anderer Form.Ein ganz besonders wichtiger Baustein aber ist dasTagesbetreuungsausbaugesetz. Hätte es damals nicht soerheblichen Widerstand im Bundesrat gegen den Ausbauder Betreuungsangebote für unter Dreijährige gegeben,wären wir heute um einiges weiter.
Wir hätten jetzt nicht nur einen konditionierten Rechts-anspruch auf Kinderbetreuung, sondern würden längstschon die notwendige Qualitätsdebatte führen. Wir hof-fen jetzt, dass es womöglich bis 2013 einen allgemeinenRechtsanspruch gibt.
– Herr Singhammer, hören Sie zu! Sie machen immerVersprechungen, aber wo bleiben die entsprechendenGesetzentwürfe?
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns ein Gesetz-entwurf vorliegt, anhand dessen das Ganze besprochenwerden könnte. Im Ausschuss sagt die Ministerin, derwerde irgendwann einmal kommen. „Irgendwann“ istmir aber zu unbestimmt.Auch wenn Sie hier noch so häufig „Wir gewährleis-ten die Finanzierung“ sagen, weiß ich nicht, was Sie anFinanzmitteln zur Verfügung stellen. Ich weiß auchnicht, was die Länder zur Verfügung stellen. Es wirdzwar viel geredet; aber von den Ländern hört man ver-dammt wenig.
Genau gesagt, hört man von Länderseite gar nichts. Be-geisterung für die Sache klingt etwas anders. Das, wasSie hier zeigen, ist alles andere als Begeisterung.Bereitstellung von Betreuungsmöglichkeiten – ja, dasist eine Grundlage für die Vereinbarkeit von Beruf undFamilie. Zur Vereinbarkeit gehört aber noch mehr, zumBeispiel Änderungen beim Steuer- und Sozialrecht. Ei-nen Punkt haben Sie schon genannt: die Reform derSteuerklassen III und V. Dieses Thema ist von dieser Re-gierung zwar bereits angesprochen worden, aber passiertist nichts. Eine solche Reform wäre eine notwendige Än-derung der Rahmenbedingungen und damit ein Anreizzur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.Ähnlich ist es übrigens beim Ehegattensplitting und– da können Sie hier noch so viel lavieren – mit dem Be-treuungsgeld.
Gerade das Betreuungsgeld ist kein Anreiz, erwerbstätigzu werden, und kein Anreiz, Beruf und Familie zu ver-einbaren.
Sie wollen, dass Mütter zu Hause bleiben. Sie halten analten Rollenbildern fest. Die von Ihnen erwünschte Pra-xis wird auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. IhrAppell ist: Mütter, bitte, bleibt zu Hause! – Inzwischengibt sogar Ihre Fraktion zu, dass die Erwerbstätigkeitvon Frauen das beste Instrument im Kampf gegen Fami-lienarmut ist. Trotzdem wollen Sie, dass Mütter zuHause bleiben.
Dass Mütter zu Hause bleiben, hat Auswirkungen aufdas gesamte Arbeitsleben, auf die Sozialversicherung,auf die Krankenkassenbeiträge, auf die Rente, auf die so-ziale Sicherung.
Angesichts der Kürze meiner Redezeit möchte ichschnell noch auf den Antrag der Linken eingehen. Sie-ben Jahre Elternzeit, also sieben Jahre zu Hause zu blei-ben, das fällt den Eltern auf die Füße.
Eltern, die sieben Jahre zu Hause bleiben, bleiben demErwerbsleben und damit den Beitragszahlungen in dieRentenversicherung fern. Eine Elternzeit von sieben Jah-ren hat nichts mit der Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf zu tun. Ihr Vorschlag ist nichts anderes als ein Anti-vereinbarkeitsvorschlag.
Rückkehr in den Beruf aus Elternzeit und längerer Fa-milienphase sind übrigens zweierlei. Rot-Grün hat ge-rade für die Berufsrückkehrer hervorragende BA-Pro-gramme geschaffen. In diesem Bereich haben wir diegrößten Erfolge erzielt. Was uns fehlt, sind Betreuungs-angebote,
Qualifikationsangebote für Frauen und sozialrechtlicheÄnderungen im Hinblick darauf, dass sich die Arbeitvon Frauen rentiert.
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Ekin DeligözIhr Antrag mag plakativ sein; aber das, was durch ihnerreicht werden soll, wird mit den meisten Vorschlägennicht erreicht.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Dieter
Steinecke, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
einen Antrag, der schon von seiner Grundannahme her
falsch ist. Ich darf die ersten beiden Sätze wörtlich zitie-
ren:
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beginnt
am Arbeitsplatz.
Sehr richtig. – Weiter im Zitat:
Das wurde von der Familienpolitik viel zu lange
vernachlässigt.
Diese Aussage hingegen ist falsch und wurde wider bes-
seres Wissen getroffen. Ich möchte den Autorinnen und
Autoren dieses Antrags nämlich nicht unterstellen, dass
sie die erfolgreiche sozialdemokratische Politik für eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben
übersehen haben.
Ich möchte hier zunächst auf den umfassenden Auf-
bau der Tagesbetreuung eingehen. Jedes Kind ab drei
Jahren hat einen gesetzlichen Anspruch auf einen Be-
treuungsplatz. Wir haben die Grundlage dafür gelegt,
dass ab 2013 auch die Allerjüngsten einen solchen An-
spruch haben und dass ein umfassendes und qualitativ
hochwertiges Betreuungsangebot flächendeckend zur
Verfügung steht.
Die Betreuung – das ist uns klar – darf natürlich nicht
mit dem Tag der Einschulung der Kinder enden. Daher
setzen wir auf Ganztagsschulen und fördern den Ausbau
von entsprechenden Angeboten durch das Investitions-
programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ des Bun-
des mit insgesamt 4 Milliarden Euro, obwohl wir wis-
sen, dass Bildung eigentlich Ländersache ist. Diesen
Hinweis gestatte ich mir im Hinblick auf die bevorste-
henden Landtagswahlen in Hessen und in meinem Hei-
matland Niedersachsen. In beiden Ländern haben sich
die jeweiligen Landesregierungen, die am Sonntag zur
Abwahl stehen,
gerade was Zukunftsinvestitionen in Bildung und Be-
treuung angeht, wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. In
Niedersachsen wurden die Bundesmittel gern genom-
men. Dann wurde reichlich in Beton investiert, die erfor-
derlichen Lehrerstunden aber nicht zur Verfügung ge-
stellt. Das hätte ja auch den eigenen Haushalt belastet.
Diese „Ganztagsschule light“ wollen wir nicht; das
reicht uns nicht aus.
Wir wissen freilich, dass ein umfangreiches Betreu-
ungsangebot nicht die einzige Voraussetzung für eine
gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. Das wis-
sen wir nicht erst seit gestern: Bereits im Jahre 2003 hat
die damalige sozialdemokratische Familienministerin
Renate Schmidt unter dem Dach „Allianz für die Fami-
lie“ Initiativen gebündelt, damit zwischen Familie und
Arbeitswelt eine gute Balance hergestellt werden kann.
Starke Partner aus Wirtschaft, Verbänden und Politik set-
zen sich öffentlich und beispielhaft für eine neue Unter-
nehmenskultur und Gestaltung der Arbeitswelt ein. Die
„Allianz für die Familie“ basiert auf dem Konsens, dass
unsere Gesellschaft mehr Kinder, unsere Wirtschaft qua-
lifizierte Arbeitskräfte und unsere Kinder eine frühe För-
derung brauchen.
Die familienfreundliche Arbeitswelt liegt also durch-
aus im Trend. Dass sich ein Mentalitätswechsel vollzieht,
zeigt auch das Projekt „Erfolgsfaktor Familie. Unterneh-
men gewinnen“. Dieses Unternehmensnetzwerk, dem
sich bislang 850 Betriebe unterschiedlichster Größe an-
geschlossen haben, gibt Informationen über familienbe-
wusste Personalpolitik. Die Palette familienfreundlicher
Maßnahmen reicht von der flexiblen Arbeitszeitgestal-
tung über Eltern-Kind-Büros bis zur Notfallbetreuung.
Ein weiterer Baustein sind die lokalen Bündnisse für
Familie, die ebenfalls auf eine Initiative von Renate
Schmidt zurückgehen. Mittlerweile gibt es bundesweit
mehr als 450 solcher Bündnisse, die an mehr als
660 Standorten tätig sind und die Wohnorte von mehr als
der Hälfte aller Menschen in unserem Land abdecken.
Wir Sozialdemokraten haben umfangreiche Maßnah-
men für ein kinderfreundliches Deutschland angepackt
und in den Koalitionsverhandlungen dafür gesorgt, dass
diese erfolgreiche Politik fortgesetzt wird.
Abschließend stelle ich fest: Natürlich sind die Le-
benslagen junger Eltern und Mütter nicht frei von Pro-
blemen. Selbstverständlich gibt es noch viel zu tun, da-
mit Familienleben und Arbeitsleben in Deutschland
noch besser in Einklang gebracht werden können. Ich
habe aufgezeigt: Wir Sozialdemokraten beschreiten seit
Jahren einen erfolgreichen Weg, und wir werden ihn
weitergehen. Dafür brauchen wir gute Ideen und Durch-
setzungskraft. Was wir nicht brauchen, sind Anträge wie
den, über den wir heute sprechen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/7482 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14711
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Vizepräsidentin Petra Pauverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateKünast, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDen Klimawandel wirksam durch Urwald-schutz bekämpfen – Agrarüberschüsse in denErhalt der Urwälder investieren– Drucksache 16/7710 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Cornelia Behm von der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorge-legt, der darauf abzielt, die Agrarüberschüsse der EUdem Urwaldschutzprogramm der Weltbank zum Teil zurVerfügung zu stellen. Das ist nicht einfach nur eine gutegrüne Idee, sondern wichtig und begründet. Es gibt einenSachzusammenhang. Ich will Ihnen gerne erläutern, wa-rum ich das so sehe.Unser Planet ist zu etwa 30 Prozent mit Wald bedeckt.Das entspricht knapp 4 Milliarden Hektar. Die ausge-dehntesten Waldgebiete sind die borealen Wälder inFinnland, Sibirien und Kanada. Sie machen immerhin1,4 Milliarden Hektar, also ein Drittel der Gesamtwald-fläche, aus.Hinzu kommen die tropischen Regenwälder – in derDebatte wird immer wieder über sie gesprochen – inMittel- und Südamerika, in West- und Zentralafrika so-wie in Südostasien. 1950 schätzte man die Flächengrößeder tropischen Regenwälder auf 16 bis 17 MillionenQuadratkilometer. 1982 ergaben die Schätzungen eineFläche von 9,5 Millionen Quadratkilometern. Drei Jahrespäter betrug die Fläche 1 Million Quadratkilometer we-niger. So ging es immer weiter bergab.Wald ist der größte CO2-Speicher, insbesondere auf-grund der hohen Produktivität der Tropenwälder. DerWald ist das größte Landökosystem mit der größten Ar-tenvielfalt. Allein im tropischen Regenwald leben zweiDrittel der landgebundenen Arten. Das sind gute Gründe,die Waldökosysteme zu schützen und sie, wenn man sienutzt, nachhaltig zu bewirtschaften.
Die Waldvernichtung, der Raubbau am Wald, hält an,trotz früher Erkenntnisse; ich erinnere an die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ und an denBericht „Schutz der tropischen Wälder“ von 1990. DieHauptursachen für die Waldvernichtung sind der illegaleHolzeinschlag und die Umwandlung in Acker- und Wei-deflächen. Zurzeit befinden sich 1,4 Milliarden Hektarrechtmäßig unter dem Pflug. Die Flächenreserve inNord- und Lateinamerika beträgt 5 Prozent und ist damitsehr gering. Der Druck auf die Fläche ist ungeheuergroß. Ich verweise auf den Artikel von Emilio Rappold,der heute von dpa veröffentlicht wurde: „Gier nachFleisch und Soja tötet den Amazonas-Urwald in Rekord-tempo.“Man muss die Waldvernichtung verhindern. Aberwie?Erstens. Wir haben ein Urwaldschutzgesetz vorgelegt,um den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz zu ver-bieten. Die Umsetzung wäre ein Weg gewesen, Waldver-nichtung zu verhindern. Sie haben das abgelehnt. Eineentsprechende Regelung fehlt noch immer.Zweitens. Waldvernichtung kann verhindert werdendurch Unterschutzstellung, also durch die Schaffung vonNationalparks mit Nutzungseinschränkungen bzw. -ver-boten. Weltweit gibt es in rund 120 Ländern mehr als2 200 Nationalparks. Ich möchte einen Vergleich anstel-len: Deutschland hat 2,6 Prozent des Bundesgebietes un-ter Schutz gestellt und 13 Nationalparks geschaffen. InKanada gibt es immerhin 43 Nationalparks. Das armeTansania hat ein Viertel der Landesfläche unter Schutzgestellt. Brasilien hat Ende 2006 das größte Urwald-schutzgebiet der Erde geschaffen; es umfasst 16 Millio-nen Hektar und ist damit fast halb so groß wie Deutsch-land.Der gewaltige Nutzungsdruck auf die Fläche erfordertaber nicht nur die Ausweisung von Schutzgebieten, son-dern auch deren Sicherung. Wälder müssen nachgefors-tet und neu begründet werden. Es müssen finanzielleAnreize für die Flächenbesitzer geschaffen werden, da-mit der Raubbau eingedämmt wird.
Dafür brauchen diese armen Länder Geld. Es ist nur ge-recht, dass die Industrieländer als Beitrag zum interna-tionalen Klima- und Biodiversitätsschutz gewisse Kom-pensationszahlungen an diese Länder leisten; denn dieIndustrieländer verschmutzen die Umwelt, sie importie-ren Futter und andere Agrarprodukte in einer Größen-ordnung, die den Druck auf die Flächen weiter erhöht,und sie selbst haben kaum noch Urwälder. Ich erinneredaran, dass es in Deutschland keine Urwälder mehr gibtund nur 2,6 Prozent der Fläche unter Schutz gestelltsind.Wenn Sie sich fragen, warum gerade nicht ver-brauchte Haushaltsmittel der Agrarpolitik dafür verwen-det werden sollen, dann möchte ich auf den folgenden
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Cornelia BehmSachzusammenhang verweisen: 10 Prozent der Treib-hausgasemissionen, die die globale Erwärmung antrei-ben, kommen aus der Landwirtschaft. Es muss alles da-für getan werden, dass die globale Erwärmung unter2 Grad bleibt.
Es muss alles dafür getan werden, dass die Artenvielfaltnicht weiter so rasant abnimmt.Jeder muss dazu den Beitrag leisten, den er zu tragenimstande ist. Die EU kann leisten, was wir in unseremAntrag gefordert haben, nämlich 200 Millionen Euro – –
Kollegin Behm, diese Erläuterung müssen wir auf die
nächste Beratung verschieben. Sie müssen bitte zum
Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – Die EU kann der Forest
Carbon Partnership Facility 200 Millionen Euro Rest-
mittel aus dem Agrarhaushalt 2007 zur Verfügung stel-
len; denn so besteht immerhin die Chance, dass die är-
meren Länder mit ihrem großen Reichtum an Urwäldern
ihren Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten können.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Cajus
Julius Caesar das Wort.
Verehrte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Der Erhalt unserer Urwälder ist von herausragen-der Bedeutung. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir alledafür kämpfen und uns dafür einsetzen, und zwar überParteigrenzen und auch über Ländergrenzen hinweg. Esist ein Herzensanliegen der Union und auch mein persön-liches Herzensanliegen – das habe ich schon in der Ver-gangenheit von hier aus in diesem Hause vorgetragen –,dass wir dieser Waldvernichtung Einhalt gebieten. Des-halb setze ich auf Sie alle, dass wir gemeinsam dafürkämpfen, dieses Ziel zu erreichen.
Die Zerstörung schreitet maßgeblich voran. Die Be-deutung der Urwälder ist groß. Dort kommen rund3 500 Arten vor und sehr viele weitere Pflanzenarten.Dies ist für die Artenvielfalt von großer Wichtigkeit.Aber wir müssen auch feststellen, dass rund 1 000 Artenvom Aussterben bedroht sind. Wir stellen fest, dass jähr-lich rund 13 Millionen Hektar Tropenwald zerstört wer-den. Das heißt, der Wald verschwindet vollständig. Nurrund die Hälfte dieser Fläche wird wieder bepflanzt unddavon nur ein Teil als Wald, ein Großteil mit Palmöl-plantagen, die dazu dienen, den Ertrag zu steigern, aberunter dem Gesichtspunkt der Biodiversität einen deutlichgeringeren Wert haben. Der Ertrag dieser Plantagen liegtjedenfalls sehr hoch. Vieles wird nicht weiter genutzt.Nach einer vorübergehenden landwirtschaftlichen Nut-zung wird die Fläche ausgelaugt, der Feinboden ver-schwindet durch Erosion. Es bleibt nur noch brauner Bo-den. Das Gebiet wird zur Steppe, und die Wüste schreitetvoran. Diese Beispiele zeigen: Wir müssen dies verhin-dern.
Ich habe ein Bild aus Indonesien mitgebracht.
Dort sieht man, wie zerstörerisch die Wirkung einer sol-chen Vorgehensweise ist und dass dringender Hand-lungsbedarf an dieser Stelle gegeben ist.Betrachten wir einmal einige Länder. In der Elfen-beinküste sind von ursprünglich 15 Millionen Hektarnoch rund 3 Millionen Hektar Tropenwald vorhanden. InIndonesien, das die größten Waldvorkommen hat, ist inden letzten Jahren noch etwa die Hälfte übrig gebliebenund die teilweise nicht einmal im Urzustand. Hinzukommt, dass in Madagaskar 80 Prozent vernichtet wur-den und nur noch 20 Prozent vorhanden sind. In Nigeriahaben wir 90 Prozent des Regenwaldes verloren.Wir stellen den Klimaschutz vorne an; er ist von gro-ßer Bedeutung. Diese Bundesregierung hat bei den Ver-handlungen auf internationaler Ebene Herausragendesgeleistet und die nationalen Ziele als Vorbildfunktion vo-rangestellt. Ich denke, wir können uns sehen lassen. Wirdanken unserer Bundeskanzlerin, Angela Merkel, wirdanken dem Umweltminister und auch der Bundesregie-rung dafür, dass sie hier so aktiv waren und so viel um-gesetzt haben.
Ich denke, dass es wichtig ist, dass man die Verhält-nismäßigkeit des Einsatzes der finanziellen Ressourcensieht. Angesichts der Zerstörung der Regenwälder müs-sen wir schauen, dass wir uns international mehr enga-gieren; denn auch mit geringeren finanziellen Ressour-cen ist in Projekten letztendlich viel zu erreichen.In Indonesien – dort gibt es etwa 20 Millionen HektarTorfregenwald – werden in einen Hektar etwa 4 000 Ton-nen reiner Kohlenstoff gespeichert. In den Wäldern inDeutschland sind es ungefähr 150 Tonnen pro Hektar.Auch das zeigt die große Bedeutung.Wir sehen die zerstörerischen Kanäle. Zunächst ein-mal wird der Torfregenwald trockengelegt. Dann erfolgtdurch kilometerlange Kanalsysteme die Entwässerung.Dann entstehen Brände. Wir haben der Medienbericht-erstattung entnehmen können, dass bei den Bränden aufBorneo so viel CO2 freigesetzt wurde, wie Deutschlandim Rahmen des Kioto-Protokolls in den letzten zehn Jah-ren eingespart hat. Daran erkennt man die große Bedeu-tung der Maßnahmen zum Schutz der Wälder. Wir allesind aufgerufen, hier aktiv zu werden.
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Cajus Caesar
Ihr Antrag „Den Klimawandel wirksam durch Ur-waldschutz bekämpfen – Agrarüberschüsse in den Erhaltder Urwälder investieren“ geht im Bereich des Urwald-schutzes in die richtige Richtung. Natürlich muss mandarauf achten, dass man Geld nicht zweimal verteilenkann. Die Mittel, die im Jahr 2007 für die Landwirt-schaft bereitgestellt wurden, sind aufgrund entsprechen-der Beschlüsse bereits im Rahmen von Projekten gebun-den. Die Experten und die Verantwortlichen sagen, dassim Jahre 2008, wenn man seriös handelt, keine zusätzli-chen Gelder zur Verfügung stehen werden. Denn es istso: Wenn man das Budget überschreitet, dann sind dieseGelder durch nationale Mittel abzudecken. Wenn manAnträge formuliert und einbringt, dann muss man auchseriöse Finanzierungsvorschläge machen. Da Sie das inIhrem Antrag nicht getan haben, können wir ihm nichtzustimmen.Ich darf an dieser Stelle sagen: Die Bundesregierunghat auch im Haushalt 2008 entsprechende Akzente ge-setzt. Für den Tropenwaldschutz stehen in diesem Haus-halt 125 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 40 Mil-lionen Euro stehen für den Schutz der biologischenVielfalt zur Verfügung; in den Jahren 2009 und 2010wird dieser Betrag um jeweils 15 Millionen Euro jähr-lich aufgestockt. Das sind, wie ich denke, Aktivitätender Bundesregierung, die man würdigen sollte.
Uns ist wichtig, im Interesse unserer Kinder bzw. derzukünftigen Generationen tätig zu werden. Deshalb hatdie Bundesregierung aus Union und SPD richtungswei-sende Beschlüsse gefasst. So werden auch für internatio-nalen Maßnahmen in diesem Bereich Gelder zur Verfü-gung gestellt, und zwar aus dem Erlös des Handels mitden Emissionsrechten. Für Maßnahmen, die nicht aufnationaler, sondern auf internationaler Ebene durchge-führt werden, stehen über 100 Millionen Euro zur Verfü-gung. Das muss man auf all die Ansätze, die ich geradegenannt habe, noch draufsetzen. Wenn man das tut, stelltman fest: In finanzieller Hinsicht gehen wir weit über diein Ihrem Antrag formulierten Forderungen hinaus. Ichdenke, der Weg der Bundesregierung ist richtig.
Ich darf auf weitere Aktivitäten hinweisen. Nach derdiesjährigen CBD-Konferenz übernimmt Deutschlandfür zwei Jahre ihren Vorsitz. Wir werden uns für die bio-logische Vielfalt in diesem Bereich maßgeblich einset-zen. Die Koalitionsfraktionen werden mit Blick aufdiese Konferenz ganz konkrete Vorschläge erarbeitenund einen entsprechenden Antrag auf den Tisch legen.Wir können aktuell bereits Erfolge vorweisen, zum Bei-spiel die Selbstverpflichtung der Holzwirtschaft im Rah-men des EU-Aktionsplans FLEGT.Es kommt darauf an, dass Kontrollmechanismen ent-wickelt werden, die dazu beitragen, dass die Maßnah-men, die wir bereits eingeleitet haben, umgesetzt wer-den. Es ist wichtig, dass konkrete Vorschläge entwickeltwerden – ich nenne beispielsweise den Vorschlag des Er-werbs von Konzessionen –, um eine nachhaltige Bewirt-schaftung sicherzustellen. Denn die Menschen vor Ortbrauchen diese Einnahmen, um überleben zu können.Wir müssen die Menschen, die vor Ort leben und arbei-ten, mit einbeziehen. Das ist eine wichtige soziale Kom-ponente. Darüber hinaus müssen wir für eine nachhaltigeBewirtschaftung der Wälder mit schützenswerten Kern-zonen eintreten. Das ist der richtige Weg, den Union undSPD gemeinsam vorschlagen, weitergehen und erfolg-reich zu Ende gehen werden.Es ist sehr wichtig, der Tropenwaldvernichtung Ein-halt zu gebieten. Ich denke, ich darf sagen: Wir tretengemeinsam für die Erhaltung des Urwaldes ein. Wir wol-len eine nachhaltige Entwicklung, um die Lebensgrund-lagen für die zukünftigen Generationen zu sichern. DieUnion und die Koalition sind auf dem richtigen Weg.Wir werden erfolgreich sein.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich will nahtlos an das anknüpfen, wasHerr Caesar zuletzt gesagt hat: Ich bin angesichts derAufgaben, vor denen wir stehen, sehr dafür, Gemein-samkeiten herauszustellen. Man muss dennoch genauhinschauen, was in einem Antrag steht und welche Ziel-setzungen damit verbunden sind.Die FDP hat sich für Klimaschutz in besondererWeise eingesetzt; die Aktivitäten meiner Kollegin Chris-tel Happach-Kasan im federführenden Ausschuss für Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sind jabekannt. Wir haben einen Antrag eingebracht, die Wäl-der als CO2-Senken anzuerkennen. Wir sind sehr daraninteressiert, Ökowaldsysteme zu schützen. Wir habendarüber hinaus ein Positionspapier für Klimaschutzdurch effektive Landwirtschaft entwickelt. Gesichts-punkte der Nachhaltigkeit sind uns also nicht fremd.Lieber Kollege Caesar, Sie haben ein Bild von Indo-nesien gezeigt. Ich will hier keinen Bruch zwischen unsbeiden herstellen, muss aber sagen: Gerade Sie alsGroße Koalition müssen sich fragen, ob Sie Indonesienmit Ihrer Politik der Biokraftstoffquote, mit dem Bei-mischungszwang, helfen.
Ich glaube, dass der Beimischungszwang dazu führenwird, dass der Raubbau in diesen Regionen voranschrei-tet, weil sich die Kleinen vor Ort gegen die Großen – ge-gen die, die in Europa die Ölpolitik bestimmen – nichtwehren können.
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Hans-Michael GoldmannLassen Sie mich jetzt etwas zu den Grünen sagen. DieGrünen haben bis jetzt für sich in Anspruch genommen– wir haben sie dabei begleitet; später haben das auchdie Sozialdemokraten und dann auch die CDU/CSU ge-tan –, den deutschen Bauern, den europäischen Bauernmit einer verlässlichen Politik Planungssicherheit zu ge-ben. Minister Seehofer hat gestern im Ausschuss nocheinmal deutlich gemacht, dass wir daran festhalten wol-len. Das heißt, die Mittel, die die europäische Ebene fürdie Landwirtschaft, aber auch für den ländlichen Raumbereitstellt, stehen bis 2013 nicht zur Disposition.
Deshalb ärgert es mich, liebe Cornelia Behm, wennvon Frau Künast ein Gastbeitrag zu lesen ist, in dem sieerklärt, die Agrarsubventionen – die den größten Postenim EU-Haushalt ausmachen – gehörten endlich abge-schafft, während die Grünen im Ausschuss einen Antragnach dem anderen stellen – zuletzt den Antrag aufDrucksache 16/7709 zum „Gesundheitscheck der euro-päischen Agrarpolitik“ –, in dem sie mehr Geld für Kli-maschutz fordern, in dem sie mehr Geld für den ländli-chen Raum fordern, in dem sie mehr Geld für einWassermanagement und ähnliche Dinge fordern, in demsie eine Erhöhung der Modulationsmittel fordern. Das istnichts anderes als ein Umschichten von sogenanntenSubventionen. Den Grünen fehlt es in diesem Fall an je-der Form von Glaubwürdigkeit. Das ist außerordentlichbedauerlich.
Liebe Cornelia Behm, ich bin dafür, wie Herr Caesares aufgezeigt hat, etwas für den Urwald und die Ökosys-teme zu tun. Das ist gar keine Frage. Aber es kann nichtangehen, dass wir ausgerechnet jetzt, wo endlich einbisschen Spielraum für die Landwirtschaft entsteht, wodie Milchbauern anfangen, aufzuatmen, weil sie erstmalsin der Lage sind, mit Grünland – das, nebenbei gesagt,eine hervorragende Ökobilanz hat – Ertrag zu erwirt-schaften, ihr diesen gleich wieder nehmen. So kann Poli-tik in diesem Bereich nicht betrieben werden.
Wie gesagt, es ärgert mich, wenn jetzt im Rahmen derGrünen Woche in der Presse zu lesen ist, was Frau Kün-ast sagt, und ihr im Ausschuss genau das Gegenteil da-von fordert. Das ist wirklich nicht glaubwürdig, dasschadet unserer gemeinsamen Sache.Lassen Sie uns gemeinsam den Weg beschreiten, wieHerr Caesar das beschrieben hat, wirkliche Hilfe zu ge-währen! Lassen Sie uns aber auch den heimischen Land-wirten Planungssicherheit geben! Wir sind im Momentgerade dabei, die Idee der regionalen Vermarktung, dieIdee der ökologischen Agrarwirtschaft weiter zu veran-kern. Dafür brauchen die Landwirte in Deutschland ver-lässliche Rahmenbedingungen. Im Grunde genommenseid ihr Grünen doch die Miterfinder der Kulturland-schaftsprämie, mit der bis 2013 umgeschichtet wird:dass nicht mehr die Produktion gefördert wird, sonderndas gute fachliche Tun auf der Fläche. Cross Complianceist doch nichts anderes als praktizierter Umweltschutz,praktizierter Naturschutz und praktizierter Verbraucher-schutz.
Ich bitte euch sehr, in diesen Fragen nicht dauernd Wi-dersprüche in den Raum zu stellen, sondern eine Liniezu fahren, die uns gemeinsam voranbringt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Heinz Schmitt aus der SPD-
Fraktion.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Durch die Vorreden habenwir uns schon über den Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen informieren können. Ich denke, dem in dem Antraggenannten Ziel können wir alle zustimmen, insbesonderedie Fachpolitiker, die sich mit der Klimapolitik und demSchutz der Vielfalt des Lebens, also der Biodiversität,beschäftigen. Beide Themen gehören unmittelbar zu-sammen. Ohne Klimaschutz gibt es keine Fortschrittebeim Schutz der Biodiversität – und natürlich umge-kehrt.Urwälder – in der Regel Tropenwälder – sind von he-rausragender Bedeutung für das Weltklima. Sie sind rie-sige Speicher für das Klimagas CO2. Man sagt zum Bei-spiel auch, das Amazonasgebiet sei die grüne Lunge derErde. Urwüchsige Wälder sind auch Schatzkammern derbiologischen Vielfalt.Es gibt also mehr als einen Grund, diese speziellenÖkosysteme verstärkt zu schützen. Dennoch werdendiese Waldgebiete in einem atemberaubenden Tempozerstört. Während der 30 Minuten, die wir hier debattie-ren, verschwindet weltweit eine Waldfläche in der Größevon über 1 000 Fußballfeldern. In einem Jahr verlierenwir eine Waldfläche in der Größe des BundeslandesBayern, das ja kein kleines Bundesland ist.Um diese verheerende Entwicklung zu stoppen, müs-sen wir rasch handeln. Mit welchen Instrumenten diesgeschehen soll, das ist die Frage. Darüber haben wirheute auch schon gesprochen.Gerade beim Schutz der Tropenwälder handeltDeutschland vorbildlich. Deutschland ist an verschiede-nen Projekten beteiligt, zum Beispiel an der Waldpart-nerschaft für das Kongobecken und am Programm AsiaForest Partnership. Außerdem unterstützen wir das bra-silianische Pilotprogramm zur Erhaltung der tropischenRegenwälder, und wir beteiligen uns am Kampf gegenden illegalen Holzeinschlag im Rahmen des EU-Ak-tionsplans FLEGT.
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Heinz Schmitt
Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Es gibt bereits diefeste Zusage, eine ganz neue Initiative unter dem Dachder Weltbank zu unterstützen. Deutschland hat40 Millionen Euro für die sogenannte Forest CarbonPartnership Facility bereitgestellt. Die FCPF – so dieAbkürzung – ist zunächst ein Pilotprojekt. Damit sollendie Entwicklungsländer unterstützt werden, die ihreWälder langfristig schützen und damit Emissionen, diedurch Entwaldung entstehen, vermeiden helfen.Die Weltbank und die beteiligten Geberländer wollenmit der FCPF Erfahrungen und Wissen sammeln. DiesePilotphase ist vom Jahr 2008 bis zum Jahr 2012 ange-setzt. Falls die Errichtung dieser Waldpartnerschaft er-folgreich sein wird, soll daraus mittelfristig ein weltwei-tes Programm für den Waldschutz entwickelt werden.Dieses Vorhaben geht mit dem Beschluss der Weltge-meinschaft auf der Konferenz in Bali einher, wo dasThema Emissionen durch Entwaldung zu einem zentra-len Thema der Verhandlungen bis 2009 gemacht wurde.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen, dass Sie mit Ihrem Antrag einen so hohen Bei-trag von der EU fordern, geht also an den bereits be-schriebenen Vorhaben der Weltbank vorbei. Wie gesagt:Die FCPF ist noch ein Versuch. Das sollte man wissen.Die benötigten Mittel dafür belaufen sich auf250 Millionen Dollar für einen Zeitraum von fünf Jah-ren. Ein großer Betrag davon ist bereits fest zugesagt,insbesondere aus den EU-Ländern. Es besteht aber einweiterer Finanzierungsbedarf. Die in Ihrem Antrag ge-nannten 200 Millionen Euro sind dabei bei weitem zuhoch angesetzt. Bevor neue Geldgeber angesprochenwerden, müssen die Einzelheiten dieses neuen Instru-mentes abschließend geklärt und untersucht werden.Ein ganz wichtiger Punkt: Es ist auch zu überlegen,ob eine so wichtige Aufgabe wie der Urwaldschutz ge-nerell aus ungenutzten Haushaltsmitteln finanziert wer-den sollte. Der Schutz der Wälder in den Tropen solltenicht aus Restposten finanziert werden. Sollte sich dieFCPF bewähren, dann kann man sicherlich auch übereine ordentliche Finanzierung des Urwaldschutzes durchdie EU nachdenken.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen, aus diesen Gründen müssen wir Ih-ren Antrag ablehnen, so leid es mir persönlich auch tut.Im Ziel sind wir uns dennoch einig.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Waldschutz ist ein lebenswichtiges, ja überlebenswichti-ges Thema. Es ist gut, dass das Problem der Entwaldungin Bezug auf die zunehmende Erderwärmung – auch imUmfeld von Bali – wieder stärker ins Blickfeld geraten ist.Indonesien wurde bereits als Beispiel genannt. Aufgrundgroßflächiger Abholzungen steht dieses Land mittlerweileauf Platz drei der Liste mit den weltweit größten Emitten-ten von klimaschädlichen Gasen. Sollten die bis zu20 Meter dicken Torfböden unter den Wäldern Zentral-Kalimantans vollständig trockengelegt werden, würden50 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent nach und nachfreigesetzt. Das entspricht ungefähr dem 50-Fachen desCO2-Ausstoßes Deutschlands. Diese Zahlen zeigen ganzklar: Tropenwaldschutz ist nicht nur Schutz der Biodiver-sität, sondern immer auch Klimaschutz.
Wir unterstützen die Grünen bei dem eigentlichenZiel ihres Antrags. Aber das vorgeschlagene Instrumentlehnen wir ab. Die Forest Carbon Partnership Facilityder Weltbank, um die es hier geht, ist in unseren Augenleider der direkte Weg, den Regelwaldschutz in den Han-del mit Treibhausgaszertifikaten einzubinden. Genau dashalten wir für einen falschen Weg.
Bereits jetzt ist die Bundesrepublik der größte Geber derPCFC. Das ist kein Wunder; denn das BMZ hat sie überJahre mitentwickelt. Von den 100 Millionen Euro kom-men allein 40 Millionen Euro aus Deutschland. Die Grü-nen wollen nun, dass die EU noch einmal 200 MillionenEuro draufpackt. Aber wofür? Zunächst sollen 20 Län-der fit gemacht werden, damit sie in der Lage sind, denwirtschaftlichen Wert des Waldes und der Abholzungenmonetär zu erfassen. Im zweiten Schritt sollen ausge-wählte Länder für vermiedene Abholzungen entlohntwerden. Das hört sich erst einmal gar nicht so schlechtan. Doch letztendlich läuft das Ganze darauf hinaus, ver-miedene Abholzungen in ein Handelssystem mit Treib-hausgasen einzubeziehen.
Es geht gerade nicht darum, einen Fonds zu bilden, umgroßflächig Schutzgebiete zu finanzieren und gegebe-nenfalls Nutzer zu entschädigen. Eine solche Strategiewürden wir unterstützen. Indonesien hat gerade erst an-geboten, für 5 bis 15 Dollar pro Hektar dafür zu sorgen,dass die Entwaldung in Kalimantan unverzüglich ge-stoppt wird. Ähnliche Angebote der Kompensation ka-men aus anderen Waldländern. Seltsamerweise hat nie-mand auf Bali darauf reagiert. Die Weltbank hatte geradedie PCFC aus dem Hut gezaubert.Klimapolitisch ist die Einbindung des Tropenwald-schutzes in Kohlenstoffmärkte im besten Fall ein Null-summenspiel. Das, was an Abholzung und damit anEmissionen vermieden würde, würde über den Emis-sionsrechtehandel automatisch in Europa mehr ausgesto-ßen. So funktioniert dieser Markt. Der Rückgang derEntwaldung muss in unseren Augen aber zusätzlich zuden Reduktionsverpflichtungen der Industriestaaten er-folgen. Ansonsten verfehlen wir das 2-Grad-Ziel.
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Heike HänselAbgesehen davon bestehen jede Menge ungelöstemethodische Probleme. Wie werden beispielsweiseBaseline und Referenzszenario bestimmt? Gehen wirhier von sinkenden Abholzungsraten wie in Brasilienoder von steigenden wie in Indonesien aus? WandernAbholzungen nach Zertifikatszuteilung einfach in andereGebiete? Wer bekommt überhaupt Zertifikate? Was pas-siert, wenn der Wald zum Beispiel durch Blitzschlag ab-brennt? Das zusätzliche CO2, das über den Zertifikats-weg in Europa dann bereits ausgestoßen wurde, bleibtschließlich mehr als 100 Jahre in der Atmosphäre.Klar ist: Es ist ein höchst kompliziertes System mitjeder Menge Manipulationsmöglichkeiten. Wir kennendas leidlich von den CDM-Projekten. Wir halten deshalbdie direkte Finanzierung von Schutzgebieten, nachhalti-ges Waldmanagement und gegebenenfalls Nutzerent-schädigungen für eine bessere Lösung, und zwar immerunter Einbeziehung der in und von den Wäldern leben-den Bevölkerung. Wir wissen, dass das kein einfacherWeg ist. Es ist aber in unseren Augen der bessere Weg.Danke.
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden jetzt zum wiederholten Male in dieser Legis-
laturperiode über das Thema Urwaldschutz, auf der
Grundlage verschiedener Anträge und in verschiedenen
Zusammenhängen. Das ist sicherlich gut angesichts der
zeitlichen Dimension der Entwaldung. Manchmal denke
ich aber auch, dass diese Debatten, die wir führen, später
einmal als historische Debatten betrachtet werden, dass
eine Politikergeneration nach uns sich nur noch in
schriftlicher Form darüber informieren kann, über was
wir hier eigentlich geredet haben; denn es kann gut sein,
dass wir in 10 oder 15 Jahren solche Debatten gar nicht
mehr führen können, weil dann das, über das wir hier re-
den, nicht mehr vorhanden ist.
In dem Sinne, Frau Kollegin Hänsel, ist es schon frag-
würdig, wenn Sie hier das Instrument der Forest Carbon
Partnership Facility an sich infrage stellen. Natürlich
wäre es schön, es würde so viel Geld vom Himmel reg-
nen, dass wir alles auf einmal finanzieren könnten. Aber
ich glaube, wenn wir die Möglichkeit haben, über einen
internationalen Fonds die Entwaldung zu stoppen und
der Zerstörung Einhalt zu gebieten, dann ist es auch ge-
rechtfertigt, das in den Kohlenstoffhandel ein Stück weit
einzubeziehen. Wir müssen sehen, dass ein Land wie In-
donesien ganz legal ein Drittel seiner verbleibenden
Waldfläche zur Konversion freigegeben hat, um dort
Palmölplantagen errichten zu können. Das machen die
nicht aus Jux und Tollerei; Indonesien ist ein armes
Land. Die CO2-Emissionen, die daraus entstehen, sind
real; das ist kein theoretisches Rechenspiel. Ich glaube
schon, dass es Sinn machen kann, über CDM und Zerti-
fikatehandel Geld zur Verfügung zu stellen, um das zu
schützen und zu bewahren.
Dass das nicht das Einzige an Geld sein muss, was
wir dorthin geben, da gebe ich Ihnen recht. Deswegen
kommen die Mittel, die die Bundesregierung in einer
Vorreiterrolle zur Verfügung stellt, aus anderen Quellen.
Ich kann als Entwicklungspolitiker an dieser Stelle nur,
wie es die Kollegen vor mir schon getan haben, noch
einmal lobend erwähnen, dass wir seitens des Bundesmi-
nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung jetzt insgesamt fast 1 Milliarde Euro für Kli-
maschutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern zur
Verfügung stellen, davon – es wurde schon gesagt –
165 Millionen Euro für Tropenwaldschutz und Schutz
der Biodiversität, und dass wir bei der Forest Carbon
Partnership Facility mit 40 Millionen Euro der größte
Geber sind.
Ich möchte an dieser Stelle aber neben den Klima-
schutzfragen und den Fragen der Biodiversität – die sehr
wichtig sind, weswegen wir auch die Tropenwälder
schützen – auch die Armutsdimension in diese Debatte
einbringen. Denn der Grund, warum auf vielen Tropen-
wäldern ein hoher Druck liegt, ist auch darin zu suchen,
dass die Länder nicht über die Hightechindustrie und die
Wirtschaftskraft verfügen, um auf andere Weise Einnah-
men generieren zu können.
Deswegen, Herr Kollege Goldmann, finde ich es
nicht zielführend und auch nicht lauter, wenn man die
Beimischungspflicht in Deutschland kritisiert und sagt,
dass das dazu führe, dass Tropenwälder abgeholzt wür-
den. Denn man kann das auch so organisieren, dass die
Tropenwälder geschützt werden und trotzdem die Ent-
wicklungsländer Flächen für Biotreibstoffe entwickeln.
Es gibt ganz viele brachliegende Flächen, auf denen das
möglich ist, nicht nur in Indonesien, sondern auch in La-
teinamerika und in Afrika. Darin liegen große Chancen
für die Entwicklungsländer, und gleichzeitig wird bei
uns das Klima geschützt. Wir werden dafür sorgen, dass
hier Zertifizierungssysteme greifen, dass nur Öl aus
nachhaltig angebauter Biomasse eingeführt werden
kann. Ich würde den Entwicklungsländern diese Chance
nicht verwehren wollen.
Auf der anderen Seite müssen wir Geld in die Hand
nehmen, damit die Entwicklungsländer für die Einnah-
men, die ihnen verloren gehen, wenn sie nicht die Wäl-
der abholzen, entschädigt werden. Das haben wir in
Europa schließlich auch gemacht, als wir noch nicht die
Industrie hatten, die wir jetzt haben.
Deswegen sage ich: Lasst uns die Entwicklungsländer
entwickeln, aber ihnen gleichzeitig Hilfestellung geben,
damit der Wald dort nachhaltig geschützt werden kann
und die Menschen davon profitieren können. Denn
Schutzgebiete sind ohne Einbeziehung der Menschen
nicht nachhaltig.
Kollege Raabe, kommen Sie bitte zum Schluss.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14717
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Ich komme gerne zum Schluss. – Ich glaube, dass wir
hier seitens der Bundesregierung auf einem guten Weg
sind und dass der Antrag der Grünen an sich in die rich-
tige Richtung geht. Aber zur Beschaffung des Geldes
haben wir viele Möglichkeiten. Wir sollten parteiüber-
greifend alle gemeinsam dafür sorgen, dass es zusam-
menkommt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7710 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz beraten werden soll. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Trennungsübernachtungsgeld während Aus-
landseinsatz weiterzahlen
– Drucksache 16/7002 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden der fol-
genden Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben
werden: Robert Hochbaum für die Unionsfraktion, Rolf
Kramer für die SPD-Fraktion, Birgit Homburger für die
FDP-Fraktion, Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke
und Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7002 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln
– Drucksache 16/7748 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Finanzausschuss
1) Anlage 4
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen, wo-
bei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Neuaufbruch in der Politik für Menschen mit Behin-derungen hin zur Teilhabe und Selbstbestimmung hatunter Rot-Grün begonnen. Im Sozialrecht fand dieserNeuaufbruch sogar die Unterstützung aller Fraktionen.Das Sozialgesetzbuch IX war und ist gut. Es wurde viel-fach bejubelt und gepriesen. Aber irgendwann ist dieZeit des Schulterklopfens auch einmal vorbei, und manmuss wieder anfangen, die Ärmel hochzukrempeln.
Es ist doch auffällig, dass es seit den aktiven Zeitenvon Rot-Grün gerade im Bereich des Sozialrechts fürMenschen mit Behinderungen keine Fortschritte mehrgegeben hat. Dies gilt, obwohl in der Eingliederungs-hilfe für Menschen mit Behinderungen – und nicht nurdort – nach wie vor große Strukturprobleme bestehenund die quantitative Entwicklung ganz eindeutig ist.Noch immer sind die drei großen institutionellen Blö-cke, nämlich Sonderschule, Wohnheim und Werkstatt fürMenschen mit Behinderungen, prägend für die großeMehrheit der Menschen mit hohem Unterstützungsbe-darf. Die Zahlen sind alarmierend: Im Bereich des statio-nären Wohnens stieg trotz großer Anstrengungen, dieambulanten Angebote auszubauen, die Zahl der Plätzevon 164 000 im Jahr 2000 auf nunmehr 195 000. Bei denWerkstattplätzen ist die Entwicklung noch viel dramati-scher: Es gab im Jahr 2000 einen Anstieg von 194 000auf nunmehr 268 000 mit Zuwachsraten von über4 Prozent in jedem Jahr.Damit einher geht natürlich ein entsprechender An-stieg der Kosten. Auch hier will ich eine Zahl nennen:Die Nettokosten der Eingliederungshilfe, die von denKommunen, den Sozialhilfeträgern getragen werden, be-laufen sich im Jahr 2006 auf 10,5 Milliarden Euro. Trotzdieser eindeutigen und hier nur ganz kurz angerissenenDiagnose verzeichnen wir seit 2005 einen totalen gesetz-geberischen Stillstand. Bundesregierung und Bundeslän-der fordern sich wechselseitig zum Handeln auf. Aberein greifbares Ergebnis liegt noch nicht vor. Man mussnicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, um amEnde dieser Legislaturperiode sagen zu können, dass siefür Menschen mit Behinderungen verloren gewesen ist.
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Markus KurthDies ist umso bedauerlicher, als die Große Koalitionüber die entsprechende Mehrheit verfügt, um Struktur-veränderungen anzuschieben. Aber das Einzige, das siegemacht haben, war, den Spielraum des Bundes fürStrukturveränderungen durch die Föderalismusreformeinzuschränken.Was ist nun aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen zutun? Die Voraussetzung für neue Schritte wäre zunächstdie Einsicht in die Notwendigkeit, dass es sich bei Teil-habeleistungen für Menschen mit Behinderungen umNachteilsausgleiche und nicht um Fürsorgeleistungenhandelt.Das Prinzip des Nachteilsausgleichs muss hierzum bestimmenden sozialrechtlichen Prinzip werden.
Die zweite Voraussetzung wäre eine konsequenteOrientierung an der personenbezogenen Hilfe statt einerOrganisation von Hilfe entlang existierender Strukturen,in die sich Menschen mit Behinderungen allzu oft einfü-gen müssen, ob sie wollen oder nicht.Was so selbstverständlich klingt, ist leider nicht Wirk-lichkeit. Erst im Dezember 2007 hat das Hamburger So-zialgericht entschieden, dass es dem schwerbehindertenHerrn Hans-Jürgen Leonhard zuzumuten sei, gegen sei-nen Willen in einem Heim gepflegt zu werden, obwohlein medizinisches Gutachten belegt, dass die Pflege indiesem Heim möglicherweise lebensverkürzend ist.Nach Meinung des Gerichts wäre eine Unzumutbarkeitder Versorgung in einer stationären Einrichtung nur ge-geben, wenn Herr Leonhard durch die Pflege in konkre-ter Lebensgefahr schweben würde. Dieses Urteil ist einSkandal.
Dieses Beispiel sollte uns nicht nur als Gesetzgeber zudenken geben und zum Handeln auffordern, sondern essollte uns auch als Menschen anrühren.
Denn jeder und jede von uns kann durch einen Unfalloder eine Krankheit in die gleiche Situation wie dieserHerr Leonhard kommen.Deswegen müssen, aufbauend auf den genanntenPrinzipien, die Schritte umgesetzt werden, die wir in un-serem Antrag vorschlagen: Wir brauchen die Nichtan-rechnung von Einkommen und Vermögen etwa bei derInanspruchnahme ambulanter Leistungen. Wir müssenBürokratie abbauen. Wir müssen endlich die über60 verschiedenen Berechnungsverfahren in der Einglie-derungshilfe vereinheitlichen und für die Menschen mitBehinderung transparent machen. Wir müssen die zahl-reichen verstreuten finanziellen Nachteilsausgleiche, diees jetzt schon gibt, in einem einheitlichen Teilhabegeldzusammenfassen.All das sind machbare und pragmatische Schritte. Ichhoffe, dass wir das unvoreingenommen gemeinsam inden Ausschüssen beraten können.
Ich hoffe, dass wir uns alle an Art. 19 der UN-Konven-tion über die Rechte der Menschen mit Behinderungenorientieren, die die Bundesregierung ja unterzeichnethat. Dort heißt es – Frau Präsidentin, ich komme gleichzum Schluss –:Die Vertragsstaaten … anerkennen das gleicheRecht aller Menschen mit Behinderungen, mit glei-chen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen inder Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksameund geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Be-hinderungen den vollen Genuss dieses Rechts … zuerleichtern …Wenn wir uns diese – bald völkerrechtlich verbindliche –Zielsetzung zu eigen machen, bleibt eigentlich nicht vielanderes, als dem Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen zufolgen.Danke.
Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einenAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema„Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Men-schen mit Behinderungen“. Dieser Antrag enthält einigePunkte, die ich sehr sympathisch finde. Es gibt ein paarPunkte, die ich nicht ganz so gut finde; auch das gebe ichzu. Andere finde ich wünschenswert, aber sehr schwierigin der Umsetzung, weil sie – das wurde vom KollegenKurth gerade gesagt – kostenintensiv sind.Aber der eigentliche Fehler an diesem Antrag ist, dasser viel zu spät kommt.
– Es wäre mir zu billig, jetzt zu sagen: Das hättet ihr inder Zeit machen können, als ihr regiert habt. – Doch da-rum geht es gar nicht, wenngleich das natürlich zutrifft.
Viel entscheidender ist, dass wir zu der Zeit, als Rot-Grün an der Regierung war, noch keine Föderalismusre-form hatten und es jetzt wesentlich schwieriger ist – dasmuss man einfach so sagen; darüber waren wir uns imHaus doch auch eigentlich weit und breit einig –, Ge-
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Hubert Hüppesetze zu machen, die dazu führen, dass den Kommunenund den Ländern zusätzliche Kosten entstehen.
Kollege Hüppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth?
Ja, gern.
Herr Hüppe, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Föderalismusreform mit den Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU – möglicherweise auch mit Ihrer
Stimme – und mit den Stimmen der SPD-Fraktion, mit-
hin von der jetzt regierenden Großen Koalition, be-
schlossen wurde?
Nein, ich habe das nicht kritisiert. Ich habe gesagt,wir seien uns im Großen und Ganzen einig gewesen,dass es richtig ist.Wenn Sie Ihre grünen Fraktionen in den Stadt- undGemeinderäten fragten, ob sie es richtig fänden, dass nurnoch Gesetze beschlossen werden, deren Kosten derBund trägt und nicht die Gemeinden, dann würden Siebei Ihren grünen Kolleginnen und Kollegen auf kommu-naler Ebene große Zustimmung ernten, lieber KollegeKurth.Meine Damen und Herren, wir bestreiten überhauptnicht, dass eine Weiterentwicklung der Eingliederungs-hilfe notwendig ist. Wir müssen sie wirklich zukunftssi-cher machen: nicht nur, weil die Kostenseite zu beachtenist, sondern auch, weil in vielen Bereichen die Eingliede-rungshilfe nicht mehr einer modernen Politik für Men-schen mit Behinderung im Hinblick auf gesellschaftlicheTeilhabe entspricht. Weil dies so ist, sind viele Punkte indem Antrag auch richtig.Tatsache ist, im Jahre 2006 bezogen 643 000 Men-schen Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Zahl derLeistungsempfänger steigt beständig; natürlich steigendamit auch die Kosten. Dies hat zwei Gründe. Der ersteGrund ist ein historischer: Bis 1945 wurden Menschenmit Behinderungen systematisch im NS-System erfasstund ermordet. Sie waren im Übrigen – das darf manauch angesichts des morgigen Datums sagen – die erstenOpfer des Massenmordes der Nazis. Der zweite Grundist, dass der medizinische Fortschritt Gott sei Dank dazugeführt hat, dass gerade Menschen mit Behinderungeneine deutlich höhere Lebenserwartung haben, als diesnoch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Das heißt,liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns noch we-sentlich mehr Gedanken darüber machen müssen, wiedas Hilfesystem angepasst werden muss.Was passiert mit den Menschen, die die Werkstättenverlassen, weil sie ins Rentenalter kommen? Wir sind si-cherlich alle der Auffassung, dass sie nicht im Pflege-heim, sondern in Einrichtungen der Eingliederungshilfelanden sollten.
– Das wäre noch viel besser, Frau Kollegin; das gebe ichzu. Aber einige Menschen mit Behinderungen, die jetztin Rente gehen, kommen leider in Pflegeheime. Mirwäre es lieber, sie bekämen Hilfen der Eingliederungs-hilfe.Was geschieht mit den sterbenden Menschen mit so-genannter geistiger Behinderung? Ich mag diesen Be-griff nicht; aber er steht immer noch in den Gesetzen.Haben sie geeignete Zugänge zur Palliativmedizin oderzu Hospizen? Über diese Fragen haben wir uns vor eini-gen Jahren noch keine Gedanken gemacht. Jetzt abermüssen wir uns dringend darum kümmern.Natürlich müssen wir uns auch fragen, wie wir mitder Kostenentwicklung umgehen. Insofern bin ich denGrünen dankbar, dass sie an einer Stelle offen gesagt ha-ben, egal, wie sehr die Kosten steigen, solange der Bundsich daran beteiligt, sei alles in Ordnung. Tatsächlichbrauchen wir aber echte Strukturreformen. Wenn heuteder Landkreistag und andere lautstark über die hohenKosten der Eingliederungshilfe klagen, dann ist dieszwar richtig; andererseits muss man auch wissen, dassdurch die Pflegereform die Sozialhilfe bei der Hilfe zurPflege erheblich entlastet worden ist. Dies wird seltenerwähnt, wenn man das Thema Sozialhilfekosten an-spricht.Die Reform der Eingliederungshilfe bleibt für dieCDU/CSU-Fraktion ein zentrales Thema. Wir stehenzum Koalitionsvertrag. Dort haben wir gesagt, dass wirdiese Reform mit den Gemeinden und den Ländern, abervor allen Dingen auch – das ist mir sehr wichtig – mitden Betroffenen und ihren Verbänden gestalten wollen.Letztere wissen am ehesten, wie man die Probleme lösenkann und wie die besten Hilfen aussehen. Menschen mitBehinderungen sind die Experten, wenn es um Behin-dertenpolitik geht.Darüber muss man aus meiner Sicht wirklich ergebnis-offen reden. Ich habe manchmal das Gefühl, dass diesnicht so ist und dass manchmal auch interessengeleitetargumentiert wird. Wenn ich von ergebnisoffen spreche,dann bedeutet dies auch, lieber Kollege Kurth, dass dieim Antrag vorgeschlagenen Änderungen ernsthaft ge-prüft werden müssen. Deswegen werden wir uns in denAusschüssen damit auseinandersetzen.Es gibt aber auch viele Punkte, in denen wir schon ei-nen Konsens erzielt haben. Erstens muss die ambulanteHilfe Vorrang haben, und zwar nicht, weil sie für billigergehalten wird – sie kann durchaus auch teurer sein –,sondern weil es dem Anspruch auf Teilhabe in der Ge-sellschaft entspricht, der aus meiner Sicht eher gewähr-leistet werden kann, wenn man in der gewohnten Umge-bung statt in einer Heimeinrichtung leben kann.
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Hubert HüppeAus meiner Sicht ist dafür notwendig, dass wir dieUmwelt in unseren Städten und Gemeinden barrierefreigestalten und dass Unterstützungsangebote geschaffenwerden. Man kann die Menschen schließlich nicht ein-fach auf der Straße sich selbst überlassen, wie es zumBeispiel in den Vereinigten Staaten passiert ist. Dort hatman unter dem Motto der Gleichberechtigung alle ausden Einrichtungen entlassen. Die sind dann unter denBrücken gelandet, weil sich niemand mehr um sie ge-kümmert hat. Das ist nicht unsere Politik.
Zweitens – darin sind wir uns ebenfalls einig – istnicht der Sitz der Leistungserbringer entscheidend. DasSpannungsverhältnis zwischen überörtlichem und örtli-chem Sozialträger soll aufgelöst werden – das wird imAntrag gefordert –, um eine Kostenverschiebung zu ver-meiden, die nicht an den Interessen der Betroffenenorientiert ist, sondern derjenigen, die versuchen, dieKosten wegzudrücken. Ich glaube, dass es einige Fehl-entwicklungen gibt, die wir relativ schnell beseitigensollten.Ich will zum Schluss zwei Fälle schildern, die michsehr beeindruckt haben. In meinem Landkreis Unna gibtes einen heilpädagogischen Kindergarten nur für behin-derte Kinder, die aus den anderen Städten in diesemKreis dorthin gefahren werden müssen. Die Kosten wer-den vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe getragen.Wenn man aber das Kind in einem Regelkindergartenunterbringen kann, dann trägt der Landschaftsverbandnur seinen Trägeranteil. Interessant ist dabei, obwohl daskostengünstiger ist, weil die Kosten für die Fahrt vonden Städten in die Kreisstadt entfallen, dass die Elternden Kindergartenbeitrag zahlen müssen.Ich finde es im Übrigen nicht falsch, dass die Elterneinen Kindergartenbeitrag zahlen, aber sie müssten ihngegebenenfalls auch in der Behinderteneinrichtung zah-len. Denn ich glaube, dass behinderte und nichtbehin-derte Kinder auch in diesem Punkt gleich behandelt wer-den müssen. Es kann aber nicht sein, dass derjenige, dereine Sondereinrichtung besucht, nichts zahlen muss, undderjenige, der sein Kind in einem Regelkindergarten un-terbringt, schlechter behandelt wird. Das ist meiner Mei-nung nach unter dem Gesichtspunkt der Integration nichtrichtig und entspricht nicht dem Bild, das ich von einermodernen Behindertenpolitik habe.Ich würde gerne auch auf das zweite Beispiel einge-hen, aber ich sehe schon die rote Lampe.
– Nein, dafür ist ein anderer Kollege zuständig, derschon einmal eine mitgebracht hat.Wir werden diesen Antrag gründlich prüfen. Das istdem Kollegen Kurth klar. Es wird ein sehr schwierigerWeg. Die Union hat sich aber, denke ich, dadurch ausge-zeichnet – das gilt im Übrigen auch für die anderen Frak-tionen; das muss man ihnen zugestehen –, dass wir in derBehindertenpolitik sachorientierte Entscheidungen ge-troffen haben. Wir haben auch damals in der Oppositionwichtigen Entscheidungen zugestimmt, als es um dasSGB IX und das Bundesgleichstellungsgesetz ging.
Wir sollten uns unabhängig von den Fraktionsgrenzenfür das entscheiden, was richtig ist.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Die Kollegen Kurth und Hüppe haben dieaktuelle Situation zutreffend beschrieben und Beispielegenannt. Deswegen werde ich mich in meinen Ausfüh-rungen auf den Stand der Beratungen konzentrieren. Ichfreue mich, dass durch die Initiative der Grünen heutedas Thema Eingliederungshilfe auf die Tagesordnungdes Deutschen Bundestages gekommen ist. Es ist abersehr schade, dass es dazu immer wieder der Oppositions-fraktionen im Parlament bedarf; denn eigentlich, werteKolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition,müsste die Initiative von Ihnen ausgehen.
Sie haben im Koalitionsvertrag die Weiterentwicklungder Eingliederungshilfe versprochen. Getan hat sich aberbis auf viel zerschlagenes Porzellan bei der Behinderten-beauftragten nichts.Um Ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, zi-tiere ich die entsprechende Passage aus dem schwarz-roten Koalitionsvertrag:Die Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbst-hilfe und Selbstbestimmung ist eine gesellschaftli-che Aufgabe. Gemeinsam mit den Ländern, Kom-munen und den Verbänden behinderter Menschenwerden wir die Leistungsstrukturen der Eingliede-rungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftigein effizientes und leistungsfähiges System zur Ver-fügung steht. Dabei haben der Grundsatz „ambulantvor stationär“, die Verzahnung ambulanter und sta-tionärer Dienste, Leistungserbringung „aus einerHand“ sowie die Umsetzung der Einführung desPersönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert.Wir wollen, dass die Leistungen zur Teilhabe anGesellschaft und Arbeitsleben zeitnah und umfas-send erbracht werden. Hierzu bedarf es der effekti-ven Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, das warEnde 2005. Jetzt haben wir bereits Anfang 2008, und ichfrage Sie heute: Was haben Sie davon umgesetzt?
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Jörg RohdeDie Antwort ist beschämend: Nichts. Der Versuch derVerbändebeteiligung ist bereits im Ansatz gescheitert,nachdem die Behindertenbeauftragte den Verbänden ver-kündet hat, substanzielle Änderungen stünden in dieserLegislaturperiode ohnehin nicht mehr auf der Tagesord-nung.Auch mit Ländern und Kommunen scheint es keinenDialog zu geben; sonst hätte Ihnen die Arbeits- und So-zialministerkonferenz der Bundesländer nicht im No-vember letzten Jahres mit 16 : 0 Stimmen ein Ultimatumgesetzt, bis zur nächsten Konferenz im November diesesJahres endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen. Es istkein Wunder, dass die Länder langsam nervös werden;denn – wir haben es eben schon gehört – die Ausgabender Kreise und Kommunen für die Eingliederungshilfesteigen seit Jahren kräftig. So verwundert es auch nicht,dass aus den Ländern Rufe nach einer Beteiligung desBundes an den Kosten der Eingliederungshilfe lauterwerden, wie zuletzt von der Arbeits- und Sozialminister-konferenz, wie schon erwähnt, im vergangenen Novem-ber.Völlig zu Recht wird im Koalitionsvertrag festge-stellt, dass die Unterstützung von Selbstständigkeit,Selbsthilfe und Selbstbestimmung eine gesellschaftlicheAufgabe ist, die nach Auffassung der FDP auch die fi-nanzielle Solidarität zwischen Bund, Ländern und Ge-meinden erfordert. Mit dieser Aufgabe dürfen die Kreiseund Kommunen nicht alleine gelassen werden.
In welcher Form das zu geschehen hat, muss eingehendgeprüft werden. Die FDP im Deutschen Bundestag istnoch nicht festgelegt. Klar ist aber, dass diese Mammut-aufgabe keinen Aufschub mehr duldet; denn die Weiter-entwicklung der Eingliederungshilfe ist nicht nur einesozialrechtliche Frage, sondern auch eine gesellschaftli-che Aufgabe. Es geht um Menschen und deren Chancenauf Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft.Diese Aufgabe darf man nicht auf die lange Bank schie-ben; denn jeder vergeudete Tag ist eine vergeudeteChance für viele Behinderte in Deutschland.
Mit dem Antrag der Linken zu einem Nachteilsaus-gleichsgesetz, den heute zur Beratung stehenden Vor-schlägen der Grünen für die Weiterentwicklung der Ein-gliederungshilfe sowie den Empfehlungen der Arbeits-und Sozialministerkonferenz stehen bereits mehrere Mo-delle für eine Weiterentwicklung einer teilhabeorientier-ten Politik für Menschen mit Behinderungen im politi-schen Raum. Auch die FDP wird sich mit eigenenVorschlägen in die Debatte einbringen. Wir befinden unsseit Monaten im Gedankenaustausch mit allen Akteurender Eingliederungshilfe.
Das Führen einer Diskussion setzt aber voraus, dassdie Bundesregierung überhaupt erst einmal in die De-batte über die Eingliederungshilfe eintritt. Den Hand-lungsbedarf dafür zeigt der mehr als schleppende Startdes trägerübergreifenden Persönlichen Budgets ein-drucksvoll auf. Die Bedarfsermittlung, die Leistungsge-währung sowie die Leistungserbringung hinken demfortschrittlichen und zu begrüßenden Ansatz des Persön-lichen Budgets weit hinterher. Wenn das Budget ein Er-folg werden soll, müssen jetzt geeignete Rahmenbedin-gungen dafür hergestellt werden. Wir wissen alle, dassdiese Aufgabe ein sehr großer Brocken ist. Umso wichti-ger ist es, dass die Große Koalition jetzt mit der Reformder Eingliederungshilfe beginnt; denn das Ende der Le-gislaturperiode rückt immer näher, und die Erfahrunglehrt uns, dass in Wahlkampfzeiten keine heißen Eisenmehr geschmiedet werden.Ich möchte zum Abschluss meiner Rede noch hinzu-fügen: Das ist eine der ganz wenigen Debatten zur Be-hindertenpolitik. Wir haben noch 13 Minuten; ich habedie Rednerliste gesehen. Es ist kein Redner der Bundes-regierung da. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir diePosition der Bundesregierung zum Thema Eingliede-rungshilfe und eine Mitteilung zum Stand der Beratun-gen innerhalb der Bundesregierung zu hören bekommen.
Wenn ich recht gesehen habe, ist auch die Behinder-tenbeauftragte nicht da.
Es ist sehr schade, dass wir den Dialog nicht in diesemParlament führen können; denn die Beratungen für dieGesetze sollen doch im Plenum stattfinden. Ich finde esbedauerlich; aber wir werden dann eben in den Aus-schüssen die Details beraten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Rohde, ichmöchte gleich am Anfang die Behindertenbeauftragteentschuldigen. Wie Sie wissen, werden manche Terminesehr langfristig vereinbart. So kommt es zu Terminkolli-sionen. Ich bitte hier einfach um Verständnis. Sie ist, wieich glaube, bei Verbänden im Brandenburgischen.Ich möchte noch einmal auf den einen oder anderenPunkt eingehen. Wir sind uns ja generell einig hier imHause. Wir haben alles gemeinsam gestaltet. Wir allewollen, wie ich glaube, dasselbe. Es gibt nur wenige Un-terschiede dabei.Von einem gesetzgeberischen Stillstand kann mannicht wirklich reden, Markus. Ich erinnere nur an die Ge-sundheitsreform SGB V im Bereich der häuslichenKrankenpflege. Auch die Länder und die Kommunenhaben ja Verantwortung im Rahmen der Daseins-
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Silvia Schmidt
vorsorge, die sie auch teilweise wahrgenommen haben;das wissen wir alle.Ein anderer Punkt, den du, Markus, sehr treffend an-gesprochen hast, betrifft den Bereich der Schulen. Hiermüssten die Länder handeln; das vermisst man zum Teil.So sollten sie nämlich versuchen, Kindern mit Behinde-rungen einen Besuch von normalen Schulen zu ermögli-chen. Europaweit liegt der Prozentsatz bei 80 Prozent,bundesweit liegt er bei 15 Prozent. Damit stellen wir unswirklich ein ausgesprochen schlechtes Zeugnis aus. Ichwar bei der Stiftung Pfennigparade in München. Sie hatinsoweit etwas auf den Weg gebracht, als sie ihre Son-derschulen, für Körperbehinderte und auch für alle ande-ren Kinder der Stadt München öffnete. Und es funktio-niert.Kostenintensiv ist ein Begriff, der mir, wenn er be-nutzt wird, immer etwas wehtut. Wenn ich miterlebenmuss, dass eine Gesellschaft es nicht fertigbringt, Men-schen zu unterstützen, die ihre Unterstützung brauchen,und ständig nur von Kosten redet, wird mir teilweiseschwindlig. Es gibt aber auch andere Beispiele. So hatUnna aufgezeigt – das Beispiel ist vorhin erwähnt wor-den –, wie man mit einfachsten Instrumenten wie einerWohnberatung in hervorragender Weise Kosten bei derPflegeversicherung, der Krankenversicherung, der Ein-gliederungshilfe und der Altenhilfe sparen kann. Vordiesem Hintergrund frage ich mich ernsthaft, warum wirimmer noch so den Schwerpunkt auf den stationären Be-reich legen.Lieber Kollege Hüppe, Sie haben gerade älter wer-dende Behinderte angesprochen. Bei unseren Woh-nungsbaugesellschaften stehen viele Wohnungen leer.Wir müssen keine neuen Einrichtungen bauen, sondernim Rahmen unserer gesetzgeberischen Möglichkeitendafür sorgen, dass verstärkt barrierefreier Wohnraum ge-schaffen wird. Alles andere wäre albern.
– Ich weiß das. Ich denke, wir sind uns da einig. DasEntscheidende hierbei ist ja vor allen Dingen, dass keineneuen Kosten auf uns zukommen.Liebe Kollegen, wir haben gemeinsam, auch mit denBetroffenen sowie den Leistungserbringern und denKostenträgern, das SGB IX geschaffen. Hiermit gibt esnun ein Instrument, das der medizinischen Rehabilita-tion, der Selbstbestimmung und der Teilhabe dient. AmLeben in der Gemeinschaft sollte jeder einzelne Menschmit Behinderungen teilnehmen können. Das war unserGrundanliegen. Dies haben wir in Gesetzesform gegos-sen.Was ist passiert? Das SGB IX zeigt nicht die Erfolge,die wir uns vorgestellt haben.
Ich denke nur an das Wunsch- und Wahlrecht in § 9. DasBeispiel des behinderten Herrn Leonhard, das du, Mar-kus, gesagt hast, zeigt doch ganz eindeutig: Hier wirddem Wunsch- und Wahlrecht einfach nicht nachgegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sollten unsnoch einmal gemeinsam an das entsprechende Sozialamtwenden und deutlich machen, dass das, was dort ge-schieht, einfach ein Skandal ist und sich gegen die Men-schenwürde richtet.
Wir müssen uns auch fragen, wieso es an der Umset-zung des SGB IX hapert. Eigentlich wissen wir es doch.Im Grunde genommen muss man jedem recht geben, dersagt: Die Leistungs- und die Kostenträger haben kein In-teresse daran, den Menschen mit Behinderungen dasWunsch- und Wahlrecht zu gewähren. Die Menschenmit Behinderungen könnten ja den Wunsch äußern, wo-anders zu leben als dort, wo sie jetzt leben.Neulich hat sich eine Sozialdezernentin an mich ge-wandt und gefragt: Frau Schmidt, wann geht es denn mitdem Persönlichen Budget los? Wir sollten immer vorAugen haben, dass die Bundesregierung in Person vonKarin Evers-Meyer durch die Lande reist und ständigpredigt, dass die Einführung des Persönlichen Budgetsfür Menschen mit Behinderungen ein Weg ist, den wireinschlagen sollten. Ich glaube, das müssen wir als Ab-geordnete genauso tun.
Ein ganz wesentlicher Bestandteil sind natürlich auchunsere berühmt-berüchtigten Servicestellen. Diese Stel-len arbeiten noch gar nicht so, wie wir es wollen. Die be-hinderten Menschen werden weiterhin von A nach B ge-schickt und erhalten ihre Leistungen nicht aus einerHand.
Warum existieren die Servicestellen noch nicht? Man hatwohl keine Lust, behinderten Menschen Selbstbestim-mung zuzubilligen. Das muss natürlich geändert werden.Das wissen wir. Ich möchte gern einmal das BMAS zi-tieren:Das Kernproblem ist nicht das geltende Recht,– Markus, das weißt du. –sondern das Festhalten von Leistungsträgern undLeistungsanbietern an verfestigten, interessengelei-teten Sicht- und Verfahrensweisen und natürlichauch eine eiskalte Sparwut.Genau das ist unser Problem.
Daher sollten wir uns noch einmal zusammensetzen.Dass das notwendig ist, hat auch der Antrag derGrünen deutlich gezeigt. Ich verweise auf den Fall
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Silvia Schmidt
Leonhard. Dabei geht es um SGB XII § 13. Dort steht:Ambulanten Leistungen der Sozialhilfe ist nur so langeVorrang zu gewähren, solange sie nicht mit unzumutba-ren Mehrkosten verbunden sind. In diesem Paragrafenist aber auch geregelt, dass die Versorgung zumutbarsein muss. Das war im Fall Leonhard überhaupt nicht so.Man hat sich über das Kriterium der Zumutbarkeit hin-weggesetzt. Man hat billigend in Kauf genommen – dasGutachten hat es aufgezeigt –, dass das Leben diesesMannes automatisch verkürzt wird, wenn er in eine Ein-richtung kommt. Ich muss noch einmal sagen: Das istskandalös.
Der berechtigte Bedarf eines Einzelnen, das Wunsch-und Wahlrecht, muss nicht nur im Persönlichen BudgetAusdruck finden; vielmehr muss dieser Bedarf, egal wieklein er ist, uns dazu veranlassen, der Menschenwürdeeines jeden Einzelnen auch gerecht zu werden. Wenn wirdas Wunsch- und Wahlrecht nicht im Gesetz aufnehmen,sondern immer wieder beiseiteschieben – ich verweiseauf das, was im SGB IX steht; dort heißt es, dass es beider Budgetverteilung keine Mehrkosten geben dürfe –,dann brauchen wir uns mit Selbstbestimmung und demGedanken der Teilhabe überhaupt nicht mehr auseinan-derzusetzen.Wir müssen die Bereiche SGB IX – das Budget darfdie vorhergehenden Kosten nicht übersteigen –,SGB XII § 13 aufgreifen und ändern. Dazu hätten wirhier im Deutschen Bundestag im Rahmen der GroßenKoalition die Möglichkeiten. Darauf wurde zu Rechthingewiesen.
– Nein, lieber Ilja.Wir müssen vor allen Dingen den schwerstmehrfach-behinderten Menschen gegenüber im Deutschen Bun-destag Rechnung tragen. Wir müssen klarstellen: Ihrhabt genauso wie jeder andere Mensch die Möglichkeit,da zu leben, wo ihr leben möchtet, egal wie hoch euerBudget ist. Ich kann Ihnen versichern – das zeigen dieEvangelische Stiftung Alsterdorf, der große TrägerHephata und das Johanneswerk –: Man ambulantisiert;man nimmt schwerstmehrfachbehinderte Menschen ausden Einrichtungen heraus, ohne dass das höhere Kostennach sich zieht. Das sollten wir uns einfach einmal aufder Zunge zergehen lassen, und wir sollten nicht immerdiese kleinkarierten Kostenberechnungen durchführen.Ich möchte jetzt nicht über die Teilhabe am Arbeitsle-ben diskutieren. Markus, wie wir wissen, müssen auchda Veränderungen stattfinden. Es darf nicht mehr so sein,dass Menschen automatisch in geschützte Werkstättenkommen. Aber es ist auch eine Frage der Ausgleichsab-gabe: Was passiert tatsächlich mit der Ausgleichsab-gabe?Ich komme auf mein Petitum zu sprechen. Heutewurde noch einmal über die Pflegestützpunkte disku-tiert. Wir reden hier immer über vernetzte Strukturen.Übrigens haben BMJ und BMI bestätigt – das könnenSie gerne nachlesen –, dass die im Zusammenhang mitden Pflegestützpunkten getroffene Regelung nicht ver-fassungswidrig ist. Gerade Menschen mit Behinderun-gen verzichten oft auf Pflegegeld. Häufig wissen sieüberhaupt nicht, welche Möglichkeiten es im Rahmender Pflegeversicherung gibt. Für diese Menschen ist esein großer Vorteil, dass sie nur noch eine einzige Anlauf-stelle haben, von der sie ihre Informationen bekommen.
Ich glaube, das ist der wesentliche Punkt.Auch ich war bei der Anhörung. Es war nicht unbe-dingt so, dass man gesagt hat: Pflegestützpunkte sindschlecht. Ganz im Gegenteil: Die Aktion PsychischKranke hat sich positiv über die Pflegestützpunkte geäu-ßert. Die AWO hat sich positiv geäußert. Herr Schiffervom VdAK hat sich positiv geäußert. Viele Einzelsach-verständige haben sich positiv geäußert. Wenn man demendlich einmal folgt und vernetzte Strukturen schafft,und zwar im Rahmen der Pflegestützpunkte in Koopera-tion mit den Servicestellen, dann stärken wir die Ser-vicestellen.
Kollegin Schmidt, Sie müssen die Lektüre des Anhö-
rungsprotokolls verschieben und zum Schluss kommen.
Ich bedanke mich ganz herzlich und freue mich sehr
auf eine interessante Diskussion im Ausschuss.
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Dies ist eine klassische Situa-tion, an der sich zeigen lässt, dass ein Ziel auf verschie-denen Wegen erreicht werden kann. Heute diskutierenwir über einen Antrag der Grünen, nach dem die Einglie-derungshilfe aus dem Bereich der Sozialhilfe herausge-nommen und in einem eigenständigen Gesetz geregeltwerden soll. Die Linke hat vor einem Jahr einen Antrageingebracht – Herr Rohde hat es schon erwähnt –, mitdem sie ein Nachteilsausgleichsgesetz für Menschen mitBehinderungen auf den Weg bringen will, das eine ähnli-che Wirkung hätte. Es gäbe noch einen dritten Weg: Wirkönnten das SGB IX endlich zum Leistungsgesetz um-formen, womit in etwa das gleiche Ziel erreicht werdenkann.Was passiert aber in Wirklichkeit? Die Regierungs-koalition schickt ihre behindertenpolitische Sprecherinbzw. ihren behindertenpolitischen Sprecher vor. Die sa-gen: Alles dufte, wir sind auf eurer Seite. Ich befürchte,dass ihr bei der Abstimmung mit euren Fraktionen gegenden vorliegenden Antrag stimmen werdet.
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Dr. Ilja SeifertLasst uns deshalb mal Butter bei die Fische geben.Herr Kurth und die Grünen schlagen im Grunde genom-men vor, die Eingliederungshilfe von der Nachrangigkeitzu befreien und die Bedürftigkeitsprüfung abzuschaffen.Wunderbar, das ist ganz prima. Der Einwand wird aberlauten, dass die Nachrangigkeit das Hauptmerkmal derSozialhilfe ist. Deswegen befürchte ich, dass wir auf die-sem Weg nicht dahin kommen werden, wohin wir kom-men wollen. Grundsätzlich würde ich gerne mit Ihnengehen, wenn Sie schon nicht unserem Antrag zum Nach-teilsausgleichsgesetz folgen, der wesentlich weiter geht.Das ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung.
Kollege Dr. Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kurth?
Aber gerne.
Bitte.
Kollege Seifert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass das Nachrangigkeitsprinzip bei der Eingliede-
rungshilfe bereits jetzt an vielen Stellen ganz anders ge-
regelt ist als bei der Hilfe zum Lebensunterhalt?
Das ist im Übrigen begründet; denn die Hilfe zum Le-
bensunterhalt betrifft prinzipiell jede Person. Sind Sie
bereit, mir zuzustimmen, dass eine Behinderung einen
besonderen Nachteil darstellt und insofern die Verände-
rungen beim Nachrang, die im geltenden Sozialrecht be-
stehen, gerechtfertigt sind und von Rot-Grün vorgenom-
men worden sind?
Selbstverständlich kenne ich die Rechtslage, lieber
Kollege Kurth. Selbstverständlich weiß ich das. Ich
finde euren Vorschlag ja gut. Ich befürchte nur, dass die
Gegenargumente durchschlagend sein werden.
Wenn wir die gemeinsam ausräumen können, dann habt
ihr mich auf eurer Seite. Wenn wir einen Schritt in die
richtige Richtung gehen können, selbst wenn er mir zu
kurz ist, gehe ich doch gerne mit.
– Ich rolle mit, wenn Ihnen das lieber ist. Das ist kein
Problem.
Kommen wir zum Thema zurück. Wir brauchen für
Menschen mit Behinderungen ein Gesetz, in dem klar
definiert wird, dass behinderungsbedingte Nachteile aus-
zugleichen sind. Das ist das Thema. Darum geht es. Wir
wollen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die glei-
chen Chancen wie andere haben. Lieber Markus Kurth,
ich möchte nicht nur, dass Art. 19 der UNO-Konvention
für Menschen mit Behinderungen umgesetzt wird, son-
dern dass die gesamte UNO-Konvention in nationales
Recht umgesetzt wird. Diese Konvention, die die Bun-
desregierung unterschrieben hat und angeblich so stark
unterstützt – wollen wir einmal sehen, wie es bei der Ra-
tifizierung aussieht –, sagt nämlich verbindlich, dass die
Staaten dafür zu sorgen haben, dass Menschen mit Be-
hinderungen in ihnen gut leben können, und nicht, dass
sich die behinderten Menschen den Strukturen in den
Staaten anpassen müssen. Das ist ein wirklicher Paradig-
menwechsel. Wenn wir das umgesetzt haben, dann ha-
ben wir wirklich etwas erreicht.
Wenn wir die UNO-Konvention tatsächlich ratifizieren
und umsetzen, sind wir auf einem guten Weg. Dann
kommen wir zusammen.
In dieser konkreten Situation liegen dem Bundestag
zwei Anträge vor – der Kollege Rohde von der FDP hat
einen dritten angekündigt –, über die in den Ausschüssen
geredet werden muss. Lasst uns eine vernünftige Anhö-
rung veranstalten, um die Sachverständigkeit der Exper-
ten in einer eigenen Sache tatsächlich zu nutzen. Liebe
Silvia Schmidt, in diesem Punkt sind wir einer Meinung.
Lasst uns die Experten anhören und fragen, was an den
Anträgen gut ist, wo es Nachbesserungsbedarf gibt und
wo noch etwas fehlt. Lasst uns dann gemeinsam – in die-
ser Diskussionrunde waren Gemeinsamkeiten zu erken-
nen – ein Gesetz verabschieden, mit dem behinderungs-
bedingte Nachteile tatsächlich bekämpft werden können.
Ob das Gesetz am Ende SGB IX oder sonst wie heißt, ist
mir wurscht. Wichtig ist nicht, was darüber steht, son-
dern der Inhalt des Gesetzes.
Was das anbelangt, haben wir gemeinsam noch viel
zu tun. Ich freue mich darauf. Wenn die Einigkeit so
groß ist wie jetzt in der Debatte, werden wir noch in die-
ser Legislaturperiode ein tolles Ziel erreichen können.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/7748 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise
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Vizepräsidentin Petra PauBeck , Volker Beck (Köln), Birgitt Ben-der, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen– Drucksachen 16/4852, 16/5674 –Berichterstattung:Abgeordnete Karl-Georg WellmannJohannes PflugHarald LeibrechtWolfgang GehrckeMarieluise Beck
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Volker Beck , BirgittBender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMenschenrechte in Zentralasien stärken– Drucksachen 16/2976, 16/5588 –Berichterstattung:Abgeordnete Holger HaibachJohannes Jung
Burkhardt Müller-SönksenMichael LeutertVolker Beck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staats-minister Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zentralasien ist eine faszinierende Weltregion mit fünf
Ländern, annähernd 60 Millionen Menschen, einer stau-
nenswerten Geschichte und Kultur, einer Vielfalt an
Landschaften und Naturschönheiten und erheblichen
Ressourcen und Reichtümern.
Andere Mächte haben sich schon ab Mitte der 90er-
Jahre dieser Region stärker zugewandt. Die EU hat dies
aus verschiedenen Gründen sehr spät getan. Sie hat sich
eine Zeit lang nur begrenzt mit den zentralasiatischen
Staaten beschäftigt. Das hat sich während der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des vergan-
genen Jahres geändert.
Wir haben uns sehr intensiv mit dieser Region beschäf-
tigt. Im Ergebnis haben wir im Einvernehmen mit den
Partnerländern im Juni 2007 die EU-Zentralasienstrate-
gie beschließen können und erhebliche Mittel – die ge-
planten Mittel wurden verdoppelt – für die Umsetzung
dieser Strategie bereitstellen können.
Man kann also sagen – das wird international aner-
kannt –: Die EU-Zentralasienstrategie ist unser Kind.
Wir wollen das Kind aber nicht ins Internat stecken, son-
dern uns selbst um das Wachstum und Gedeihen dieses
Kindes kümmern. Wir wissen, dass andere Präsident-
schaften andere Schwerpunkte setzen. Wir wollen da am
Ball bleiben.
Schon im Juni dieses Jahres ist eine erste Revision der
Bemühungen vorgesehen. Bis dahin ist es möglich und
auch nötig, konkrete Projekte zu definieren. Wir sind da-
bei vorangekommen und haben einige sichtbare Schwer-
punkte im Kopf. Dazu einige Stichpunkte: Rechtsstaat
einschließlich Menschenrechtsdialog, Bildung, Wasser-
und Energieverbundsystem in der Region, Grenz-
management und Drogenbekämpfung. Ich kann all das
hier gar nicht ausbreiten, sondern möchte mich auf den
Bereich Rechtsstaat und Menschenrechte konzentrieren.
Hier sind wir mit einem Rechtsberatungszentrum in
Taschkent gut vorbereitet.
Ganz entscheidend ist der Menschenrechtsdialog.
Dieser ist ja auch Thema der hier vorgelegten Anträge.
Wir haben uns von vornherein intensiv mit Usbekistan
beschäftigt, weil ja hier durch die tragischen Ereignisse
vom Mai 2005 in Andischan ein großes Problem vorlag.
Wir haben mit den Usbeken einen strukturierten, nach-
haltigen Menschenrechtsdialog vereinbaren können,
dessen erste Runde am 9. Mai 2007 stattgefunden hat
und der im Mai dieses Jahres fortgesetzt werden soll.
Wir werden die Menschenrechte auch in weiteren Bera-
tungen mit Usbekistan zum Gegenstand machen. Wir
konnten mit Usbekistan zudem ein Expertenseminar
zum Thema „Liberalisierung der Medien“ vereinbaren.
Man kann sagen, dass allein die Aufnahme dieses Dia-
logs schon ein wichtiges Ergebnis und ein Erfolg der
Zentralasienstrategie der EU ist. Es gibt auch konkrete
Fortschritte: die Abschaffung der Todesstrafe, die Ein-
führung des Habeas-Corpus-Prinzips und Korrekturen in
einer ganzen Reihe von Einzelfällen. Das ist natürlich
nur ein Anfang, der weitergeführt werden muss.
Wir müssen aber nicht nur mit Usbekistan vorankom-
men, sondern natürlich auch mit den vier anderen Staa-
ten. Mit Turkmenistan ist schon ein Ad-hoc-Dialog über
Menschenrechte begonnen worden.
Herr Staatsminister, Sie können natürlich weiterre-
den, aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass
Sie jetzt auf Kosten der Redezeit Ihrer Kolleginnen wei-
tersprechen.
Genau das will ich nicht machen. Ich wollte geradesagen, dass ich jetzt nicht mehr auf die anderen mögli-chen Leuchtturmprojekte eingehen werde, sondern nurnoch einmal versichern möchte, dass wir unser Engage-ment, wirklich sichtbare, konkrete Projekte zu entwi-ckeln, fortsetzen werden und mit der EU-Kommissionund dem Sonderbeauftragten Pierre Morel gern zusam-menarbeiten.
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Staatsminister Gernot ErlerIch freue mich, dass zu so später Stunde so viele Kol-leginnen und Kollegen Interesse für dieses wichtigeThema zeigen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die vor etwas mehr als einem halben Jahr vor-
gelegte Zentralasienstrategie der Europäischen Union
war überfällig. Wir als FDP-Fraktion begrüßen, dass es
so etwas gibt und dass es ein umfassender Ansatz ist, der
verschiedene Themenbereiche umfasst, beispielsweise
auch strategische Interessen wie die Energieversorgung.
Eine Komponente ist die Nabucco-Pipeline, die explizit
dazu beiträgt, dass wir uns bezüglich unserer Energielie-
feranten diversifizieren.
Die Zentralasienstrategie umfasst auch Projekte in
den Bereichen Bildung und Umwelt, Bekämpfung der
organisierten Kriminalität und des Menschenhandels,
aber insbesondere auch der Förderung des Rechtsstaates
und der Menschenrechte. Diese politischen Ziele teilen,
glaube ich, wir alle in diesem Hause. Es ist zunächst ein-
mal festzuhalten, dass es ein großer Fortschritt ist, dass
es eine EU-Strategie zu diesem Thema gibt.
Die Instrumente, die zur Verfügung stehen, sind viel-
fältig. Eine enge politische Kooperation, Treffen auf
Ministerebene in regelmäßigen Abständen und Men-
schenrechtsdialoge sind vorgesehen. Ein eigener Sonder-
beauftragter der Europäischen Union wurde eingesetzt.
Wir haben Ziele und Instrumente. Nichtsdestotrotz ist es
richtig, wenn die Grünen heute sagen: Das, was wir ver-
abschiedet haben, muss mit Leben gefüllt werden; denn
Ziele und Instrumente müssen effektiv zur Wirkung ge-
bracht werden, sodass wir Fortschritte erzielen.
Uns als FDP-Fraktion ist die Verbindung von Werten
und Interessen wichtig. Warum? Weil eine gewisse Über-
einstimmung von Grundwerten den Rahmen für die Mög-
lichkeiten einer Zusammenarbeit steckt. Wenig Überein-
stimmung von Werten bedeutet, dass es auch wenige
Möglichkeiten für Kooperation gibt. Eine hohe Überein-
stimmung hinsichtlich der Werte erweitert die Koopera-
tionsmöglichkeiten. Hierfür sind in vielen zentralasia-
tischen Staaten natürlich noch große Fortschritte nötig.
Das Stichwort Rechtssicherheit ist ein Beispiel. Pacta
sunt servanda – dieser Grundsatz ist für uns wichtig. Nur
die Stabilität und Verlässlichkeit eines Rechtssystems
sind Garant dafür, dass wir im Energiebereich und im
wirtschaftlichen Bereich mit den zentralasiatischen Staa-
ten zusammenarbeiten können. Effektiver Rechtsschutz
ist notwendig. Sicherheit setzt voraus, dass es kein Will-
kürstaat ist, der eine trügerische Form von Stabilität ga-
rantiert, aber im Kern höchst fragil ist. Deswegen ist das
Existieren eines Rechtsstaats Garant dafür, dass diese
Staaten stabil und sicher sind.
Der Menschenrechtsschutz wird in der EU-Zentral-
asienstrategie sehr betont; das ist wichtig. Denn in allen
fünf Ländern Zentralasiens gibt es im Hinblick auf Men-
schenrechte und Demokratie Probleme. Allerdings muss
man differenzieren. Diese Probleme sind nicht in allen
fünf zentralasiatischen Staaten gleichermaßen ausge-
prägt. Generell finden wir in all diesen Staaten ein
schwieriges Arbeitsumfeld für Nichtregierungsorganisa-
tionen vor, insbesondere in Turkmenistan und Usbekis-
tan.
Was sich in Usbekistan in den Folterkellern des Staa-
tes abspielt, ist geradezu abscheulich und gehört zum
Schlimmsten, was in Sachen Folter auf der ganzen Welt
passiert. Im letzten Jahr hat dieser Staat der VN-Men-
schenrechtskommissarin Louise Arbour übrigens einen
Besuch verweigert; auch das ist bemerkenswert.
Nahezu alle zentralasiatischen Staaten haben Pro-
ble
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das ist mehr als nur ein Problem. Dort ist da-mals ein schweres Verbrechen begangen worden. Dashat es in dieser Form in keinem anderen zentralasia-tischen Staat gegeben. Insofern ist die Feststellung, dassUsbekistan für uns ein ganz besonders schwieriger Part-ner ist, richtig.Ich glaube, es muss daran festgehalten werden, dassdie internationale Staatengemeinschaft das, was inAndischan passiert ist, unabhängig überprüft und dassdaraus Konsequenzen gezogen werden. Was bisher pas-siert ist, ist völlig unzureichend. Von der usbekischenRegierung müssen immer wieder weitere Anstrengungeneingefordert werden.
Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht – so gehtes in Deutschland vielen –, dass die Sanktionen gegendieses Land, die insbesondere aus Reisebeschränkungenbestanden, ausgerechnet unter deutscher Ratspräsident-schaft und kurz vor der Veröffentlichung der EU-Zen-tralasienstrategie gelockert worden sind. Dafür mussman triftige Gründe anführen. Alleine das Sich-Einlas-sen auf einen Menschenrechtsdialog ist doch noch keinErfolg. Das ist erst die Voraussetzung für künftige Er-folge.Man muss sich einmal überlegen, welches Signalman an alle Länder in dieser Region sendet, wenn maneine Sanktion, die im Zusammenhang mit dem Massa-ker verhängt wurde, das in Andischan begangen wor-den ist – hier sind keine Fortschritte festzustellen –, be-reits bei einem solch geringen Zugeständnis wie derBereitschaft, miteinander zu reden, lockert. Das hat
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Florian Toncarnicht die Zustimmung der FDP gefunden. Ich glaube,dadurch hat die deutsche Menschenrechtspolitik eingutes Stück ihrer Glaubwürdigkeit verloren.
Wünschenswert wäre, dass die Staaten, die für realeVerbesserungen sorgen, auch etwas davon haben. Daswäre der Ansatz der Liberalen im Bundestag.Zu den Anträgen der Grünen möchte ich sagen: Siesind fundiert,
und wir erkennen ein hohes Maß an inhaltlicher Über-einstimmung. Das möchte ich an dieser Stelle betonen.Jeder kann erahnen, warum ich das tue. In der letztenWoche habe ich nämlich etwas anderes gesagt. DiesesMal stimmen wir Ihren beiden Anträgen zu. Ich glaube,sie sind Beispiele dafür, wie man diese Strategie tatsäch-lich mit Leben füllen kann.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Holger
Haibach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werdenwahrscheinlich nie erfahren, wer hinter der Ermordungdes usbekischen Journalisten Alisher Saipov und hinterdem brutalen Raubüberfall auf den deutschen Journalis-ten Marcus Bensmann steckt. Unabhängig davon, ob essich bei diesen beiden Vorfällen um bloße Gewalttatenohne jeden Hintergrund handelt oder ob es, wie manch-mal vermutet wird, Verbindungen zum Beispiel zum us-bekischen Geheimdienst gibt, steht fest: Das Leben fürJournalisten – allerdings nicht nur für Journalisten – istin Zentralasien gefährlich. Diese Taten müssen ganzdeutlich verurteilt werden; ich glaube, das kann ich imNamen aller Kolleginnen und Kollegen sagen. Denn diePressefreiheit ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie.
Zentralasien hat schon sehr früh, seit Beginn der 90er-Jahre, eine wichtige Rolle in der deutschen Außenpolitikgespielt. Da manchmal so getan wird, als sei das ganzneu, möchte ich darauf hinweisen: Die Regierung vonHelmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher war eine derersten Regierungen weltweit, die die zentralasiatischenStaaten nach ihrer Unabhängigkeit anerkannt und diplo-matische Beziehungen zu ihnen aufgebaut hat. Insofernwar es konsequent und begrüßenswert, dass die Bundes-regierung diesen Faden wieder aufgenommen und Zen-tralasien zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Außen-politik und der deutschen Ratspräsidentschaft gemachthat.
Es ist völlig klar – das hat auch der Staatsminister an-gesprochen –, dass wir in Zentralasien mannigfaltige In-teressen und Einflussmöglichkeiten haben. Wir müssenunsere Interessen verfolgen und unsere Einflussmöglich-keiten nutzen; denn diese Region ist für uns wichtig.Zentralasien hat für Deutschland und für die Europäi-sche Union, wenn es um die Frage der Sicherheit geht,eine wichtige Bedeutung. Die zentralasiatischen Staatensind nicht nur Nachbarn Afghanistans. Usbekistan ist füruns auch insofern wichtig, als wir mit Termes einenBundeswehrstützpunkt haben, der für unseren ISAF-Einsatz dringend notwendig ist. Auch die Niederländerwickeln Flüge über diesen Stützpunkt ab. Im Übrigenwill ich darauf hinweisen, dass die Franzosen Ähnlichesin Duschanbe haben. Es wird ja immer der Eindruck er-weckt, wir seien die einzigen, die sich in dieser Regionaufhalten. Doch das ist definitiv falsch. – Das war dererste Punkt.Der zweite Punkt: Wir brauchen diese Länder auchbei der Drogenbekämpfung und im Kampf gegen denTerrorismus. Zentralasien, insbesondere Turkmenistan,hat sehr große Erdgasvorkommen. Auch deshalb habenwir ein großes Interesse daran, diese Länder auf unsereSeite zu bekommen; der Kollege Toncar hat schon da-rauf hingewiesen. Es ist natürlich eine Frage, wie wir un-sere Energiesicherheit gewährleisten, da wir in Zukunft– weil unsere eigenen Ressourcen abnehmen, aber viel-leicht auch deshalb, weil wir politische Entscheidungentreffen, die heute aber nicht zu diskutieren sind – nochstärker von Importen aus dem Ausland abhängig wer-den. Auch deswegen ist eine Region wie Zentralasienvon entscheidender Bedeutung. Auch deshalb haben wirgroße Interessen in dieser Region.Wir haben ein Interesse daran, dass sich diese Staatenauf die Dauer stabil entwickeln, damit wir wirtschaftlichgut zusammenarbeiten können, aber auf der Basis vonRechtsstaatlichkeit und Demokratie. Genau da beginntdas Problem. Denn es handelt sich bei all diesen Staatenim Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte, um esganz vorsichtig zu formulieren, nicht gerade um Muster-knaben; auch darauf ist schon hingewiesen worden.Bei einer solchen Zentralasienstrategie gibt es zweiProbleme. Das erste ist: Es handelt sich um sehr unter-schiedliche Staaten. Auf der einen Seite stehen relativweit entwickelte Länder wie Kasachstan, auf der ande-ren Seite Länder wie Turkmenistan, das gerade erst da-mit begonnen hat, sich zu öffnen. Mit der Abordnungdes Menschenrechtsausschusses – die Kollegin Graf warauch dabei – waren, wenn man von der Kollegin Wege-ner absieht, die kurz vor uns da war, seit Jahren die ers-ten Abgeordneten des Deutschen Bundestages in dieserRegion, in diesem Land. Das zeigt sehr deutlich, wie ab-geschlossen dieses Land ist und dass es mit einem Landwie Kasachstan nicht vergleichbar ist.Das zweite Problem ist, die unterschiedlichen Interes-sen vernünftig in Einklang zu bringen. Da ist die Frageder Energiesicherheit, da ist die Frage der Stabilität, daist die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, da ist
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Holger Haibachder Kampf gegen den Terrorismus, und natürlich müssenwir für Demokratie und Menschenrechte eintreten. Dasalles sind sehr schwierige, nicht einfach in Einklang zubringende Interessen.Deshalb muss man schauen: Wie greift die Zentral-asienstrategie? Ich finde es richtig, dass in der Zentral-asienstrategie die Menschenrechte einen so prominentenPlatz einnehmen. Ich finde es auch richtig, dass man ver-sucht, das miteinander zu verbinden. Jetzt, nachdem ei-nige Zeit vergangen ist, kann man einmal schauen, wowir an der Stelle stehen. Wir müssen – bei allem, was zuRecht über die Fortschritte wie den Menschenrechtsdia-log mit Usbekistan, den Ad-hoc-Dialog mit Turkmenis-tan gesagt worden ist – sicherlich feststellen, dass wirnicht so weit sind, wie wir gerne wären.Deswegen stellt sich die Frage, wie wir uns ausrich-ten, wenn es in Zukunft um die Aufhebung der Sanktio-nen gegen Usbekistan geht. Diese Frage ist von großerBedeutung. Meine persönliche Meinung ist, dass es zumjetzigen Zeitpunkt – diese Frage steht ja demnächst an –ein falsches Zeichen wäre, weiterhin darauf zu drängen,die Sanktionen zu lockern; denn so groß sind die Fort-schritte beileibe nicht, dass wir das zulassen könnten.
Wir würden auch deshalb ein falsches Zeichen setzen,weil von einer solchen Entscheidung eine Sogwirkungauf andere Länder ausgeht. Wenn wir hier zu nachgiebigsind, werden wir unsere Ziele nicht erreichen. Ich ver-hehle nicht, dass es Fortschritte gibt, zum Beispiel dieAbschaffung der Todesstrafe in Usbekistan. Aber ichglaube nicht – gerade vor dem Hintergrund, was wir vonNichtregierungsorganisationen wie Human RightsWatch hören –, dass das ausreicht, um davon sprechenzu können, dass wir dort schon gute Verhältnisse hätten.Die zweite Frage ist: Setzen wir die notwendigen Mit-tel ein? Die EU investiert 750 Millionen Euro in ihreZentralasienstrategie. Das ist sehr viel Geld; aber mandarf sich nichts vormachen: Das ist wesentlich weniger,als ein Land wie China an dieser Stelle investiert. Wennwir das wirklich ernst meinen, wenn wir dort wirklichinvestieren wollen und wenn wir neben Russland, Chinaund übrigens auch der Türkei, die dort eine sehr großeRolle spielt, wirklich ernst genommen werden wollen,dann stellt sich natürlich die Frage, ob das wirklich ge-nug ist und ob wir da die richtigen Prioritäten setzen.Der dritte Punkt, der in diesem Zusammenhang ausmeiner Sicht ausgesprochen wichtig ist, ist die Frage, obwir es schaffen, alle Punkte, die in der EU-Zentral-asienstrategie genannt sind, wirklich miteinander zu ver-binden. Machen wir unsere wirtschaftliche Zusammen-arbeit und die Zusagen auf den verschiedensten Gebietenwirklich davon abhängig, dass Fortschritte bei derRechtsstaatlichkeit und der Demokratie erzielt werden?Orientiert sich der Menschenrechtsdialog an nach-vollziehbaren Zielen? Ich bin immer für Dialog; dennohne Dialog wird man nichts erreichen können.
Ich bin aber gegen Dialog als Feigenblattveranstaltung.
Es kann nicht sein, dass der Dialog sozusagen dafür her-halten muss, dass wir sagen können, einmal darüber ge-redet zu haben, während wir ansonsten weiterhin einfach„business as usual“ betreiben. Ich denke, das kann unddarf es nicht sein.Die beiden Anträge der Grünen, die uns heute vorlie-gen, bieten aus meiner Sicht wichtige Ansätze. Beson-ders gefällt mir, dass die starke Rolle der OSZE in dieserRegion betont wird. Die OSZE und ODIHR machen dorteine wirklich wichtige Arbeit, und sie verdienen unserevolle Unterstützung – gar keine Diskussion.Mir fehlen in den Anträgen aber einige Punkte, zumBeispiel der Zugang des IKRK zu den Gefängnissen – inUsbekistan, aber auch in anderen Ländern. Einer der bei-den Anträge ist schon etwas älter. Das merkt man ihmauch an. Deswegen werden wir ihm nicht nähertretenkönnen, obwohl ich, wie gesagt, viele wichtige Punktedarin finde.Ich komme zum Schluss. Es gibt eine Ausarbeitungvom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundes-tages über die Zentralasienstrategie der EU. Ich finde, indem Ausblick in dem Papier wird das so gut zusammen-gefasst, dass man es nicht besser zusammenfassen kann.Dort heißt es:Die EU befindet sich in ihren Außenbeziehungenzweifellos in einem grundsätzlichen Dilemma, dasdie neue Zentralasien-Strategie deutlich aufzeigt:Heute werden die meisten Staaten der Welt immernoch von diktatorischen bzw. halbdiktatorischenRegimes beherrscht. Andererseits ist die EU in ei-ner globalisierten Welt zunehmend von ausländi-schen Partnern abhängig. Was bleibt, ist ein oftmalsschwieriger Balanceakt zwischen dem legitimen In-teresse an Rohstoffen und Absatzmärkten auf dereinen und dem Bekenntnis und der Förderung de-mokratischer Werte auf der anderen Seite. In derZentralasien-Strategie hat die Kommission denMenschenrechten … einen relativ breiten Platz ein-geräumt. Jetzt bleibt abzuwarten, wie dieser mit ei-nem konstruktiven politischen Dialog ausgefülltwird.Dabei wünsche ich der Kommission und auch derBundesregierung viel Erfolg.Danke sehr.
Die Rede des Kollegen Michael Leutert für die Frak-tion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1)1) Anlage 5
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Vizepräsidentin Petra PauDas Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte von diesem Platz aus zunächst MarcusBensmann, den wir alle als sehr unbeugsamen Bericht-erstatter aus der Region kennen, nach dem brutalenÜberfall unsere guten Genesungswünsche überbringen.Wir hoffen, dass die Hintergründe dieses Überfalls auf-geklärt werden können.
Wir diskutieren heute zum ersten Mal über die EU-Zentralasienstrategie. Dass die Anträge zum Teil etwasveraltet sind, hat etwas damit zu tun, dass die Koalitionin diesen Punkten nicht wirklich sehr diskussionsfreudigist. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass mannoch nicht sehr weit über die Projekte und Vorhaben hi-naus ist, die in dem Papier beschrieben sind. Der Staats-minister hat eben gesagt, dass man viele Ideen im Kopfhat. Das bezeichnet das Dilemma: Das Umsetzen vomKopf in die Hände, also in die Tat, lässt doch noch sehrzu wünschen übrig. Schon im Frühjahr soll eine ersteÜberprüfung stattfinden. Insofern wird es langsam Zeit,darüber zu sprechen, was nun konkret passieren soll.
Ja, wir haben im Bereich der Energie eigene Interes-sen an dieser Region, aber eben nicht nur, weil wir mitRessourcen aus dieser ressourcenreichen Region ver-sorgt werden wollen. Wir wollen auch, dass dieseRegion nicht all die Fehler wiederholt, die wir als Indus-trienation mit der klima- und ökologieschädigenden Ver-wendung von Ressourcen begangen haben.Insofern gibt es ein beidseitiges Interesse. An uns be-steht der Wunsch, dass wir etwas von dem vermitteln,was wir in den letzten Jahren in Bezug auf die Nachhal-tigkeit und hinsichtlich vernünftiger Grundsätze fürnachhaltiges Wirtschaften im Bereich der Ressourcen-nutzung gelernt haben. Das liegt auch in unserem eige-nen Interesse, weil wir alle wissen, dass wir der Klima-katastrophe nur gemeinsam mit den zentralasiatischenLändern begegnen können. Wir sollten im Interesse die-ser Region mit dem, was wir anzubieten haben, in denWettlauf mit der Shanghai Corporation und den Angebo-ten Russlands und Chinas, die bei angepassten und nach-haltigen Ansätzen nicht so weit sind, eintreten.
Das Gleiche gilt für den Wasserbereich. Jeder weiß,dass Wasser das zentrale Problem dieser Region seinwird. Der Aralsee ist faktisch schon tot. Das ist ein Me-netekel dafür, was diese Region erwartet, wenn es nichtgelingt, zu einem klugen und gemeinsamen Wasserma-nagement zu kommen. Statt des Baus riesiger und zer-störerischer Staudämme sind nachhaltiges und angepass-tes Denken sowie entsprechende Technologien undPläne gefragt. Wir sollten auch hier Angebote machenund nicht nur als mögliche Nutznießer im eigenen Inte-resse agieren.Zu den Menschenrechten: Die schwierige Auseinan-dersetzung, die wir führen und die wir alle kennen, wirdnicht zu gewinnen sein, wenn wir nur auf die ethischeVerpflichtung verweisen. Wir müssen vielmehr in derAuseinandersetzung belegen, dass offene Gesellschaf-ten, Demokratie, Redefreiheit und MedienfreiheitGrundlagen für die Prosperität von Gesellschaften sind.Die zentralasiatischen Staaten werden ihre eigenenKräfte nicht freisetzen können, werden die Korruptionnicht bekämpfen können, werden keine neugierigen jun-gen Menschen und keine jungen Eliten hervorbringenkönnen, wenn sie ihrer Bevölkerung keine Freiheit ge-ben. Das ist die Botschaft, die wir zu übermitteln haben.Es liegt auch im Interesse dieser Gesellschaften, denWeg von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Freiheit undWahrung der Menschenrechte zu gehen; denn nur sokönnen diese Länder nach der langen und schwerenSowjetzeit ihre eigenen Fähigkeiten und Potenziale ent-wickeln. Dazu muss diese Region, die einst kulturell soreich war – das können wir noch heute spüren – und diegerade wegen ihrer Geschichte mit viel Respekt von unsbetrachtet wird, wieder an demokratisches und freiheitli-ches Denken anknüpfen.
Ich hoffe, dass wir die dafür notwendige Auseinan-dersetzung – obwohl sie manchmal sehr direkt ist – ingegenseitigem Respekt führen werden.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die brisante Situation in Zentralasien wurde lange – ichmeine: zu lange – von der EU kaum wahrgenommen.Erst Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft ge-nutzt, eine EU-Zentralasienstrategie entworfen und da-mit die Chance begründet, dem Druck von China, Russ-land und anderen etwas entgegenzusetzen und dieRegion nach Europa zu öffnen.Die Länder Zentralasiens befinden sich seit dem Zu-sammenbruch der Sowjetunion in einer schwierigenTransformationsphase. Sie sind sich untereinander zumTeil spinnefeind. Korruption, Willkür und Gewalt be-stimmen in weiten Teilen der Region das tägliche Leben.Das Massaker von Andischan im Mai 2005 und der feh-lende Wille der usbekischen Regierung, eine lückenloseAufklärung zu ermöglichen, sind nur ein Teil im Puzzleder Probleme. Die ungleiche Verteilung der Energiere-serven und insbesondere der Wasserreserven ist zusätzli-
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Angelika Graf
cher Sprengstoff für die Zukunft. Hinzu kommt, dass einGroßteil der Bevölkerung Zentralasiens jünger als25 Jahre ist und die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist.Ich bin der festen Überzeugung, dass nur der Aufbaurechtsstaatlicher Strukturen, Investitionen in Bildungund Ausbildung der jungen Leute und die Berücksichti-gung der Umweltbelange auf Dauer zur Stabilisierungder Region beitragen werden. Deshalb begrüße ich diewährend der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands er-folgte Aufnahme eines institutionalisierten Menschen-rechtsdialoges sehr. Am 19. Mai 2008 wird die nächsteSitzung stattfinden.Sehr begrüßenswert ist auch, dass Kirgisistan imSommer 2007 und Usbekistan zum 1. Januar 2008 nacheinem Moratorium die Todesstrafe abgeschafft haben.Aber es liegt zweifellos noch viel Arbeit vor den Akteu-ren. Herr Haibach hat schon deutlich beschrieben, wasbezüglich der Sanktionen notwendig ist. Ich kann ihm danur zustimmen.Die verstärkte Zusammenarbeit der EU mit den Län-dern Zentralasiens gibt aber auch Hoffnung für eine ge-meinsame friedliche Entwicklung in der gesamten Re-gion. Das ist gut für jeden, der sich wirtschaftlich inZentralasien engagieren möchte. Auch wenn man reinökonomischen Rationalitäten den Vorrang gibt, so ver-steht es sich doch von selbst: Der zuverlässigste Koope-rationspartner ist der, der sich an den Prinzipien derRechtsstaatlichkeit orientiert.
Der kreativere und innovativere Kooperationspartner istder, bei dem die Menschen geistige und räumliche Frei-heit zur Entwicklung haben.
Der erfolgreichere Kooperationspartner ist der, der sei-nen Bürgern die Möglichkeit gibt, zu wählen, welchesLeben, auch in politischer Hinsicht, sie führen wollen.Ich sage das hier mit so viel Bedacht und so vielHerzblut, weil unser verehrter Wirtschaftsminister dieRegion demnächst mit einer Delegation mit 80 Teilneh-mern besuchen wird. Ich gehe fest davon aus, dass es daim Sinne unserer Zentralasienstrategie nicht nur um diePipelines geht.
Der Menschenrechtsausschuss wird in Zentralasienweiterhin zugegen sein. Wir werden diese Region im Fo-kus behalten und dies auch durch weitere Besuche deut-lich machen.Was das Abstimmungsverhalten betrifft, hat Herr Hai-bach schon das Nötige gesagt.
– So ist das.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Hedi Wegener für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Da-men! „Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“,so lautet der Titel des Antrags. Der Antrag ist schon einbisschen älter; Sie haben es erwähnt. In der Zwischen-zeit ist eine Menge getan worden. Herr Erler hat das sehrdezidiert ausgeführt. Viele im Auswärtigen Amt und vorallen Dingen Sie sind mit viel Herzblut dabei.
Um die Strategie mit Leben zu füllen, habe auch ichmeinen Teil beigetragen. Ich habe die Botschaften derzentralasiatischen Länder auf diese Debatte aufmerksamgemacht. Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Anregunggefolgt sind und auf der Tribüne an dieser Debatte teil-nehmen. Herzlich willkommen in diesem Hohen Haus!
Diese Debatte ist nämlich auch für Sie. Ich spreche Siein meiner weiteren Rede direkt an.Nutzen Sie die Bereitschaft der Europäischen Union!Nutzen Sie die Bereitschaft Deutschlands zu einer engenZusammenarbeit!Ich weiß sehr wohl, dass Sie in Ihrer Unabhängigkeitbisher ein unterschiedliches Tempo vorgelegt haben,dass Sie das auch weiterhin tun und dass sich Ihre Län-der sehr verschieden entwickeln, auch deshalb, weil dieLänder verschieden sind, weil sie ihre Eigenarten undBesonderheiten behalten wollen und auf ihre GeschichteWert legen. Das sollen sie auch. Die Strategie berück-sichtigt die Unterschiede zwischen den Einzelnen undsetzt gleichzeitig auf die Gemeinsamkeiten.Sie wünschen sich starke bilaterale Beziehungen zurEU, aber am liebsten eigentlich zu jedem einzelnenLand, sehr gerne auch zu Deutschland. Das Modell Eu-ropa imponiert Ihnen. Dennoch ist Ihnen das Einstehenfüreinander – der stärkeren Länder für die schwächeren,der wohlhabenden für die weniger wohlhabenden – dochnoch ziemlich fremd und geht Ihnen ein bisschen zuweit. Aber gemeinsam sind Sie stärker. Gemeinsam kön-nen Sie mehr bewegen, und gemeinsam können Sie auchmehr Probleme lösen, zum Beispiel die Probleme Was-ser, Drogenhandel, Terrorismus, Umwelt und Korrup-tion. Unsere Kollegen in den Parlamenten und Ihre Prä-sidenten müssten eigentlich schlaflose Nächte haben obder Probleme, die Ihre Länder haben.Sorgen habe ich auch, zum Beispiel hinsichtlich derLogistik in Ihren Ländern: Wie komme ich eigentlichvon einem Staat in den anderen? Wie überwinde ichGrenzprobleme? Wie kann ich als Unternehmerin diegroßen Zollschwierigkeiten in Ihren Ländern überwin-den? Zu nennen sind aber auch die Armut in Tadschikis-tan, die kalten Winter in Kirgisistan, die Energieversor-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14731
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Hedi Wegenergungsprobleme, die mangelnde Pressefreiheit inUsbekistan sowie – es wurde schon erwähnt – der bru-tale Überfall auf einen deutschen Journalisten. Das allesmacht uns doch wirklich Sorgen.Bei aller Kritik, die Sie von uns gehört haben, habenSie in Deutschland große Fans Ihrer Region. Es gibtviele Deutschstämmige, die ein starkes Bindeglied zwi-schen unseren Ländern sind. Das können Sie nutzen. DieRechtsstaatlichkeit ist das Wichtigste, was Sie in IhrenLändern erreichen müssen. Deshalb helfen wir Ihnengerne. Es sind noch viele Anstrengungen erforderlich.Deutschland ist dazu bereit. Die Strategie wird Sie dabeiunterstützen.Bolschoe Spasibo – recht herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5674, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4852 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der antragstellen-
den Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Frak-
tion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18 b: Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Menschenrechte in Zentralasien stärken“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5588, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/2976 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der
Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men der übrigen Fraktionen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 25. Januar 2008,
11 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.