Protokoll:
16139

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 139

  • date_rangeDatum: 24. Januar 2008

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:58 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/139 Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes … Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes (Drucksachen 16/7250, 16/7867) . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Christine Scheel, Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Steuerberatung zukunftsfähig machen (Drucksachen 16/1886, 16/7867) . . . . . . . Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 14600 D 14602 C 14603 A 14605 D 14608 D 14611 D 14614 A 14615 A 14616 A 14621 C 14621 C 14621 D 14622 C Deutscher B Stenografisc 139. Si Berlin, Donnerstag, d I n h a Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Dr. Peter Struck . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 11 . . . Tagesordnungspunkt 3: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 2008 der Bundes- regierung – Kurs halten (Drucksache 16/7845) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Glos, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14597 A 14597 B 14597 D 14598 A 14598 B Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14616 C 14619 A undestag her Bericht tzung en 24. Januar 2008 l t : Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Achten Gesetzes zur Än- derung des Steuerberatungsgesetzes (Drucksachen 16/7077, 16/7485, 16/7867) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Zweite und dritte Beratung des vom 14619 D 14620 C 14621 A 14621 C Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14623 D 14625 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des InVeKoS-Daten-Gesetzes und des Direktzahlungen-Verpflichtungengeset- zes (Drucksache 16/7827) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 Bundesver- triebenengesetz in den Jahren 2003 und 2004 (Drucksache 15/5952) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Straßenbaubericht 2006 (Drucksache 16/3984) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Universitäre Exzellenz sichern – Exklusivität des Promotionsrechts wah- ren (Drucksache 16/7842) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Medienabhän- gigkeit bekämpfen – Medienkompetenz stärken (Drucksache 16/7836) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Grundstoffüberwachungsrechts (Drucksachen 16/7414, 16/7828) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung seever- 14626 C 14627 B 14628 D 14628 D 14629 A 14629 A 14629 A 14629 B kehrsrechtlicher, verkehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit Bezug zum Seerecht (Drucksachen 16/7415, 16/7843) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsge- setzes (Drucksachen 16/7685, 16/7846) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den kos- tenfreien Empfang von Rundfunk via Satellit sicherstellen (Drucksachen 16/3545, 16/7346) . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erhal- tung der Weinbaukultur durch ver- nünftige Reform der EU-Weinmarkt- ordnung (Drucksachen 16/6959, 16/7568) . . . . . . . f) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 9 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfas- sungsgericht (Drucksache 16/7770) . . . . . . . . . . . . . . . g) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- trag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das Internationale Polarjahr 2007/2008 und Konsequenzen für eine deutsche Beteiligung (Drucksachen 16/4454, 16/7854) . . . . . . . h)–o) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 337, 338, 339, 340, 341, 342, 343 und 344 zu Peti- tionen (Drucksachen 16/7755, 16/7756, 16/7757, 16/7758, 16/7759, 16/7760, 16/7761, 16/7762) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14629 C 14630 A 14630 B 14630 C 14630 C 14630 D 14631 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 III Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Aufgaben von Bundeswehr- kampftruppen als Quick Reaction Forces in Afghanistan Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Walter Kolbow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Schmidbauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . . Thomas Kossendey, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Dzembritzki (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Hans Raidel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Kinder- armut bekämpfen – Kinderzuschlag aus- bauen (Drucksache 16/6430) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14631 D 14633 B 14634 C 14635 D 14636 D 14638 A 14639 D 14641 A 14642 B 14642 D 14644 C 14645 C 14646 C 14647 B 14647 C 14649 C 14650 B 14651 D 14652 D 14654 C 14654 D 14655 A 14657 A 14658 C Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abgeordnetenrechts (Drucksachen 16/7461, 16/7814) . . . . – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Bun- deswahlgesetzes (Drucksachen 16/1036, 16/7814) . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Achtzehn- ten Gesetzes zur Änderung des Bundes- wahlgesetzes (Drucksachen 16/7462, 16/7815) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Gesine Lötzsch, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wahlmani- pulationen wirksam verhindern (Drucksachen 16/5810, 16/7816) . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fahr- lehrergesetzes (Drucksachen 16/7080, 16/7417, 16/7819) . . 14659 C 14660 C 14662 A 14663 A 14663 A 14663 A 14663 B 14663 C 14665 B 14666 C 14667 B 14668 A 14668 C 14669 C 14671 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidi Wright (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Kerstin Andreae, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Gegen Armut trotz Arbeit – Strategie zur Stärkung geringer Einkom- men (Drucksache 16/7751) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Kontopfändungsschutzes (Drucksache 16/7615) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- 14671 A 14671 D 14672 D 14674 B 14674 D 14675 D 14676 D 14677 A 14678 A 14680 A 14681 C 14683 B 14684 C 14684 C 14685 C 14686 C 14688 A 14688 D 14689 D neten Frank Schäffler, Martin Zeil, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Konsequenzen aus dem Ent- schädigungsfall Phoenix Kapitaldienst GmbH (Drucksachen 16/5786, 16/7645) . . . . . . . . . . Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vierter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung (Drucksache 16/7772) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ar- beit familienfreundlich gestalten – Verein- barkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter lebbar machen (Drucksache 16/7482) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Eva Möllring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helga Lopez (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Steinecke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 14690 D 14691 A 14692 C 14693 B 14695 B 14696 A 14697 A 14697 B 14698 D 14700 A 14701 C 14702 C 14702 D 14704 A 14704 A 14705 B 14706 D 14708 A 14708 D 14710 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 V Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Klimawandel wirksam durch Urwaldschutz bekämpfen – Agrar- überschüsse in den Erhalt der Urwälder in- vestieren (Drucksache 16/7710) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cajus Caesar (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Heinz Schmitt (Landau) (SPD) . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Tren- nungsübernachtungsgeld während Aus- landseinsatz weiterzahlen (Drucksache 16/7002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterent- wickeln (Drucksache 16/7748) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14711 A 14711 A 14712 B 14713 C 14714 C 14715 B 14716 B 14717 A 14717 B 14717 C 14718 D 14719 A 14720 C 14721 D 14723 D 14724 A Tagesordnungspunkt 18: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bre- men), Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die EU- Zentralasienstrategie mit Leben füllen (Drucksachen 16/4852, 16/5674) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechte in Zentrala- sien stärken (Drucksachen 16/2976, 16/5588) . . . . . . . Gernot Erler, Staatsminister AA . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Hedi Wegener (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 339 zu Petitionen (Tagesordnungspunkt 25 j) . . . Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 7 b) Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14724 D 14725 A 14725 B 14726 A 14727 B 14729 A 14729 D 14730 C 14731 C 14733 A 14733 D 14734 A 14734 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Trennungsübernachtungsgeld während Auslandseinsatz weiterzahlen (Ta- gesordnungspunkt 16) Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rolf Kramer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Anträge: – Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen – Menschenrechte in Zentralasien stärken (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14734 B 14734 C 14734 D 14735 C 14736 B 14737 A 14737 B 14737 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14597 (A) (C) (B) (D) 139. Si Berlin, Donnerstag, d Beginn: 9
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    (B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14733 (A) (C) (B) (D) Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass unser Votum „Ja“ lautet.Lehn, Waltraud SPD 24.01.2008 NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 339 zu Petitionen (Tagesord- nungspunkt 25 j, Drucksache 16/7757) Henrich Kurth (Quedlinburg), Undine BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.01.2008 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Barnett, Doris SPD 24.01.2008* Bartsch, Dietmar DIE LINKE 24.01.2008 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 24.01.2008 Bodewig, Kurt SPD 24.01.2008 Brüning, Monika CDU/CSU 24.01.2008 Caspers-Merk, Marion SPD 24.01.2008 Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 24.01.2008 Deittert, Hubert CDU/CSU 24.01.2008* Duin, Garrelt SPD 24.01.2008 Ernst, Klaus DIE LINKE 24.01.2008 Fischer (Karlsruhe- Land), Axel E. CDU/CSU 24.01.2008* Gröhe, Hermann CDU/CSU 24.01.2008 Heynemann, Bernd CDU/CSU 24.01.2008 Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.01.2008 Höfer, Gerd SPD 24.01.2008* Hörster, Joachim CDU/CSU 24.01.2008* Dr. h. c. Kastner, Susanne SPD 24.01.2008 Kauder, Volker CDU/CSU 24.01.2008 Dr. Keskin, Hakki DIE LINKE 24.01.2008* Knoche, Monika DIE LINKE 24.01.2008 Krummacher, Johann- CDU/CSU 24.01.2008 Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND- Lintner, Eduard CDU/CSU 24.01.2008* Lips, Patricia CDU/CSU 24.01.2008 Mücke, Jan FDP 24.01.2008 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.01.2008 Poß, Joachim SPD 24.01.2008 Roth (Heringen), Michael SPD 24.01.2008 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 24.01.2008 Schily, Otto SPD 24.01.2008 Dr. Solms, Hermann Otto FDP 24.01.2008 Strothmann, Lena CDU/CSU 24.01.2008 Teuchner, Jella SPD 24.01.2008 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 24.01.2008 Ulrich, Alexander DIE LINKE 24.01.2008* Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 24.01.2008 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 24.01.2008* Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 14734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 (A) (C) (B) (D) Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Acht- zehnten Gesetzes zur Änderung des Bundes- wahlgesetzes (Tagesordnungspunkt 7b) Bernd Scheelen (SPD): Der ehemalige Bundestags- wahlkreis Krefeld wurde vor zehn Jahren zerteilt, und dabei bleibt es mit dem heutigen Beschluss. Die Ent- scheidung vom 13. Februar 1998 wird nicht revidiert. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass eine Groß- stadt mit 240 000 Einwohnern einen eigenständigen Bundestagswahlkreis bilden sollte. Dennoch stimme ich dem heutigen Gesetzentwurf zu, weil sich zurzeit keine Mehrheit für die Wiederherstellung des Wahlkreises Krefeld findet. Otto Fricke (FDP): Durch das nun beschlossene Ge- setz bleibt die künstliche „bundespolitische“ Teilung der Stadt Krefeld zementiert. In keinem der beiden Wahlkreise haben die Wähler der Stadt Krefeld eine Mehrheit. Damit bleibt eine Groß- stadt mit circa 240 000 Einwohnern zerschlagen und ei- nes wesentlichen Teils ihres bundespolitischen Einflus- ses beraubt. Die Teilung ist politisch unverantwortlich. Für die FDP, die gegenwärtig nicht in Verdacht steht, ei- nen selb^stständigen Krefelder Wahlkreis oder einen der beiden leider auch zukünftig weiter existierenden Wahl- kreise direkt zu holen, ist es deutlich erkennbar, dass man damit den Bürgern einer Stadt politische Identifika- tion nimmt. Denn trotz des Engagements meiner Kolle- gen, die von SPD bzw. CDU in den jeweiligen Wahlkrei- sen direkt gewählt worden sind, sind diese dennoch keine Krefelder Bürger. Krefelder sind vielmehr der Kol- lege der SPD Bernd Scheelen und ich, welche über die Landesliste eingezogen sind. Da die Bürger in Krefeld nach dieser Entscheidung auch weiterhin in der Regel keinen „echten“ Krefelder Kandidaten mehr mit der Erststimme wählen können, wird der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme marginalisiert. Die Krefelder Bürger haben nur noch ei- nen mittelbaren Einfluss per Erststimme, und dies könnte zu Politikverdrossenheit führen, da nun sowohl für die Erst- als auch für die Zweitstimmen überwiegend die Aufstellungen der Parteien ausschlaggebend sind. Ich habe den Wählern in Krefeld im Wahlkampf zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005 versprochen, mich für einen einheitlichen Wahlkreis Krefeld einzuset- zen; da Versprechen eingehalten werden müssen, kann ich dem Gesetzentwurf, den ich im Übrigen unterstütze, nicht zustimmen, sondern enthalte mich der Stimme. Ina Lenke (FDP): Ich stimme dem Tagesordnungs- punkt 7, Drucksache 16/7462, dem Gesetzentwurf der Großen Koalition nicht zu. Erstens. Das Gesetz wurde nicht, wie früher üblich, nach gemeinsamen Berichterstattergesprächen unter Be- teiligung aller Fraktionen ins parlamentarische Verfah- ren gegeben. Zweitens. 2002 wurde der Landkreis Rotenburg mit dem Landkreis Verden zum Bundestagswahlkreis Roten- burg/Verden zusammengelegt. 2009 wird der Landkreis Rotenburg wieder durch Neuordnung belastet. Zudem beinhaltet der Landkreis Rotenburg nun zwei Bundestagswahlkreise. Dieses behindert die Identifizierung der Bürger und Bürgerinnen mit ihren Abgeordneten. Jens Ackermann (FDP): Ich stimme dem durch die Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurf eines Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Drucksachen 16/7462, 16/7815, nicht zu. Begründung: Erstens. Das Gesetz wurde nicht, wie früher üblich, nach gemeinsamen Berichterstattergesprä- chen unter Beteiligung aller Fraktionen in das parlamen- tarische Verfahren gegeben. Zweitens. Der Wahlkreis 68, Börde-Jerichower Land, in Sachsen-Anhalt, reicht von der Landesgrenze zu Nie- dersachsen bis zur Landesgrenze Brandenburgs. Bei ei- ner so großen Fläche kommt es zu einer Ungleichbe- handlung der Kandidaten im Vergleich zu denen, die sich in flächenmäßig kleineren Wahlkreisen um ein Mandat bemühen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Trennungsüber- nachtungsgeld während Auslandseinsatz wei- terzahlen (Tagesordnungspunkt 16) Robert Hochbaum (CDU/CSU): Der bedeutende englische Dichter und Dramatiker William Shakespeare hat einmal gesagt: „Besser drei Stunden zu früh als eine Minute zu spät.“ An die Damen und Herren von der FDP gerichtet: Es scheint mir, als wenn Sie sich diesen klugen Ausspruch bei der Formulierung Ihres Antrages zu eigen machten. Leider ist es aber nicht im positiven Sinne zu sehen. Ich gehe sicherlich mit Ihrem Ansinnen einig, muss Ihnen aber mitteilen, dass Sie hier eine Minute zu spät gehan- delt haben. Bereits am 5. September letzten Jahres, genau zwei Monate vor Herausgabe Ihres Antrages, hat das Verteidi- gungsministerium unter Leitung von Bundesminister Jung sich dem Thema angenommen und die Weiterzah- lung des Trennungsübernachtungsgeldes während der Auslandsverwendung unserer Soldatinnen und Soldaten gegenüber dem zuständigen Bundesinnenministerium gefordert. Dies befindet sich derzeit in der Prüfung, und wir erwarten zeitnah ein Ergebnis, um dann in die parla- mentarische Beratung zu gehen. Zentral ist also hier die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14735 (A) (C) (B) (D) Aussage: Wir haben das bereits lange erkannt, wir sind dran, und Ihr Antrag kommt leider zu spät. Was steckt nun hinter unserer Forderung, und warum sehen wir es als notwendig an, bei diesem Thema zu handeln? Knapp 7 000 deutsche Soldatinnen und Solda- ten beteiligen sich gegenwärtig für die Sicherheit Deutschlands in Auslandseinsätzen der Bundeswehr an den verschiedensten Orten der Welt. Der Großteil davon befindet sich in unsicheren, gar gefährlichen Gebieten, wie zum Beispiel in Afghanistan und im Kosovo. Diese 7 000 Soldatinnen und Soldaten nehmen zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger tagtäg- lich große Gefahren und Belastungen auf sich. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel, um für uns in Deutschland ein Le- ben in Frieden und Sicherheit zu gewähren. Aus diesem Grund ist es unsere Verantwortung, ihnen nicht nur am Einsatzort, sondern auch zu Haus am Dienstort, Rah- menbedingungen zu schaffen, die keine zusätzliche Be- lastungen darstellen und die ihnen das Wissen geben, sich im Einsatz auf ihren Auftrag konzentrieren zu kön- nen. Die Bundeswehr wird heute von den internationalen Einsätzen geprägt. Die Struktur unserer Streitkräfte wird zudem konsequent auf Einsätze ausgerichtet. Um den besonderen Bedingungen der Auslandseinsätze weiter gerecht zu werden, sieht das Verteidigungsministerium Handlungsbedarf bei der sogenannten Trennungsgeld- verordnung. Warum ist dies so? Wie ist der aktuelle Stand? Tren- nungsgeldempfängern werden derzeit nach § 3 Tren- nungsgeldverordnung die notwendigen nachgewiesenen Kosten der Unterkunft als Trennungsübernachtungsgeld erstattet. Ändert sich der neue Dienstort, wie es bei Kommandierungen zum Auslandseinsatz in der Regel der Fall ist, werden für längstens drei Monate diese Kos- ten für das Beibehalten der Unterkunft erstattet. Da die Auslandseinsätze unserer Soldatinnen und Soldaten übli- cherweise vier Monate andauern, besteht hier eine Lü- cke, die es gilt zu schließen. Leider ist zu konstatieren, dass seitens der Judikative kein klares Dafürhalten in Bezug auf die Auslandsver- wendung ausgesprochen wurde. Die Rechtsprechung hat die Weitergewährung von Trennungsübernachtungsgeld bei einer dienstlich veranlassten Abwesenheit von mehr als drei Monaten abgelehnt. Jedoch wurde in diesem Zu- sammenhang festgestellt, dass eine Kündigung der Unterkunft als unzumutbar angesehen werden kann, nämlich dann, wenn feststeht, dass der Trennungsgeld- berechtigte schon kurze Zeit nach Ablauf der Kündi- gungsfrist an den Dienstort zurückkehrt und dann län- gere Zeit benötigt, um eine neue Unterkunft anzumieten. Zwar ist es schon bisher in Einzelfällen möglich, die not- wendigen Kosten für das Beibehalten der Unterkunft zu erstatten, wenn durch kurzfristige Ein- und Ausplanun- gen keine Möglichkeit mehr besteht, die Unterkunft rechtzeitig zu kündigen. Es ist jedoch eine generelle Re- gelung notwendig, die nicht von Einzelfällen und Aus- nahmen lebt. Unsere Fraktion hat gemeinsam mit dem Bundesverteidigungsministerium erkannt, dass dieser Situation Rechnung zu tragen ist. Die Forderung des BMVgs gegenüber dem Innenministerium sieht vor, den noch bestehenden Dreimonatszeitraum auf ein Jahr zu verlängern. Die CDU/CSU-Fraktion schließt sich die- sem Vorschlag an. Unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen einen freien Rücken zu Hause, um sich im Ein- satz ihrem Auftrag stellen zu können. Ich denke, der Antrag der FDP geht sicherlich in die richtige Richtung. Nur wird er durch unsere bereits be- gonnenen Aktivitäten obsolet. Ich bitte jedoch die Da- men und Herren der FDP – und da vor allem die Mitglie- der im Innenausschuss –, sich bei der parlamentarischen Beratung nicht querzustellen und unsere Änderungen in der Trennungsgeldverordnung mitzutragen – für unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Wir empfehlen Überweisung an die Ausschüsse und bitten um Ihre Zu- stimmung. Rolf Kramer (SPD): Beim ersten Lesen des Antrages der FDP hatte ich so etwas wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Die FDP entdeckt mal wieder ihre soziale Ader im Bereich der Bundeswehr. So weit, so gut – oder so schlecht –, denn in diesem Fall muss man sich den Antrag mal etwas genauer anschauen. Die FDP fordert in ihrem Antrag die Vorlage eines Gesetzentwurfes, um trennungsgeldberechtigten Solda- tinnen und Soldaten mit Wohnung am Dienstort das Trennungsübernachtungsgeld für die gesamte Dauer ei- nes Auslandseinsatzes zahlen zu können. Die gültige Trennungsgeldverordnung sieht die Zahlung von Tren- nungsübernachtungsgeld für höchstens drei Monate vor, Auslandseinsätze dauerten in der Regel aber vier Mo- nate. Damit bestände, so der Antrag der FDP, faktisch ein Kündigungszwang für die Wohnung, um zusätzliche Kosten für diese Soldatinnen und Soldaten zu vermei- den. Dieser Zustand sei nicht weiter hinnehmbar. Als Begründung für diesen Antrag wird auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Bautzen aus dem Jahre 2003 (sic!) hingewiesen. In einer Bemerkung der Ur- teilsbegründung stellte das Gericht fest: „Ob die Kündigung einer unentgeltlichen Unter- kunft … zumutbar ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Dauer der Zwischenverwendung. Eine Kündigung wird etwa dann als unzumutbar angesehen, wenn feststeht, dass der Trennungsgeldberechtigte schon kurze Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist an den Dienstort zurückkehren und er dann längere Zeit benötigen wird, um eine Unterkunft anzumieten.“ Aus meiner Sicht stellt sich aber die Frage, ob dieser Hinweis des OVG für die Notwendigkeit einer grundsätz- lichen Veränderung herhalten kann. Der zitierte Hinweis des Gerichts macht deutlich, dass die in der Trennungs- geldverordnung festgelegte Zumutbarkeitsregelung eine Einzelfallentscheidung auch zugunsten der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz möglich macht. Zudem muss hinterfragt werden, wie viele Betroffene es über- haupt gibt. Es geht ja in erster Linie um Soldatinnen und Soldaten, die an ihrem Dienstort eine Zweitwohnung un- 14736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 (A) (C) (B) (D) terhalten und von dort zum Auslandseinsatz abkomman- diert worden sind. Wenn ich mir den vom OVG verhandelten Fall an- schaue, der ja für den klagenden Soldaten in zweiter In- stanz negativ ausfiel, so kann ich daraus keinen konkreten Änderungsbedarf erkennen. Auch er stand vor einem vier- monatigen Auslandseinsatz. Der Kläger hatte die Wahl, entweder seine Wohnung zu behalten und die in der Zeit nach der mietvertraglichen Kündigungsfrist bis zum Ende des Auslandseinsatzes anfallenden Mietkosten selber zu tragen. Damit hätte er sich die mit der Kündigung, der Räumung und der Suche einer neuer Wohnung verbunde- nen Erschwernisse ersparen können. Oder er hätte diese Erschwernisse hingenommen und hätte stattdessen keine Mietkosten zu tragen gehabt, die nicht in Form von Tren- nungsübernachtungsgeld ersetzt werden. Dazu kam, dass im letzteren Fall die Bundeswehr dem Soldaten bei seiner Rückkehr aus dem Auslandseinsatz eine unentgeltliche Unterkunft zur Verfügung gestellt hätte. Bei allen sicher- lich vorhandenen Erschwernissen für den Soldaten: Von einer Unzumutbarkeit kann hier dann keine Rede sein. Die Wahl war eine persönliche Entscheidung des Solda- ten. Und zu diesem Ergebnis kam auch das Oberverwal- tungsgericht. Und abschließend stellte es in seinem Urteil fest: „Das Trennungsgeldrecht hat nicht die Funktion, dass der Dienstherr nach Ablauf der Kündigungs- frist die Miete für eine vom Beamten oder Soldaten nicht genutzte Wohnung weiterzahlt, nur um dem Beamten oder Soldaten Unannehmlichkeiten oder Erschwernisse zu ersparen“. Vor diesem Hintergrund ist auch der Antrag der FDP zu bewerten. Die große Mehrheit in diesem Hause weiß es zu würdigen, was unsere Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz leisten. Und es ist durchaus legitim, zu fordern, die Umstände für den Auslandseinsatz für jede Soldatin, jeden Soldaten so angenehm wie möglich zu ge- stalten. Aber lassen Sie uns diese Thematik im Verteidi- gungsausschuss in Hinblick darauf beraten, ob für die ein- zelnen Betroffenen nicht eine Regelung im Rahmen der Trennungsgeldverordnung zwischen den beiden Häusern BMI und BMVg gefunden werden kann. Birgit Homburger (FDP): Im März 1960 wurden erstmals Bundeswehrsoldaten im Ausland eingesetzt, zur Linderung der Auswirkungen einer Naturkatastro- phe. In den darauffolgenden 30 Jahren folgte eine Viel- zahl von Missionen zur humanitären und zur Katastro- phenhilfe; die größte von ihnen war der Sanitätseinsatz in Kambodscha. Seit nunmehr gut eineinhalb Jahrzehnten engagieren sich deutsche Soldatinnen und Soldaten zusätzlich welt- weit für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung von Frie- den und Stabilität. Aktuell sind knapp 7 000 von ihnen im Einsatz, und zwar in Dschibuti und am Horn von Afrika, auf Zypern und im Mittelmeer, im Sudan, in Äthiopien, im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, Geor- gien, Usbekistan und, last but not least, in Afghanistan. Viele Milliarden Euro haben diese Einsätze der Bun- deswehr gekostet, sei es für den Transport, für die Aus- rüstung, für Hilfs- und Unterstützungsleistungen oder auch für die zusätzliche Ausbildung unserer Soldatinnen und Soldaten sowie für deren Unterbringung im Einsatz- gebiet. Viel wird den Bundeswehrangehörigen abverlangt, viele Entbehrungen werden ihnen aufgebürdet. Nicht nur sie selbst sind davon betroffen, sondern auch ihre Freun- dinnen und Freunde, ihre Frauen, Männer und Kinder. Ohne Zweifel, der Soldatenberuf ist nicht ein Beruf wie jeder andere. Die Soldatinnen und Soldaten, die diesen Beruf gewählt haben, wussten das vorher. Dennoch hat der Dienstherr, der Bundesminister der Verteidigung, die selbstverständliche Pflicht, die Härten, Erschwernisse und widrigen Umstände, die der Soldatenberuf mit sich bringt, durch eine besondere Fürsorge wenigstens zu mildern. Diese Pflicht scheint bisweilen vernachlässigt zu wer- den! Ich erinnere an die unterschiedliche Besoldung in Ost und West über fast zwei Jahrzehnte; ich erinnere an die völlig indiskutable Eingangsbesoldung bei den Zeit- soldaten; ich erinnere an die Kürzung des Weihnachts- geldes, kurz: an die realen Einkommensverluste der Sol- datinnen und Soldaten. Es passt nicht zusammen. Auf der einen Seite wird den Bundeswehrangehörigen mehr und mehr abverlangt, auf der anderen Seite wird ihnen aber mehr und mehr ge- nommen. Dieser Zustand muss schnellstens beendet werden. In diesem Zusammenhang ist die Weigerung des Dienstherrn, trennungsgeldberechtigten Soldatinnen und Soldaten mit einer Wohnung am Dienstort in Deutsch- land das Trennungsübernachtungsgeld während deren Auslandseinsatz über drei Monate hinaus zu zahlen, ein Skandal. Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehr-Verban- des hat in einem Schreiben an das Bundesministerium der Verteidigung vor einem halben Jahr dringend darum gebeten, diesen Missstand auf dem Erlasswege zu behe- ben, da das Bundesministerium des Innern eine Anpas- sung der Trennungsgeldverordnung offenbar nicht mit- tragen will. Hierzu ist anzumerken, dass lediglich eine Sonderegelung für den Personenkreis nötig ist, der im Auftrag der Bundesregierung an Einsätzen im Ausland teilnimmt. Völlig unverständlich ist mir die Aussage des Bun- desministeriums der Verteidigung im Antwortschreiben an den Bundeswehr-Verband: „Die einschlägigen Vor- schriften der Trennungsgeldverordnung lassen dieses leider nicht zu, was auch durch die Rechtsprechung be- stätigt wird.“ Wer kann die einschlägigen Vorschriften der Trennungsgeldverordnung denn ändern? Doch wohl die Bundesregierung selbst! Wer denn sonst? Wo aber ist das Bekunden des Bundesministers der Verteidigung, seinen betroffenen Soldatinnen und Solda- ten zu helfen? Seit Jahren währt dieser ungerechte und unhaltbare Zustand. Was geschieht? Nichts! Die Bundes- regierung und die sie tragenden Bundestagsfraktionen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 14737 (A) (C) (B) (D) von CDU/CSU und SPD ergehen sich stattdessen in bü- rokratischer und krämerischer Kleinkariertheit. Von einer Fürsorgepflicht des Bundesministers der Verteidigung und der Bundeskanzlerin kann hier nun wahrlich nicht die Rede sein. Deshalb kann ich allen Mitgliedern des Hohen Hauses nur empfehlen, dem vor- liegenden Antrag der FDP-Fraktion zuzustimmen, um den Missstand beim Trennungsübernachtungsgeld zu be- enden. Paul Schäfer (DIE LINKE): Die Initiative der FDP ist zu begrüßen. Die Fraktion Die Linke unterstützt es, dass die Auszahlung des Trennungsübernachtungsgeldes für Soldaten, die an ihrem Dienstort wohnen, an die tat- sächliche Dauer des Auslandseinsatzes angeglichen wird. Es ist schon nicht untypisch, dass die Regierung emsig bemüht ist, wenn es um die militärische Einsatz- bereitschaft der Truppe für die Militärintervention in al- ler Welt geht, aber der Eifer bei der Regelung der sozia- len Folgeprobleme stark nachlässt. Die viermonatige Stehzeit bei den Einsätzen ist seit langem die Regel, aber die Anpassung des Trennungsübernachtungsgelds lässt bis heute auf sich warten. Manche Soldatinnen und Sol- daten sind dadurch in die schwierige Lage geraten, ihre Wohnung kündigen zu müssen – um Extrakosten zu ver- meiden. Das ist nicht akzeptabel. Unbeschadet unserer Kritik an den Auslandseinsätzen bestehen wir darauf, dass diese Politik nicht zulasten der Soldatinnen und Soldaten geht. Die Regierung ist jetzt am Zuge und sie sollte sich mit einem Gesetzentwurf nicht allzu lange Zeit lassen, damit an dieser Stelle die Lage für die Be- troffenen rasch verbessert wird. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Keine Frage, dass die Anforderungen an die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr durch die Auslandsein- sätze enorm gestiegen sind. Zugleich sind mit der Trans- formation der Bundeswehr eine Reihe von sozialen Be- lastungen für die Soldaten und Soldatinnen sowie ihre Familien verbunden, vor denen wir die Augen nicht ver- schließen dürfen. Deshalb haben wir Grünen in der Ver- gangenheit notwendige Regelungen zur Verbesserung der sozialen Rahmenbedingungen von Auslandseinsät- zen, wie das Personalanpassungsgesetz von 2001 oder das Einsatzweiterverwendungsgesetz aus dem vergange- nen Jahr, auch unterstützt. Mit dem Einsatzweiterver- wendungsgesetz wird eine längst überfällige gesetzliche Grundlage geschaffen, die im Auslandseinsatz verwun- deten Soldatinnen und Soldaten auf Zeit nun endlich ein Anrecht auf Weiterbeschäftigung garantiert. Das ist aus- drücklich zu begrüßen. Im Bereich der sozialen Rahmenbedingungen für Auslandseinsätze gibt es aber noch einiges, was dringend angegangen werden muss. Die Anpassung der Tren- nungsgeldverordnung, damit Soldaten und Soldatinnen für die gesamte Dauer des Auslandseinsatzes Trennungs- übernachtungsgeld erhalten, ist hierbei allerdings nur ein Aspekt. Mit der bisherigen Regelung, der zufolge Tren- nungsübernachtungsgeld während des Auslandseinsatzes nicht länger als drei Monate gewährt wird, wird die heu- tige Realität der Bundeswehr nur unzureichend berück- sichtigt. Es kann daher nicht verwundern, wenn auch im Petitionsausschuss die Regelungen des Trennungsgeldes bereits mehrfach thematisiert wurden. Entsprechend der derzeitigen Regelung müssten Soldaten und Soldatinnen ihre Zweitwohnung am Dienstort spätestens nach drei Monaten Auslandseinsatz kündigen, wenn sie die anfal- lenden Mietkosten nicht aus der eigenen Tasche zahlen wollen. Wenn sie nach der Rückkehr aus dem Einsatz au- ßerdem nicht auf dem Kasernengelände untergebracht werden wollen, müssen sie sich direkt nach dem Einsatz auf Wohnungssuche begeben – mit allen Unannehmlich- keiten und Nachteilen, die damit verbunden sind. Gerade nach der Rückkehr aus dem Einsatz sind aber besondere Anforderungen an Anpassung und Orientierung notwen- dig. Von vielen Soldaten und Soldatinnen wird daher die bisherige Regelung zu Recht als zusätzliche Belastung und Zumutung wahrgenommen. Hier muss Abhilfe ge- schaffen werden. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich das Ansinnen, Trennungsübernachtungsgeld für die ge- samte Dauer des Einsatzes zu zahlen. Im Zusammenhang mit der Verbesserung der sozialen Rahmenbedingungen für Auslandseinsätze möchte ich noch einen anderen wichtigen Punkt ansprechen: Vor al- lem müssen wir endlich im Bereich posttraumatischer Belastungsstörungen vorankommen. Trotz der eindeutig verbesserten psychosozialen Betreuung, Begleitung und Beratung sowie dem Ausbau von Reintegrationsangebo- ten für Bundeswehrangehörige und ihre Familien steigt die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten, die unter psy- chischen Problemen leiden, sukzessive an. Laut Truppen- psychologischem Dienst sind 1 600 Fälle für die Bundes- wehr bekannt, davon sind 600 Fälle posttraumatische Belastungsstörungen. Das ist beunruhigend und gehört endlich mehr auf die Tagesordnung. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Anträge: – Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben fül- len – Menschenrechte in Zentralasien stärken (Tagesordnungspunkt 18 a und b) Michael Leutert (DIE LINKE): Der hier zur Diskus- sion gestellte Antrag könnte damit abgetan werden, dass einer seiner Aktualitätsbezüge – die deutsche EU-Rats- präsidentschaft – inzwischen entwertet ist. Es dabei be- wenden zu lassen, würde der Thematik aber nicht ge- recht. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Zwei will ich hier nennen: Die EU konkurriert mit Russland, der VR China und den USA um die Ausbeutung der ökono- mischen Ressourcen in der Region Zentralasien; eine wichtige Ursache für die Konfliktträchtigkeit dieser Re- gion ist unter anderem darin zu sehen, dass sich aus öko- nomischen und ökologischen Gründen in dramatischer Weise inner- und zwischenstaatliche Konfliktpotenziale aufbauen. Das reicht vom Abschmelzen der Gletscher 14738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 139. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 (A) (C) (B) (D) über Sandstürme bis hin zur Bodendegradation mit ent- sprechenden gravierenden ökonomischen Folgen. (Da- rüber informiert jedenfalls eine kürzlich erschiene Studie, die vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltbedingungen herausgegeben wurde.) Die Europäische Union ist – schon aufgrund ökonomi- scher Interessen – auf staatliche Stabilität in der Region angewiesen. Die Gefahr besteht dann freilich darin, die Perspektive auf staatliche Stabilität ökonomistisch zu begrenzen: wirtschaftlich kooperieren kann man schließ- lich auch mit jedem Regime, solange es für die nötige Stabilität sorgt. Von daher begrüßen wir den vorliegen- den Antrag ausdrücklich. Ökonomische Kooperation mit den zentralasiatischen Staaten schön und gut – aber das Feld der Menschenrechtspolitik weitgehend der OSZE zu überlassen, widerspricht dem starken europäischen Interesse an der Region. Wer aufgrund ökonomischer In- teressen staatliche Stabilität will, der muss auch den Pri- mat rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Normen bei der Ausgestaltung der Staatlichkeit in den zentral- asiatischen Republiken wollen können. Dieses Thema muss im Zentrum der Dialogbemühungen und Abkom- men zwischen der EU und den zentralasiatischen Staaten stehen. Hier können wir der Grünen-Fraktion absolut zu- stimmen. Die EU und die Bundesregierung dagegen ver- halten sich gerade gegenüber Ländern wie Usbekistan entschieden zu leisetreterisch, gerade angesichts der äu- ßerst brutalen Protestniederschlagung in Andijon im Jahr 2005. Dazu habe ich mich hier schon mehrfach geäußert und würde es auch dabei bewenden lassen. 139. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 24. Januar 2008 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613900000

Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und
uns gute Beratungen.

Die heutige Sitzung des Bundestages beginnt gleich
mit einem ersten Höhepunkt: Der Kollege Dr. Peter
Struck feiert heute seinen 65. Geburtstag.


(Beifall)


Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu sehr
herzlich und wünsche alles Gute. – Lieber Peter, ich
empfinde es als Ausdruck des Respekts und der Einsicht,
dass die guten Wünsche des ganzen Hauses nicht mit
dem Kommentar „Die können mich mal!“ zurückgewie-
sen werden.


(Heiterkeit)


Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen

Rede
der CDU/CSU und der SPD:

Energie- und Klimapaket der EU-Kommission

(siehe 138. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

(Ergänzung zu TOP 24)


a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Universitäre Exzellenz sichern – Exklusivität
des Promotionsrechts wahren

– Drucksache 16/7842 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
tzung

en 24. Januar 2008

.00 Uhr

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Medienabhängigkeit bekämpfen – Medien-
kompetenz stärken

– Drucksache 16/7836 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:

Aufgaben von Bundeswehrkampftruppen als
Quick Reaction Forces in Afghanistan

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:

Haltung der Bundesregierung zu den Äuße-
rungen des ehemaligen Bundeswirtschafts-

text
ministers Wolfgang Clement zur Energiepoli-
tik

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.

Die abschließende Beratung des Gesetzes zur Ände-
rung des Bundespolizeigesetzes – das ist der Tagesord-
nungspunkt 4 – wird auf morgen verschoben. Das
Thema soll nach dem Tagesordnungspunkt 21 aufgeru-
fen werden. Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 11
– dabei handelt es sich um die zweite und dritte Lesung
des Aufsichtsstrukturmodernisierungsgesetzes – abge-

eren Tagesordnungspunkte der Koalitions-
rden dementsprechend vorgezogen.

mit diesen Änderungen einverstanden? –
setzt. Die and
fraktionen we

Sind Sie

Das ist der Fall. Damit ist das so beschlossen.






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Jahreswirtschaftsbericht 2008 der Bundes-
regierung – Kurs halten

– Drucksache 16/7845 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Mi-
chael Glos.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Der Titel des Jahreswirtschaftsberichts heißt: „Kurs
halten!“ Das ist etwas, was natürlich auch ein Fraktions-
vorsitzender tun muss. Deswegen gratuliere ich dem Pe-
ter Struck auch von hieraus ganz herzlich zu seinem Ge-
burtstag.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun weiß ich aus eigener Erfahrung, dass man in ei-
nem wichtigen Führungsamt im Parlament viel mehr Ge-
legenheit hat, von einem ganz strengen Kurs abzuwei-
chen, und mehr Manövriermasse hat. Wenn man
Regierungsmitglied ist, ist das – das weiß auch Peter –
anders. Deswegen versuche ich, mich so weit als mög-
lich exakt an den Kurs der Bundesregierung zu halten.


(Dr. Rainer Wend [SPD]: Soweit das möglich ist! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Gibt es den?)


– Soweit das möglich ist.

Kurs halten, das ist ein Appell, der sich, wie ich
meine, an uns alle richtet, Herr Westerwelle. Wir sehen
natürlich mit Sorge, was an den Börsen der Welt ge-
schieht. Wir können das nicht direkt beeinflussen, son-
dern wir können nur durch unser eigenes Verhalten ein
Stück weit ein Beispiel geben und vor allen Dingen den
Menschen ein Stück weit Vertrauen in den Kurs unserer
Wirtschaftspolitik geben.

Worauf es ankommt, ist – ich sage es noch einmal –
Vertrauen in die Solidität unseres Banken- und Finanz-
systems. Trotz der bekannten Einzelfälle kann es daran
keinen Zweifel geben. Immer dann, wenn Banken in
Deutschland in Krisensituationen geraten sind, haben die
Sicherungsinstrumente ausgereicht, um sie zu stützen.
Diese werden wir auch weiterhin nutzen. Wir hoffen al-
lerdings, dass keine weiteren Fälle mehr auftreten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Des Weiteren: Vertrauen in die Wirtschaftspolitik.
Wir müssen alles tun, um unsere Wirtschaft zu stärken
und sie gegen Konjunkturrisiken zu impfen. Der Titel
„Kurs halten!“ ist ein Appell an diejenigen, die in
Deutschland wirtschaftspolitische Verantwortung tragen,
betrifft also auch das ganze Haus hier. Dies ist aber auch
erstens ein Appell an die Unternehmen, ihre Wettbe-
werbsfähigkeit weiter zu verbessern, und zweitens ein
Appell an die Tarifparteien, ihre verantwortungsvolle
Lohnpolitik der vergangenen Jahre fortzusetzen. Die Ta-
rifpartner wissen am allerbesten, wo Spielräume sind,
wo man aufgrund der Gewinnentwicklung diese Spiel-
räume besser nutzen kann und wo sich Spielräume mög-
licherweise verengen. Das verstehe ich unter einer ver-
antwortungsvollen Lohnpolitik.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Dies ist drittens ein Appell an die Bürgerinnen und Bür-
ger in unserem Land. Auch wenn es uns die Bilder und
die Nachrichten aus Bochum schwer machen: Wir müs-
sen den Strukturwandel weiterhin als Chance begreifen
und ihn da, wo wir können, aktiv gestalten.

„Kurs halten“ ist vor allen Dingen eine Aufforderung
an uns selbst in der Koalition, bei unserem erfolgreichen
Kurs zu bleiben; denn Deutschland ist insgesamt auf ei-
nem guten Kurs.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Bilanz der Bundesregierung kann sich sehen lassen.
Die Reformen der letzten Jahre zahlen sich aus: für den
Staat in Form von gesunden Staatsfinanzen, für die Un-
ternehmungen in Form von höherem Absatz und höhe-
ren Gewinnen.


(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


– Ich freue mich sehr, Herr Lafontaine, dass Sie sich da-
rüber freuen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darüber würde ich mich aber nicht freuen! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Läuft da was bei euch?)


Denn nur prosperierende Unternehmungen können er-
folgreich sein und den Menschen Arbeit und die Sicher-
heit geben, die sie gerne hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Michael Glos
Die Reformen zahlen sich auch für die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in Form von zusätzlichen und
sichereren Arbeitsplätzen aus,


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Nokia!)


aber auch in Form von wieder günstigeren Einkommens-
perspektiven. Mit über 40 Millionen Erwerbstätigen
wurde 2007 ein historischer Höchststand erreicht. Insbe-
sondere die sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung nahm mit einem Plus von 0,7 Millionen Personen
oder 2,6 Prozent außerordentlich kräftig zu. Seit 2005
haben wir zusätzlich über 1 Million Menschen, die wie-
der in Lohn und Brot stehen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das sind die Gewinner des Aufschwungs!)


Nun haben vom Aufschwung auch diejenigen profi-
tiert, die es bisher schwer hatten, einen neuen Job zu fin-
den: die Älteren, die Langzeitarbeitslosen und die Ar-
beitnehmer mit einfachen Qualifikationen,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)


aber vor allen Dingen die Jugendlichen, die sehr viel
leichter wieder Lehr- und Ausbildungsplätze finden.
Auch das ist das Ergebnis der guten Konjunktur und der
besseren wirtschaftlichen Lage.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diesen Erfolg dürfen wir nicht kaputtmachen. Wir dür-
fen das Erreichte nicht verspielen. So hat es der Sachver-
ständigenrat in seinem letzten Gutachten formuliert.
Über dieses Gutachten diskutieren wir heute.

Die Ausgangslage ist nach wie vor gut. Das Jahr 2007
war für Deutschland ein hervorragendes Jahr. Das
Wachstum war mit 2,5 Prozent besser als prognostiziert.
Der seit fast drei Jahren anhaltende Wachstumsprozess
in Deutschland wird sich auch in diesem Jahr fortsetzen.
Auch wenn die Risiken gestiegen sind und ein geringe-
res Tempo prognostiziert wird, geht es weiterhin vor-
wärts.

Die Immobilienkrise in den USA ist die Korrektur
realwirtschaftlicher Entgleisungen. Der Vergleich zur In-
ternetblase am Anfang des Jahrtausends drängt sich auf.
Jetzt ist der Gewinn- und Konsumrausch in den USA zu-
nächst einmal vorbei. Wir sehen natürlich die Bemühun-
gen, neues Geld in den dortigen Markt zu pumpen. Wir
begrüßen die Maßnahmen, die die Fed dort getroffen hat.
Wir Deutsche haben bisher über unseren Export und
über die zusätzlichen Wachstumskräfte, die von dort aus-
gehen, von der Entwicklung in den USA profitiert.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt wohl!)


Wer aber in die eine Richtung dabei war, kann nicht
ausschließen, dass er auch in die andere Richtung ein
Stück dabei ist. Wir wollen alles tun, was sich dagegen
machen lässt. Aber Risiken sind einfach vorhanden. Wir
kennen die genauen Folgen dieser Bereinigung, die jetzt
zwangsläufig geschieht, nicht. Es gibt aber keinen Grund
für Panikmache, wie sie von vielen selbsternannten Bör-
senexperten betrieben wird. Wir wissen, dass es an der
Börse immer ein Auf und Ab gibt. Jeder, der sein Geld
anlegt, muss wissen: Das ist keine Einbahnstraße. Der
Gewinn ist nie garantiert. Es wird nicht geklingelt. Ich
sage es noch einmal: Es gibt weder Grund für Panik
noch Grund für Ignoranz.

Der Außenhandel verliert etwas von der treibenden
Kraft, die er bisher für unseren Aufschwung darstellte.
Wir müssen schauen, dass wir die Inlandskonjunktur
stärken. Die deutsche Wirtschaft steht, wie gesagt, im
Vergleich zu anderen gut da. Es zeigt sich zum Beispiel
an der anhaltend guten Investitionstätigkeit, dass immer
noch Vertrauen in unser Land besteht. Auch beim Kon-
sum der privaten Haushalte erwarten wir wie auch an-
dere – das ist nicht nur die Erwartung der Bundesregie-
rung, sondern auch die vieler Forschungsinstitute –, dass
es in diesem Jahr wieder einen klareren Impuls nach
oben gibt.

Wir rechnen mit einem weiteren Arbeitsplatzaufbau
in Deutschland. Das halte ich für ganz besonders wich-
tig. Wir rechnen damit, dass die Arbeitslosenzahlen im
Jahresverlauf per saldo um 330 000 sinken werden.
Auch das ist eine gute Nachricht.

Alles in allem erwarten wir für das Gesamtjahr einen
Zuwachs des realen Bruttoinlandsproduktes von 1,7 Pro-
zent. Das liegt am unteren Ende der Spannbreite der ak-
tuellen Prognosen. Sie wurden nicht unter kurzfristigen
Eindrücken gemacht, wie sie zum Beispiel Bilder aus In-
dien auslösen, wo die Börsen geschlossen werden muss-
ten. Sondern unsere Prognose beruht auf nüchterner,
sachlicher Kalkulation und auf vieljähriger Erfahrung
derer, die sie erarbeitet haben. Unsere Prognose im Jah-
reswirtschaftsbericht ist damit vorsichtiger als unsere
Prognose im Herbst. Die Risiken sind durchaus mit be-
rücksichtigt worden. Umso wichtiger ist es – das sage
ich noch einmal –, dass wir den eingeschlagenen Kurs
halten. Deswegen ist „Kurs halten!“ genau der richtige
Titel für den Jahreswirtschaftsbericht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen weiter dafür sorgen, dass Beschäfti-
gungschancen entschlossen und flexibel genutzt werden
können. Wir haben flexible Elemente im Arbeitsmarkt:
Teilzeitarbeit, tarifliche Öffnungsklauseln, befristete Ar-
beitsverträge, Zeitarbeit, Minijobs und Zeitkonten. Das
alles sind Instrumente, die wir weiter nutzen und erhal-
ten müssen.

Ein wichtiges weiteres Reformziel ist es, die Lohnzu-
satzkosten dauerhaft unter 40 Prozent zu halten. Das ist
immer eine anspruchsvolle Daueraufgabe. Je mehr Men-
schen Arbeit haben und Beiträge in unser Sozialversi-
cherungssystem zahlen, umso leichter lässt sich dieses
Ziel erreichen. Deswegen muss die Beschäftigung im
Mittelpunkt unserer Maßnahmen stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben zum 1. Januar 2008 den Beitragssatz zur Ar-
beitslosenversicherung auf 3,3 Prozent senken können.
Dies hat noch der Kollege Müntefering ins Werk gesetzt.
Dafür bedanken wir uns noch einmal ausdrücklich. Dies






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Michael Glos
entlastet die Wirtschaft und stärkt unsere Wettbewerbs-
fähigkeit. Gleichzeitig bleibt mehr Netto vom Brutto in
den Geldbeuteln der Beschäftigten. Das ist ganz beson-
ders wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wo immer Spielraum bleibt, müssen wir ihn für weitere
Entlastungen nutzen. Gleichzeitig müssen wir die staatli-
chen Ausgaben so trimmen, dass mehr für Bildung, For-
schung und wachstumsfördernde Infrastrukturen übrig
bleibt. Nur so können wir das Erreichte halten und si-
chern; denn wir wissen, dass sich die Welt täglich ändert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Also weiter Vorfahrt für Wachstum!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mit-
arbeiter sind nur stark, wenn auch die Unternehmen
stark sind. Das mag bei international tätigen Konzernen,
die ausschließlich auf Gewinnmaximierung in der gan-
zen Welt Wert legen, anders sein.


(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


Aber es ist gottlob so, dass die deutschen Unternehmen
bis auf Ausnahmen beherzigen, dass sie nur so stark
sind, wie ihre Mitarbeiter stark sind. Die Mitarbeiter
wissen ebenfalls, dass sie nur so stark sind, wie ihre Un-
ternehmen stark sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das ist Teil unserer Unternehmenskultur, und das muss
auch so bleiben.

Wir haben mit der Unternehmensteuerreform inter-
national wettbewerbsfähige Steuersätze geschaffen. Das
ist für die Investoren aus dem Ausland ganz besonders
wichtig, um die wir ständig werben. Ich habe deswegen
Invest in Germany noch einmal gestärkt und unsere
Wirtschaftsförderinstrumente stärker unter einem Dach
zusammengeschlossen. Wir müssen immer wieder selbst
über unsere Stärken reden; andere werden es nicht tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen natürlich auch die Umsetzung von Ver-
sprochenem. Wenn etwas, was versprochen wurde, nicht
eintritt, dann gibt es Enttäuschung. So ist zum Beispiel
eine Erbschaftsteuerreform angekündigt, die Unter-
nehmensübergaben erleichtert. Ich bin sehr optimistisch,
dass das Parlament dies in die Tat umsetzen und es zu
Lösungen kommen wird, die hinterher nicht mehr Ent-
täuschungen als erfüllte Erwartungen übrig lassen. Es
wird auf jeden Fall eine Reform werden, die entlastet.
Auch wenn nicht jeder einzelne Wunsch erfüllt wird,
muss man das im Mittelpunkt sehen, worum es geht. Wir
wollen insbesondere die Unternehmensübergänge er-
leichtern.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Ein Letztes, meine sehr verehrten Damen und Herren:
Die hohen Energiekosten machen mir Sorge. Der Wirt-
schaftsstandort Deutschland muss sich im Wettbewerb
bewähren. Dafür braucht unser Land eine sichere Ener-
gieversorgung und Preise, bei denen auch die energiein-
tensiven Industrien in Deutschland noch eine Chance
haben. Dort, wo die Vorschläge der Europäischen Kom-
mission dies nicht entsprechend berücksichtigen, müs-
sen wir dagegen kämpfen.

Wir haben ein integriertes Energie- und Klimaschutz-
programm beschlossen. Es ist die richtige Antwort auf
die anstehenden Herausforderungen. Wir müssen uns
von importierter und fossiler Energie unabhängiger ma-
chen. Das ist gut für den Standort Deutschland und
gleichzeitig gut für den Klimaschutz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein Ministeramt zu übernehmen, heißt auch, ein
Stück Kontinuität im Hinblick auf das zu übernehmen,
was in diesem Haus geschehen ist. Ich kann nur sagen,
dass ich mich, was Kontinuität angeht, stärker zu der
Energiepolitik bekenne, die Wolfgang Clement gemacht
hat, als zu der, die unter seinem Vorgänger Werner Mül-
ler gemacht worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine ma-
ritimen Kenntnisse sind zwar unterentwickelt – ich habe
deswegen eigens eine Beauftragte für die maritime Wirt-
schaft –; aber ich weiß natürlich, dass Kurshalten bei
schwerer See schwieriger als bei Sonnenschein ist. Wenn
sich jetzt eine schwerere See zeigt, dann müssen wir das
Ruder umso kräftiger halten. Dazu gibt es keine Alterna-
tive.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613900100

Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nach Gloria kannst du gar nicht besser sein! – Dr. Rainer Wend [SPD]: Freiheit!)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1613900200

Das ist schon einmal richtig. – Herr Präsident! Meine

Damen und Herren! Die Finanzkrise hat die Banken in
Deutschland und mittlerweile auch die Börse voll er-
reicht. Den freien Fall der Börsenkurse rund um die Welt
hat die überraschend massive Zinssenkung der amerika-
nischen Notenbank zunächst gebremst. Die New York
Times schreibt dazu, dass es keine Panik der Privatanle-
ger, sondern eine Panik der Profis sei. Bundeskanzlerin
und Bundeswirtschaftsminister erklären dazu, es gebe in
Deutschland keinen Grund zur Sorge, die Konjunktur sei
stabil.

Allerdings haben Befürchtungen Hochkonjunktur,
dass der Aufschwung schon bald zu Ende gehen könnte.
Die Menschen in Deutschland sorgen sich. Sie haben






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Brüderle
auch Grund dazu. Noch ist die Lage der Wirtschaft gut.
Die Aussichten sind allerdings trüber geworden. Wir ha-
ben eine Vertrauenskrise. Die Menschen vertrauen den
Banken nicht mehr so recht. Das liegt auch an einer zum
Teil miserablen Informationspolitik. Die Banken ver-
trauen sich untereinander nicht mehr. Der Geldmarkt
drohte teilweise zusammenzubrechen.

Die Regierung aber betreibt keine Politik, die das Ver-
trauen wieder stärken könnte. Vertrauen gewinnt man
nur mit Ehrlichkeit zurück. Die Bundesregierung rechnet
sich allenfalls die Dinge schön. Das ist auch im Jahr der
Mathematik, das gerade begonnen hat, nicht seriös.

In den Vereinigten Staaten geht das Gespenst der
Stagflation um. Die Zinssenkung der Notenbank am
Dienstag war eine Entscheidung zur Konjunkturstüt-
zung, die aber mit dem Risiko der Verstärkung der Infla-
tionsgefahr verbunden ist. Wenn diese Aktion die dro-
hende Rezession nicht auffangen kann, dann gerät
Amerika in eine Stagflation.

Schon im letzten Jahr sind die Verbraucherpreise in
den Vereinigten Staaten um über 4 Prozent gestiegen.
Durch Zinssenkung immer mehr Geld in die Märkte zu
pumpen, löst langfristig keine Probleme, sondern schafft
neue. Der Druck auf den Dollar wird weiter wachsen.
Das verteuert unsere Exporte in den Dollarraum und ver-
stärkt die Tendenzen einer schwächelnden internationa-
len Wirtschaft. Die Ursache der Misere – die Immobili-
enkrise – ist noch längst nicht behoben.

Die Rezessionsgefahr in den Vereinigten Staaten ist
der größte Risikofaktor für die deutsche Konjunktur.
Professor Snower, der Präsident des Kieler Instituts für
Weltwirtschaft, warnt – ich zitiere –:

Wenn es in den USA zu einer Rezession kommt,
dann ist davon auch Deutschland mit höchstens ei-
nem Jahr Verspätung betroffen.

In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht warnen Sie deutlich
vor diesen Risiken, Herr Minister Glos. Die Bundesre-
gierung hätte aber schon längst Vorsorge dagegen treffen
können, nein: treffen müssen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Schwarz-Rot hat sich aber lieber darauf verlassen, dass
andere Länder die Konjunktur für uns in Schwung brin-
gen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welche denn, Herr Kollege Brüderle?)


Ein exportgetriebener Aufschwung ist schön; aber ohne
eine dauerhafte und robuste Binnenkonjunktur kann
das schnell zu einem Strohfeuer werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Regierung hat sich zu lange in der guten Kon-
junktur gesonnt und Zeit verspielt, statt Strukturrefor-
men, die die Abwehrkräfte der Volkswirtschaft – sozusa-
gen ihr Immunsystem – stärken, auf den Weg zu bringen.
Selbst als die Gewitterwolken über Amerika schon er-
kennbar waren, hatte Schwarz-Rot nichts Besseres zu
tun, als eine Politik des Abschwungs zu betreiben. Die
Steuererhöhungen werden 2009 fortgesetzt, wenn für
Millionen Anleger die Besteuerung der Wertsteigerung
eingeführt wird. Die geplante Gesundheitsreform mit der
Einführung des Gesundheitsfonds treibt die Kassenbei-
träge in die Höhe.

Woher nimmt die Regierung die Hoffnung, dass die
Bürger trotzdem mehr konsumieren werden? Der Jahres-
wirtschaftsbericht nennt das Risiko. Aber warum hat die
Bundesregierung nicht längst die Einkommen- und
Lohnsteuer gesenkt, damit die Menschen netto mehr zur
Verfügung haben und deshalb mehr Geld ausgeben und
den Konsum fördern können? Nein, Sie haben nichts
Besseres zu tun, als die Steuern zu erhöhen.

Die Steuerbelastung ist seit Amtsantritt dieser Bun-
desregierung 2005 um 23 Prozent gestiegen.


(Zuruf von der LINKEN: Aber nicht für die Unternehmen!)


Die Antwort auf unsere Kleine Anfrage, wie sich die real
verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte seit
Amtsantritt der Regierung geändert haben, lautet: Sie
sind um 0,4 Prozent gesunken. Die verfügbaren Einkom-
men in Deutschland sind nicht gestiegen, sondern gesun-
ken.


(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


All diese Maßnahmen wie die Einführung der Min-
destlöhne und die Mehrwertsteuererhöhung sind nicht
geeignet, wirtschaftliche Impulse auszulösen. Mindest-
löhne bedeuten Arbeitslosigkeit auf Termin.


(Beifall bei der FDP)


Damit kann allenfalls das Postmonopol zementiert wer-
den.

Die Bundesregierung ist in vielen Punkten zerstritten.
Sie zankt sich öffentlich über den Mindestlohn. Herr
Glos warnt zu Recht vor zu kräftigen Lohnerhöhungen
in den anstehenden Tarifrunden. Seine SPD-Kollegen
fordern landauf, landab, kräftig zuzulangen. Das ist ge-
nau das Gegenteil dessen, was der Bundeswirtschafts-
minister sagt. Ich sage noch einmal: Wichtig ist, dass die
Bürger netto mehr in der Tasche haben und dass der Auf-
schwung bei ihnen ankommt.


(Zuruf von der LINKEN)


Das, was Sie mit der Einführung von Mindestlöhnen
betreiben, ist ein Angriff auf die Tarifautonomie. Wir
brauchen mehr Selbstbestimmung in den Betrieben und
mehr Lohnflexibilität. Flächendeckende, staatlich sank-
tionierte Löhne, wie sie der SPD vorschweben, führen zu
staatlich festgelegten Preisen auch in anderen Sektoren.
Das ist der Weg in Dirigismus und planwirtschaftliche
Steuerung.


(Beifall bei der FDP)


Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben im ver-
gangenen Jahr an dieser Stelle gesagt, Sie wollten den
Aufschwung für Reformen nutzen. Was ist herausge-






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Brüderle
kommen? Eine Unternehmensteuerreform, die es für die
Unternehmer noch komplizierter macht und die viele
Unsicherheiten birgt, eine Gesundheitsreform, die die
Krankenkassenbeiträge nach oben treibt, ein Anschlag
auf die Tarifautonomie und auf den Wettbewerb in unse-
rem Land. Sie haben diesen Jahreswirtschaftsbericht mit
den Worten überschrieben: „Kurs halten!“ Das klingt
nett. Aber welchen Kurs überhaupt? Man kann nur einen
Kurs halten, der erkennbar ist. Das Prinzip Hoffnung al-
lein ist kein Konzept und kein Kurs in der Wirtschafts-
politik.


(Beifall bei der FDP – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Aber es ist doch ein erfolgreicher Kurs!)


Die Unternehmensnachfolge soll erleichtert werden,
aber bei der Erbschaftsteuerreform ist bis zur Stunde
nichts klar. Viele Betriebe müssen angesichts dessen,
was diskutiert wird, befürchten, dass sie mehr Erbschaft-
steuer zahlen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Geben Sie Kompetenz an die Länder ab. Lassen Sie den
Wettbewerb unter den Ländern dafür sorgen, dass die
Erbschaftsteuer abgeschafft wird, was am besten wäre,
weil sie eine unsinnige Steuer ist.


(Beifall bei der FDP)


Der Wirtschaftsminister will ermöglichen, dass dem
Mittelstand mehr Wagniskapital für Investitionen zur
Verfügung gestellt wird. Gleichzeitig wird aber im Wirt-
schaftsministerium ein Gesetz vorbereitet, das ausländi-
sche Investitionen in Deutschland beschränken soll.
Drahtzäune sind kein Weg. Der Weg in Protektionismus,
in Kapitalverkehrsbeschränkungen führt zu Gegenreak-
tionen anderer Länder und nicht zur Stärkung der deut-
schen Volkswirtschaft. Das ist der falsche Weg.


(Beifall bei der FDP)


Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Prognose
eines Wachstums von 1,7 Prozent 2 Milliarden Euro we-
niger Steuereinnahmen bedeutet. Die Berechnungen, die
Sie hierzu vorgelegt haben, basieren auf einem Wachs-
tum von 2 Prozent und sind somit falsch. Sie hätten den
Bundeshaushalt rechtzeitig kräftiger konsolidieren kön-
nen. Sie hätten den Haushalt ohne Neuverschuldung ver-
abschieden können. Das haben Sie nicht gemacht. Die
einzige Vorsorge, die Sie gegen den drohenden Ab-
schwung treffen, besteht darin, die Arbeitslosenstatistik
zu schönen. Das ist aber keine Lösung. Was Sie tun
müssten, ist, das Netto der Menschen zu erhöhen, indem
Sie sie steuerlich entlasten. Damit stärken Sie die Bin-
nenkonjunktur und die eigenen Abwehrkräfte gegen dro-
hende Gewitterwolken draußen in der Weltwirtschaft.


(Beifall bei der FDP – Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident, es gibt etwas zu tun.

Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613900300

Der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage

stellen, und der Kollege Brüderle will sie offenkundig
gerne beantworten. – Bitte schön.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1613900400

Herr Kollege Brüderle, ich habe aufmerksam ge-

lauscht und gehört, was Sie alles zu Steuererhöhungen
und dergleichen mehr gesagt haben. Sie haben aber et-
was für die Wirtschaft und die Mitbürger ganz Wichtiges
vergessen, nämlich dass wir zum Beispiel den Beitrag
zur Arbeitslosenversicherung halbiert haben und dass
wir dadurch in den Taschen der Wirtschaft und der ein-
zelnen Mitbürger jährlich 23 Milliarden Euro mehr las-
sen. Das sollte doch einer Erwähnung wert sein, wenn
Sie einen sach- und fachgerechten Vortrag halten wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1613900500

Sehr geschätzter Herr Kollege Hinsken, gern gehe ich

auf Ihre Zwischenbemerkung ein. Ich hätte noch Vieles
sagen müssen, aber das Zeitbudget ist leider begrenzt.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Hinsken hat es gerade verlängert!)


Ich hätte zum Beispiel sagen müssen, dass Sie zum
1. Januar 2007 die größte Steuererhöhung aller Zeiten in
dieser Republik durchgeführt und damit bei den Men-
schen in einem Umfang wie noch nie abkassiert haben.


(Beifall bei der FDP)


Ich sagte vorhin, dass wir heute in Deutschland eine um
23 Prozent höhere Steuerbelastung haben als 2005. Das
ist fast ein Viertel mehr. Das bedeutet ein kräftiges Zu-
langen, das nicht ausreichend dadurch gerechtfertigt
werden kann, dass Sie den Beitrag zur Arbeitslosenver-
sicherung gesenkt haben. Sie haben vielmehr die Ba-
lance zwischen der Ermöglichung privater Eigenverant-
wortung und staatlicher Gestaltung nicht zugunsten der
privaten, eigenverantwortlichen Gestaltung verändert.
Mein Kernvorwurf ist, dass Sie keine Vorsorge getroffen
haben, um die Volkswirtschaft zu stärken und die Men-
schen in die Lage zu versetzen, etwas aus eigener Kraft
konkret für die Alterssicherung, die Gesundheitsvor-
sorge und die Pflege zu tun. Die Nettoeinkommen, die
verfügbaren Einkommen der Menschen in Deutschland,
sind – so die Antwort der Bundesregierung auf eine un-
serer Anfragen – gesunken. Sie haben die Kaufkraft also
nicht gestärkt. Sie haben die Wirtschaft nicht stärker ge-
macht. Sie haben vielmehr den billigsten Weg gewählt.
Sie haben nämlich versucht, den Haushalt durch Abkas-
sieren zu konsolidieren. Statt an die Ausgaben heranzu-
gehen, haben Sie den Haushalt kräftig aufgebläht um
13 Milliarden Euro. In Deutschland sparen nur die Bür-
ger. Das ist zu wenig. Der Mittelstand in Deutschland hat
eine bessere Politik verdient; denn er ist Träger der
Zukunftserwartungen und der Arbeitsplatzchancen für
Deutschland.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613900600

Sie beabsichtigen hoffentlich nicht, nach der Beant-

wortung der Frage jenseits Ihrer Redezeit jetzt noch zu
einem Schlusswort anzusetzen, Herr Kollege Brüderle;


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Doch!)


das könnte ich nämlich nicht zulassen.


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1613900700

Leider hat sich kein Kollege für eine weitere Frage

gefunden. Ich hätte noch viel zu sagen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613900800

Die Vorbereitung war früher auch schon mal besser,

Herr Brüderle.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nächster Redner ist der Kollege Stiegler, SPD-Frak-
tion.


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1613900900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Be-

merkungen des Präsidenten zur Rede des Kollegen Brü-
derle waren so treffend, dass ich jetzt gar nicht weiter
darauf eingehen muss. Der Kollege würde sich wün-
schen, dass er mit seinem Wunschpartner die Ergebnisse
feiern könnte, die die deutsche Wirtschaft rechtzeitig
zum 65. Geburtstag von Peter Struck in gemeinsamer
Anstrengung mit uns geliefert hat.


(Beifall bei der SPD)


Die Hauptaufgabe besteht darin, jetzt zu verhindern,
dass die Spekulationskrise und die Folgen der Betrüge-
reien auf den Finanzmärkten auf die Realwirtschaft
durchschlagen. Wir haben es quasi mit zwei Reichen zu
tun: der Welt der Spekulation, die nur immer behauptet,
sie schaffe Werte, und der Welt der Mittelständler, über-
haupt der Unternehmen, bei denen für die Menschen
Güter erzeugt und Dienstleistungen erbracht werden.
Unsere Aufgabe ist, diese reale Welt der Arbeit vor den
Folgen der Spekulationen zu schützen.

Man muss einmal daran denken, was manche dieser
großmögenden Bankherren noch vor Jahren dazu gesagt
haben, was sie an Werten geschaffen haben – alle diese
Werte schmelzen jetzt dahin wie der Schnee in der
Sonne –; nun bedrohen sie die Weltwirtschaft. Wer
musste sie retten? Die Zentralbanken und letzten Endes
die Staatsanleihen! Ohne die sicheren Häfen der Staats-
anleihen wären alle diese Spekulanten abgebrannt. So
sieht die Realität aus! Das gibt uns das Recht, diesen
Herrschaften in Zukunft strenger auf die Finger zu
schauen, damit sie die ordentliche Arbeit nicht verder-
ben können.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber zum Thema: Der Jahreswirtschaftsbericht ist
überschrieben mit „Kurs halten!“ und das Jahresgutach-
ten mit „Das Erreichte nicht verspielen“. Ich habe wirk-
lich meine hermeneutischen Künste bemüht, um heraus-
zufinden, was uns die Dichter sagen wollen. Im
Gutachten des Sachverständigenrats und zwischen den
Zeilen des Wirtschaftsministers ist zu lesen, dass man
die Sorge hat, man würde vom Kurs abweichen, weil
man die Lage der Arbeitslosen verbessert habe. Dazu
sage ich den Sachverständigen genauso wie ihren Sekun-
danten im Bundeswirtschaftsministerium: Wir wollen ei-
nen Aufschwung für alle. Dafür halten wir Kurs. Wir
wollen mehr Freiheit durch gute Arbeit und nicht durch
Hungerlöhne.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen mehr Freiheit für die Menschen durch so-
ziale Sicherheit.

Wir haben ein paar gute Jahre hinter uns. Es gibt
durchaus Streit über die Ursachen, darüber, was die
Henne und was das Ei ist. Die Sachverständigen schrei-
ben: Nur weil viele Instrumente flexibilisiert worden
sind, ist der Aufschwung gekommen. – Ich sage umge-
kehrt: Nur weil wir am Anfang dieser Legislaturperiode
eine aktive Politik für mehr Nachfrage betrieben haben,
konnte die Nachfrage in Arbeitsplätze umgesetzt wer-
den.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mehrwertsteuererhöhung! Das glauben Sie selber nicht! Märchenstunde!)


Das ist das Entscheidende, anstatt hier erst alles zu zer-
brechen und zu glauben, die Menschen würden schon,
wenn man die Sozialleistungen um 30 Prozent und mehr
absenken würde, wie Roland Koch und andere das wol-
len, wie Rebhühner im kalten Winter in die Küche lau-
fen. Nein, meine Damen und Herren, wenn in der Küche
nicht gekocht wird, dann haben auch die Rebhühner da
nichts zu suchen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


Der Bundeswirtschaftsminister lobt die Anpassungs-
fähigkeit des flexibilisierten Arbeitsmarktes. So weit, so
gut. Wir sehen aber auch die Schattenseiten dieser Flexi-
bilisierung, die wir in der Form, wie sie jetzt existiert,
nicht gewollt haben. Bei „wir“ denke ich auch an die frü-
heren Partner von den Grünen; ich sehe hier zum Bei-
spiel Thea Dückert, die ja bei den Verhandlungen mit im
Boot war. Wir wollten den Missbrauch bei der Leih-
arbeit, wie wir ihn heute beobachten können, nicht.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie haben doch das Gesetz gemacht! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


– Hören Sie doch auf! Sie können doch nur motzen. Sie
haben doch überhaupt keine Vorstellung von dem, was
da läuft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


Wir wollten mehr Flexibilität bei anständigen Tarifver-
trägen. Das war damals das Angebot. Daraus ist gewor-
den, dass manche Konzerne unter Androhung von Aus-
lagerungen und mithilfe von gelben Gewerkschaften
Hungerlöhne vereinbart haben. Das hatten wir mit der






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
Flexibilisierung bei der Leiharbeit nicht beabsichtigt.
Das sind keine guten Arbeitsverhältnisse.


(Beifall bei der SPD – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das war vorhersehbar! Das haben wir gesagt!)


Unserem Programm entspricht auch nicht die Aus-
weitung der Niedriglohnzone. Es gibt ja manche, die sie
weiter ausweiten wollen. Sie ist nicht nur groß genug,
sondern schon zu groß. Deshalb kämpfen wir gegen
Hungerlöhne. Wir wollen die Unsicherheiten, mit de-
nen Arbeitnehmer leben müssen, die in befristeten Be-
schäftigungsverhältnissen stehen oder zur Generation
Praktikum gezählt werden, beseitigen. Diese Aufgaben
stehen vor uns. Diese müssen wir lösen und werden wir
lösen.


(Zurufe von der LINKEN)


– Sie können nur demonstrieren. Wir können handeln.
Wer will, dass es in Deutschland besser wird, der muss
auf die Sozialdemokratie und ihre Partner vertrauen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Darum geht es letzten Endes.


(Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Mein Gott! Ist das eine Wahlkampfveranstaltung, oder haben Sie noch etwas zum Jahreswirtschaftsbericht zu sagen?)


Meine Damen und Herren, wir haben also dafür zu
sorgen, dass der Aufschwung alle erreicht, dass Min-
destlöhne auch gegen das Geschrei der FDP durchge-
setzt werden.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ach, mein Gott!)


– Ja, das werden wir auch gegen Ihr Geschrei durchset-
zen. Mit uns gibt es keine Hungerlöhne.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Demnächst sagen Sie noch, wir seien für die Sklaverei!)


Wir sehen auch, dass es nicht stimmig ist, wie das
Bruttoinlandsprodukt verteilt wird. Der Anteil der Ar-
beitnehmereinkommen am Volkseinkommen stagniert.
Hier besteht Entwicklungsbedarf. Wie soll der private
Verbrauch zunehmen, wenn die Arbeitnehmerein-
kommen nicht steigen? Wir erinnern auch an die
Ziffern 714 ff. ganz am Ende des Sachverständigengut-
achtens, wo schüchtern die Einkommensverteilung an-
gesprochen wird. Wir stellen eine unverhältnismäßig
hohe Konzentration von Einkommen und Vermögen bei
einem ganz kleinen Personenkreis fest. So ist es kein
Wunder, dass die Einkommen aus Unternehmertätigkeit
und Vermögen stärker steigen als die der Arbeitnehmer.
Dieses Verteilungsverhältnis müssen wir wieder umdre-
hen: Die Arbeitnehmereinkommen bestimmen den pri-
vaten Verbrauch, der zugleich das größte Aggregat für
unser Bruttoinlandsprodukt darstellt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo bleibt der Mindestlohn?)

Bei den Tarifrunden im Jahre 2008 muss dafür ge-
sorgt werden – diese Forderung unterstützen wir –, dass
die Arbeitnehmereinkommen wieder steigen. Demjeni-
gen, der jetzt sagt, jetzt ziehen aber dunkle Wolken auf,
entgegne ich: Die Ergebnisverbesserungen, die 2007
aufgrund der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer ein-
gefahren werden konnten, müssen nun fair verteilt wer-
den. Dafür ist Platz. Das erfordert auch die soziale Ge-
rechtigkeit.


(Beifall bei der SPD)


Ich bin auch froh, dass die Bundesregierung aus-
drücklich erklärt, dass sie die Initiative der beiden Koali-
tionsfraktionen, mehr Arbeitnehmerbeteiligung zu
ermöglichen, unterstützt. Das ist eine ganz wichtige Auf-
gabe, mit der wir dafür sorgen, dass die Verteilungs-
schieflage unserer Volkswirtschaft begrenzt oder gar
beseitigt wird. Wir müssen dafür sorgen, dass der Pro-
duktivitätsfortschritt auch bei den Arbeitnehmereinkom-
men ankommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich bin ganz froh, dass jetzt sogar Herr Piepenburg
von der PIN Group sagt: Jawohl, ich stehe zu den Min-
destlöhnen. – Interessant! Noch interessanter ist, dass er
auf Folgendes hinweist: Viele Auftraggeber haben ge-
sagt: Du bekommst keine Aufträge mehr, wenn du keine
anständigen Löhne zahlst. Das ist die richtige Antwort
der deutschen Wirtschaft auf die, die Geschäftsmodelle
auf Hungerlöhnen aufbauen wollten. Das wollen wir
nicht, und das werden wir verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde es zum Beispiel gut, dass die IG Metall bei
BMW und Audi dafür gesorgt hat, dass auch die Leih-
arbeitnehmer anständig bezahlt werden. Früher war es
häufig so, dass sich die Gewerkschaften und die Be-
triebsräte um ihre Kernbelegschaften gekümmert haben.
Jetzt haben sie ihre schwächeren Brüder und Schwestern
entdeckt und erfolgreich gehandelt. Herzlichen Dank da-
für. Das ist ein richtiger Weg; wir kommen auf ihm
voran. Die Aufnahme der Leiharbeit in das Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz ist einer der wichtigen nächsten
Schritte, damit wir mehr soziale Gerechtigkeit im Auf-
schwung haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist Politik für den Abschwung, Herr Kollege!)


– Natürlich ist das Politik für den Abschwung, und zwar
bei denen, die meinen, dass die Leute quasi für Hunger-
löhne arbeiten müssen und dass der Staat sie am Leben
hält. Das ist keine Wirtschaft, wie wir sie wollen.

Sie haben mir das richtige Stichwort gegeben. Ich
habe mit meinem Kollegen Laurenz Meyer immer wie-
der heftige Diskussionen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Zu Recht!)


Er sagt: Viele Unternehmer sind gegen die Mindest-
löhne, weil sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Ich
sage Ihnen dagegen: Ein Wettbewerb, der auf die Kno-






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
chen der Arbeitnehmer geht, ist gegenüber den Arbeit-
nehmern nicht in Ordnung und ist auch volkswirtschaft-
lich nicht in Ordnung. Deshalb werden wir diesen Weg
nicht mitgehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ludwig, du bist doch nicht in einer hessischen Wahlkampfveranstaltung!)


Also werden wir miteinander in den nächsten Wo-
chen an das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und an das
„Franz-Müntefering-Jugendfreundin-Erinnerungsgesetz“,
MiA, herangehen und werden die Mindestarbeitsbe-
dingungen verbessern. Das wirkt noch nicht flächende-
ckend – das wissen wir –; die Union ist nämlich noch
nicht so weit. Aber sie ist immerhin in Bewegung. Wir
werden hier einen Schritt vorankommen.

Michael Glos hat gesagt: Starke Unternehmen garan-
tieren starke Arbeitsplätze. Ich sage Ihnen daher aus ak-
tuellem Anlass: Große Unternehmen, ob nationale oder
internationale, müssen wissen, dass sie hier in Deutsch-
land auf dem Boden der sozialen Marktwirtschaft und
des Grundgesetzes agieren; Arbeitnehmer sind nicht ir-
gendwelche Zahlen auf einem Excel-Sheet, sondern
Menschen mit Würde und Achtungsanspruch. Wir müs-
sen gerade im Zeitalter der Globalisierung eine Koopera-
tion zwischen Wirtschaft und Staat organisieren, die den
Strukturwandel ordentlich begleitet und die Menschen
nicht nur nach dem Prinzip „Heuern und Feuern“ behan-
delt. Das muss der Nokia-Vorstand hier lernen.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen den Kurs halten, durch bessere Arbeit,
durch einen Aufschwung für alle, mit mehr sozialer Ge-
rechtigkeit, mit einer hohen Teilnahme am Erwerbsle-
ben, mit Qualifikation und Weiterbildung, mit For-
schung und Entwicklung. So weit, so gut. Der Blick ist
dabei in den Rückspiegel gerichtet, und wenn man den
Blick allein in den Rückspiegel richtet, dann fährt man
nicht gut vorwärts, weil es vor der Hacke duster ist, wie
Peer Steinbrück immer zu sagen pflegt. Wir müssen se-
hen, dass der Aufschwung schon vor der Subprime-
Krise an Kraft verloren hat, weswegen die Kurve in eine
andere Richtung ging.

Wir müssen wissen: Nur Nachfrage schafft Arbeits-
plätze. Alle, die den Keynesianismus für Teufelszeug
halten, sollten sehen: Die Amerikaner sind dabei, wieder
Keynesianer zu werden. Lassen Sie uns im Auge behal-
ten: Nur dann, wenn wir die private und die öffentliche
Nachfrage steigern, werden wir die notwendigen Ar-
beitsplätze sichern, nur dann werden wir aus der Staats-
verschuldung herauswachsen. Wir können uns nicht he-
raussparen. Wir sind 2006 und 2007 durch Wachstum zu
Ihrer Freude, Herr Kampeter, erfolgreich gewesen.
Wenn wir damals Ihrem strengen Haushälterweg gefolgt
wären, dann würden wir jetzt tief unten im Keller sitzen.
Aber wir wollen mit Ihren Kolleginnen und Kollegen
weiter herauswachsen.

Wir haben noch eine Menge Pfeile im Köcher: private
Investitionen, Gebäudesanierung und Klimaschutz, auch
in der gewerblichen Wirtschaft. Vor allem müssen wir
darauf aufpassen, dass die kleinen und mittleren Unter-
nehmen nicht Opfer der Bankspekulationen werden und
Probleme mit der Kreditversorgung bekommen. Wir
haben gemeinsam mit den Förderbanken von Bund und
Ländern die Aufgabe, das zu verhindern. Gott sei Dank
hat die KfW nach wie vor gute Kreditprogramme, mit
denen wir arbeiten können. Daher müssen wir nicht
heute schon überstürzt Aktionen ankündigen. Wenn die
Hurrikanmeldungen kommen, kann ich aber nicht sagen:
Er wird schon an uns vorbeigehen. Dann muss ich
schauen, wie ich mein Dach dichtmachen kann, wie ich
Vorsorge treffen kann. – Wenn der Sturm kommt, sind
wir vorbereitet. Das muss in aller Stille geschehen, damit
es uns nicht wie den unklugen Jungfrauen geht, sondern
wie den klugen Jungfrauen in der Bibel.

Wir haben noch eines gelernt: Es kommt auch auf den
Staat an. Die privaten Banken haben sich gegenseitig
nicht mehr vertraut. Sie wären an ihrem gegenseitigen
Misstrauen kaputtgegangen, wenn die Zentralbanken sie
nicht gerettet hätten. Der Staat hat sichere Häfen gebo-
ten, ist lender of last resort, wie es in England heißt. Das
heißt, wir können mit diesen Herrschaften in Zukunft et-
was selbstbewusster umgehen; denn wenn sie sich ver-
spekuliert haben, kommen sie zu uns und laden die Ver-
luste bei Peer Steinbrück ab. Er muss nämlich ein Drittel
dieser Spekulationsverluste tragen. Das möchten wir
nicht. Herr Kampeter, das Geld soll lieber in die Kasse
von Herrn Steinbrück fließen. Dafür zu sorgen, ist un-
sere Aufgabe. Rainer Wend wird nachher sagen, was wir
von den Banken und den Aufsichtsbehörden erwarten,
damit nicht private Gier und Spekulationen eine ganze
Volkswirtschaft ins Elend stürzen. Im Reich der Real-
ökonomie müssen wir die Lebensverhältnisse der Men-
schen auch in Zukunft durch gute Arbeit verbessern.

Danke.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613901000

Das Wort erhält nun der Kollege Oskar Lafontaine,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613901100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Glos, hat
gesagt, dass der Jahreswirtschaftsbericht unter der Über-
schrift „Kurs halten!“ steht. Für die Fraktion Die Linke
möchte ich hier sagen: Wir möchten, dass der nächste
Wirtschaftsbericht und Ihr Handeln unter einer ganz an-
deren Überschrift stehen, nämlich: Kurs wechseln!


(Beifall bei der LINKEN)


Denn wenn Sie den Kurs halten, dann setzen Sie all das
fort, was in den letzten Jahren eingetreten ist.

Ich beginne mit Ihrem Jahreswirtschaftsbericht:
„Deutschland ist auf gutem Kurs: mit einem Auf-
schwung für alle“. Wenn Sie hier feststellen, der Auf-
schwung sei für alle da, dann ist das eine Verarschung
der Bevölkerung.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
80 Prozent der Menschen in Deutschland sagen: Der
Aufschwung kommt bei uns nicht an. Aber Sie erdreis-
ten sich, hier zu sagen: Aufschwung für alle.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das kann man aber auch anders sagen!)


Erklären Sie das Wahlvolk für blöd, oder was ist Ihre
Absicht? Wie können Sie so etwas sagen? Es gibt
Gründe, warum die Bevölkerung sagt: Der Aufschwung
kommt bei uns nicht an.

Im ersten Satz des Jahreswirtschaftsberichtes heißt es
weiter, dass wir eine „Rekord-Beschäftigung“ haben.
Das ist richtig. Die Frage ist nur: Was für eine Art von
Beschäftigung ist das? Weil Sie diese Frage nicht stellen,
wissen Sie nicht, dass der Aufschwung nicht bei allen
ankommt. Wenn die Menschen nur noch befristete Ar-
beitsverträge haben, schlechte Löhne erhalten und nur
noch Minijobs oder Leiharbeit ausüben können, dann ist
das kein Aufschwung für alle. Den Menschen nutzt Ihre
Beschäftigungsbilanz überhaupt nichts! Das ist das, was
die Menschen denken, die Ihnen draußen zuhören müs-
sen, wie Sie hier solche Sprechblasen in die Welt setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich gibt es Anzeichen für eine weltweite Krise.
Die kann wirklich niemand mehr übersehen. Nun würde
man vielleicht erwarten, dass der Bundesminister für
Wirtschaft eine Idee hat, was er da machen könnte. Viel-
leicht hat die Bundeskanzlerin, die gerade in Gespräche
vertieft ist, ja eine Idee; man soll die Leute ja nicht unbe-
dingt überfordern. In der Financial Times Deutschland
können wir lesen: „Glos denkt über Notfallplan nach.“
Bravo, Herr Bundesminister für Wirtschaft, die Fraktion
Die Linke macht Ihnen ein Kompliment: Sie denken
nach! Weiter ist aber zu lesen: „Die Schublade ist noch
leer. Aber selbstverständlich muss man sich Gedanken
machen.“ Bravo, muss man sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es wäre natürlich nett, wenn die Schublade wenigstens
ein bisschen voll wäre.


(Heiterkeit bei der LINKEN)


Sie sollten versuchen, zu erreichen, dass die Schublade
ein bisschen voll wird, damit Sie irgendetwas haben,
falls die exportgetriebene Konjunktur der letzten Jahre
nun durch die weltweite Krise – das wäre logisch – be-
schädigt wird.

Es ist ja richtig – das hat ein Redner hier gesagt –,
dass die Amerikaner wie selbstverständlich keynesiani-
sche Rezepte anwenden, wenn die Konjunktur nach un-
ten rasselt. Die keynesianischen Rezepte, die hier immer
von allen möglichen Fachleuten – ich will sie gar nicht
alle zitieren – in großer Attitüde für falsch und überholt
erklärt worden sind, heißen nun einmal: Wenn die Kon-
junktur schwächelt, setzt man die Geldpolitik ein. – Das
ist überall auf der Welt so, nur in Europa ist es nicht so
gemacht worden. Das hat dann natürlich Folgen. Der
Kommentator, der heute in der Financial Times Deutsch-
land fragt, warum denn die Geldpolitik nicht einsetzt,
hat recht. Wir können nachweisen, dass die verfehlte
Geldpolitik der Europäischen Zentralbank über viele
Jahre mit dazu beigetragen hat, dass wir in Europa nicht
Wachstumspotenziale erschlossen haben wie andere In-
dustriestaaten dieser Welt.

Das Zweite, das man einsetzen kann, ist die Binnen-
nachfrage. Sie haben dafür gesorgt, dass die Binnen-
nachfrage über viele Jahre nur stranguliert und abge-
würgt wurde. Ich möchte hier deutlich sagen, dass
Steuersenkungen ein Instrument der Binnennachfrage
sind. Die Amerikaner setzen dieses Instrument wie
selbstverständlich ein, und zwar rechtzeitig. Wenn man
wegen der Staatsfinanzen zögerlich ist, dann sollte man
zumindest dem Antrag stattgeben, den wir hier schon
mehrfach vorgetragen haben: Man sollte den Steuertarif
glätten und insbesondere die mittleren Einkommen ent-
lasten, das heißt die Facharbeiter und die Kleinbetriebe.
Dann kann man den Steuertarif durchziehen, wenn man
aufgrund der Einnahmeausfälle Probleme hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben das hier immer wieder vorgetragen. Es ist un-
gerecht und wirtschaftlich unvernünftig, Facharbeiter
und Kleinbetriebe über Gebühr zu belasten.

Nun greife ich das auf, Herr Kollege Stiegler, was Sie
hier gesagt haben. Natürlich geht Binnennachfrage nicht
ohne steigende Löhne. Natürlich geht Binnennachfrage
nicht ohne wachsende Renten. Natürlich geht Binnen-
nachfrage nicht ohne steigende soziale Leistungen im
Rahmen des Möglichen. Wenn man aber alles tut – da
sind die meisten hier mitverantwortlich –, dass sowohl
die Löhne und die Renten als auch die sozialen Leistun-
gen sinken, dann trägt man die Verantwortung dafür,
dass in Deutschland die Binnennachfrage über viele
Jahre überhaupt nicht auf die Beine kommt.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bundeswirtschaftsminister hat auf seine liebens-
werte Art hier vorgetragen: Die Tarifparteien sollen ihre
verantwortungsvolle Lohnpolitik fortsetzen. Mit sol-
chen Sprechblasen kann man über die Wirklichkeit hin-
wegtäuschen. Auch im letzten Jahr hatten wir stagnie-
rende Reallöhne. Das sieht man, wenn man die
Tarifvertragsabschlüsse ansetzt und mit der Inflation
verrechnet. Was in Wirklichkeit passiert, ist etwas ganz
anderes. Das erfassen wir ja statistisch überhaupt nicht.
Das heißt, in Wirklichkeit hatten wir auch im letzten Jahr
ein zurückgehendes Volkseinkommen. Ich denke an Ar-
beitnehmer, an Rentner und an die, die soziale Leistun-
gen empfangen. Sie setzen diese Politik ununterbrochen
fort. Kollege Stiegler, wenn Sie das alles beklagen, dann
dürfen Sie diesem Bericht nicht zustimmen, dann dürfen
Sie die Politik nicht in vollem Umfang mitmachen.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Jahreswirtschaftsbericht steht, dass Sie weiterhin
„Teilzeitarbeit und tarifliche Öffnungsklauseln, befris-
tete Arbeitsverträge“ und Leiharbeit vorantreiben wol-
len. Die Leiharbeit nennen Sie im Bericht vornehmer-
weise „Zeitarbeit“. Als weitere Beispiele nennen sie
„Minijobs und Zeitkonten“. All dies wollen Sie weiter
einsetzen, um Anpassungsflexibilität zu erreichen. Das






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
heißt, Sie wollen das Programm zur Lohnsenkung weiter
vorantreiben. Das ist die Botschaft des Jahreswirt-
schaftsberichtes.


(Beifall bei der LINKEN)


An einer Stelle ist der Bericht dann auch ehrlich. Er
zeigt – wie in all den vergangenen Jahren – schlicht und
einfach eine unverschämte Bilanz der Umverteilung, an
der sich überhaupt niemand mehr stört. In jedem Jahres-
wirtschaftsbericht steht: Arbeitnehmerentgelte nix, Ren-
tenerhöhungen wird es nicht geben und soziale Transfers
sowieso nicht. Die große Mehrheit der Bevölkerung
– das steht im Bericht – ist vom wirtschaftlichen Zu-
wachs ausgeschlossen. Nichts anderes steht hier seit Jah-
ren. Das sieht man, wenn man bereit ist, Zahlen zur
Kenntnis zu nehmen.

Im Bericht steht zur Projektion, dass Unternehmens-
und Vermögenseinkommen diesmal nur in Höhe von
5,6 Prozent steigen werden. 7 Prozent war die Projektion
in den letzten Jahren. Aber das ist ja nur die Hälfte des-
sen, was passiert. Im letzten Jahr sind allein die Aktien-
kurse um über 20 Prozent gestiegen. Die Einkommen
der Arbeitnehmerschaft sind gesunken. Andere Gewinn-
spannen möchte ich hier gar nicht vortragen.

Das alles schreiben Sie. Das ist weiterhin Ihre Ab-
sicht. Sie sind eine Große Koalition der Umverteilung.
Wenn Sie das von den Erträgen der Arbeitnehmerent-
gelte usw. nicht ableiten wollen, dann schauen Sie nur
Ihre Steuerpolitik an: Sie haben auf der einen Seite die
große Mehrheit der Bevölkerung mit 20 Milliarden Euro
pro Jahr durch die Mehrwertsteuererhöhung belastet und
die Unternehmen – ich denke hier an Steuersenkungen
und die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitra-
ges – um 20 Milliarden Euro entlastet. Man muss kein
großer Rechenkünstler sein, um zu wissen, dass hier eine
reine Umverteilung vorgenommen wurde.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte hier nun unsere Vorschläge zur Festigung
der Konjunktur in Deutschland vortragen, die dann not-
wendig ist, wenn der Export nicht mehr läuft. Die Ren-
ten und die Löhne können noch so niedrig sein – wir
könnten auch Sklavenlöhne einführen –: Der Export
läuft trotzdem weiter. Aber die Binnenkonjunktur ver-
kraftet die Philosophie, die in den letzten Jahren domi-
nierte, nicht.

Das Erste, was wir brauchen, ist eine Lohnpolitik, mit
der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsäch-
lich wieder am Wachstum der Volkswirtschaft beteiligt
werden. Das muss als Allererstes geschehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt für uns: Im Gegensatz zur Entwicklung der
letzten Jahre müssen die Löhne im Rahmen von Inflation
und Produktivität steigen. Was nützt die Beschwörung
der Produktivität, wie von Kollege Stiegler vorgetragen,
wenn die Löhne in den letzten Jahren im Rahmen der
Produktivität überhaupt nicht mehr gewachsen sind? Da
muss man sich doch die Frage stellen, warum das der
Fall war. Die Erklärung ist ganz simpel: Die Gewerk-
schaften wurden über Hartz IV, befristete Arbeitsver-
träge, Minijobs und Leiharbeit so systematisch ge-
schwächt, dass sie nicht mehr auf die Füße kamen. Sie
haben mit der fatalen Gesetzgebung, die Sie zu verant-
worten haben, das Sinken der Löhne programmiert.


(Beifall bei der LINKEN)


Als Zweites müssen die Armutsrenten zurückge-
nommen werden. Ich rede hier von der unsinnigen Ren-
tenpolitik, die Sie über all die Jahre gemacht haben. Wie
wollen Sie denn die Binnenkonjunktur bei sinkenden
Realeinkommen und sinkenden Einkommen der Rentne-
rinnen und Rentner in Gang bringen? Diese hören uns
heute zu, und sie wissen genau, dass sie an Kaufkraft
verloren haben. Sie wissen auch, dass Sie immer weiter
darüber nachdenken, wie Sie die Renten weiter kürzen
können. Sie waren schließlich stolz darauf, dass Sie eine
Rentenreform verabschiedet haben, mit der die Rente für
viele weiter gekürzt wird. Nehmen Sie doch zur Kennt-
nis, dass das Desaster, dass für die jetzt Beschäftigten in
Zukunft Armutsrenten programmiert sind, bereits einge-
treten ist.

Wenn selbst der Vater dieser Reformen, Herr Rürup,
begriffen hat, was er angerichtet hat, und wenn er des-
halb vorschlägt, eine steuerfinanzierte Grundrente einzu-
führen, um dieses Desaster zu vermeiden, dann ist dies
ein Ausweis von Ratlosigkeit. Ändern Sie die Rentenfor-
mel, damit die Rentnerinnen und Rentner endlich wieder
am wachsenden Wohlstand teilnehmen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Steuertarif habe ich bereits etwas gesagt. Ich
möchte aber einen weiteren Punkt erwähnen. Wir brau-
chen gerade in der jetzigen Situation im Steuerrecht
keine weiteren flächendeckenden Senkungen der Unter-
nehmensteuern. Vielmehr brauchen wir im Unterneh-
mensteuerrecht einen Umbau, der dazu führt, dass der
investierende Unternehmer belohnt und der spekulie-
rende Unternehmer nicht belohnt wird. Das heißt, die de-
gressive Abschreibung von Investitionen muss wieder
eingeführt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es war ein großer Fehler, dieses bewährte Instrument,
das über viele Jahre Kernelement des Handelns von
Wirtschaftsministern war, die die Steuerung der Kon-
junktur noch im Programm hatten, abzuschaffen.

Was wir auch brauchen, sind Ausgaben in der öffent-
lichen Infrastruktur, um gegenzusteuern. Man kann es
nicht oft genug sagen: Wir können es uns als Industrie-
staat nicht erlauben, dass die Investitionsquote in unse-
ren öffentlichen Haushalten im Vergleich mit den euro-
päischen Nachbarn nur halb so hoch ist. Das ist eine
eindeutige Zahl. Wie lange, glauben Sie, können wir uns
Versäumnisse auf einem Gebiet leisten, in dem die Zu-
kunft des Staates definiert wird, nämlich bei den öffentli-
chen Investitionsausgaben? Die anderen sind nicht düm-
mer oder klüger als wir, aber sie haben teilweise deutlich
bessere Ergebnisse.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
Das, was ich gesagt habe, gilt natürlich auch für die
Ausgaben in Bildung und Forschung, insbesondere für
die Bildung. Das, was teilweise in den Ländern in den
letzten Jahren geschehen ist – die Schulzeit wurde ver-
kürzt, um die Menschen möglichst schnell auf den Ar-
beitsmarkt zu werfen –, ist ein Wahn. Dahinter steht
nicht mehr die Idee, dass Bildung die Entwicklung einer
Persönlichkeit ermöglicht und dazu beiträgt, eigene Ak-
tivitäten zu entfalten. Vielmehr geht es darum, die Men-
schen möglichst schnell für den Arbeitsmarkt auszubil-
den. Das ist ein Fehler. Das wird noch durch den Abbau
von Lehrpersonal ergänzt. Die Lehrpläne sind überfrach-
tet. Viele Eltern beklagen sich mittlerweile darüber, man
raube den jungen Menschen die Kindheit. Deshalb brau-
chen wir in Deutschland eine andere Schul- und Bil-
dungspolitik.


(Beifall bei der LINKEN – Peer Steinbrück, Bundesminister: Wie in anderen europäischen Ländern!)


– Herr Finanzminister, ich hätte gerne die Zeit, mich mit
Ihnen auseinanderzusetzen. Wir müssten eigentlich über
all das reden, was Sie so auf den Finanzmärkten treiben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Was sollte hier eben das Ge-
jammer über die Finanzmärkte, wenn Sie die Geldpolitik
nach wie vor so missachten, wie das derzeit geschieht?
Solange in Europa die aktuelle Verfassung der Zentral-
bank gilt, die im krassen Gegensatz zu den Verfassungen
der Zentralbanken der übrigen Welt steht, insbesondere
der amerikanischen Zentralbank und der britischen Zen-
tralbank, so lange wird die Geldpolitik zur Steuerung der
Konjunktur nicht eingesetzt werden können. Das aber
geht zulasten der Beschäftigten in Gesamteuropa.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Ihnen sonst nichts einfällt, dann schreiben Sie ein-
fach die Verfassung der amerikanischen Zentralbank ab.

Ein weiterer Punkt ist die Regulierung der Finanz-
märkte. Immer, wenn die Linke gefordert hat, die Fi-
nanzmärkte zu regulieren, dann haben Sie hier erklärt,
dass das einzig Wichtige die Transparenz sei. Was mei-
nen Sie mit Transparenz? Sie ist weitgehend vorhanden.
Wir wissen, wo überall spekuliert wird. Wir wissen
doch, wie unsicher die einzelnen Derivate sind. Wir wis-
sen, wo die Risiken liegen. Nein, wir brauchen eine Re-
regulierung der Finanzmärkte, wenn wir wieder Ord-
nung in das Chaos der weltweiten Finanzmärkte
bekommen wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit der Reregulierung der Finanzmärkte müssen wir
bei unseren eigenen Gesetzen beginnen. Wenn wir jetzt
beklagen, dass Banken, die teilweise sogar in öffentli-
chem Besitz sind, Nebengeschäfte gemacht haben, dann
müssen wir uns doch die Frage stellen, was wir da ei-
gentlich versäumt haben.

Nebenbei möchte ich sagen: Es gibt auch bedeutende
Aufsichtsratsvorsitzende, die gepennt haben. Sie haben
dort, wo sie verantwortlich waren, nicht erkannt, dass in
großem Umfang Nebengeschäfte getätigt und sogar bi-
lanziert wurden. Wenn wir so sehr pennen, dann werden
wir keine Ordnung in die internationalen Finanzmärkte
bekommen. Wir müssen bei uns selbst anfangen, meine
sehr geehrten Damen und Herren;


(Beifall bei der LINKEN)


ich hoffe, dass dieser Wink verstanden worden ist.

Ich fasse zusammen: Natürlich könnte man diese
Politik, die dem Export wenig schadet, fortsetzen. Auf
den Glanzfeldern unserer Wirtschaft – dem Automobil-
bau, dem Maschinenbau, der Chemieindustrie, der Elek-
trotechnik usw. – verfügen wir Gott sei Dank über gute
Ingenieure und Konstrukteure, die dafür sorgen, dass un-
sere Produkte weltweit vermarktet werden können und
Absatz finden. Das ginge aber auch bei sehr niedrigen
Löhnen, weil diese Ziele dadurch überhaupt nicht ge-
fährdet werden.

Wenn Sie irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen,
dass der Binnenmarkt für die Volkswirtschaft einer gro-
ßen Industrienation von Bedeutung ist, dann müssen Sie
daraus Konsequenzen ziehen. Vor allen Dingen eines
dürfen Sie nicht tun: eine verfehlte Politik, die zu sin-
kenden Löhnen, sinkenden Renten und sinkenden sozia-
len Leistungen führt, betreiben und dann noch die Frech-
heit besitzen, zu behaupten: Der Aufschwung kommt bei
allen an.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613901200

Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613901300

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht, über den wir
heute sprechen, hat den Titel „Kurs halten!“. Ich finde,
wenn man Kurs halten will, muss man erst einmal einen
Kurs haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich mir die Debatten über die aktuellen Probleme
der Wirtschaftspolitik vor Augen führe, dann kann ich
nicht feststellen, dass die Bundesregierung über einen
gemeinsamen Kurs verfügt.

Wenn es um die Mindestlöhne geht, verfolgen Sie
völlig unterschiedliche Konzepte; das gilt übrigens für
Lohnfragen insgesamt. Die Union dilettiert beim Thema
Mindestlohn. Zuerst wollte sie überhaupt keinen Min-
destlohn. Dann hat sie gesagt: In ein oder zwei Branchen
können wir ihn vielleicht einführen. Nun wundert sich
die Union, dass auch andere Leute auf die Idee kommen
und fragen: Was ist bei uns? – Manche reden schon von
einem flächendeckenden Mindestlohn. Es geht ständig
hin und her.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Nein! Es geht vorwärts! Vorwärts immer, rückwärts nimmer!)


Ein anderes Beispiel ist Ihre Gesundheitspolitik.
Durch die geplante Einführung des Gesundheitsfonds
zum 1. Januar 2009 werden die Beitragssätze zur Kran-
kenversicherung wahrscheinlich um 0,7 Prozentpunkte






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
steigen. Das ist doch einfach Murks, und man kann nicht
sagen, das sei ein Kurs. Einerseits senken Sie die Lohn-
nebenkosten durch eine Senkung des Beitragssatzes zur
Arbeitslosenversicherung. Andererseits machen Sie eine
Politik, die dazu führt, dass die Lohnnebenkosten im Ge-
sundheitsbereich, nämlich beim Beitragssatz zur Kran-
kenversicherung, steigen. Das ist kein Kurs, sondern ein
unsystematisches Hin und Her, durch das unser Land
und unsere Wirtschaft nicht vorangebracht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Jahreswirtschaftsbericht von Michel Glos lesen
wir: Diesmal soll es der Binnenmarkt richten, und das
trotz all der finsteren Wolken, die sich unter anderem
über den USA am Horizont zeigen. Im Jahreswirt-
schaftsbericht ist für den Binnenkonsum von einem
Wachstum in Höhe von 3,1 Prozent die Rede; preisberei-
nigt entspricht das einem Wachstum des Binnenmarktes
um 1,4 Prozent. Herr Glos, ich muss Sie fragen: In wel-
cher Welt leben Sie eigentlich?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Leute bekommen gerade die Nachricht, dass die
Preise in allen möglichen Bereichen steigen: beim Gas,
beim Wasser, beim Öl usw. Wenn sie einkaufen gehen,
stellen sie fest, dass auch die Preise für Grundnahrungs-
mittel steigen: bei der Milch, beim Fleisch und bei vie-
lem, was die Familien in unserem Land brauchen. Sie
aber sagen: Diesmal wird es der Binnenmarkt richten.
Glauben Sie etwa, dass irgendjemand einkaufen geht,
weil Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht schreiben
„Wir wollen Kurs halten! Beruhigt euch, Leute!“? Wie
stellen Sie sich das eigentlich vor?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem fordern Sie eine maßvolle Lohnpolitik.
Das heißt für die Leute: Es wird nicht mehr Geld geben.
Hören Sie auf mit der Märchenstunde, der Binnenmarkt,
der private Konsum werde es diesmal richten! Es gibt
keine empirische Evidenz, dass das so sein wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch was jetzt über die Börsenkrise zu lesen ist, wird
nicht dazu beitragen, dass die Leute Vertrauen entwi-
ckeln.

Wir gehören nicht zu denen, die es als eine Aufgabe
der Opposition sehen, die Konjunktur schlechtzureden.
Wir können dieser Versuchung widerstehen, Herr Lafon-
taine. Wir machen dieses Spiel nicht mit. Die kleinen
Leute, bei denen der Aufschwung noch nicht ankommt,
haben nämlich umso größere Chancen, je besser sich die
Konjunktur entwickelt.

Wir bräuchten jetzt eine Bundesregierung, die mit ih-
rer Wirtschafts- und Sozialpolitik – das gehört ja zusam-
men – Vertrauen bei den Leuten schafft, dass der Auf-
schwung bei allen ankommt, auch bei denen, die sozial
nicht so gut dastehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Anstatt herumzunölen, will ich Vorschläge machen
und Ihnen sagen, wo Sie als Große Koalition agieren
müssen und aufhören müssen, ihre Köpfe in den Sand zu
stecken, Herr Glos: Das Erste ist die Frage der Lohnent-
wicklung, insbesondere die Frage, wie es bei den Min-
destlöhnen weitergeht. Die Große Koalition kann sich
nicht darauf einigen, wie das Prinzip, das ja alle bejahen
– dass, wer ganztags arbeitet, von seiner Hände oder sei-
nes Kopfes Arbeit leben können muss –, in die Praxis
umgesetzt werden soll. Solange Sie sich nicht einigen
können, was Sie wollen – Kombilöhne oder Mindest-
löhne, flächendeckend oder wie auch immer –, kann es
an dieser Stelle nicht aufwärtsgehen. Wir sagen, dass wir
Mindestlöhne brauchen – aber branchen- und regional-
spezifisch. Der Vorschlag, den Bundesarbeitsminister
Scholz gemacht hat, ist nicht schlecht; er geht ja auf un-
seren Vorschlag, eine Mindestlohnkommission einzu-
richten, zurück. Aber man muss beides machen: Man
muss das Entsendegesetz entsprechend ausweiten, eine
Mindestlohnkommission einrichten und, eines Tages, ei-
nen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einfüh-
ren. Es darf nicht sein, dass jemand trotz Arbeit Aufsto-
cker sein muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Leute können kein Vertrauen haben, Herr Meyer,
wenn sie wissen: Du kannst ganztags arbeiten, aber le-
ben kannst du davon nicht. – Auch wäre es ein falsches
Signal an die Wirtschaft, aufzustocken und damit gewis-
sermaßen einen flächendeckenden Kombilohn einzufüh-
ren. Es ist Murks und Unsinn, was die Union an der
Stelle anbietet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Zweite. Sie müssen sich endlich bemühen, doch
mehr für den Mittelstand zu tun. Die Unternehmensteu-
erreform hat vielen Personengesellschaften, die Einkom-
mensteuer zahlen, nichts gebracht. Im Gegenteil, Herr
Steinbrück: Weil die Gewerbesteuer ausgedehnt wurde
– es war ja richtig, Zinsen und Pacht einzubeziehen –,
sind diejenigen Personengesellschaften, die, weil sie
keine Einkommensteuer zahlen, Gewerbesteuer und Ein-
kommensteuer nicht miteinander verrechnen können, so-
gar zusätzlich belastet worden. Deswegen sagen wir: Die
Gewerbesteuer muss in diesem Sinne vorgetragen wer-
den, damit die mittelständischen Betriebe in diesem Be-
reich tatsächlich entlastet werden.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wenn einer keine Steuern zahlt, kann man ihn auch nicht entlasten!)


– Da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln! Hören
Sie sich einfach einmal an, was die Mittelständler, die in
dieser Situation sind, dazu sagen!

Das Dritte ist der Gesundheitsfonds. Es würde schon
einen Schub für die Konjunktur bringen, wenn Sie einse-
hen würden, dass dieser Fonds Murks ist, und darauf
verzichten würden, etwas einzuführen, was neun Monate
später – wenn wir eine andere Gesundheitspolitik haben
werden – ohnehin wieder abgeschafft wird. Auch das
wäre gut dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher Vertrauen entwickeln.






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt noch ein weiteres Thema, das wir wichtig fin-
den. Darin unterscheiden wir uns massiv von Herrn La-
fontaine, den ja das ganze Thema Lohnnebenkosten
überhaupt nicht interessiert. Vieles, was er vorgetragen
hat, ist schön und wünschenswert; aber es führt zu einer
Steigerung der Lohnnebenkosten und damit zu einer
Verschlechterung der Bedingungen für das Entstehen
neuer Arbeitsplätze. In einem haben Sie allerdings recht,
Herr Lafontaine, und da teilen wir Ihre Ansicht: Vor al-
lem den Beziehern kleiner Einkommen bleibt zu wenig
netto. Sie haben zwar einen Arbeitsplatz; aber sie verdie-
nen zu wenig. Deswegen will ich unseren Vorschlag er-
neuern, die Lohnnebenkosten im unteren Bereich zu sen-
ken. Nicht überall haben wir hier ein Problem; aber den
Geringverdienern bleibt zu wenig netto.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich frage mich, wann sich die Bundesregierung hier end-
lich bewegt. Wir Grünen haben zur Lösung dieses Pro-
blems ein Progressivmodell vorgeschlagen.

Herr Glos, an dieser Stelle ist für die Mittelschicht
auch die kalte Progression zu nennen. Wir müssen die
Steuertarife ändern, weil die Menschen bei einer Lohner-
höhung ansonsten nicht das in der Tasche haben, was sie
eigentlich haben sollten, da ihnen die Lohnerhöhung
durch die Steuer doppelt wieder weggenommen wird.

Ich nenne ein Thema, das für die CDU/CSU und die
SPD ganz unangenehm ist. Es geht nämlich um die
Frage, ob sich die Riester-Rente wirklich in allen Fällen
lohnt. Selbstverständlich ist hier eine Verunsicherung
entstanden. Ich frage mich, ob Sie eine passende Ant-
wort haben. Wir von den Grünen sagen: Es ist richtig,
dass die Menschen mit der Riester-Rente zusätzlich et-
was ansparen und sich so privat für das Alter stärken. –
Aber natürlich sind die Leute verunsichert, weil sowohl
beim Arbeitslosengeld II als auch bei der Rente – dann,
wenn die Menschen eine Sozialrente erhalten – zu viel
auf privat angespartes Geld für das Alter zugegriffen
wird. Es ist einfach nicht okay, dass das dann verrechnet
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daraus folgt aber keine pauschale Polemik gegen die
Riester-Rente, wie sie Lafontaine gerne verwendet, son-
dern daraus folgt, dass die Mittel, die die Leute durch
ihre Altersvorsorgemaßnahmen privat erwirtschaftet ha-
ben, zum Beispiel auf ein Altersvorsorgekonto überwie-
sen werden sollten und eben nicht angetastet werden
dürfen. Wenn Sie das nicht wollen, dann machen Sie das
über Freibeträge. Man kann den Leuten doch nicht er-
zählen – gerade den kleinen Leuten –: „Spart im Rahmen
der Riester-Rente!“, während diese Mittel selbstver-
ständlich verrechnet werden, wenn sie zu wenig Rente
erhalten und aufgestockt werden muss.

Mit Ihrer Verweigerung, eine neue Lösung auf den
Tisch zu legen, verhindern Sie die Bewältigung des
wichtigen Problems der privaten Altersvorsorge. Bei den
Verhandlungen damals lagen ja viele Lösungen auf dem
Tisch. Ich fordere Sie hier auf, sich an dieser Stelle zu
bewegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will einen weiteren Punkt nennen, der wichtig ist,
wenn man etwas für die Wirtschaft tun will. Uns gehen in
Deutschland viele Arbeitsplätze verloren, weil die Große
Koalition nicht in der Lage ist, die Einwanderungsbe-
dingungen für gut ausgebildete Arbeitskräfte zu erleich-
tern. Senken Sie die Grenze von 84 000 Euro, die man als
Verdienst nachweisen muss, um hierher zu dürfen, und
wir werden hochqualifiziertes Personal bekommen.
Selbstverständlich wollen wir deutsche Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer ausbilden, aber wir brauchen so-
fort Arbeitskräfte. In der Globalisierung kann man nicht
sagen, dass man zwar überallhin exportieren, aber lieber
keine Leute von woanders haben will, die eine gute Qua-
lifikation haben. Das ist Wirtschaftspolitik von vorges-
tern, aus Gründen, die vielleicht mit Ihrer Politik im In-
nern zu tun haben. Wirtschaftspolitisch beweist dies
jedenfalls keine Vernunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Glos, eines stört mich an Ihrem Bericht und Ihrer
Kommentierung noch mehr. Wir haben doch erkannt,
dass es in Deutschland ein großes Wachstumsfeld gibt,
nämlich die ökologische Modernisierung: Energie ein-
sparen und effizienter mit Energie umgehen. – Sagen Sie
doch einmal, dass Sie dies im Binnenmarkt zum Wachs-
tumsfeld machen wollen, treten Sie nicht dauernd auf die
Bremse und nölen Sie nicht dauernd gegen mehr Ener-
gieeinsparung und eine bessere Energiepolitik!

Mit grünen Ideen kann man schwarze Zahlen schrei-
ben und Arbeitsplätze schaffen. Das muss auch der Wirt-
schaftsminister dieses Landes endlich kapieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie würden also Vertrauen schaffen – auch in den
Binnenmarkt –, wenn Sie diese Vorschläge beherzigen
würden. Ich sage aber noch einmal: Die Große Koalition
hat bei keinem dieser Punkte eine gemeinsame Linie.
Deswegen ist sie an der entscheidenden Stelle auch nicht
handlungsfähig.

Zum Abschluss will ich noch etwas zur Börsenkrise,
zur Immobilienkrise in den USA und dazu sagen, was
das für uns bedeutet. Erst einmal: Die Entwicklung in
den USA ist dramatisch. Das hat verschiedene Gründe.
Die Zeit, dass man viel mehr ausgeben kann – auch im
privaten Konsum –, als man systematisch einnimmt, ist
jetzt endgültig vorbei. So gesehen findet dort auch eine
Marktbereinigung statt, auf die man warten konnte,
wenn man die Entwicklung in den letzten Jahren beob-
achtet hat.

Selbstverständlich wird dies Auswirkungen auf die
deutsche Wirtschaft haben. Gott sei Dank werden sie
nicht so drastisch und wahrscheinlich auch nicht so
schnell eintreten wie in den USA, aber es soll hier doch
niemand so tun, als würde dies nicht auch wachstums-
dämpfend wirken. Ich sage Ihnen voraus, dass das Wirt-
schaftswachstum stärker als um die 0,3 Prozent sinken






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
wird, die Sie in Ihrer Prognose heruntergegangen sind.
Das kostet uns Milliarden Euro.

Ausgerechnet an einer solchen Stelle fängt die Bun-
desregierung – von der Bundeskanzlerin bis hin zu SPD –
mit der unseligen Debatte über die Staatsfonds an, nach
dem Motto: Jetzt bitte nicht ohne Weiteres ausländisches
Geld von ausländischen Staatsfonds in die Bundesrepu-
blik Deutschland. Andere Länder, wie die Schweiz, die
aufgrund der Immobilienkrise auch Milliardenbeträge
abschreiben mussten, werden gerade durch ausländische
Staatsfonds gestützt. Ich kann wirklich nicht verstehen,
warum Sie gerade in Zeiten – das ist gegen jede politi-
sche Vernunft –, in denen man Geld braucht, sagen: Bitte
kein Geld von ausländischen Staatsfonds. – Das ist gegen
jede ökonomische Vernunft. Das, was Sie hier veranstal-
ten, ist Unsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Zockerökonomie, die wir zum Teil auf der Welt
haben, ist zum Vertrauensproblem für die reale Ökono-
mie geworden. An die Adresse der Herrschaften von der
FDP kann ich nur sagen:


(Otto Fricke [FDP]: Es sind auch Damen dabei, Herr Kuhn!)


Selbstverständlich brauchen wir neue und klare Regeln
für die internationalen Finanzmärkte. Sie haben die
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Kredite zu überschauba-
ren und nachvollziehbaren Risiken an die Stellen kom-
men, wo Investitionen stattfinden. Dafür sorgen sie aber
nicht mehr, wenn wir systematisch das Verstecken, Ver-
briefen und Auslagern von Risiken bei Banken und Fi-
nanzmarktinstitutionen so lange zulassen, bis bei keinem
Institut mehr durchblickt wird, wo genau die Risiken lie-
gen. Das muss sich ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eigentlich haben alle begriffen, dass wir neue Regeln für
die internationalen Finanzmärkte brauchen. Auch bei der
Weltbank und dem IWF wird über nichts anderes mehr
geredet, übrigens, Herr Lafontaine, weit mehr als über
Transparenz. Die Einzigen, die es in Deutschland nicht
begriffen haben, sind die Liberalen. Meine Damen und
Herren von der FDP, ich fordere Sie daher auf, aufzuwa-
chen und Vorschläge zu machen.


(Jörg van Essen [FDP]: Wenn man nicht im Wirtschaftsausschuss sitzt, hat man keine Ahnung!)


Wir müssen selbstverständlich die Finanzmarktauf-
sicht in Deutschland stärken. Das Aufsichtsstrukturmo-
dernisierungsgesetz muss endlich auf den Weg gebracht
werden. Union und SPD blockieren sich aber gegensei-
tig bei der Bewertung der Kompetenzverteilung zwi-
schen BaFin und Bundesbank. Wir müssen die Risiken
im Bankensektor auch in Deutschland besser wahrneh-
men. Zweckgesellschaften der Banken müssen im Rah-
men von Basel II in die Finanzmarktaufsicht einbezogen
werden. Anders geht es nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist doch schon seit dem 1. Januar so!)


Dies muss systematisch sowie mit Ruhe und Kraft ge-
schehen. Sonst kommt nur Unsinn dabei heraus. Die
Hedgefonds und die Private-Equity-Gesellschaften müs-
sen unter die Finanzaufsicht gestellt werden. Sie müssen
weltweit registriert werden. Dabei sind auch viele natio-
nale Fragen zu klären.

Wir müssen die Rolle der öffentlichen Banken in
Deutschland überdenken. Ich frage mich schon lange,
warum Landesbanken in der Weise spekulative Ge-
schäfte auf internationaler Ebene tätigen müssen, wie es
zum Beispiel in Sachsen und bei der West LB geschehen
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist nicht die genuine Aufgabe der Landesbanken.
Ich erwarte von der Politik Schritte, das zu unterbinden.
Vielleicht hilft es, wenn die Aufsichtsgremien nicht nach
Parteibuch, sondern nach Sachverstand besetzt werden.
Viele Probleme resultieren nämlich daraus, dass die Ver-
waltungsräte und Aufsichtsgremien nicht entsprechend
agieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss. Herr Wirtschaftsminister, es
gibt viel mehr zu tun, als zu beschwichtigen. Ich fordere
Sie auf, den Schlafmichel aufzugeben und aktiv eine
vertrauenschaffende Wirtschaftspolitik in Deutschland
zu betreiben. Ihre Abwieglungsreden glaubt Ihnen so-
wieso niemand mehr.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613901400

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Meister,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1613901500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir diskutieren über den Jahreswirtschaftsbe-
richt 2008 vor dem Hintergrund der weltwirtschaftlichen
Entwicklung und der aktuellen Börsenentwicklung. Es
gibt aus meiner Sicht zwei wesentliche Punkte, die dazu
beigetragen haben, dass diese Entwicklungen so einset-
zen. Das eine ist, dass man nach dem 11. September
2001 versucht hat, mit dem süßen Gift billigen Geldes
konjunkturell wieder Fahrt aufzunehmen. Das andere ist,
dass man auf dieser Grundlage komplexe Finanzpro-
dukte entwickelt hat. Ich möchte massiv davor warnen,
die Probleme, die zum Teil auf billiges Geld zurückzu-
führen sind, erneut mit billigem Geld lösen zu wollen.
Das führte nur zu neuen Problemen in der Zukunft. Wir
brauchen stabiles Geld. In diesem Zusammenhang
möchte ich der Europäischen Zentralbank ein Kompli-
ment machen; denn sie hat im Zeitraum von ihrer Errich-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
tung bis heute einen Stabilitätskurs, einen für die Finanz-
märkte stabilisierenden Kurs und einen Kurs für stabile
wirtschaftliche Rahmenbedingungen verfolgt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte eine zweite Bemerkung machen. Kollege
Lafontaine hat ja massive Kritik am Bundesfinanzminis-
ter geübt. Ich möchte namens meiner Fraktion erklären:
Ich freue mich, dass Herr Steinbrück nach wie vor seine
Verantwortung, die sowohl in puncto Haushaltskonsoli-
dierung wie auch in puncto Herausforderungen durch die
Finanzmärkte schwierig ist, wahrnimmt. Er ist nicht bei
Nacht und Nebel durch die Hintertür vor den Problemen
geflüchtet, sondern er versucht gemeinsam mit der
Koalition, die sich ergebenden Herausforderungen anzu-
gehen.


(Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


Das ist das, was wir von einem verantwortlichen Politi-
ker in diesem Land erwarten: nicht groß reden, sondern
Verantwortung wahrnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben eine Wachstumsprognose von 1,7 Pro-
zent. In dieser Debatte wurden sehr deutlich die Risiken
vorgetragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müs-
sen. Das ist zu Recht geschehen. Ich will allerdings auch
darauf hinweisen, dass die Wachstumsprognose auf An-
nahmen basiert, die schon von einem Ölpreis von
95 Dollar pro Barrel und einem Leitzins von 4 Prozent
ausgehen. Was ich mit diesen beiden Beispielen sagen
will: Ein Teil der genannten Risiken ist in den Annah-
men des Jahreswirtschaftsberichts abgebildet. Deshalb
halte ich die Wachstumsprognose, die hier unterstellt
wird, für einen vernünftigen und realistischen Wert.

Meine Antwort lautet nicht, dass wir in dieser Situa-
tion mehr Verteilungspolitik brauchen, wie das heute
Morgen schon verschiedentlich gefordert worden ist.
Meine Antwort lautet an dieser Stelle: Wir müssen die
Wachstumspolitik der vergangenen drei Jahre weiterfüh-
ren, indem wir bei einem klaren Reformkurs bleiben, für
mehr strukturelles Wachstum in Deutschland sorgen und
damit Wohlstand für alle, Wachstum für alle und Arbeit
für alle in diesem Land schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es gibt auch positive Anzeichen, die man in einer sol-
chen Debatte nicht vergessen sollte: Die Zahl der Auf-
tragseingänge in der Industrie ist im Zweimonatsver-
gleich um 5 Prozent gewachsen. Wenn man das in
Verbindung mit dem Geschäftsklima sieht, das weiterhin
auf einem ansprechenden Niveau ist, und wenn man
sieht, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt – immerhin
war im vergangenen Jahr bei der Beschäftigung ein Zu-
wachs von 600 000 Menschen zu verzeichnen, und der
Ausblick zeigt, dass wir auf dem Arbeitsmarkt auch im
laufenden Jahr eine positive Entwicklung haben werden –,
dann ist klar: Es gibt durchaus Anlass zu einem optimis-
tischen Blick auch auf die Binnenkonjunktur.
Deshalb sollten wir das nicht herunterreden, Herr
Kuhn. Sie haben so getan, als würde die Regierung
nichts für die Schaffung von Vertrauen tun. Wir müssen
klarmachen, dass wir ein Konzept haben – das haben
wir; das kommt auch im Jahreswirtschaftsbericht zum
Ausdruck –, dass wir uns nicht durch irgendwelche Ta-
gesmeldungen nervös machen lassen und dass wir unser
Konzept Schritt für Schritt umsetzen. Wenn Sie sich die
Arbeit der Koalition in den letzten beiden Jahren an-
schauen, dann stellen Sie fest, dass wir unsere Agenda
konsequent abgearbeitet haben. Wir haben nicht ständig
korrigiert, wie Sie das in Ihrer Regierungszeit getan ha-
ben. Das schafft Vertrauen, und auf diesem Weg werden
wir weiteres Vertrauen bei den Menschen gewinnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben, Herr Brüderle, durch Haushaltskonsoli-
dierung, Unternehmensteuerreform und sinkende Lohn-
nebenkosten strukturelle Vorsorge für eine bessere
Konditionierung des Wirtschaftsstandorts Deutschland
getroffen. Ich wundere mich, wenn Sie hier gegen diese
Punkte polemisieren. Die Unternehmensteuerreform
war nicht nur für die Aktiengesellschaften und GmbHs,
sondern auch für den deutschen Mittelstand.


(Beifall des Abg. Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ CSU] und bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben sowohl bei den Steuersätzen als auch bei den
Ansparmöglichkeiten für neue Investitionen entlastet,
und wir haben bei der Gewerbesteuer dafür gesorgt, dass
die Messzahl sinkt und dass die Anrechenbarkeit auf die
Einkommensteuer verbessert wird. Das sind alles Maß-
nahmen, die im Mittelstand positiv ankommen. Wir soll-
ten diese Ergebnisse nicht zerreden, sondern den Men-
schen deutlich machen, dass es an dieser Stelle seit
1. Januar wesentlich bessere Konditionen gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Es gibt in diesem Haus Stimmen, die sagen, wir soll-
ten jetzt endlich mit den Reformen innehalten. Es gibt
auch Stimmen in diesem Haus, die sagen, wir müssten
vielleicht einen Teil der Reformen wieder zurückdrehen.
Meine Antwort ist: Wir sollten nicht innehalten und
nicht zurückdrehen, sondern wir müssen den Reform-
weg konsequent weiter vorangehen. Das ist das, was wir
jetzt brauchen; ansonsten geraten wir auf einen Irrkurs.
Unsere Fraktion steht zu weiteren Reformen, nicht zum
Innehalten und nicht zum Zurückdrehen, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir halten an dem Ziel der Haushaltskonsolidierung
und des Haushaltsausgleichs im Jahr 2011 fest. Das ist
ein sehr anspruchsvolles Ziel, das wir dort formulieren.
Ich möchte in diesem Zusammenhang sagen: Alle Wün-
sche nach Mehrausgaben, die gegenwärtig vorgetragen
werden, müssen sich in den nächsten drei Jahren dem
Ziel eines ausgeglichenen Bundeshaushaltes unterord-
nen.


(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
Wir müssen auch an dieser Stelle Vertrauen in diesem
Land schaffen. Das gelingt uns, wenn wir das Ziel eines
ausgeglichenen Haushaltes 2011 erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch unsere Entscheidungen, speziell durch die Ab-
senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages, haben
wir die Quote bei den Lohnnebenkosten auf unter
40 Prozent gedrückt. Dieses Ziel, das wir jetzt erreicht
haben, haben wir lange mit vielen harten Entscheidun-
gen angesteuert. Ich will an dieser Stelle sagen: Auch bei
den Entscheidungen, die in diesem Jahr vor uns liegen,
müssen wir darauf achten, dass wir bei den Lohnneben-
kosten unter der Grenze von 40 Prozent bleiben. Es steht
noch die Entscheidung über den allgemeinen Beitrags-
satz in der gesetzlichen Krankenversicherung an. Es
steht eine Entscheidung über die Pflegeversicherung an.
Außerdem steht – hoffentlich – die Entscheidung an, den
Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung weiter zu sen-
ken, wenn die Beschäftigungssituation noch besser ge-
worden ist.

In diesem Kontext müssen wir dafür sorgen, dass Ar-
beit in Deutschland weiterhin günstiger wird und dass
die Menschen netto mehr in der Tasche haben. Das ist
der Effekt von sinkenden Lohnnebenkosten. Dadurch
kommt es zur Teilhabe aller Arbeitnehmer. Das ist eine
Politik, bei der alle vom Aufschwung profitieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Heute Morgen ist auch das Thema Tarifverhandlun-
gen angesprochen worden. Ich würde mir wünschen,
dass wir Tarifautonomie großschreiben würden. Ich
wundere mich darüber, dass zwar die Tarifautonomie im
Grundgesetz vorkommt, die Politik aber bei vielen Gele-
genheiten gute Ratschläge erteilt. Uns würde etwas mehr
Zurückhaltung besser anstehen. Trotzdem müssen wir
die Verantwortung derjenigen anmahnen, die die Tarif-
verhandlungen führen. Sie haben in den vergangenen
Jahren einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass
wir wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch eine solch
tolle Bilanz haben, indem sie vernünftige Tarifergeb-
nisse erzielt haben. Meine Bitte ist, dass sie diesen Weg
der Vernunft gemeinsam weitergehen und ihre Verant-
wortung wahrnehmen. Damit tun sie den Menschen in
unserem Lande etwas Gutes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wird suggeriert, dass man für die Sicherheit der
Arbeitsplätze etwas tun könnte, wenn man mehr Sicher-
heitsregeln und mehr Starrheit ins Arbeitsrecht einbaut.
Meine These ist: Das ist eine Scheinsicherheit. Wenn wir
Arbeitsplätze in Deutschland sicherer machen wollen
und wenn wir mehr Arbeit in Deutschland schaffen wol-
len, brauchen wir mehr Flexibilität. Durch mehr Flexibi-
lität, aber nicht durch mehr Starrheit bekommen die
Menschen eine größere Chance auf Arbeit. Wenn wir für
die Menschen etwas tun wollen, sollten wir uns darum
bemühen, dass wir an dieser Stelle mehr Flexibilität
schaffen. Das gibt ihnen eine Zukunftsperspektive.
Ein wesentliches Thema, das heute Morgen am Rande
angeklungen ist, ist die Energiepreisentwicklung. Viele
Menschen leiden unter dem Anstieg der Lebensmittel-
preise und der Energiepreise. Ich will an dieser Stelle
darauf hinweisen, dass diese Entwicklung auch etwas
mit Angebot und Nachfrage zu tun hat. Die Nachfrage
ist über einen gewissen Zeitraum relativ konstant. Aber
auf der Angebotsseite wird permanent eingegriffen. Des-
halb bin ich nicht der Meinung, dass wir Sozialtarife bei
den Energiepreisen brauchen. Wir brauchen vielmehr so-
ziale Energiepreise insgesamt, die wir hinbekommen
können, indem wir die Politik der Angebotsverknappung
beenden.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl!)


Wir brauchen eine Angebotserweiterung; denn die An-
gebotserweiterung führt zu günstigeren Tarifen für alle.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin sehr wohl für den weiteren Ausbau der erneu-
erbaren Energien. Ich halte es für verdienstvoll, dass
man nicht nur die Produktion, sondern auch den Grund-
lastanteil erneuerbarer Energien ausbaut. Ich bin aber
auch der Meinung, dass wir nicht durch Herausnahme
der Kernkraft aus dem Strommarkt und der Grundlast zu
einer Angebotsverknappung kommen dürfen. Denn da-
durch greift man den Menschen in den Geldbeutel. Das
kostet die Menschen Wohlstand. Deshalb möchte ich
eine solche Politik, die zulasten der Menschen in unse-
rem Land geht, nicht verantworten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich freue mich, dass der Bundeswirtschaftsminister in
den vergangenen beiden Jahren eine sehr erfolgreiche
Politik gemacht hat und einen realistischen Kurs bei der
Energiepolitik in Deutschland eingeschlagen hat. Ich
möchte ausdrücklich dafür Danke sagen, dass er nicht
mit zu starken ordnungsrechtlichen Eingriffen, sondern
mit Förderung und Marktanreizen versucht, die Ziele,
die wir uns energiepolitisch und klimapolitisch gesetzt
haben, zu erreichen. Das ist der Versuch, politische Ziele
mit marktwirtschaftlichen Instrumenten in Deutschland
umzusetzen. An dieser Stelle ist er auf dem richtigen
Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir alle haben in den ver-
gangenen Tagen mit großem Bedauern die Entwicklung
bei Nokia in Nordrhein-Westfalen verfolgt. Ich glaube,
unsere Antwort muss sein, zu versuchen, den Mittelstand
in Deutschland mit seinen Talenten, seinen Fertigkeiten,
seiner Flexibilität zu stärken. Deshalb will ich Ihnen hier
sagen: Wir als Union setzen eine Erbschaftsteuerreform
um, die verfassungsgemäß ist und dafür sorgt, dass mit-
telständische Unternehmen günstiger an die nächste
Generation weitergegeben werden können; dafür stehen
wir. Damit schaffen wir ein Stück Vertrauen in diesem
Land, und mittelständische Strukturen werden gestärkt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sorgen dafür, dass über das Thema Mitarbeiterbe-
teiligung gesprochen wird. Das stärkt die mittelständi-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
schen Unternehmen, das stärkt die Arbeitnehmer. Wir
wollen ein mittelstandsfreundliches Vergaberecht, wir
wollen den Abbau von Bürokratie, und wir wollen die
Erfolgsgeschichte der Zeitarbeit weiterführen, um auch
dort für mehr Flexibilität zu sorgen.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für eine Erfolgsgeschichte? Das ist doch Unsinn!)


Wenn wir das tun, dann werden neue, tragfähige Struktu-
ren errichtet, und dann wird nicht nur über Strukturen
gejammert, die leider momentan in Gefahr sind.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und hoffe,
dass wir gemeinsam tatkräftig an der Umsetzung arbei-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613901600

Martin Zeil ist der nächste Redner für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Martin Zeil (FDP):
Rede ID: ID1613901700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Jahreswirtschaftsbericht trägt die Überschrift „Kurs hal-
ten!“. Der Sachverständigenrat sagt über die Politik die-
ser Regierung:

Es ist keine klare wirtschaftspolitische Strategie
und Richtung erkennbar.

Das ist der Grund, warum viele Menschen gerade im
Mittelstand das Motto „Kurs halten“ eher als Drohung
empfinden.


(Beifall bei der FDP)


Haben Sie denn überhaupt einen Kurs und, wenn ja, ei-
nen, der gehalten werden sollte?

Ich nenne ein paar Beispiele: Sie machen ein bürokra-
tisches Gesetz über Mindestarbeitsbedingungen, statt
endlich Barrieren beim Eintritt in den Arbeitsmarkt ab-
zubauen.


(Beifall bei der FDP)


Sie machen ein Steuerrecht, das immer komplizierter
statt einfacher und gerechter wird. Sie haben es ja jetzt
wieder vom Bundesfinanzhof um die Ohren gehauen be-
kommen: Was Sie machen, ist zum Teil auch verfassungs-
widrig. Sie treiben die Abgaben und Lohnnebenkosten in
allen Bereichen – Rente, Pflege, Krankenversicherung –
per saldo in die Höhe, statt sie wirklich spürbar abzusen-
ken. Sie machen eine Unternehmensteuerreform über-
wiegend auf Kosten des Mittelstandes, Herr Wirtschafts-
minister, statt den Mittelstand so zu entlasten, dass er es
auch wirklich merkt.


(Beifall bei der FDP)


Sie legen eine Erbschaftsteuerreform vor, mit der Sie
nicht nur hinter Ihre eigene Koalitionsvereinbarung zu-
rückfallen, sondern die so bürokratisch, so übergabe-
feindlich, so arbeitsplatzgefährdend ist, dass sie gera-
dezu ein Schlag in das Gesicht der mittelständischen
Familienunternehmen ist.


(Beifall bei der FDP)


Ja, wir sind heute alle durch die Entscheidung von Nokia
betroffen, vor allen Dingen durch die Art und Weise. Wo
aber ist die Glaubwürdigkeit der Regierung bei diesem
Thema, wenn sie ein Vielfaches an Arbeitsplätzen durch
gesetzlich verordnete Mindestlöhne vernichtet?

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Ihrem konkre-
ten Regierungshandeln. All das hat mit den Prinzipien
der sozialen Marktwirtschaft, mit dem Mut zu Reformen
nicht das Geringste zu tun. Noch schlimmer: Mit diesem
Zickzackkurs schaden Sie auch der Glaubwürdigkeit von
Politik insgesamt. Nehmen wir nur das Thema Mindest-
lohn. Ich zitiere den Beschluss des CDU-Parteitages im
Dezember letzten Jahres. Die Überschrift heißt:

Was mit uns nicht zu machen ist

Dann kommt:

Wer Unternehmen zwingen will, einen Lohn zu
zahlen, der nicht zu erwirtschaften ist, der sorgt da-
für, dass viele Menschen gar keinen Lohn mehr be-
kommen. Deshalb wird es mit der CDU Mindest-
löhne, die Arbeitsplätze vernichten und Wettbewerb
aushebeln, nicht geben.

Nur eine Woche später hatten wir den ersten Mindest-
lohn.


(Beifall bei der FDP)


Sie brechen Ihr Wort und erwarten, dass die Menschen
Ihnen noch glauben. Das kann nicht funktionieren und
schafft kein Vertrauen.

Ich möchte noch ein Wort zur aktuellen Diskussion
über Subventionen in Deutschland und Europa sagen.
Wir sollten über einen grundsätzlichen Politikwechsel
nachdenken. Wäre es oft nicht besser, öffentliche Mittel
in den Ausbau unserer Infrastruktur zu stecken und un-
sere Standorte nachhaltig zu stärken, anstatt eine An-
siedlungspolitik zu treiben, die das Risiko des Verfalls-
datums schon in sich birgt?


(Beifall bei der FDP)


Der Bericht, den wir heute debattieren, soll mit schö-
nen Überschriften verschleiern, dass diese Regierung
längst einen Kurswechsel zu mehr Staat und weniger
Marktwirtschaft eingeleitet hat. Damit kann man viel-
leicht vorübergehend Ängste dämpfen, aber man ver-
spielt damit auch die Zukunftschancen der Menschen.

Soziale Marktwirtschaft heißt Verbindung von Frei-
heit, Wettbewerb und sozialem Ausgleich. Die soziale
Marktwirtschaft hat sich als einzigartiges Erfolgsmo-
dell erwiesen. Wir können aber die Prinzipien der sozia-
len Marktwirtschaft nur dann glaubwürdig exportieren
und ihre Beachtung auch von anderen erwarten, wenn
wir sie im eigenen Land nicht ständig mit Füßen treten,
sondern endlich wieder zur Geltung bringen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613901800

Der Kollege Spiller hat nun als Nächster für die SPD-

Fraktion das Wort.


Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1613901900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir schauen auf ein wirtschaftlich erfolgreiches
Jahr 2007 zurück, das uns die besten Zahlen seit langem
gebracht hat: einen kräftigen Rückgang der Arbeitslosig-
keit, eine Zunahme der Beschäftigung insbesondere bei
den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-
hältnissen, eine sehr mäßige Inflationsrate von um die
2 Prozent und einen brillanten Abschluss unserer Leis-
tungsbilanz im Wirtschaftsverkehr mit dem Rest der
Welt. Normalerweise bestünde nur Grund für Zuversicht
und für Zufriedenheit über das Erreichte. Die Auftrags-
bücher der deutschen Unternehmen sind gut gefüllt, und
die Wettbewerbsfähigkeit ist ungebrochen.

Aber es gibt weltweit und auch bei uns Krisensorgen.
Sie resultieren – Herr Kollege Stiegler hat das am An-
fang sehr deutlich dargestellt – aus unverantwortlichem
Handeln bei spekulativen Bankgeschäften. Es ist gera-
dezu bedrückend, dass genau in jenen zwei, drei Jahren,
in denen wir im Deutschen Bundestag, aber auch in vie-
len internationalen Gremien darüber gesprochen haben,
wie man sicherstellen kann, dass Kreditrisiken besser als
bisher erfasst werden und Banken ein saubereres System
der Risikoabschätzung und der Risikokontrolle einfüh-
ren – Stichwort: Basel II; das ist, wie ich finde, nach lan-
gen Anstrengungen zu einem sehr eindrucksvollen und
guten Ergebnis gebracht worden –, weltweit, aber eben
auch in Deutschland bei den Kreditinstituten eine Welle
des unverantwortlichen Zockens begonnen hat. Wir ste-
hen jetzt in der wirklich bedrückenden Konstellation,
dass die hervorragenden realwirtschaftlichen Grundla-
gen durch Sorgen in der Finanzwirtschaft gefährdet wer-
den. Dies geht so weit, dass auch die Europäische Zen-
tralbank und die Deutsche Bundesbank abwägen
müssen, ob sie ihre Geldpolitik an den primären Belan-
gen von Geldwertstabilität ausrichten oder ob sie wie die
amerikanische Notenbank sagen, sie müssten für mehr
Liquidität sorgen, um weitere Erschütterungen an den
Finanzmärkten zu vermeiden.

Was ist die Antwort? Was muss man in dieser Situa-
tion tun? Alles, was in der Vergangenheit über Deregu-
lierung, lieber Herr Kollege Zeil,


(Martin Zeil [FDP]: Ein wichtiges Thema!)


und die Freiheit der Marktwirtschaft gesagt worden ist,
kann meines Erachtens nicht darüber hinwegtäuschen,
dass es in der Finanzwirtschaft klare Regelungen geben
muss.


(Martin Zeil [FDP]: Unbestritten!)


Das fängt nicht mit der staatlichen Aufsicht an, sondern
mit der Leitung der Institute selbst und der Verantwor-
tung des Vorstandes. Die Vorstände müssen sich der Ver-
antwortung dafür bewusst sein, was sie tun, wenn sie die
dritte oder vierte Ableitung von irgendeinem Produkt für
eine risikobewusste Anlage halten. Das setzt auch vo-
raus, dass die vorhandenen Gremien – insbesondere der
Aufsichtsrat – ihre Verantwortung wahrnehmen. Der
Aufsichtsrat hat ein sehr wichtiges Hilfsorgan, nämlich
die Wirtschaftsprüfer. Es ist niederschmetternd, dass bei
jeder größeren Krise eines Unternehmens – insbesondere
bei den Banken – der Prüfungsvermerk des Wirtschafts-
prüfers bescheinigt, dass alles in Ordnung ist und die Ri-
siken gut erfasst sind.

Wenn wir zu den Schlussfolgerungen kommen, dann
müssen wir uns also nicht nur mit der Organisation der
Bankenaufsicht in Deutschland befassen, sondern auch
mit den Aufgaben, der Haftung und vielleicht auch den
Möglichkeiten von Wirtschaftsprüfern. Wir müssen auch
zu einer Verbesserung der Bankenaufsicht in Deutsch-
land kommen. Das ist nicht nur eine nationale Aufgabe,
aber jeder muss in dem Bereich anfangen, für den er zu-
ständig ist, und wir sind für die Bankenaufsicht in
Deutschland zuständig.

Die Bankenaufsicht in Deutschland wird seit lan-
gem von zwei Institutionen getragen. Die laufende Kon-
trolle ist Aufgabe der Deutschen Bundesbank. Darüber
hinaus gibt es die BaFin, die Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht, die aus der Zusammenlegung
der drei Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, das
Versicherungswesen und den Wertpapierhandel hervor-
gegangen ist. Die beiden Institutionen, in denen viel
Sachkenntnis vorhanden ist, versuchen zu Recht, sich
möglichst selbstständig über ihre Richtlinien der konkre-
ten Ausführung der Bankenaufsicht zu verständigen.
Aber wir warten jetzt schon eine ganze Weile darauf,
dass diese Verständigung zu einem Ergebnis führt.

Ich erinnere daran, dass es nach dem Kreditwesenge-
setz möglich ist, dass der Bundesfinanzminister Vorga-
ben macht oder Beschlüsse fasst. Das mag der Bundes-
bank nicht recht sein, aber in diesem Bereich ist die
Bundesbank keine autonome Behörde; sie ist an die Re-
geln des Kreditwesengesetzes gebunden. Auch das ist zu
berücksichtigen, wenn es darum geht, zu einem Ergebnis
zu kommen.

Ich bin sicher, dass wir in den nächsten Monaten zu
einer umfassenden Neuregelung kommen müssen. Auch
der Bundestag wird sich damit befassen müssen; er kann
das nicht ausschließlich der Bundesbank und der BaFin
überlassen.

Erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung zu der
Eigenverantwortung der Banken. Es gibt die große
Sorge, dass sich die Unsicherheit bis in den Frühsommer
hinein fortsetzt, weil die Hauptversammlungen zum Teil
erst im Mai oder Juni stattfinden. Es wäre angemessen,
wenn die Banken, die derzeit einander misstrauen – es
ist ein Problem, dass die Banken nicht nur bei dem Rest
der Wirtschaft und bei vielen Kunden Vertrauen verlo-
ren haben, sondern dass sie auch einander nicht mehr
trauen –,


(Ludwig Stiegler [SPD]: Die werden wissen, warum!)


zumindest die Termine ihrer Bilanzpressekonferenzen
vorziehen. Es kann nicht sein, dass sich diese Unsicher-
heit bis in den Frühsommer fortsetzt.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg-Otto Spiller

(Beifall bei der SPD – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613902000

Laurenz Meyer ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1613902100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man sich die Debatte heute Morgen anhört, dann
stellt man zunächst fest, dass es wohltuend ist, dass der
Wirtschaftsminister in einer sehr unaufgeregten Art


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann gar nichts anderes!)


die Risiken, die am Horizont sind, behandelt und erklä-
ren kann – das unterscheidet uns von Vorgängerregierun-
gen –, dass man sich bei den Prognosen im Jahreswirt-
schaftsbericht unter Beachtung der Risiken an dem
unteren Ende der heute vorhandenen Prognosen zur
Wirtschaftsentwicklung orientiert hat; denn die Verunsi-
cherung in der Bevölkerung, die wir bisher hatten, lag zu
guten Teilen darin begründet, dass immer wieder nach
unten korrigiert werden musste. Dass die Bundesregie-
rung diesen Weg nicht einschlägt, ist wirklich verdienst-
voll. Das schafft Sicherheit über den Kurs und sorgt für
Stabilität.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich verstehe manche Reaktionen zurzeit überhaupt
nicht. Man konnte die Risiken in die Prognosen einbe-
ziehen; denn wer sich als interessierter Laie nur halb-
wegs mit der Finanzierungssituation am amerikanischen
Immobilienmarkt und mit der Verschuldungssituation
amerikanischer Privathaushalte beschäftigt hat, der
musste wissen, dass das System auf Dauer so nicht funk-
tionieren kann, und der musste froh sein, dass wir in
Deutschland ein solches System nicht haben und es des-
halb bei uns solche Vorgänge nicht geben wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich an der Stelle zwei Punkte sagen, in
denen ich mich von dem Kollegen Brüderle unter-
scheide. Er ist gerade nicht da, aber er wird wahrschein-
lich noch irgendwo sein.


(Martin Zeil [FDP]: Irgendwo ist er immer!)


Ich sage es trotzdem: Wir brauchen mehr Transparenz
über die Vorgänge an den Finanzmärkten, und die Ab-
sicht der Bundesregierung, diese herzustellen, unterstüt-
zen wir als Fraktion nachdrücklich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich sage auch ganz klar zu dem, was er hier etwa zum
Thema Staatsfonds vorgetragen hat: Die FDP sollte in
sich gehen und ihre Haltung überprüfen. Ich sage Ihnen
klipp und klar meine Meinung dazu: Wenn ich will
– möglicherweise im Gegensatz zu der einen oder ande-
ren Fraktion hier im Parlament –, dass sich der deutsche
Staat aus deutschen Unternehmen zurückzieht und kei-
nen politischen Einfluss auf Unternehmensentscheidun-
gen ausübt,


(Otto Fricke [FDP]: Er hat auch kein Geld!)


dann will ich erst recht nicht, dass ausländische Staaten
mit ihren Staatsfonds auf deutsche Unternehmen politi-
schen Einfluss nehmen. Dass wir da Beschränkungen
vorsehen, Grenzen setzen und für Transparenz sorgen
müssen, müsste, so glaube ich, jedem einleuchten, ei-
gentlich auch der FDP, weil sie die Grundannahme teilt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613902200

Lieber Herr Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Fricke?


Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1613902300

Ja.


Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1613902400

Herr Kollege Meyer, es ist immer einfach, wenn man

sich Vorurteile sucht und darauf die Argumentation auf-
baut. Ich glaube, wir sind uns vollkommen darüber ei-
nig, dass wir nicht wollen, dass irgendeiner aus der Poli-
tik – sei er aus dem Binnenland, sei er aus dem Ausland –
politischen Einfluss nimmt. Dazu will ich fragen: Heißt
das, Sie wollen grundsätzlich nicht, dass ausländische
Fonds, etwa aus Norwegen, sich an deutschen Unterneh-
men beteiligen, etwa an deutschen Banken, um den Ban-
kenstandort zu sichern? Heißt das, Sie wollen, wenn es
keinen politischen Einfluss gibt – den wollen wir beide
nicht –, die Beteiligung trotzdem nicht, oder sagen Sie:
Wenn es ohne politischen Einfluss geht, dann hätte ich
sie gerne? Diese Differenzierung hätte ich recht gerne.
Das andere wäre mir doch ein bisschen zu einfach.


Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1613902500

Es ist klar gesagt worden – das haben wir in der bis-

herigen Diskussion auch zum Ausdruck gebracht, lieber
Kollege Fricke –: Es geht darum, ob an irgendeiner
Stelle entscheidend Einfluss genommen werden kann.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!)


Wir wollen Transparenz darüber. Die Frage ist nicht, ob
sich privatwirtschaftlich organisierte Fonds an deutschen
Unternehmen beteiligen – auch da wollen wir Transpa-
renz; wir wollen um die Vorgänge wissen und Kenntnis
davon haben, wer dahinter steht –; vielmehr geht es um
die Frage, inwieweit zum Beispiel Staatsfonds aus Russ-
land, aus China oder aus anderen Ländern hier entschei-
dend Einfluss nehmen.


(Otto Fricke [FDP]: Norwegen!)


– Norwegen müssen wir nach unserer Rechtslage selbst-
verständlich genauso behandeln wie andere auch. –
Wenn es um Staatsfonds geht, sollten ausländische
Staatsfonds, wenn sie denn Anteile in einem Umfang er-
werben, dass politischer Einfluss möglich ist, nicht an-
ders behandelt werden als etwa der deutsche Staat und






(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

die übrigen EU-Staaten. Anders können wir im Übrigen
gar nicht handeln. Wir müssen die Beteiligung aus Dritt-
ländern und die Beteiligung aus EU-Ländern gleich be-
handeln. Wir würden sonst Vertrauen in unsere Kapital-
märkte zerstören.

Der Kollege Stiegler hat vorhin zur Entwicklung der
Arbeitnehmereinkommen und der Kapitaleinkommen
vorgetragen. Unter Bezugnahme auf die aktuelle Situa-
tion könnte man sagen: Lieber Ludwig Stiegler, alles das
ist überholt. Innerhalb von zwei Tagen ist die Statistik,
die Sie hier zitiert haben und aus der hergeleitet wird,
was wir alles tun sollen, hinfällig geworden. Das hat sich
in Wohlgefallen aufgelöst. Innerhalb von zwei Tagen hat
sich das völlig geändert.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Die Differenz ist größer als 60 Milliarden!)


Manch ein Arbeitnehmer wird sich darüber freuen, dass
er ein gesichertes Einkommen hat und nicht von solchen
Einnahmen abhängig ist.

Meine Damen und Herren, liebe Freunde aus dem
Parlament hier, wir müssen uns mit der Grundfrage be-
schäftigen: Was ist die Lösung – das ist auch von Herrn
Kuhn angesprochen worden –, wenn man feststellt, dass
die Arbeitnehmer netto letztlich zu wenig in der Tasche
behalten?


(Rainer Brüderle [FDP]: Durch Ihre Politik!)


Das ist die Frage, die uns am meisten beschäftigt, wobei
ich das eingrenzen will. Ich betone: Wir beschäftigen
uns zu viel, in manchen Bereichen ausschließlich mit der
Situation von Transferempfängern. Die eigentlich Ge-
kniffenen in unserer Bevölkerung, die unsere höchste
Aufmerksamkeit verdienen, sind die Arbeitnehmer, die
kein BAföG mehr bekommen, die keine Energiekosten-
zuschüsse mehr bekommen, die für sich und ihre Familie
mit ihrem Einkommen selbst sorgen müssen. Das ist die
Gruppe, mit der wir uns beschäftigen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Wer regiert denn?)


– Damit sind wir voll beim Thema.

Dazu haben Sie zwei Lösungswege aufgezeigt. Sie
haben die Progression bei den Sozialversicherungsbei-
trägen angesprochen und haben sich zum Mindestlohn
geäußert.

Zunächst zu dem, was Sie zum Mindestlohn gesagt
haben – ich hätte Ihnen gar nicht zugetraut, dass Sie das
hier wirklich vortragen, weil ich Sie für einen intelligen-
ten Menschen halte –: Niemand soll mehr Aufstocker
sein in Deutschland. – Lieber Herr Kuhn, wollen Sie
Mindestlöhne von 12 Euro für eine Familie mit zwei
Kindern? Sie wissen doch – wenn nicht, dann lesen Sie
das bitte in der Studie des IAB über die Zusammenset-
zung der Gruppe der Aufstocker nach –: Wenn wir von
einem Mindestlohn von 7,50 Euro reden, geht es maxi-
mal um 60 000 Arbeitnehmer in Deutschland, und zwar
alleinstehende Vollzeitbeschäftigte. Alle anderen sind
von dieser Diskussion überhaupt nicht betroffen. Der
Sozialminister führt immer die Zahl von 1,2 Millionen
im Munde. Das ist eine Phantomdiskussion. Hier soll et-
was geschürt werden, weil man ein bestimmtes politi-
sches Ziel hat.

Wir müssen den Menschen sagen, dass sich in ihrem
Portemonnaie überhaupt nichts ändert, wenn diese Pläne
für einen flächendeckenden Mindestlohn umgesetzt wer-
den. Maximal wird ein Teil der sozialen Transferleistun-
gen, die der Bundesfinanzminister zur Verfügung stellen
muss, gegen einen Teil, der vom Arbeitgeber kommt,
ausgetauscht. Und für dieses Risiko sollen wir den Kol-
lateralschaden von ein paar Hunderttausend wegfallen-
den Arbeitsplätzen einplanen? Das wird es mit der
Unionsfraktion nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zu der Ankündigung, dass nach den Tarifverhandlun-
gen bei der Bahn ein Antrag auf Mindestlohn gestellt
werden soll – die Bitte war an Sie, sehr verehrte Frau
Bundeskanzlerin, und Ihre Bundesregierung gerichtet;
ich habe das heute Morgen im Fernsehen gesehen –, will
ich klipp und klar sagen: Es gibt bei der Bahn anders als
bei der Post kein Gesetz, das uns zwingt, irgendwelche
Bedingungen zu schaffen. Wir werden bei der Bahn
nicht bereit sein, die Tarife in einen Mindestlohntarifver-
trag zu kleiden; das würde den aufkeimenden Wettbe-
werb, den es da in Ansätzen gibt, zerstören. Hier soll
Wettbewerb stattfinden. Den werden wir nicht kaputtma-
chen. Das ist die Meinung der Unionsfraktion; da bin ich
mir ganz sicher.


(Beifall bei der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwarten! – Zuruf von der FDP: Nicht wieder umfallen!)


Wir müssen hier auch über den zweiten Punkt disku-
tieren, den Sie, Herr Kuhn, angesprochen haben, näm-
lich die Sozialversicherungsbeiträge. Da gehen Sie ja ei-
nen Schritt weiter als wir. Nach unserer Meinung sollte
man die Krankenversicherungsbeiträge teilweise von
den Arbeitnehmereinkommen abkoppeln. Deshalb un-
ser Vorschlag zur Einführung einer Gesundheitsprämie.
Sozial gestalten könnte man das, indem ein Ausgleich
über steuerfinanzierte Leistungen stattfindet, also eine
Umschichtung in der Form, dass man die für Sozialver-
sicherungssysteme typische Bindung an die Arbeitneh-
mereinkommen aufhebt und das stärker über Steuern
finanziert. Ich halte das für den richtigen Weg. Wir müs-
sen in diesen Bereichen umschichten, damit insbeson-
dere die, die wenig verdienen, mehr in der Tasche haben.
Der Weg über steuerfinanzierte Leistungen ist da der
richtigere, weil er der sozial gerechtere ist.

Sie schlagen im Kern nichts anderes vor, als eine neue
Steuer für Gesundheit einzuführen; das gilt ja auch für
andere Bereiche wie die Pflege, während Sie bei der
Rente diesen Weg nicht beschreiten wollen. Indem Sie
nun fordern, eine neue Steuer für diesen Bereich einzu-
führen, gehen Sie noch einen Schritt weiter und treten
für eine völlige Abkopplung ein. Man muss sich da über
die Frage unterhalten – ich halte das für eine spannende
Diskussion –, wie man das machen kann. Sinnvoll er-
scheint es mir auf alle Fälle, dass der Normalarbeitneh-
mer nicht mehr alle Rentner und die entsprechenden






(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

Ausgaben für Kinder mitfinanzieren muss. Hier hat die
Bundesregierung entsprechende Beschlüsse gefasst. Wir
werden das nach und nach, Schritt für Schritt umsetzen;
denn das ist richtig so.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja in Ordnung! Aber dann kann man nicht gleichzeitig die Steuern senken!)


Meine Damen und Herren, es ist hier vorgetragen
worden, welche Folgen die Globalisierung im Moment
mit sich bringt. Ich will ganz klar sagen, dass Deutsch-
land zu den Gewinnern der Globalisierung gehört.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Das stimmt!)


600 000 neue Arbeitsplätze im letzten Jahr – das ist ein
deutlicher Beweis dafür.


(Martin Zeil [FDP]: So ist es!)


Natürlich müssen wir uns mit dem Problem beschäfti-
gen, dass es die Geringqualifizierten, also diejenigen, die
keinen Schulabschluss oder keine Berufsausbildung ha-
ben, in Zeiten der Globalisierung schwerer haben als an-
dere. Darauf müssen wir reagieren und uns über die
Frage unterhalten, wie wir dafür sorgen können, dass die
Arbeitsplätze, die aufgrund der Globalisierung bei uns
gefährdet sind, erhalten werden können bzw. die Arbeit-
nehmer und ihre Familien genügend Einkommen haben.
Unsere Antwort darauf ist die Sicherstellung eines Min-
desteinkommens für jeden in Deutschland unter sozialen
Gesichtspunkten. Ich bitte Sie, lieber Kollege Stiegler,
darüber noch einmal nachzudenken. Dies macht mehr
Sinn, als sich darüber zu beklagen, dass immer mehr Ar-
beitsplätze abwandern. Das ist einfach eine Tatsache. Da
zieht auch ein Vergleich mit Großbritannien nicht; denn
von London aus kann man zum Beispiel Wäsche nicht
zum Waschen nach Polen schaffen, von Berlin aus aber
jederzeit. Das ist doch der Punkt, auf den wir hinweisen
müssen. Wir werden das immer und immer wieder tun.

Ich habe heute Morgen gelesen, dass der Kollege
Stiegler gestern Abend einen anderen SPD-Politiker als
„Endmoräne des Montanzeitalters“ bezeichnet hat. Dazu
sage ich klipp und klar: In Wahlkampfzeiten nehme ich
es ja noch hin, dass der Kollege Stiegler so etwas sagt.
Aber er ist viel zu intelligent, um nicht zu wissen, dass
das Unsinn ist, was er da vorträgt. Wenn wir uns gemein-
sam darum bemühen und es schaffen, dass bis 2020
30 Prozent oder gar – Herr Kuhn, lassen Sie uns einmal
theoretisieren; das halte ich technisch durchaus für mög-
lich – 40 Prozent des Energiebedarfs aus regenerativen
Energien erzeugt werden, dann ist zugleich klar, dass die
anderen 60 Prozent auch irgendwie erzeugt werden müs-
sen; denn ohne ausreichende Energie geht unsere Wirt-
schaft ein. Zur Deckung dieser 60 Prozent bleiben nur
Kohle und Kernenergie übrig, weil auf zusätzliches Erd-
gas aus Russland für Kraftwerke niemand in diesem Saal
mehr setzen will. Wer angesichts dieser Situation den
Leuten in Hessen weiszumachen versucht, wir bräuchten
keine neuen Kohlekraftwerke, um die alten zu ersetzen,
und damit eine völlig andere Position als die eigene Par-
tei hier im Bundestag vertritt, der erzählt den Leuten
schlicht und ergreifend die Unwahrheit; denn das ist Un-
sinn.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wer dann noch hinzufügt, sämtliche Alternativenergien,
Wind, Wasser und Sonne, seien umsonst, der soll doch
einfach einen Blick in die Haushaltszahlen für das CO2-
Programm werfen: Dort sind Milliardenbeträge zur
Finanzierung der Umsteuerung unserer Volkswirtschaft
eingestellt.

Es kommt noch etwas hinzu – lieber Ludwig Stiegler,
ich bitte Sie, ernsthaft darüber nachzudenken –: Technik-
feindlichkeit und Angst vor Neuerungen – Chemie, Bio-
und Gentechnik, Energietechnik, all diese Bereiche – sind
in unserem Land weit verbreitet.


(Ortwin Runde [SPD]: Was?)


Wir müssen uns aber dazu bekennen, dass Deutschland
ein Industrieland ist und bleiben muss, wenn wir hier
die Dienstleistungen finanzieren wollen, von denen bei
uns in Zukunft immer mehr Menschen leben sollen.

Deshalb müssen wir bereit sein, Neuerungen vorzu-
nehmen. Wir müssen uns darauf einstellen – darauf hat
Frau Merkel schon hingewiesen, bevor sie Bundeskanz-
lerin wurde –: Da die Erzeugung in unserem Land teuer
ist, müssen wir immer so viel besser sein, wie wir teurer
sind. Das ist ein einfacher Satz; aber er stimmt nach wie
vor und ist nicht umzustoßen. Ich halte manche Argu-
mente, die in den jetzt stattfindenden Wahlkämpfen vor-
getragen werden, für sehr gefährlich, weil sie Feindlich-
keit schüren.

Ich komme zum Schluss. Um die Debatte komplett zu
machen, Herr Lafontaine – Sie haben einen Kurswechsel
gefordert –: Fragen Sie einmal die 600 000 Menschen,
die im letzten Jahr einen neuen Arbeitsplatz bekommen
haben – manchmal nach Langzeitarbeitslosigkeit –, ob
sie den Kurs wechseln wollen! Ich füge hinzu: Fragen
Sie vor allen Dingen die Leute, die in Bundesländern le-
ben, in denen die PDS oder Die Linke jemals mit an der
Regierung gewesen ist. Überall dort, wo sie mit an der
Regierung war, ging es nach unten und befand man sich
am Ende der Skala; nirgendwo gab es Erfolge. Immer
dann, wenn die Regierung gewechselt hat und Sie aus
der Regierung herausflogen, ist es besser geworden.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Deswegen sind wir nach wie vor der Überzeugung: Mit
unserem Kurs geht es den Menschen in Deutschland bes-
ser, und deshalb wird er fortgesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613902600

Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin

Gudrun Kopp.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1613902700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!

Lieber Kollege Meyer, bei Ihnen klaffen Reden und
Handeln völlig auseinander.


(Rainer Brüderle [FDP]: So ist der Meyer! – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Das stimmt!)


Sie beklagen die Debatte um den Mindestlohn. Dennoch
hat die Union gerade dem Postmindestlohn zugestimmt,
und das trotz der Wettbewerbsnachteile, die für alle
Wettbewerbsteilnehmer damit verbunden sind. Denken
Sie an den Mehrwertsteuervorteil und weitere Vorteile
– Stichwort „Unfallversicherung“ –, durch die die Deut-
sche Post AG privilegiert ist und bleibt.

Sie wundern sich, dass auch an anderen Stellen De-
batten aufkommen und Begehrlichkeiten geweckt wer-
den, Stichwort – Sie haben es eben genannt – „Deutsche
Bahn“, das Quasistaatsunternehmen. Schauen Sie doch
einmal nach Großbritannien: Die Bahn hat dort gerade
eine Regionalbahn im Wert von 200 Millionen Euro ge-
kauft. In Großbritannien wird Offenheit praktiziert. Sie
hier in Deutschland denken dagegen darüber nach, das
Außenwirtschaftsgesetz dahin gehend zu ändern, dass
sensible Infrastruktur künftig durch Staatsfonds und
staatliche Beteiligungen vor Einflussnahme geschützt
wird. An dieser Stelle haben Sie also einen völlig ande-
ren Weg eingeschlagen.


(Beifall bei der FDP)


Wir haben in der Tat eine Vertrauenskrise in verschie-
denen Bereichen – der Kollege Brüderle hat es heute
Morgen hier sehr deutlich gesagt –: bei den Banken, in
der Energiewirtschaft und auch, wie der Fall Nokia
zeigt, im Telekommunikationssektor. Ich als Nordrhein-
Westfälin möchte ausdrücklich sagen: Wir prangern die
mangelnde Kommunikation in dieser Sache an, und wir
nehmen die Ängste und Nöte der Menschen sehr ernst.
Es ist aber nicht zu akzeptieren, dass hier einige durch
Boykottaufrufe Symbolpolitik zu betreiben versuchen.
Ich halte das für in größtem Maße unseriös. Wir müssen
über politische Handlungen nachdenken und darüber, ob
wir an bestimmter Stelle noch richtig aufgestellt sind.


(Beifall bei der FDP)


Ich will etwas vertiefen, was auch der Kollege Zeil
eben angesprochen hat, nämlich unsere Förderpolitik.
Als Beispiel nenne ich die Gemeinschaftsaufgabe „Ver-
besserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, die in den
letzten fünf Jahren mit 4,4 Milliarden Euro ausgestattet
war. Wir müssen überlegen, ob wir an dieser Stelle rich-
tig handeln. Der Bericht des Bundesrechnungshofs stellt
richtigerweise dar, dass erstens der Einsatz dieser Bun-
desmittel unzureichend kontrolliert wird, zweitens das
Parlament über die Wirkung der Fördermittel unvoll-
ständig informiert wurde und wird sowie drittens die An-
gaben der Länder über neugeschaffene Dauerarbeits-
plätze überhaupt nicht vorliegen. Für mich ist völlig klar,
dass wir uns mit folgenden Fragen auseinandersetzen
müssen: Was nützen Förderungen eigentlich? Sind sie
nicht eher wettbewerbsfeindlich? Bringen sie die Struk-
turen nicht eher durcheinander, als dass sie hilfreich
sind? Darüber müssen wir natürlich diskutieren. Die
GA-Fördermittel werden ohne Prüfung einer wirtschaft-
lichen Bedürftigkeit des Empfängers verteilt. Diese Mit-
tel werden ausschließlich eingesetzt, um in struktur-
schwachen Regionen Unternehmen anzulocken. Wenn
das der einzige Grund ist, hat diese Förderung kein trag-
fähiges Fundament. Ich fordere insbesondere die Große
Koalition auf, sich hierüber Gedanken zu machen. Wir
jedenfalls tun das und fordern ein entsprechendes Han-
deln von Ihnen ein.

Lieber Kollege Stiegler, ich möchte auf Sie zu spre-
chen kommen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Hier!)


– Ich habe Sie gesehen. – Ich bitte Sie, in Sachen Ener-
giepolitik seriös und wahrheitsgemäß zu argumentieren.
71 Prozent der Stromproduktion werden im Augenblick
aus Kernenergie und Kohle gewonnen: 27 Prozent aus
Kernenergie und 44 Prozent aus Kohle. Diese Zahl wird
nach neuesten Gutachten bis zum Jahr 2020 in etwa be-
stehen bleiben. Sie haben Herrn Clement angeprangert,
weil er darauf hingewiesen hat, dass es eine unseriöse
Aussage Ihrer Kollegin in Hessen zum Thema Energie-
politik gibt, weil er darauf hingewiesen hat, dass die Lü-
cke in der Stromproduktion nicht allein durch den Ein-
satz erneuerbarer Energien zu füllen ist – ganz zu
schweigen von den Energiepreisen und der Frage der
Versorgungssicherheit.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613902800

Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1613902900

Letzter Satz. – Es ist unseriös, wenn Sie der Bevölke-

rung weismachen wollen, das sei tatsächlich leistbar. Ich
bitte Sie wirklich, in sich zu gehen, seriös zu argumen-
tieren und den Energiestandort Deutschland nicht auf ein
unsicheres Fundament zu stellen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613903000

Nun hat noch einmal der Kollege Ludwig Stiegler das

Wort für die SPD-Fraktion.


(Otto Fricke [FDP]: Na ja! Repetitio est mater studiorum!)



Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1613903100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Kollege Laurenz Meyer hat wie in alten Zeiten, als wir
noch gegeneinander arbeiten durften, meinen Adrenalin-
spiegel erhöht.


(Otto Fricke [FDP]: Das tut ihr doch immer noch! – Martin Zeil [FDP]: Da hat sich doch nichts geändert!)


– Nein, wir arbeiten jetzt gut und freundschaftlich zu-
sammen. Wir kommen zwar von unterschiedlichen
Ufern, aber wir finden immer wieder Brücken, und seien
es Pontonbrücken.






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler

(Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Die sind aber sehr wackelig!)


Da, wo die Liberalen sich scheuen, gehen der Meyer und
ich hinüber. Wir kommen schon ans Ufer.

Frau Kopp, Sie verbreiten hier Unwahrheiten über die
hessische Energiepolitik. Hier wird unterstellt, Andrea
Ypsilanti oder Hermann Scheer hätten gesagt, sie woll-
ten alles mit erneuerbaren Energien machen. Die Wahr-
heit ist, dass sie auf Kraft-Wärme-Kopplung setzen – auch
und gerade aufbauend auf Kohlebasis – und wir als SPD
hinterher sind, dass die Unternehmen gerade in einem
dicht besiedelten Land wie Hessen, wo es Wärmesenken
genug gibt, das Thema Kraft-Wärme-Kopplung ange-
hen. Wir setzen nicht auf Riesenkraftwerke, sondern ge-
hen die Dezentralisierung an. Hessen wird mit dieser
Energiepolitik nicht schlechter dastehen, sondern besser.
Es wird regionale Arbeitsplätze und regionale Wert-
schöpfung haben, was es heute so nicht hat. Deshalb sind
die Vorwürfe an Andrea Ypsilanti und Hermann Scheer
falsch.


(Beifall bei der SPD)


Die hessische SPD steht für Hessen als ein Industrieland.

Der Kollege Meyer hat erklärt, er mache sich wegen
der Technologiefeindlichkeit Sorgen. Es gibt keine bes-
sere Hochtechnologie als die erneuerbare Energie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Energie, genauer gesagt, die Primärenergie, ist zwar
umsonst. Aber wir wissen natürlich, dass wir Intelligenz
und Geld investieren müssen, damit wir die in Überfülle
vorhandene erneuerbare Energie nutzen können. Hermann
Scheer hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass Roland
Koch mit seiner Sturheit, etwa gegen die Windenergie,
sehr viele Entwicklungschancen für Hessen verpasst hat.
Hessen zahlt für Energie von außen, statt die eigenen
Kräfte zu nutzen. Deshalb ist die Energiepolitik der hes-
sischen SPD gut aufgestellt.

Herr Riesenhuber, Sie müssen keine Angst haben,
dass die von Ihnen kontrollierten Unternehmen ohne
Stoff dastehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Diese werden weiter – das sieht man schon jetzt in Hes-
sen-Süd – ihre Energie aus Bayern kaufen. Es ist interes-
sant, dass die CSU zwar manchmal von erneuerbarer
Energie spricht und sich dabei wie Laurenz Meyer an-
hört. Aber in der alltäglichen Praxis geht sie den Pakt
mit dem Teufel durchaus ein und nutzt die Möglichkei-
ten der erneuerbaren Energien. Fliegen Sie einmal über
Bayern. Die bayerischen Landwirte sind in Sachen So-
larenergie und Biogasanlagen in Deutschland führend.

Ich sage Ihnen: Die Vorwürfe, die Wolfgang Clement,
der aufgrund seiner NRW-Vergangenheit an Großkraft-
werken hängt – allerdings reden wir über Hessen und
nicht über NRW –, gegen die hessische SPD erhoben
hat, sind und bleiben unberechtigt. Wir können sie zu-
rückweisen. Der Kurs der SPD in der hessischen Ener-
giepolitik, die ab Sonntag eine Mehrheit vom hessischen
Volke haben wird,


(Lachen bei der CDU/CSU)

sichert Hessen auch in Zukunft eine Energieversorgung
ohne Atomkraft und damit in Frieden mit der Natur. Das
gönne ich den Hessen; denn Hessen muss vorn bleiben.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613903200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Meyer? Sie haben eben so schnell ohne Punkt
und Komma geredet, dass ich Sie nicht unterbrechen
wollte.


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1613903300

Das ist zwar gefährlich, aber ich wage es einmal.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613903400

Herr Kollege Meyer, bitte sehr.


(Das Mikrofon des Abg. Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU] schaltet sich nicht sofort ein)



Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1613903500

Technikfeindlichkeit, darüber haben wir gerade gere-

det!)


Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1613903600

Ich stelle so selten Zwischenfragen. – Herr Kollege

Stiegler, wir sind doch über die Ziele beim Ausbau der
regenerativen Energien einer Meinung. Darüber gibt es
keinen Streit. Habe ich Sie richtig verstanden – so wie
Sie das vorgetragen haben, fand ich das sehr amüsant –,
dass wir der regenerativen Energie, die eigentlich um-
sonst ist, mit sehr viel Geld zum Durchbruch verhelfen
müssen? Ist es Ihre Diktion, dass diese Energieform ei-
gentlich umsonst ist, wir ihr aber doch mit viel Geld auf
die Beine helfen müssen?

Eine zweite Frage: Sind Sie mit mir der Meinung,
dass im Vergleich zu den Mitteln, die wir dafür einsetzen
müssen, selbst die Subventionen für die deutsche Stein-
kohle eine relativ wirtschaftliche Angelegenheit waren?


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1613903700

Die Sonne scheint umsonst. Aber damit wir sie nutzen

können, müssen wir Geld und Intelligenz – so habe ich
das gesagt – einsetzen. Das schafft Arbeitsplätze in Hes-
sen und sichert auf lange Zeit die Energie, weil die
Sonne erst dann versiegt, wenn wir alle schon dahin
sind. Diese Energiequelle sollten wir nutzen.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was kostet das?)


Genau das macht die hessische SPD.
Wer sich anschaut, wie sich die Kosten für die erneu-

erbaren Energien und wie sich die Energiepreise für die
fossilen Energieträger entwickeln, der wird sehen, dass
es nicht zu der von Ihnen befürchteten finanziellen Über-
forderung kommen wird. Das ist immer ein Rechenwerk






(A) (C)



(D)


Ludwig Stiegler
für sich. Jeder rechnet sich nach Belieben reich oder
arm.

Die hessische SPD hat ein Konzept vorgelegt, mit
dem der hessischen Industrie Versorgungssicherheit ge-
währt wird und der hessischen Bevölkerung Arbeits-
plätze gesichert werden. Damit wird insgesamt eine
nachhaltige Energieversorgung ohne Atomkraft begrün-
det. Das sollte uns alle Anstrengungen wert sein.

Glück auf!

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin An dreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613903800

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage der Kollegin Kopp?


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1613903900

Ja.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613904000

Bitte sehr, Frau Kopp.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1613904100

Danke schön. – Herr Kollege Stiegler, gehen Sie da-

von aus, dass die gesamte Energieversorgung für Hessen
ohne den Einsatz von Großkraftwerken sichergestellt
werden kann? Denn darum geht es gerade.


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1613904200

Es geht um Folgendes: Wir haben in Hessen Groß-

kraftwerke, und es geht um den verstärkten Ausbau der
Kraft-Wärme-Kopplung. Die Kraft-Wärme-Kopplung
hat, wie wir wissen, eine hohe Effizienz. Sie kann die
notwendigen Bedarfe decken. Es stellt sich die Frage:
Will man das? Die Großkraftwerke haben, weil die Wär-
mesenken nicht in der Nähe sind, in aller Regel nicht
diese Effizienz. Deshalb ist der hessische Weg, auf er-
neuerbare Energien, auf Kraft-Wärme-Kopplung und auf
Energieeffizienz zu setzen, auf Dauer effizienter, billi-
ger, wirtschaftlicher und sicherer. Darum haben die Hes-
sen am Sonntag eine gute Wahl.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Das glaubst du doch selber nicht! – Gudrun Kopp [FDP]: Sie haben meine Frage nicht beantwortet!)


– Dass Sie das nicht hören wollen, ist klar. Man kann ei-
nem Ochsen ins Ohr petzen. Wenn er es nicht hören will,
kann auch ich es nicht ändern.


(Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber so ist die Situation. Sie sind hier verblendet. Sie
werden sehen, dass Sie, wenn Andrea Ypsilanti in den
nächsten Jahren ihre Politik entfaltet, sagen werden: Ui,
das hätte ich nicht gedacht. Wir sagen: Die, die vom Irr-
tum zur Wahrheit reisen, das sind die Weisen. Die, die
im Irrtum verharren, das sind die Narren.

Danke.

(Beifall bei der SPD)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613904300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7845 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungs-
gesetzes

– Drucksachen 16/7077, 16/7485 –

– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Steuerberatungsgesetzes

– Drucksache 16/7250 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 16/7867 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Lydia Westrich

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel,
Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Steuerberatung zukunftsfähig machen

– Drucksachen 16/1886, 16/7867 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Lydia Westrich

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe
und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort für die Bundesregierung der Frau Parla-
mentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl.

N
Nicolette Kressl (SPD):
Rede ID: ID1613904400


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Parlament wird heute – die Mehrheit vorausgesetzt –
einen Gesetzentwurf verabschieden, der nach langer
Diskussion nun doch noch zu einem sehr guten Ergebnis
führt. Das Gesetz zum Berufsrecht der steuerberatenden
Berufe wird nicht nur europäische Vorgaben umsetzen,
sondern zusätzlich ein weiteres Stück frischen Wind – so
nenne ich es einmal – in dieses Berufsrecht bringen.


(Beifall bei der SPD)


(B)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl
Es ist gelungen, die ursprüngliche Zielsetzung der
Bundesregierung, das Berufsrecht der steuerberatenden
Berufe zu liberalisieren, erfolgreich umzusetzen. Beson-
ders erfreulich ist dabei, dass wir nach den konstruktiven
Beratungen im Finanzausschuss – so habe ich es emp-
funden; ich darf den Kolleginnen Westrich und Tillmann
danken – heute ein Gesetz verabschieden werden, das in
wesentlichen Teilen nicht nur die Zustimmung des Deut-
schen Bundestages, sondern auch der betroffenen Be-
rufsverbände findet. Es ist immer wichtig, dass wir ein
Stück Akzeptanz erreichen.

Der Gesetzentwurf hat im Wesentlichen drei Schwer-
punkte: die Liberalisierung des Berufsrechts der steu-
erberatenden Berufe, die Umsetzung der entsprechenden
europäischen Richtlinie und die Neuorganisation der
Steuerberaterberufe. Lassen Sie mich auf einige Aspekte
etwas näher eingehen.

Es ist endlich gelungen – das hat, wie ich finde, die
Zustimmung des ganzen Ausschusses gefunden –, die
Zulassung des sogenannten Syndikus-Steuerberaters
durchzusetzen. Das wird vielen Unternehmen erleich-
tern, steuerlichen Sachverstand zu rekrutieren. Steuerbe-
rater erhalten die Möglichkeit, sich zukünftig auch in der
Rechtsform der GmbH und Co. KG zusammenzuschlie-
ßen, Kooperationen mit partnerschaftsfähigen Berufen
einzugehen und Bürogemeinschaften mit Lohnsteuerhil-
fevereinen zu bilden. Die Steuerberaterkammern erhal-
ten die Möglichkeit, Ausnahmen vom Verbot gewerbli-
cher Tätigkeiten von Steuerberatern zuzulassen, wenn
dadurch – das betone ich ausdrücklich – keine Verlet-
zung von Berufspflichten zu befürchten ist. Die be-
währte Arbeit der Lohnsteuerhilfevereine wird durch die
im Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen, insbesondere
die Anhebung der Beratungsgrenzen, die im Laufe der
Beratungen noch ein Stück höher angesetzt worden sind,
auch für die Zukunft gesichert.

Was sicherlich und nicht erst seit dieser Gesetzesbera-
tung heiß umstritten war: Buchhalter, geprüfte Bilanz-
buchhalter und Steuerfachwirte erhalten keine weiterge-
henden Befugnisse als im bisherigen Recht. Immerhin:
Es wird zu einer Neufassung ihrer Werbebefugnisse
kommen. Wir gehen davon aus, dass es dadurch viel we-
niger standardisierte Abmahnungen geben wird. Das ist
für die Betroffenen sicherlich eine Erleichterung. In Zu-
kunft sollen allein die Grundsätze des für alle Gewerbe-
treibenden geltenden Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb Anwendung finden.

Ich will noch kurz auf den Bundesrat zu sprechen
kommen; denn uns ist wichtig, dass wir in dieser Frage
zusammenzuarbeiten. Die Fraktionen haben im Finanz-
ausschuss einen Kompromiss zur Durchführung der
Steuerberaterprüfung gefunden. Wir sind davon über-
zeugt, dass er den berechtigten Interessen der Finanzver-
waltung, aber auch denen des Berufsstandes Rechnung
trägt. Die Qualität der Steuerberaterprüfung bleibt erhal-
ten. Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit werden ge-
währleistet. Die Finanzverwaltung wird von ihren Auf-
gaben bei der Abwicklung der Steuerberaterprüfung
entlastet. Die Bundesregierung ist der Meinung: Dieser
Kompromiss ist fachlich sinnvoll, und es gibt für uns gu-
ten Grund, anzunehmen, dass diese Regelung auch die
Zustimmung des Bundesrates finden wird.

Zusammengefasst: Wir beschließen heute einen wei-
teren sinnvollen Schritt zur Modernisierung des Berufs-
rechts. Es wäre gut, wenn dieser Schritt anschließend mit
so viel parlamentarischer Unterstützung wie möglich be-
schlossen werden könnte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613904500

Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Volker Wis-

sing für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1613904600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich kann Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von der Großen Koalition, attestieren: Ihr Gesetzentwurf
ist nicht ganz schlecht.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bisher haben wir Sie nie als Oberlehrer kennengelernt, Herr Kollege! – Ute Kumpf [SPD]: Das ist für einen Schwaben ein großes Lob!)


Zumindest ist er nicht so schlecht, dass man ihn durch-
weg ablehnen müsste. Ich übersehe nicht, dass Sie mit
Ihrem Gesetzentwurf einen relevanten Beitrag zur Mo-
dernisierung eines wichtigen Berufsstandes leisten wol-
len. Ja, man findet darin sogar Schritte der Liberalisie-
rung, zum Beispiel die Einführung des Syndikus-
Steuerberaters; das begrüße ich ausdrücklich. Sie dürfen
auch klatschen, wenn Sie einmal gelobt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: So liberal sind wir schon lange!)


Das gilt übrigens auch für die SPD; denn an dieser Stelle
lobe ich auch Ihre Staatssekretärin.

Bevor ich auf die Punkte, die kritisch zu bewerten
sind, zu sprechen komme, möchte ich auf einige positive
Aspekte eingehen. Wir begrüßen die Übertragung der
Steuerberaterprüfung auf die Kammern. Auch die ge-
setzliche Regelung der Fortbildung begrüßen wir. Diese
Punkte sind in diesem Hause erfreulicherweise weitge-
hend Konsens. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.

Wie gesagt, ist Ihr Gesetzentwurf nicht ganz schlecht.
In einem wichtigen Punkt hätte er sich aber noch verbes-
sern lassen: hinsichtlich der Zulassung von Büroge-
meinschaften von Steuerberatern und Dritten. Dazu hat
die FDP dem Ausschuss einen Änderungsantrag unter-
breitet, den Sie leider abgelehnt haben. Ich sage „leider“,
weil es hierbei um einen wirklich wichtigen Bereich
geht, nämlich um die datenschutzrechtlichen Interessen
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.

Sie wollen zulassen, dass Vereine, die zum Teil noch
nicht einmal einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Volker Wissing
unterliegen, künftig eine Bürogemeinschaft mit Steuer-
beratern eingehen können. Sie wollen, dass die Akten
der Steuerzahler künftig in Bürogemeinschaften verwal-
tet werden, für die nur noch zum Teil das Beschlagnah-
meverbot und das Zeugnisverweigerungsrecht gelten.
Sie wollen, dass Mitarbeiter von Vereinen der Land- und
Forstwirtschaft in einer Bürogemeinschaft mit Steuerbe-
ratern arbeiten. Diese Mitarbeiter könnten mit sensiblen
Daten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Berüh-
rung kommen, obwohl sie nicht einmal einer gesetzli-
chen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Die Frage,
wie dabei die schutzwürdigen Interessen der Steuerzah-
lerinnen und Steuerzahler gewahrt bleiben sollen, lassen
Sie unbeantwortet.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)


Das bedauert die FDP außerordentlich.


(Beifall bei der FDP)


Es wäre konsequent gewesen, wenn Sie zumindest
eine Hinweispflicht eingeführt hätten. Sonst sind Sie
überall für Hinweispflichten. Auch hier hätten Sie zu-
mindest die Hinweispflicht einführen können, dass der
Datenschutz in solchen Bürogemeinschaften künftig
nur noch eingeschränkt gewährleistet ist. Dann würde je-
der Mandant wissen: Wenn ich zu einem Steuerberater
gehe, der in einer Bürogemeinschaft tätig ist, dann muss
ich damit rechnen, dass in dieser Bürogemeinschaft auch
solche Personen mit meinen Daten in Kontakt kommen
können, die keiner gesetzlichen Verschwiegenheits-
pflicht unterliegen und für die Beschlagnahmeverbot
und Zeugnisverweigerungsrecht nicht gelten. Das ist für
mich ein wichtiger Aspekt des Verbraucherschutzes, den
Sie einfach ausgeklammert haben.

Die Grünen halten all das sowieso für überflüssig. Sie
beschäftigen sich mit Fragen des Datenschutzes im Be-
reich des Steuerrechts schon lange nicht mehr.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Ich habe einen anderen Antrag eingebracht! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)


– Als es um die Abschaffung des Steuergeheimnisses
ging, haben Sie kräftig mitgemacht, Frau Scheel.


(Beifall bei der FDP)


Wenn man es mit dem Verbraucherschutz ernst meint,
hätte man an dieser Stelle etwas tun müssen. Die Große
Koalition hat das gläserne Konto, den gläsernen Compu-
ter geschaffen. Datenschutz spielt für Sie – was Sie hier
zeigen, ist mehr als eine Tendenz – im Steuerrecht bes-
tenfalls die Rolle eines Stiefkindes.

Besonders ärgerlich ist, dass Sie mit zweierlei Maß
messen: Bei der Verabschiedung des Rechtsdienstleis-
tungsgesetzes hat die Große Koalition die Möglichkeit
der Bildung von Bürogemeinschaften für Rechtsanwälte,
Patentanwälte und Notare auf eng begrenzte Berufsgrup-
pen beschränkt. Hier verabschiedet die gleiche Koalition
das Gegenteil. Logisch ist das nicht, und es ist auch nicht
im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die ihren Steu-
erberatern ja Einblick in sehr sensible Daten geben müs-
sen.


(Beifall bei der FDP)


Ihr Gesetzentwurf mag gegenüber der bisherigen
Rechtslage viele Verbesserungen enthalten; in Sachen
Datenschutz hätten Sie besser auf die FDP gehört und
unserem Antrag zugestimmt.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)


Dann wäre der Entwurf an dieser Stelle um einiges bes-
ser. Wir machen doch nicht Gesetze für die Verwaltung,
wir machen Gesetze für die Bürgerinnen und Bürger. Ich
kann verstehen, dass das Steuergeheimnis für den Staat
und die Verwaltung immer wieder störend sein mag. So
überrascht es nicht, dass wir vom BMF im Ausschuss
gehört haben, dass das alles völlig unproblematisch sei
und dass man nicht nachvollziehen könne, was die FDP
da bemängele. Nicht nachzuvollziehen ist ganz im Ge-
genteil, dass Sie als Große Koalition in diesem Parla-
ment die Interessen der Bürgerinnen und Bürger nicht
verteidigen. Darum ging es bei unserem Änderungsan-
trag. Für die Menschen sind die datenschutzrechtlichen
Belange enorm wichtig, und es ist unsere vornehmste
Aufgabe hier im Parlament, diese Dinge zu verteidigen.

Die Große Koalition hat es bisher nicht fertigge-
bracht, auch nur ein Gesetz zu verabschieden, das die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Da-
tenschutzes verbessert. Hier hätten Sie erneut eine
Chance gehabt. Sie haben sie vertan. Ich bedauere das,
gestehe aber ein, dass das Gesetz unter dem Strich viele
Verbesserungen bringt. Ich habe schon eingangs die Li-
beralisierungsbestrebungen erwähnt. Schade, dass Sie
auf unsere Verbesserungsvorschläge nicht eingegangen
sind, vielleicht beim nächsten Mal.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613904700

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin

Antje Tillmann das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1613904800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Sehr geehrte Zuhörer! Nach jahrelan-
gen Bemühungen haben wir heute die Möglichkeit, die
Verhandlungen über die Änderung des Steuerberatungs-
gesetzes zu einem guten Ende zu führen. Wir haben in
den Finanzausschussberatungen und in den Anhörungen
Kompromisse gefunden, bei denen selbst die Opposition
eingesteht, dass das Gesetz, das wir heute vorlegen,
„nicht ganz schlecht ist“. Das spricht für dieses Gesetz.
Die Bedenken, die Sie haben, Herr Dr. Wissing, teilen
wir nicht; ich werde gleich darauf eingehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist uns gelungen, Verbesserungen für alle Berufs-
verbände durchzusetzen. Wir haben Anliegen aufgegrif-
fen, die von den Einzelverbänden seit Jahren angemahnt
wurden. Ich glaube, es liegt ein Gesetz vor, das von ei-






(A) (C)



(B) (D)


Antje Tillmann
nem guten Ausgleich zwischen den verschiedenen Inte-
ressen geprägt ist. Insbesondere bringt das Gesetz
Verbesserungen für die ratsuchenden Bürgerinnen und
Bürger. Der Datenschutz ist natürlich ein wichtiges An-
liegen; dem tragen wir aber durchaus Rechnung.

Wir haben die gesetzlichen Vorgaben aus der EU-Be-
rufsqualifizierungsrichtlinie umgesetzt und die Verfah-
ren an den Bologna-Prozess angepasst. Darüber hinaus
haben wir Anliegen der Berufsverbände aufgegriffen, so
die Einführung des Syndikus-Steuerberaters. Wir alle
wissen, dass die Steuerberater seit langem darum bitten,
ihren Titel, wenn sie eine Angestelltentätigkeit aufneh-
men, weiterführen zu dürfen. Das wird mit diesem Ge-
setz möglich. Ich bitte Sie dringend, den Weg dafür frei-
zumachen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine Liberalisierung ist insofern durchgesetzt, als Ko-
operationen mit anderen freien Berufen zulässig werden:
Steuerberater dürfen demnächst mit Ärzten, Wirtschafts-
prüfern und Architekten zusammenarbeiten. Auch diese
Berufe haben kein Zeugnisverweigerungsrecht, zumin-
dest was die Architekten anbetrifft; doch da hat die FDP
keine Sorgen gehabt, dass der Schutz der Mandanten
nicht gewährleistet sein könnte.

Wir haben andere Rechtsformen für Steuerberatungs-
gesellschaften zugelassen. Es kann nämlich nicht unsere
Aufgabe sein, zu reglementieren. Wir vertrauen darauf,
dass die Berufsstände ihre Pflichten so organisieren,
dass der Schutz der Mandanten sichergestellt ist.

Wir haben eine Fortbildungspflicht für Steuerberater
in das Gesetz aufgenommen. Das ist uns wichtig, weil
das zur Qualitätssicherung beiträgt. Und die Qualität ist
die Rechtfertigung dafür, dass wir zum Beispiel in der
Frage der Erweiterung der Befugnisse der Bilanzbuch-
halter zurückhaltend reagiert haben. Wir wollen, dass die
Beratung mit einem sehr hohen Qualifizierungsgrad er-
folgt. Deswegen haben wir hier auch die gesetzliche Ver-
pflichtung eingeführt.

Erst in den Beratungen nach der Anhörung und mit
den Betroffenen ist uns eine Lösung hinsichtlich der
Steuerberaterprüfung gelungen. Hier weichen wir so-
wohl vom Regierungsentwurf als auch vom Bundesrats-
entwurf ab. Beide Seiten haben aber signalisiert, dass sie
mit diesem Kompromiss gut leben können. Uns ist wich-
tig, dass die Steuerberaterprüfung staatlich bleibt und
dass es eine einheitliche schriftliche Prüfung gibt. Selbst
die Kammern weisen darauf hin, dass es nötig ist, dass
diese Prüfung auch von den Finanzministerien legiti-
miert wird, weil bei einer hohen Durchfallquote, wie sie
bei den Steuerberaterprüfungen üblich ist, natürlich sehr
schnell der Verdacht aufkommt, man wolle sich unlieb-
same Konkurrenz vom Hals halten. Das ist nicht der
Fall. Wir werden diese staatliche Prüfung weiter forcie-
ren und den Ländern trotzdem die Möglichkeit geben,
sich von unnötigen Verwaltungsaufgaben zu befreien.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


So weit zu den Verbesserungen für die Steuerberater.
Auch die Lohnsteuerhilfevereine haben natürlich die
Gelegenheit genutzt, uns ihre Sorgen mitzuteilen. Wir
haben noch einmal auf die Anhörung reagiert und in vie-
len Punkten den vorgetragenen Anliegen aus der Anhö-
rung Rechnung getragen.

Schon im Gesetzentwurf war ja eine Befugniserweite-
rung – Frau Staatssekretärin hat darauf hingewiesen –
für Lohnsteuerhilfevereine enthalten, zum Beispiel auf-
grund der Veränderung des Gemeinnützigkeitsgesetzes,
aber auch der Änderungen bei der Kinderbetreuung.
Gleichzeitig haben wir die Beratungsbefugnis für Lohn-
steuerhilfevereine hinsichtlich der anderen Einkünfte
– außer Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit –
erweitert, indem wir die Einnahmegrenze von bisher
9 000 und 18 000 Euro auf 13 000 und 26 000 Euro er-
höht haben.

Das war ein wesentliches Anliegen der Lohnsteuer-
hilfevereine und ist auch im Sinne der Mandanten, weil
es immer wieder vorkommt, dass Mandanten aufgrund
der Einkommensschwankungen und der entsprechenden
Befugnis zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuer-
beratern hin und her gehen müssen. Wir wollten die
Möglichkeit geben, sich langfristig nur einer Vertrauens-
person zu öffnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herr Dr. Wissing, dem gleichen Ziel, nämlich dem In-
teresse der Mandanten und nicht dem Interesse von Steu-
erberatern oder Lohnsteuerhilfevereinen, dient auch die
Möglichkeit, Bürogemeinschaften zu bilden. Denn es
ist wichtig, dass ein Berater auch die vorangegangene
Beratungspraxis kennt. Deshalb lassen wir Bürogemein-
schaften zwischen Lohnsteuerhilfevereinen und Steuer-
beratern zu, aber selbstverständlich nur unter der Voraus-
setzung, dass der Datenschutz gewahrt ist und dass die
Mandantenrechte geschützt werden. Das ist möglich.
Die Berater können das so organisieren, dass diese
Rechte geschützt bleiben.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Hoffentlich tun Sie das auch!)


Damit aber nicht genug: Die Kammern und die Finanz-
ministerien haben eine Aufsichtspflicht.

Das ist für die Berater auch nur ein Angebot. Die Be-
rater, die ihre Meinung teilen und es für schwierig hal-
ten, den Mandantenschutz zu sichern, sind ja nicht
gezwungen, in einer solchen Bürogemeinschaft aufzuge-
hen. Ich weiß, dass die Kammern eher zurückhaltend
darauf reagieren. Sie werden in ihren Berufsordnungen
mit Sicherheit sicherstellen, dass der Mandantenschutz
gewahrt bleibt.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Alles Prinzip Hoffnung!)


Bei den Lohnsteuerhilfevereinen haben wir darüber
hinaus der Tatsache Rechnung getragen, dass wir mit der
Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2009 die Ab-
geltungsteuer eingeführt haben. Durch die Abgeltung-
steuer werden die meisten Kapitaleinkünfte gar nicht
mehr erklärungspflichtig. Wir wollen vermeiden, dass
Mandanten nur deshalb diese Kapitaleinkünfte erklären






(A) (C)



(B) (D)


Antje Tillmann
müssen, um beim Lohnsteuerhilfeverein beratungsfähig
zu sein. Deshalb sagen wir: Solange die Kapitalein-
künfte der Abgeltungsteuer unterliegen, fallen sie nicht
unter die Höchstgrenze bei den „anderen“ Einkünften.
Erst dann, wenn der Mandant von dem Veranlagungs-
wahlrecht Gebrauch macht, sind die Grenzen einzuhal-
ten, sodass es dann durch eine Beratung des Steuerbera-
ters gegebenenfalls zu einer Veranlagung kommen wird.
Auch hier kommen wir Mandanten und Lohnsteuerhilfe-
vereinen entgegen. Wir vereinfachen das Verfahren und
ziehen Folgen aus den Gesetzen, die wir im letzten Jahr
beschlossen haben.

Die nächsten Berufsgruppen sind die Buchhalter, die
geprüften Bilanzbuchhalter und die Steuerfachangestell-
ten. Sie sind mit der Regelung hinsichtlich der Befugnis-
erweiterung auf Umsatzsteuervoranmeldungen natürlich
nicht zufrieden. Das war auch die einzige kritische
Stimme in den Anhörungen.

Wir haben sehr lange darüber diskutiert. Im Referen-
tenentwurf war ursprünglich eine andere Regelung vor-
gesehen. Wir haben dieses Thema über Jahre hinweg
diskutiert, was immer wieder dazu geführt hat, dass das
Steuerberatungsgesetz nicht geändert werden konnte.
Jetzt sind wir aber zu dem Ergebnis gekommen, dass
diese Befugniserweiterung nicht sachgerecht ist. Die
Stimmen in der Anhörung haben uns recht gegeben. Die
überwiegende Mehrheit der Angehörten hat darauf hin-
gewiesen, dass eine Befugniserweiterung zu zusätzli-
chen Risiken bei der Steuererhebung führen könnte.

Trotzdem haben wir den Berufsangehörigen verspro-
chen, uns der Gruppe der Buchhalter und geprüften
Bilanzbuchhalter auch in Zukunft mehr zu widmen, in-
dem wir zum Beispiel ein Berufsbild für einen Buchhal-
ter erstellen. Bisher ist es möglich, sich Buchhalter zu
nennen, ohne eine Prüfung abzulegen. Es gibt keinen ge-
schützten Titel Buchhalter und auch keinen Ausbil-
dungsberuf Buchhalter. Wir haben den betreffenden Ver-
bänden direkt nach der Anhörung zugesagt, uns dieses
Problems anzunehmen und zu versuchen, Verbesserun-
gen für diesen Berufsstand herbeizuführen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben ein weiteres wichtiges Anliegen dieses Be-
rufsstandes aufgegriffen; Frau Staatssekretärin Kressl
hat bereits darauf hingewiesen. Neben der Befugniser-
weiterung sind die Abmahnverfahren bei unlauterer
Werbung ein Problem für diesen Berufsstand. Auch hier
konnten sich die Koalitionspartner nach der Anhörung
auf eine Lösung verständigen. Wir werden darauf ver-
zichten, eine eigene Lösung im Steuerberatungsgesetz zu
formulieren. Wir wollen, dass Gesetze übersichtlich
bleiben, und wollen nur das regeln, was zwingend erfor-
derlich ist. In diesem Fall ist aus unserer Sicht eine Re-
gelung im Steuerberatungsgesetz nicht erforderlich, weil
wir das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb haben. Wir
sind optimistisch, dass diese Regelung auch den Bedürf-
nissen des Berufsstandes der Bilanzbuchhalter, der Steu-
erfachangestellten und der Buchhalter Rechnung trägt.

Abschließend danke ich allen Beteiligten für die gute
Zusammenarbeit, sowohl dem Ministerium und meiner
Kollegin Westrich als auch den Vertretern der Opposi-
tionsfraktionen im Finanzausschuss. Ich glaube, es wa-
ren gute Beratungen, die heute zu einem guten
Abschluss geführt werden. Die Zustimmung zu den Än-
derungsanträgen im Finanzausschuss hat gezeigt, dass
wir – bis auf wenige Einzelpunkte – eine breite Mehrheit
für dieses Konzept haben. Das ist gut als Rücken-
deckung für die Berufsstände und die ratsuchenden Steu-
erpflichtigen. Wir sollten den Weg heute frei machen.
Wir haben für das Gesetz schon viel zu lange gebraucht.
Die Betroffenen warten auf uns. Deswegen bitte ich um
Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Dann lassen wir sie auch nicht warten!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613904900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613905000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bürgerinnen und Bürger interessiert natürlich, wie
es sich zukünftig mit den steuerberatenden Berufen ver-
hält, insbesondere mit dem Steuerberater oder der Steu-
erberaterin sowie den Lohnsteuerhilfevereinen. Hier ist
viel erreicht. Wir werden den Gesetzentwurf heute ver-
abschieden. Aber das Grundübel der Steuergesetzgebung
bleibt bestehen. Sie ist in den letzten Jahren nicht einfa-
cher, sondern auch in der Zeit der Großen Koalition im-
mer komplizierter geworden. Sie von der CDU/CSU und
der SPD haben mit Ihrer Mehrheit und gegen die Stim-
men der Opposition dafür gesorgt, dass die Steuerbera-
terhonorare nicht mehr als Sonderausgaben im privaten
Teil der Einkommensteuererklärung anerkannt werden.
Zudem gibt es insbesondere bei den Kosten für die Bera-
tung bei Lohnsteuerhilfevereinen – das sind Pauschalen –
weiterhin Schwierigkeiten der Unterscheidung. Das ist
noch immer ein Grundärgernis für viele Bürgerinnen
und Bürger, die aufgrund der komplizierten Steuerge-
setzgebung Beratung in Anspruch nehmen müssen.

Wir, die Linke, bemessen den vorliegenden Gesetz-
entwurf nach drei Kriterien. Erstens. Verbessert sich
durch das Gesetz der ordnungsgemäße Vollzug der Steu-
ergesetze? Zweitens. Inwieweit ist eine kompetente
Beratung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ge-
währleistet? Drittens. Inwieweit erfolgte tatsächlich eine
Anpassung an veränderte Lebensrealitäten? Es handelt
sich sicherlich um ein Spannungsfeld, wenn man für
Qualitätssicherung sorgen will, ohne eine Zementierung
der ständischen Interessen vorzunehmen. Ich glaube, in
dieser Hinsicht ist einiges gelungen. Aus diesem Grund
haben wir im Ausschuss unsere Zustimmung zu den Än-
derungsanträgen der Koalition deutlich gemacht, die
sich auf die Staatlichkeit und Bundeseinheitlichkeit der
Steuerberaterprüfung beziehen; das ist ein wichtiger
Punkt. Aber wir werden darüber nachdenken müssen,
wie es sich bei den anderen steuerberatenden Berufen






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Barbara Höll
verhält. Was ist zum Beispiel mit den Steuerfachwirtin-
nen und Steuerfachwirten?

Wir begrüßen ausdrücklich das Eingehen auf die For-
derungen der Lohnsteuerhilfevereine: die Erhöhung
der Einnahmegrenze für die Beratungsbefugnis und die
teilweise Nichtberücksichtigung von Kapitaleinkünften
bei der Berechnung hinsichtlich der Einnahmegrenze.
Das ist ein wirklicher Beitrag zur Wahrung einer kosten-
günstigen Steuerberatung für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer insbesondere vor dem Hintergrund, dass
ein Teil der Beratungskosten nicht mehr absetzbar ist.
Wir begrüßen ebenfalls die Möglichkeit zur Bildung von
Bürogemeinschaften zwischen Lohnsteuerhilfeverei-
nen sowie Steuerberaterinnen und Steuerberatern. Auch
das ist eine Qualitätsverbesserung.

Kritisch bleibt anzumerken, dass es keine Erweite-
rung der Befugnisse für geprüfte Buchhalterinnen und
Buchhalter sowie Steuerfachwirtinnen und Steuerfach-
wirte gibt, zumindest wenn es um das Anfertigen der
Umsatzsteuervoranmeldung geht.

Ich glaube, die damit verbundenen Probleme sind lös-
bar: bezüglich der Qualifizierung, bezüglich der Haft-
pflicht, aber auch bezüglich solcher Anforderungen, wie
sie Steuerberaterinnen und Steuerberater haben, die
selbst ausbilden, was Bilanzbuchhalter bisher noch nicht
können und nicht machen.

Man muss sagen, dass diese Nichterweiterung der Be-
fugnisse tendenziell insbesondere Frauen behindert;
denn die steuerberatende Tätigkeit ist etwas, was man,
zumindest zum Teil, von zu Hause aus erledigen kann.
Deshalb ist bei diesem Berufsbild eine gute Vereinbar-
keit von Beruf und Familie gegeben und ein flexibles
Reagieren auf sich verändernde Familiensituationen
möglich.

Kritisch möchte ich auf alle Fälle noch etwas zu Ihrer
Gebührenanpassung bei den Steuerberaterprüfungen
sagen. Die Begründung der Kostendeckung für diese
Anpassung kann man teilen; aber die Erhöhung ist doch
massiv. Für die Zulassungsverfahren wollen Sie die Ge-
bühren von 75 auf 200 Euro erhöhen, für das Prüfungs-
verfahren von 500 auf 1 000 Euro. Vor dem Hintergrund,
dass 55,58 Prozent, also etwas über die Hälfte, der in
2005/2006 zur Prüfung zum Steuerberater Angetretenen
diese nicht geschafft haben und vielleicht noch eine
zweite Prüfung machen müssen, ist das natürlich eine
sehr hohe Hürde. Man könnte die Vermutung haben,
dass hier Ständeinteressen gewahrt werden sollen. Aber
auch die Steuerberaterinnen und Steuerberater brauchen
Nachwuchs. Deshalb können wir dem nicht zustimmen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613905100

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613905200

Insgesamt überwiegt das Negative das Positive. Des-

halb werden wir uns bei der Abstimmung über diesen
Gesetzentwurf enthalten.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613905300

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Christine Scheel das Wort.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613905400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vorab eine Bemerkung zu den Ausführungen von unse-
rem Kollegen Volker Wissing, der behauptet hat, die
Grünen hätten kein Interesse am Thema Datenschutz im
Zusammenhang mit dem Steuerrecht. Ich muss das klar
zurückweisen und die FDP daran erinnern, dass es in
diesem Zusammenhang einen Antrag der Grünen gibt,
der Kooperationen von allen freien Berufen, von selbst-
ständigen Buchhaltern bis hin zu den Lohnsteuerhilfe-
vereinen, begrüßt, aber auch verlangt, dass mit Blick auf
die Bildung von Bürogemeinschaften „berufsrechtliche
Rechte und Pflichten, vor allem Verschwiegenheitspflicht,
Gewissenhaftigkeit, Auskunftsverweigerungsrecht, Zeug-
nisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot,“ ent-
sprechend angepasst werden. Entweder haben Sie unse-
ren Antrag nicht gelesen, oder es ist eine gemeine
Unterstellung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Da warte ich mal auf Ihre konkreten Vorschläge!)


Ich hätte mir sehr gewünscht – es ist ja anders ausge-
gangen –, dass wir eine tiefgreifende Novelle des Steuer-
beratungsgesetzes bekommen. Wir haben jahrelang da-
rüber diskutiert. Wenn ich mir anschaue, was dabei
herausgekommen ist, sehe ich, dass es zwar ein bisschen
vorangegangen ist; aber ich glaube nicht, dass das mit
Blick auf die Existenz von vielen selbstständigen
Bilanzbuchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen, Steuer-
fachwirten und Steuerfachwirtinnen ausreicht. Dass wir
mit diesem Gesetz die Erhaltung von deren Arbeitsplät-
zen und einen Ausbau in diesem Bereich erreichen,
glaube ich nicht. Das finde ich sehr schade; denn das
hätte zu einer Liberalisierung dazugehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hier siegt – das muss man an dieser Stelle auch ein-
mal sagen – ein Stück weit die Klientelpolitik. Wir
hatten ja heute Morgen die Debatte über die Wirtschafts-
politik. Dabei wird immer auf faire Wettbewerbsbedin-
gungen verwiesen. Wenn aber auf der einen Seite faire
Wettbewerbsbedingungen gefordert werden, die natür-
lich volkswirtschaftlich sinnvoller sind als hohe Markt-
zugangsbarrieren, und auf der anderen Seite, wenn es
konkret wird, die Pfründe von bestimmten Berufsgrup-
pen geschützt werden sollen, dann ist das nicht in Ord-
nung. Wir fordern: Reden Sie nicht nur über faire Wett-
bewerbsbedingungen, sondern setzen Sie sie für die
Berufsgruppen dann auch um! Das ist genau der Punkt,
auf den wir hier verwiesen haben. Deswegen sind wir
ziemlich enttäuscht, was diese Regierungsvorlage anbe-
langt.

Gestern haben wir im Finanzausschuss eine Debatte
darüber geführt, was denn noch geändert werden könnte.
Die grüne Seite hat sich den drei Änderungsanträgen an-
geschlossen. Ich weiß, dass der grüne Vorschlag mit
Blick auf die Beratungsgrenzen bei den Lohnsteuerhilfe-






(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel
vereinen nicht eins zu eins umgesetzt worden ist. Aber
man muss sagen, es geht in die richtige Richtung. Es
bleibt gesichert, dass sich die durchschnittlichen Arbeit-
nehmer und Arbeitnehmerinnen und auch Rentner und
Rentnerinnen weiterhin kostengünstig bei den Lohn-
steuerhilfevereinen beraten lassen können. Dies ist gut.
Es ist auch gut gewesen, dass die Abgeordneten diese
Regelung gemeinsam geändert haben. Ich halte es auch
für richtig, dass der Status eines Syndikus-Steuerbera-
ters endlich eingeführt wird. Das bringt mehr Flexibili-
tät; das haben die Grünen schon sehr lange gefordert.
Jetzt ist es umgesetzt. Auch das ist positiv.

Letztendlich muss man aber sagen, dass der Gesetz-
entwurf den Anforderungen an ein modernes und libera-
les Berufsrecht der Steuerberater bei weitem nicht
gerecht wird. Es fehlt der Mut, in diesem Kontext über-
fällige Reformen anzugehen und alte Zöpfe abzuschnei-
den. Deswegen lehnen wir den Gesetzentwurf ab. Wir
fordern Sie auf, dem grünen Antrag zuzustimmen. Das
richtet sich vor allem an die Adresse der Oppositions-
fraktionen. Wir könnten an dieser Stelle einmal zusam-
menhalten und für ein gutes Recht stimmen.

Ich denke, dass der grüne Antrag allen Selbstständi-
gen im Steuer- und Buchhaltungswesen ausreichende
Marktchancen und faire Wettbewerbsbedingungen ein-
räumt, wobei wir den notwendigen Verbraucherschutz
im Auge haben.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613905500

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin

Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1613905600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Von einem Gesetz, das so viele Jahre der Vorbereitung
braucht, erwarten wir Bedeutungsvolles. Dass Änderun-
gen im Bereich des Berufsrechts so viel Zeit in Anspruch
nehmen, ist eher selten.

Etwa 50 000 Steuerberater – das gilt natürlich auch
für die Lohnsteuerhilfevereine und andere – freuen sich,
dass ihre teilweise langjährigen Forderungen jetzt end-
lich bei der achten Änderung des Steuerberatungsgeset-
zes umgesetzt worden sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Anforderungen an den Berufsstand sind relativ
hoch. Deshalb müssen wir auch die Ausbildungs-, Prü-
fungs- und Arbeitsbedingungen ständig den wechseln-
den Bedingungen unserer Volkswirtschaft anpassen.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es wird einem im Leben nichts geschenkt!)


– Herr Ausschussvorsitzender, Sie stören ein bisschen. –
So ist mir die Verankerung der Fortbildungspflicht
wichtig, weil sie das Vertrauensverhältnis zu den Klien-
ten weiter stärkt.
Ich freue mich auch, dass wir die Frage der zukünfti-
gen Regelung der Steuerberatungsprüfung so einver-
nehmlich mit Kammerverband und Bundesrat behandelt
haben. Die Länder können ihren Verwaltungsaufwand
erheblich reduzieren, was von ihnen auch immer wieder
gefordert wird. Die Prüfung bleibt trotzdem staatlich und
vor allem bundeseinheitlich. Das ist, wie wir aus bitterer
Erfahrung wissen, längst nicht selbstverständlich. Die
hohe Qualität der Prüfung schlägt sich natürlich auch in
den Gebühren nieder, Frau Höll. Aber sie bilden beileibe
keine unüberwindliche Hürde für diesen Berufsstand,
wie Sie das darstellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben mit diesem Gesetz den Berufsstand ge-
stärkt und es tatsächlich geschafft, zumindest einige
Liberalisierungen durchzusetzen. Liberalisierungen bei
Berufsrechten, um nicht zu sagen: Standesrechten, sind
in den freien Berufen immer etwas schwerfällig durch-
zusetzen. Sie sind im Rahmen früherer Änderungen häu-
fig vom Bundesverfassungsgericht quasi erzwungen
worden. Zur Einführung des Syndikus-Steuerberaters
habe ich Briefe vorliegen, die viele Jahre alt sind. Es ist
für uns alle immer wieder eine Freude, wenn wir alte
Vorgänge positiv erledigt zur Seite legen können. Es ist
wirklich nicht mehr zeitgemäß, dass man einen durch
eine schwere Prüfung erworbenen Titel ablegen muss,
wenn man in eine abhängige Beschäftigung tritt.

Wir haben den Steuerberatern die Bildung von GmbH
und Co. KGs erlaubt, die Kooperation mit freien Berufen
– nicht nur den artverwandten, Herr Wissing – zugelas-
sen. Das unterscheidet dieses Gesetz zum Beispiel vom
Berufsrecht der Rechtsanwälte. Wir werden deshalb dar-
über hinaus auch Bürogemeinschaften mit Lohnsteuer-
hilfevereinen und mit landwirtschaftlichen Buchstellen
zulassen. Ich bin davon überzeugt, dass dies nicht nur
zum Vorteil dieser Bürogemeinschaften, sondern auch
zum Vorteil aller ratsuchenden Bürgerinnen und Bürger
ist. Solche Gemeinschaften existieren ja schon. Der
Wunsch kam nicht vom Gesetzgeber, sondern von Be-
troffenen, die ihre Zusammenarbeit gerne legalisieren
wollen. Herr Wissing, Sie können ja einmal herumfra-
gen, wie viele Steuerberater, die landwirtschaftliche Kli-
entel haben, bei ihren speziellen steuerrechtlichen Fra-
gen gerne auf den Sachverstand der landwirtschaftlichen
Buchstellen zurückgreifen. Dann würden Sie einsehen,
dass die Zulassung dieser Bürogemeinschaften eine
sinnvolle Liberalisierung des Berufsstandes darstellt.
Das gilt in gleicher Weise natürlich für die Lohnsteuer-
hilfevereine.

Natürlich gibt es hier eine Verschwiegenheitspflicht.
Sie ist nicht strafbewehrt. Aber für Leute, die täglich mit
dem Steuergeheimnis umgehen, muss das auch nicht ex-
tra sein, sondern das ist selbstverständlich. Sie als FDP-
Fraktion messen einfach mit zweierlei Maß, wenn Sie
hier Bedenken anmelden.

Was eine drohende Beschlagnahme von Akten be-
trifft, weiß ich keinen Fall aus den letzten Jahren, der
Lohnsteuerhilfevereine betroffen hätte. Aber ich habe al-
lein in meinem Wahlkreis drei Fälle, in denen Lohnsteu-






(A) (C)



(B) (D)


Lydia Westrich
erhilfevereine sich bei gegebenen Bürogemeinschaften
Sorge um ihr eigenes Renommee machen müssten.

Trotzdem ist es für mich wichtig, dass der Charakter
der Lohnsteuerhilfevereine als Selbsthilfeeinrichtun-
gen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten
bleibt. Wir haben ihre Beratungsbefugnisse deshalb an-
gemessen angepasst, Frau Scheel, zum Beispiel den
Grenzbetrag für Einnahmen aus anderen Einkunftsarten
um fast 45 Prozent auf jetzt 13 000 Euro angehoben. Das
war überfällig. Zudem haben wir eine sinnvolle Rege-
lung zur Beratungsbefugnis bei Kapitaleinkünften er-
gänzt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wie starr das Berufsrecht noch ist, zeigen die
Abmahnverfahren gegen Buchhalter. Schon etliche
Male haben wir versucht, diese Flut einzudämmen –
ohne Erfolg. Sogar Einträge in Gelbe Seiten, die ja kurz
sein müssen, ziehen Abmahnverfahren nach sich. Da wir
das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb haben,
muss eine Werberegelung für Gewerbetreibende nicht
noch zusätzlich im Berufsrecht verankert werden. Des-
wegen hoffen wir, dass diese Maßnahme gegen die Ab-
mahnverfahren hilft. Aber wir werden das weiter über-
prüfen.

Die SPD-Fraktion stellt sich unter liberalisierten Re-
gelungen eine breitere Öffnungsmöglichkeit vor. Selbst
unter Verbraucherschutzaspekten könnten geprüfte Bi-
lanzbuchhalter mehr, als sie dürfen. Die breite Unterstüt-
zung des DIHK bei der Forderung nach einer begrenzten
Befugniserweiterung für die hochqualifizierten Bilanz-
buchhalter zeigt, dass ein Verband, der kleine und mittel-
ständische Unternehmen vertritt, durchaus keine Sorge
um die Qualität der Beratung seiner Mitglieder hat. Des-
wegen hätten wir da durchaus etwas machen können.


(Beifall bei der SPD)


Die Finanzverwaltung, die Länder und die Steuerge-
werkschaft waren da leider anderer Meinung. Wir war-
ten also, bis das Bundesverfassungsgericht oder europäi-
sches Recht eingreift, um da eine weitere Liberalisierung
voranzubringen.

Insgesamt gesehen hat sich die lange Beratungszeit
für dieses Gesetz gelohnt. So viel Lob hat der Finanzaus-
schuss selten bei einer Anhörung vernommen. Wir bie-
ten den Steuerpflichtigen und dem beratenden Berufs-
stand eine sichere Basis, weiterhin unser kompliziertes
Steuerrecht zu meistern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613905700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.

Zunächst Tagesordnungspunkt 6 a. Abstimmung über
den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes. Der
Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7867, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/7077
und 16/7485 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis an-
genommen.

Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum
Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des
Steuerberatungsgesetzes: Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/7867, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 16/7250 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Ist jemand dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 6 b, Beschlussempfehlung des Fi-
nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Steuerberatung zukunftsfähig
machen“: Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7867,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/1886 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c
sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:

24 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des InVeKoS-Daten-
Gesetzes und des Direktzahlungen-Verpflich-
tungengesetzes

– Drucksache 16/7827 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bericht der Bundesregierung über die Maß-
nahmen zur Förderung der Kulturarbeit
gemäß § 96 Bundesvertriebenengesetz in den
Jahren 2003 und 2004

– Drucksache 15/5952 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Straßenbaubericht 2006

– Drucksache 16/3984 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Universitäre Exzellenz sichern – Exklusivität
des Promotionsrechts wahren

– Drucksache 16/7842 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Dr. Harald Terpe, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Medienabhängigkeit bekämpfen – Medien-
kompetenz stärken

– Drucksache 16/7836 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/7827 zu Ta-
gesordnungspunkt 24 a soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Haus-
haltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 25 a bis
25 o. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla-
gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 a auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Grundstoffüberwa-
chungsrechts

– Drucksache 16/7414 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 16/7828 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7828, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7414 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Ist jemand dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dieser Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 25 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung seeverkehrsrechtlicher, ver-
kehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit
Bezug zum Seerecht

– Drucksache 16/7415 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 16/7843 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Hettlich

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Ziffer I seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7843, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/7415 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom-
men.

Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 25 b. Un-
ter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/7843 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Ge-
genstimmen der Fraktion der FDP.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Tagesordnungspunkt 25 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämien-
durchführungsgesetzes

– Drucksache 16/7685 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 16/7846 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gustav Herzog
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7846, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/7685 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Wer ist dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen, den Stimmen der FDP und der Fraktion der
Linken bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis, das
heißt bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Gehring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Den kostenfreien Empfang von Rundfunk via
Satellit sicherstellen

– Drucksachen 16/3545, 16/7346 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Jörg Tauss
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
Grietje Bettin

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7346, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3545 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke.

Tagesordnungspunkt 25 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Erhaltung der Weinbaukultur durch vernünf-
tige Reform der EU-Weinmarktordnung

– Drucksachen 16/6959, 16/7568 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Gustav Herzog
Dr. Volker Wissing
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7568, den Antrag auf Druck-
sache 16/6959 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


Übersicht 9
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht

– Drucksache 16/7770 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 25 g:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pie-
per, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP

Das Internationale Polarjahr 2007/2008 und
Konsequenzen für eine deutsche Beteiligung

– Drucksachen 16/4454, 16/7854 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)

Dr. Ernst Dieter Rossmann
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz (Herborn)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7854, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/4454 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltungen
der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
titionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 25 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 337 zu Petitionen

– Drucksache 16/7755 –

Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 337 ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 338 zu Petitionen

– Drucksache 16/7756 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 338 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 339 zu Petitionen

– Drucksache 16/7757 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 339 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der
FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.1)

Tagesordnungspunkt 25 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 340 zu Petitionen

– Drucksache 16/7758 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 340 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

1) Anlage 2
Tagesordnungspunkt 25 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 341 zu Petitionen
– Drucksache 16/7759 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 341 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 342 zu Petitionen
– Drucksache 16/7760 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 342 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 343 zu Petitionen
– Drucksache 16/7761 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 343 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion der FDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 344 zu Petitionen
– Drucksache 16/7762 –

Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 344 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.

Damit haben wir die Abstimmungen zu diesem Block
erledigt.

Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Aufgaben von Bundeswehrkampftruppen als
Quick Reaction Forces in Afghanistan

Die Fraktion Die Linke hat diese Aktuelle Stunde be-
antragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Oskar Lafontaine für die Fraktion Die
Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613905800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Gestern lasen wir in der Onlineausgabe der
Welt:

NATO fordert Kampftruppe der Bundeswehr an.
Der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr in Afgha-
nistan rückt offenbar immer näher. Die Nato hat
jetzt unmissverständlich klargemacht, dass sie von
der Bundeswehr Kampfeinsätze erwartet. Das
bringt Verteidigungsminister Franz Josef Jung in
Nöte. Der will den neuen Einsatz erst nach der Hes-
sen-Wahl verkünden.

Aus diesem Grunde haben wir den Punkt heute auf die
Tagesordnung gesetzt. Ich bin der Auffassung, vor zwei
so wichtigen Wahlgängen wäre es nur ein Gebot der Ehr-
lichkeit und der Wahrhaftigkeit, hier zu sagen, ob Sie
vorhaben, Kampftruppen in diesen Krieg zu schicken.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wenn der Chef der Eingreiftruppe sagt, Deutschland
müsse sich auf Tote einstellen, dann müssten eigentlich
alle Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sehen,
worum es hier geht, und müssten sich die Frage stellen,
ob wir berechtigt sind, das zu tun. Im Übrigen darf man
daran erinnern, dass schon in der Vergangenheit Tote zu
beklagen waren. Hier soll nur gesagt werden, dass bei
Kampfeinsätzen noch mehr deutsche Soldaten ums Le-
ben kommen werden. Wir wollen hinzufügen, dass bei
dieser sogenannten Militärintervention im letzten Jahr
über 6 000 Todesopfer zu beklagen waren, darunter viele
Zivilisten. Wir halten diesen Krieg nicht mehr für ver-
antwortbar. Ziehen Sie die Bundeswehr zurück!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Bisher ist nach außen immer gesagt worden, bei ISAF
handele es sich um eine Friedensmission. Es wird der
Eindruck erweckt, als gehe es darum, Brunnen zu boh-
ren, Schulen zu bauen usw. So haben Sie das der Bevöl-
kerung immer wieder erklärt. Langsam wandelte sich die
Argumentation. Jetzt ist klar, dass alles das, was in den
letzten Jahren gesagt worden ist, nicht zutrifft. Auch
diese Truppe wird immer weiter in den Krieg einbezo-
gen. Das ist das, was wir gesagt haben.

Kürzlich habe ich im Stern etwas gelesen, das mir die
Sprache verschlagen hat. Das möchte ich hier doch er-
wähnen, weil ich den Aufschrei vermisst habe. Dort
wurde geschildert, wie ISAF-Truppen überprüfen, ob ein
Feld minenfrei ist. Es wurde geschildert, dass die Solda-
ten Äpfel auf ein Feld werfen und Kinder dann auf das
Feld laufen sollen. Wenn keine Mine hochgeht, ist das
Feld minenfrei.

Welch ein Zynismus! Sind wir berechtigt, uns an Mis-
sionen zu beteiligen, bei denen solche Dinge einreißen?
Das ist in meinen Augen ein unglaublicher Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ich hätte zu gern erlebt, dass irgendjemand dazu irgend-
etwas gesagt hätte.


(Rainer Arnold [SPD]: Das stimmt alles nicht, was Sie sagen! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hat der Kollege Schäfer Ihnen nicht berichtet, wie eindeutig das im Verteidigungsausschuss verurteilt wurde, nämlich als schändliches Verhalten! – Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Unerhört, was Sie hier machen! Es war kein einziger deutscher Soldat dabei!)


– Entschuldigen Sie! Wenn Sie behaupten, alles das, was
in der Presse dargestellt werde, sei falsch, dann müssen
Sie das hier klarstellen.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Das ist im Verteidigungsausschuss klargestellt worden!)


– Es genügt nicht, dass Sie das in irgendwelchen Aus-
schusszirkeln klarstellen. Sie sollten hier klarstellen, ob
diese Meldungen richtig oder falsch sind.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir haben in der letzten Zeit viel zu oft gehört, dass Er-
klärungen der zuständigen Kommandeure nicht zutrafen.
Darauf können Sie sich nicht berufen. So einfach kom-
men Sie hier nicht davon.


(Hans Raidel [CDU/CSU]: Für Ihren Unsinn sind Sie selbst verantwortlich!)


Im Übrigen ist es eine Tatsache, dass wir 6 000 zivile
Opfer zu beklagen haben. Wir machen in Zukunft dabei
mit. Tun Sie doch nicht so, als könnten Sie das mit läppi-
schen Bemerkungen vom Tisch wischen!


(Birgit Homburger [FDP]: Quatsch! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist einfach nicht wahr! – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich! – Hans Raidel [CDU/CSU]: Unsinn bleibt Unsinn, auch wenn er von Ihnen kommt!)


Wir von der Linken wollen das schlicht und einfach
nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir sind in diesen Krieg tiefer verstrickt, als Sie das
hier zugeben wollen; das wird sich in nächster Zeit im-
mer wieder zeigen.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das möchten Sie wohl, nicht?)


Wir haben nach wie vor festzustellen, dass dieser
Krieg völkerrechtswidrig ist und dass all diejenigen das
zu verantworten haben, die diesem völkerrechtswidrigen
Einsatz zugestimmt haben.

Die deutsche Bevölkerung hat in ihrer großen Mehr-
heit kein Verständnis für diesen Einsatz der Bundeswehr.
Wir überwachen dort die Opiumproduktion. Hier muss






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
ich einmal die Frage stellen: Ist das wirklich Aufgabe
unserer Soldatinnen und Soldaten? In der Regierung
– das weiß jeder – sitzen Kriegsverbrecher. Die Situation
im Land wird immer schlechter, von Jahr zu Jahr. Den-
noch will man aus der Sackgasse nicht wieder heraus.
Kehren Sie endlich um! Ziehen Sie die Bundeswehr aus
Afghanistan zurück!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und überlassen Sie das Land den alten Kriegsverbrechern! Klasse!)


– Zu dem Zwischenruf „Und überlassen Sie das Land
den alten Kriegsverbrechern!“ muss ich sagen: Die sit-
zen doch in der Regierung. Haben Sie das immer noch
nicht gemerkt? Sie paktieren mit alten Kriegsverbre-
chern. Das ist die Wahrheit in Afghanistan.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So naiv kann man doch gar nicht sein!)


Im Übrigen haben Sie die Aufgabe – wir sagen das
noch einmal ganz klar –, unser Land sicherer zu machen.
Das ist die Aufgabe der Sicherheitspolitik. Ein unver-
dächtiger Zeuge, der Ministerpräsident des Landes Bay-
ern, hat vor einiger Zeit gesagt: Mit solchen Auslands-
einsätzen erhöhen wir die Terroranschlagsgefahr im
eigenen Land. Das ist seine Feststellung. Sie gehen ein-
fach blind darüber hinweg. Wir sagen: Holen Sie die
Truppen zurück! Sonst erhöhen Sie die Terroranschlags-
gefahr im eigenen Land. Es ist nicht unsere Aufgabe,
den Terror nach Deutschland zu holen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blinder Wahlkampf! Null Verantwortung!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613905900

Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard Beck

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ernst-Reinhard Beck (CDU):
Rede ID: ID1613906000

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Herr Kollege Lafontaine, was Sie hier abgeliefert
haben, war unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das war Wahlkampf pur.

Sie haben auf einen bestimmten Vorfall angespielt,
der leider auch im deutschen Fernsehen groß herausge-
stellt worden ist. Dazu hätten Sie von Ihrem Kollegen
Schäfer erfahren können, dass wir im Verteidigungsaus-
schuss diese Angelegenheit besprochen haben und dass
niemand da war, der so etwas unterstützt hätte. Wir stel-
len ausdrücklich fest: Es waren keine deutschen Solda-
ten beteiligt. Das müssen Sie den Leuten sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Die Frage ist, ob es passiert ist oder nicht! Geben Sie eine Antwort! Jetzt reden Sie sich heraus!)


Ich finde es einfach auch unverantwortlich, wenn Sie
meinen, für den hessischen Wahlkampf noch ein paar
Stimmen einsammeln zu können, indem Sie hier als
Friedensengel auftreten.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ist es passiert, oder ist es nicht passiert?)


Sie haben sich mit der Art und Weise, wie Sie argumen-
tieren, längst aus einer seriösen sicherheitspolitischen
Debatte verabschiedet.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich halte Ihre Forderung, die Truppen abzuziehen, für
verantwortungslos. Ich stimme da dem Kollegen Nacht-
wei ausdrücklich zu, der sagte: Wenn wir unsere Trup-
pen abziehen, überlassen wir Afghanistan den Kriegs-
verbrechern. Das wäre unverantwortlich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, worum geht
es eigentlich in dieser Geschichte? Sie, Herr Lafontaine,
haben gesagt, es gehe um Kampftruppen.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ist das jetzt die Wahrheit oder nicht?)


– Herr Lafontaine, hören Sie bitte einmal einen Augen-
blick zu. – Soldaten, die eingesetzt werden, müssen auch
kämpfen können.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Frechheit!)


Dies ist doch ganz klar. Es sollte auch ausgesprochen
werden. Im Rahmen des ISAF-Mandats haben sie den
Auftrag, dieses Land zu stabilisieren, Aufbauarbeit zu
verrichten und dort, wo Sicherheit hergestellt werden
muss, dies auch mit militärischen Mitteln zu tun.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Da sind Sie sicher erfolgreich! Seit sechs Jahren!)


Dies ist ganz klar. Wer hat das denn bisher gemacht? Ein
bisschen Sachlichkeit würde dieser Debatte schon gut
tun.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD] – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Antworten Sie auf die Frage!)


– Nein.

Der Zeitpunkt und das Vorgehen überraschen doch
gar nicht. Jeder weiß, dass Norwegen am 30. Juni das
Kommando über die Quick Reaction Force abgibt. Das
ist doch schon lange bekannt. Was heißt Quick Reaction
Force? Schnelle Eingreiftruppe.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja, Einsatz!)







(A) (C)



(B) (D)


Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)

Sie stellt, gnädige Frau, eine Art Feuerwehr, eine takti-
sche Reserve dar, die jeder verantwortliche militärische
Kommandeur vorhalten muss. Sie hat die Stärke einer
Kompanie. Das ist, für eine Region, die gemessen an der
europäischen Geografie vom Rhein bis nach Warschau
reicht, im Grunde wenig genug.

Welche Aufgaben hat diese Einsatzreserve? Sie gehen
her und sagen, sie nehme im Grunde die Aufgabe einer
Kampftruppe wahr.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Richtig! Genau!)


Was haben denn die Norweger in den letzten zwei Jah-
ren, Frau Enkelmann, getan? Das kann ich Ihnen sagen:
Es liefen ganze zwei Einsätze als Alarmreserve. Der
erste Einsatz fand beim Absturz eines Hubschraubers
und der zweite beim Beschuss des deutschen Lagers in
Masar-i-Scharif statt. Alle übrigen Einsätze waren Pa-
trouillen oder Sicherungsmaßnahmen, die der Unterstüt-
zung der PRT-Tätigkeit dienten. Diese Aufgaben haben
die Norweger wahrgenommen.

Wenn man auf diese Erfahrungen zurückgreift, dann
kommt man doch zu dem Schluss: Es handelt sich um
eine fatale Verdrehung, wenn Sie davon sprechen, man
trete jetzt in eine neue Kampfphase ein. Dies ist schlicht-
weg falsch. Wir weisen das in aller Klarheit und Deut-
lichkeit zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Frage ist: Wer übernimmt diese wichtige Auf-
gabe? Da ist, wie ich meine, noch nichts entschieden.
Die Truppenstellerkonferenz wird die Entscheidung tref-
fen. Ich sage Ihnen aber auch ganz klar: Wir als führende
Nation, als Lead-Nation, stehen im Norden in der Ver-
antwortung und können uns nicht darauf verlassen, dass
im Falle eines Falles schon irgendjemand kommen wird.
Ich sage auch ganz klar: Wir sind bereit und in der Lage,
diese Aufgabe zu übernehmen, weil es sich um eine
wichtige Aufgabe für die Sicherung der Aufbauarbeit im
gesamten Nordbereich handelt. Dieses sollte man an die-
ser Stelle einfach festhalten.

Bei einer seriösen Diskussion hierüber ist in der Tat
das ISAF-Mandat maßgebend. Es handelt sich bei der
Eingreiftruppe nicht um eine Wiederaufbautruppe; das
ist richtig. Aber es handelt sich um eine Truppe, die im
Rahmen des ISAF-Mandats eine Stabilisierungsfunktion
wahrnimmt. Dies ist der Hauptauftrag, zeitlich und
räumlich begrenzt; außerhalb dieser begrenzten Region
nur dann, wenn der Gesamtauftrag von ISAF infrage ge-
stellt ist. Sie kennen diese Klausel, die unser Mandat ent-
hält. Dafür Verantwortung zu übernehmen, sind wir be-
reit.

Für unsere Fraktion und die Regierung möchte ich sa-
gen: Unsere Soldaten können mit unserer weiteren Un-
terstützung bei diesem gefährlichen und schwierigen
Auftrag rechnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613906100

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit

Homburger.


(Beifall bei der FDP)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1613906200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Worum es hier geht, zeigen die von der Linken benann-
ten Redner und der Auftritt, den der Kollege Lafontaine
eben hingelegt hat.


(Walter Kolbow [SPD]: Sehr wahr!)


Neben dem „Verteidigungsexperten“ Lafontaine soll ja
auch noch der „Verteidigungsexperte“ Gysi sprechen.
Daran wird deutlich: Es geht Ihnen schlicht und ergrei-
fend nur um Wahlkampf.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Es geht um Menschenleben, Frau Homburger! Das ist ein Zynismus sondergleichen!)


Wenn Sie hier sagen, es gehe Ihnen um die Sache,
dann entgegne ich Ihnen: Diese Sache war letzte Woche
aktuell. Letzte Woche hat ein Kollege hier erklärt, es sei
schon alles entschieden und beschlossen. Daraufhin gab
es eine Debatte, nicht nur im Verteidigungsausschuss des
Deutschen Bundestages, sondern auch in aller Öffent-
lichkeit. Daran haben Sie nicht teilgenommen, und das
war Ihnen völlig egal.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist ja Quatsch!)


Das zeigt klipp und klar, dass es Ihnen nicht um die Sa-
che geht. Dieses Thema diese Woche zu behandeln,
passt Ihnen schlicht und ergreifend besser ins Kalkül.


(Markus Löning [FDP]: Sehr richtig!)


Es kommt etwas hinzu: Der Sachstand seit der letzten
Woche ist unverändert. Vielleicht muss man Sie einmal
darüber aufklären, Herr Lafontaine: Die Sache ist nicht
neu. Die Norweger haben sehr frühzeitig erklärt, dass sie
diese Aufgabe ab Mitte dieses Jahres nicht mehr werden
wahrnehmen können. Darüber hat der Generalinspekteur
im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages
informiert. Wir haben darüber diskutiert. Es hat im Übri-
gen in der Haushaltsdebatte letztes Jahr – auch öffent-
lich – eine Rolle gespielt. Das heißt, es geht nicht darum,
dass wir hier irgendwelche Informationen von der Bun-
desregierung erzwingen müssten. Was Sie wollen, ist,
Angst machen und Verunsicherung der Menschen schü-
ren. Sie machen Wahlkampf auf dem Rücken der Solda-
tinnen und Soldaten, vor allen Dingen derer, die in Af-
ghanistan einen gefährlichen Dienst versehen.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie schicken sie doch hin! Das ist doch unglaublich!)


Das, Herr Lafontaine, ist durchsichtig, unredlich und
schäbig.






(A) (C)



(B) (D)


Birgit Homburger

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Es ist doch unglaublich, was Sie sich erlauben!)


Ich möchte hier in aller Deutlichkeit noch einmal
klarstellen: Es geht hier nicht um Krieg gegen Afghanis-
tan.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Um was geht es hier nicht? Es geht hier nicht um Krieg? Um was denn dann?)


Wir sind auf Anforderung und auf Wunsch der afghani-
schen Regierung in Afghanistan, um den Wiederaufbau
zu unterstützen. Es ist Ihnen so klar wie uns, dass dieser
Wiederaufbau nur mit militärischer Absicherung funk-
tionieren kann. Genau deshalb wird es gemacht. Darüber
haben wir hier zigmal diskutiert. Es bleibt dabei: Es geht
hier nicht um Krieg, sondern darum, die afghanische Re-
gierung dabei zu unterstützen, dieses Land zu stabilisie-
ren und beim Wiederaufbau zu helfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich sage ebenfalls ganz klar, an die Bundesregierung
und auch an den Vorredner, Herrn Beck, gerichtet: Wir
brauchen einen ehrlichen Umgang mit der Sache.


(Lachen bei der LINKEN)


Ein ehrlicher Umgang im Zusammenhang mit der
schnellen Eingreiftruppe bedeutet, dass man die Qualität
dieser Eingreiftruppe so darstellen muss, wie sie ist. An
dieser Stelle geht es nicht nur um Patrouille, Evakuie-
rung und Absicherungsmaßnahmen, sondern auch um
offensive Operationen. Auch das ist nichts Neues. Das
wüssten Sie, wenn Sie im Verteidigungsausschuss wären
und wenn Sie sich damit schon einmal auseinanderge-
setzt hätten, Herr Lafontaine.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Opfer in Kriegen sind nichts Neues! Da haben Sie recht!)


Es ist tatsächlich so, dass es an dieser Stelle um offen-
sive Operationen geht. Offensive Operationen sind eben
keine Stabilisierungseinsätze; dabei geht es vielmehr
ganz klar um Kampf. Das muss man in aller Nüchtern-
heit und aller Klarheit so sagen.

Das sind die Rahmenbedingungen. Herr Verteidi-
gungsminister, sollten Sie sich entscheiden, diese Auf-
gabe zu übernehmen, dann wäre das nach der Entschei-
dung, Tornados nach Afghanistan zu entsenden, eine
erneute Erweiterung des Aufgabenspektrums und hätte
eine neue Qualität.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Aha! Alles nichts Neues!)


Ich möchte sehr deutlich sagen: Wenn diese Aufgabe
übernommen wird, dann erwarten wir von der Bundesre-
gierung, dass sie nicht immer nur mit weiteren Aufgaben
und noch mehr Soldaten kommt. Sie sollte vielmehr
klarstellen, was das Ziel dieses Einsatzes ist. Ich erwarte,
dass die Bundesregierung der Öffentlichkeit vermittelt,
dass das politische Ziel im Zentrum steht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte an dieser Stelle noch Folgendes sagen:
Sollte sich die Bundesregierung für die Übernahme die-
ser Aufgabe entscheiden, dann muss das Augenmerk
noch stärker als bisher auf Ausrüstung und Ausstattung
gelegt werden. Ich möchte hier auf einen Bericht des
Kommandeurs Warnecke aufmerksam machen, der mit-
geteilt hat, dass es bei der Operation „Harekate Yolo-2“,
die im letzten Herbst stattgefunden hat, Schwierigkeiten
gab, weil das ISAF-Kontingent im Verantwortungsbe-
reich Nord offensichtlich nicht entsprechend ausgestattet
war. Hier, Herr Bundesverteidigungsminister, erwarten
wir, dass die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung
berücksichtigt, ob sie die nötige Ausrüstung stellen
kann. Es ist nur verantwortbar, Soldatinnen und Soldaten
in einen Einsatz zu schicken, wenn sie mit der bestmög-
lichen Ausrüstung ausgestattet sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Abschließend, Herr Bundesverteidigungsminister,
bitte ich noch um eines: dass Sie endlich dazu überge-
hen, eine offensive Informationspolitik zu betreiben. Der
Bericht der Generäle vom Juli des vergangenen Jahres,
in dem eine Bewertung vorgenommen wird, liegt dem
Parlament immer noch nicht vor. Wir haben erneut aus
der Öffentlichkeit davon erfahren. Ich fordere Sie auf:
Legen Sie diesen Bericht endlich auch dem Parlament
vor! Sie schaden mit dieser Geheimniskrämerei der Bun-
deswehr und sich selbst. Machen Sie endlich eine offen-
sive Informationspolitik!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613906300

Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1613906400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte zu Beginn meiner Rede die kanadischen Kol-
leginnen und Kollegen auf der Tribüne sehr herzlich be-
grüßen und bei uns im Parlament willkommen heißen.


(Beifall im ganzen Hause)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Ihre Anwesenheit
gibt dieser Debatte eine besondere Bedeutung. Wir spre-
chen in dieser Aktuellen Stunde über gemeinsame Aktio-
nen und gemeinsames Leiden in Afghanistan. Kanada
hat viele Opfer gebracht, derer wir mit Solidarität in die-
ser Debatte gedenken. Wir sind an Ihrer Seite.

Deswegen sage ich: Politische Entscheidungen, die
letztlich eine Entscheidung über Leben und Tod sein
können, zu Wahlkampfzwecken zu benutzen, halte ich
für nicht erlaubt,






(A) (C)



(B) (D)


Walter Kolbow

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


auch nicht unter Bezug auf die Frage, die Sie, Herr Kol-
lege Lafontaine, zu Beginn Ihrer Einlassungen vorgetra-
gen haben. Ich weiß, dass wir mit der Verantwortung für
die Entscheidung Schuld auf uns laden können und wir
uns in Kämpfe verstricken können. Das ist die Verant-
wortung des Parlaments. Daraus populistischen Nutzen
zu ziehen, ist jedoch nicht nur antiaufklärerisch – wir
sollten eigentlich aufgeklärt sein –, sondern schlicht und
einfach nicht in Ordnung, meine Damen und Herren von
der Linksfraktion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Elke Hoff [FDP])


Von dieser Stelle aus ist wiederholt gesagt worden,
dass dieser Einsatz, den das Parlament beschlossen hat,
nicht völkerrechtswidrig ist, sondern den Stempel der
Vereinten Nationen trägt und in der Verantwortung der
internationalen Gemeinschaft liegt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Wollen Sie dem kanadischen Parlament vorhalten, völ-
kerrechtswidrig entschieden zu haben? Ich denke, dass
Sie Ihre Einlassungen relativieren müssen.

Herr Kollege Lafontaine, Sie müssen auch Ihre Aus-
sage relativieren, in Afghanistan seien Kinder als Mi-
nensucher missbraucht worden. Sie wollen damit Wahl-
kampf machen. Lassen Sie sich informieren: Über diese
Vorkommnisse liegen keine Erkenntnisse vor,


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Aha!)


außer dass sie vor fünf Jahren zwar von jemandem zur
Kenntnis genommen worden sind, dieser es aber nicht
für notwendig gehalten hat, einen so markanten Vorgang
seinen Vorgesetzten sofort zur Kenntnis zu bringen, was
die Regel ist.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Das ändert doch an der Sache nichts!)


Informieren Sie sich bei den Fach- und Sachkundigen
über den Sachstand, bevor Sie hier Behauptungen ein-
bringen, die durch nichts, aber auch gar nichts zu bele-
gen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Außenminister und der Verteidigungsminister
sind ihrer Aufgabe mehr als nur gerecht geworden. Alle
Informationen werden nicht nur den Ausschüssen, son-
dern auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfü-
gung gestellt. Diese Informationen weisen eindeutig da-
rauf hin, dass eine Einheit im Rahmen eines normalen
Truppenstellerverfahrens ersetzt werden muss. Diese
Einheit wird dringend gebraucht, damit die internatio-
nale Gemeinschaft die Ziele, die sie in Afghanistan ver-
folgt – ziviler Wiederaufbau, Verhinderung von Krieg
und Vermeidung von terroristischen Anschlägen, und
zwar auch bei uns in Europa –, erreichen kann. Das ist
der Sinn. Dafür ist auch die Rapid Reaction Force not-
wendig. Wenn wir diese Entscheidung treffen müssen,
wird uns die Regierung rechtzeitig informieren.

Ich will an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir
die Erfolge, die wir im Norden von Afghanistan zu ver-
zeichnen haben, in der Debatte nicht untergehen lassen
dürfen. Millionen von Flüchtlingen, die auf die Entwick-
lung in ihrem Land vertrauen, sind nach Afghanistan zu-
rückgekehrt, weil sie der internationalen Gemeinschaft
und zunehmend auch den afghanischen Streitkräften, der
afghanischen Polizei und den afghanischen Autoritäten
Vertrauen schenken. Diese Entwicklung kann sich nicht
nur sehen lassen, sondern sie kann und muss auch ausge-
sprochen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass da natürlich – um es einfach auszurücken – noch
eine Menge zu tun ist, wissen wir alle. Aber das geht
nicht in der Art und Weise, dass wir aus Afghanistan ab-
ziehen, sondern das geht nur in der Art und Weise, dass
wir mit der vernetzten Sicherheitsstrategie, die wir in
Deutschland mit Herrn Jung, Herrn Steinmeier, der Bun-
deskanzlerin, Frau Wieczorek-Zeul und mit der Mehr-
heit dieses Hauses entwickelt haben, auch mit den not-
wendigen militärischen Entscheidungen, wenn sie denn
anstehen, Afghanistan eine Zukunft geben. Wir warten
auf die Erkenntnisse, die unsere Regierungsvertreter aus
den Truppenstellerkonferenzen in der NATO mitbringen.
Dann werden sie uns mit ihrer verantwortungsbewussten
Entscheidung an ihrer Seite sehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613906500

Das Wort hat nun der Kollege Winfried Nachtwei für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613906600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich möchte die Kolleginnen und Kollegen aus dem
kanadischen Parlament sehr herzlich begrüßen. Kanada
hat eine sehr lange Tradition der Teilnahme an Friedens-
missionen im Auftrag der Vereinten Nationen. Als wir
kürzlich in Ottawa waren und dort die Ausstellung
Afghanistan: A Glimpse of War gesehen haben, haben
wir erfahren und empfunden, wie die kanadische Gesell-
schaft mit dem Afghanistan-Engagement, das für ihre
Soldaten tatsächlich auch ein Kriegseinsatz ist, umgeht
und um den richtigen Weg ringt.

Kollege Lafontaine, die Vorfälle, die Sie aus dem
Stern zitieren, sind, wenn sie tatsächlich so geschehen
sind, schändlich. Ich denke, das ist hier die einmütige
Bewertung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
Es ist versucht worden, weitere Hinweise dafür zu be-
kommen, ob diese Meldungen der Wahrheit entsprechen.
Bisher haben wir keine gefunden. Aber die Bewertung
ist völlig eindeutig.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Nein, hier wird so getan, als wäre das gar nicht wahr!)


Unabhängig von dem, was Sie gerade genannt haben:
Kollege Lafontaine, vielleicht haben Sie Anfang Dezem-
ber 2007 die Umfrage von ABC, BBC und ARD zur
Kenntnis genommen, die überraschende Ergebnisse
brachte. Die Leute, die mit dieser Umfrage zu tun haben,
sind bekannt, und es handelt sich hier mit Sicherheit um
eine seriöse Umfrage. Das Ergebnis war, dass die Bevöl-
kerung gegenüber dem internationalen Engagement und
auch gegenüber ISAF viel positiver eingestellt ist, als
wir das hierzulande wahrnehmen. Zwar ist – das muss
man ganz nüchtern dazusagen – die Tendenz bröckelnd,
aber die Mehrheit ist eindeutig dafür. Vielleicht sollte Ih-
nen das etwas zu denken geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Unabhängig von der Auseinandersetzung mit Ihnen
finde ich, dass die Fragen und Befürchtungen zum Ein-
satz der Quick Reaction Force völlig berechtigt sind. Ge-
raten wir in eine Eskalation hinein? Geraten wir in einen
Kriegssumpf hinein? Diese Fragen treiben sicherlich alle
um. Man muss auch angesichts der Tatsache misstrau-
isch sein, dass gewichtige Stimmen darauf drängen, dass
die Quick Reaction Force ausdrücklich an Kriegseinsät-
zen teilnimmt.

Worum geht es bei dieser „Schnellen Reaktions-
truppe“? Was ist zu verantworten und was nicht? Um es
klar zu sagen: Es geht um eine relativ kleine militärische
Reserve und Verstärkungseinheit für bestimmte Not-
situationen, wenn die sowieso schon sehr schwachen
Kräfte der Wiederaufbauteams, die in einem riesigen,
komplizierten Raum verteilt sind, nicht mehr klarkom-
men. Kollege Beck hat vorhin schon Beispiele aus dem
letzten Jahr dafür genannt, welche Einsatzformen das
waren. Diese bewegen sich vollkommen im Rahmen der
bisherigen Erfahrungen der ISAF im Norden des Lan-
des. Sie gestatten, dass ich regional differenziere, weil es
in anderen Regionen, mit denen auch unsere kanadi-
schen Freunde zu tun haben, ganz krass anders aussieht.
Darüber kann man nicht hinwegsehen.

Allerdings – auch das ist völlig richtig – ist diese
Quick Reaction Force Ende Oktober, Anfang November
letzten Jahres zum ersten Mal in ein Gefecht gekommen
und hatte einen ausdrücklichen Kampfeinsatz. Das kann
man nicht verniedlichen.

Zusammengefasst: Diese Truppe liegt mit ihrer Auf-
gabenstellung noch im Rahmen des bisherigen ISAF-
Nord-Mandates; das ist eindeutig. Allerdings sind be-
stimmte Punkte klar zu garantieren. Erstens darf es nur
eine Unterstellung unter den Commander Nord geben.
Zweitens ist es – wie es im Mandat festgelegt ist – ein
Einsatz im Norden. Drittens ist die Aufgabenstellung
nicht so, wie sie von manchen fahrlässig beschrieben
wurde, dass es jetzt um offensive Terroristenjagd oder
offensive Aufstandsbekämpfung gehe. Nein, es geht
weiterhin um Stabilisierungsunterstützung, allerdings
mit härteren militärischen Anforderungen, und es ist
auch riskanter; da gibt es kein Vertun.

Wir sind hier auf dem Sicherheitssektor. Hier geht es
um schnelle Reaktion. Gestatten Sie, dass ich noch zu ei-
nem anderen Punkt komme, nämlich zu Yolo II. Dieser
Einsatz in Nordwest-Afghanistan war notwendig, weil
die Polizeikräfte vor Ort äußerst schwach waren. Wie
sieht es nun – Herr Staatssekretär Bergner, das geht jetzt
auch sehr stark an Ihre Adresse – mit dem Polizeiaufbau
aus, von dem wir alle wissen, dass er für nachhaltige
Sicherheit in Afghanistan von strategischer Bedeutung
ist?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben im letzten August, September und Oktober
festgestellt, dass die EUPOL-Mission der Europäischen
Union nicht in die Pötte kam, dass sie viel weniger
schaffte als das deutsche Polizeiprojekt. Wie sieht es
zurzeit aus? Im März sollen dort 195 Polizisten sein.
Zurzeit sind dort 30 internationale Polizisten. Wie sieht
es mit den deutschen Polizisten aus? Bis zum letzten
Jahr waren über 40 da. Jetzt sind gerade noch 15 dort.
Das bedeutet nichts anderes als: Hier wird die Kapitula-
tion der Europäischen Union und der Bundesrepublik
Deutschland im entscheidenden Bereich des Polizeiauf-
baus vorbereitet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Schande für das Innenministerium!)


Ich muss der Bundesregierung sagen: Ich bin inzwischen
ausgesprochen zornig darüber, wie die Beschönigung
der Situation in diesem Bereich aus den Reihen der Bun-
desregierung bis gestern – heute haben Sie die Chance,
das zu ändern – fortgesetzt wurde.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613906700

Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613906800

Ich komme zum Schluss; aber ich bin zornig.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613906900

Das ändert nichts daran, dass Sie Ihre Redezeit über-

schritten haben.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613907000

Worauf das so hinausläuft: Wir verlieren das beson-

dere Vertrauen der Afghanen. Wir machen uns in der
Staatengemeinschaft lächerlich. Jetzt tut das not, was die
Kanadier und die Briten machen, was die Amerikaner
zweifach machen: endlich einmal eine unabhängige
Überprüfung des Afghanistan-Engagements, um klar zu






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
sehen, wie es aussieht, und nicht nur immer zu erzählen,
was Schönes gemacht wird. Wie sieht es aus? Was
kommt dabei heraus? Wo müssen wir umsteuern? Bitte,
die Entscheidung drängt!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613907100

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Schmidbauer

für die Fraktion CDU/CSU.


Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1613907200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir sind im siebten Jahr unserer Anstren-
gungen, Afghanistan zu helfen und nicht mehr zuzulas-
sen, dass es Terror gibt und dass es von diesem Gebiet
aus unter einem terroristischen Regime in allen Ländern
dieser Erde zu Anschlägen kommt, die, lieber Herr La-
fontaine, ungeheuer viele unschuldige Opfer gefordert
haben.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ja!)


Auch Menschen, die in keinem Zusammenhang mit den
Auseinandersetzungen in Afghanistan standen, wurden
Opfer dieses Terrors, der sich über viele Jahrzehnte auf-
gebaut hat. Alle Anschläge in unseren Ländern haben ih-
ren Ausgangspunkt irgendwo in Afghanistan. Schon dies
ist Grund dafür, sich zu engagieren, Terror in der Welt zu
verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Was Sie gemacht haben, war sehr einfach.


(Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


– Da täuschen Sie sich gewaltig. Denken Sie auch an die
Zehntausende Toten in Afghanistan selbst. Sportplätze
wurden als Hinrichtungsstätten genutzt. Denken Sie da-
ran, welche Chancen Kinder hatten, in die Schule zu ge-
hen, und welche Chancen Frauen hatten, in diesem Land
an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Lieber
Herr Lafontaine, Sie müssten aus Ihrer Erfahrung, die
Sie teilweise auch in Regierungsverantwortung gemacht
haben,


(Zuruf von der SPD: Aber nur ganz kurz!)


sehr genau wissen: Es gibt nichts Verbrecherischeres auf
dieser Welt als das, was in der Vergangenheit in Afgha-
nistan passiert ist. Und dann sollen die Bürger und soll
die Bundesrepublik Deutschland etwa wegsehen? Soll
die Solidarität aller Demokraten, zu der es nach den An-
schlägen in den Vereinigten Staaten gekommen ist, be-
endet werden? Nein, ich denke, dass wir gut daran tun,
unser Engagement fortzusetzen.

Mit Ihnen und Ihren Genossen werden wir diese De-
batten immer wieder führen müssen.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ja!)

Dass sie ständig vor Landtagswahlen stattfinden, ist al-
lerdings äußerst billig.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Glauben Sie bloß nicht, dass die Hessen darauf herein-
fallen, wie Sie hier auftreten!


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Glauben Sie nicht, dass es Hessen gibt, die so primitiv
sind, dass sie Ihre Manöver nicht durchschauen und ent-
sprechend reagieren!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wer in Hessen primitiv ist, das weiß man mittlerweile!)


Von den Argumenten, die Sie anführen, habe ich per-
sönlich die Nase voll.


(Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Sie selbst haben doch gar keine!)


Was wollen Sie eigentlich erreichen? Sie wollen, dass
wir Pazifismus praktizieren, unser Engagement beenden
und uns aus Afghanistan zurückziehen; denn Sie mei-
nen, dann kehrt dort Frieden ein.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Würden wir so vorgehen, würde sich der Terror überall
ausbreiten, und zwar noch viel schlimmer als bisher. Das
würden Sie in Kauf nehmen.

Zu dem, was Sie im Hinblick auf den bayerischen

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1613907300
Natür-
lich hat er recht. Natürlich ist es möglich, dass sich der
Terror gegen diejenigen, die sich engagieren, wendet.
Man muss damit rechnen, selbst im Visier dieser Verbre-
cher zu sein. Sie wollen nämlich nicht, dass wir uns en-
gagieren. Genau deshalb möchte ich, dass wir unser
Engagement fortsetzen.

Wir müssen die Prinzipien, die wir selbst entwickelt
haben, einhalten. Dabei geht es vor allem um die Kon-
zentration unseres Engagements im Norden des Landes.
Täglich können wir dort viele positive Meldungen ver-
nehmen. Unser Engagement wird positiv aufgenommen,
und unsere Soldaten tun gemeinsam mit der Bevölke-
rung alles, um dieses Land aufzubauen. Richtig ist aber
auch, dass uns aus dem Süden des Landes und aus den
angrenzenden Provinzen Pakistans jeden Tag negative
Meldungen erreichen.

Tatsache ist aber – das sage ich auch an die anwesen-
den Gäste gerichtet –: Wir müssen uns solidarisch ver-
halten.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Gerade Sie sprechen jetzt von Solidarität?)


Ich glaube nicht, dass wir andere Nationen einfach au-
ßen vor lassen können und bestimmen sollten: Die einen
machen die Arbeit im Süden, die anderen machen die
Arbeit im Norden. Hier steht die Solidarität auf dem
Prüfstand. Auch die NATO steht auf dem Prüfstand. Wir






(A) (C)



(B) (D)


Bernd Schmidbauer
müssen uns im Norden und im Süden gemeinsam
engagieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der LINKEN: Sehen Sie da kein Problem?)


– Das ist überhaupt kein Problem. Allerdings ist es
schwierig, Ihnen das klarzumachen; das versuche ich
aber schon gar nicht mehr.

Ich will noch einige Bemerkungen zu den Ausführun-
gen von Herrn Nachtwei machen. Lieber Herr Nachtwei,
mit dem, was Sie zu EUPOL gesagt haben, haben Sie
völlig recht. Ich rede mir in den letzten Monaten den
Mund fusselig, um darauf hinzuweisen, was sich im Be-
reich von EUPOL abspielt.


(Walter Kolbow [SPD]: Aber nichts passiert! – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich sage nur: Slow Reaction Forces!)


Leider ist hier nur sehr wenig passiert. Es muss aller-
dings positiv hervorgehoben werden, dass unsere Solda-
ten derzeit verstärkt mit der Ausbildung von Polizisten
beschäftigt sind. Das ist nicht ihre primäre Aufgabe, aber
hier tut sich wenigstens etwas. Das möchte ich an dieser
Stelle gerne positiv herausstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage ganz deutlich: Wir setzen den Schwerpunkt
unseres Engagements im Norden Afghanistans. Wenn es
um Nothilfe geht, sind wir aber auch im Süden des Lan-
des vertreten. Gerade in den jüngsten Tagen ist wieder
einiges zu tun. Wir müssen unsere Solidarität unter Be-
weis stellen. Im Norden des Landes sind wir im Rahmen
ziviler und militärischer Missionen vertreten. Wir verfü-
gen über ein Aufgabenprofil, an das wir uns halten. Er-
folg wird uns aber nur dann zuteil – das wiederhole ich;
denn das muss immer wieder betont werden –, wenn wir
uns im Rahmen der NATO insgesamt solidarisch verhal-
ten.

Allerdings gibt es Indiskretionen. Von Frau Hombur-
ger wird uns vorgeworfen, es gebe nicht genug Informa-
tionen. Frau Kollegin, Sie haben sich toll aufgeregt. Das
hat aber nur zur Folge, dass der Verteidigungsminister
seine Anstrengungen zur Information an der richtigen
Stelle fortsetzen wird.


(Lachen der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Es gibt auch solche Indiskretionen, die ich nicht ver-
stehe und die vielen erneut einen Vorwand liefern kön-
nen, das gesamte Engagement infrage zu stellen. Da
wird polemisiert, da wird diskriminiert, und da wird aus
Büchern zitiert, die derzeit auf dem Markt sind. Wenn
man genau hinsieht, stellt man allerdings fest, dass die
Verfasser dieser Bücher ihre Aussagen schon relativiert
haben und an bestimmten Stellen Abstriche machen.

Zum Beispiel wird argumentiert, OEF sei nicht durch
das Mandat gedeckt, und die Ausrüstung wird kritisiert.
Selbst Bob Gates hat sich in den letzten Tagen zum Ein-
satz im Süden Afghanistans geäußert. 48 Stunden später
hat er seine Aussage relativiert. Durch dieses Verhalten
trägt man dazu bei, dass die Öffentlichkeit immer weni-
ger Sympathie für unser Engagement hat. Das ist natür-
lich Absicht. Man möchte den Einsatz unserer Soldaten
in der Öffentlichkeit diskreditieren.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613907400

Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?


Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1613907500

Danke. Auch ich bin zornig, aber ich halte mich an

das, was Sie sagen.


(Heiterkeit)


Vielleicht ist es ein guter Hinweis, dieses Argument an-
zuführen.

Ich glaube, dass wir am 6. oder 7. Februar dieses Jah-
res die Entscheidung treffen werden, uns am Einsatz der
Quick Reaction Forces zu beteiligen. Warum eigentlich
nicht? Er dient der Sicherheit aller Soldaten. Dies dient
auch der Sicherheit in diesem Land; deswegen unter-
stütze ich das sehr. Soldaten in Afghanistan sind – das
will ich noch einmal sagen – keine Entwicklungshelfer;
aber sie garantieren die Sicherheit, ohne die Entwick-
lungshelfer nicht tätig sein können. Deshalb müssen wir
unseren Soldaten für ihren Einsatz danken. Ohne die
Hilfe unserer Soldaten gibt es keinen Frieden in diesem
Land.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613907600

Herr Kollege, mit oder ohne Zorn: Die Redezeit ist

weit überschritten.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1613907700

Frau Präsidentin, ich beuge mich. – Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Walter Kolbow [SPD]: Das war Demut!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613907800

Nächster Redner ist nun der Kollege Dr. Gregor Gysi

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613907900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die

FDP, die Union und die SPD haben uns vorgeworfen,
hier Wahlkampf zu führen. Es ist interessant, darüber
nachzudenken. Man müsste zunächst einmal definieren,
was Wahlkampf ist. Für mich ist Wahlkampf der Ver-
such, Menschen von meinen politischen Auffassungen
zu überzeugen. Das mache ich als Politiker die ganze
Zeit; so gesehen bin ich immer im Wahlkampf, ist das
für mich nichts Besonderes.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
Aber es gibt fairen Wahlkampf und es gibt unfairen
Wahlkampf, und da muss man unterscheiden. Nichts von
dem, worum es hier geht, hat die Linke entschieden; das
alles haben andere entschieden. Deshalb stellen wir das
zur Diskussion.

Wie man auf Welt Online lesen kann, rückt laut
NATO der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr offenbar
immer näher. Das bringt den Bundesverteidigungsminis-
ter in Nöte, sodass er diesen Einsatz erst nach der Hes-
senwahl verkünden will. Da Sie mir das nicht glauben
werden, zitiere ich den SPD-Verteidigungspolitiker Jörn
Thießen, der, wie es in Bild steht, „vermutet, dass die
Bekanntgabe des neuen Einsatzes bewusst nach den
Landtagswahlen erfolge“. Ein ganz übler Wahlkampf ist
das, unehrlich ist das! Sagen Sie so etwas vorher!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Widerspruch bei der SPD)


Herr Schmidbauer, Sie haben gesagt, kein Hesse
werde auf uns hereinfallen. Ich sage Ihnen: Den mieses-
ten Wahlkampf führt nun wirklich Herr Koch. Ich
möchte, dass von der Hessenwahl ein Signal ausgeht:
dass man in Deutschland mit ausländerfeindlichen Paro-
len keine Wahlen mehr gewinnt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Oskar Lafontaine hat über einen Bericht des Stern ge-
sprochen. Als Sie sich in diesem Zusammenhang aufreg-
ten, dachte ich, Sie wollten das dementieren. Das woll-
ten Sie gar nicht. Sie wollten nur sagen, dass die
Bundeswehr nicht beteiligt war und Sie dagegen sind. Er
hat gar nicht behauptet, dass Sie dafür sind; ich glaube,
es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir alle dagegen
sind. Aber wir werden doch noch sagen dürfen, was in
Afghanistan passiert, woran man sich beteiligt, wenn
man Truppen dorthin schickt!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Walter Kolbow [SPD]: Der Stern hat das nicht belegt!)


Noch etwas Interessantes: Norwegen zieht seine
schnelle Eingreiftruppe ab, weil die politischen Kräfte
sagen: Das ist der falsche Weg.


(Zuruf von der CDU/CSU: Neu! – Bernd Schmidbauer [CDU/CSU]: Das ist gelungen!)


Und dann meldet sich Deutschland und bietet an, ent-
sprechende Truppen zu schicken!


(Bernd Schmidbauer [CDU/CSU]: Falsch!)


Sie reden hier die ganze Zeit davon, dass es darum
geht, Afghanistan aufzubauen. Eine schnelle Eingreif-
truppe hat mit der Ausbildung der Polizei, mit der Aus-
bildung der Armee, mit Mädchen, die zur Schule gehen
können, nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die Bundeswehr ist jetzt seit fast sieben Jahren dort.
Was hat sie in den sieben Jahren gemacht? Es gibt keine
nennenswerte Polizei, es gibt keine nennenswerte Ar-
mee, das Bildungswesen ist rückständig.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren Sie einmal in Afghanistan, Herr Gysi?)


Aber Sie haben immer noch die Illusion, mittels Krieg
Terror bekämpfen zu können.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Nun zum Inhalt; was uns vorgeworfen wird, ist ja
schwerwiegend. Der Chef der norwegischen Eingreif-
truppe hat gesagt, die Soldaten seien darauf vorzuberei-
ten, Krieg zu führen und das eigene Leben zu verlieren.
Das sagt Rune Solberg, nicht wir. Was meint Bundes-
wehrgeneral Kasdorf dazu? In der FAZ vom 17. Januar
steht zu lesen, wie er gefragt wurde:

Ist das sogenannte Targeting,

– das muss man übersetzen –

gezieltes Ausschalten gegnerischer Kämpfer, ein
Vorgehen der Isaf wie von OEF?

Seine Antwort:

Das gibt es in beiden Operationen. Das ist Teil des
Targeting, das ist Teil der Operationsführung.

Das ist gezieltes Töten, und das hat mit der Ausbildung
von Mädchen nichts zu tun, wenn ich das einmal sagen
darf.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Herr Schmidbauer, Sie haben behauptet, dass man
mittels Krieg Terror bekämpfen kann. Terror verurteilen
wir alle. Doch ist dieser Weg der Bekämpfung des Ter-
rors wirklich der richtige? Denken Sie einmal darüber
nach: Wir sind in einer Spirale der Gewalt. Wenn Sie
eine Bombe werfen, wenn Sie gezieltes Töten und an-
dere Dinge verrichten, treffen Sie immer auch Unschul-
dige. Das gilt auch in Afghanistan. Sie wissen, dass Sie
zum Beispiel Unbeteiligte und Unschuldige in Hoch-
zeitsgesellschaften und Geburtengesellschaften getrof-
fen haben. Diese haben Freunde und Angehörige. Dort
entsteht Hass. Irgendein reicher Bin Laden nutzt dann
diesen Hass und rekrutiert Terroristen – übrigens auch
Selbstmordterroristen. Er macht das ja nicht selber, son-
dern findet immer andere. Sie müssen meine Wut gar
nicht schüren; die ist schon da. Wir antworten dann wie-
der mit Bomben. Dann entstehen wieder neuer Hass und
neuer Terror.

Wenn die Industriegesellschaften nicht endlich Ver-
nunft zeigen und aus der Spirale der Gewalt herausge-
hen, dann gibt es keine Lösung.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
Deshalb sagen wir: Die Bundeswehr muss aus Afghanis-
tan zurückgezogen werden.


(Beifall bei der LINKEN – Bernd Schmidbauer [CDU/CSU]: Alter Kommunist mit seinen Theorien! – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fünf Minuten Unwissenheit am Stück!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613908000

Nun hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Frak-

tion das Wort.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1613908100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Herr Gysi und Herr Lafontaine hätten wirklich ei-
nen Oscar für diese reife schauspielerische Leistung, die
sie hier abgeliefert haben, verdient. Sie war wirklich sen-
sationell.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Unverschämt!)


Der Inhalt Ihres Stückes ist aber wirklich so billig, dass
ich fast versucht bin, in diesem Zusammenhang von ei-
ner Schmierenkomödie zu reden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir führen heute deshalb eine überflüssige Debatte,


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Aha! Wir werden uns noch sprechen!)


weil wir uns im Rahmen des im Oktober sehr sorgsam
beratenen Mandates bewegen. Die Anzahl der Soldaten,
die Aufgaben und die nördliche Provinz – all das haben
wir sorgsam abgewogen und im Oktober diskutiert und
entschieden. Deshalb ist diese Debatte heute wirklich
überflüssig.

Wir bewegen uns im Rahmen des Mandates der Ver-
einten Nationen. Sie versuchen immer, das Völkerrecht
für sich zu reklamieren. Sie sollten sich das Kapitel 7 der
UN-Charta einmal sorgsam durchlesen. Dann würden
Sie nämlich feststellen, dass alle Mitglieder der Verein-
ten Nationen aufgefordert sind, Beistand zu leisten,
wenn die Vereinten Nationen rufen. Sie koppeln sich von
dieser ethischen und moralischen Verpflichtung leider
dramatisch ab.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es wurde hier auch deutlich, dass die Aufgaben, die
diese schnelle Eingreiftruppe hat, nicht mit einem Wort
zu fassen sind.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Aha!)


Es sind vielfältige Aufgaben. Klar ist: Für die deutschen
Soldaten wäre nur ein Modul neu, nämlich, dass sie auch
eine Sicherheitsvorsorge betreiben. Was läge denn näher,
als dass die Deutschen im Norden Sicherheitsvorsorge
für die Deutschen betreiben? Ohne dieses Modul wäre
der gesamte Einsatz nicht verantwortbar.
Sie sagen hier die Unwahrheit, wenn Sie behaupten,
die Norweger zögen ab, weil sie das Risiko nicht mehr
eingehen wollen. Die Norweger leisten in Afghanistan
weiterhin sehr schwierige und ernsthafte Beiträge. Nach
einer seriösen einjährigen Vorankündigung leisten sie
dieses Modul nun nicht mehr, weil ihre kleine Armee in
diesem Bereich keine Durchhaltefähigkeit für viele Jahre
hat. Dies und nichts anderes ist die Wahrheit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zu dieser Sicherheitsvorsorge gehört natürlich auch
– das gibt die UNO vor –, dass die staatliche Ordnung in
Afghanistan im Zweifelsfall mit militärischen Mitteln
durchgesetzt werden muss. Deshalb sind auch Soldaten
und nicht nur technische Hilfswerke da. Wir brauchen
beides; denn beides ist wichtig. Dies ist aber die Auf-
gabe der Soldaten. Das ist auch verantwortbar und im
Übrigen nicht gefährlicher als die Aufgaben, die das
PRT auf der Straße oder bei den Patrouillen ansonsten
leistet. Die Norweger haben in diesem Bereich in den
vergangenen Jahren glücklicherweise keine Verluste ge-
habt.

Nein, wir müssen das einmal vor dem Hintergrund
von Schuld und Verantwortung diskutieren, Kolleginnen
und Kollegen von den Linken. Wir wissen, dass wir eine
große Verantwortung übernehmen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Und eine große Schuld!)


Entsprechend sorgsam beraten wir das auch in meiner
Partei. Wir machen es uns nicht leicht. Wir machen uns
diese Gedanken, und wir machen es uns auch intern
wirklich sehr schwer.

Das Gegenteil von Verantwortung übernehmen ist
verantwortungsloses Handeln. Wir wissen, dass man in
einem solchen Einsatz möglicherweise auch Schuld auf
sich lädt. Eines ist aber auch klar: Wer in der Welt helfen
kann und wissentlich zuschaut, wie ein Volk unterdrückt
und ermordet wird, der lädt auf jeden Fall Schuld auf
sich. Diesen Zusammenhang müssen sich die Linken
wirklich einmal klarmachen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ruanda!)


Meine Damen und Herren von der Linken, Sie klat-
schen, wenn Herr Schmidbauer von Pazifismus spricht.
In unserer Gesellschaft muss Pazifismus sicherlich Platz
haben. Auch in meiner Partei, der Sozialdemokratie,
sind Pazifisten willkommen. Aber Afghanistan ist mög-
licherweise kein besonders geeigneter Ort, um den Men-
schen mit pazifistischen Ideen zu helfen. Herr Lafon-
taine, in Wirklichkeit bedienen Sie eine ganz andere,
eine rechte, national denkende Klientel, wenn Sie den
Menschen einreden, es sei gut, wenn sich Deutschland
zuerst um sich selber kümmere und wenn es die Schotten
dicht mache. Sie wollen keine Verantwortung in der Welt






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Arnold
übernehmen. Es ist schlimm, dass Sie als sogenannter
Linker dieses Lager ansprechen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Klar ist: Folgten der Deutsche Bundestag und 37 Na-
tionen – eine ist auf der Zuschauertribüne vertreten – Ih-
rem Ratschlag, fielen die Menschen in Afghanistan in ei-
nen Steinzeitislamismus und eine Welt zurück, in der
Drogenkartelle allein das Sagen hätten. Sie sind damit
völlig isoliert. Wir sind auf einem schwierigen Weg.
Aber wir werden ihn in aller Sorgfalt weitergehen, bis die
Menschen in Afghanistan selbst in der Lage sind – und
darum geht es –, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.
Dabei helfen ihnen die deutschen Soldaten jeden Tag,
und zwar nicht als Haudraufs, sondern verantwortungs-
voll, vorsichtig und mit angemessenen Mitteln. Dafür
sind wir sehr dankbar.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Sehr gute Rede!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613908200

Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier.


(Beifall bei der LINKEN)



Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613908300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Von Skandinavien kann man eine Menge lernen, zum
Bespiel wie eine Volkswirtschaft so organisiert wird,
dass bei den Menschen genügend für ein soziales Leben
ankommt. Man kann aber auch lernen, wie in der Bevöl-
kerung geführte Debatten von der Politik aufgenommen
und die Anregungen in die Praxis umgesetzt werden.
Aus dem Unmut über das Missverhältnis zwischen mili-
tärischen Ausgaben und ziviler Aufbauhilfe hat die nor-
wegische Regierung Konsequenzen gezogen: Die Mittel
für die Aufbauhilfe wurden gesteigert, die militärischen
Kosten wurden gesenkt. Diese deutliche Akzentver-
schiebung führt dazu, dass die norwegische schnelle
Eingreiftruppe ab Mitte 2008 dem deutschen Komman-
deur des Regionalkommandos Nord nicht mehr als
Kampftruppe zur Verfügung stehen wird. Sie wird statt-
dessen zum besseren Schutz der eigenen Aufbauteams
eingesetzt. Angesichts der kriegstreiberischen Rhetorik
und des rücksichtslosen Vorgehens anderer Verbündeter
ist dieser Schritt geradezu ein Akt der Vernunft.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


In Deutschland hingegen gehen die Uhren offensicht-
lich völlig anders. Sie wollen dem Beispiel von gleich
hohen Ausgaben für zivile Hilfe und militärischen Ein-
satz nicht folgen. Bundesregierung und parlamentarische
Mehrheit scheren sich auch keinen Deut darum, dass die
überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen Aus-
landseinsätze der Bundeswehr ist, wie eine Allensbach-
Umfrage vom Oktober 2007 zeigt. Offenkundig verfängt
die Propaganda nicht mehr, den Krieg in Afghanistan als
eine Art Entwicklungshilfe in Uniform zu beschönigen.
Die Regierung in einer funktionierenden Demokratie
muss doch Konsequenzen daraus ziehen, wenn ihr Sou-
verän, das Volk, in den fundamentalen Fragen von Krieg
und Frieden nicht mehr hinter ihr steht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie hingegen haben das Politische verlassen und sich
auf die Ebene der militärischen Logik begeben. Das ist
jedoch nicht Ihre Aufgabe. Mit der leider absehbaren
Entscheidung, das norwegische Kontingent durch eine
deutsche schnelle Eingreiftruppe zu ersetzen, geben Sie
einem seit Monaten medial aufgebauten Druck nach, der
ausschließlich mit militärischen Argumenten unterlegt
wurde, einem Druck, an dem sich auch Ihre eigenen Ge-
nerale vor Ort und der Vorsitzende des Bundeswehrver-
bandes beteiligt haben. Das norwegische Beispiel zeigt
aber, auf welchem Irrweg Sie voranschreiten. Zug um
Zug lassen Sie zu, dass Deutschland immer tiefer in ei-
nen neokolonialen Krieg verstrickt wird, der den Wider-
stand der Afghanen gegen Besatzung und Besetzung
brechen soll.

Die Zahl der Anschläge im Winter 2007/2008 ist si-
gnifikant höher als ein Jahr zuvor. Was dies für den
Sommer bedeuten kann, kann sich jeder ausrechnen.
Wollen Sie dann wiederum militärisch eskalieren? Gene-
ral Kasdorf, der Chef des ISAF-Stabes, hat am 17. Ja-
nuar in einem FAZ-Interview schon Kampfpanzer ins
Gespräch gebracht.

Ich kann Ihnen nur eines sagen: Hören Sie auf, sich
von Generälen politisch beraten zu lassen!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wohin das führt, hat schon Hindenburg gezeigt und zeigt
heute der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militäraus-
schusses Naumann mit seinen hanebüchenen Forderun-
gen nach einer nuklearen Ersteinsatzdoktrin für die
NATO. Stimmen Sie stattdessen dem Antrag der Linken
zu, damit Sie nicht ebenso von Ihren Sünden eingeholt
werden wie jetzt im Fall Kosovo!

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613908400

Der Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Thomas

Kossendey hat jetzt das Wort.

T
Thomas Kossendey (CDU):
Rede ID: ID1613908500


Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Präsiden-
tin! Ich bedanke mich im Namen der Bundesregierung
für die intensive Anteilnahme, die das Parlament an der
möglichen Entsendung einer Quick Reaction Force nach
Afghanistan nimmt. Ich will allerdings neben den vielen
konstruktiven Beiträgen, die es hier gegeben hat, sehr
deutlich sagen: Das, was die Kollegen Lafontaine und
Gysi hier vorgetragen haben, gehört einer Art Demago-
gie an, die wir in Deutschland eigentlich überwunden
glaubten.






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der LINKEN)


Über diese Einheit, die möglicherweise in Afghanis-
tan ihren Dienst tun soll, ist hier einiges gesagt worden,
was nicht ganz richtig war. Deswegen lassen Sie mich
noch einmal einige Fakten zusammentragen:

Im November hat unser Generalinspekteur die Gene-
ralinspekteure der anderen im Norden Afghanistans ver-
tretenen Nationen zu einer Besprechung über die Frage
eingeladen, wer nach dem Ausscheiden der Norweger
die Quick Reaction Force übernimmt. Daraufhin hat die
NATO eine Umfrage unter den zehn beteiligten Natio-
nen veranstaltet, die Ende Januar beendet sein soll. Bis
dahin sollen mögliche Kontingente für die Nachfolge der
Norweger genannt werden. Die Ergebnisse werden dann
ausgewertet und am 7./8. Februar in Vilnius zu einer
konkreten Entscheidung gerinnen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Aber wir wollen vorher eine Entscheidung des Parlamentes!)


– Lieber Herr Gehrcke, halten Sie doch die NATO nicht
für so kleinkariert, dass sie auf deutsche Landtagswahlen
Rücksicht nimmt! Ich glaube, da gibt es andere Krite-
rien.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja, das glaube ich auch!)


Ich denke, wenn die Entscheidung ansteht, wird das
Ministerium die entsprechenden Ausschüsse und das
Parlament unterrichten. Dann können wir gerne in Ruhe
weiter darüber diskutieren.

Lassen Sie mich aber zu der Art und Weise, wie die
Quick Reaction Force arbeiten soll, noch einige Stich-
worte sagen; die Erfahrungen der Norweger zeigen, was
dort zu tun ist. Die Truppe der Norweger war in den letz-
ten zwei Jahren insgesamt 26-mal im Einsatz, davon
zweimal in Alarmeinsätzen. Im Wesentlichen ging es um
Patrouilleneinsätze, Absicherungsoperationen, den Ein-
satz gegen gewaltbereite Menschenmengen, vor denen
Menschen geschützt werden sollten, auch um Evakuie-
rungsaktionen, Zugriffs- und Durchsuchungsoperationen,
um offensive Operationen gegen gegnerische Kräfte;
außerdem waren sie als taktische Reserve im Norden
Afghanistans eingesetzt.

Ich glaube, diese Truppe ist wichtig, weil dadurch der
Ansatz, den wir mit unseren über 3 000 Soldaten in
Afghanistan verfolgen, unterstützt wird. Das Arbeiten
unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch der zivilen
Hilfsorganisationen wird dadurch sicherer. Ich denke,
deswegen ist es auch wichtig, dass sie gemeinsam mit
den afghanischen Sicherheitskräften, mit der afghani-
schen Armee, die übrigens mittlerweile durch gute Aus-
bildung zur Hälfte aufgebaut worden ist, und mit den af-
ghanischen Polizeikräften, die schon zu einem gerüttelt
Maß existent sind und ihre Aufgabe wahrnehmen, ope-
riert.

Dies bedeutet auch keine neue Qualität unserer Ar-
beit. Das ist zwar eine neue Aufgabe – das sollte man
sehr deutlich sagen –; aber diese Eingreiftruppe war
schon immer eine wichtige Teilkomponente der Arbeit
der Soldatinnen und Soldaten im Norden. Sie wurde bis-
lang von den Norwegern gestellt und unterstand dem
Kommando des deutschen Generals. Das heißt, wir hat-
ten auch bislang schon für die Quick Reaction Force der
Norweger nicht nur eine politische, sondern auch eine
militärische Verantwortung.

Wir brauchten diese Soldaten dort nicht, wenn es
nicht zumindest ein in Teilen feindliches Umfeld gäbe.
Was einige glauben, was unsere Soldaten dort tun könn-
ten – in Oliv Brunnen bohren oder Schulen bauen, sozu-
sagen als Ersatz für das Technische Hilfswerk –, hat Ih-
nen diese Regierung nie vorgegaukelt.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Oh!)


Wir haben immer wieder sehr deutlich gemacht, dass im
Rahmen der ISAF-Operationen Soldaten helfen, aber
auch kämpfen können müssen, um den Aufbau dort vo-
ranzubringen. Sie müssen kämpfen können, wenn es da-
rauf ankommt; das hat Minister Jung in diesem Hause
mehrfach gesagt.

Frau Kollegin Homburger hat die Ausrüstung ange-
sprochen. Ich möchte Sie, Frau Kollegin Homburger,
darauf hinweisen, dass gerade in den letzten zwei Jahren
die Ausrüstung in den Einheiten, die in Afghanistan sta-
tioniert sind, massiv verbessert worden ist. Wir haben ei-
nen Anteil an geschützten Fahrzeugen, der so hoch ist
wie noch nie. Mit Blick auf den Bericht von General
Warnecke sollten Sie sich vielleicht das in Erinnerung
rufen, was gestern im Ausschuss gesagt wurde. General
Warnecke hat an keiner Stelle seines Berichtes die Mei-
nung geäußert, dass die Ausrüstung seiner Einheiten un-
zureichend sei. Er hat Optimierungsbedarf aufgezeigt.
Wir erwarten von unseren Kommandeuren, dass sie in
ihren Berichten die Situation ehrlich und ungeschönt
darstellen.

Ich komme nun zu dem vom Stern abgedruckten
Buch, das hier erwähnt worden ist. Das Ministerium hat
jedes einzelne Kapitel daraufhin durchgesehen, was so-
wohl für deutsche wie auch für NATO-Soldaten zutref-
fen könnte. Wir haben bei keinem dieser Vorwürfe von
Menschenrechtsverletzungen einen präzisen Anhalts-
punkt dafür gefunden, dass sie zutreffen könnten. Das
Beispiel mit den Äpfeln haben wir ausführlich bespro-
chen. Wir haben bei unseren Verbänden und bei allen an-
deren NATO-Verbänden nachgeforscht, ob es irgendje-
manden gibt, der davon Kenntnis hat. Es hat sich
niemand gemeldet. Ich muss Sie fragen: Wie glaubwür-
dig ist eigentlich ein Zeuge, der fünf Jahre mit diesem
schrecklichen Geheimnis lebt, um es dann – wahrschein-
lich gegen Geld – einer Illustrierten zu verkaufen? Sie
sollten bei der Nennung von Zeugen etwas vorsichtiger
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Kollege Gysi hat wieder einmal gefragt: Was hat
das, was wir als QRF bezeichnen, mit den Rechten von
Frauen, mit dem Bau von Schulen usw. zu tun? Sehr






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Thomas Kossendey
viel, Herr Kollege Gysi. Denn die Frauen könnten heute
nicht frei in Afghanistan leben, wenn es dort nicht die
ISAF-Truppe gäbe.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Stimmt doch alles gar nicht! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


Die Schulen würden nicht wieder aufgebaut, wenn es die
Truppe dort nicht gäbe. Es wären dort auch keine
8 Millionen Schülerinnen und Schüler in der Lage, in die
Schule zu gehen, wenn wir dort nicht wären.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden an unserem Konzept festhalten. Es lassen
sich für unsere Aufgabe vier Stränge nennen: Wir wer-
den schützen, helfen, vermitteln, und wir werden da, wo
es notwendig ist, auch kämpfen. Das ist ein Auftrag, den
unsere Soldaten dort schon haben. Wir werden auch in
Zukunft so handeln, wie es der Deutsche Bundestag be-
schlossen hat. Egal um welche Aufgabe unserer Solda-
ten es sich in Afghanistan handelt: Wir werden sie man-
datskonform wahrnehmen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sagen Sie doch einmal etwas zu den gezielten Tötungen!)


– Herr Kollege Gehrcke, zu dem Thema „gezielte Tötun-
gen“ wird der Kollege Ströbele eine sehr ausführliche
Antwort bekommen. Denn das, was Sie aus dem Inter-
view von General Kasdorf herauslesen, nämlich dass
sich unsere Soldatinnen und Soldaten dort möglicher-
weise völkerrechtswidrig verhalten, trifft in keinem ein-
zigen Fall zu. Dies wird auch in Zukunft nicht so sein,
weil sich unsere Soldatinnen und Soldaten nach den ih-
nen vorgegebenen Regeln richten. Darauf können Sie
sich verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir werden mandatskonform arbeiten. Wir werden in
der Nordregion bleiben und die Obergrenze von
3 500 Soldaten einhalten. Wenn irgendein Einsatz außer-
halb des Nordens erforderlich sein sollte, werden wir
dies so regeln, wie es durch das Mandat festgelegt wor-
den ist. Wir werden darüber in den Ausschüssen berich-
ten. Von der politischen Leitung wird dann entschieden.
Daran brauchen Sie keinen Zweifel zu haben. Das haben
wir in der Vergangenheit auch so gemacht.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich bitte Sie alle
ganz herzlich um Ihre Unterstützung hinsichtlich einer
sachgerechten Information über den Afghanistan-Ein-
satz vor allem mit Blick auf mögliche Veränderungen.
Wir brauchen in Afghanistan einen langen Atem. Unsere
Maßnahmen und die unserer Partner zur Ausbildung der
afghanischen Streitkräfte und der afghanischen Polizei
beginnen langsam Früchte zu tragen. Was der Kollege
Nachtwei in Bezug auf die Polizeiausbildung angemahnt
hat, ist ein Kapitel – das wissen wir aus langen Beratun-
gen im Ausschuss –, das uns natürlich nach wie vor be-
schäftigt. Wir werden Ende März mit 195 Kräften bei
EUPOL vertreten sein. Wir werden durch die Verstär-
kung der Feldjäger die Arbeit effektiver gestalten. Es ist
uns aber auch klar, dass es dabei zu Rückschlägen kom-
men kann.

Wir werden uns davon nicht beirren lassen und wer-
den unseren Beitrag im Rahmen eines vernetzten Ansat-
zes auch in Zukunft einbringen. Wer heute den Abzug
unserer Soldatinnen und Soldaten fordert, der gibt grü-
nes Licht für die Rückkehr des Terrors. Das kann nicht
unser Wille sein.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613908600

Für die SPD-Fraktion ist Detlef Dzembritzki der

nächste Redner.


(Beifall bei der SPD)



Detlef Dzembritzki (SPD):
Rede ID: ID1613908700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren wahrlich nicht zum ersten Mal über das
Thema Afghanistan. Einige in diesem Haus wollen aller-
dings immer wieder den Eindruck erwecken, als wenn
wir über die Ereignisse, die im Augenblick in Afghanis-
tan stattfinden, überrascht sein müssten.

In einigen Reden ist gesagt worden, es gehe nur um
Wahlkampf. Herr Gysi, Sie haben diesen Gedanken hier
zu Recht eingebracht. Auch ich finde es bedrückend, mit
welchen stilistischen Mitteln bei uns Wahlkampf geführt
wird. Eines muss ich Ihnen allerdings sagen: Sie werfen
dem hessischen Ministerpräsidenten zu Recht vor, er
versuche, mit Ausländerfeindlichkeit Wahlkampf zu ma-
chen. Ich kann Sie nur dringend bitten, nun nicht den
Versuch zu machen, mit Populismus, der noch überzoge-
ner ist, gleichzuziehen und unsere Bevölkerung im
Wahlkampf mit völlig falschen Informationen zu beden-
ken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Lafontaine, ich finde es wirklich ver-
messen,


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Was war denn falsch?)


wenn Sie aus einem Buch zitieren, dessen Argumente
nicht belastbar sind, und wenn Sie den Eindruck erwe-
cken – dies versuchen Sie zumindest –, wir, das Parla-
ment, könnten mit dem Tatbestand einverstanden sein,
den Sie uns hier vorgeworfen haben. Dieser Versuch ist
in schlimmer Weise populistisch und reicht fast an
demagogisches Verhalten heran.

Herr Kollege Lafontaine, ich habe alle Ihre Zurufe bei
den Reden zuvor ertragen müssen. Sie sagen, es gehe um
Menschenleben. Natürlich geht es um Menschenleben:
um das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, um das
Leben unserer Entwicklungshelferinnen und Entwick-
lungshelfer und um das Leben der afghanischen Bevöl-
kerung, um Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen
sind.






(A) (C)



(B) (D)


Detlef Dzembritzki

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Bei dem furchtbaren Attentat in der Zuckerfabrik in
Baghlan ist kein einziger Militär ums Leben gekommen.
Es waren ausschließlich afghanische Zivilisten, Abge-
ordnetenkolleginnen und -kollegen, die dort umgebracht
worden sind. Natürlich geht es um Menschenleben.
Menschen zu schützen, das ist mit die Aufgabe, die un-
sere Bundeswehr und ihre Partner dort haben.

Es ist doch überhaupt nicht wegzudiskutieren, dass
die Lage in Afghanistan höchst schwierig und komplex
ist. Wenn das nicht der Fall wäre, wären wir nicht da. Ich
habe vorhin gehört, dass wir von der Koalition den Ein-
druck erweckt hätten, bei der Bundeswehr handele es
sich um eine Art THW. Ich habe von dieser Stelle aus
mehrfach darauf hingewiesen, dass wir zur Bewältigung
der Aufgaben dort nicht das THW entsenden können,
sondern dass wir auf das Militär, auf eine entsprechende
Robustheit, angewiesen sind, um uns die notwendige
Zeit, die wir für den zivilen Aufbau brauchen, zu erar-
beiten, der ohne diesen militärischen Schutz nicht denk-
bar ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kollege Nachtwei hat dankenswerterweise die Mei-
nungsumfragen, die zu unterschiedlichen Zeiten zum ei-
nen von kanadischer Seite und zum anderen von der
ARD angestellt worden sind, angesprochen. Ich fand das
hochinteressant, weil wir hier ja häufig über ein Bild dis-
kutieren, das zum Teil nur durch die veröffentlichte Mei-
nung gezeichnet wird und nicht durch Präsenz im Land.
Wir haben hier zum Beispiel gehört, dass die große
Mehrheit der afghanischen Bevölkerung mit der militäri-
schen Präsenz nicht nur einverstanden ist, sondern sie
auch weiterhin wünscht. Das Empfinden ist dort doch
nicht, dass wir als Besatzer oder als Kriegstreiber ge-
kommen wären. Die Menschen wissen vielmehr, dass
wir eine Schutzfunktion wahrnehmen. Sie wären bitter
enttäuscht, wenn wir aus Afghanistan herausgingen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])


Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, sich diese
Untersuchung anzuschauen, dann stellen Sie natürlich
fest, dass die Hoffnungen nicht voll erfüllt worden sind.
Sie sehen auch, dass es 2006 und 2007 minimale Enttäu-
schungen gab. Sie werden aber feststellen, dass eine
breite Mehrheit die Erwartung hat, dass die Solidarität
mit Afghanistan weitergeht; sie ist im Norden noch grö-
ßer als im Süden. 60 Prozent der Menschen in ganz
Afghanistan sind der vollen Überzeugung, dass wir dort
unsere Arbeit leisten müssen. Schauen Sie sich zum Bei-
spiel die Zustimmung zur Militärausbildung und zur
Polizei an: Über 75 Prozent der Menschen in Afghanis-
tan finden das richtig.

Umso wichtiger ist es dann – ich unterstreiche dies
auch von unserer Seite noch einmal –, die Effektivität im
zivilen Tun enorm zu erhöhen. Dies gilt für die Polizei,
die Justiz, die Bildung und die Gesundheit. All die Dis-
kussionen, die wir hier im Augenblick führen, ob nun
zur schnellen Eingreiftruppe oder zu unserem militäri-
schen Einsatz, machen nur dann Sinn, wenn wir in der
Lage sind, im zivilen Bereich die Erwartungen zu erfül-
len, die etwa im Afghanistan Compact zusammengetra-
gen worden sind und die die Menschen in Afghanistan
an uns haben. Nur dann ist die Sinnhaftigkeit des militä-
rischen Handelns gegeben.

Deswegen mein dringender Appell an die Bundes-
regierung: Nehmen Sie all die Debatten ernst, die wir ge-
rade zum zivilen Bereich geführt haben, unterstützen Sie
die internationale Zusammenarbeit und steigern Sie die
Effektivität. Die Menschen in Afghanistan, aber auch die
Menschen hier in Deutschland warten darauf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613908800

Hans Raidel spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1613908900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Damit es nicht untergeht, will ich zuallererst un-
seren Soldaten im Einsatz für ihren verantwortungsvol-
len Dienst herzlich danken und sie vor jedem Klamauk
und Krawall sowie vor jeder unseriösen Behandlung die-
ses Themas in Schutz nehmen. Das ist notwendig.

Lieber Herr Lafontaine, lieber Herr Gysi, Sie wollen
doch ernst genommen werden. Denken Sie bitte einmal
darüber nach, dass es von der Erhabenheit zur Lächer-
lichkeit nur ein ganz kleiner Schritt ist.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Wir sehen gerade ein hervorragendes Beispiel dafür!)


– Ja, an Ihnen; das haben Sie heute bewiesen. Das ist ge-
nau der Punkt.

Meine Damen und Herren, Fakt ist: Wir haben dieses
Mandat beschlossen und unsere sicherheitspolitischen
Interessen und Verpflichtungen seinerzeit ausreichend
begründet. Die Zielsetzungen und die politischen Vorga-
ben sind unverändert geblieben. Wir bewegen uns mit
unseren Aufgaben, auch wenn neue dazukommen, nur
innerhalb dieses Mandates. Alles andere erforderte eine
neue Beschlussfassung in diesem Hause.

Derzeit liegt noch keine konkrete Anfrage vor. Diese
Debatte ist also eigentlich nicht zwingend erforderlich.
Sie macht nur dann Sinn, wenn wir militärisch wie poli-
tisch die richtigen Signale geben. Das erste Signal heißt
Solidarität. Unsere Verbündeten bei der NATO und un-
sere Partner im Einsatz haben einen Anspruch darauf
– dies sollen sie zweifelsfrei wissen –, dass wir unverän-
dert engagiert bleiben. Wir tragen für die Nordregion in
Afghanistan die Führungsverantwortung, in die übrigens
auch die Norweger eingeschlossen sind. Wenn sich Nor-
wegen jetzt aus dieser Aufgabe zurückzieht, bleiben sie
nach ihrem eigenen Bekunden mit einer neuen Aufga-
benstellung weiterhin dort.






(A) (C)



(B) (D)


Hans Raidel
Für uns bedeutet dies Folgendes: Fiele diese Schutz-
komponente ersatzlos weg, entstünde ein nicht vertretba-
res Sicherheitsrisiko für die ISAF insgesamt, aber natür-
lich insbesondere für unsere Soldaten. Im Sinne der
Sicherheitsvorsorge ist es also zwingend erforderlich,
dass diese Lücke wieder geschlossen wird. Für unseren
eigenen Selbstschutz ist es notwendig, auch darüber
nachzudenken, diese Aufgabe selbst zu übernehmen, na-
türlich bei bester Ausbildung und bester Ausrüstung so-
wie mit besten Kräften und bei entsprechend großem
Verantwortungsbewusstsein der politischen und militäri-
schen Führung.

Das zweite Signal sollte an unsere Bevölkerung ge-
hen. Unsere Sicherheitsinteressen müssen der Bevölke-
rung immer wieder klargemacht werden. Es muss
hervorgehoben werden, dass unser ISAF-Einsatz ein
ernsthaftes politisches und militärisches Engagement ist,
das, wie ich meine, mehr gesellschaftliche Aufmerksam-
keit verdient.

Jeder Bürger weiß – wir sollten das noch einmal klar-
machen –, dass solche Einsätze immer auch ein Wagnis
für Leib und Leben unserer Soldaten sind. Vorhin wurde
gesagt, dass der Tod näherrückt. Das ist je nachdem, wie
sich kritische Situationen entwickeln, durchaus richtig
und darf auch nicht verschwiegen werden.

Das dritte Signal muss an unsere Soldaten gehen. Von
Anfang an war klar, dass das Mandat auch Bewährung
im Kampf bedeuten kann. Deswegen darf es keinen
Zweifel daran geben, dass wir, das Parlament bzw. die
Regierung, in schwierigen und fordernden Situationen
eine besondere Verantwortung haben und an der Seite
unserer Soldatinnen und Soldaten stehen.

Wir müssen die politische Verantwortung und die
Fürsorge für unsere Soldaten in den Mittelpunkt stellen.
Ich meine, alles andere wäre ein falsches Signal. Deswe-
gen ist die Forderung richtig, den Ausschuss sehr detail-
liert über das Einsatzkontingent, die Ausbildung und die
Ausrüstung zu informieren, damit wir dazu beitragen
können, die Weichen richtig zu stellen. Wir haben volles
Vertrauen in die militärische und politische Führung.

Das vierte Signal muss an die afghanische Regierung
und die afghanische Bevölkerung gehen. Sie sollen wis-
sen, dass wir dort verstärkt engagiert bleiben. Das gilt
auch für die militärische Versorgung und Absicherung.
Denn wie jeder weiß, ist ohne diese Absicherung der
Wiederaufbau in allen Bereichen der Daseinsvorsorge
nicht möglich.

Das fünfte Signal muss an die Taliban gehen. Sie
müssen verstehen lernen, dass wir mit verbesserten ope-
rativ-taktischen Maßnahmen auch ein klares politisches
Zeichen für unseren festen Willen geben, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613909000

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1613909100

– in Afghanistan weiter für Menschenwürde, Demokra-
tie, Frieden, Freiheit und Wohlstand einzutreten. Ich
hoffe, dass diese Zeichen dort auch richtig verstanden
werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613909200

Herr Kollege!


Hans Raidel (CSU):
Rede ID: ID1613909300

Für den Fall, dass die NATO-Anfrage kommt, signali-

sieren wir schon heute unsere positive Einstellung dazu.
Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613909400

Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde bekommt

der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1613909500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Lafontaine, lieber Kollege Gysi, ich habe
eine herzliche Bitte, auch wenn ich nicht weiß, ob das
noch zu Ihnen vordringt


(Widerspruch bei der LINKEN)

– ich bin mir da nicht ganz sicher –: Es geht in der Tat
um Menschenleben, um Tod und um Gewalt. Beides gibt
es in diesem Land, wie Sie wissen. Herr Lafontaine, ich
darf Sie als früheren Sozialdemokraten in allem Freimut
bitten, eine Lehre, die uns Herbert Wehner mitgegeben
hat, sehr ernst zu nehmen. Diese Lehre besagt, dass man
sich in den politischen Debatten auch darüber im Klaren
sein sollte, ob nicht die Argumente und Instrumente, die
man in der Debatte gebraucht, bestimmte Grenzen über-
schreiten. Wenn – wie Herbert Wehner, glaube ich, zu-
treffend festgestellt hat – kriegswissenschaftliche Me-
thodik in einer Debatte in der Weise eingesetzt wird,
dass die Verantwortung der Politik im Mark getroffen
werden soll, dann muss man genau wissen, welche Gren-
zen man überschreitet.

Was Sie vorgetragen haben, hat die Grenzen über-
schritten.


(Beifall bei der SPD)

Das will ich Ihnen deutlich sagen.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Grenzüberschreitung im militärischen Sinne ist etwas ganz anderes!)


Es gibt nämlich sehr wohl das Problem, lieber Kollege
Lafontaine, dass man Menschenleben als Instrument
einsetzt. Sie sind derjenige, der den Tod instrumen-
talisiert und als Waffe in der Politik benützt. Damit ist
die Grenze deutlich überschritten, lieber Kollege Lafon-
taine.


(Beifall bei der SPD – Lachen bei der LINKEN – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Ach Gott, ach Gott! Mach dich doch nicht lächerlich!)


Ich will dazu nur eines sagen:

(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Er ist immer bei der Friedensdemo hinter mir mitgerannt!)







(A) (C)



(B) (D)


Gert Weisskirchen (Wiesloch)

Es wird die Zeit kommen, in der über Schuld und Ver-
antwortung im Detail debattiert werden wird. Ich rekla-
miere, dass wir, die Sozialdemokratie, in jedem Fall
unserer historischen Verantwortung dann, wenn es da-
rum ging, unschuldigen Menschen zu helfen und, wenn
es sein musste, auch begrenzte militärische Gewalt ein-
zusetzen, gerecht wurden und wir uns in langwierigen,
ernsthaften und quälenden Diskussionen darüber ver-
ständigt haben. Im Falle von Afghanistan sind wir diesen
Weg gegangen, und er ist richtig, weil dies den Men-
schen in Afghanistan hilft, ihren eigenen, selbstbestimm-
ten Weg zu gehen, lieber Kollege Lafontaine.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Der entscheidende Schlüssel – insofern finde ich es
etwas bedauerlich, dass wir dieses Jahr gerade mit dieser
Diskussion beginnen –, um Afghanistan voranzubringen,
ist Entwicklung.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Was machen Sie denn dafür?)


Der Außenminister sagte, dass wir den Menschen in Af-
ghanistan in diesem bitteren Winter helfen und ihnen zu-
sätzliche Millionen an Finanzmitteln zur Verfügung stel-
len. Die Menschen in Afghanistan haben Angst vor dem
Wintereinbruch, der gegenwärtig erkennbar ist. Wir wol-
len ihnen helfen, damit sie über den Winter hinwegkom-
men und im Frühling und Sommer Perspektiven haben,
ihr Land durch Arbeit voranzubringen. Das ist es, was
nötig ist. Wir müssen mithelfen, damit dieses Land eine
Chance hat, sich selbst zu verändern und die Situation zu
verbessern.

Lieber Kollege Lafontaine, wir alle sollten die
Ängste, Sorgen und Nöte, die alle in diesem Land haben,
nicht instrumentalisieren, sondern wir sollten unsere
Verantwortung wahrnehmen und helfen, damit Afgha-
nistan eine Chance hat, sich so zu entwickeln, dass ein
ziviler Aufbau in diesem Land möglich ist. Das ist un-
sere erste und wichtigste Aufgabe hier in diesem Parla-
ment. Wir erfüllen diese Aufgabe; aber wir wissen auch,
dass es notwendig ist, diesen Aufbau in begrenzter
Weise militärisch zu sichern und zu unterstützen. Die
Afghanen sollen wissen: Wir lassen sie nicht allein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613909600

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kinderarmut bekämpfen – Kinderzuschlag
ausbauen
– Drucksache 16/6430 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Hierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613909700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor

mir wieder vorgeworfen wird, dass wir Wahlkampf ma-
chen – man traut sich kaum noch, etwas zu sagen –,
räume ich ein, dass ich wirklich viele Menschen davon
überzeugen möchte, ernsthaft etwas gegen Kinderarmut
nicht nur bei uns hier in Deutschland, aber auch bei uns
zu tun.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir sind eine der reichsten Gesellschaften auf der
Erde. Das kann niemand leugnen. Wir sind eines der
ökonomisch stärksten Länder. Es besteht aber eine zu-
nehmende Kinderarmut.

Es gibt in jeder Gesellschaft nur eine unschuldige
Gruppe. Wir alle gehören nicht dazu. Wir alle haben
schon unsere Fehler begangen etc. Es gibt aber eine un-
schuldige Gruppe: die Neugeborenen. In Deutschland
liegen aber schon Welten zwischen den Chancen des ei-
nen und der anderen Neugeborenen. Die Gesellschaft
kann all diese Probleme nicht lösen; das weiß ich. Wir
müssen aber ernsthafte Maßnahmen ergreifen, um Kin-
derarmut zu überwinden. Kinderarmut kann man natür-
lich nur überwinden, wenn man Elternarmut überwindet.
Einen anderen Weg gibt es nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ich will Ihnen, Sozialdemokraten und Grünen, eine
Sache sagen – Sie werden die Sache nicht los; es sei
denn, sie korrigieren sich an diesem Punkt mal richtig –:
Das Deutsche Kinderhilfswerk hat am 15. Dezember
2007 im Kinderreport Deutschland 2007 festgestellt,
dass sich die Zahl der armen Kinder in Deutschland seit
der Einführung von Hartz IV Anfang 2005 verdoppelt
hat; das ist eine direkte Folge. Es sind derzeit 2,6 Millio-
nen.

Jetzt möchte ich etwas zum Wahlkampf sagen: So-
wohl Herr Jüttner als auch Frau Ypsilanti sagen: Die
Agenda 2010 ist richtig. Hartz IV ist richtig. – Wenn
man so etwas sagt, dann will man die Kinderarmut fort-
setzen. Wir aber wollen hier einen anderen Weg gehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und
Jugendberufshilfe hat für den Vergleichszeitraum 2005
und 2006 festgestellt, dass die Anzahl der Kinder, die
auf Sozialgeld angewiesen sind, um 12,2 Prozent gestie-
gen ist. Sie reden immer vom Aufschwung. Sie sagen, er
komme überall an. Die Realität ist aber, dass wir immer
mehr arme Kinder in Deutschland haben.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ich sehe diese Kinder in Berlin und in anderen Städ-
ten, auch in Suppenküchen.

Ich möchte Herrn Koch einmal sagen: Wenn man et-
was gegen Jugendkriminalität und gegen Gewaltbereit-
schaft tun will, muss man dort ansetzen. Gewaltbereit-
schaft entsteht, wenn ich Kinder in die Suppenküche
schicke und sie damit frustriere.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das Gefängnis kommt viel zu spät. Hier müssen wir frü-
her etwas tun.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und vor allem Arbeitsplätze schaffen!)


Wir haben immer mehr Kinder in Ostdeutschland, de-
ren Familien auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind,
und vor allem ausländische Jugendliche, deren Familien
zunehmend darauf angewiesen sind. Die Bundeskanzle-
rin hat am 28. November 2007 hier im Bundestag zum
Thema Kinderzuschlag Folgendes erklärt – ich bitte heute
hier um Aufklärung –:

Wir wollen, dass niemand wegen der Kinder in die
Bedürftigkeit fällt; deshalb muss der Kinderzu-
schlag weiterentwickelt werden.

Dann:

Deshalb werden wir den Kinderzuschlag erhöhen
und vereinfachen.

Daraufhin hat unsere Fraktion eine Kleine Anfrage an
die Bundesregierung gestellt. Zwei Wochen später, am
14. Dezember 2007, kam die Antwort der Familienmi-
nisterin. Was teilte Sie mit? Wörtlich:

Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Kinder-
zuschlag zu erhöhen.

Das können Sie in der Drucksache 16/7586 auf Sei-
te 8 nachlesen.

Das heißt, die Kanzlerin erklärt in der Debatte hier
gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik
Deutschland, dass sie das Kindergeld erhöhen wird.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das Kindergeld?)


Die zuständige Ministerin sagt zwei Wochen später: An
eine Erhöhung wird gar nicht gedacht.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das Kindergeld wird erhöht!)


Gestern hat sie das im Ausschuss noch einmal bestätigt.
Ich sage Ihnen: Das ist ein Skandal!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Kindergeld oder Kinderzuschlag? – Caren Marks [SPD]: Man sollte schon wissen, wovon man spricht!)

– Kinderzuschlag. Habe ich „Kindergeld“ gesagt? Dann
habe ich mich versprochen; Entschuldigung. Beide
meinten den Kinderzuschlag. Ich rede nicht vom Kinder-
geld, sondern vom Kinderzuschlag. Die Kanzlerin hat
gesagt, dieser Zuschlag werde erhöht; die Familien-
ministerin schließt es aus. Das ist die Wahrheit.

Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt: Der Kinder-
zuschlag ist ohnehin viel zu gering. Er beträgt nur
140 Euro.


(Christel Humme [SPD]: Plus Kindergeld!)


Wissen Sie, wie viele Familien den Zuschlag bekom-
men? Geplant waren 530 000 Familien. Bis jetzt sind es
gerade mal 130 000. Also haben wir uns entschieden,
fünf Forderungen zu stellen.

Erstens. Erhöhung und Reform des Kinderzuschlags.
Wir müssen den Kinderzuschlag von maximal 140 Euro
erhöhen, und zwar für unter 14-Jährige auf 200 Euro und
für 14-Jährige und Ältere auf mindestens 270 Euro. Die
Einkommensgrenzen der Eltern nach unten müssen ent-
fallen. Es geht doch nicht an, dass man jemandem sagt:
Sie sind so arm; Sie können schon Sozialhilfe beantra-
gen; dann bekommen Sie keinen Kinderzuschlag mehr. –
Wo leben wir denn hier?


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Diese Grenzen müssen entfallen. Wenn das geschieht,
wird auch der Kreis derjenigen viel größer, die den Kin-
derzuschlag beziehen. Wir müssen das Wohngeld um
15 Prozent erhöhen, weil es entsprechende Mietsteige-
rungen gegeben hat.

Wir müssen zweitens den Hartz-IV-Regelsatz für Kin-
der erhöhen, und zwar auf rund 300 Euro; sonst können
Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger nicht dafür
sorgen, dass ihre Kinder in der Bundesrepublik Deutsch-
land auch nur halbwegs chancengleich aufwachsen kön-
nen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was halten Sie von mehr Arbeitsplätzen?)


Dann kommen wir zu einem dritten Punkt – er ist mir
ganz wichtig –: Die öffentliche Bildung muss gebühren-
frei sein und muss flächendeckend in höchster Qualität
bereitgestellt werden. Wir sind hier nicht in Dubai. Un-
sere Gold- und Erdölvorkommen sind sehr begrenzt. Die
Stärke Deutschlands bestand immer darin, eine top aus-
gebildete Bevölkerung zu haben. Jetzt sind wir in Europa
unterdurchschnittlich geworden. Das ist die Wahrheit.

Der Punkt ist, dass Kinder aus ärmeren Familien be-
sonders schlechte Chancen in unserem Bildungssystem
haben. Das muss sich ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb müssen wir ganz andere Angebote machen, ob
in Krippen, Kindertagesstätten, Schulen oder Unis. Dazu
gehört auch ein kostenloses Mittagessen. Ich möchte
nicht, dass Schulkinder in die Suppenküche gehen müs-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
sen. Das demütigt sie, das frustriert sie. Das können wir
uns als eines der reichsten Länder der Erde nicht leisten.


(Beifall bei der LINKEN)


In dem Zusammenhang möchte ich auch darauf hin-
weisen, dass der Anteil der Kinder aus einkommensstar-
ken Familien an den Studierenden enorm zugenommen
hat. Dagegen ist der Anteil der Kinder aus einkommens-
schwachen Familien an den Studierenden von 23 auf
12 Prozent gesunken. Damit liegt bei uns der Anteil aus
dieser Gruppe noch unter dem Niveau in den USA. Das
ist doch nicht hinnehmbar.

Wir brauchen keine Studiengebühren. In Berlin gibt
es keine Studiengebühren. Wissen Sie, was jetzt passiert,
nachdem Hessen, Niedersachsen und viele andere Län-
der Studiengebühren eingeführt haben? Die Kinder aus
ärmeren Familien kommen zum Studieren nach Berlin.
Nun regen sich natürlich die Berliner Eltern auf, weil
ihre Kinder hier keinen Platz mehr bekommen. So geht
es nicht. Es darf in ganz Deutschland keine Studienge-
bühren geben, wenn wir Chancengleichheit bei der Bil-
dung herstellen wollen.


(Beifall bei der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir freuen uns über jeden, der kommt!)


Wir brauchen auch mehr Gesamtschulen. Bis zur
zehnten Klasse können alle Kinder sehr wohl gemein-
sam zur Schule gehen. Damit erhöhen sich nämlich die
Bildungschancen für Kinder aus ärmeren Familien ganz
gewaltig. Behaupten Sie bloß nicht, dass man da
schlecht ausgebildet würde. Ihre Bundeskanzlerin hat
eine Gesamtschule besucht; ich habe eine Gesamtschule
besucht. Auf uns trifft vieles zu, aber nicht, dass wir
schlecht ausgebildet wären. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Große Unterschiede!)


Weiterhin müssen wir den Sonderfonds zur Stärkung
der Kinder- und Jugendarbeit aufstocken. Das haben wir
beantragt. Mindestens 150 Millionen Euro brauchen
Bund, Länder und Kommunen jährlich.

Schließlich muss auch das Kindergeld aufgestockt
werden, in einem ersten Schritt auf 200 Euro. So können
wir Kinderarmut bekämpfen.

Jetzt werden Sie argumentieren, das alles sei nicht be-
zahlbar. Dazu sage ich Ihnen nur eines: Die Steuer- und
Abgabenquote, also nicht nur die Steuerquote, beträgt in
Deutschland 35,6 Prozent. Im EU-Durchschnitt unter
Einschluss von Bulgarien, der Slowakei, von Estland
etc. beträgt die Steuer- und Abgabenquote 40,8 Prozent.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Also sollen wir Steuern erhöhen?)


Würden wir sie nur auf den EU-Durchschnitt anheben,
hätten wir jährlich 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen.
Damit könnten wir all das bezahlen und Kinderarmut in
Deutschland überwinden.

(Beifall bei der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist interessant! Steuern rauf!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613909800

Die Kollegin Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1613909900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin baff. Herr Gysi, dass ich auf Sie direkt antworten
darf, ist mir eine besondere Freude. Sie haben sich ja ge-
rade so aus dem Fenster gelehnt, dass die Zuhörer und
Zuschauer vor dem Fernseher und hier auf der Tribüne
glauben, Sie wollten etwas gegen Kinderarmut tun und
sie sogar beseitigen.


(Zurufe von der LINKEN: Ja!)


– Wollen Sie?


(Zurufe von der LINKEN: Ja!)


Dann frage ich Sie ernsthaft, wie Sie es mit Ihrem Ge-
wissen verantworten können, gegen Kinderarmut zu
kämpfen und zugleich einem Konzept wie dem der
„Arche“ in Berlin – in diesem Land tragen Sie ja auch
Regierungsverantwortung –, das bundesweit Anerken-
nung findet, die Mittel komplett zu streichen.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist Theorie und Praxis!)


In der „Arche“ bekommen Kinder eine warme Mahlzeit,
wenn sie sie brauchen; indem in ihr Kinder betreut wer-
den, übernimmt sie auch Aufgaben der Jugendhilfe.
Sieht so Ihre Bekämpfung von Kinderarmut aus?


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist die Realität!)


Sie haben in Berlin die Mittel für die Kinder- und Ju-
gendhilfe um 160 Millionen Euro gekürzt. Jetzt behaup-
ten Sie hier ernsthaft, Sie wollten etwas dagegen tun?
Eine Lachnummer ist das.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich könnte die Liste noch verlängern und Sie an vie-
len Beispielen vorführen.


(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Das ist ja das Herrliche, Herr Gysi: Sie verkünden
Dinge, die Ihnen die Menschen draußen gerne glauben,
weil sie denken, Sie erzählten hier die Wahrheit. Aber in
Wirklichkeit erzählen Sie wissentlich die Unwahrheit.
Sie wollen gar nicht das, was Sie hier erzählen. Ihnen
geht es nur um Propaganda und Populismus.


(Ina Lenke [FDP]: Ja, genau!)


Das möchte ich aber nicht, weil die Sache zu wichtig ist.






(A) (C)



(B) (D)


Ingrid Fischbach
Ich wäre froh, Herr Gysi, wenn Sie jetzt zuhörten,
denn Sie können jetzt noch etwas lernen. Sie haben näm-
lich offensichtlich noch nicht verstanden, worum es bei
dem Kinderzuschlag eigentlich geht. Deshalb werde ich
Ihnen jetzt etwas dazu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Außerdem werde ich Ihnen gleich noch ein Wort zur
Kanzlerin sagen. Hören Sie zu! Sie lernen etwas für das
Leben. Das ist manchmal ganz gut.

Herr Gysi hat hier über den Kinderzuschlag gespro-
chen. Ich habe festgestellt, dass er nicht verstanden hat,
warum der Kinderzuschlag zu welchem Zeitpunkt und
mit welchen Zielsetzungen eingeführt wurde. Als er zu
Beginn des Jahres 2005 eingeführt wurde, sollte denjeni-
gen Eltern geholfen werden, die, nur weil sie Kinder ha-
ben – sie selbst haben genügend Einkommen, um ihren
eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten –, Arbeitslosen-
geld II beziehen müssen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613910000

Frau Fischbach!


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1613910100

Deshalb war der Ansatz, an dieser Stelle etwas zu tun,

richtig und wichtig.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613910200

Frau Fischbach, der Kollege Wunderlich möchte eine

Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1613910300

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613910400

Bitte schön, Herr Wunderlich.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613910500

Frau Fischbach, es geht um das Thema „Arche“. Der

Berliner Senat, der Mangel bewirtschaften und verwal-
ten muss, hat die Zuschüsse für den Verein „Arche“, der,
um seinen Betrieb aufrechtzuerhalten, jährlich Hundert-
tausende von Euro – exakte Zahlen kann ich nicht nen-
nen – braucht, gekürzt. Dieser Zuschuss war im Verhält-
nis zu den Betriebskosten gering, weil diese Kosten
durch Spendenmittel bei weitem gedeckt wurden. Daher
hat der Senat die eingesparten Mittel lieber Vereinen ge-
geben, die ohne diese Zuschüsse nicht überleben könn-
ten. Stimmen Sie mir zu, dass der Senat damit sozialver-
träglich gehandelt hat?

Im Übrigen ist der Ausbau des Kinderzuschlags im
Koalitionsvertrag vereinbart. Ich weiß nicht, ob Sie mir
auch in diesem Punkt zustimmen können.


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1613910600

Herr Kollege, lesen Sie doch einmal nach, was Ihr

Kollege nach der Abstimmung gesagt hat: Er bedauerte,
dass das abgelehnt werden musste; er hätte gern anders
gehandelt.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Ein weiteres Beispiel. Sie geben mir jetzt die Gele-
genheit, die Situation hier vor Ort – Sie sprechen über
den Berliner Senat – aufzugreifen.


(Zurufe von der LINKEN)


– Ich bin noch nicht fertig. Ich würde auf Ihre Frage,
Herr Wunderlich, gern noch weiter antworten. Ich hoffe,
Sie sind damit einverstanden, Frau Präsidentin. Herr
Wunderlich, Sie geben mir jetzt die Gelegenheit, noch
etwas auszuholen. Das würde ich gerne tun.

Sie haben gerade auch gesagt: Wir wollen, dass jedes
Kind ein kostenloses Mittagessen bekommt.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und in Berlin wird es gestrichen!)


Hier vor Ort hat der Senat beschlossen, den Anteil an der
Finanzierung dieses Vorhabens zu erhöhen. Das, was
man beschlossen hat, sieht aber anders aus, als das, was
zum Beispiel Roland Koch in Hessen oder Christian
Wulff in Niedersachsen gemacht haben. Beide ließen ih-
ren Beschlüssen Taten folgen, das heißt, die Landeszu-
schüsse flossen, unmittelbar nachdem diese Beschlüsse
gefasst worden waren. Hier in Berlin wurde der Be-
schluss gefasst; aber es steht noch gar nicht fest, wie er
umgesetzt werden soll. Obwohl das Ganze seit dem
1. Januar dieses Jahres angeboten werden soll, gibt es
noch nicht die notwendigen Verordnungen. Also wurden
auch hier wieder leere Versprechungen gemacht. So viel
zu Ihrer Arbeit hier im Senat. – Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch den Kinderzuschlag sollte denjenigen Eltern
geholfen werden – an diesem Punkt war ich, bevor der
Kollege Wunderlich den Exkurs in die Berliner Landes-
politik begann –, die wegen der Kosten für ihre Kinder
Arbeitslosengeld II beziehen müssen. Nach geltendem
Recht beträgt der Kinderzuschlag pro Kind bis zu
140 Euro im Monat. Er wird um eventuelle Einkommen
und Vermögen des Kindes gemindert; das ist gar keine
Frage. Die Eltern müssen, um den Kinderzuschlag zu be-
kommen, eine Mindesteinkommensgrenze in Höhe des
Bedarfs der Eltern erreichen und dürfen die Höchstein-
kommensgrenze nicht überschreiten. Außerdem muss im
konkreten Fall die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II
vermieden werden. Die Einkommen aus der Erwerbstä-
tigkeit werden zu 70 Prozent angerechnet. Die Dauer des
Bezuges war auf 36 Monate beschränkt.

Wie Sie gerade schon gemerkt haben, ist es sehr kom-
pliziert; es gibt sehr viele Details. Deshalb hat die Bun-
desregierung in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen – –


(Diana Golze [DIE LINKE]: Vor über zwei Jahren!)


– Über die Dauer haben wir schon das letzte Mal gere-
det, Frau Golze. Angesichts dessen, wie viel Zeit Sie für
etwas brauchen, sollten Sie ganz ruhig sein. – Ich wie-
derhole: Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitions-






(A) (C)



(B) (D)


Ingrid Fischbach
vertrag beschlossen, den Kinderzuschlag zu überarbeiten
und weiterzuentwickeln. Das ist richtig und wichtig. Der
erste Schritt wurde bereits im letzten Jahr vollzogen, als
die Befristung aus der Regelung herausgenommen
wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Jetzt komme ich auf Ihren Irrtum oder auf das Miss-
verständnis bezüglich der Worte der Kanzlerin zu spre-
chen. Auch wir wollen, dass mehr Eltern in den Genuss
des Kinderzuschlags kommen. Wenn sie ihn brauchen,
dann müssen sie die Möglichkeit haben, diesen Zuschlag
zu erhalten. Deshalb werden wir die Anzahl derjenigen,
die den Kinderzuschlag beziehen können, erhöhen. Wir
wollen, dass die Bewilligungsquote höher ist als 12 oder
13 Prozent: Mehr bedürftige Familien sollen den Kin-
derzuschlag bekommen, sodass über 500 000 Kinder
nicht mehr unter die Arbeitslosengeld-II-Regelung fal-
len.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden im Ministerium prüfen, wie wir die Rege-
lung zum Kinderzuschlag in Zukunft vereinfachen und
mehr Transparenz erreichen können.


(Zuruf von der LINKEN: Sie prüfen schon seit zwei Jahren!)


– Sie haben den Antrag im letzten Jahr geschrieben. Jetzt
ist Januar. Insofern sind Sie der Zeit nicht gerade voraus
gewesen. Das hätten Sie eher machen können.

Wir setzen auf drei Bausteine:

Erstens. Das Ministerium will auf die Begrenzung
nach unten und oben verzichten. Wir wollen eine einheit-
liche Bemessungsgrenze einführen, nach der pauschal
gehandelt werden kann. So wollen wir eine flexiblere
Ausgestaltung des Kinderzuschlags ermöglichen. Durch
den Wegfall der Begrenzung nach unten sollen die Eltern
die Möglichkeit haben, zwischen Arbeitslosengeld II und
Kinderzuschlag zu wählen. Das ist richtig und wichtig.
Herr Müntefering lächelt. Ich weiß, dass es zu dem einen
oder anderen Punkt andere Vorschläge gibt. Um der Sa-
che willen werden wir hinsichtlich der Ausgestaltung des
Kinderzuschlages zu einer vernünftigen Einigung kom-
men.

Jetzt muss ich erst einen Schluck trinken. Herr Gysi
hat mich doch erregt. Dass er das noch schafft, hätte ich
nie gedacht.


(Heiterkeit im ganzen Hause)


– Auch bei diesem ernsten Thema sollten wir das Lachen
ab und zu nicht vergessen.

Die zweite Säule ist die Anrechnung des Erwerbsein-
kommens. Wir sollten darüber nachdenken, die Anrech-
nungsquote von 70 auf 50 Prozent zu reduzieren. Dann
würde es sich gerade für Eltern lohnen, mehr zu verdie-
nen und das eigene Erwerbseinkommen zu erhöhen. Das
würde sich für die Familien netto rechnen, weil sie dann
nicht durch Gegenrechnung wieder weniger in der Ta-
sche hätten.
Die dritte Säule ist die Herausnahme der Befristung.
Das ist bereits erledigt.

Bildung ist nichtsdestotrotz wichtig. Sie ist der
Hauptschlüssel im Kampf gegen Armut. Wir haben dies-
bezüglich die eine oder andere Initiative auf den Weg ge-
bracht. Bildung sorgt dafür, dass man auf dem Arbeits-
markt Fuß fassen kann, und nur wer arbeitet, hat die
Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Dazu wird gleich meine Kollegin reden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613910700

Dann können Sie ja jetzt zum Schluss kommen.


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1613910800

Genau. Ich bin beim letzten Punkt, Frau Präsidentin.

Ich folge den Worten des Bundespräsidenten Horst
Köhler, der sagte:

Wir brauchen Achtsamkeit für Kinder vor allem in
den Herzen und Köpfen der Erwachsenen.

Wenn das überall angekommen ist, bin ich mir sicher,
dass wir gemeinsam für eine Verbesserung beim Kinder-
zuschlag eintreten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613910900

Jetzt spricht für die FDP-Fraktion die Kollegin Ina

Lenke.


(Beifall bei der FDP)



Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1613911000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stel-

len fest: Herr Gysi und die Linken haben diesen Show-
antrag in dieser Woche platziert, um gute Munition für
die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zu ha-
ben. Das ist kein ernstgemeinter Antrag, sondern ein für
die Wahlen hergestellter.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


Herr Gysi hat, wie Frau Fischbach gesagt hat, die Katze
aus dem Sack gelassen. Herr Gysi, Sie brauchen Steuer-
erhöhungen, damit Sie all die Versprechen, die Sie Ihrer
Wählerklientel gemacht haben, bezahlen können.

Die FDP wollte die Mehrwertsteuererhöhung nicht
haben. Die FDP fordert – um ins Detail zu gehen –, dass
Kindern und Erwachsenen bei Einkommensteuer und
Lohnsteuer der gleiche Grundfreibetrag eingeräumt wird.
Keiner von Ihnen ist auf diese Idee gekommen, und un-
sere Anträge dazu sind immer abgelehnt worden. Sie ge-
ben den Eltern für ihre Kinder einen geringeren Freibe-
trag, obwohl Kinder im Jahr vier Paar Schuhe brauchen
und Erwachsene nur ein Paar, weil ihre Füße nicht mehr
wachsen. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob da
nicht etwas passieren müsste.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
Die Linke fordert in ihrem Antrag die Erweiterung
der Regelungen des Kinderzuschlages, der als Konzept
der Bundesregierung die Menschen nicht erreicht. Das
Konzept des Kinderzuschlages dieser und auch der alten
Bundesregierung – Sie müssen hier wahrhaftig sein – ist
gescheitert.

Eben hat Frau Fischbach das ganz klar gesagt: Nur
12 Prozent der Antragsteller – das waren im Jahr 2006
circa 600 000 – haben überhaupt den Kinderzuschlag be-
kommen. Frau Fischbach, diese Menschen haben garan-
tiert nicht die Höchstsumme von 140 Euro im Monat er-
halten. Man muss auch sehen, dass das Verfahren sehr
bürokratisch ist. 18 Prozent der Gesamtsumme sind Ver-
waltungskosten, also Bürokratiekosten. Was haben Sie
dagegen gemacht?

Bei diesem bisher erfolglosen Konzept, Kinder aus
der Armut zu holen, setzt nun die Linke-Fraktion darauf,
alles zu verschlimmbessern. Familienministerin von der
Leyen und Herr Müntefering, SPD, haben zu Beginn ih-
rer Zusammenarbeit – dieses Ziel stand schon im Koali-
tionsvertrag; das wusste ich gar nicht – vor zwei Jahren
die Chance verpasst, die Regelungen des bereits seit
2005 bestehenden Kinderzuschlages im Bundeskinder-
geldgesetz zu verbessern. Dieses Gesetz ist nicht verbes-
sert worden. Vor zwei Jahren haben Sie sich das in die
Hand versprochen. Jetzt wollen Sie in der letzten Phase
dieser Legislaturperiode etwas machen.

Die Entfristung des Kinderzuschlages bringt zwar den
Familien jetzt etwas, aber es ist kein Gesamtkonzept.
Das Konzept ist falsch. Diese Regelung ist nur eine Not-
maßnahme der Großen Koalition; denn die Strukturen
des Kinderzuschlages sind grundsätzlich nicht verbessert
worden. Das heißt, die Große Koalition ist bis heute
nicht in der Lage, sich auf vernünftige Regelungen des
Kinderzuschlages zu einigen. Frau Fischbach, auch Ihre
Rede war kein positiver Beitrag; denn Sie selber haben
gesagt, dass der Kinderzuschlag viel zu kompliziert ist.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir haben doch angekündigt, dass es einfacher wird!)


Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre-
gierung auf, erst einmal – damit ist sie schon seit fast an-
derthalb Jahren beschäftigt – die 145 ehe- und familien-
bezogenen Leistungen zu überprüfen, die 180 Milliarden
Euro ausmachen. Wenn sie das gemacht hat, dann müs-
sen die Fraktionen, alle, wie sie hier in ihren unter-
schiedlichen Farben vertreten sind, Gesamtkonzepte auf
den Tisch legen. Es darf nicht wieder an irgendwelchen
kleinen Schräubchen in die falsche Richtung gedreht
werden. Unter der alten Regierung, an der die SPD betei-
ligt war, und auch unter der neuen Regierung, an der die
SPD wiederum beteiligt ist, ist die Kinderarmut gewach-
sen. Das können Sie nicht wegdiskutieren. Da hat das
Drehen an kleinen Schrauben überhaupt keine Wirkung.
Sie müssen sich schon etwas anderes einfallen lassen.


(Beifall bei der FDP)


Auf die Bewertung der Analyse der 145 ehe- und fa-
milienbezogenen Leistungen im Umfang von 180 Mil-
liarden Euro warten wir schon seit 2007. Was sagt das
Ministerium? Herr Kues, Sie haben gesagt, die Analyse
werde im April vorliegen. Wollen wir mal sehen, ob sie
im April tatsächlich auf dem Tisch liegt. Danach muss
man über die Analyse nachdenken. Erst Ende des Jahres
werden wir eine echte Analyse auf dem Tisch haben.
Dann aber ist das dritte Jahr dieser Legislaturperiode
verstrichen, ohne dass ein Konzept vorliegt. Wir hören
immer wieder: Wir wollen mal sehen. Aus diesem
Grunde pocht die FDP darauf, dass die Analyse endlich
auf den Tisch kommt. Ich jedenfalls dränge im Aus-
schuss darauf. Auch die Antworten auf die Anfragen an
die Bundesregierung lassen auf sich warten. Bisher liegt
also nichts auf dem Tisch.

Ich komme zum Schluss. Die FDP-Bundestagsfrak-
tion schlägt vor, erst einmal die Analyse über die Wirkun-
gen der ehe- und familienbezogenen Leistungen aufzu-
zeigen. Erst dann werden wir die Leistungen an Familien,
bei denen keine positiven Effekte zu beobachten sind, und
solche, mit denen Familien wirklich geholfen wird, be-
werten können. Erst danach sollten wir über effektivere
Familienleistungen nachdenken. Aus diesem Grund wer-
den wir diesem aufgeregten Antrag der Linken kurz vor
den Wahlen in Hessen und Niedersachsen jedenfalls un-
sere Stimme nicht geben.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613911100

Der Kollege Wolfgang Spanier spricht jetzt für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1613911200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich weiß nicht, Herr Gysi, ob ich Sie jetzt enttäusche, aber
Ihre Rede hat mich nicht erregt, sondern eher enttäuscht.
Sie haben hier wieder einmal den üblichen Katalog von
Forderungen heruntergerasselt. Vor ein paar Monaten lag
Ihre Forderung bei etwa 157 Milliarden Euro an jährli-
chen zusätzlichen Ausgaben. Diese Summe – das habe
ich in den letzten Wochen gehört – ist mittlerweile weit
überschritten. Ich vermute, Ende des Jahres sind Sie so
weit, dass Sie in Ihren Forderungen die Höhe der Steuer-
einnahmen des Bundes mit 238 Milliarden Euro erreicht
haben. Das heißt, letztlich fordern Sie indirekt eine Ver-
dopplung der Steuern. Aber gut, das ist Ihre Sache.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Zu Ihnen, Frau Lenke: Ich glaube, das ist der falsche
Weg. So recht Sie haben, dass wir alle Familienleistun-
gen überprüfen sollten, so unrecht haben Sie, wenn Sie
sagen: Erst einmal die Analyse, dann eine Auswertung,
dann ein Gesamtkonzept, und dann entscheiden wir über
konkrete Maßnahmen. Ich glaube, so viel Zeit sollten
wir uns nicht lassen. Möglicherweise sind wir dann im
Jahr 2009 oder 2010.


(Ina Lenke [FDP]: Es liegt an Ihnen!)


Für uns Sozialdemokraten ist das Ziel klar – ich gehe da-
von aus, dass wir alle in diesem Parlament darin überein-






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Spanier
stimmen –: Wir wollen gleiche Lebenschancen für alle
Kinder. Ich glaube, da stimmen wir überein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ina Lenke [FDP]: Genau!)


Es geht nicht nur um materielle Armut, es geht auch
um das, was Wissenschaftler die Lebenslage der Kinder
nennen, zum Beispiel das erhöhte Gesundheitsrisiko, die
deutlich schlechteren Bildungschancen, natürlich auch
das Wohnumfeld und viele andere Faktoren. Herr Gysi
hat es vorhin angesprochen. Es ist natürlich eine Binsen-
weisheit, wenn man sagt: Armut der Kinder ist letztlich
die Armut der Eltern. Aber es ist wichtig, dass man das
berücksichtigt und betont.

Ursachen der Armut – auch da sind wir uns alle einig –
sind in erster Linie Arbeitslosigkeit, aber auch Schei-
dung und in unserem Land leider auch Kinderreichtum.
Wenn man etwas gegen Kinderarmut tun will, dann ist
das Wichtigste, dass man an genau diesen Ursachen, vor
allem an der Hauptursache, nämlich Arbeitslosigkeit der
Eltern, ansetzt. Mir ist aufgefallen, Herr Gysi, dass Sie
dazu kein Wort gesagt haben.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ich hatte nur sieben Minuten Redezeit!)


– Das lag vielleicht an den sieben Minuten Redezeit, das
will ich Ihnen zugestehen.

Zu Ihrem Antrag zum Kinderzuschlag. Sie äußern sich
gar nicht zum Kinderzuschlag, wie wir ihn konzipiert ha-
ben, sondern Sie fordern etwas in Richtung bedarfsorien-
tierter Grundsicherung. Darüber kann man sicherlich dis-
kutieren. Aber der Antrag ist so kurz gefasst, dass er
Wichtiges übersieht, nämlich die Zusammenhänge mit
anderen Leistungen: Kindergeld, Steuerfreibeträge usw.
Wenn das, wie Sie es vorschlagen, verwirklicht würde,
würden wir große Schwierigkeiten und Probleme be-
kommen; von den Kosten – das habe ich vorhin schon
angesprochen – ganz zu schweigen.

Der Kinderzuschlag ist nicht so erfolglos, wie er hier
heute dargestellt worden ist. Immerhin haben 120 000 Kin-
der davon profitiert. Das heißt, mithilfe dieses Kinderzu-
schlags sind die Eltern zusammen mit ihren Kindern aus
dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II herausge-
kommen. Ich denke, das ist zunächst einmal gut.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die zusätzliche Leistung pro Kind beträgt im Durch-
schnitt 93 Euro. Nachweislich haben in erster Linie kin-
derreiche Familien davon profitiert. Soweit, so gut.

Wir haben gemerkt – das ist das Problem –, dass die
übergroße Zahl der Anträge abgelehnt werden musste
und dass die Einkommensgrenzen überarbeitet werden
müssen. Das heißt im Klartext – ich will hier nicht in die
Einzelheiten gehen; Frau Fischbach ist schon darauf ein-
gegangen –: Wir müssen die Hürden abbauen, um auf
diese Weise zu erreichen, dass mehr Familien und damit
mehr Kinder den Kinderzuschlag bekommen. So können
wir sie aus der Armut, aus dem Bezug von Leistungen
nach dem SGB II, herausholen. Das ist unser Ziel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dann ist es ein Dreiklang von Familienleistungen:
Kindergeld plus Kinderzuschlag plus Wohngeld. Ich per-
sönlich – ich glaube, da stehe ich in diesem Saal nicht
allein da – habe mich darüber gefreut, dass Minister Tie-
fensee einen Vorschlag in dieser Richtung gemacht hat.
Diesen Dreiklang müssen wir dabei im Auge behalten.
Beim Wohngeld ist der Aspekt der Kinder sicherlich
stärker zu berücksichtigen. Das haben wir bereits bei der
letzten Wohngeldreform so gemacht.

Ich will Ihnen gern zugestehen – Herr Müntefering
hat das als Minister eingeleitet –, dass wir noch einmal
über die Regelsätze und vor allen Dingen über die zeitli-
chen Abstände ihrer Anpassung beim Bezug von Leis-
tungen nach dem SGB II nachdenken müssen. Das ist si-
cherlich nicht ganz so leicht zu bewerkstelligen. Das ist
jetzt keine Ausrede, sondern Fakt. Ich glaube, dass die
Neubemessung im zeitlichen Abstand von fünf Jahren
der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung nicht ge-
recht wird.

Schlüssel zur Bekämpfung von Armut und Kinderar-
mut ist also Arbeit. So ist der Kinderzuschlag konzipiert.
Er erreicht die Eltern, die Leistungen nach dem SGB II
beziehen und arbeiten, aber ein Einkommen erzielen, das
unterhalb der Regelsätze der Sozialhilfe liegt.

In meinem Wahlkreis, in Herford, sind 25 Prozent der
Anträge, die bei der Arge gestellt werden, Anträge auf
Aufstockung. Diese Anträge werden von Eltern gestellt,
die zwar Arbeit haben, die aber mit ihrer Arbeit ein Ein-
kommen erzielen, das unterhalb der Sozialhilfesätze
liegt. Nicht wenige von ihnen sind Vollzeitbeschäftigte.
Deswegen sage ich Ihnen – jetzt schaue ich zu denen, die
in diesem Hause rechts von der Mitte sitzen –: Wer über
Kinderarmut redet, darf zum Thema Mindestlohn nicht
schweigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir brauchen existenzsichernde Löhne. Armut hat
nicht nur mit materiellen Aspekten zu tun. Zur Bekämp-
fung von Armut ist Geld wichtig, aber nicht hinreichend.
Ein ganz entscheidender Schlüssel zur Bekämpfung und
Vermeidung von Kinderarmut ist Bildung. Die Entwick-
lung, die in unserem Land in diesem Bereich stattfindet,
ist ein Skandal; das sage ich mit meinem beruflichen
Hindergrund als Lehrer.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Sie reden ja so, als seien Sie in den letzten Jahren in der Opposition gewesen!)


– Hier geht es nicht nur um ein paar Jahre. Das ist in un-
serem Land seit 30, 40 Jahren der Fall. Es ist völlig
wurscht, wer regiert.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja! Das stimmt! Das ist es gerade!)







(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Spanier
Es handelt sich um verfestigte Strukturen, die dazu füh-
ren, dass die soziale Herkunft für die Bildungschancen
in unserem Land ganz entscheidend ist. Wer gleiche Le-
benschancen für alle Kinder schaffen will, muss an ge-
nau dieser Stelle ansetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben das erkannt. Der Stellenwert der frühen
Förderung der Kinder, vor allen Dingen der sozial be-
nachteiligten Kinder, ist in Deutschland in den letzten
Monaten deutlich gestiegen. Wir haben Maßnahmen er-
griffen. In diesem Zusammenhang muss man sehen, dass
wir bis zum Jahre 2013 für 35 Prozent der unter Dreijäh-
rigen Kitaplätze schaffen wollen. In diesem Zusammen-
hang muss man auch sehen – darauf pochen wir ganz be-
sonders –, dass es danach einen Rechtsanspruch geben
wird. Das ist ein ganz entscheidender Schritt, um die Le-
benschancen und die Bildungschancen aller Kinder zu
verbessern.

Zu diesen Maßnahmen gehört auch das Ganztags-
schulprogramm. Ich darf daran erinnern, dass unser
Land durch das Investitionsprogramm des Bundes deut-
lich vorangebracht wurde. In meinem Wahlkreis nehmen
fast alle Grundschulen an dem Ganztagsschulprogramm,
das ein offenes Angebot ist, teil. Das ist ein Schritt, um
gleiche Lebenschancen für alle Kinder zu verwirklichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es hilft überhaupt nicht, im Bildungsbereich zusätzli-
che finanzielle Hürden aufzubauen. Dazu gehören Studi-
engebühren. Ob man Studiengebühren in Form von Dar-
lehen oder auf anderem Wege organisiert, ändert nichts
daran, dass es sich um eine zusätzliche Hürde handelt
und dass sie kontraproduktiv sind.

Sicherlich müssen wir über gezielte finanzielle Hilfen
im Bildungsbereich nachdenken. Das betrifft den Eltern-
beitrag, das wichtige Thema Lernmittelfreiheit und den
Essenszuschuss. Das ist nicht auf Bundesebene zu re-
geln, sondern muss auf Landes- bzw. auf kommunaler
Ebene geregelt werden.

Damit wird eines klar: Wenn wir es mit der Vermei-
dung und Bekämpfung der Kinderarmut ernst meinen
– wir meinen das ernst –, dann müssen Bund, Länder
und Kommunen in ihrer jeweiligen Zuständigkeit zu-
sammenarbeiten. Dabei ist die kommunale Ebene, die
dicht und direkt an den Menschen ist, entscheidend;
meine Kollegin Marlene Rupprecht wird gleich Ausfüh-
rungen zur Bedeutung der kommunalen Ebene und zur
Kinder- und Jugendhilfe machen.

Zum Schluss habe ich eine Bitte. Ich glaube, wir alle
sind uns einig, dass wir etwas an der erschreckenden
Zahl von 2,5 bis 2,6 Millionen sozial benachteiligten
Kindern und Jugendlichen in Deutschland ändern wol-
len. Kinder und Jugendliche haben eine Lobby; als Bei-
spiele seien die Wohlfahrtsverbände und der Kinder-
schutzbund genannt. Ich würde mir wünschen – das ist
wirklich nicht die übliche Floskel –, dass sich auch der
Bundestag als Lobby sozial benachteiligter Kinder ver-
steht. Erste Ansätze haben wir gemacht. Wir müssen sie
konsequent weiterentwickeln. Das halte ich für eine der
wichtigsten sozialpolitischen Aufgaben, die wir bewälti-
gen müssen, wenn es uns ernst ist, dass wir für mehr so-
ziale Gerechtigkeit sorgen wollen. Wir Sozialdemokra-
ten werden uns daran beteiligen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613911300

Ina Lenke hat eine Kurzintervention angemeldet.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1613911400

Herr Spanier, Sie und ich, wir arbeiten partnerschaft-

lich zusammen. Trotzdem muss ich diese Kurzinterven-
tion machen. Sie haben der FDP vorgeworfen, dass sie
Zeit ins Land gehen lässt, dass sie erst einmal abwartet,
was die Analyse der familienpolitischen Leistungen er-
gibt.

Herr Spanier, Sie haben das in Ihrem Koalitionsver-
trag stehen. Jetzt ist die Hälfte der Legislaturperiode vor-
bei. Deshalb muss ich Ihnen vorwerfen, dass Sie bisher
nichts getan haben.

Ich möchte, dass sich die SPD-Bundestagsfraktion
– die ja diese Regierung stützt, nicht stürzt – für diese
Dinge einsetzt und der Regierung Beine macht. Ich
finde, es ist durchaus seriöse Politik, einzuräumen, dass
man die mittlerweile 145 familien- und ehebezogenen
Leistungen zunächst einmal analysieren muss. Diese
Leistungen bauen ja nicht aufeinander auf. Vielmehr hat
jede Regierung der Vergangenheit etwas für die Familien
tun wollen und irgendeine neue Leistung eingeführt. Es
geht der FDP darum, ob dieser Aufbau stringent ist, ob
er effektiv ist, ob er die Familien erreicht; es geht der
FDP nicht darum – wie ich das aus Ihren Worten heraus-
hören konnte –, die Umsetzung neuer Ideen zu verzö-
gern. Sie wissen genau – das ist im besten Sinne typisch
für die FDP –: Wenn Sie im Bundestag gute Vorschläge
vorlegen, stimmen wir mit Ihnen dafür. Deshalb ist mir
das auch so ernst.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613911500

Herr Spanier.


Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1613911600

Ich gebe Ihnen recht: Natürlich ist die Überprüfung

aller Familienleistungen vielleicht nicht überfällig, aber
doch dringend geboten. Ich gebe Ihnen auch recht, dass
wir erst auf dieser Grundlage an der einen oder anderen
Stelle zu einer Neujustierung kommen.

Was Sie vorgetragen haben, klang aber anders: Erst
noch eine gründliche Analyse, dann ein Gesamtkonzept. –
Wissen Sie, bei „Gesamtkonzept“ werde ich unruhig.
Das ist ein so schwammiger Begriff; dahinter verbirgt
sich nichts. Und dann erst wollen Sie entscheiden.

Ich glaube, dass wir über den Kinderzuschlag, über
das Wohngeld und anderes zügiger entscheiden müssen.






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Spanier
Ich will gerne einräumen: Auch ich persönlich – da bin
ich nicht alleine – bin ein wenig unzufrieden, dass es mit
den konkreten Vorschlägen der Bundesregierung zum
Kinderzuschlag und zu anderem, was damit zusammen-
hängt, doch schon – ich weiß, dass das kompliziert ist –
einige Zeit gedauert hat. Ich hoffe, dass wir das im Früh-
jahr vorgelegt bekommen, beraten und dann zügig auf
den Weg bringen können. Das ist das Entscheidende.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613911700

Jetzt spricht die Kollegin Ekin Deligöz für

Bündnis 90/Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613911800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

An diesem Schlagabtausch wird eines deutlich: dass die
Koalition in der Frage Kinderarmut/Kinderzuschlag mit
leeren Händen dasteht, dass sie keine Konzepte hat. Herr
Spanier, wenn Sie sagen, das Wort „Gesamtkonzept“
macht Sie unruhig, dann macht es mich unruhig, dass
dieses Wort Sie beunruhigt; denn ein Gesamtkonzept ist
genau das, was Sie liefern müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich muss Frau Lenke recht geben: Im Koalitionsver-
trag heißt es nicht: „Wir wollen irgendwann“, sondern es
heißt:

Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und
hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem
Jahr 2006 weiterentwickeln.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorbei!)


Wir sind jetzt schon ein Jahr weiter.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Zwei Jahre!)


– Zwei Jahre weiter. – Das Einzige, was Sie uns hier prä-
sentieren, ist die Entfristung des Kinderzuschlags. Die-
ser Schritt ist durchaus begrüßenswert; aber er geht nicht
weit genug. Anstatt dass Sie den Kinderzuschlag endlich
so ausgestalten, dass er bei den Familien, die ihn benöti-
gen, ankommt; anstatt dass Sie dieses Instrument – das
ich nach wie vor für richtig und wichtig halte – weiter-
entwickeln, bekommen wir von Frau von der Leyen und
Herrn Müntefering – der gar nicht mehr im Amt ist – ein
Schauspiel aufgeführt, wer eigentlich dafür zuständig
sein soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine Entbürokratisierung und eine Verein-
fachung, wir bekommen aber nur Profilierungskämpfe
der beiden Koalitionsfraktionen zu sehen – und nichts
anderes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Kommen wir zu dem eigentlichen Antrag, über den
wir heute reden. Bei diesem Antrag der Linken ergeben
sich für mich ehrlich gesagt mehr Fragen als Antworten.
Sie schlagen unter anderem vor, dass der Kreis der an-
spruchsberechtigten Empfänger des Kinderzuschlages
deutlich erweitert werden soll. Das ist richtig. Das muss
man fordern. Das ist ein richtiges Ziel.

Sie wollen diesen Kreis aber nach unten hin auswei-
ten. Was heißt das? Sie wollen, dass insbesondere Fami-
lien, die über kein eigenes Erwerbseinkommen verfügen,
dieses Geld bekommen. Ich kann nur sagen: Sie haben
das Instrument nicht verstanden.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)


Bei diesem Instrument geht es nämlich nicht darum, den
Kreis der Hartz-IV-Empfänger zu vergrößern, sondern
darum, die Menschen aus dem Hartz-IV-Bezug heraus-
zuholen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Da hat sie recht!)


Es geht darum, die Rahmenbedingungen so auszugestal-
ten, dass sich Erwerbstätigkeit rentiert. Es geht darum,
dass wir Familien aus diesem Armutskreislauf herausho-
len. Mit dem, was Sie hier vorschlagen, erreichen Sie ge-
nau das Gegenteil.

Sie werfen uns vor, dass wir die Anzahl der Kinder in
Armut erhöht und dass wir sie in das Dunkelfeld der Ar-
mut hineingebracht haben. Ich kann Ihnen vorwerfen:
Mit Ihrem Vorschlag wird sich die Anzahl der Kinder im
Hartz-IV-Bezug nicht verdoppeln, sondern verdreifa-
chen oder gar vervierfachen. Das sollten Sie sich genau
überlegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)


Sie sagen einerseits, dass die Regelleistungen gemäß
SGB II und SGB XII durch den Kinderzuschlag ersetzt
werden sollen. In einer Pressemitteilung vom 21. Januar
2008 sagte Herr Ernst für die Fraktion Die Linke aber,
dass das Kindergeld auf 200 Euro erhöht wird und dass
die Regelsätze auf 300 Euro erhöht werden. Der Kinder-
zuschlag solle zusätzlich erhöht werden. Das, was Sie
hier vorschlagen, und das, was Herr Ernst äußert, ist
zweierlei. Das passt nicht zusammen.


(Ina Lenke [FDP]: Ja, Herr Gysi, Sie müssen Ihre Pressemitteilungen besser lesen!)


Man kann hier nicht von einem Gesamtkonzept reden.
Man kann überhaupt nicht von einem Konzept reden.
Man kann nicht einmal von Stückwerk reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Die haben gar kein Konzept! Wie überall!)


Sie wollen einfach verschiedene Dinge.

Wenn ich das richtig verstanden habe, dann fordern
Sie faktisch eine Grundsicherung von 420 Euro für alle
Kinder, ohne übrigens zu sagen, wie viele Milliarden
Euro das erstens verschlingt und woher das Geld zwei-
tens überhaupt kommen soll.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Dazu hat Herr Gysi doch ausführlich geredet!)







(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz
Das verschweigen Sie uns lieber in Ihren Anträgen. Ehr-
lich gesagt: Auch das, was Herr Gysi gesagt hat, hat
mich nicht überzeugt. Das war zwar eine allgemeine,
wunderbare Wahlkampfrede,


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: „Wunderbare“? Na, ich weiß nicht!)


wenn Sie es so haben wollen, aber das war nicht zu die-
sem Thema. Man kann nur sagen: Setzen, sechs, Thema
verfehlt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sagen: Wir brauchen eine Stärkung der Bildung,
der Jugendhilfe und der Sozialhilfe. – Ja, das ist richtig.
Schauen wir uns doch einmal an, was gerade hier in Ber-
lin passiert. Ich nenne jetzt nicht die „Arche“, sondern
ich sage das nur einmal im Allgemeinen. Ich habe einen
Blick in den Haushaltsplan geworfen:


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Um 160 Millionen Euro haben sie gekürzt!)


Die Mittel für die Jugendhilfe sind gekürzt worden. Die
Mittel für die Familienhilfe sind gekürzt worden. Die
Mittel für die Gesundheitshilfe wurden gekürzt. Selbst
die guten neuen Schulkonzepte scheitern in der Praxis
daran, dass Sie nicht genug Personal haben, also unter
Personalmangel leiden. Das, was Sie hier behaupten,
und das, was Sie in der Regierung tun, passt nicht zu-
sammen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: In Berlin werden gerade neue Lehrer eingestellt!)


Sie sorgen hier in Berlin für einen Scherbenhaufen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Den wir von der CDU übernommen haben!)


Das ist kein kinderpolitischer Aufbruch, sondern eine
Volksverdummung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU – Ingrid Fischbach [CDU/CSU], zur LINKEN gewandt: Sie stimmen doch jetzt ab! Sie treffen jetzt die Entscheidungen! Sie haben gekürzt, Frau Golze!)


Man muss sagen, dass man die finanzielle Unabhän-
gigkeit der Kinder nicht unabhängig vom Status der El-
tern erreichen kann. Nicht die Kinder sind arm, sondern
die Haushalte, in denen sie leben, sind arm.


(Beifall der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD])


In den Haushalten herrscht Erwachsenenarmut. Das
spiegelt sich auch bei den Kindern wider. Selbst dann,
wenn die Kinder finanziell unabhängig sind, sind sie von
ihren Eltern nach wie vor abhängig.

Weiter zum Thema. Was brauchen wir? Wir brauchen
eine hochwertige Betreuungs- und Bildungsinfrastruk-
tur, die die bestehende Ungleichheit nicht zementiert,
sondern dabei hilft, Armutskarrieren zu durchbrechen,
damit sie nicht fortgeschrieben werden.
Herr Gysi, ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist:
Ihre Fraktion hat in dieser Woche einen Antrag in unse-
ren Ausschuss eingebracht, mit dem genau das Gegenteil
gemacht wird. Sie haben gesagt, dass die Studiengebüh-
ren bei den BAföG-Empfängern in Zukunft hinzuge-
rechnet werden sollen. Damit ist Ihre Fraktion die erste
Fraktion in diesem Bundestag, die Studiengebühren ak-
zeptiert und die das legalisiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist überhaupt nicht wahr! Das ist ja wohl eine Frechheit!)


Das muss man doch deutlich sagen. Sie stellen einen An-
trag, mit dem Sie die Studiengebühren akzeptieren.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wir haben uns gegen Studiengebühren ausgesprochen!)


Hier tun Sie so, als seien Sie dagegen. Warum stellen Sie
dann einen solchen Antrag? Seien Sie doch einmal ehr-
lich und stehen Sie zu Ihren Anträgen, die Sie stellen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist doch Unfug! – Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ihre Wähler können die Studiengebühren bezahlen, unsere nicht!)


– Nein, Herr Gysi. Sie sollten sich Ihren Antrag einmal
genau anschauen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wir lehnen Studiengebühren grundsätzlich ab! Das wissen Sie genau!)


Wir wollen die Erwerbstätigkeit der Eltern steigern.
Das ist das Beste gegen Kinderarmut. Aber das können
wir nur durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen errei-
chen. Wir müssen die Eltern bei der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf sowie der Aufnahme von Jobs unter-
stützen, bei denen die Einkommen so hoch sind, dass sie
nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern auch
den ihrer Kinder bestreiten können. Wir brauchen eine
Infrastruktur für Kinder, die ihnen Chancen gibt. Des-
halb schlagen wir Grüne nicht nur eine Reform des Kin-
derzuschlags und des Wohngeldes vor, was das Mindeste
ist. Vielmehr müssen die Lohnnebenkosten gerade im
Niedriglohnbereich gesenkt werden. Wir brauchen zu-
dem Mindestlöhne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen ein Arbeits- und Beschäftigungsförder-
system, das wirkliche Chancen gibt. Wir brauchen ziel-
gruppen- und sozialraumorientierte Hilfssysteme. Diese
werden in Berlin gerade abgeschafft. Wir wollen nicht,
dass Familien zu ALG-II-Empfängern werden, sondern
wir wollen die Selbsthilfe stärken. Klar ist: Strukturelle
Hilfen sind erst dann wirksam, wenn eine materielle
Existenzsicherung gegeben ist. Das gilt aber auch umge-
kehrt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613911900

Frau Deligöz, Sie müssen zum Ende kommen.






(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613912000

Alle bisherigen Vorschläge dienen dem nicht, weder

die von der PDS noch die von der Regierung.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613912100

Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1613912200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und

Kolleginnen! Wir debattieren heute über einen Antrag,
den die Linke-Fraktion schon vor anderthalb Jahren fast
wort- und inhaltsgleich eingebracht hat, aber ohne Er-
folg. Der federführende Familienausschuss hat schon da-
mals mit einer breiten Koalition aller Parteien


(Diana Golze [DIE LINKE]: Das Nichtstun beschlossen! Genau!)


diesen Antrag abgelehnt. So wurde es vom Parlament im
Zusammenhang mit der Debatte über den Zwölften Kin-
der- und Jugendbericht beschlossen.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja, was haben Sie dagegen gemacht?)


Sie haben wahrscheinlich nicht zur Kenntnis genommen,
mit welchen abstrusen Forderungen Sie an den Bundes-
tag herantreten.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau, unfinanzierbar!)


Sie wärmen das Ganze nun noch einmal auf, wahr-
scheinlich mit dem gleichen Erfolg. Das prognostiziere
ich Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eigentlich reichte es, Ihnen die Protokolle von damals
zum Lesen zu geben,


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wenn Sie Ihren Koalitionsvertrag mal ernst nehmen würden!)


anstatt eine Stunde bester Debattenzeit mit einem sol-
chen abstrusen Antrag zu verbringen.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Dann setzen Sie sich doch einfach wieder hin! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl, Zeitverschwendung!)


Es ist Fakt, dass in Deutschland zu viele Kinder und
Jugendliche in Armut leben. Wir alle hier im Haus neh-
men die Aufgabe sehr ernst, hier zu Verbesserungen zu
kommen sowie allen Kindern ein gesundes Aufwachsen
und Chancengleichheit bei Bildung und Ausbildung zu
garantieren.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Das sieht man!)

Aber Fakt ist auch, dass das nicht geht, wenn man ein-
fach voraussetzungslos Transferleistungen gewährt und
diese ständig erhöht. Mehr Geld für arme Kinder, das ist
eine zutiefst populistische Forderung. Gerade die Väter
und Mütter, die morgens aufstehen und ihre Kinder in
eine Betreuungseinrichtung bringen, bevor sie zur Arbeit
gehen, Geld verdienen, Steuern zahlen und 154 Euro
Kindergeld bekommen,


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Die anderen würden auch gerne früh aufstehen!)


werden wenig Verständnis haben, wenn sie Ihre Forde-
rung nach 420 Euro pro Monat – das bezeichnen Sie als
sozioökonomisches Existenzminimum – finanzieren sol-
len.

Zu den Kosten und der Finanzierbarkeit sagen Sie
weder im ersten noch im zweiten Aufguss Ihres Antrags
ein Wort. Nun hat Herr Gysi eben gesagt, woher er das
Geld nehmen will. Sie wollen zusätzlich 120 Milliarden
Euro Steuereinnahmen generieren. Wir haben gerade ge-
rechnet und festgestellt, dass das ungefähr 1 500 Euro
pro Person sein müssten.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Nein! Nicht pro Person!)


Woher soll das denn kommen? Wie viele Firmen werden
Sie damit aus Deutschland vertreiben?


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau! Völlig richtig!)


Wie viele Familienväter werden ihren Arbeitsplatz ver-
lieren, wenn die Unternehmen ins Ausland gehen, weil
sie dort billiger produzieren können?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es wurde bereits gesagt, dass Kinderarmut immer da-
mit einhergeht, dass Eltern zu wenig verdienen. Es ist
ebenfalls gesagt worden, dass die Eltern in die Lage ver-
setzt werden müssen zu arbeiten.


(Ina Lenke [FDP]: 19 Prozent Mehrwertsteuer! Von der CDU mitbeschlossen!)


Sie brauchen Infrastruktur und mehr Chancen auf dem
Arbeitsmarkt. Hier haben wir schon weitreichende
Schritte unternommen und gute Erfolge vorzuweisen.

Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das Phä-
nomen der vererbten Armut. Es ist gefährlich, wenn Kin-
der es als normal erleben, dass die Familie von Transfer-
leistungen lebt, dass Eltern dauerhaft nicht arbeiten. Das
führt dazu, dass Kinder das für sich als Lebensmodell
übernehmen. Der Leiter der Hamburger Arche hat eine
junge Frau mit den Worten zitiert: Ich habe mehr Angst
vor der Arbeit als vor der Arbeitslosigkeit. – Das ist eine
ganz symptomatische Äußerung, die zeigt, dass hier die
sozialen Kompetenzen für die Teilnahme am Arbeits-
markt verloren gehen und dass es notwendig ist, diesen
Teufelskreis zu durchbrechen. Wenn wir das nicht errei-
chen, dann perpetuieren wir diese Leistungen ad infini-
tum und schaffen uns im Prinzip die nächste Generation,
die genauso leben und das weitergeben wird. Das kann
ja wohl nicht das Ziel unserer Sozialpolitik sein. Es ent-






(A) (C)



(B) (D)


Elisabeth Winkelmeier-Becker
spricht jedenfalls nicht unserem Menschenbild in der
Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU – Diana Golze [DIE LINKE]: Dann stimmen Sie doch unserer Mindestlohnforderung zu!)


Deshalb ist es so wichtig, hier Anreize zur Aufnahme
von Arbeit zu schaffen, und deshalb muss es einen Un-
terschied machen, ob die Erwachsenen wenigstens ihren
Bedarf aus eigener Arbeit decken können. Niemand, der
seinen eigenen Bedarf selber deckt, soll nur deshalb
ALG II beziehen müssen, weil er Kinder hat. Da setzt
der Kinderzuschlag an; mit ihm soll der zusätzliche Be-
darf gedeckt werden.

Wir tun doch auch etwas. Die Befristung haben wir
schon aufgehoben. Als Nächstes geht es um die Auswei-
tung,


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wann? Das ist die große Frage!)


damit mehr Familien davon profitieren können. Wir pei-
len an, dass dann bis zu 550 000 Kinder davon profitie-
ren können. Wenn das Geld, das ja immer fehlt, dafür
schon einmal zur Verfügung steht, dann können Sie eine
gewisse Hoffnung haben, dass auch die entsprechende
Regelung bald kommen wird.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genauso ist es! Das Geld ist eingeplant!)


Das Familienministerium hat bereits ein Konzept dazu
vorgelegt; das kennen Sie alle. Sie wissen, dass viele, ei-
gentlich alle entscheidenden Punkte, die auch hier ge-
nannt worden sind, darin enthalten sind. Jetzt geht es da-
rum, das intern mit dem Bundesarbeitsministerium
abzustimmen.

Ich freue mich, dass wir den früheren Bundesarbeits-
minister in den Kreis der Familienpolitiker aufnehmen
konnten. Vielleicht führt das dazu, dass alles noch etwas
konstruktiver und schneller vonstatten geht. Ich bin opti-
mistisch, dass wir hier zu einem guten Konzept kom-
men, das genau diesen Arbeitsanreiz setzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unabhängig davon möchte ich noch einmal sagen: Es
muss selbstverständlich sein, dass in Deutschland das
Existenzminimum des Kindes sichergestellt ist. Wo El-
tern nichts verdienen, geschieht das in Deutschland
durch Sozialgeld und Wohngeld. Über die Höhe werden
wir uns dieses Jahr noch unterhalten, wenn der neue Be-
richt zum Existenzminimum vorgelegt wird. Man kann,
glaube ich, ohne die Sphinx zu sein, voraussagen, dass
das Existenzminimum heraufgesetzt wird. Aber 420 Euro
wird es mit Sicherheit nicht erreichen. Das ist schlicht-
weg utopisch.

Wenn das Existenzminimum erhöht wird, werden da-
von alle Familien profitieren; denn das macht sich beim
Freibetrag, beim Kindergeld und beim Sozialgeld be-
merkbar. Aber für den Kinderzuschlag, der ja zusätzlich
gegeben wird, muss weiterhin Beschäftigung ein Krite-
rium sein.
Vielleicht muss man die schematische Berechnung,
die 60 Prozent für Kinder und 80 Prozent für Jugendli-
che vorsieht, noch einmal überdenken. Ich weiß, was
Kinder, wenn sie wachsen, am Tag so alles verputzen
und wie viele Klamotten sie brauchen. Deshalb ist die
Rechnung vielleicht zu schematisch und noch einmal zu
überdenken. Aber es bleibt dabei: Wir müssen Anreize
zur Arbeitsaufnahme schaffen. Eine Megasozialleistung
nach Ihrem Stil, die Sie nur mit „Kinderzuschlag“ etiket-
tieren, wird es in diesem Sinne nicht geben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613912300

Frau Kollegin.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1613912400

Unser Konzept des Kinderzuschlags ist zielführend

und wird uns helfen, die Kinderarmut in Deutschland
deutlich zu bekämpfen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613912500

Miriam Gruß spricht jetzt für die FDP-Fraktion.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1613912600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Am Sonntag hat die Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung zutreffend daran erinnert, dass früher
von der Armut an Kindern die Rede war; heute müssen
wir uns mit der Armut von Kindern auseinandersetzen.
Kinderarmut geht uns alle an. Wir brauchen aber etwas
mehr Unaufgeregtheit in der Debatte. Daher werde ich
zum Schluss noch auf den Herrn Kollegen Gysi einge-
hen.

Wir müssen uns einmal die Fakten in Deutschland an-
sehen. Es gibt 2,5 Millionen arme Kinder. Mehrheitlich
sind es Kinder von Alleinerziehenden oder Kinder aus
Zuwandererfamilien. Der Tagesablauf jedes sechsten
Kindes wird von Armut geprägt. Wenn ich von Armut
spreche, dann meine ich nicht nur das fehlende Geld im
Portemonnaie, sondern eben auch – das ist auch schon
angesprochen worden – die ideelle Armut.

In der ersten World-Vision-Kinderstudie von den re-
nommierten Forschern Professor Klaus Hurrelmann und
Frau Professor Andresen, die im letzten Herbst veröf-
fentlich wurde, werden Fakten genannt, die zeigen, was
Armut für den Lebensalltag von Kindern bedeutet. Fakt
ist, dass eben nur 1 Prozent der Kinder aus der Unter-
schicht ein Gymnasium besuchen; 19 Prozent besuchen
die Förderschule. Regelmäßigen Freizeitaktivitäten ge-
hen nur 47 Prozent der Kinder aus der Unterschicht
nach. Der Durchschnitt liegt bei 73 Prozent.

Mit einem Anteil von 60 Prozent erleben diese Kinder
mehrheitlich Mobbing und Gewalt in ihrem Alltag. Der
Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte nimmt
auch mit Sorge zur Kenntnis, dass, wie Studien gezeigt
haben, neben erhöhten Gesundheitsrisiken als Folge von
Fehlernährung und Bewegungsmangel auch eine höhere






(A) (C)



(B) (D)


Miriam Gruß
Wahrscheinlichkeit psychosomatischer und psychischer
Erkrankungen bei armen Kindern besteht.

Aber eben nicht die Kinder sind arm, sondern die Fa-
milien, in die sie hineingeboren werden. Es ist tatsäch-
lich unsere Aufgabe, diesen Zyklus aus oftmals vererbter
Armut und Perspektivlosigkeit zu durchbrechen.


(Beifall bei der FDP)


Es hat tatsächlich nichts mit Chancengleichheit, die wir
alle wollen, zu tun, wenn nicht der Grips über den Bil-
dungsweg entscheidet, sondern der soziale Status der El-
tern.

Deshalb brauchen wir vor allen Dingen Bildung, Bil-
dung, Bildung.


(Beifall bei der FDP)


Das ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Wir brau-
chen qualitativ hochwertige Kindertagesstätten, um Kin-
der so früh wie möglich fördern zu können. Da kann sich
die CSU nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir brau-
chen kein Betreuungsgeld, das gerade Eltern mit gerin-
gem Einkommen motiviert, die Kinder nicht in die
Krippe zu schicken, wodurch den Kindern die frühkind-
liche Bildung vorenthalten wird.


(Beifall bei der FDP – Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Das diskutieren wir an anderer Stelle, welche Vorteile das hat!)


Wir müssen das Geld direkt in die Kinder investieren
statt in staatliche Umverteilungsmaßnahmen. Wir geben
in Deutschland im OECD-Vergleich verhältnismäßig
viel für Finanzhilfen an Familien aus. Aber das Geld
kommt nicht dort an, wo es gebraucht wird.


(Beifall bei der FDP)


Wir müssen all jene entlasten, die Kinder haben. Sie
sind es nämlich, die in Deutschland nach wie vor die
höchste Steuer- und Abgabenlast zu tragen haben. Meine
Damen und Herren von der Großen Koalition, Sie haben
es geschafft, dass eine durchschnittliche Familie im letz-
ten Jahr 1 400 Euro mehr ausgeben musste als in den
Jahren zuvor.


(Beifall bei der FDP)


Es kommt hinzu, dass wir die Elternkompetenz stär-
ken und den Eltern Möglichkeiten eröffnen müssen, auf
dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sie ihr Leben in
die eigenen Hände nehmen können. Kinder können nicht
arbeiten gehen; sie können auch kein Geld verdienen.
Sie sind es auch nicht, die wider besseres Wissen das
Kindergeld für Smarties statt für Spinat ausgeben.

Handeln muss die Devise für 2008 lauten, aber ohne
Ideologie und ohne Propaganda. Ich lade Sie, Herr Gysi,
ganz herzlich in den Familienausschuss ein; wir haben
dort schon einen prominenten Gast, nämlich Herrn
Müntefering. Dann können Sie einmal die Ausgaben zu-
sammenzählen, die Ihre Kolleginnen und Kollegen uns
jeden Mittwoch unterbreiten. Mit diesen Mehrausgaben
werden Sie noch mehr Väter und Mütter in die Arbeits-
losigkeit bringen, anstatt sie herauszuholen.

(Widerspruch bei der LINKEN)


So wird die nächste soziale Frage des Jahrhunderts ent-
stehen.

Danke.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613912700

Jetzt spricht die Kollegin Marlene Rupprecht für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1613912800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Ich habe lange Zeit mit Kindern gearbeitet; das wis-
sen Sie. Wenn man mit Kindern zu tun hat, dann benutzt
man Bilder. Ich will Ihnen ein Bild beschreiben, anhand
dessen deutlich wird, worum es geht.

Über den Teich des Lebens führt ein Steg. Er ist aber
an vielen Stellen morsch und daher nicht mehr sehr sta-
bil. Jetzt fallen welche in den See. Ich kann ihnen einen
Rettungsring zuwerfen; das ist in der akuten Situation
vernünftig. Ich kann ihnen einen Luxusrettungsring zu-
werfen und sagen: „Schwimmt ruhig weiter!“ Oder ich
tue zwei Dinge: Ich repariere erstens den Steg und über-
prüfe, ob er noch tauglich ist für die, die darüber gehen,
um das Leben zu bewältigen, und ich bringe ihnen zwei-
tens das Schwimmen bei.

Ich will Ihnen mit diesem Bild zeigen: Wir haben auf
zwei Ebenen zu arbeiten. Die eine Ebene sind die Struk-
turen, die die Gesellschaft setzen muss. Bei dem, was je-
mand auf dieser Ebene fordert, kommt dessen Men-
schenbild zutage. Zu meinem Menschenbild gehören
selbstständige, eigenverantwortliche, freie Entscheidun-
gen und aufrechter Gang, ohne Almosen erbitten oder
Transferleistungen beziehen zu müssen. Dazu brauche
ich den Steg. Damit ich im Falle von Unbill nicht ab-
saufe, muss ich schwimmen lernen. Diese Forderung
geht an mich: Ein bisschen anstrengen muss ich mich,
um nicht unterzugehen.

Diese beiden Dinge setzen ein Gesellschaftsbild vo-
raus, in dem Teilhabe aller Menschen, ob gescheit oder
dumm, ob behindert oder nicht behindert, möglich ist.


(Beifall bei der SPD)


Dies setzt voraus, dass wir frei entscheiden können. Frei
zu entscheiden, heißt aber auch, keine Anträge stellen
und keine Bittgänge machen zu müssen, sondern das,
was ich brauche, dank meiner Fähigkeiten zur Verfü-
gung zu haben, und zwar – in der Erwerbsgesellschaft –
aufgrund von Erwerbstätigkeit. Dazu muss ich Men-
schen durch Bildung befähigen.

Kinder kommen – das sage ich als Kinderbeauftragte;
ich glaube, da stimmen alle zu – wissbegierig zur Welt.
Sie wollen die Welt entdecken. Wir Erwachsene schaffen
es nur sehr häufig, ihnen diese Wissbegierde zu nehmen.
Aber Kinder wollen die Welt entdecken. Sie sind manch-
mal schneller, manchmal langsamer. Wir als Gesell-
schaft müssen die Einrichtungen, die wir vorhalten, für






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

alle gestalten. Das nennt man heute Inklusion. Ich finde
es schön, die Welt in Vielfalt zu denken und die Kinder
dort abzuholen, wo sie sind. Unseren Kindern müssen
alle Fördermöglichkeiten offenstehen, damit die Fähig-
keiten in ihnen tatsächlich zutage treten. Das, denke ich,
ist das Wichtigste.

Aus der Hirnforschung wissen wir: Wenn ich gelernt
habe, dass es schon irgendwie geht, dass ich mich gar
nicht anstrengen muss, dann kenne ich nicht das gute
Gefühl des Erfolgs, nachdem ich mich angestrengt habe.
Wenn ich diese Kultur des Sich-Anstrengens nicht ken-
nengelernt habe, dann ist das in meinem Hirn nicht ver-
ankert, dann weiß ich gar nicht, wie gut sich das anfühlt.
Deshalb müssen wir bei den Kindern anfangen, sie aus
dieser Mühle herausholen. Dazu müssen aber alle, die
Gesellschaft und die Wirtschaft, umdenken. Es genügt
nicht, dass die einen von den Kindern fordern, sich anzu-
strengen, wenn die anderen sagen: Wir wollen euch gar
nicht. Du kannst dich zwar anstrengen, du kannst
schwimmen und alles Mögliche tun; aber eigentlich hät-
test du gar nicht auf die Welt kommen müssen. Damit du
nicht stirbst, geben wir dir jetzt eine Grundsicherung. –
Eine solche Haltung halte ich in einer Demokratie für fa-
tal. Sie setzt voraus, dass man nicht alle Menschen als
vor Gott gleich ansieht, wie es im Grundgesetz verankert
ist.

Gleichheit bedeutet, dass man jedem, der hier an-
kommt, das Gefühl vermittelt: Ich bin mit Fähigkeiten
ausgestattet, die ich entwickeln darf und mit denen ich
mir die Teilhabe ermöglichen kann. – Das bedeutet aber
auch: Ich muss heraus aus dem Bezug von Transferleis-
tungen, wenn ich Demokratie will. Ein Versorgungsstaat
beschränkt die Freiheit kolossal. Er ist nicht mein Ziel.
Ich muss die Menschen durch Erwerbstätigkeit in die
Lage versetzen, frei zu sein und frei ihr Leben zu gestal-
ten. Ich muss Familien so weit bringen, dass sie ihre
Kinder gut aufziehen können.


(Beifall bei der SPD)


Dazu brauche ich natürlich ab und zu einen Rettungs-
ring. Wir brauchen Rettungsringe, und wir müssen über-
prüfen, ob sie das aushalten, was wir von ihnen fordern.
Aber nur die Welt mit Rettungsringen auszustatten, da-
mit man nicht absäuft, halte ich für fatal und menschen-
verachtend. Deshalb ist es mein Wunsch, dass wir die
Wirtschaft auffordern, die Menschen aufzunehmen, sie
auszubilden und in Arbeit zu bringen und ihnen gerechte
Löhne zu zahlen, und von klein auf Strukturen für ein
„Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ – davon
spricht der Elfte Kinder- und Jugendbericht – schaffen.
Wir dürfen nicht weggucken, sondern müssen hingu-
cken, damit unsere Kinder die guten Demokraten der
Zukunft werden.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613912900

Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1613913000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Lieber Herr Gysi, Kollegin Fischbach hat
vorhin versehentlich gesagt, Sie hätten sie erregt. In Ab-
stimmung mit der Kollegin stelle ich klar: Sie haben sie
nicht erregt, Sie haben sie aufgeregt.


(Heiterkeit)


Sie hätten sich einiges an Aufregung sparen können
– bei allem engagierten Vortrag und angesichts Ihrer ge-
schwollenen Halsschlagader während Ihres Vortrags –,
wenn Sie sich zumindest der Mühe unterzogen hätten,
Ihren eigenen Antrag anzuschauen. Der Antrag datiert
vom 18. September 2007; das ist per se noch nichts
Schlechtes. Aber in dem Antrag steht eine Ziffer 5 – ich
weiß nicht, ob Sie es gelesen haben –, in der es heißt:

Die Befristung der Bezugsdauer des Kinderzuschla-
ges auf höchstens 36 Monate wird aufgehoben.

In welcher Welt leben Sie denn? Was haben Sie denn in
den letzten Monaten mit Ihren Familienpolitikern be-
sprochen? Diese Befristung ist mit Wirkung vom
1. Januar 2008 aufgehoben. Die Ziffer 5 Ihres Antrags
hätten Sie sich also komplett schenken können.

Ich muss noch einige weitere Sätze zu Ihnen sagen,
lieber Herr Gysi, bevor ich zu meinem eigenen Thema
komme. Sie haben ausgeführt, in der DDR hätten unsere
Kanzlerin Angela Merkel und Sie eine Ganztagsschule
besucht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Gesamtschule!)


Meines Wissens waren das Polytechnische Oberschulen.
– Eine Ganztagsschule?


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Gemeinschaftsschule!)


– Eine Gemeinschaftsschule; das lasse ich mir gern sa-
gen. Gleichwohl liefert diese Gemeinschaftsschule im-
merhin den Beweis dafür, dass auch aus diesem Schul-
system sehr differenzierte, qualitativ unterschiedliche
Ergebnisse herausgekommen sind.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Das stimmt!)


– Das ist wahr, Herr Gysi.

Meine Damen und Herren, trotz der konjunkturellen
Belebung in den letzten beiden Jahren – die Vorredner
haben zum Teil bereits darauf hingewiesen – und der
Tatsache, dass nunmehr im Vergleich zum Dezember
2006 immerhin 1,2 Millionen Mitbürgerinnen und Mit-
bürger weniger in Arbeitslosigkeit sind und innerhalb
von zwei Jahren fast 900 000 Mitbürgerinnen und Mit-
bürger mehr in sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-
gungsverhältnissen sind, bleibt die traurige Tatsache,
dass in Deutschland eine zunehmende Anzahl von Kin-
dern, insbesondere von Kleinkindern, nach wie vor in
Armut aufwachsen muss.

Nach EU-Definition ist ein Haushalt mit zwei Er-
wachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren dann ar-
mutsgefährdet, wenn er monatlich über weniger als






(A) (C)



(B) (D)


Paul Lehrieder
1 640 Euro verfügt. Doch auch bei einem derart gerin-
gen Einkommen ist in Deutschland keine Familie von
akuter Hungersnot bedroht. Wohl aber gehen mit der
drohenden Armut häufig gesundheitliche Probleme,
Lernschwierigkeiten – Herr Kollege Spanier hat dies
ebenfalls angesprochen –, niedrigere Schulabschlüsse
und eine höhere Wahrscheinlichkeit delinquenten Ver-
haltens mit der Häufung späterer Arbeitslosigkeit einher.

Zunehmende Kinderarmut ist nicht nur im Einzelfall
tragisch, sondern kann auch zu erheblichen negativen
Langzeitfolgen für die Gesellschaft als Ganze führen.
Deshalb ist es unserer Fraktion klar, dass es mehr Sinn
macht, Kinder schon in der Kindertagesstätte zu fördern,
anstatt später Schulabbrecher in sogenannten Hartz-IV-
Karrieren – das ist fast das Unwort des Jahres geworden –
zu unterstützen. Wir wollen lieber Geringqualifizierte
mit einem Mindesteinkommen in Arbeit bringen, anstatt
sie mit Sozialleistungen für den Verlust von Arbeit und
Teilhabe an der Gesellschaft abzufinden. Kollege Lau-
renz Meyer hat im Rahmen der Wirtschaftsdebatte heute
Morgen genau dies bestätigt.

Vorbeugen statt hartzen – so lässt sich auch das Er-
gebnis eines Symposiums unserer Fraktion zum Thema
„Familien in sozial schwierigem Umfeld“ auf den Punkt
bringen, das wir in der vergangenen Woche im Reichs-
tagsgebäude veranstaltet haben. Kinder aus dem Sozial-
transfer zu holen, das ist zwar vor allem aufseiten der
Kommunen ein Kostenfaktor, entlastet aber auf Dauer
die sozialen Sicherungssysteme. An diesem Symposium
hat auch die „Arche“ Berlin teilgenommen. Ich nutze die
Gelegenheit, allen engagierten Mitbürgerinnen und Mit-
bürgern landauf, landab, ob in München, Frankfurt,
Hamburg oder Berlin, die in ähnlichen Projekten mitar-
beiten und uns helfen, Kinder in ein vernünftiges, men-
schenwürdiges Leben zu geleiten, herzlich für ihren
Mut, ihr Engagement und ihre Arbeit zu danken, die zum
Teil eine Sisyphusarbeit ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Christel Humme [SPD])


Wir sollten parteiübergreifend prüfen – damit greife
ich den Vorschlag des Kollegen Spanier auf –, inwiefern
wir unter dem Gesichtspunkt „mens sana in corpore
sano“ – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper –
mit einer gesunden Ernährung, angefangen bei den
kleinsten Kindern von null bis drei Jahren bis zum
Schulalter über die Bezuschussung eines warmen Mit-
tagessens, den Kindern da helfen können, wo es am al-
lernötigsten ist. Mit einem vollen Bauch kann man sich
den Aufgaben und Anforderungen – sei es in der Kinder-
krippe, im Kindergarten oder in der Schule – besser stel-
len. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn in einer Kin-
dertagesstätte – ob in der Krippe oder im Kindergarten –
manche Kinder ein vernünftiges und gesundes Mittages-
sen von zu Hause mitbringen, während andere gar nichts
dabei haben. Es darf nicht an den Kosten scheitern, diese
Kinder in gleichem Maße zu versorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Helga Lopez [SPD])

– Ich kenne Ihren Antrag, Frau Lopez. – Wir sollten uns
damit befassen, welche Möglichkeiten wir in diesem Be-
reich haben und wie die Kosten gerecht verteilt werden
können.

Wie wichtig das ist, wird deutlich, wenn wir uns vor
Augen führen, dass in Deutschland schätzungsweise
2,6 Millionen Menschen in der sogenannten ererbten So-
zialhilfe leben. Diese Menschen leben bereits in zweiter
oder dritter Generation ausschließlich von staatlichen
Transferleistungen. Die betroffenen Kinder erleben da-
mit staatliche Transfers als langfristige Lebensnormali-
tät. Sie kennen keine Eltern oder Großeltern, die mor-
gens zur Arbeit gehen und das Einkommen der Familie
sichern. Diese Kinder leben nicht nur in Armut, sondern
laufen auch Gefahr, den zum Teil apathischen Lebensstil
ihrer Eltern nachzuleben.

Mit einer finanziellen Steigerung der Sozialtransfers
allein ist diesen Kindern nicht geholfen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Ihre Familien brauchen vor allem eines: Hilfe zur Selbst-
hilfe. Umgekehrt kann über die Hilfe für die Kinder in
vielen Fällen auch eine Veränderung in der Lebensein-
stellung der Eltern erreicht werden. Dazu müssen die
aufsuchenden Strukturen verstärkt werden; wir müssen
auf die Familien zugehen und sie im Alltag stärken, da-
mit das Vererben des Lebensstils, von Sozialtransfers ab-
hängig zu sein, wirkungsvoll verhindert werden kann.

Leistungsfähige, starke und intakte Familien sind der
beste Kinderschutz und auch der beste Weg, Kinderar-
mut entgegenzuwirken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dazu gehört aber auch, dass wir uns für bessere Chancen
für alle Eltern auf dem Arbeitsmarkt starkmachen. Kin-
der geraten insbesondere dann in Armut, wenn ihre El-
tern keine Arbeit haben. Deshalb ist die wachsende
Nachfrage am Arbeitsmarkt gemeinsam mit dem zügi-
gen Ausbau der Kinderbetreuung der entscheidende
Weg, Kinderarmut mittelfristig und dauerhaft zu senken.

Mehr Betreuungsangebote für unter Dreijährige sind
insbesondere eine gute Antwort auf das hohe Armutsrisiko
von Alleinerziehenden. Der Ausbau der Kinderbetreu-
ungseinrichtungen und die Einführung des Elterngeldes
sind wirksame Maßnahmen, die die Bundesregierung
bereits ergriffen hat.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613913100

Herr Kollege!


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1613913200

Ich habe gesehen, dass Sie mich mahnen, zum Ende

zu kommen, Frau Präsidentin. Ich habe mich am Anfang
leider mit Herrn Gysi aufhalten müssen und bin deshalb
noch nicht ganz fertig mit meinen Ausführungen.






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613913300

Das ist aber zulasten Ihrer Redezeit gegangen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1613913400

Bitte gestatten Sie mir, meine Bemerkung noch zu

Ende zu bringen.

Die Bundesregierung hat, wie gesagt, bereits wirk-
same Maßnahmen ergriffen, um Armut gerade auch bei
den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft – den unter
Dreijährigen – entgegenzuwirken.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau
Präsidentin, für Ihre Geduld.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613913500

Jetzt hat Caren Marks das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1613913600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Armut beschämt nicht die betroffenen Menschen,
Armut beschämt die Gesellschaft.

Dieses Zitat von Ruth Dreifuss, einer Schweizer Sozial-
demokratin, fordert uns alle auf, Armut nicht hinzuneh-
men und aktiv zu werden. Mit Populismus wird aller-
dings kein einziges Kind aus der Armut geholt, Herr
Gysi.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Dann beschließen Sie doch was! Sie haben Hartz IV beschlossen, nicht wir!)


Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, Kindern
gleiche Chancen auf Teilhabe an der Gesellschaft zu er-
öffnen. Die SPD findet sich nicht damit ab, dass immer
mehr Kinder in Armut aufwachsen. Deswegen ist die
Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut seit jeher
ein Schwerpunkt unserer Politik.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Unter Ihrer Regierung hat sie sich verdoppelt!)


Dabei ist uns bewusst, Herr Gysi, dass Kinderarmut
viele Gesichter hat. Materielle Armut ist nur eines da-
von.

Ausreichende finanzielle Mittel sind die Vorausset-
zung, um am sozialen und wirtschaftlichen Leben teilzu-
haben. Aus diesem Grunde haben wir in der letzten
Legislaturperiode den Kinderzuschlag auf den Weg ge-
bracht, und wir werden ihn auch weiterentwickeln. Der
beste Schutz vor Kinderarmut ist aus unserer Sicht, El-
tern Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Auch hier waren
wir erfolgreich; die Zahlen für den Arbeitsmarkt belegen
dies. Ein weiterer wichtiger Schritt ist der Abbau der
Einkommensarmut durch existenzsichernde Löhne. Der
von der SPD geforderte gesetzliche Mindestlohn – das
richte ich an unseren Koalitionspartner – würde Eltern
und ihre Kinder unabhängiger von staatlichen Transfers
machen.

Eltern zu ermöglichen, Familie und Beruf wirklich
besser miteinander zu vereinbaren, verringert ebenfalls
Kinderarmut. Dies gilt insbesondere für Alleinerzie-
hende. Hier haben wir viel erreicht. Wir haben Milliar-
denbeträge in die Hand genommen und in frühkindliche
Bildung und Betreuung sowie Ganztagsschulen inves-
tiert. Bildungschancen für alle führen dazu, dass wich-
tige Potenziale von Kindern und Jugendlichen nicht ver-
loren gehen. Gute Bildung verbessert die Chance auf ein
wirklich selbstbestimmtes Leben ohne Armut. Gleiche
Bildungschancen beginnen bei den Kleinsten. So hat
sich die SPD auch in der Großen Koalition erfolgreich
für den Ausbau der frühen Kinderbetreuung und -förde-
rung ab eins eingesetzt. Wir investieren noch einmal
4 Milliarden Euro. Der Rechtsanspruch auf einen Be-
treuungsplatz ab eins und der Ausbau von Ganztags-
schulen sorgen für optimale Förderung von Kindern, und
zwar unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.


(Beifall bei der SPD)


Die SPD setzt sich darüber hinaus für die Beitragsfrei-
heit der Kitas und die Lernmittelfreiheit ein. All diese
Aspekte, meine Damen und Herren von der Linken, ha-
ben Sie in Ihrem Antrag komplett ausgeblendet.

Defizite im sozialen Umfeld von Kindern sind ein
weiteres Gesicht von Kinderarmut. Wir setzen seit Jah-
ren auf bewährte Programme wie „Soziale Stadt“ oder
„Lokale Bündnisse für Familie“; denn wir wissen: Ak-
tive Stadtteilpolitik in den Kommunen, das Entschärfen
sozialer Brennpunkte sowie die Stärkung von Eltern-
kompetenz verbessern die soziale Lebenslage von Kin-
dern. Kinderarmut zeigt sich aber auch in Form von
schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung. Des-
halb fördert gerade unsere Bundesgesundheitsministerin
Ulla Schmidt gesundheitliche Prävention, gesunde Er-
nährung und Früherkennung von Krankheiten bei Kin-
dern.

All dies zeigt: Die SPD hat die unterschiedlichen Ge-
sichter von Kinderarmut im Blick. Unter der Leitung
von Wolfgang Jüttner haben wir aktuell alle Kräfte ge-
bündelt


(Zurufe von der FDP: Oh! – Ina Lenke [FDP]: Ist Jüttner im Bundestag?)


und eine Gesamtstrategie entwickelt. Unsere Ziele sind
eine kinderfreundliche Gesellschaft und gleiche Lebens-
und Verwirklichungschancen für wirklich jedes Kind.
Hier sind wir alle gefordert, nicht nur im Bund, sondern
auch in den Ländern und in den Kommunen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613913700

Ich schließe die Aussprache.

Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, die Vor-
lage auf Drucksache 16/6430 an die in der Tagesordnung






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Wahl- und Abgeordnetenrechts

– Drucksache 16/7461 –

– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 16/1036 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 16/7814 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)

Klaus Uwe Benneter
Gisela Piltz
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn

b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Achtzehnten Gesetzes zur Än-
derung des Bundeswahlgesetzes

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 16/7815 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)

Gabriele Fograscher
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Wahlmanipulationen wirksam verhindern

– Drucksachen 16/5810, 16/7816 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer (Altötting)

Klaus Uwe Benneter
Gisela Piltz
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn

Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Red-
ner dem Kollegen Stephan Mayer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1613913800

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Das Wahl- und
Abgeordnetenrecht steht zugegebenermaßen auf der po-
litischen Agenda nicht immer ganz oben, aber alle politi-
schen Parteien sollten gut daran tun, sich intensiv mit
dem Wahl- und Abgeordnetenrecht zu beschäftigen;


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hätte ich gern gemacht!)


denn Wahlen sind neben Abstimmungen nach unserem
Grundgesetz die Form, in der das Volk die Staatsgewalt
ausübt. Die Volkssouveränität ist die Materie, die für un-
sere demokratische Gesellschaftsordnung grundlegend
ist. Das Wahl- und Abgeordnetenrecht dient meines Er-
achtens auch dazu, der offenbar zunehmenden Politik-
und Politikerverdrossenheit entgegenzuwirken. Ein gu-
tes Wahl- und Abgeordnetenrecht kann meines Erach-
tens auch dazu beitragen, die Partizipation der Bevölke-
rung am politischen Geschehen und damit letztendlich
an Wahlen zu erhöhen.

Es trifft nicht zu – dies wurde teilweise kolportiert –,
dass wir nichts am Wahlrecht ändern. Ganz im Gegen-
teil: Das Wahl- und Abgeordnetenrecht wird einfacher,
unbürokratischer und bürgerfreundlicher.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich möchte die wichtigsten Aspekte der Novellierung
des Wahl- und Abgeordnetenrechts darstellen.

Wir ändern das Berechnungsverfahren für die Vertei-
lung der Wahlkreise auf die Länder sowie für die Vertei-
lung der Sitze auf die Landeslisten. Von dem bisherigen
Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer wird zum
Verfahren nach Sainte Laguë/Schepers übergegangen.
Ein Vorteil des neuen Berechnungsverfahrens – es wird
beispielsweise schon bei den Bürgerschaftswahlen in
Bremen und Hamburg angewandt, aber auch bei den
Landtagswahlen in Baden-Württemberg – ist, dass es
nicht zu paradoxen Ergebnissen kommen kann – das ist
zugegebenermaßen sehr selten der Fall –, wie das bei
dem Berechnungsverfahren nach Hare/Niemeyer mög-
lich ist. Dies wäre der Fall, wenn Parteien, die mehr
Stimmen bekommen, einen Rückgang der Mandate zu
verzeichnen haben. Ein weiterer Vorteil des Berech-
nungsverfahrens nach Sainte Laguë/Schepers ist, dass
die Wahlkreiskontinuität erhöht wird. Das heißt, dass es
weniger Hin und Her bei der Berechnung der Wahlkreise
gibt, die auf die einzelnen 16 Bundesländer verteilt sind.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das wäre jetzt ganz schön!)


Des Weiteren führen wir nunmehr das aktive Wahl-
recht für alle im Ausland lebenden Deutschen ein. Das
mag auf den ersten Blick vielleicht etwas verwundern.
Bisher war es so, dass nur die im Ausland lebenden
Deutschen, die sich in Mitgliedsländern des Europarates
aufhielten, ein unbefristetes aktives Wahlrecht hatten.
Das ist aber anachronistisch, weil es mittlerweile im
Zeitalter des Internets und der modernen Kommunika-






(A) (C)



(B) (D)


Stephan Mayer (Altötting)

tionsmethoden meines Erachtens von überall auf der
Welt gleichermaßen möglich ist, sich über das politische
Geschehen in Deutschland und über die politischen und
gesellschaftlichen Vorgänge zu informieren.

Ein wichtiger Punkt im Bereich der Entbürokratisie-
rung ist folgender: Wir verzichten in Zukunft darauf,
dass die Bürgerinnen und Bürger, die die Briefwahl in
Anspruch nehmen, die Gründe ihrer Verhinderung
glaubhaft machen müssen. Die Briefwahl ist ein wichti-
ger Bestandteil der Wahlen insgesamt. Allein bei der
Bundestagswahl 2005 haben 18,7 Prozent der Wählerin-
nen und Wähler nicht von der Urnenwahl, sondern von
der Briefwahl Gebrauch gemacht. Es waren immerhin
9 Millionen Wählerinnen und Wähler, die man dazu ver-
pflichtet hat, ihre Verhinderungsgründe am Wahltag
glaubhaft zu machen. Einmal abgesehen davon, dass das
eine Regelung war, die im Einzelfall ohnehin nicht über-
prüft werden konnte, damit meines Erachtens vollkom-
men sinnlos war und übertriebenen und unnötigen For-
malismus darstellte, ist es wichtig, mit dem Verzicht auf
die Glaubhaftmachung den Weg zur Teilnahme an der
Briefwahl zu erleichtern und zu vereinfachen. Deswegen
ist es ein wichtiger Aspekt zum Thema Entbürokratisie-
rung, wenn nunmehr auf die Glaubhaftmachung verzich-
tet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich komme zu einem Punkt, der dazu beitragen soll,
dass die Wahlbeteiligung nicht, wie in der Vergangen-
heit, zurückgeht, sondern vielleicht sogar wieder steigt.
Auch in Zukunft ist die Teilnahme an der Briefwahl kos-
tenlos. Diese Regelung war erforderlich, nachdem das
Briefmonopol für Briefe unter 50 Gramm zum 1. Januar
2008 aufgehoben wurde. Nunmehr bleibt es bei der Kos-
tenfreiheit der Teilnahme an der Briefwahl.

Eine Regelung hat in der Vergangenheit nie Relevanz
gehabt: Nach der Wahl zum Bundestagsabgeordneten
musste man erst eine förmliche Mandatsannahmeerklä-
rung abgeben. – Es gab keinen einzigen Fall, in dem ein
Kollege oder eine Kollegin von uns das errungene Di-
rektmandat nicht angenommen und diese Mandatsan-
nahmeerklärung nicht abgegeben hat. In Zukunft ver-
zichten wir auf die Mandatsannahmeerklärung. Auch
das ist ein positiver Aspekt.

Im Wahlgesetz soll ausdrücklich festgestellt werden,
dass eine Nachwahl – eine solche war leider Gottes im-
mer wieder einmal notwendig – auch am Tag der Haupt-
wahl stattfinden kann. Diese Praxis ist schon bisher ge-
übt worden. Jetzt schreiben wir das explizit ins
Wahlgesetz.

In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf den
Gesetzentwurf des Bundesrates eingehen, der die Mög-
lichkeit vorsieht, in Zukunft fakultativ Ersatzbewerber
aufzustellen. Ich möchte uns ermahnen, diesen Gesetz-
entwurf nicht anzunehmen. Hintergrund des Entwurfs ist
die Nachwahl in Dresden, die bei der Bundestags-
wahl 2005 erforderlich gewesen ist. Dazu möchte ich
ganz deutlich sagen: So unschön diese Nachwahl, wenn
auch nicht hinsichtlich des Ergebnisses, für die Union
war, so wenig würde diese Fallkonstellation durch die im
Gesetzentwurf des Bundesrates vorgeschlagenen Rege-
lungen gelöst werden. Zum einen steht im Gesetzent-
wurf des Bundesrates, dass die Aufstellung von Ersatz-
bewerbern nur fakultativ ist, also keine Verpflichtung
besteht, Ersatzbewerber aufzustellen. Zum anderen be-
steht theoretisch die Möglichkeit, dass auch ein Ersatz-
bewerber noch vor der Durchführung der Hauptwahl
verstirbt. Selbst wenn die Gesetzeslage so wäre, wie sie
der Bundesratsentwurf vorsieht, wäre bei bestimmten
Fallkonstellationen die Notwendigkeit einer Nachwahl
nicht gänzlich ausgeschlossen.

Ein weiterer Punkt: Für den Fall, der immer wieder
einmal vorkommt, dass Stimmzettel aus einem anderen
Wahlkreis in einer Wahlurne landen, ist zukünftig vorge-
sehen, dass zumindest die Zweitstimme gewertet wird.
Die Erststimme kann natürlich nicht gewertet werden,
aber die Zweitstimme soll gewertet werden, um dem
Wählerwillen, der ja erkennbar ist, in größtmöglicher
Art und Weise Rechnung zu tragen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in politi-
scher Hinsicht vielleicht der wichtigste Punkt der Novel-
lierung des Wahl- und Abgeordnetenrechts ist meines
Erachtens, dass es in Zukunft nicht mehr erlaubt sein
wird, dass parteifremde Bewerber auf Listenplätzen kan-
didieren. Bei der Bundestagswahl 2005 gab es diese
Konstellation. Es besteht gerade in Zukunft die große
Gefahr, dass sich verstärkt kleine und Kleinstparteien
zusammentun und in produktiver Weise zusammenarbei-
ten, um damit über die 5-Prozent-Sperrklausel zu kom-
men.

Das Verfassungsgericht hat ja ganz klar festgestellt,
dass es das Monopol der Parteien ist, Kandidaten aufzu-
stellen, und zwar deshalb, weil die Homogenität eines
Wahlvorschlages insbesondere durch das Parteipro-
gramm, auf das sich die Mitglieder einer Partei verstän-
digt haben, hergestellt wird. Ich glaube, es würde zuneh-
mend zu Wählertäuschungen kommen, wenn wir es
zulassen würden, dass weiterhin verdeckt gemeinsame
Listen aufgestellt werden. Es ist deshalb in politischer
Hinsicht eine ganz wichtige Neuerung, dass diese ver-
deckt gemeinsamen Listen in Zukunft nicht mehr erlaubt
sind. Parteilose Bewerber dürfen natürlich auf Wahllis-
ten kandidieren; aber parteifremde Bewerber dürfen in
Zukunft, nach der Novellierung des Wahlrechts, nicht
mehr kandidieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Natürlich war es, wie in jeder Legislaturperiode, auch
unsere Aufgabe, die 299 Wahlkreise neu einzuteilen.
Dies ist nicht immer einfach. Man kann bei diesem Vor-
haben nicht immer allen Wünschen und allen Vorstellun-
gen gerecht werden. Wir haben dies meines Erachtens in
größtmöglicher Seriosität und Geschlossenheit ge-
schafft. Es war leider nicht zu verhindern – das möchte
ich nicht verhehlen –, zwei Wahlkreise aufgrund des Be-
völkerungsrückgangs in den betreffenden Bundeslän-
dern zu transferieren. Es trifft dieses Mal die beiden Ost-
länder Sachsen und Sachsen-Anhalt.


(Zuruf von der FDP: Sachsen-Anhalt ist Mitte!)







(A) (C)



(B) (D)


Stephan Mayer (Altötting)

Das ist bedauerlich; ich möchte das hier in aller Deut-
lichkeit festhalten. Um aber bei der Bundestagswahl
2009 wirklich mit Sicherheit verfassungsgemäße Wah-
len durchführen zu können, war es, um dem Grundsatz
der Wahlgleichheit Genüge zu tun, erforderlich, zwei
Wahlkreise zu verschieben, und zwar einen Wahlkreis
von Sachsen nach Baden-Württemberg und einen ande-
ren Wahlkreis von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen.
Wir werden insoweit den Vorgaben des Wahlgesetzes
und auch des Bundesverfassungsgerichtes gerecht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
wir bieten mit diesem Vorschlag, den wir zur Novellie-
rung des Wahl- und Abgeordnetenrechts unterbreiten,
insgesamt eine ausgewogene, eine sachgerechte und eine
vernünftige Grundlage für die Durchführung der Bun-
destagswahl 2009 an. Wir legen Hand ans Wahlrecht.
Wir tun etwas. Es könnte natürlich immer noch mehr ge-
macht werden, aber dazu bedarf es einer Verständigung.
Das wird jetzt nicht die letzte Novellierung des Wahl-
und Abgeordnetenrechts sein. Es wird mit Sicherheit
auch in der nächsten Legislaturperiode wieder einer No-
vellierung bedürfen. Ich glaube aber, wir können mit
Stolz feststellen: Nach dieser Novellierung haben wir ein
außerordentlich modernes, sachgerechtes und praktika-
bles Abgeordneten- und Wahlrecht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613913900

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-

Fraktion.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1613914000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Es ist zu begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen
uns heute einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, um eine
Anpassung der Wahlkreise vorzunehmen. Das ist not-
wendig, damit wir den Grundsatz der Gleichheit der
Wahl in unserem Land auch wirklich realisieren können.
Jeder Wahlkreis repräsentiert circa 250 000 Wähler. Man
muss feststellen: Durch die Ost-West-Abwanderung ist
die Anzahl der Menschen in einzelnen Wahlkreisen, vor
allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt, so weit gesunken,
dass eine Anpassung dringend notwendig ist.

Eines bedauern wir als FDP-Fraktion besonders: Es
ist uns immer noch nicht gelungen, mindestens zwei
Wahlkreise, nämlich Krefeld und Rotenburg-Verden, so
zurechtzuschneiden, dass es dem Willen der Bürger ent-
spricht und mehr oder weniger den Stadtkreis abbildet.
Manchmal ist das nicht so einfach möglich.


(Beifall bei der FDP)


Auch wenn die Zeit drängt, weil die Wahlvorbereitun-
gen für die Bundestagswahl ab März beginnen und damit
eine intensive Phase des Wahlkampfs vor uns liegt, soll-
ten wir uns in diesem Parlament immer noch auf einen
respektvollen Umgang verständigen. In Angelegenhei-
ten, die das Parlament selbst betreffen – dazu gehören
natürlich Wahlangelegenheiten –, werden vor der Ein-
bringung eines solchen Gesetzentwurfs normalerweise
Berichterstattergespräche geführt. Das hat es diesmal
nicht gegeben. Wir stellen fest, dass das eine weitere
Perpetuierung des Zustands der „groben Koalition“ ist.
Sie sind sich selbst genug, Koalition und Opposition in
einem. Da muss man nicht mehr mit der wahren Opposi-
tion sprechen. Wir bedauern das sehr.


(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP])


Eines ist klar: Das Wahlrecht für den Bundestag geht uns
alle an, die wir hier sitzen, und nicht nur Sie in der Mitte
des Hauses. – Das ist aber auch alles an Mitte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Den meisten Punkten, die Sie geändert haben – das
haben wir im Ausschuss schon besprochen –, können
wir zustimmen. So haben wir seit langem gefordert, das
Berechnungsverfahren, um Wählerstimmen in Abgeord-
netenmandate umzurechnen, zu ändern. Ungereimthei-
ten, die bei anderen Berechnungsmethoden auftreten
können, werden mit dem Verfahren Sainte Laguë/
Schepers vermieden. Zudem wird mit diesem Verfahren
die Gleichheit des Erfolgswertes der Stimmen optimiert.

Auch dem Vorschlag, den im Ausland lebenden Deut-
schen ein zeitlich unbefristetes Wahlrecht einzuräumen,
können wir folgen. Ich glaube, das ist in Zeiten, in denen
man sich über das Internet immer gut darüber informie-
ren kann, was zu Hause los ist, eigentlich eine Selbstver-
ständlichkeit. Es ist übrigens auch ein Beitrag zur Ent-
bürokratisierung.

Einen Beitrag zum Bürokratieabbau stellt ebenfalls
– das haben auch Sie, Herr Mayer, gesagt – der Vor-
schlag zur Briefwahl dar. Die Briefwahl erfreut sich ei-
ner steigenden Beliebtheit. Das können wir alle verste-
hen: Wenn man nicht genau weiß, ob man am Wahltag
zu Hause sein wird oder nicht, dann möchte man seine
Stimme abgeben können. Ich denke, es ist nachvollzieh-
bar und sicher sehr richtig, dass wir jetzt dafür sorgen,
dass den Bürgern Briefwahl möglich ist, ohne dass sie
lügen müssen – so muss man es einmal nennen – und
ohne dass die Verwaltung gehalten ist, Nachprüfungen
vorzunehmen.

Auch das, was Sie zu den Briefumschlägen, mit de-
nen die Stimmzettel verpackt werden, vorgeschlagen ha-
ben, ist klug. Ich weiß, wovon ich rede: Ich habe früher
in einem Amt für Wahlen und Statistik gearbeitet. Ich
kann Ihnen sagen: Es ist nicht selbstverständlich, dass
diese Umschläge in der richtigen Reihenfolge eingetütet
werden. Auch da leisten wir unseren Beitrag dazu, dass
jede Stimme beim Auszählen gewertet wird. So viel zu
Ihrem Gesetzentwurf.

Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung können wir
hingegen nicht folgen. Dieser Entwurf sieht zwar die fa-
kultative Benennung eines Ersatzkandidaten für einen
Wahlkreisbewerber vor.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dem Gesetzentwurf des Bundesrats!)







(A) (C)



(B) (D)


Gisela Piltz
– Des Bundesrats natürlich. Entschuldigung, ich habe
mich versprochen. So nah wollte ich Ihnen jetzt nicht
treten, dass ich Ihnen das unterstelle.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Die Bundesregierung macht keine anderen Entwürfe, als wir sie wollen! – Heiterkeit)


– Ach, Herr Benneter, morgen führen wir doch eine sehr
spannende Debatte zur Bundespolizei. Diese Woche
wäre ich, ehrlich gesagt, nicht so vorlaut. Aber bitte!


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ausnahmen bestätigen die Regel!)


Wir können dem Gesetzentwurf des Bundesrats nicht
zustimmen; denn danach wären die für einen ausgefalle-
nen Wahlkreiskandidaten abgegebenen Stimmen ungül-
tig. Ich glaube, es ist klar: Das ist nicht der richtige Weg.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion hätten uns eine Ände-
rung in diesem Fall sehr gewünscht. Das, was wir in die-
ser Legislaturperiode erleben mussten – Kollegen waren
faktisch im Bundestag und fielen durch eine Nachwahl
wieder heraus –, war nämlich sicherlich keine Stern-
stunde für dieses Haus.

Dem Antrag der Linken, den wir hier mit beraten,
werden wir nicht zustimmen. Es ist keine Frage, dass
man sich damit beschäftigen muss, inwieweit Wahl-
maschinen unseren Anforderungen technisch entspre-
chen. Im Prinzip tun sie das aus unserer Sicht im Mo-
ment noch nicht, weil man nicht überprüfen kann, ob
eine Stimme tatsächlich so abgegeben worden ist, wie
sie gezählt wurde. Dabei haben wir es in den letzten Jah-
ren mit vielen Problemen zu tun gehabt. Wären wir aller-
dings technikfeindlich – Sie schlagen vor, ein für alle
Mal festzulegen, dass wir das nicht machen –, verschlös-
sen wir, glaube ich, unsere Augen vor dem, was möglich
ist. In anderen Ländern wird uns das vorgemacht, zum
Beispiel mit Onlinewahlen. Wenn wir die Leute auf
Dauer zur Abstimmung bewegen wollen, müssen wir
neue Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Wir lehnen Ih-
ren Antrag ab, weil wir der Ansicht sind, dass man das
auf Dauer nicht ablehnen kann. Wir sehen aber das Pro-
blem.

Ich komme damit zum Schluss. Wir würden uns in
diesem Hause gerne mit anderen Möglichkeiten der Or-
ganisation von Wahlen und Partizipation beschäftigen.
Dazu liegen drei Gesetzentwürfe vor. Wir würden uns
freuen, wenn Sie uns bei dem einen oder anderen Ge-
setzentwurf unterstützen würden. Ob Menschen zur
Wahl gehen, hängt nach unserer Ansicht nämlich nicht
nur davon ab, dass sie ihre Stimme per Briefwahl abge-
ben können. Sie müssen auch das Gefühl haben, sich
wirklich einbringen zu können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613914100

Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Klaus Uwe Benneter (SPD):
Rede ID: ID1613914200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

ginnen und Kollegen! Kollege Mayer hat zwar die meis-
ten Punkte, auf die ich hinweisen wollte, schon ange-
sprochen; lassen Sie mich aber trotzdem ganz kurz auf
ein paar Aspekte eingehen.

Frau Piltz, Frau Stokar von Neuforn, entschuldigen
Sie, dass wir Sie nicht einbezogen haben. Ich bitte um
Nachsicht.


(Gisela Piltz [FDP]: Wenn Sie jetzt noch auf die Knie gehen, dann werde ich es mir überlegen! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der Zustand der Großen Koalition!)


Wir haben viele Gespräche führen müssen und sind des-
halb aus Zeitnot nicht dazu gekommen. Frau Piltz, ich
habe Ihren Worten entnommen, dass wir in ideeller Hin-
sicht all das berücksichtigt haben, was Sie sich wün-
schen. So habe ich Sie verstanden.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die tollste Entschuldigung, die ich hier je gehört habe!)


Bewerber, die einer anderen Partei angehören als der,
auf deren Landesliste sie stehen, werden in Zukunft zur
Wahl nicht mehr zugelassen. Bei der letzten Bundestags-
wahl haben WASG und PDS gemeinsame Kandidaten
aufgestellt.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Nicht gemeinsam!)


Die Landeswahlausschüsse mussten darüber entschei-
den, hatten aber keine gesetzliche Grundlage dafür. Sie
haben das oftmals mit Bauchschmerzen zugelassen, ob-
wohl unser Gesetz Listenverbindungen nicht vorsieht.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Die gab es ja nicht!)


Wir haben Parteien, weil sich viele Menschen auf ge-
meinsame Ziele und gemeinsame Ideen verständigt ha-
ben. Bei einer Wahlentscheidung geht es um Klarheit für
die Wählerinnen und Wähler. Sie müssen wissen, für
wen sie sich entscheiden können. Deswegen muss jede
Partei mit einer eigenen Liste antreten. Auf diese Art
und Weise soll verhindert werden, dass sie die Zielset-
zung, keine Splitterparteien im Parlament zu haben,
umgehen können. Zu diesem Zweck haben wir die Fünf-
prozentklausel, die Grundmandatsklausel sowie die Un-
terschriftsquoren für Wahlkreisbewerber und für Par-
teien, die sich bisher in keinem Parlament bewährt
haben. All das sind Kriterien, die helfen, den Parlamen-
tarismus vernünftig zu organisieren. Deshalb haben wir
solche Verbindungen für die Zukunft ausgeschlossen.
Die neue Regelung wird für alle Parteien gelten, auch für
die inhaltlich und personell zerstrittenen Parteien am äu-
ßersten rechten Rand. Auf diese Art und Weise können
sie sich auch in Zukunft nicht gegenseitig ins Parlament
helfen. Ich denke, das ist ein großer Vorteil.

Lassen Sie mich noch einen Wermutstropfen anbrin-
gen: Auch wenn das Wahlrecht durch dieses Gesetz hin-
sichtlich der Berechnungsmethoden besser und für die
Bürger in der Anwendung unbürokratischer, klarer und






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Uwe Benneter
zielgenauer wird, ist es uns nicht gelungen, uns auf eine
gemeinsame Regelung für die Nachfolge bei Überhang-
mandaten zu verständigen. Ich halte es weiterhin für ein
Unding, dass Mandate während der Legislaturperiode
ersatzlos wegfallen können, weil Abgeordnete aus Bun-
desländern, die Überhangmandate hatten, sterben,
schwer erkranken oder aus sonstigen Gründen auf ihr
Mandat verzichten müssen und aus dem Parlament aus-
scheiden müssen. Die Bürger der betroffenen Wahlkreise
wünschen sich eine Nachfolgeregelung. In diesem Fall
verlieren sie nämlich eine wichtige Stimme für ihre Re-
gion im Deutschen Bundestag. Ich denke, auch das sollte
man berücksichtigen.

Mir geht es vor allem darum, dass eine der wichtigs-
ten Funktionen des Wahlrechts sichergestellt wird: Das
am Stichtag festgestellte Wahlergebnis muss eine stabile
Grundlage für eine während der ganzen Legislatur-
periode stabile Regierung bilden. Das ist bisher nicht im-
mer gewährleistet. Insoweit bleibt dieses Problem für die
nächste Wahlperiode auf der Tagesordnung. Kollege
Mayer hat schon darauf hingewiesen, dass auch in der
nächsten Wahlperiode wieder über eine weitere Verfei-
nerung des Wahlrechts nachzudenken sein wird.

Ich komme noch zum Antrag der PDS-Fraktion. Wir
sollen auf ein Verbot von Wahlcomputern und der Inter-
netwahl hinwirken. Die Internetwahl gibt es bei uns gar
nicht. Deshalb ist sie nicht verboten. Aus diesem Grunde
braucht man sich dazu nicht zu äußern. Die Möglichkeit
des Einsatzes von Wahlgeräten steht in Deutschland seit
1975 – das sind nun schon mehr als 30 Jahre – im Wahl-
gesetz. Wir haben bisher nicht einen einzigen ernst zu
nehmenden Hinweis darauf, dass es beim bisherigen
Einsatz von Wahlgeräten – sie sind tatsächlich schon
umfassend eingesetzt worden – zu Wahlmanipulationen
gekommen ist.

Im Übrigen ist beim Bundesverfassungsgericht in Sa-
chen Wahlcomputer eine – zugegeben gut begründete –
Wahlprüfung anhängig. Falls sich nach einer Entschei-
dung Handlungsbedarf ergeben sollte, können wir diese
Frage ganz in Ruhe angehen. Jetzt werden wir erst ein-
mal den Antrag der PDS ablehnen.

Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613914300

Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613914400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zum Verfahren ist hier schon etwas gesagt worden.
Auch wir finden es äußerst bedenklich, dass man bei ei-
ner solchen Frage nicht die Oppositionsfraktionen ein-
bindet. Es sollte beispielsweise darauf Rücksicht genom-
men werden, dass in Sachsen-Anhalt, Herr Bergner,
gerade eine Kreisgebietsreform durchgeführt wurde. Für
die Abgeordneten aus Sachsen-Anhalt, die nicht der
SPD oder der CDU angehören, ist nicht nachvollziehbar,
inwieweit das berücksichtigt wurde. Das erschließt sich
aus Ihrer Vorlage überhaupt nicht. Deswegen hätten wir
es sinnvoll gefunden, wenn hier alle eingebunden wor-
den wären. Mir haben Kollegen aus allen Fraktionen, die
dem Bundestag schon mehrere Jahre oder sogar Jahr-
zehnte angehören, gesagt, dass das früher möglich gewe-
sen ist.

Trotzdem stehen in dem Gesetzentwurf einige sinn-
volle Sachen; das ist völlig unbestritten. Ich möchte nur
an zwei Punkten deutlich machen, warum es politisch
ein Problem ist, dass über den Gesetzentwurf nicht dis-
kutiert wurde. Der erste Punkt ist, dass Ostdeutschland
zwei Wahlkreise in Sachsen und Sachsen-Anhalt ver-
liert. Das ist nicht nur ein arithmetisches Problem, das
man mit der Notwendigkeit der Reform erklären könnte.
Vielmehr ist es auch ein politisches Problem. Das hätten
wir doch gemeinsam diskutieren müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Folge ist, dass die Regionen in diesem Land, die
die größten strukturellen und sozialen Probleme haben,
dadurch an Repräsentanz verlieren. Das hätte man zum
Anlass nehmen können, über folgende Fragen zu disku-
tieren: Wie können wir die weitere Abwanderung auf-
halten? Wie können wir jungen Menschen im Osten
Perspektiven geben? Wie können wir endlich zu gleich-
wertigen Lebensverhältnissen in Ost und West kommen?


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Frage des Wahlrechts!)


Genau das interessiert die Menschen. Ich finde, das ist
nur bedingt witzig. Diese wichtigen Fragen hätte man
diskutieren können, um so mit den Menschen aus Ost-
deutschland ins Gespräch zu kommen.

Der zweite Punkt, der angesprochen worden ist und
bei dem es einen Dissens gibt, ist die Regelung der
Wahllisten. Es geht darum, dass Parteimitglieder nicht
für eine andere Partei kandidieren dürfen. Wir als Linke
haben mit genau dieser Regelung sehr gute Erfahrungen
gemacht, was auch unsere Debatten sehr bereichert hat.
Deswegen finde ich diese Regelung nicht sehr sinnig.
Vielmehr empfinde ich sie als einen Eingriff in die Auto-
nomie der Parteien.


(Beifall bei der LINKEN)


Kollege Benneter, das Problem der Rechtsextremen
ist bei allen Debatten, die wir führen, zuallererst eine Sa-
che der politischen zivilgesellschaftlichen Auseinander-
setzung. Das werden wir mit einem solchen Gesetzent-
wurf nicht lösen können. So viel dazu.

Abschließend komme ich zu unserem Antrag „Wahl-
manipulationen wirksam verhindern“. Es ist eben nicht
so, dass es mit dem Einsatz von Wahlcomputern keine
Erfahrungen gibt. Im Gegenteil: Es gibt damit sehr
schlechte Erfahrungen. Diese wurden in den Niederlan-
den gemacht; die niederländische Regierung hat die
Wahlgeräte daher aus dem Verkehr gezogen.

Warum ist das auch grundsätzlich ein Problem? Das
Verfahren der Wahl, vom Aufstellen der Urne über das






(A) (C)



(B) (D)


Jan Korte
Einwerfen des Wahlzettels bis hin zum Auszählen, ist öf-
fentlich. Der Bürger kann also nachvollziehen, was dort
passiert. Das Problem ist, dass das bei einem Wahlcom-
puter nicht möglich ist. Nicht möglich ist es auch, Fehler
auszuschließen, wie jeder an seinem PC mindestens ein-
bis zweimal im Jahr feststellen kann. Auch das ist ein
Problem.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613914500

Kollege Korte, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Mayer?


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613914600

Ja.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1613914700

Wie viele Fälle von Wahlmanipulation mit Wahlcom-

putern in Deutschland sind Ihnen bekannt?


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613914800

Das Problem ist, dass Wahlmanipulation möglich ist.

Einen solchen Fall gab es gerade in Hamburg; dort hat
übrigens auch die SPD nun gesagt: Die Wahlcomputer
müssen wir aus dem Verkehr ziehen. Der Chaos Compu-
ter Club hat nachgewiesen, dass eine Manipulierbarkeit
jederzeit möglich ist. Wir wollen das von vornherein
ausschließen. Deswegen haben wir diesen Antrag ge-
stellt. Er ist weit in die Zukunft schauend, aber doch
praktisch in der Tagespolitik. Es ist nun in mehreren Fäl-
len nachweisbar gewesen, dass Manipulationen möglich
und technisch ein Leichtes sind und vor allem dass es
Anfälligkeiten bei Computern gibt. Das ist doch völlig
unbestritten. Auch hier kann wohl niemand ernsthaft be-
gründen, warum es bei Wahlcomputern anders sein sollte
als bei privaten PCs. Der Antrag blickt in die Zukunft
und soll Irritationen im Vorfeld verhindern.

Letzte Anmerkung, die ich dazu machen will. Wir
wollen nicht irgendwann wie in Florida enden, dass wir
also Wahlcomputer haben, die nicht funktionieren. Dort
wurde zu allem Überfluss der Falsche zum Präsidenten
gewählt, weil der Computer nicht funktionierte. Das geht
nicht. Ich glaube, auch hier im Hause gibt es eine Mehr-
heit, die nicht unbedingt will, dass Angela Merkel, wenn
sie real knapp verliert, wegen einer Computerpanne
noch einmal Bundeskanzlerin wird. Das wollen wir aus-
schließen. Es sollte eine genaue Wahl geben.


(Beifall bei der LINKEN)

Deswegen fände ich es sinnig, wenn Sie diesem, wie ich
finde, sehr guten Antrag zustimmen würden.

Eine letzte Anmerkung an Kollegin Piltz gerichtet:
Natürlich ist es so, dass wir das wieder ändern können,
wenn nachgewiesen ist, dass Wahlcomputer sicher sind.
Das wäre kein Problem. Das kann ja nicht davon abhal-
ten, dem Antrag jetzt zuzustimmen. Denn klar ist: Wo
der Fortschritt ist, ist auch immer die Linke.


(Gisela Piltz [FDP]: Das ist mir aber neu!)

Deswegen ist das kein Hinderungsgrund.

Schönen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613914900

Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
mich gern intensiv mit den Änderungen des Bundes-
wahlgesetzes befasst. Ich hätte mich auch gern damit be-
fasst, ob zum Beispiel in Niedersachsen die Neuauftei-
lung der Wahlkreise genau so vonstatten gehen muss.
Lieber Kollege Benneter, Ihre Bitte um Entschuldigung,
dass der Dauerstreit der Großen Koalition nun zu einem
Verlust an gewachsener parlamentarisch-politischer Kul-
tur führt, kann ich nicht annehmen. Es kann nicht sein,
dass Sie sich so lange mit Herrn Grindel streiten


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wieso denn mit mir? Wie kommen Sie auf mich? Ich habe damit überhaupt nichts zu tun!)


und uns, den Oppositionsfraktionen, dann sagen, dass
wir aufgrund des Dauerstreits in der Großen Koalition
jetzt halt nicht mehr, obwohl das in den vergangenen
Jahren immer der Fall gewesen ist,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wie kommen Sie auf mich? Ich habe damit nichts zu tun! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Herr Grindel ist absolut friedfertig!)


an der Neuaufteilung der Bundestagswahlkreise beteiligt
werden.

Ich erinnere mich sehr gut, dass wir unter Rot-Grün
Verfahren hatten, die den ganzen Tag in Anspruch genom-
men haben, und zwar aus guten Gründen. Ich möchte es
weder der Software WEGIS überlassen, die Bundestags-
wahlkreise aufzuteilen, noch ist es eine vernünftige Vor-
gehensweise, wenn die Regierungsfraktionen das hinter
verschlossenen Türen selbst bestimmen, uns die Ergeb-
nisse einen Abend vor der Sitzung des Innenausschusses
zukommen lassen und wir hier nur noch zustimmen kön-
nen. Ich kann den Niedersachsen nicht erklären, warum es
diese Neuaufteilung gibt. Ich hätte es gern gemacht, wenn
ich eingebunden worden wäre.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das mache ich für Sie! Keine Sorge!)


Zu den anderen Punkten im Bundeswahlgesetz ist eini-
ges gesagt worden. Auch wir begrüßen die Umstellung
des Auszählverfahrens. Es scheint das bessere mathema-
tische Verfahren zu sein. Auch wir begrüßen das unbe-
schränkte aktive Wahlrecht für im Ausland lebende Deut-
sche.

Ähnlich wie die Linksfraktion, obwohl sie hier ja ei-
gentlich in klammheimliche Freude ausbrechen müsste,
sind auch wir gegen die Änderung, dass es jetzt ein so
restriktives Verbot gibt, Mitglieder einer anderen Partei
mit auf die Liste zu nehmen. Hier hätten andere Rege-
lungen für Transparenz sorgen können, indem man das
zum Beispiel auf dem Wahlzettel kenntlich macht. Das
Ergebnis ist: Die Linkspartei muss sich nicht mehr mit






(A) (C)



(B) (D)


Silke Stokar von Neuforn
dem Wunsch der DKP, ihre Mitglieder in ihre Listen auf-
zunehmen, auseinandersetzen.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Es muss doch übersichtlich bleiben!)


Deshalb sage ich: Eigentlich müssten Sie eine klamm-
heimliche Freude empfinden. Aus Demokratiegründen
halte ich dieses Mittel für zu restriktiv. Für mich gilt hier
die Autonomie der Parteien. Mit anderen Regelungen
hätten wir für Transparenz sorgen können.

Ich komme zu meinem letzten Punkt: den Wahlcompu-
tern. Ich finde es bemerkenswert, dass 45 000 Wählerinnen
und Wähler beim Bundestag eine Petition eingereicht ha-
ben, in der sie ausgeführt haben, dass sie Manipulation
durch den Einsatz von Wahlcomputern befürchten und dass
sie den Bundestag auffordern, eine gesetzliche Regelung zu
schaffen, die es verhindert, dass entsprechende Modellver-
fahren durchgeführt werden. Damit würde man natürlich
ein bestimmtes Interesse verfolgen; deswegen ist die FDP
in dieser Frage auf einmal nicht mehr Bürgerrechtspartei,
sondern Wirtschaftspartei.


(Gisela Piltz [FDP]: Das muss ich mir von Ihnen nicht sagen lassen! Nicht nach sieben Jahren Rot-Grün und Ihrem Umgang mit den Bürgerrechten in dieser Zeit, Frau Stokar!)


Es gibt in Europa nur wenige Unternehmen, die die
Wahlen in Deutschland nutzen wollen, um in einem Mo-
dellversuch mit Wahlmaschinen, die überhaupt noch
keine Marktreife haben, in die Wahlen einzugreifen.


(Gisela Piltz [FDP]: Warum haben Sie das denn in Ihrer Regierungszeit nicht verhindert?)


Dies ist in Hamburg nachgewiesen worden. Ich finde es
peinlich, dass ausgerechnet Herr Koch in Hessen Wahl-
maschinen der Firma Nedap zulässt, die in den Nieder-
landen aufgrund ihrer Fehleranfälligkeit gerade erst aus
dem Verkehr gezogen worden sind.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!)


Ich kann gut nachvollziehen, dass sich Herr Koch an den
letzten Strohhalm klammert. Er hat wohl im Hinterkopf,
dass ihm Wahlmaschinen vielleicht noch zu einem zwei-
felhaften Sieg verhelfen könnten.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Der gewinnt auch so! Keine Sorge! – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das ist doch absoluter Quatsch!)


Eines ist eine Selbstverständlichkeit: Solange die
Bürgerinnen und Bürger berechtigte Sorgen haben, dass
Wahlen durch den Einsatz von Wahlmaschinen manipu-
liert werden können, darf das ökonomische Interesse
hier nicht im Vordergrund stehen. Wir stehen dem Ein-
satz technischer Verfahren bei Wahlen offen gegenüber,
wenn sie ausgereift sind. Bundestags- und Landtagswah-
len sind aber ein viel zu ernster demokratischer Vorgang,
als dass sie zu einem Experimentierfeld für zweifelhafte
Geschäftsideen gemacht werden sollten.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613915000

Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPD-

Fraktion.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1613915100

Danke schön. – Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Ich werde mich in meinem Beitrag
zur Änderung des Bundeswahlgesetzes äußern. Dahinter
verbirgt sich die Neueinteilung der Bundestagswahl-
kreise für die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag.

In jeder Wahlperiode legt die Bundeswahlkreiskommis-
sion dem Deutschen Bundestag einen Bericht über Ände-
rungen der Bevölkerungszahlen im Bundesgebiet vor. Um
eine verfassungsgemäße Bundestagswahl – Stichwort
„Gleichheit der Stimmen“ – zu gewährleisten, müssen die
Wahlkreise annähernd gleiche Einwohnerzahlen haben.
Änderungen der Verteilung der Bundestagswahlkreise auf
die Länder und die Einteilung innerhalb der Länder ergeben
sich aufgrund von Bevölkerungswanderungen.

Die Grundsätze, an die wir uns auch bei dieser Neu-
einteilung gehalten haben, sind: Die Ländergrenzen wer-
den eingehalten. Die Zahl der Wahlkreise in den einzel-
nen Ländern muss soweit wie möglich dem Anteil an der
Gesamtbevölkerung entsprechen. Der Wahlkreis muss
ein zusammenhängendes Gebiet umfassen. Kommunale
Grenzen sollten möglichst weitgehend eingehalten wer-
den.

Eine Neuzuschneidung von Wahlkreisen kann durch-
geführt werden, wenn die Bevölkerungszahlen plus/mi-
nus 15 Prozent vom Bundesdurchschnitt abweichen. Sie
muss durchgeführt werden, wenn die Abweichung mehr
als plus/minus 25 Prozent beträgt oder eine solche Ent-
wicklung im Laufe der Legislaturperiode als sehr wahr-
scheinlich gilt.

Leider setzte sich in den vergangenen Jahren die
Bevölkerungswanderung von Ost nach West fort. So ver-
loren Sachsen und Sachsen-Anhalt knapp 50 000 Ein-
wohner. Baden-Württemberg dagegen registrierte einen
Zuzug von mehr als 55 000 Einwohnern. Herr Korte, na-
türlich kann eine Wahlkreisreform diese strukturellen
Probleme nicht lösen.

Aufgrund der Daten, die dem Bericht der Wahlkreis-
kommission und dem Nachbericht zugrunde liegen, sind
zwei Wahlkreistransfers nötig. Die Länder Sachsen und
Sachsen-Anhalt verlieren jeweils einen Wahlkreis, Ba-
den-Württemberg und Niedersachsen erhalten je einen
zusätzlichen Wahlkreis.

Sowohl beim Wegfall eines Wahlkreises als auch bei
der Schaffung eines zusätzlichen Wahlkreises in einem
Bundesland sind erhebliche Eingriffe in die bestehenden
Wahlkreisgrenzen unvermeidlich. Die abgebenden Län-
der Sachsen und Sachsen-Anhalt stehen vor einer Kreis-
gebietsreform bzw. haben diese schon durchgeführt.
Deshalb orientiert sich die Neuzuschneidung der Wahl-
kreise weitgehend an den neuen kommunalen Grenzen.

In Baden-Württemberg gibt es im Regierungsbezirk
Tübingen den neuen Wahlkreis Ravensburg. Deshalb
mussten die umliegenden Wahlkreise neu zugeschnitten






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Fograscher
werden. Drei Wahlkreise in diesem Regierungsbezirk
bleiben unverändert. Für den Zuschnitt des Wahlkreises
Biberach hätten sich meine Kollegen im Bundestag und
viele vor Ort eine andere Lösung vorstellen können.
Aber in Abwägung der für die anderen Wahlkreise ge-
fundenen Lösungen tragen wir diesen eigenwilligen Zu-
schnitt mit.

In Niedersachsen wird der neu zu bildende Wahlkreis
den Landkreis Harburg umfassen. Die erheblichen Ver-
änderungen der umliegenden Wahlkreise sind Folge die-
ses neu zu schaffenden Wahlkreises.

In Brandenburg haben wir aufgrund des enormen Be-
völkerungswachstums Verschiebungen zwischen dem
Wahlkreis 61 und dem Wahlkreis 62 vornehmen müssen.

Auch beim Wahlkreis Hamburg-Mitte hätten wir uns
einen anderen Zuschnitt vorstellen können; doch darauf
konnten wir uns nicht einigen. Deshalb bleibt es bei dem
Vorschlag der Wahlkreiskommission, jetzt nichts zu ver-
ändern.

Es ist schon heute abzusehen, dass die Bevölkerungs-
entwicklung in einigen Bundesländern in der nächsten
Legislaturperiode erneut Wahlkreisanpassungen notwen-
dig machen wird. Deshalb haben wir dieses Mal nur die-
jenigen Anpassungen vorgenommen, die unbedingt not-
wendig waren, um eine verfassungsgemäße Wahl des 17.
Deutschen Bundestages zu gewährleisten.

Ich bedanke mich an dieser Stelle nochmals bei allen,
die sich sehr kenntnisreich in die Diskussion eingebracht
haben, und beziehe diesen Dank auch auf die Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums und des
Statistischen Bundesamtes.

Ich bitte um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzent-
wurf.

Danke sehr.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613915200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abge-
ordnetenrechts. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814,
den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD auf Drucksache 16/7461 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-
Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf des Bundesrates zur Änderung des Bundeswahl-
gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7814, den
Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1036
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.

Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 b, zur
Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten
Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes.

Mir liegen hierzu Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung des Kollegen Scheelen aus der SPD-Frak-
tion sowie der Kollegen Fricke, Lenke und Ackermann
aus der FDP-Fraktion vor; diese nehmen wir zu Proto-
koll.1)

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/7815, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/7462 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der SPD-Fraktion und der Mehrheit der FDP-Fraktion
gegen die Stimmen von zwei Abgeordneten der FDP-
Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 7 c. Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel: „Wahlmanipulationen wirksam verhin-
dern“.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7816, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/5810 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

1) Anlage 3






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Fahrlehrergesetzes

– Drucksachen 16/7080, 16/7417 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 16/7819 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich bitte diejenigen, die an dieser Debatte nicht mehr
teilhaben wollen oder können, ihre Gespräche draußen
zu führen, damit ich die Aussprache eröffnen kann.

Die Aussprache ist eröffnet. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Ulrich Kasparick. – Bitte.


(Beifall bei der SPD)


U
Ulrich Kasparick (SPD):
Rede ID: ID1613915300


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa wächst zusammen. Durch den Verkehrsbereich
ist ein besonderer Beitrag zu leisten, weil die grenzüber-
schreitenden Verkehre dazu beitragen müssen, dass wir
schnell und zügig einen gemeinsamen Wirtschaftsraum
entwickeln.

Die europäische Rechtsetzung wächst zusammen. Wir
sprechen heute an dem Beispiel von Fahrlehrern über die
wechselseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen.
Davon ist ein ganzes Gewerbe maßgeblich und umfas-
send betroffen. Wir vollziehen damit die Richt-
linie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 7. September 2005 und setzen sie eins zu eins
in nationales Recht um. Davon sind Staatsbürger der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, des Europäi-
schen Wirtschaftsraumes und der Schweiz betroffen.

Wir regeln die vorübergehende und gelegentliche
Dienstleistungserbringung, die auch grenzüberschrei-
tend erfolgen kann, und erklären sie ausdrücklich für zu-
lässig. Wir stellen daneben sicher, dass die Qualität der
Ausbildung, die wir in Deutschland erreicht haben, auch
künftig gesichert bleibt, weil sich jeder, der in Deutsch-
land eine solche Ausbildung anbieten will, einem Aner-
kennungsverfahren zu unterziehen hat, das nach deut-
schen Standards geregelt ist.

Wer die Voraussetzungen nach deutschem Recht nicht
erfüllt, muss sich einem Anpassungslehrgang oder einer
Eignungsprüfung unterziehen. Auf diesem Wege wollen
wir sicherstellen, dass es zu keinem Niveauverlust bei
den Qualitätsstandards der deutschen Ausbildung
kommt.


(Beifall bei der SPD)

Es ist in der Vergangenheit diskutiert worden, ob die
Voraussetzungen, die in Deutschland gelten, dass man
nämlich im Besitz der Fahrerlaubnis für alle Fahrzeug-
klassen sein muss, Bestand haben. Das ist der Fall. Wenn
beispielsweise ein Bewerber aus der Schweiz in
Deutschland eine solche Ausbildung anbieten will, dann
muss er die Fahrerlaubnisse für alle Fahrzeugklassen
vorlegen. Wenn er das nicht kann, dann gibt es Anpas-
sungsmaßnahmen – in der Regel in Form von Weiterbil-
dungsmaßnahmen und Lehrgängen –, denen er sich zu
unterziehen hat.

Wichtig ist, dass es eine unterschiedliche Regelung
für vorübergehende oder gelegentliche Dienstleistungen
gibt. Das ist von dem Fall zu unterscheiden, dass jemand
dauerhaft eine Fahrschule in Deutschland eröffnen will.
In der zurückliegenden Debatte mit den Abgeordneten
des zuständigen Ausschusses ist darüber ausführlich dis-
kutiert worden.

Wichtig ist für uns die Arbeitsteilung mit den Län-
dern. Die Überwachung der Fahrschulen obliegt den
Ländern. Der Bund hat keine Regelungskompetenz. Wir
haben aber vonseiten des Verkehrsministeriums den
Ländern eine Kooperation angeboten, damit wir uns auf
Kriterien für die Anerkennungsverfahren verständigen
können. Die zuständigen Landesbehörden sind diejeni-
gen Stellen, bei denen diejenigen, die diese Dienstleis-
tung erbringen, jährlich formlos Meldung zu erstatten
haben. Wer gegen diese Meldepflicht verstößt, begeht
eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahn-
det werden kann. Bei der praktischen Durchführung der
Richtlinie, die wir nun in Deutschland umsetzen, hat das
Bundesverkehrsministerium den Ländern eine enge Ko-
operation angeboten. Uns freut besonders, dass die Bun-
desvereinigung der Fahrlehrerverbände ihre Mitarbeit
zugesagt hat. Wir stehen also in engem Kontakt mit den
Fachleuten aus der Community. Wir haben auch die
deutschen Botschaften in den betreffenden Ländern ge-
beten, uns entsprechende Informationen über die Ausbil-
dung und die Berufsqualifikation der dort tätigen Fahr-
lehrer zu übermitteln.

Ein wichtiges Ziel ist, auf der einen Seite europäi-
sches Recht umzusetzen – das Verkehrsressort ist davon
besonders betroffen – und auf der anderen Seite Ver-
kehrssicherheit und Qualität der deutschen Fahrschul-
ausbildung zu sichern. Wir sind der Überzeugung, dass
das mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, gelingen
wird. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613915400

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Döring das

Wort.


(Beifall bei der FDP)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1613915500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Staatssekretär, es wäre vielleicht einer Erwähnung
wert gewesen, dass die Bundesregierung den Gesetzent-
wurf verspätet eingebracht hat. Fast ein halbes Jahr






(A) (C)



(B) (D)


Patrick Döring
nachdem er hätte umgesetzt werden müssen, haben Sie
das Parlament damit befasst. Dafür hätten Sie sich in Ih-
rer Rede entschuldigen können; denn das Parlament
sollte zeitnah an der Umsetzung einer solchen Richtlinie
beteiligt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben im Ausschuss intensiv darüber diskutiert,
ob es bei der Umsetzung nicht zu Inländerdiskriminie-
rung kommt. Dazu war bei Ihnen kein Wort zu hören.


(Heidi Wright [SPD]: Weil es keine gibt!)


Ich will die Wirklichkeit deutlich machen, Frau Kollegin
Wright. Der Markt der Fahrschulen ist außerhalb
Deutschlands völlig anders organisiert. In Frankreich
gibt es Fahrschulen mit bis zu 1 500 angestellten Fahr-
lehrern und in den Niederlanden Fahrschulen mit mehr
als hundert angestellten Fahrlehrern. Wir setzen mit dem
Gesetz nun europäisches Recht um. Aber einige Aufla-
gen, die wir Fahrschulen, die ihren Betriebssitz in
Deutschland haben, auferlegen, erlegen wir den europäi-
schen Fahrschulen nicht mehr auf. Das sind die obligatori-
sche Betriebshaftpflichtversicherung und die Verpflich-
tung für den Inhaber einer Fahrschule, den Führerschein
in den Klassen zu haben, die unterrichtet werden. Zu-
künftig müssen europäische Unternehmer das nicht mehr
nachweisen. Dieser Vorteil für Wettbewerber außerhalb
Deutschlands ist aus unserer Sicht falsch.


(Beifall bei der FDP)


Man kann sicherlich den Zugang zum Beruf des Fahr-
lehrers vereinfachen und die Gründung eines Betriebes
erleichtern – gerne und jederzeit –, aber dann zu glei-
chen Bedingungen für alle. Was wird in den grenznahen
Gebieten passieren? Ich denke an Niedersachsen an der
Grenze zu den Niederlanden und an Gebiete an der
Grenze zu Frankreich. Wir werden die dort tätigen deut-
schen Fahrschulen durch die Erleichterungen für europäi-
sche Unternehmer in eine Wettbewerbssituation bringen,
in der sie nicht gewinnen können. Es ist leicht dahinge-
sagt, dass es bei einer Berufshaftpflichtversicherung nur
um ein paar Hundert Euro Prämie gehe. Aber auch das
hat eine wirtschaftliche Schlechterstellung des Inländers
gegenüber dem ausländischen Kettenkonzern zur Folge.
Heute Morgen haben Herr Stiegler und andere wohlfeile
Reden zum Thema Mittelstand gehalten. Wenn es aber
konkret wird, sind Sie diejenigen, die die Strukturen
nicht befördern.


(Beifall bei der FDP)


Mir geht es darum, die hohe Qualität der Fahrlehre-
rinnen und Fahrlehrer sowie die mittelständische Struk-
tur der Fahrschulen in Deutschland zu erhalten, gleiche
Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, ob in den Nieder-
landen, in Portugal oder in Deutschland, und sicherzu-
stellen, dass die Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer, die
deutsche Jugendliche bzw. in Deutschland lebende Ju-
gendliche ausbilden, so organisiert und ausgebildet sind,
dass das hohe Niveau der Ausbildung in Deutschland ge-
halten wird und dass die Zahl der Toten und Verletzten
unter den Fahranfängern weiter zurückgeht, und dass
nicht Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer aus europäischen
Ländern mit einer geringeren Ausbildung aufgrund wirt-
schaftlicher Erleichterungen hier einen Betrieb aufma-
chen.


(Beifall bei der FDP)


Es ist, Herr Staatssekretär, zum Beispiel überhaupt
nicht klar, auch nicht nach der Novelle, wer von den
1 500 angestellten Fahrlehrern in einer französischen
Fahrschulkette überhaupt die Nachprüfung machen
muss. Ist das der Betriebsleiter? Ist das einer? Sind das
alle? Und wer soll überhaupt kontrollieren, ob einer der
angestellten Fahrlehrer, der dann in Baden-Württemberg
eine Ausbildung macht, diese Nachschulung gemacht
hat oder nicht? Es ist wirklich naiv zu glauben, dass das
in dieser Wettbewerbssituation geschieht. Deshalb wäre
es vernünftig gewesen, Sie hätten die Änderungsanträge,
die wir im Ausschuss gestellt haben, mitgetragen. Die
Oppositionsfraktionen haben das getan. Manchmal kann
man auch Dingen zustimmen, wo FDP draufsteht. Aus
meiner Sicht ja fast immer;


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur „fast immer“?)


aber auch aus Ihrer Sicht hätte man an dieser Stelle tat-
sächlich zustimmen können. Das wäre gut gewesen für
die mittelständische Struktur und für die Sicherheit. Da-
rum, liebe Kolleginnen und Kollegen, können Sie nicht
erwarten, dass wir jetzt dieser Novelle zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613915600

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Gero

Storjohann das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1613915700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Heute werden wir das Vierte Gesetz zur Ände-
rung des Fahrlehrergesetzes verabschieden. Mit diesem
Gesetz soll – das hat der Herr Staatssekretär Kasparick
ausgeführt – eine Richtlinie der Europäischen Union für
den Bereich des Fahrlehrerrechts in nationales Recht
umgesetzt werden, welche die Anerkennung von Berufs-
qualifikationen, die in den Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union erworben wurden, erleichtert.

Es geht hier darum, in einem zusammenwachsenden
Europa den Arbeitnehmern die Möglichkeit zu eröffnen,
sich in jedem EU-Mitgliedsland niederzulassen oder dort
den Beruf auszuüben. Das ist und bleibt das Ziel des eu-
ropäischen Binnenmarktes. Die Richtlinie gilt für alle
Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die als Selbst-
ständige oder als abhängig Beschäftigte einen reglemen-
tierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat ausüben
wollen als in dem, in welchem sie ihre Berufsqualifika-
tion erworben haben.

Damit dient die Richtlinie der Beseitigung der Hin-
dernisse für den freien Personen- und Dienstleistungs-






(A) (C)



(B) (D)


Gero Storjohann
verkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Dies ist ein
grundsätzlich zu begrüßender und ein weiterer Schritt
zur Verwirklichung der Freizügigkeit von Arbeitneh-
mern in Europa. Dazu steht die Union.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Deshalb fordern Sie dauernd Mindestlöhne und Übergangsfristen!)


Herr Döring hat hier nach meiner Auffassung über-
zeichnet. Er hat zu Recht angesprochen, dass die Eins-
zu-eins-Umsetzung eher hätte erfolgen können. Wenn
die Umsetzung jedoch rechtzeitig erfolgt, manchmal
auch schon vorzeitig, wird gerade von der FDP ein Vor-
wurf erhoben: Könnte man mit der Umsetzung nicht et-
was warten? Warum müssen wir Musterknabe sein?


(Patrick Döring [FDP]: Das haben Sie von mir noch nie gehört!)


– Das habe ich von der FDP sehr wohl gehört. Insofern
gibt es beide Aspekte.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Je nach Tagesform!)


Hier haben wir das so festzustellen.

Zu Ihrer Kritik, dass der Markt in Deutschland sich
plötzlich ganz anders gestalten wird, wenn Berufskolle-
gen aus anderen Ländern sich hier bewerben und ihre
Dienstleistung anbieten können: Ich glaube nicht, dass
das Fahrschulgewerbe in Deutschland so schwach ist,
dass es überrollt wird.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Keine Ahnung von der Realität!)


Deswegen bin ich sehr zuversichtlich, dass wir hier ei-
nen guten Schritt machen.

Wir werden den europäischen Binnenmarkt mit dieser
Richtlinie gestalten, und wir werden ihn insgesamt ver-
einheitlichen. Gegenstand ist die Neuregelung der Aner-
kennung von Berufsqualifikationen für Fahrlehrer, die
entweder von Staatsangehörigen eines EU-Landes, eines
Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum, also des EWR, oder der Schweiz er-
worben wurden. Deswegen müssen fahrlehrerrechtliche
Vorschriften hieran angepasst werden.

Der Gesetzentwurf enthält allgemeine Regelungen
zur Wirkung der Anerkennung einer Befähigung zur
Fahrschülerausbildung, die nicht in Deutschland erwor-
ben wurde. Um es gleich vorweg klar zu sagen: Es geht
hier nicht um eine grenzenlose Anerkennung aller aus-
ländischen Fahrlehrer. Es geht einzig und allein um sol-
che Befähigungen von Fahrlehrern der eben genannten
europäischen Staaten. Die Richtlinie erfasst dabei im
Übrigen bewusst auch die inländischen Staatsangehöri-
gen, welche ihre Berufsqualifikation nicht in Deutsch-
land, sondern in der EU, einem EWR-Staat oder der
Schweiz erlangt haben. Damit sind alle Anforderungen
an die Berufsqualifikation, also an Eignung und Befähi-
gung der Bewerber, in der Richtlinie abschließend gere-
gelt worden. Dies schließt auch die Fälle ein, in denen
Unterschiede zwischen der bisherigen ausländischen
Qualifikation der Bewerber und der bei uns in Deutsch-
land geforderten Fahrlehrerausbildung bestehen.

Im Interesse einer qualifizierten und fundierten Aus-
bildung sieht das Gesetz hier die Teilnahme ausländi-
scher Fahrlehrer an einem Anpassungslehrgang oder an
einer Eignungsprüfung vor.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der deutlich kürzer ist als der deutsche!)


Dies ist etwa dann der Fall, wenn beispielsweise ein
Fahrlehrer aus einem EU-Mitgliedstaat in Deutschland
Fahrunterricht für Pkw, also für die Klasse BE, erteilen
will. Wir haben hier mit § 2 a Abs. 2 des Gesetzentwurfs
eine Regelung, die sicherstellt, dass der Bewerber in ei-
nem solchen Fall zur Teilnahme an einem Anpassungs-
lehrgang oder einer Eignungsprüfung herangezogen
wird – das gilt für jeden Bewerber und nicht nur für den
Inhaber einer großen Fahrschule –, da er im Gegensatz
zu seinen deutschen Kollegen nicht im Besitz der Fahr-
erlaubnisklassen A und CE für Motorräder und Lkw sein
muss.

Mit der Aufnahme dieser Regelung in das Gesetzes-
werk hat die Bundesregierung daher im Interesse der
Chancengleichheit für die Marktteilnehmer gehandelt.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb die
hierfür vorgesehenen Maßnahmen ausdrücklich.

Die Regelungen unterscheiden darüber hinaus zwi-
schen der eben erwähnten Niederlassung, bei welcher
der Beruf dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat aus-
geübt wird, und der Dienstleistungserbringung, also der
vorübergehenden und gelegentlichen grenzüberschrei-
tenden Erbringung. Diese Dienstleistungserbringung
wird dabei entsprechend der Richtlinienvorgabe aus-
drücklich für zulässig erklärt. Dabei muss die Dienstleis-
tungserbringung aber von vorübergehendem und auch
gelegentlichem Charakter sein. Dies kann natürlich nur
im Einzelfall anhand der Kriterien Dauer, Häufigkeit, re-
gelmäßige Wiederkehr und Kontinuität der Dienstleis-
tung beurteilt werden.

Ich denke da etwa an den dänischen Fahrlehrer – je-
der denkt in diesem Zusammenhang an seine Nachbar-
staaten –, der gelegentlich auch deutsche Fahrschüler in
meiner Heimat Schleswig-Holstein unterrichtet. Für ihn
würde bei vorliegender Voraussetzung die eben er-
wähnte Eignungsprüfung gemäß § 2 a Abs. 3 des Ge-
setzentwurfs entsprechend gelten. Auch in diesem Fall
wahren wir also die Chancengleichheit im europäischen
Markt.

Außerdem enthält das Gesetz die Regelung, dass alle
Fahrlehrer über die für die Fahrschülerausbildung erfor-
derlichen Sprachkenntnisse verfügen müssen. Dies ist
für eine effektive und sichere Ausbildung der deutschen
Fahrschüler unabdingbar.

Um Qualitätsverluste in der Fahrschülerausbildung
im Interesse der Verkehrssicherheit zu vermeiden, müs-
sen wir bei allen Bestrebungen zur Dienstleistungsfrei-
heit weitere Schritte unternehmen. Ich kann mir zum
Beispiel vorstellen, die Fahrlehrerausbildung durch ein
Praktikum zu Beginn der Ausbildung und durch eine






(A) (C)



(B) (D)


Gero Storjohann
anschließende Eignungsprüfung zu ergänzen. Damit
könnte verhindert werden, dass unqualifizierte Fahrleh-
reranwärter bis zuletzt eine kostenintensive Ausbildung
durchlaufen, dann zu scheitern drohen oder nur deshalb
die Prüfung bestehen, weil man vielleicht alle Augen zu-
drückt. Das passiert heute leider schon sehr häufig und
gefährdet im Endergebnis die Verkehrssicherheit.

Außerdem unterstütze ich die Bestrebungen der deut-
schen Fahrlehrerschaft, ein effektives und wirksames
Qualitätssicherungssystem von Fahrschulen zu etablie-
ren. Dabei müssen Anforderungen gesetzt werden, die
über den bloßen gesetzlichen Mindeststandard hinausge-
hen. Das Bundesverkehrsministerium ist deshalb aufge-
fordert, den Entwurf einer Verordnung hierzu, der sich
bereits in der Anhörung befindet, alsbald in diesem
Sinne auf den Weg zu bringen.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will Unterschiede
im Ausbildungsniveau ausländischer Fahrlehrer mög-
lichst ausgleichen. Wir setzen auf Dienstleistungsfreiheit
und eine hohe Qualität der Ausbildung gleichermaßen.
Auf diesem Wege können wir allen Interessen – national
und auch auf europäischer Ebene – gerecht werden. Des-
halb wird die Union dem Entwurf eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Fahrlehrergesetzes ihre Zustimmung
erteilen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613915800

Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613915900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der vorliegende Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Än-
derung des Fahrlehrergesetzes ist ein Lehrstück dessen,
was nicht sein darf. Der Gesetzestext, den uns hier die
Ministerialbürokraten vorgelegt haben, ist absolut miss-
verständlich, sodass sich sein Anliegen kaum einem er-
schließt oder gar allgemeinverständlich ist.

Werte Kolleginnen und Kollegen von den Regie-
rungsfraktionen und aus dem Ministerium, Ihre Inten-
tion, Fahrlehrer aus EU-Staaten, aus assoziierten Staaten
und der Schweiz bei der Ausbildungsberechtigung mit
inländischen Fahrlehrern gleichzustellen, ist ja in Ord-
nung. Das begrüßen wir. Schließlich müssen Ausbilder
hierzulande neben dem Pkw-Führerschein auch Fahr-
erlaubnisse für Motorrad und Lkw besitzen.

Aber wenn selbst der Fachverband der Fahrlehrer den
Gesetzentwurf so interpretierte, als würden die Änderun-
gen nichtinländische Fahrlehrer begünstigen, dann ist an
diesem Text irgendetwas faul, dann zeugt das schlicht
von grober handwerklich-sprachlicher Undeutlichkeit.
Dem können wir unsere Zustimmung nicht geben.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn selbst Fachverbände, in denen Fachleute und der
Sachverstand sitzen, Gesetzestexte nicht mehr verstehen
oder fehlinterpretieren, wie sollen wir Abgeordnete, un-
sere wissenschaftlichen Mitarbeiter oder gar der Bürger
draußen dann das, was wir hier beschließen wollen, ver-
stehen und diese Gesetze dann anwenden und realisie-
ren?

Martin Luther erwartete einmal, dass man dem Volk
aufs Maul schaue. Aber das reicht nicht. Wir sollten
auch so sprechen und schreiben, dass das Volk uns ver-
steht. Das ist zumindest hier nicht gelungen.


(Beifall bei der LINKEN)


„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, steht im Grund-
gesetz. Dann müssen Gesetze aber so gefasst sein, dass
sie vom Volk auch verstanden werden können. Wenn uns
das nicht mehr gelingt, dann ist das bürokratische Geis-
terfahrerei. Aber dafür werden wir Linke nicht die Hand
zur Zustimmung heben.


(Zuruf von der SPD: Sie stimmen nur deshalb nicht zu, weil Sie es nicht verstehen?)


Wir haben am Sonntag in Hessen und Niedersachsen
Wahlen. Das ist heute hier schon ein paarmal angespro-
chen worden. Aber wenn ich im Wahlkampf mit Bürgern
so spräche, sei es am Stand, sei es an der Haustür oder in
der Kneipe, wenn ich so kryptisch antwortete, wie dieser
Gesetzestext formuliert ist, dann würde ich keine Wähle-
rin, keinen Wähler gewinnen. Das ist unabhängig davon,
welcher Partei man angehört: Die Menschen müssen uns
und das, was wir wollen, verstehen.

Wir Linken sprechen aber die Sprache des Volkes,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


sei es beim Thema Mindestlohn, bei der Rente mit 67,
bei Hartz IV oder bei der Börsenbahn,


(Beifall bei der LINKEN)


wo wir jeweils die Mehrheitstrends auf unserer Seite ha-
ben. In den Landtagen in Hessen und Niedersachsen, wo
die Linke künftig vertreten sein wird, werden wir ver-
ständlich und volksnah reden.

Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab, allein
weil dieses Kauderwelsch niemandem verständlich ist.
Bürger, die auf Gesetze hören sollen, müssen sie erst ein-
mal verstehen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613916000

Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit der vierten Änderung des Fahrlehrerge-
setzes wird die EU-Richtlinie vom 7. September 2005 in
nationales Recht überführt. Es wurde schon erwähnt,
dass wir mit der Umsetzung mal wieder etwas zu spät
dran sind. Auch sind bereits die Kernpunkte dargestellt






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Anton Hofreiter
worden. Es geht um die Anerkennung unterschiedlicher
Berufsqualifikationen. Für uns ist entscheidend, dass da-
bei die hohen Standards erfüllt werden. Denn die Ausbil-
dung von Fahrlehrern hat etwas mit Verkehrssicherheit
zu tun.

Wie ist nun dieser Gesetzentwurf zustande gekom-
men, und wie verliefen die Beratungen im Ausschuss?
Es ist, glaube ich, relativ unumstritten, dass es sich hier
um kein ideologisch besonders hoch aufgeladenes Ge-
setz handelt.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Na ja!)


– Patrick hat jetzt etwas heftig und durchaus sehr
engagiert dargestellt, was die FDP in den Ausschuss ein-
gebracht hat.


(Zuruf von der SPD: So kennen wir ihn gar nicht!)


Aber – ehrlich gesagt – handelte es sich dabei nur um ein
paar technische Verbesserungen und Klarstellungen, die
den Gesetzentwurf eindeutiger gemacht hätten. Im Aus-
schuss haben dem FDP-Änderungsantrag die FDP, aber
auch die Grünen und die Linke zugestimmt. Allein dies
macht deutlich, dass er nicht sonderlich stark ideolo-
gisch umstritten ist. Es war auch zu bemerken, dass eine
ganze Reihe von Abgeordneten der Großen Koalition
dem Änderungsantrag eigentlich gern zugestimmt hätte.
Stattdessen haben sie ihn abgelehnt.

Da fragt man sich schon, wie weit es eigentlich mit
der Gesetzgebungskompetenz des Parlaments gekom-
men ist. Es ist Ihnen nicht einmal möglich, in einer
nichtöffentlichen Ausschusssitzung bei einem ideolo-
gisch völlig unumstrittenen Thema technische Verände-
rungen zu akzeptieren, wenn sie von der Opposition ein-
gebracht werden.


(Beifall bei der FDP)


Ist das nicht peinlich, Leute?


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das zeugt von hoher Souveränität!)


Man hat manchmal das Gefühl, dass in den Zeiten der
Großen Koalition dieses Parlament vom Gesetzgeber
– offiziell sind wir die erste Gewalt im Staate – zum Ge-
setzesentgegennehmer verkommen ist. Wer macht denn
Gesetze, die Regierung oder wir? Offensichtlich macht
die Gesetze inzwischen die Regierung, die sie eigentlich
ausführen sollte. Das liegt nicht daran, dass das Parla-
ment formale Rechte abgegeben hätte, sondern schlicht-
weg daran, dass die beiden ach so großen, aber in Wirk-
lichkeit völlig schwachen Regierungsfraktionen nicht
das Rückgrat haben, einmal ihrer Regierung zu wider-
sprechen und etwas Eigenständiges zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)


Dies bemerkt man ganz eindeutig auch bei wichtigen
Themen. Wie gehen Sie denn zum Beispiel mit dem
Thema Bahn um? Die Regierung hat einen Gesetzent-
wurf eingebracht, und Sie sind nicht in der Lage, im
Ausschuss über ihn zu debattieren. Das ebenso wichtige
Thema deutsche Flugsicherung lassen Sie mit Ihrer
Mehrheit von der Tagesordnung absetzen. Fragt man
nach einem so wichtigen Thema wie der Weiterentwick-
lung des ÖPNV, wird einem geantwortet, man sage
nichts darüber, was in der Debatte sei. Nachher könnte
noch darüber gesprochen werden! Das war gerade in der
letzten Ausschusssitzung so.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Was ist denn das für ein Zustand? Ist das hier der Gesetz-
geber?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oder ist er es nicht? – Heiterkeit im ganzen Hause)


– Schweigen im Raum. Offensichtlich hat die Große
Koalition es aufgegeben.


(Iris Gleicke [SPD]: Ich kann ja verstehen, dass es Ihnen in der Opposition nicht gefällt!)


Ganz unabhängig von den inhaltlichen Fragen ist al-
lein die Art und Weise, wie die beiden großen und doch
so schwachen Koalitionsfraktionen inzwischen die Ge-
setzgebungsarbeit in diesem Parlament haben verkom-
men lassen, Grund genug, dass diese große und doch
schwache Koalition so schnell wie möglich weg gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN – Zurufe von der SPD: Törö!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613916100

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Heidi

Wright das Wort.


Heidemarie Wright (SPD):
Rede ID: ID1613916200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe am Anfang befürchtet, dass wir eine einfache
Sache, die kompliziert aufgeschrieben wurde, langweilig
diskutieren. Nein, es ist Stimmung hereingekommen.


(Heiterkeit bei der SPD)


Ich versuche, jetzt zusammenzufassen, worum es geht:
um den Regierungsentwurf eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Fahrlehrergesetzes, um die Eins-zu-eins-
Umsetzung einer europäischen Richtlinie. Weil es um
die Umsetzung geht, war in diesem Moment kein Hand-
lungsspielraum für weitere Regelungen gegeben.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das stört euch doch sonst auch nicht! Ihr sattelt doch sonst immer drauf! – Patrick Döring [FDP]: Wir können das deutsche Gesetz für die Inländer ändern!)


– Wir machen eine Eins-zu-eins-Umsetzung in einem et-
was verzögerten Zeitablauf, wie Sie schon sagten, und
wir setzen es so um, wie wir es in Abstimmung mit dem
Bundesrat aufgeschrieben haben.

Ich weise nochmals ausdrücklich darauf hin, dass bei
wesentlichen Unterschieden zwischen der bisherigen






(A) (C)



(B) (D)


Heidi Wright
ausländischen Qualifikation der Bewerber und der im In-
land geforderten Fahrlehrerausbildung Bewerber um
eine inländische Erlaubnis wie bisher – das ist wichtig –
an einem Anpassungslehrgang oder einer Eignungsprü-
fung teilnehmen müssen. Das ist gut so; denn nur so
wird sichergestellt, dass die Fahrschulausbildung in je-
dem Fall nur durch Fahrlehrer erfolgt, die ausreichend
qualifiziert sind. Das ist unser Anliegen, Kolleginnen
und Kollegen, und das ist auch das Anliegen der Fahr-
lehrerverbände. Deshalb nehmen wir den Brief, der uns
zugegangen ist, ernst. Wir haben ihn überprüfen lassen,
und wir werden dem Verband auch schreiben. Wir kön-
nen die Kritikpunkte durchaus aushebeln. Es ist schon
deutlich gesagt worden: Die Bedenken in Bezug auf eine
Gefährdung der Verkehrssicherheit und der Qualität der
deutschen Fahrschulausbildung sind nicht begründet.
Das ist mir als Berichterstatterin für Verkehrssicherheit
außerordentlich wichtig.

Es wird weiter befürchtet, dass die gesetzlichen Be-
rufsregelungen umgangen werden können, indem die
Berufsanerkennung von Inländern im Ausland erworben
wird. Auch das kann ich in Abrede stellen. Ich kann
Ihnen versichern, dass die Anerkennung der Berufsqua-
lifikation von Inländern schon wegen des Gleichheits-
grundsatzes nicht untersagt werden kann, wenn diese
Qualifikation anderswo erworben wurde.


(Patrick Döring [FDP]: Also ist es möglich?)


Bewerber müssen aber, wie gesagt, an einem Anpas-
sungslehrgang oder an einer Eignungsprüfung teilneh-
men.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das tröstet uns ungemein!)


Es wird auch kritisiert, dass mit dem Gesetzentwurf
eine altbewährte Regelung aufgegeben wird, nach wel-
cher ein Fahrlehreranwärter, auch wenn er nur die Fahr-
lehrererlaubnis für die Pkw-Ausbildung erwerben will,
im Besitz der Fahrerlaubnis für Motorrad und Lkw sein
muss. Das bleibt auch weiterhin der Fall. Frau Kollegin
Menzner hat das verstanden. Herr Kollege Döring, Ihnen
versichere ich noch einmal ausdrücklich, dass das so
bleibt.


(Patrick Döring [FDP]: Das ist falsch! Der Betriebsinhaber muss nicht die Fahrlehrererlaubnis haben!)


Weiter ist festzustellen, dass die neu einzuführende
Fahrlehrererlaubnis und die Fahrschulerlaubnis der vol-
len Fahrschulüberwachung durch die zuständigen Lan-
desbehörden unterliegen. Verstöße sind – das hat der
Staatssekretär deutlich gemacht – Ordnungswidrigkeiten
und somit bußgeldbewehrt. Die Fahrschulüberwachung
wird von den Ländern in eigener Zuständigkeit wahrge-
nommen. Bundesrechtliche Regelungen zu Umfang und
Verfahren der Fahrschulüberwachung sind verfassungs-
rechtlich ausgeschlossen.

Wir erleichtern die Überwachung durch die Einfüh-
rung einer neuen Meldepflicht. Der Inhaber einer Fahr-
lehrer- bzw. Fahrschulerlaubnis, die zur vorübergehen-
den und gelegentlichen Fahrschülerausbildung
berechtigt, muss den zuständigen Landesbehörden jähr-
lich formlos Meldung machen, wo er beabsichtigt, in
dem betreffenden Jahr Fahrschüler auszubilden. Auch
der Verstoß gegen diese Meldepflicht ist eine Ordnungs-
widrigkeit und somit bußgeldbewehrt.

Ich komme zum Schluss. Ich begrüße, dass zur prakti-
schen Durchführung der Anerkennung ausländischer Be-
rufsqualifikationen das Bundesverkehrsministerium den
Ländern seine aktive Mitarbeit angeboten hat. Auch die
Bundesvereinigung der Fahrlehrerverbände wird sich
beteiligen. Ich erinnere daran, dass der Bundesrat in sei-
ner Stellungnahme vom 30. November 2007 mehrere
Änderungen des Gesetzentwurfs empfohlen hat. Die
Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung zwei dieser
Änderungsvorschläge akzeptiert.

Ich bitte um Ihre Zustimmung und danke für Ihre
Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Patrick Döring [FDP]: Man soll nicht alles glauben, was das Ministerium unterschreibt!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613916300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Fahrlehrergesetzes. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7819, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa-
chen 16/7080 und 16/7417 in der Ausschussfassung an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktionen
und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-
Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Kerstin Andreae, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Gegen Armut trotz Arbeit – Strategie zur Stär-
kung geringer Einkommen

– Drucksache 16/7751 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten Redezeit
erhalten soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann
ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613916400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Armut

trotz Arbeit ist inzwischen für viele Menschen in
Deutschland die Wirklichkeit ihres Alltags geworden.
Sie wissen: Weit über 1 Million Menschen erhalten er-
gänzend zu ihrer Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II.
Über die Hälfte von ihnen sind sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigt. Die weitere Gruppe, die davon be-
troffen ist, ist die Gruppe derer, die im Niedriglohnbe-
reich arbeiten und deren Zahl zunimmt. Eine
Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-
rufsforschung hat ergeben, dass der Niedriglohnbereich
in wenigen Jahren von 15,3 auf 18,3 Prozent angestiegen
ist. Diese Entwicklung hält leider ungebrochen an.

Armut ist aber nicht nur eine Frage der Höhe von
Löhnen. Armut hat in Deutschland leider auch sehr viel
mit dem Familienstand zu tun. Immer noch sind in
Deutschland Kinder ein Armutsrisiko. In besonderer
Weise negativ betroffen sind die Alleinerziehenden, aber
auch die Paare mit mehreren Kindern.

Es ist nicht so, dass die Bundesregierung dieses Pro-
blem nicht sieht, aber sie hat keine abgestimmte Strate-
gie, um der Verarmung von Erwerbstätigen wirklich ent-
gegenzuwirken. Sie können sich nicht über den
Mindestlohn verständigen – dieses Theater haben wir
hier über Monate miterlebt –, Sie können sich aber leider
auch nicht darüber verständigen, mit welchen anderen
unterstützenden Maßnahmen Sie Armut verhindern wol-
len. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Der im Bundesar-
beitsministerium diskutierte Erwerbstätigenzuschlag ist
mit Sicherheit nicht die Lösung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit schaffen Sie letztlich nichts anderes als ein Paral-
lelsystem zum Arbeitslosengeld II, das überhaupt keine
Verbesserungen für die Geringverdienerinnen und Ge-
ringverdiener bringt. Die Erstbeantragung, aber auch die
Wiederbeantragung ist hochbürokratisch, und die Prüf-
bürokratie unterscheidet sich nicht wirklich von der bei
der Beantragung von Arbeitslosengeld II.

Was ich als Skandal empfinde: Die Kosten für diesen
Erwerbstätigenzuschlag sollen die Beitragszahler über-
nehmen. Ich bitte Sie. Warum sind eigentlich die Bei-
tragszahlerinnen und Beitragszahler dafür zuständig, die
Rahmenbedingungen für den Niedriglohn zu verbes-
sern?


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Frage!)


Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und
müsste im Zweifel aus Steuern finanziert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie müssten dafür viel Geld in die Hand nehmen; denn
die Mitnahmeeffekte, die zu erwarten sind, sind nicht
von Pappe.

Der Erwerbstätigenzuschlag bringt denjenigen mit
geringen Einkommen nichts, er ist hochbürokratisch und
teuer. Das scheint nun auch der neue Arbeitsminister Sc-
holz langsam begriffen zu haben. Es dämmert ihm, dass
die Erbschaft, die er von Herrn Müntefering übernom-
men hat, wirklich keine gute Erbschaft ist.


(Rolf Stöckel [SPD]: Legendenbildung!)


Ich kann Ihnen, Herr Scholz, nur sagen: Beerdigen Sie
dieses Projekt, und zwar schnell, und beerdigen Sie es
lautlos!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir die Abhängigkeit von Menschen von der
Grundsicherung wirklich beenden wollen, dann brau-
chen wir kein ALG light. Wir sollten stattdessen die klei-
neren Einkommen stärken und die vorgelagerten Sys-
teme verbessern, sodass die Menschen erst gar nicht in
die Abhängigkeit von ALG II kommen. Dafür haben wir
als Oppositionsfraktion Ihnen ein wirklich gutes, abge-
stimmtes Konzept vorgelegt. Ich will die Punkte ganz
kurz nennen.

Wir wollen die Situation der Geringverdienerinnen
und Geringverdiener verbessern, indem wir ganz gezielt
die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich
mit unserem Progressivmodell absenken. Wir wollen
Mindestlöhne für alle Branchen – partielle Lösungen rei-
chen bei weitem nicht aus –, und wir müssen die Maß-
nahmen zur Existenzsicherung von Kindern verbessern.
Wir haben heute umfangreich über den Kinderzuschlag
diskutiert. Das ist ein Instrument, um die Situation von
Eltern und auch Alleinerziehenden zu verbessern.
Schließlich müssen wir das Wohngeld reformieren. Da
reichen verwaltungstechnische Änderungen wirklich
nicht aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Von dem, was Sie vorlegen, kann sich nun wirklich kei-
ner und keine etwas kaufen. Die Aufwertung des Wohn-
geldes wäre ein Instrument, das dazu führen würde, dass
die Menschen erst gar nicht Arbeitslosengeld II beziehen
müssten.

Es ist ein umfangreiches und sehr konsistentes Kon-
zept, das wir Ihnen hier vorlegen. Die Bundesregierung
liefert nur einen Streit um den Mindestlohn, einen Profi-
lierungskampf zwischen Familienministerium und Ar-
beitsministerium in Sachen „Kinderzuschlag versus Er-
werbstätigenzuschlag“ und einen Streit um die Erhöhung
des Wohngelds – Tiefensee gegen Steinbrück. Wie Kai
aus der Kiste kommt jetzt auch noch Umweltminister
Gabriel und sagt: Armutsbekämpfung? Das können wir
doch auch lösen, indem wir die Energieversorger auffor-
dern, Sozialtarife anzubieten.


(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius NIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613916500

Kollegin Pothmer, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss

kommen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613916600

Ich komme sofort zum Schluss.

Ich sage Ihnen: Das ist kein Konzept gegen Armut. Es
hilft den Armen nicht. Es ist armselig.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613916700


Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Karl, da habe ich doch einfach recht, oder?)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1613916800

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Refor-

men am Arbeitsmarkt, Neustrukturierung der Betriebe,
insbesondere der inhabergeführten Klein- und Mittelbe-
triebe, motivierte, gut qualifizierte und verantwortungs-
bewusste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine
gute Weltkonjunktur und nicht zuletzt eine verlässliche
Politik der Großen Koalition haben zu mehr Beschäfti-
gung, einem erheblichen Abbau von Arbeitslosigkeit
und besseren Bedingungen für die Arbeitnehmer ge-
führt.


(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)


Die Zahl der Arbeitslosen ist im Dezember 2007 auf
knapp 3,4 Millionen gesunken. Das ist ein Rückgang um
1,2 Millionen seit 2005. Vor zwei Jahren war in den Um-
fragen bei den Bürgerinnen und Bürgern die Sorge um
den Arbeitsplatz noch das Topthema. Bei aktuellen Um-
fragen ist dies zurückgefallen. Wir sagen Ihnen: Das
mag ein gutes Zeichen sein. Es wird uns in der Großen
Koalition aber nicht davon abhalten, das Thema Arbeits-
losigkeit weiterhin in den Mittelpunkt unserer Politik zu
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Besonders freue ich mich darüber, dass auch Lang-
zeitarbeitslose vom konjunkturellen Aufschwung profi-
tieren. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen konnte in den
letzten zwei Jahren um über 400 000 gesenkt werden.
Aber hierzu sage ich Ihnen: 2,37 Millionen Langzeit-
arbeitslose sind auch aus unserer Sicht noch zu viel.


(Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Ende des Aufschwungs!)


Es gibt geringe Löhne, die dazu führen, dass immer
mehr Erwerbstätige trotz Beschäftigung vom Staat un-
terstützt werden müssen. Diese Menschen bezeichnen
Sie in Ihrem Antrag per se als arm. Als Beleg dafür wird
die wachsende Zahl der sogenannten Aufstocker ange-
führt, also derjenigen, die zusätzlich Mittel nach dem
Sozialgesetzbuch II bekommen.
Die Zahl der Aufstocker an sich ist nach meinem Da-
fürhalten aber noch kein hinreichendes Indiz für die ge-
samte Situation, die Sie skizziert haben. Wir müssen die
Bewertung des Bundeswirtschaftsministeriums und des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ernst neh-
men, nach der die große Zahl der Aufstocker auch eine
Folge von Regelungen im SGB II ist. Wir finden unter
den Aufstockern eine hohe Zahl solcher Personen, die
nur vorübergehend in dieser Empfängersituation sind.
Untersuchungen zeigen, dass bereits nach 65 Tagen nur
noch die Hälfte Leistungen nach dem SGB II beziehen.
Das wechselt also. Wir haben es nicht mit einem monoli-
thischen Block zu tun, sondern mit ständiger Verände-
rung.

In der Untersuchung des Bundeswirtschaftsministeri-
ums wird übrigens auch festgestellt, dass sich für Allein-
stehende eine Arbeitsaufnahme erst bei einem Brutto
von 1 200 Euro und für einen Alleinverdiener mit zwei
Kindern erst bei einem Brutto von 2 050 Euro lohnt. Das
hängt mit der Familienkomponente zusammen und stellt
sich in dieser Kombination arbeitsmarktpolitisch durch-
aus als Problem dar.

Frau Pothmer, der Titel Ihres Antrags lautet „Gegen
Armut trotz Arbeit“.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist auch das einzig Richtige!)


Doch was bedeutet „arm“? Arm nach der Definition der
Vereinten Nationen ist, wer weniger als 1 US-Dollar am
Tag zum Leben hat, keine medizinische Versorgung,
kein sauberes Wasser und keine Chance hat, Lesen und
Schreiben zu lernen.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Schiewerling, das hätte ich nicht erwartet! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unter Ihrem Niveau!)


Davon sind 1,2 Milliarden Menschen betroffen. Ich sage
Ihnen: eine Katastrophe.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Weltgesundheitsorganisation definiert denjenigen
als arm, der weniger als die Hälfte des Durchschnittsein-
kommens seines Heimatlandes zur Verfügung hat.

Armut hat viele Facetten, doch in Deutschland – das
sage ich an dieser Stelle sehr bewusst – fällt dank der
Grundsicherung niemand ins Bodenlose. Um es auf den
Punkt zu bringen: Arbeitslosengeld II macht nicht arm,
sondern bewahrt vor absoluter Armut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich kann es nicht nachvollziehen, warum diese Grundsi-
cherung zu einem Schimpfwort geworden ist, obgleich
die Menschen Geld, übrigens von Steuerzahlern erarbei-
tet und eingezahlt, und gemäß den gesetzlichen Grundla-
gen Hilfe erhalten, um aus der Arbeitslosigkeit heraus-
zukommen.






(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling
Meine Damen und Herren, ja, es gibt arme Menschen
in Deutschland. Es gibt auch zu viele arme Menschen in
Deutschland. Aber an dieser Stelle rate ich uns, den Ar-
muts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung abzu-
warten. Wir werden über ihn in diesem Hause sicherlich
diskutieren.

Frau Pothmer, in Ihrem Antrag fordern Sie de facto
die Einführung von Mindestlöhnen für alle Branchen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Sie vermeiden dabei den Begriff des gesetzlichen Min-
destlohns. Sie wollen die Tarifautonomie stärken. Das
halten wir für richtig. Aber Sie setzen die Bedingungen
so, dass de facto doch ein gesetzlicher Mindestlohn da-
bei herauskommt.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtiges Ziel!)


Ich will mich nicht auf eine volkswirtschaftliche Diskus-
sion einlassen. Ich will auch nicht sagen, wie die einzel-
nen Diskussionsstränge zu bewerten sind.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Herr Schiewerling, Sie sind doch für Mindestlöhne!)


Gestatten Sie mir jedoch einige grundsätzliche Ausfüh-
rungen zu dieser Frage unter anderen Gesichtspunkten.

Wir wollen, dass die Tarifpartner untereinander die
Löhne aushandeln. Der Staat hat hier nicht einzugreifen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Tarifautonomie ist ein Pfeiler der freiheitlich-demo-
kratischen Grundordnung unseres Staates und muss dies
auch in Zukunft bleiben. Selbst bei den Gewerkschaften
ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns um-
stritten. Hubertus Schmoldt und der Vorsitzende der IG
Metall in Nordrhein-Westfalen haben jüngst darauf hin-
gewiesen.

In einer sich zunehmend individualisierenden Gesell-
schaft wird immer mehr vom Staat gefordert. Statt der
Gesellschaft soll der Staat alle Probleme lösen. In unse-
rer sozialen Marktwirtschaft haben allerdings die Arbeit-
nehmerorganisationen, sprich die Gewerkschaften, und
die Arbeitgeberverbände die Aufgabe, im Rahmen ihrer
wirtschaftspolitischen Verantwortung Löhne auszuhan-
deln. Mit großer Besorgnis sehe ich, dass immer mehr
Arbeitgeber ihren Organisationen den Rücken kehren


(Dr. Thea Dückert NEN)

worüber?

und sich nicht mehr genügend Mitglieder in den Ge-
werkschaften organisieren. Ordnungspolitisch geht das
in Deutschland auf Dauer gesehen nicht gut. Das müssen
wir den Arbeitgebern genauso wie den Arbeitnehmern
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn der Staat alle Probleme lösen soll, wird er über-
fordert. Das gilt übrigens auch für alle anderen Bereiche
unserer Gesellschaft. Die Konsequenz wären mehr Ge-
setze, mehr Regelungen, zusätzliche Bürokratie und
mehr Politikverdrossenheit bei den Menschen. Mehr
Staat heißt nämlich nicht mehr Gerechtigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Gerd Andres [SPD])


Allerdings treibt mich wie viele andere hier in diesem
Hohen Hause die Sorge um, dass bestimmte Arbeitgeber
die Gesamtsituation zu Lohndumping nutzen


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


und sich so einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrer
lästigen Konkurrenz verschaffen. Ich halte dies unter
dem Gesichtspunkt, dass wir eine Marktwirtschaft ha-
ben, für eine Katastrophe.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie auch vom Mindestlohn Abstand nehmen!)


Deswegen erwarte ich, dass sich die betroffenen Bran-
chen wehren und mit den Gewerkschaften auch aus eige-
nem betrieblichen Interesse eine Lohnuntergrenze ver-
einbaren. Im Übrigen ist die Koalition dabei, genau diese
Frage im Mindestarbeitsbedingungengesetz und im Ent-
sendegesetz zu regeln.

Ich teile ausdrücklich das von den Grünen in ihrem
Antrag formulierte Ziel, zukünftig die Abhängigkeit von
staatlichen Transferleistungen zu verringern. Hierzu for-
dern Sie in Ihrem Antrag, die Vereinbarkeit von Er-
werbs- und Familienarbeit zu verbessern. Das wollen
wir auch. Deswegen hat die Große Koalition den Ausbau
der Betreuungsangebote für unter Dreijährige beschlos-
sen und familienpolitische Maßnahmen ergriffen, die
zwischenzeitlich schon auf den Weg gebracht wurden.

Frau Pothmer, Sie fordern in Ihrem Antrag die Sen-
kung der Lohnnebenkosten.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ihr Grünen habt doch dagegen gestimmt!)


Genau das haben wir gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung
kontinuierlich gesenkt. Gestartet sind wir bei 6,5 Pro-
zent. Jetzt liegt dieser Beitrag bei 3,3 Prozent. Ein Ar-
beitnehmer mit 2 000 Euro brutto hat im Jahr etwa
750 Euro mehr in der Tasche.


(Dirk Niebel [FDP]: Aber im letzten Jahr 1 600 Euro weniger wegen eurer Steuererhöhung!)


Ich sage Ihnen: Wir müssen die Lohnnebenkosten für
alle senken. Dann haben alle etwas davon, nicht nur alle
Beschäftigten, nicht nur die sogenannten Geringverdie-
ner, also die, die wenig verdienen, sondern auch und be-
sonders die sozialen Sicherungssysteme; denn die Sen-
kung von Lohnnebenkosten schafft Beschäftigung, und






(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling
Beschäftigung schafft mehr Beitragszahler. Das haben
wir getan. Das nenne ich eine erfolgreiche Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch wenn das Bemühen im Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen um eine sachgerechte Lösung sichtbar ist – das
sage ich ausdrücklich –, so können wir diesem Antrag aus
den inhaltlichen Gründen, die ich gerade dargelegt habe
dennoch nicht zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613916900

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg Rohde

das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1613917000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Herr Schiewerling, was Ihren Beitrag an-
geht, möchte ich etwas Lob und Kritik äußern.

Zunächst möchte ich Kritik üben. Die Definition von
Armut der EU hat mir bei Ihnen gefehlt. Hätten Sie diese
Definition zugrunde gelegt, wären Sie ein bisschen nä-
her an den deutschen Verhältnissen.

Loben möchte ich ausdrücklich Ihr Bekenntnis zur
Tarifautonomie. Das hat uns als Liberale sehr gefreut.
Aber ein richtig klares Bekenntnis „Wir machen keinen
gesetzlichen Mindestlohn“ hat mir in Ihren Ausführun-
gen gefehlt.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Können Sie unterscheiden zwischen tariflichem und gesetzlichem Mindestlohn?)


Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auf
vier Seiten führen Sie aus, was die FDP schon seit lan-
gem mit vier Worten zum Ausdruck bringt: Mehr Netto
vom Brutto.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist es, was die Geringverdiener in Deutschland brau-
chen.

Ihr Antrag enthält viele richtige Feststellungen. Lei-
der ziehen Sie aus den meisten Erkenntnissen aber die
falschen Schlüsse. Zugegeben, auf den ersten Blick er-
scheint Ihr Vorschlag einer Progression der Sozialversi-
cherungsbeiträge interessant. Aber schon einem zweiten
Blick hält er leider nicht stand; denn, erstens, entziehen
Sie den Sozialversicherungen Beiträge in erheblicher
Höhe und, zweitens, segmentieren Sie den Arbeitsmarkt
zusätzlich. Wenn Sie bei 2 000 Euro eine Grenze einzie-
hen, ab der erst volle Sozialversicherungsbeiträge fällig
werden, müssen Sie in Kauf nehmen, dass viele Arbeit-
nehmer diese Hürde niemals überwinden werden. Jeder
Arbeitgeber wird sich zweimal überlegen, ob er einen
Arbeitsplatz nicht so gestalten kann, dass er ihn auch mit
weniger als 2 000 Euro entlohnen kann, weil die Lohn-
nebenkosten dann niedriger sind.


(Beifall bei der FDP)


Leidtragend bei einer solchen Sozialversicherungspro-
gression wäre die breite Mitte der Gesellschaft. Das kön-
nen Sie nicht wirklich wollen.


(Beifall bei der FDP)


Lohnnebenkosten senken ist richtig, aber wenn, dann
für alle und nicht nur für wenige.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!)


Die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes
auf weitere Branchen oder die Einführung eines allge-
meinen Mindestlohns ist nicht der richtige Weg zu mehr
Beschäftigung, sondern maximaler Unsinn.


(Beifall bei der FDP)


Ein zu hoch angesetzter Mindestlohn vernichtet Arbeits-
plätze und stärkt allein die Schwarzarbeit. Ein zu niedrig
angesetzter Mindestlohn ist wirkungslos. Das tragen wir
Liberalen Ihnen gebetsmühlenartig vor.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, stimmt es auch?)


Im Lohngefüge spiegeln sich die Nachfrage nach Ar-
beitskräften und die Produktivität der Beschäftigten wi-
der. Hier per Gesetz einzugreifen, ist nichts anderes als
Planwirtschaft. Die Konsequenzen kennen wir: Unter-
nehmen und Arbeitsplätze wandern ab, und allein die
Schwarzarbeit wird blühen.


(Beifall bei der FDP)


Vor allem Geringverdiener wären dabei die Leidtragen-
den; denn um deren Arbeitsplätze geht es. Wenn Sie Ge-
ringverdiener stärken wollen, müssen Sie bei den Lohn-
nebenkosten entlasten. Dann bleibt vom Brutto auch
mehr übrig.

Herr Schiewerling, Sie haben die Arbeitslosenversi-
cherung angesprochen. Daher will ich nur an die Renten-
versicherung und an die Pflegeversicherung erinnern.
Bezüglich der Krankenversicherung machen wir alle ein
großes Fragezeichen, wenn es um die Frage geht, was
am Ende des Jahres auf uns zukommt.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Aber es bleibt doch eine Entlastung am Ende, Herr Rohde!)


– Ich würde Ihnen ausnahmsweise zustimmen, wenn Sie
behaupten, dass es in diesem Jahr vielleicht noch zu ei-
ner Entlastung kommt. Wir haben es schon gesagt: Im
letzten Jahr gab es erhebliche Belastungen, die durch die
kleine Entlastung in diesem Jahr nicht ausgeglichen wer-
den können.


(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das geht saldo negativ aus für die Koalition!)


Das alles holen Sie über die mittleren und hohen Ein-
kommen nicht wieder herein.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Rohde
Auch die Forderung, die Existenzsicherung von Kin-
dern zu verbessern, ist zweifellos richtig. Ob aber allein
eine Ausweitung des Kinderzuschlags auf mehr An-
spruchsberechtigte die Lösung ist, bezweifle ich.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sondern?)


Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Förderung auf je-
den Fall beim Kind ankommt und zu dessen Wohle ver-
wandt wird? Ich habe die Sorge, dass bei einer reinen
Geldleistung zu viele Kinder durchs Raster fallen. Mir
scheint es richtig zu sein, die Rahmenbedingungen so zu
gestalten, dass alle Kinder die gleichen Startchancen ha-
ben. Wir brauchen ein breites, vielfältiges und für alle
bezahlbares Kinderbetreuungsprogramm, das jedem
Kind zugute kommt, optimale Bildungsangebote ab dem
Kindergartenalter, und vor allem müssen wir bessere
Rahmenbedingungen für erwerbstätige Eltern schaffen;
denn der beste Schutz gegen Kinderarmut ist die Berufs-
tätigkeit beider Elternteile. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen von den Grünen, das stellen Sie in Ihrem Antrag
selbst fest.

Schade finde ich, dass Sie, werte Grüne, in Ihrem An-
trag keine Auskunft darüber geben, wie die von Ihnen
geplante Aufwertung des Wohngeldes finanziert werden
soll und vor allem von wem. Mehr Anspruchsberech-
tigte, höhere Freibeträge bei der Einkommensanrech-
nung, eine Erhöhung und eine stärkere Berücksichtigung
der Nebenkosten – das sind ja gleich vier Wünsche auf
einmal. Das geht nun wirklich nicht, vor allem nicht bei
den Kommunen.

Ich stimme Ihnen zu, dass wir beim Wohngeld etwas
machen müssen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Bezieher
von Arbeitslosengeld II Unterkunfts- und Heizkosten
fast vollständig vom Staat ersetzt bekommen, während
Bezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zur Grund-
miete und zu den sogenannten kalten Betriebskosten er-
halten. Auch steigende Nebenkosten müssen Berück-
sichtigung finden. Wir dürfen aber nicht so tun, als
müsse man das Geld nur drucken. Lassen Sie bitte Ver-
nunft einkehren und uns nach einer gerechten Lösung
suchen, die auch finanziert werden kann.

Meine Damen und Herren aller Fraktionen, ich fasse
noch einmal zusammen:


(Gerd Andres [SPD]: Das ist auch nötig!)


Wir brauchen keinen Mindestlohn, wir brauchen keinen
Erwerbstätigenzuschuss, wir brauchen keinen Rabatt bei
den Sozialversicherungsbeiträgen, sondern wir brauchen
mehr Arbeitsplätze, und zwar in allen Lohngruppen.


(Beifall bei der FDP)


Der einfachste Weg dahin liegt in einer konsequenten
Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung. Dann
rechnet sich Arbeit in Deutschland besser, und dann kön-
nen mehr Arbeitsplätze in Deutschland entstehen. Damit
würde sich auch die Finanzierung der Sozialversiche-
rungssysteme in Deutschland entspannen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Dann müsst ihr einmal mitstimmen!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613917100

Kollege Rohde, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das finde ich auch!)



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1613917200

Ein letzter Satz, Frau Präsidentin.

Eine flexible Regelung des Renteneintrittsalters bei
gleichzeitiger Abschaffung aller Zuverdienstgrenzen
und die Einführung des liberalen Bürgergeldes wären die
richtigen Weichenstellungen für mehr Arbeitsplätze.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Ja! Ja! Ja!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613917300

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Rolf Stö-

ckel das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Stöckel (SPD):
Rede ID: ID1613917400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unbe-

stritten ist, dass tatsächliche oder relative Armut für zu
viele Menschen trotz Arbeit Realität ist. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen fordert deshalb zu Recht ein ab-
gestimmtes Konzept, mit dem die „Verarmung Erwerbs-
tätiger erfolgreich bekämpft und ihre Abhängigkeit von
der Grundsicherung“ nach SGB II „vermieden werden
kann“. Das fordert sie in Übereinstimmung mit der SPD-
Bundestagsfraktion und der überwältigenden Mehrheit
der Menschen in der Bundesrepublik, wenn man den re-
präsentativen Umfragen Glauben schenken kann. Die
große Zustimmung in der Bevölkerung zeigt sich übri-
gens auch bei der Unterschriftenaktion für Mindest-
löhne, die die SPD in Hessen durchführt.

Ich darf daran erinnern, dass wir während der rot-grü-
nen Regierungszeit gemeinsam ein abgestimmtes Kon-
zept arbeitsmarktpolitischer Reformen entwickelt haben,
das wir nun in der Großen Koalition gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion auf der Grundlage des Koalitions-
vertrages und im Lichte der Realitäten weiterentwickeln.
Ich erinnere daran, dass die Regelungen der Mini- und
Midijobs, die zu widersprüchlichen Wirkungen geführt
haben, von SPD und Grünen gemeinsam beschlossen
worden sind. Das heißt nicht, dass sie nicht verändert
werden könnten. Darüber werden wir uns mit unserem
Koalitionspartner auseinandersetzen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nie gab es so viele Minijobs wie heute!)


Ich glaube, beiden Regierungen ist eines gemeinsam,
nämlich das Ziel – das ist heute wie damals unbestritten –,
möglichst viele Menschen zu qualifizieren und in gut be-
zahlte Beschäftigung zu vermitteln. Gerade für Familien
mit Kindern und Alleinerziehende ist das aber keine Ga-
rantie für ein existenzsicherndes Einkommen, das ober-
halb der Bedürftigkeitsgrenze liegt; das müssen auch Sie






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Stöckel
eingestehen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass so-
wohl seitens der Arbeitgeber als auch der Erwerbstätigen
das Bedürfnis nach Teilzeitarbeit steigt, und es zuneh-
mend gebrochene Erwerbsbiografien gibt. Wir müssen
auch die Entwicklungen im Bereich der Zeitarbeit zur
Kenntnis nehmen.

Bezüglich der Zahlen zu den sogenannten Aufsto-
ckern beziehen Sie sich auf eine IAW-Studie von
November 2007. Ich will an dieser Stelle deutlich ma-
chen, dass man die Problematik der Aufstocker nicht so
pauschal beurteilen kann. Rund 459 000 Personen ge-
hörten 2005 zehn Monate und länger zu den Aufsto-
ckern. 325 000 Personen bezogen 2005 ganzjährig auf-
stockend ALG II; das sind fast 10 Prozent aller
erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen. Wer nicht mehr auf-
stockt, beendet noch lange nicht den Bezug von ALG II.
In 20 Prozent der Fälle endet das Aufstocken nach einem
Monat, und zwar je hälftig wegen Aufgabe der Erwerbs-
tätigkeit oder wegen Beendigung der Hilfsbedürftigkeit.

Ich will damit nur sagen, dass wir dieses Problem
nicht so pauschal beurteilen können, wie Sie es in Ihrem
Antrag getan haben. Vielmehr brauchen wir differen-
zierte Lösungskonzepte. Frau Pothmer, es ist eindeutig
ein Erfolg unserer gemeinsamen Anstrengungen, dass
die Arbeitslosigkeit insgesamt spürbar gesunken ist,
mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ge-
schaffen wurde und zunehmend auch Langzeitarbeits-
lose wieder eine Perspektive erhalten. Die Zahl der Ar-
beitsuchenden ist von 5 Millionen im Jahre 2005 auf
3,8 Millionen gesunken. Nach den neuesten Zahlen des
Statistischen Bundesamtes ist die relative Armutsquote
von 13,5 Prozent im Jahre 2002 um knapp einen Pro-
zentpunkt auf 12,7 Prozent im Jahre 2005 gesunken, bei
den erwerbstätigen Personen sogar auf 5,5 Prozent. Das
reicht uns noch lange nicht; aber die Zahlen zeigen, dass
wir mit Sicherheit auf dem richtigen Weg sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Im Übrigen haben wir im Rahmen der Reformen der
Agenda 2010 geregelt, dass Geringverdiener ihren Lohn
mit ALG II aufstocken können und damit quasi ein
Kombi-Einkommen erzielen. Die Zahl derjenigen, die
als Aufstocker ALG II beziehen, ist gewachsen, weil wir
Rechtsansprüche auf höhere Hinzuverdienste und ein
höheres Schonvermögen und damit Beschäftigungs-
anreize im Bereich der Teilzeitarbeit geschaffen haben.
Dazu kann man sich bekennen; es war nämlich gewollt.
Es ist besser, wenigstens einen Teil des Lebensunterhalts
als Arbeitnehmer selbst zu verdienen, als voll von staat-
lichen Transferleistungen zu leben.


(Beifall bei der SPD)


Davon profitieren nicht nur Erwerbstätige, sondern auch
die Steuerzahler. Würde sich ein Aufstocker arbeitslos
melden – etwa weil er die falsche Moral vertritt, man
müsse sich vom Staat holen, was er bietet –, dann stiegen
die Ausgaben für ALG II. Auch die Hilfe für Teilzeitler
war vom Gesetzgeber gewollt. Damit sollten vor allem
Alleinerziehende unterstützt werden; der Einstieg in den
Beruf sollte insgesamt erleichtert werden.

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Insgesamt kann die Aufstockerregelung als Sprung-
brett in eine existenzsichernde Arbeit betrachtet werden.
Es ist wahrscheinlich nie ganz auszuschließen, dass es
Mitnahmeeffekte gibt und dass Arbeitgeber die Rege-
lung für Lohndumping missbrauchen. Dem wollen wir
– da sind wir uns einig – mit Mindestlöhnen entgegen-
treten.


(Andrea Nahles [SPD]: Genau!)


Ich freue mich, dass die Schlussfolgerung aus unserer
damaligen Zusammenarbeit zu der Frage der Ursachen
von Armut – beispielsweise die fehlende Vereinbarkeit
von Beruf und Familie sowie der Mangel an Kinderbe-
treuung und Ganztagsschulen – der europäischen Sicht-
weise entspricht, dass die Berufstätigkeit beider Eltern-
teile – Kollege Schiewerling hat es gesagt – der beste
Schutz vor Armut, insbesondere vor Kinderarmut, ist.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann könnt ihr unserem Antrag zustimmen! Super!)


Wenn Sie das skandinavische Sozialstaatsmodell zum
Vorbild nehmen – dafür spricht eine Menge, nicht nur
Ihr Antrag –, dann müssen Sie der Öffentlichkeit aber
die ganze Wahrheit sagen. Wenn das seriös finanziert
werden soll, müssen nicht nur die sozialen Leistungssys-
teme effizienter werden, sondern auch die Staatsquote
– Steuern und Abgaben – konsequent erhöht werden.
Dazu sagen Sie in Ihrem Antrag aber überhaupt nichts.
Er ist offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt und ist
damit ein typischer Oppositionsantrag. Er enthält keine
Angaben zu den Finanzierungsfragen.

Man sucht vergebens ein abgestimmtes Konzept und
eine Einschätzung der Wirkungen im Gesamtzusammen-
hang.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sucht man vergebens?)


Sie etikettieren das Freibetragsmodell des DGB in das
grüne Progressivmodell um. Sie plädieren also für eine
Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge der Gering-
verdiener und ihrer Arbeitgeber und tun so, als sei das
schon die Lösung. Sie behaupten, höhere Einkommen
würden stärker belastet; irgendeinen Hinweis darauf, wie
das geschehen soll, suche ich in Ihrem Antrag aber ver-
gebens.


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir erklären das im Ausschuss! Dann können Sie bestimmt zustimmen!)


Sie verwerfen das Konzept des Beschäftigtenbonus,
wollen aber gleichzeitig mit einem Kinderzuschlag und
einer Wohngelderhöhung dafür sorgen, dass Aufstocker
den Bezug von Arbeitslosengeld II beenden können.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch richtig!)







(A) (C)



(B) (D)


Rolf Stöckel
Die SPD hat ein abgestimmtes Konzept zur guten Arbeit
vorgelegt. Darüber verhandeln wir mit unserem Koali-
tionspartner.

Wir haben einen Koalitionsbeschluss vom 18. Juni
2007. Der Arbeitsminister wird zeitnah – wir hoffen,
noch vor der Sommerpause – ein Konzept für ein neues
Arbeitnehmer-Entsendegesetz und für ein Mindestar-
beitsbedingungengesetz vorlegen, um die Mindestlöhne
durchzusetzen, und zwar mit dem Vorrang tariflicher
Mindestlöhne, so wie Sie es auch verfolgen. Dass die
CDU/CSU da noch nicht ganz folgen kann, wird sich
vielleicht nach dem nächsten Sonntag ändern. Wir hof-
fen das sehr.

Ich bin sicher, dass unser Konzept im Sinne unserer
gemeinsamen Zielsetzung, nämlich gute Arbeit, gerechte
Löhne und vor allen Dingen neue Regelungen, neue so-
ziale Sicherungen im Sinne einer flexiblen Sicherheit
und neue Arbeitsverhältnisse in einer neuen Kultur der
Arbeit, gelingen wird.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613917500

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Dr. Gesine Lötzsch das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613917600

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Mein persönlicher Wahlslogan im
Jahr 2005 war: Von Arbeit muss man leben können.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Können Sie doch auch!)


Darum unterstütze ich jede grundlegende Reform, die
diesem Ziel dient.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber ich glaube, wir müssen an die Dinge grundlegend
herangehen.

Ich möchte daran erinnern, dass im Jahr 2003 auf Vor-
schlag von Bundeskanzler Schröder Rot-Grün die Hartz-
Gesetze beschlossen hat. Meine Kollegin Petra Pau, die
jetzt als Präsidentin hier vorne sitzt, und ich haben vor
diesen Hartz-Gesetzen gewarnt und darauf verwiesen,
dass diese Gesetze massenhaft Armut erzeugen werden.
Wir haben die Situation in den USA beschrieben. Dort
lebten schon viele Menschen trotz Arbeit in Armut. Sie
waren schon damals gezwungen, mehrere Mc-Jobs an-
zunehmen, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu
können. Unsere Warnungen wurden damals einfach
ignoriert. Jetzt müssen wir feststellen, dass die Hartz-
Gesetze genau die Wirkungen hervorgerufen haben, vor
denen wir damals gewarnt haben.

(Beifall bei der LINKEN – Gerd Andres [SPD]: Das ist falsch! Erkennbar falsch!)


CDU/CSU, SPD und Grüne haben die Verarmung von
Millionen von Menschen billigend in Kauf genommen.


(Zuruf von der LINKEN: So ist es! – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber langsam!)


Dazu, dass Kollege Stiegler von der SPD heute Morgen
im Plenum sagte, man konnte ja nicht wissen, dass die
Unternehmen die Gesetzgebung über die Leiharbeit so
ausnutzen würden, frage ich: Wie naiv können führende
Sozialdemokraten sein? Das ist doch wirklich nicht zu
fassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von den Grünen, ich for-
dere aber auch Sie auf, einmal darüber nachzudenken, ob
es nicht redlich wäre, in Ihrem Antrag selbstkritisch über
Ihre Fehler einige Worte zu verlieren und eine grundle-
gende Reform der Hartz-Gesetze einzufordern. Sie ver-
suchen, über Ihre eigene Geschichte stillschweigend hin-
wegzugehen. Doch ich kann Ihnen versichern: So
vergesslich sind die Menschen nicht.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ja, das ist Ihnen noch nicht passiert, dass Sie über Ihre Geschichte hinweggegangen sind!)


– Wir gehen über unsere eigene Geschichte, verehrter
Herr Kollege Brauksiepe, nicht stillschweigend hinweg.
Wir setzen uns damit intensiv auseinander.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ja, das wissen wir!)


Das unterscheidet uns voneinander.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Antrag der Grünen wird auf die schnell steigende
Zahl von Menschen hingewiesen, die trotz Arbeit ihren
Lebensunterhalt nicht finanzieren können. Wir haben
– das muss man hier einmal betonen – die absurde Situa-
tion, dass es eine Anzahl von Unternehmen in unserem
Land gibt, die die Löhne ihrer Mitarbeiter mit dem Hin-
weis senken, dass sie sich das restliche Geld doch vom
Staat holen können. Ich denke, diese Situation ist nicht
hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gerd Andres [SPD])


Uns von den Linken wird gern vorgeworfen, wir
könnten nicht rechnen und wüssten nicht, wie man Geld
zusammenzählt. Darum möchte ich hier, obwohl ich
nicht kleinkariert bin, auf eine sehr ärgerliche Ge-
schichte eingehen. Ich hatte die Bundesregierung ge-
fragt, wie viel Geld der Bund im Jahr 2007 für die Auf-
stocker gezahlt hat. Vor einigen Monaten wurde mir erst
die Zahl von 8 Milliarden Euro pro Jahr genannt, dann
waren es plötzlich 13 Milliarden Euro.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch

(Andrea Nahles [SPD]: 1,3 Milliarden!)


Ich muss Ihnen sagen: Wenn das Ministerium, das dafür
verantwortlich ist, sich um 50 Prozent irrt und uns von
Kollegen aus der SPD vorgeworfen wird, wir könnten
nicht rechnen, dann ist das für mich keine Kleinigkeit.
Dann sage ich das auch in aller Öffentlichkeit.


(Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles [SPD]: Das ist eine peinliche Geschichte für Sie, nicht für uns!)


Ungefähr 9 Milliarden Euro werden im Jahr für Auf-
stocker ausgegeben. Auch das ist keine Kleinigkeit. Um
das für die Zuhörer einmal im Vergleich darzustellen: So
viel gibt der Bund in einem Jahr für Wissenschaft und
Forschung aus. Um die Situation zu verbessern, gibt es
ein Mittel, das uns allen bekannt ist: den gesetzlichen
Mindestlohn. Es ist an der Zeit, den gesetzlichen Min-
destlohn endlich einzuführen, nicht mit Unterschriften-
listen dafür durch Landtagswahlkämpfe zu ziehen, son-
dern hier im Deutschen Bundestag, wo er beschlossen
werden kann, dafür die Hand zu heben und abzustimmen


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und nicht zu behauten, dass diejenigen, die ordnungsge-
mäße Anträge in den Deutschen Bundestag zu dieser
Frage einbringen, Populisten seien. Die Populisten sind
die, die mit Unterschriftenlisten in die Wahlkämpfe zie-
hen, dann aber im Bundestag Anträge auf Einführung ei-
nes gesetzlichen Mindestlohnes ablehnen,


(Iris Gleicke [SPD]: Schwachsinn! – Weiterer Zuruf von der SPD: Wenn es doch nur so einfach wäre!)


obwohl es hier im Plenum eine strukturelle Mehrheit für
den Mindestlohn gibt.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig. – Über die Kin-
derarmut haben wir heute Nachmittag schon gesprochen;
darauf kann ich nicht mehr eingehen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist wahr!)


Wir müssen die grundlegenden Ursachen beseitigen, die
dazu führen, dass Menschen nicht von ihrer Arbeit leben
können. Was wir brauchen, sind gute Arbeit und sichere
Arbeitsverhältnisse. Wir müssen die Gesetze im Bundes-
tag so gestalten, dass sich die Menschen darauf verlassen
können.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613917700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7751 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Kontopfändungsschutzes

– Drucksache 16/7615 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.


(Unruhe)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe dem Parla-
mentarischen Staatssekretär Hartenbach das Wort erteilt,
nicht dem gesamten Plenum. Ich bitte darum, die nötige
Aufmerksamkeit herzustellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1613917800


Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr herzlich für
diese Bevorzugung. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Verehrtes Präsidium! Eine Reform des Kontopfän-
dungsschutzes ist notwendig. Viele Menschen in
Deutschland warten schon ungeduldig auf das neue
Recht.


(Daniela Raab [CDU/CSU]: Ach, wirklich?)


Wir wollen – Herr Thiele, an dieser Stelle sollten auch
die Finanzpolitiker zuhören –,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Jawohl!)


dass die Schuldner auf einem besonderen Girokonto,
dem Pfändungsschutzkonto, einen automatischen Basis-
pfändungsschutz erhalten. Dazu wird es auf diesem
Konto einen Sockelpfändungsschutz von knapp
1 000 Euro geben. Das entspricht dem Freibetrag, den
ein alleinstehender Arbeitnehmer oder Rentner mindes-
tens behalten darf, wenn sein Einkommen gepfändet
wird. Wenn Unterhaltspflichten bestehen, wird dieser
Betrag natürlich entsprechend erhöht.

Diese Reform hängt eng mit der Forderung nach ei-
nem Girokonto für jedermann zusammen. Schätzungen
besagen, dass in Deutschland circa 500 000 Haushalte
kein Girokonto haben.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Viele von Ihnen können sich vielleicht gar nicht vorstel-
len, was das für die Betroffenen heißt. Jede Rechnung
muss bar bezahlt werden. Das ist umständlich und kostet






(A) (C)



(D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
jedes Mal zusätzliche Gebühren, und das gerade diejeni-
gen, die oft nicht wissen, ob ihr Geld bis zum Mo-
natsende reicht.

Wer kein Girokonto hat, bekommt oft keinen Telefon-
anschluss und wird es schwer haben, einen Arbeitsplatz
zu finden. Wegen Kontopfändungen erfolgen derzeit
circa 60 Prozent der Kontokündigungen, weil den Ban-
ken bei einer Kontopfändung, wie sie sagen, ein zu gro-
ßer Aufwand und zu hohe Kosten entstehen. Das können
und dürfen wir nicht hinnehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt reformieren wir den Pfändungsschutz, wie wir es
im vierten Bericht zur Umsetzung der Empfehlungen des
Zentralen Kreditausschusses zum Girokonto für jeder-
mann angekündigt haben. Der Aufwand für den Pfän-
dungsschutz wird in Zukunft deutlich geringer sein, weil
auf dem Pfändungsschutzkonto ein automatischer Pfän-
dungsschutz in Höhe eines Sockelbetrages von knapp
1 000 Euro pro Monat besteht. Es muss also nicht erst
noch die Entscheidung eines Gerichts herbeigeführt wer-
den. Das entlastet die Banken und auch die Gerichte
ganz erheblich


(Gerd Andres [SPD]: Ja!)


und kann von den Banken deshalb künftig nicht mehr als
Begründung für die Kündigung eines Girokontos heran-
gezogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Übrigen gilt: Der Staat darf seinen Zwangsapparat
nicht zur Verfügung stellen, um einem Schuldner die
Mittel zu entziehen, die er für seinen eigenen Mindest-
unterhalt und den seiner Familie benötigt. Das liegt auch
im öffentlichen Interesse. Ließe man zu, dass die Gläubi-
ger alles bis zum letzten Euro pfänden, wäre es wieder
die Allgemeinheit, die mit Sozialtransfers für den Unter-
halt des Schuldners aufkommen müsste. Damit würden
private Verlustgeschäfte sozialisiert. So etwas ist nicht
nur in Zeiten knapper Kassen abzulehnen. Wir können
nicht mit der Rechten beim Wegnehmen helfen und das
mit der Linken wiedergutmachen; das war jetzt nicht
politisch gemeint.


(Jan Korte [DIE LINKE]: Das war aber gut!)


Das Argument des Missbrauchs durch den Schuldner
lasse ich nicht gelten. Die Instrumente der Kontrolle und
Überwachung reichen aus, vor allem die Androhung ei-
ner Bestrafung. Wir brauchen auch keine Registrierung;
wir wollen doch gerade weniger Bürokratie.

Meine Bitte daher: Lassen Sie uns die Beratungen
über diesen Gesetzentwurf zügig durchführen! Dann
kann das neue Gesetz noch am Ende dieses Jahres in
Kraft treten. Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land warten darauf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich appelliere von dieser Stelle aus auch an die Kre-
ditwirtschaft: Leisten Sie Ihren Beitrag zum Gelingen
der Reform und unterstützen Sie das Pfändungsschutz-
konto! Dann entschärfen Sie auch die Diskussion über
den Rechtsanspruch auf ein Girokonto.
Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613917900

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild

Dyckmans das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1613918000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit der Zunahme des bargeldlosen Zahlungsverkehrs ist
ein stetiger Anstieg der Zahl der Kontopfändungen ver-
bunden. Nach Angaben der Bundesregierung erfolgen
bundesweit 350 000 bis 370 000 Kontopfändungen pro
Monat. War die Kontopfändung bei der Zwangsvollstre-
ckung in früheren Jahren die Ausnahme, so ist sie heute
fast der Regelfall.

Es ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen, wenn die
Bundesregierung nach einigen Anläufen nun einen Ge-
setzentwurf für eine umfassende Reform des Kontopfän-
dungsrechts vorgelegt hat.


(Beifall bei der FDP)


Ich begrüße für die FDP-Fraktion auch ausdrücklich,
dass die Bundesregierung zugleich von der Einführung
eines Girokontos für jedermann Abstand genommen hat.
Ich weiß, dass das eine Forderung ist, die seit Jahren er-
hoben wird und die allgemein populär ist.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ist notwendig! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ist richtig!)


Dennoch sind wir ebenso wie die Bundesregierung der
Auffassung, dass die gesetzliche Einführung eines Giro-
kontos für jedermann nicht der richtige Weg ist. Die
Kreditwirtschaft hat gezeigt, dass sie sehr wohl in der
Lage ist, dieses Problem durch ein funktionierendes Sys-
tem der Selbstregulierung in den Griff zu bekommen.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Aha! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie stehen auf der Seite der Banken! Die Bundesregierung sagt das Gegenteil!)


Nun zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Die Bun-
desregierung schlägt vor, dass der Kunde bei seiner
Bank auf vertraglicher Grundlage die Einrichtung eines
Pfändungsschutzkontos beantragen kann. Damit soll,
wie der Herr Staatssekretär es eben erwähnt hat, ein mo-
natliches Guthaben von etwa 1 000 Euro automatisch
geschützt werden. Wird nach dem geltenden Recht ein
Konto gepfändet, so muss der Schuldner bei Gericht die
Aufhebung der Pfändung beantragen. Die Kontopfän-
dung – das ist eine Tatsache – führt dann oft zur Kündi-
gung des Girovertrags. Das kann so nicht mehr hinge-
nommen werden.

Mit dem Pfändungsschutzkonto erspart sich der
Schuldner den Gang zum Gericht und kann künftig trotz
der Vollstreckung seine täglichen Geldgeschäfte bar-
geldlos abwickeln. Die Neuregelung erscheint daher auf
den ersten Blick sachgerecht.

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Mechthild Dyckmans
Mit dem Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt, so die
Bundesregierung in ihrer Begründung, den Aufwand für
die Banken und Sparkassen in vertretbarem Rahmen zu
halten. Wir haben gewisse Zweifel, ob dies gelingt.
Schließlich muss man sehen, dass hier Aufgaben, die
bisher die Gerichte wahrgenommen haben, auf die Kre-
ditwirtschaft verlagert werden. Zwar soll der Pfändungs-
schutz für Guthaben einheitlich ausgestaltet werden und
deshalb zu Deregulierung führen – auf die Art der Ein-
künfte soll es nicht mehr ankommen; aber auch hier liegt
ein Problem –; man muss aber sehen, dass dafür andere
Prüfungsaufträge auf die Bank zukommen. Denn wenn
das geschützte Guthaben erhöht werden soll, etwa weil
der Schuldner Unterhaltsverpflichtungen nachkommen
muss, haben die Kreditinstitute zu prüfen, welche Be-
träge von der Pfändung erfasst werden und welche nicht.
Ob es da tatsächlich zu einer Entlastung auch der Kredit-
institute kommen wird, erscheint mir fraglich.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Ebenso glaube ich, dass die Vollstreckungsgerichte
nur zum Teil entlastet werden;


(Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Das wäre doch schon einmal etwas!)


denn wenn ein bestimmtes Guthaben nicht von der Voll-
streckung erfasst wird, kann man erst einmal einen An-
trag bei dem Vollstreckungsgericht stellen. Auch bei
Zweifeln an der konkreten Berechnung kann das Voll-
streckungsgericht angerufen werden. Es gibt also nur ge-
ringfügige Entlastungen.

Kritisch gesehen werden muss meines Erachtens auch
die Regelung, wonach der Schuldner gegenüber dem
Kreditinstitut lediglich zu versichern hat, dass er nur ein
einziges Pfändungsschutzkonto hat. Ob diese Versiche-
rung des Schuldners ausreicht, bedarf meines Erachtens
noch der ausführlichen Prüfung.

Die Reform des Kontopfändungsrechts kann für uns
nur dann zustimmungsfähig sein, wenn die Regelungen
zu einem fairen und sachgerechten Interessenausgleich
zwischen Schuldner, Gläubiger und Kreditinstitut füh-
ren. Das heißt erstens, dass das verfassungsrechtlich ga-
rantierte Existenzminimum geschützt werden muss. Das
heißt zweitens aber auch, dass die legitimen Rechte des
Gläubigers durchsetzbar bleiben müssen. Drittens heißt
das, dass die Verlagerung der Berechnung von Pfän-
dungsschutzfreibeträgen von den Vollstreckungsgerich-
ten auf die Kreditinstitute diese nicht unverhältnismäßig
belasten darf.

Ich nehme an, dass wir das Gesetz ausführlich beraten
werden. Wir werden sehen, wie weit wir damit kommen
werden und ob die eine oder andere Änderung noch vor-
genommen wird.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613918100

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Michael

Grosse-Brömer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1613918200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Den Menschen, die dieser Debatte jetzt folgen, wird es
so wie mir gehen, als ich gehört habe, dass wir einen
Kontopfändungsschutz einrichten wollen. Da stellt man
sich erst einmal die Frage, warum es so etwas geben
muss. Diejenigen, die ein zu pfändendes Konto haben,
haben im Zweifel nämlich Schulden gemacht. Wenn
man pfänden kann, dann besitzt man auch schon einen
Titel, um diese Schulden einzutreiben. Das heißt, dass
sich ein Gericht im Regelfall damit beschäftigt und ge-
sagt hat: Es gibt einen Anspruch, der zu Recht besteht. –
Man stellt sich dann die Frage, warum man einen Kon-
tenpfändungsschutz braucht.


(Joachim Stünker [SPD]: Weil es den Pfändungsschutz gibt! – Gerd Andres [SPD]: Die Frage werden Sie uns gleich beantworten!)


– Sie werden in wenigen Minuten ja noch einmal Ihre
fulminanten Rechtsausführungen dazu machen.

Ich glaube, für die allermeisten Menschen ist es eine
Selbstverständlichkeit, ihr Girokonto Tag für Tag zu be-
nutzen, um die Miete zu bezahlen, um ihr Gehalt zu kas-
sieren und um Überweisungen zu tätigen. Dieser bar-
geldlose Zahlungsverkehr ist eben Alltagsgeschäft.
Demzufolge ist die Sperrung oder Kündigung eines sol-
chen Kontos natürlich eine massive Einschränkung der
finanziellen Mobilität. Wenn man nicht aufpasst, kann es
auch schnell in eine finanzielle Abwärtsspirale gehen.
Wem ein Konto gekündigt wird, sodass er keines mehr
hat, der bekommt irgendwann keine Wohnung und auch
keine Arbeit mehr. Deswegen ist es richtig, wenn man
sich Gedanken darüber macht, wie man dem Einhalt ge-
bieten kann.

Um den Folgen einer Kontolosigkeit zu begegnen, hat
der Zentrale Kreditausschuss schon im Jahre 1995 eine
Empfehlung – Stichwort: „Girokonto für jedermann“ –
herausgegeben. Die in diesem Ausschuss zusammenge-
schlossenen Verbände haben sich verpflichtet, für jeder-
mann ein Girokonto zur Verfügung zu stellen, sofern das
nicht unzumutbar ist. So weit, so gut.

Wir wollen jetzt gesetzlich etwas daran ändern. Im
vierten Bericht zu den Auswirkungen dieser ZKA-Emp-
fehlung über dieses Girokonto für jedermann stellt die
Bundesregierung fest, dass dieses Konto weitgehend zur
Wirklichkeit geworden ist. Es existieren nur noch Ein-
zelfälle, für die es einen Handlungsbedarf – zum Bei-
spiel hinsichtlich einer Härtefallregelung – gibt.

Schätzungsweise 97 Prozent der Bevölkerung verfü-
gen über ein Girokonto. Gleichwohl ist es eines der we-
sentlichen Ziele, das mit dem Kontopfändungsschutz
verfolgt wird, die Zahl der aufgrund von Pfändungen
ausgesprochenen Kontokündigungen zu reduzieren. Da-
neben sollen auch eine Vereinfachung des Pfändungs-
rechts und damit insgesamt eine größere materielle Ge-
rechtigkeit erreicht werden. – So weit zu den Zielen, die
mit dem Gesetzentwurf verfolgt werden.

Ich bin heute bei der ersten Lesung noch nicht der
Auffassung, dass diese Ziele vollständig erreicht wer-
den. Wir sind uns sicherlich darüber einig, dass Schuld-






(A) (C)



(B) (D)


Michael Grosse-Brömer
nerschutz, so sinnvoll er ist, nicht zu einer Benachteili-
gung der Gläubiger führen darf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Beide, Gläubiger und Schuldner, haben verfassungs-
rechtlich abgesicherte Interessen. Keinem Schuldner
darf das letzte Hemd vom Leib gepfändet werden. Es
gibt das Gebot der Menschenwürde und das Sozialstaats-
gebot in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes. Umgekehrt
gilt: Dem Gläubiger kommt die Eigentumsgarantie in
Art. 14 des Grundgesetzes zugute. Es gibt zudem sinn-
vollerweise einen Justizgewährungsanspruch, also einen
Anspruch auf Durchsetzung gerichtlich festgestellter
Rechte.

Wird der vorliegende Gesetzentwurf der notwendigen
Abwägung der unterschiedlichen Interessen gerecht?
Kern des Gesetzentwurfs ist die Einrichtung eines soge-
nannten P-Kontos mit einem Sockelfreibetrag in Höhe
von 985,15 Euro. Warum es genau dieser Betrag sein
soll, habe ich nicht genau verstanden. Aber so ist es je-
denfalls festgelegt. Weiterhin gibt es bei diesem Konto
eine Begrenzung der Pfändungswirkung auf 90 Tage.
Danach kann erneut gepfändet werden. Wenn ich es rich-
tig verstanden habe, soll es die Möglichkeit geben, nicht
verbrauchte Freibeträge in den nächsten Monat zu über-
tragen. Es handelt sich also um ein kleines pfändungs-
freies Sparbuch. Möglichkeiten zur Vollstreckungs-
umgehung ist damit meiner Ansicht nach Tür und Tor
geöffnet. Es wird den raffinierten Schuldner geben, der
neben seinem P-Konto diverse andere Konten haben
wird. Es wird den betrügerischen Schuldner geben – die-
ser ist für den Gesetzentwurf nicht maßgebend –, der auf
die Idee kommen wird, mehrere P-Konten einzurichten.
Die spannende Frage ist: Wer überprüft das alles eigent-
lich? Nach meinem Verständnis wird diese Frage im Ge-
setzentwurf nicht beantwortet. Lediglich die Banken sol-
len sich darum kümmern. Aber eine Erklärung reicht
aus.

Mit dem Gesetz wird sicherlich mehr Schutz vor
Kontopfändung erreicht – darauf wird auch in der Über-
schrift der Presseerklärung des BMJ hingewiesen –, al-
lerdings aus meiner Sicht ein Stück weit zulasten der
Gläubiger. Aufgrund dieses Gesetzes wird es wohl zur
Rückkehr zur guten alten Lohntüte kommen; denn jeder
Schuldner ist gut beraten – man muss noch nicht einmal
Anwalt sein wie die meisten im Rechtsausschuss, um auf
diese Idee zu kommen; dafür braucht man keine anwalt-
liche Empfehlung –, sich künftig Gehalt und Sozialleis-
tungen bar auszahlen zu lassen,


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht kein Arbeitgeber!)


auf dem P-Konto nur einen Betrag in Höhe von
985,15 Euro stehen zu lassen und alles, was darüber hi-
nausgeht, in den nächsten Monat mitzunehmen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Quatsch! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig weltfremd! – Gerd Andres [SPD]: Was will uns der Künstler damit sagen?)

– Sie waren doch einmal Staatssekretär. Sie sind so klug
und intelligent, dass ich Ihnen meine Sätze nicht erklä-
ren muss. Sie sollten nicht so viel dazwischenrufen, son-
dern vorrangig zuhören.


(Gerd Andres [SPD]: Ich weiß ja, welche Absichten Sie haben!)


Gerade durch die Möglichkeit, überhängende Beträge
anzusparen, kann es zum Beispiel dazu kommen – da-
rüber sollten wir diskutieren –, dass ein Gläubiger seine
titulierten 1 000 Euro nicht pfänden kann, obwohl
2 000 Euro auf dem Konto des Schuldners sind. Darauf
müssen wir eine Antwort finden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt eben unterschiedliche Interessen, die hierbei eine
Rolle spielen. Handelt es sich tatsächlich um eine Stär-
kung der materiellen Gerechtigkeit, wenn die von mir
beschriebene Abwägung der Interessen stattfindet?


(Gerd Andres [SPD]: Gute Frage! Geben Sie einmal eine Antwort!)


Ich glaube, auch eine Vereinfachung des Kontopfän-
dungsrechts wird nicht unbedingt erreicht. Frau Kollegin
Dyckmans hat darauf hingewiesen, dass das P-Konto
und der damit verbundene Schutz vorrangig sind. Aber
nach wie vor gelten die bestehenden Pfändungsschutz-
maßnahmen. Künftig sollen nicht mehr Gerichte, son-
dern Banken sich darüber Gedanken machen, wie hoch
der pfändungsfreie Betrag sein soll, und festlegen, ob der
pfändungsfreie Sockelbetrag gegebenenfalls erhöht wer-
den kann, wenn der Schuldner entsprechende Möglich-
keiten nutzt, wenn er zum Beispiel Kinder hat. Wenn es
dabei bleibt, wird es spannend sein, zu sehen, wie sich
das in der Praxis auswirkt.

Zusätzliche Kosten für zusätzliche Aufgaben, die den
Banken wohl entstehen, sind nach BGH-Rechtsprechung
zwar nicht direkt an den Kontoinhaber weiterzugeben.
Aus meiner Sicht ist es aber nicht auszuschließen, dass
es nach Inkrafttreten unseres Gesetzentwurfes eventuell
zu mehr Kontokündigungen kommt und nicht zu weni-
ger. Damit träfe das Gesetz dann eher diejenigen, die es
eigentlich schützen wollte.

Eine zentrale Datei über bestehende P-Konten wird es
wohl nicht geben. Wer überprüft also, wie viele P-Kon-
ten für einen einzelnen Schuldner bestehen? Da haben
wir noch keine vernünftige Antwort gefunden; jedenfalls
habe ich im Entwurf keine gesehen.

Ich denke, die gute Entwicklung aufgrund der ZKA-
Empfehlung „Girokonto für jedermann“ wird durch den
Entwurf, zumindest nach meiner ersten Sicht, nicht un-
bedingt gefördert. Ungeachtet dessen finden sich auch
positive Punkte in diesem Entwurf, zum Beispiel der
verbesserte Pfändungsschutz für Selbstständige. Das gab
es bislang nicht. § 850 i ZPO war bislang nach allgemei-
ner Auffassung unzureichend.

Ich will deswegen abschließend zu dem Fazit kom-
men, dass der Entwurf in der derzeitigen Fassung die In-
teressenabwägung zwischen Gläubiger und Schuldner






(A) (C)



(B) (D)


Michael Grosse-Brömer
noch nicht perfekt löst. Ich glaube, da haben wir noch
ein Stück weit Diskussionsbedarf. Das sehen nicht nur
Gläubigerschutzverbände oder die Bankenvertretung so,
sondern ebenso der Bundesrat und im Übrigen auch Ver-
treter der Wirtschaft. Vielleicht lesen Sie da einmal nach.


(Gerd Andres [SPD]: Muss nicht sein!)


Professor Bitter von der Universität Mannheim hat da
ähnliche Auffassungen.

Lassen Sie uns bei den anstehenden Beratungen die-
sen Gesetzentwurf optimieren. Ich denke, wenn wir
keine Anhörung durchführen, sollten wir uns zumindest
in einem erweiterten Berichterstattergespräch darüber
unterhalten, wie dieser Entwurf zu optimieren ist. Ich
sehe dafür jedenfalls die Notwendigkeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613918300

Der nächste Redner ist Wolfgang Nešković, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1613918400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Wenn der Gesetzgeber die Instru-
mente für die zwangsweise Durchsetzung privatrechtli-
cher Forderungen bereitstellt, so ist er – Herr Hartenbach
sagte es bereits – auch gehalten, dafür zu sorgen, dass
diese Instrumente dem Schuldner nicht die Mittel für ein
menschenwürdiges Dasein entziehen können. Das folgt
auch aus dem Sozialstaatsprinzip unseres Grundgeset-
zes. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung bemüht sich der
Deutsche Bundestag seit dem Jahre 1972 um einen wirk-
samen Kontopfändungsschutz. Während dessen gesetz-
geberische Ausgestaltung eher mühsam vorankam,
verwandelte die Informationstechnologie unsere Lebens-
wirklichkeit in Siebenmeilenschritten.

So trat zum ersten sozialen Problem ein zweites. Die
elektronische Kontoführung und der digitale Zahlungs-
verkehr sind die gesellschaftliche Regel geworden. Sie
mögen einen erheblichen Vorteil darstellen für jeden, der
daran teilnehmen darf. Für solche Menschen aber, die
– das wurde hier schon erwähnt – ihr Girokonto verloren
haben oder schon keines erhalten können, bedeutet dies
wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung. Bargeld lacht
schon lange nicht mehr.

Die Einführung eines einheitlichen Pfändungsschutz-
kontos, dessen Pfändungsfreibetrag auch im Falle der
Pfändung weiter verfügbar bleibt, gibt nicht nur dem
Schuldner mehr sozialen Schutz, sondern – davon geht
die Begründung aus – verringert wohl tatsächlich die
Neigung der Banken, im Falle einer Kontopfändung den
Girovertrag mit dem Schuldner zu kündigen.

Damit ist allerdings noch nichts für die Gruppe von
Menschen getan, die überhaupt kein Girokonto besitzt.
Auf dem Weg zum Girokonto für jedermann kommt die-
ser Entwurf als zweiter Schritt vor dem ersten daher.
Dass diese Art des Gehens zu Stürzen führen kann, ist
allgemein bekannt. Denn anders als die Entwurfsverfas-
ser meine ich nicht, dass der Entwurf die jahrelange Dis-
kussion mit den Kreditinstituten zur Einführung eines
Girokontos für jedermann erleichtert. Ich denke, eine
verringerte Neigung zu Kündigungen und eine gestei-
gerte Neigung zu Neuabschlüssen von Giroverträgen
sind zwei Paar Schuhe.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu zwei Beispiele: Erstens. Nach dem Entwurf sol-
len den Banken die Kosten, die ihnen aus der Bearbei-
tung von Kontopfändungen entstehen, nicht ersetzt
werden. Zweitens. Wegen § 394 BGB – „Keine Aufrech-
nung gegen unpfändbare Forderung“ – haben die Kredit-
institute auch keine Möglichkeit, die Kontoführungsge-
bühren mit dem geschützten Pfändungsfreibetrag zu
verrechnen. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Um-
stände die Banken ganz und gar nicht beflügeln werden,
kontolosen, überschuldeten Personen ein Pfändungs-
schutzkonto erstmals einzurichten.

Als zweiter Schritt vor dem ersten sorgt der Entwurf
also nicht für weniger, sondern für mehr Gegenwind.
Mit meiner Fraktion sehe ich allerdings diesem Mehr an
Gegenwind sehr gelassen entgegen. Denn sollte der Ent-
wurf Gesetz werden, so sorgt er als zweiter Schritt vor
dem ersten im Grunde genommen nur dafür, dass der
erste Schritt umso konsequenter nachzuholen sein wird:
in Form einer gesetzlichen Lösung, die die Banken nicht
im Wege der Selbstverpflichtung, sondern im Rahmen
ihrer Gemeinwohlverpflichtung nach Art. 14 Abs. 2
Grundgesetz verpflichtet, ein Girokonto für jedermann
vorzusehen.

Dazu hat unsere Fraktion Ihnen bereits eine taugliche
Vorlage geliefert,


(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das Adjektiv stimmt nicht!)


die am 9. März 2006 zur Beratung in die Fachausschüsse
überwiesen wurde. Nutzen Sie diese Vorlage!


(Beifall bei der LINKEN)


Dann kann das zwölfjährige, wie ich finde, peinliche
Warten auf die soziale Einsichtigkeit der deutschen Kre-
ditinstitute noch in dieser Legislaturperiode ein Ende
finden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613918500

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt

Kollege Jerzy Montag.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613918600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Grosse-Brömer, Sie haben eine große
Anzahl hochinteressanter Fragen ausgebreitet. Aller-
dings haben wir von Ihnen keine Antwort gehört.






(A) (C)



(B) (D)


Jerzy Montag

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist ja die erste Lesung!)


Als Ergebnis Ihrer Fragen habe ich aber Ihre Position
verstanden: Sie wollen dieses Gesetz eigentlich nicht.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Lassen Sie sich überraschen!)


Ich sage Ihnen: Wir Grüne wollen dieses Gesetz. Wir
finden es richtig; Kontopfändungsschutz muss sein. Es
gibt allerdings noch einige Fragen, über die zu diskutie-
ren sein wird. Das werden wir im Ausschuss tun.

Der vorliegende Gesetzentwurf löst aber das Haupt-
problem nicht.


(Wolfgang Nešković [DIE LINKE]: Genau! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wollen Sie dieses Gesetz nun, oder wollen Sie es nicht?)


Das Problem ist, dass man in der heutigen Gesellschaft
der Bundesrepublik Deutschland ohne ein Girokonto
keine Arbeit bekommen kann und keine Wohnung mie-
ten kann.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt wiederholen Sie meine Rede!)


Man kann also am täglichen Leben nicht teilnehmen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Genau!)


Deswegen ist es richtig, was Ihre Bundesregierung


(Dirk Manzewski [SPD]: Unser aller Bundesregierung!)


2006 in ihrem Bericht geschrieben hat – ich darf zitie-
ren –:

Gemeinsames Ziel von Staat und Kreditwirtschaft
muss es … sein, allen Bürgerinnen und Bürgern
schnell, einfach und auf praktikable Weise die Teil-
nahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr zu er-
möglichen.

Aber die Bundesregierung legt keinen Gesetzentwurf
für die Umsetzung der Forderung eines Girokontos für
alle vor. Das wäre aber ein notwendiger Schritt. Dieser
Schritt wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aller-
dings nicht verwirklicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wollen Sie ihn oder nicht?)


Stattdessen redet dieses Parlament inzwischen seit zehn
Jahren über ein Girokonto für alle. Die erste Beschluss-
fassung dieses Hohen Hauses stammt vom 5. Juni 1997,
die zweite vom 31. Januar 2002 und die dritte vom
30. Juni 2004. In allen diesen Beschlussfassungen hat
das Parlament die Bundesregierung aufgefordert, doch
dafür zu sorgen, dass es zu einem Girokonto für alle
kommen möge. Bis heute ist die Forderung dieses Ho-
hen Hauses nicht erfüllt worden.

Nein, wir haben keine Selbstverpflichtung der Kredit-
wirtschaft für ein Girokonto für alle, sondern lediglich
eine Empfehlung des Dachverbandes, ein solches Giro-
konto einzuführen. Zu dieser Empfehlung und zu der
Tatsache, dass sich nichts verbessert hat, schreibt die
Bundesregierung – Herr Kollege Grosse-Brömer, Sie
müssen den Bericht einmal lesen –:

Dieses nach zehnjähriger Implementierungspraxis
ernüchternde Ergebnis ist … in erster Linie dem
Charakter der Empfehlung geschuldet. Sie ver-
pflichtet gegenüber dem Kunden zu nichts – sie ist
weder für den Zentralen Kreditausschuss noch für
die einzelnen Kreditinstitute mit einer Rechtspflicht
verbunden.

Es ist völlig klar: Wir brauchen zumindest eine
Selbstverpflichtung, die einen rechtsverbindlichen Cha-
rakter hat. Dazu sagt der Bundesverband der deutschen
Banken Nein.

Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht als kleinen
Schritt vorgeschlagen, dass zumindest die Entscheidun-
gen der Schlichtungsstellen verbindlich sein sollen.
Dazu sagt der Bundesverband der deutschen Banken
Nein.

Seit zehn Jahren bestreiten die Banken die Zahl, die
wir jetzt gerade von der Bundesregierung gehört haben:
Es gibt mindestens eine halbe Million Menschen in
Deutschland, die gar kein Konto haben. Hinzu kommt
eine hohe Dunkelziffer, die nicht erfasst ist. Deswegen
sagen wir Grüne: Wir brauchen das Girokonto für jeder-
mann und jedefrau. Wir brauchen auch den Kontrahie-
rungszwang. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben.
Dass das kein Ende der Vertragsfreiheit in Deutschland
ist


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oh doch!)


– nein –, das zeigen uns die Sparkassen. Die Sparkassen
haben sich nämlich bereits


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Freiwillig!)


freiwillig zu einem Kontrahierungszwang verpflichtet.
In zehn Bundesländern gibt es das.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Freiwillig und ohne Gesetz!)


Dort sind die Marktwirtschaft und die Vertragsfreiheit
aber nicht abgeschafft. Deswegen können wir das auch
im ganzen Bundesgebiet einführen. Wir Grüne werden
uns dafür einsetzen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613918700

Das Wort hat nun Kollege Dirk Manzewski, SPD-

Fraktion.


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1613918800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen und zahlreiche Freunde der
Rechtspolitik! Dem Girokonto kommt aufgrund des zu-
nehmenden bargeldlosen Zahlungsverkehrs in der heuti-






(A) (C)



(B) (D)


Dirk Manzewski
gen Zeit – das ist hier schon deutlich gemacht worden –
eine immer größere Bedeutung zu. Dementsprechend
wiegen natürlich die im Zusammenhang mit der Pfän-
dung von Guthaben immer häufiger vorkommenden
Kündigungen von Girokontoverbindungen umso schwe-
rer. Der Grund liegt – auch das ist schon gesagt worden –
in der Regel in der weitreichenden Blockadewirkung,
die durch solch eine Kontopfändung ausgelöst wird. Für
den Betroffenen stellt das aufgrund der Bedeutung des
Girokontos in der Regel einen schwerwiegenden Ein-
griff mit weitreichenden persönlichen Folgen dar.

Herr Staatssekretär, das Ansinnen der Bundesregie-
rung, hier eine Verbesserung zu erreichen, wird daher
von mir ausdrücklich geteilt, zumal das sich meist an-
schließende Pfändungsschutzverfahren für die Vollstre-
ckungsgerichte einen ungeheuren Aufwand bedeutet.
Dies führt oft genug dazu – das muss man ganz deutlich
sagen –, dass kein rechtzeitiger Schutz gewährt wird.
Die Reform hat daher das berechtigte Ziel, einerseits für
einen effektiveren Schutz des Schuldners zu sorgen und
andererseits – da gebe ich dem Kollegen Grosse-Brömer
recht – das Bankkonto als Objekt für den Zugriff von
Gläubigern zu sichern. Nur, richtig ist natürlich – wer
will dem widersprechen? –, dass dabei versucht wird,
das Verfahren möglichst unkompliziert auszugestalten
und auch den Aufwand der Banken in einem vertretba-
ren Rahmen zu halten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns da-
rüber unterhalten – einige Debattenbeiträge gingen, wie
ich finde, am Thema vorbei –, wie das Ziel des Kon-
topfändungsschutzes umgesetzt werden soll. Diese
Frage ist entscheidend. Die Bundesregierung plant, die
der Existenzsicherung dienenden Einkünfte von Schuld-
nern einem sogenannten P-Konto, also einem Pfän-
dungsschutzkonto, gutzuschreiben. Dadurch soll dann
der Schuldner im Rahmen der Pfändungsfreigrenzen, die
für Arbeitseinkommen gelten, die Geldgeschäfte des
täglichen Lebens trotz Pfändung weiter vornehmen kön-
nen.

In der Diskussion, die sich an die heutige Debatte an-
schließt, werden wir abzuklären haben, ob es für die
Kreditinstitute tatsächlich immer so unproblematisch,
wie prognostiziert wurde, ist, bei den durch Eingänge
und Abbuchungen stetig wechselnden Beständen auf den
Konten den Pfändungsfreibetrag feststellen zu können.
Ich persönlich bin davon noch nicht überzeugt. Es han-
delt sich, Kollege Montag, Kollege Nešković, um ein
rein praktisches Problem. Es geht darum, wie die Umset-
zung erfolgen soll.

In diesem Zusammenhang ist für mich auch noch
nicht ganz klar – auch diese Frage möchte ich aufwer-
fen –, wie eigentlich das grundsätzliche Regressrisiko
der Kreditinstitute aussieht, wenn sie fehlerhaft über den
Pfändungsfreibetrag entscheiden.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gute Frage!)


Gut finde ich, dass die Bundesregierung sich in ihrer Ge-
genäußerung für Fälle erhöhter Pfändungsfreigrenzen
die Meinung des Bundesrates zu eigen gemacht hat und
für die Kreditinstitute die Gefahr der Haftung im Falle
der Unrichtigkeit der in diesem Zusammenhang vorzule-
genden Bescheinigungen minimieren will.

Jeder Schuldner darf natürlich nur ein Pfändungs-
schutzkonto führen. Die Pfändungsfreigrenze soll dem
Schuldner dabei quasi automatisch gewährt werden, und
auf die Art der Einkünfte soll es dabei nicht mehr an-
kommen. Gerade dadurch, dass nur noch das eine Konto
Pfändungsschutz genießt, soll nach dem Gesetzentwurf
zugunsten der Gläubiger verhindert werden, dass der
Pfändungsschutz durch Führen mehrerer Konten mit der
Möglichkeit der entsprechenden Inanspruchnahme von
Freibeträgen ausgehöhlt wird. Die Bundesregierung
– auch dies ist von den Kollegen angesprochen worden –
geht dabei davon aus, dass die Strafbarkeit nach
§ 288 StGB und die vom Schuldner abzugebende Versi-
cherung, keine weiteren Pfändungsschutzkonten mehr
zu führen, ausreichend sind, Personen hiervon tatsäch-
lich abzuhalten.

Ich kann nicht ignorieren, dass es dazu kritische Stim-
men gibt. So habe ich den Kollegen Grosse-Brömer ver-
standen, und auch der Bundesrat und die BRAK haben
dies als nicht ganz unproblematisch angesehen. Darauf
stelle ich ab, und deswegen sage ich an dieser Stelle nur,
ohne eine Wertung abzugeben, dass wir uns in den anste-
henden Beratungen mit dieser Problematik ausgiebig
werden auseinandersetzen müssen, nicht mehr und nicht
weniger.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Geklärt werden sollte auch noch, warum bei der Kon-
tenpfändung Befristungen eingeführt werden sollen
– das habe ich noch nicht ganz verstanden – und warum
offenbar keine Dauerpfändungen mehr möglich sein sol-
len. Darüber werden wir ebenfalls reden müssen. Ich
will damit nicht sagen, dass ich das nicht als richtig er-
achte. Aber dazu fehlt mir im Gesetzentwurf eine ver-
nünftige Begründung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Sie sehen, dass wir ein sehr interessantes Ge-
setzgebungsverfahren vor uns haben, dem jedenfalls ich
gespannt entgegensehe.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613918900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/7615 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler,






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Martin Zeil, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Konsequenzen aus dem Entschädigungsfall
Phoenix Kapitaldienst GmbH

– Drucksachen 16/5786, 16/7645 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg
Frank Schäffler

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Ulrich Krüger, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD):
Rede ID: ID1613919000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn nichts mehr geht, wird es der Staat
schon richten und den Zahlmeister spielen. Dieser Ein-
druck drängt sich einem förmlich auf, wenn man sich die
Geschichte des skandalösen Betrugsfalls der Phoenix
Kapitaldienst GmbH einmal anschaut. Auf der einen
Seite möchten Wertpapierhandelsunternehmen im gro-
ßen Geschäft mitspielen und hohe Gewinne einfahren,
auf der anderen Seite wollen sie Verluste sozialisieren,
die aufgrund strafbarer Handlungen eines Anlegerdiens-
tes begangen wurden. Dies ist nicht in Ordnung.

Hintergrund der ganzen Tragödie ist die Tatsache,
dass Anleger, die eine möglichst schnelle und höchst-
mögliche Rendite erwarteten, bekanntlich bei der
Phoenix Kapitaldienst GmbH in die falschen Hände ge-
raten sind. 30 000 Menschen sind wegen dieser krimi-
nellen Machenschaften um ihr Geld geprellt worden und
erwarten nun, zumindest einen Großteil ihres Geldes zu-
rückzuerhalten. Keine Frage, sie müssen entschädigt
werden. Nur, den Bund und damit den Steuerzahler in
Haftung zu nehmen, ist nicht nur falsch, sondern das
geht auch an der Sachproblematik vorbei.


(Beifall bei der SPD)


Die Sachproblematik besteht nämlich in folgenden
Fragen: Erstens. Was können wir tun, damit ein solcher
Worst Case, wie wir ihn bei Phoenix erlebt haben, nicht
wieder eintritt? Zweitens. Wie kann ein Sicherungssys-
tem entwickelt werden, das funktioniert? Drittens. Wie
können letztendlich die Anleger durch die EdW entschä-
digt werden? Wie wir alle wissen, belaufen sich die
möglichen Entschädigungszahlungen bzw. Forderungen
auf circa 180 Millionen Euro, während die EdW aus den
Beiträgen ihrer Mitglieder die vergleichsweise lächerli-
che Summe von 5 bis 10 Millionen Euro zur Verfügung
hat.

Die FDP sieht einen Ausweg aus diesem Dilemma in
einer einheitlichen Sicherungseinrichtung, die alle Spar-
kassen, Banken, Genossenschaftsbanken und Wertpa-
pierhandelsunternehmen erfasst. Ich lehne dies ab. Es
wäre nicht sachgerecht, Wertpapierunternehmen zu ge-
statten, auf der einen Seite Geschäfte mit Maximalrendi-
ten zu machen und sich auf der anderen Seite in das ge-
machte Nest der Einlagensicherungssysteme der Banken
zu setzen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Zudem würde bei einem einheitlichen Sicherungssys-
tem ein bürokratischer Apparat entstehen, der die Risi-
kokontrolle, das Management und den Informationsaus-
tausch viel zu komplex und undurchsichtig machen
würde. Aber ein Sicherungssystem, das sich nur auf die
Funktion einer Paybox im Sinne eines zahlungsbereiten
Dritten, der immer bereitsteht, konzentriert, ist schon aus
volkswirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll.

Des Weiteren würde die Chance, künftige Krisenla-
gen frühzeitig zu erkennen, aufgrund der Unübersicht-
lichkeit eines solchen Systems sinken. Der dabei entste-
hende Vertrauensverlust wäre in der Tat nachhaltig und
beträchtlich.

Als wichtigstes und vorrangiges Ziel zur Vermeidung
künftiger Schadensfälle bei der EdW sind daher präven-
tive Maßnahmen notwendig. Zu denken ist an eine Ver-
trauensschadenversicherung bzw. eine effiziente Risiko-
kontrolle. Auch müssten Sicherungseinrichtungen wie
die EdW Sanktionskompetenzen erhalten, wenn einzelne
Institute Risiken erkennen lassen bzw. ihrer Pflicht zur
Zahlung der Beiträge nicht oder nur vermindert nach-
kommen.

Ein weiteres wichtiges Kriterium ist eine Neubeurtei-
lung der Beitragsstruktur im Bereich der EdW. Die ein-
zelnen Wertpapier- und Vermögensverwaltungen müssen
verstärkt nach ihrer Größe und ihrem Risikoverhalten
Beiträge entrichten. Beiträge in Höhe von 300 Euro mi-
nimal sollten und müssen der Vergangenheit angehören.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es bleibt festzuhalten, dass es notwendig ist, ähnlich
gute Standards für eine Risikosteuerung und Risikokon-
trolle einzuführen, wie dies bei Banken und Sparkassen
bereits der Fall ist.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf
ein Argument der Mitgliedsunternehmen der EdW ein-
gehen, die der Ansicht sind, die aktuelle mitgliedschaft-
liche Zusammensetzung sei verfassungswidrig und nur
durch eine Zusammenlegung mit den Entschädigungs-
einrichtungen der Banken und Sparkassen könne man
diese Verfassungswidrigkeit beseitigen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaube ich auch nicht!)


Ich meine, eine solche Zusammenlegung wäre erst recht
verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn eines ist klar: Die Risiken, die bei der Einlagen-
sicherung und beim Institutsschutz einerseits sowie bei
der Anlegerentschädigung andererseits abgesichert wer-
den, sind völlig unterschiedlich.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU] – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Ulrich Krüger
– Danke. – Bei den Wertpapierhandelsunternehmen wer-
den Schadensfälle durch Kriminalitätsrisiken, wie wir
sie bei Phoenix erlebt haben, ausgelöst. Bei der Einla-
gen- und Institutssicherung geht es um realisierte Kredit-
risiken, die ein Institut bedrohen können.


(Zuruf der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Das kommt noch hinzu. – Insofern geht das Argument
der EdW-Mitglieder fehl.

Fakt ist: Nur durch eine funktionierende Prävention
können Insolvenzen durch Betrügereien zwar nicht im-
mer vermieden, aber hinsichtlich der Schadenssumme
nachhaltig beschränkt werden. Den Staat als Zahlmeister
außerhalb des gültigen Sicherungssystems in die Pflicht
zu nehmen und ihm den Schwarzen Peter aufzubrum-
men, ist zwar bequem, aber der falsche Weg.

Lassen Sie mich zum Schluss auf die Situation der
30 000 geprellten Anleger zu sprechen kommen, die
heute noch auf ihr Geld warten und, wie es aussieht, lei-
der noch weiter warten müssen. Es hat in der Vergangen-
heit konstruktive Überlegungen gegeben. Ich erinnere
nur an den Vorschlag, die erforderlichen Geldleistungen
durch einen Kredit der KfW abzusichern bzw. zu be-
schaffen. Dieser Vorschlag hätte meines Erachtens aller-
dings auch von der Bereitschaft der EdW-Mitglieder ge-
tragen werden müssen, sich freiwillig ihrer finanziellen
Verantwortung zu stellen.


(Beifall bei der SPD)


Dies alles ist bis heute nicht geschehen. Es liegt auch
noch kein rechtskräftiger Insolvenzplan vor. Der Gläubi-
gerausschuss hat ihn zwar am 18. April 2007 angenom-
men, aber Anleger haben dagegen Beschwerde einge-
legt. Das führte letztendlich dazu, dass die EdW Ende
des vergangenen Jahres Sonderbeiträge erhoben hat, ge-
gen die jetzt wiederum Wertpapierhandelsunternehmen
klagen. Ob diese Unternehmen mit ihrer Entscheidung
zu einer Staatshaftungsklage gut beraten waren, möchte
ich nicht beurteilen. Das werden die Gerichte entschei-
den. In einer Zeit – wie in der Welt vom 15. Januar dieses
Jahres zu lesen ist –, in der alle Seiten ganze Legionen
von Anwälten beschäftigen, um sich gegenseitig mit
Klagen zu überziehen, ist die Politik meines Erachtens
gut beraten, der Judikative den Vortritt zu lassen.

Natürlich hat dies leider zur Folge, dass Entschädi-
gungszahlungen nicht prompt und schnell erfolgen, son-
dern noch weiter auf sich warten lassen werden. Aber
dessen ungeachtet wird der Bund alle Handlungsmög-
lichkeiten zu prüfen – ich denke, da sind wir uns einig –
und das Gutachten, das demnächst vorliegt, zu analysie-
ren und zu bewerten haben. Auf dieser Grundlage sollten
wir hier bzw. im Finanzausschuss des Deutschen Bun-
destages zukunftsorientiert über ein qualifiziertes Siche-
rungssystem für Wertpapierhandelsunternehmen nach-
denken, sicherlich mit mehr Fakten versehen, als es
heute der Fall ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613919100

Das Wort hat Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1613919200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Seit wir Anfang letzten Jahres erstmalig im Finanz-
ausschuss über den Fall Phoenix gesprochen haben und
wir unseren Antrag hier vor einem halben Jahr zum ers-
ten Mal debattiert haben, haben Sie seitens der Bundes-
regierung keinerlei Fortschritte im Fall Phoenix erzielt.
Dabei ist der größte Anlegerbetrugsskandal in Deutsch-
land im Kern eine Bilanz des Versagens staatlicher Insti-
tutionen. Erst wurde ein schlechtes Gesetz gemacht,
dann hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-
sicht ihren eigenen Bescheid auf Trennung der Sammel-
konten bei Phoenix fünf Jahre lang nicht durchgesetzt,
und jetzt sind Sie nicht einmal bereit, daraus Konsequen-
zen zu ziehen. Dabei haben die BaFin und das Bundesfi-
nanzministerium unmittelbar Mitschuld. Nur durch das
Aufsichtsversagen der BaFin konnte das Schneeballsys-
tem so lange – bis zum Insolvenzfall von Phoenix –
unentdeckt bleiben. Jetzt ziehen Sie nicht einmal Konse-
quenzen, sondern Sie drücken den überwiegend mittel-
ständischen Finanzdienstleistungsunternehmen eine Last
von fast 200 Millionen Euro auf.

Sie haben in diesem Parlament zwei Jahre Zeit ge-
habt, sich um dieses Problem zu kümmern. Sie haben es
aber immer wieder verschoben. Sie haben ein Gutachten
in Auftrag gegeben, auf das wir jetzt schon mehrere Mo-
nate warten und das immer noch nicht fertig ist. Gleich-
zeitig haben Sie versprochen, eine Bürgschaft der KfW
bereitzustellen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat der Haushaltsausschuss abgelehnt!)


Auch dazu ist es nicht gekommen, weil sie im zuständi-
gen Haushaltsausschuss wegen der schlampigen Vorbe-
reitung des Bundesfinanzministeriums nicht bewilligt
wurde.

Fakt ist: Deutschland hat auf der einen Seite die Anle-
gerentschädigungsrichtlinie der EU europarechtswidrig
umgesetzt. Die Entschädigungseinrichtung für Wertpa-
pierhandelsunternehmen ist keine tragfähige Einrich-
tung. Gleichzeitig sind die rechtschaffenen mittelständi-
schen Finanzdienstleister in einen Topf mit dem grauen
Kapitalmarkt gesteckt worden. Nun sollen diese Unter-
nehmen die Zeche bezahlen. Das ist mit uns von der
FDP nicht zu machen.

Auf der anderen Seite funktioniert das bestehende
System nicht. Der Entschädigungsfall wurde 2005 fest-
gestellt, und die Anleger haben noch nichts von ihrem
Geld gesehen. Stattdessen hat eine Diskussion über die
Besteuerung von Scheingewinnen begonnen. So machen
Sie Politik. Sie wollen, dass sogar Steuern auf etwas ge-
zahlt werden sollen, was in Wirklichkeit nie existiert hat.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Unglaublich!)


Auch das ist mit uns nicht zu machen.






(A) (C)



(B) (D)


Frank Schäffler

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Beim besten Willen nicht!)


Die Bundesregierung hat auf Anfrage der FDP ange-
kündigt, dass sie in diesem Jahr 6 000 Anleger entschä-
digen will. Tatsächlich sind die Beitragsbescheide der
EdW um Weihnachten herum direkt vor den Gerichten
gelandet. Es gibt eine Vielzahl juristischer Einwände, die
die EdW nur schwerlich wird entkräften können. Das
aber bedeutet, dass die Anleger noch länger auf ihr Geld
warten müssen.

Wir haben in Deutschland keine funktionierende An-
legerentschädigung. Das wissen Sie. Deshalb schieben
Sie das Problem hinaus. Weder bekommen die Anleger
fristgerecht ihre Entschädigung, noch gibt es eine Ent-
schädigungseinrichtung, die zügig Rechtssicherheit für
die Finanzdienstleister schafft und sie mit ihren Beiträ-
gen nicht überfordert. Deshalb beantragen wir, die
bestehenden Anlegerentschädigungssysteme zusammen-
zulegen und nicht die Einlagensicherungssysteme zu-
sammenzulegen. Das sind zwei Paar Stiefel. Es gibt zwei
Richtlinien, die unterschiedliche Themen behandeln.
Hier geht es um den Wertpapierhandel. Es geht um Un-
ternehmen, die mit Wertpapieren handeln. Es geht nicht
um Einlagen oder ähnliche Dinge. Erst wenn wir die
Systeme zusammenlegen, setzen wir auch die Anleger-
entschädigungsrichtlinie korrekt um.

Wir werden Sie nicht aus Ihrer Verantwortung entlas-
sen. Sie beaufsichtigen durch das Bundesfinanzministe-
rium die staatliche Finanzaufsicht. Gerade das Versagen
der BaFin hat den Fall Phoenix erst ermöglicht. Sie ha-
ben aber mit Ihrer Parlamentsmehrheit eine Verantwor-
tung dafür, dass die deutschen Gesetze, in diesem Fall
das EAEG, den europäischen Vorgaben entsprechen.


(Beifall bei der FDP)


Dies ist derzeit nicht der Fall, da unser System erkennbar
nicht funktioniert.


(Ortwin Runde [SPD]: Na ja!)


– Ja, so ist es.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613919300

Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1613919400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Schäffler, Sie haben in einigen Bemerkun-
gen durchaus recht gehabt; da werde ich Sie gleich un-
terstützen.

Sie haben allerdings auch von einem schlechten Ge-
setz aus dem Jahre 1998 gesprochen. Sie wissen, dass
Sie als FDP damals natürlich wesentlich an diesem Ge-
setz beteiligt waren.

(Beifall bei der SPD – Frank Schäffler [FDP]: Wir haben daraus gelernt!)


Gerade weil dieses Gesetz viele Probleme aufgeworfen
hat, geht es für uns als Union um das Thema: Sorgfalt
vor Schnelligkeit. Deswegen ist Ihr Antrag heute meines
Erachtens fehl am Platz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Den Fall Phoenix diskutieren wir seit gut einem Jahr
in den Sitzungen des Finanzausschusses,


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon länger!)


obwohl Phoenix in der breiten Kapitallandschaft schon
seit zehn Jahren Thema ist. Wer Zeitschriften aus den
Jahren 1995 und 1996 heranzieht – Kapitalzeitschriften,
Testzeitschriften oder Kapitalinformationsdienste –, sieht,
dass Phoenix schon viele Jahre ein Thema gewesen ist,


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwölf Jahre mindestens!)


weil diese Gesellschaft schon früh den Ruf hatte, unso-
lide zu arbeiten und die Menschen abzuzocken.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Hört! Hört!)


Deswegen ist natürlich die Frage zu stellen, was wir
tun müssen, wenn wir eine neue Sicherungseinrichtung
schaffen. Dazu müssen wir auch die Informationen aus
der Vergangenheit haben.

Die Gesellschaft Phoenix hat Termingeschäfte und
Optionsgeschäfte gemacht. Das kann man ja noch ak-
zeptieren, aber sie hat es auf besondere Weise gemacht:
Sie hat betrogen. Sie hat die Anleger systematisch betro-
gen. In ihren Prospekten stand sogar, dass man wahr-
scheinlich das Kapital verlieren wird. Dennoch haben
wir eine Sicherungseinrichtung geschaffen, die auch bei
Betrug jedem Zocker das Geld zurückerstattet. Da muss
man fragen: Ist das der richtige Weg?


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


So haben sich auch beim Fall 2005, als der Skandal
aufgedeckt wurde, die Insolvenz von Phoenix bestätigt
wurde, viele Anleger keine Sorgen gemacht. Es ging um
30 000 Anleger, die im Durchschnitt 22 000 Euro ange-
legt hatten. Die Entschädigungseinrichtung sagte: Egal
was passiert, bis 90 Prozent der Einlage oder höchstens
20 000 Euro werden von uns finanziert. – Das gab natür-
lich manchen die Sicherheit, ruhig zu zocken, auf das
Versprechen zweistelliger Renditen zu vertrauen in dem
Wissen: Das Geld ist doch ohnehin gesichert.

Insgesamt konnten von den Kapitalien 200 Millionen
Euro gerettet werden. Dennoch fehlen 180 Millionen
Euro, die noch finanziert werden müssen. Der Kollege
Krüger hat darauf hingewiesen, dass sich die Beiträge
auf ungefähr 5 Millionen Euro belaufen. Das heißt, wir
haben einen Schaden von 180 Millionen Euro, aber nur
Beiträge von 5 Millionen Euro. Zumindest das 36-Fache
müsste jetzt finanziert werden.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus-Peter Flosbach
Nun gibt es Unternehmen, die Einzelkämpfer sind.
Die zahlen 300 Euro. Sie müssen jetzt das 6,6-Fache be-
zahlen. Aber es gibt auch Unternehmen, die 2,2 Prozent
vom Umsatz bezahlen müssen. Das mal 6,6! Sie müssen
also 15 Prozent vom Umsatz als Beitrag bezahlen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das geht doch gar nicht!)


Es geht um den Umsatz, nicht um den Gewinn. Viele
können das unmöglich finanzieren.


(Frank Schäffler [FDP]: Deshalb gehen die auch alle!)


Das Interessante ist eigentlich, dass in den letzten acht
Jahren schon 16 Fälle aufgetreten sind, die zu Schäden
in Höhe von 14 Millionen Euro geführt haben. Deswe-
gen ist für mich immer noch fraglich: Wie konnte so et-
was passieren? Hat die Kontrolle nicht funktioniert?


(Beifall bei der FDP)


Die Situation ist jetzt wie folgt: Es muss gezahlt wer-
den. Herangezogen werden die 733 Mitglieder, die der
EdW, der Entschädigungseinrichtung der Wertpapier-
handelsunternehmen, angeschlossen sind. Das betrifft
27 große Kapitalanlagegesellschaften und Tochtergesell-
schaften von großen Banken, aber zu 90 Prozent kleine
Finanzdienstleistungsinstitute.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)


Das Besondere an diesen Finanzdienstleistungsinsti-
tuten – das sind zumeist Vermögensverwalter – ist, dass
sie niemals die Möglichkeit hätten, Geld zu veruntreuen,
weil sie gar nicht an das Konto herankommen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau so!)


Sie haben nur ein Dispositionsrecht. Das heißt, sie kön-
nen nur entscheiden, welche Papiere gekauft oder ver-
kauft werden, und die Depotbank kann als einzige auf
das Konto zugreifen. Diese werden jetzt mit herangezo-
gen, obwohl sie niemals einen Schaden verursachen
können. Für unsere Fraktion kann ich nur sagen: Eine
Strafsteuer für diese Gruppe, möglicherweise in Höhe
von 15 Prozent des Umsatzes, ist für uns absolut nicht
hinnehmbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen, dass
man bezüglich aller 733 Bescheide, die drei Tage vor
Weihnachten mit den besten Weihnachtswünschen he-
rausgeschickt wurden, mit Widersprüchen rechnen kann.
Wir wissen, dass viele der größeren Einrichtungen ab-
wandern wollen und bereits Gesellschaften im Ausland
gegründet haben. Möglicherweise bleiben nur die klei-
nen hier. Dadurch entstünde ein Schaden, der nicht ein-
treten darf, den die Politik verhindern muss.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, laut Gesetz müssen
jetzt die Sonderbeiträge erhoben werden, aber es sind
meines Erachtens bis jetzt noch sehr viele Fragen nicht
geklärt. Deswegen sage ich auch in Richtung FDP: Wir
können hier nicht weiterdiskutieren, bevor wir nicht das
Gutachten des Bundesministeriums der Finanzen haben.


(Frank Schäffler [FDP]: Wann kommt das denn endlich?)


Wir werden natürlich dann, wenn das Gutachten da ist,
auch die Frage stellen: Welche Rolle hat das Bundesauf-
sichtsamt für den Wertpapierhandel, die heutige BaFin,
in den entsprechenden Jahren gespielt. Wir wissen, der
Betrug war nur möglich, weil alle Anleger auf ein Sam-
melkonto eingezahlt haben und Phoenix dadurch, dass es
frei über dieses Sammelkonto verfügen konnte, im
Grunde den Anlagebetrug durchführen konnte.

Bei einer ersten Prüfung 1999 ist bereits durch das
Bundesaufsichtsamt festgestellt worden, dass dieses
Sammelkontoverfahren nicht legal sei. Man hat sogar
gegen Phoenix geklagt. Erst im Jahre 2003 hat das Bun-
desverwaltungsgericht endgültig entschieden, dass es
nicht notwendig war, ein solches Sammelkonto einzu-
richten. Es ist aber nie ein Bescheid erlassen worden. Es
ist nie wieder überprüft worden, ob dieses Sammelkon-
toverfahren überhaupt noch rechtens war.


(Frank Schäffler [FDP]: In der Analyse sind wir uns einig! Aber was machen wir jetzt?)


Selbst Wirtschaftsprüfungsunternehmen, die das ge-
prüft haben, haben hier keinen Fehler festgestellt, da die
Kommunikation zwischen Aufsicht und Wirtschaftsprü-
fern nicht funktioniert hat.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Schlimm genug!)


Deshalb stellen wir auch die Frage, welche Pflichten De-
potbank, Geschäftsführer oder auch der Insolvenzver-
walter in den letzten Jahren verletzt haben.

Der Stand heute jedenfalls ist: Die Gläubiger klagen
gegen den Insolvenzplan, sodass selbst die
200 Millionen Euro nicht ausgezahlt werden können.
Wir rechnen hier mit weiteren Verfahren vor dem Bun-
desgerichtshof. Die Finanzinstitute klagen, dass das
EdW-System, also das Entschädigungssystem, verfas-
sungswidrig sei. Hinzu kommt inzwischen eine Staats-
haftungsklage wegen mangelnder Aufsicht und schlech-
ter Umsetzung der EU-Richtlinie.

Es sind noch viele Fragen offen. Ich weiß auf jeden
Fall, dass dieses Gesetz von 1998 den Anforderungen
nicht gerecht wird.

Nach Vorlage des Gutachtens werden wir also prüfen
müssen, ob nicht zunächst das vorhandene Guthaben
ausgeschüttet werden kann. An die Adresse der FDP
kann ich sagen: Eine Aufnahme des Anspruchsüber-
gangs bei Haftung Dritter in das Gesetz halten auch wir
für den richtigen Weg.


(Frank Schäffler [FDP]: Hätten wir längst machen können!)


Wir werden aber auch darüber sprechen müssen, wie
der Verbraucherschutz ausgestaltet werden soll. Hier
stellt sich die Frage: Wo beginnt die Eigenverantwortung
des Anlegers? Muss jede Zockerei durch den Staat abge-






(A) (C)



(B) (D)


Klaus-Peter Flosbach
sichert werden? – Meines Erachtens ist das nicht der
Fall.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden auch fragen müssen, welche Kontrollauf-
gaben die Aufsicht wahrnehmen kann, also was sie kann
und, vor allen Dingen, was sie nicht kann.

Meines Erachtens ist es weiterhin wichtig, dass wir
bei einer Novellierung die Vermögensverwalter aus dem
Entschädigungssystem herausnehmen. Für sie würde al-
lemal eine vernünftige Vermögensschadenhaftpflicht
bzw. Vertrauensschadenhaftpflicht genügen, um alle Si-
cherungsansprüche zu erfüllen.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Auf jeden Fall muss dieses Gesetz novelliert werden.
In Richtung FDP sage ich noch einmal: Wir sollten aber
aufpassen, dass wir nicht etwas kaputtmachen, was funk-
tioniert.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


Die Einlagen- und Institutssicherungssysteme der Ban-
ken, Sparkassen und Volksbanken funktionieren meines
Erachtens bisher bestens. Wir sollten also genauestens
prüfen, ob wir wirklich ein einheitliches System in
Deutschland benötigen oder ob wir damit nicht, wie der
Kollege Krüger sagte, unnötige Bürokratie aufbauen, die
Sie von der FDP ja normalerweise nicht befürworten.


(Frank Schäffler [FDP]: Hat die Mehrzahl der Länder in Europa!)


Zusammenfassend sage ich nur: Es geht in dieser
Frage nicht um weniges. Es geht hier um die Zukunft des
Finanzplatzes Deutschland. Es geht hier um die große
Gruppe der privaten Vermögensverwalter, die in unse-
rem Finanzmarkt eine hohe Bedeutung haben. Deswe-
gen sage ich: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir können Ih-
ren Antrag nicht unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613919500

Das Wort hat nun Kollege Axel Troost, Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613919600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der

FDP, Sie rufen nach dem Staat. Das lässt natürlich auf-
horchen; denn gewöhnlich tun Sie in Fragen der Wirt-
schafts- und Sozialpolitik das Gegenteil. Staatsinterven-
tionen sind für Sie sonst ohne Wenn und Aber eher ein
rotes Tuch. Daher stellt sich für uns die Frage: Ist der
Ruf nach dem Staat im Fall Phoenix eigentlich gerecht-
fertigt? Ich fürchte, dass davon auszugehen ist, dass in
diesem Fall der Ruf nach dem Staat – zumindest was
Ihre Intention angeht – eher fragwürdig ist.


(Beifall bei der LINKEN)

Erstens. Ist der Staat schuld, dass der Phoenix-Eigner
mit unlauterem Geschäftsgebaren Geld verzockt hat?
Nein!

Zweitens. Hat der Staat Schuld, dass die Anleger
Geld verloren haben? Ich meine, nein. Trotzdem rufen
Sie nach dem Staat.

Daher drängt sich unmittelbar die Frage auf: Für wen
eigentlich? Wem sollen diese Maßnahmen helfen? Den
vielen Tausend Kleinanlegern – die meisten davon übri-
gens aus Ostdeutschland –, die mit gutem Glauben Ihre
segensreichen Loblieder auf die hervorragenden Chan-
cen des freien Kapitalmarktes für bare Münze genom-
men haben und ihr Erspartes Betrügern gegeben haben?
Denen hätte man helfen können, wenn man sehr kurz-
fristig Liquiditätskredite zur Verfügung gestellt hätte,
damit sie entsprechend hätten entschädigt werden kön-
nen.

Ich glaube, der Antrag der FDP richtet sich vor allem
auf die Klientel Vermögensverwalter und Finanzdienst-
leister. Die wollen keinen Kredit, mit dem schnell Scha-
densersatz geleistet werden kann. Sie wollen überhaupt
nicht einstehen und verzögern deswegen, wo sie können.
Das werden wir nicht unterstützen.

Trotzdem ist nicht alles, was Sie fordern, in Bausch
und Bogen abzulehnen. Das Problem muss aus unserer
Sicht allerdings umfassender angegangen werden, als es
in Ihrem Antrag durchscheint. Phoenix könnte ein be-
dauerlicher Einzelfall sein, würden wir nicht regelmäßig
die Erfahrung machen, dass aufsichtsrechtliche und voll-
zugspraktische Schwierigkeiten – bisweilen sehenden
Auges – in Kauf genommen und ignoriert werden, um
den interessierten Lobbygruppen schnellstmöglich Voll-
zug melden zu können.

Wir müssen – daran kann aus unserer Sicht kein
Zweifel bestehen – die Aufsicht über diesen Bereich des
Finanzmarkts verbessern. Dazu muss die Aufsicht neu
organisiert werden und personell so ausgestattet sein,
dass die Stellen ihren Verpflichtungen auch wirklich
nachkommen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen – da stimmen wir mit Ihnen überein –
auch verschiedene Entschädigungsstellen besser organi-
sieren und neu einrichten. Wir müssen insgesamt ein
Aufsichtssystem schaffen, das ganz generell im Einklang
mit den entsprechenden EU-Richtlinien, insbesondere
mit der EU-Entschädigungsrichtlinie, steht. Das ist bis-
lang – das hat der Fall Phoenix gezeigt – nicht gegeben.

Hauptkonsequenz ist für uns aber: Unabhängig von
den Folgewirkungen wird die Linke auch in Zukunft kei-
nerlei Kapitalmarktpolitik unterstützen, bei der es den
Aufsichtsbehörden – sei es durch eine unzureichende
Gesetzeslage, sei es durch eine unzureichende Personal-
und Sachmittelausstattung – unmöglich gemacht wird,
ihre Aufgaben im Sinne des Verbraucherschutzes wirk-
lich zu erfüllen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613919700

Das Wort hat nun Christine Scheel, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613919800

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich

denke, es ist schon gut, dass wir heute wieder einmal
über das Thema diskutieren, welche Konsequenzen wir
aus dem Fall Phoenix zu ziehen haben und welche Hand-
lungsmöglichkeiten es für die Politik überhaupt gibt.
Was geschehen ist, ist in erster Linie eine Katastrophe
für die Anleger und Anlegerinnen. Das sage ich, obwohl
auch ich ein Stück weit die Meinung von Herrn Flosbach
vertrete: Nicht jeder, der zockt, und zwar extrem, muss
die Sicherheit haben, dass er sein Geld immer wieder zu-
rückbekommt. Irgendwo gibt es auch Grenzen; das ist
völlig klar.

Wir haben es mittlerweile mit der Situation zu tun,
dass Anwälte betrogener Anleger Schadensersatz von
der Bundesregierung fordern. Diese Anwälte weisen auf
das Kontrollversagen der Bundesfinanzaufsicht und auf
Fehler bei der Umsetzung der EG-Anlegerentschädi-
gungsrichtlinie hin.Ich finde, die Regierung hat die
Pflicht, deutlich zu machen, ob diese Vorwürfe ein Stück
weit berechtigt sind. Es ist auch ihre Aufgabe, Probleme,
die man in diesem Zusammenhang bereits erkannt hat,
sehr zügig zu lösen und für die Zukunft mehr Sicherheit
für Anlegerinnen und Anleger zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grünen wollen den Anlegerschutz insgesamt ver-
bessern. Aus diesem Grund sind wir dafür, dass alle ak-
tuellen Gesetzesvorlagen, die Gesetzesvorlagen, die in
Zukunft vorgelegt werden, sowie alle Anträge, die in
diesem Zusammenhang gemacht werden, unter dem As-
pekt abgeprüft werden, ob sie Sinn machen und im Inte-
resse der Anlegerinnen und Anleger sind.

Man muss sich klarmachen, dass über viele Jahre hin-
weg – das kann fast kein Mensch verstehen – über
30 000 Personen um ihr Erspartes betrogen worden sind.
Ich habe gehört, dass auch IKEA und andere große Un-
ternehmen zum Kreis der Geschädigten zählen. Da denkt
man, diese Unternehmen haben Finanzabteilungen, die
sich ein paar Gedanken machen, aber auch die sind da-
rauf reingefallen. Sie alle sind betrogen worden, streiten
immer noch vor Gericht und haben noch keinen Euro
Entschädigung gesehen.

Wenn man sich das bewusst macht, sieht man ein,
dass wir präventive Möglichkeiten zum Schutz brau-
chen, vor allem, was die Verbesserung der Aufsicht
anbelangt. Wir müssen uns auch überlegen, ob die ge-
genwärtige Regelung der Entschädigung der Wertpapier-
handelsunternehmen vernünftig und zielführend ist.

Im Fall Phoenix liegen die Entschädigungsansprüche
bei circa 180 Millionen Euro – die Zahlen wurden schon
genannt –, während die Einlagen nur circa 7 Millionen
Euro betragen. Die Angaben schwanken: Die einen sa-
gen, es sind zwischen 6 und 7 Millionen Euro, und die
anderen sagen, es sind zwischen 7 und 8 Millionen Euro.
Irgendwo dazwischen wird die richtige Zahl liegen.
Zu den zwei Forderungen, die die FDP in ihrem An-
trag gestellt hat, möchte ich gerne etwas sagen:

Erstens. Der automatische Übergang von Forderun-
gen der Geschädigten gegen Dritte kann etwas zur finan-
ziellen Stabilisierung einer reformierten Anlegerentschä-
digungseinrichtung beitragen. Ich denke, das ist so. Das
muss aber so geregelt sein, dass eine Abtretung kraft Ge-
setzes für die Anlegerinnen und Anleger keinen Nachteil
bedeuten kann. Das kann nämlich zum Nachteil gerei-
chen, wenn das nicht ordentlich gestaltet ist. Deswegen
bedarf eine Novellierung entsprechender Vorgaben. Wir
müssen uns in Richtung Insolvenzordnung Gedanken
machen. Das muss mit einer zügigen Entschädigungs-
leistung verbunden und an dieser Stelle in Einklang ge-
bracht werden. Das bedeutet, dass wir uns auf der einen
Seite aktiv für die Rechte der Anlegerinnen und Anleger
einsetzen müssen. Auf der anderen Seite müssen wir
aber auch die Leistungsfähigkeit der Finanzdienstleister
berücksichtigen.

Ihre zweite Forderung ist die Zusammenlegung der
bestehenden Sicherungssysteme. Mir geht es da wie den
Kollegen der Union und der SPD: Ich halte diese Zusam-
menlegung für nicht zielführend. Wenn selbst der Zen-
trale Kreditausschuss darauf hinweist, dass die EdW
kein ausreichendes Prüf- und Sanktionierungsinstrumen-
tarium an der Hand hat, zeigt das doch, dass im System
Probleme bestehen,


(Frank Schäffler [FDP]: Weil sie zu klein sind!)


die nicht dadurch gelöst werden, dass man das Ganze
größer macht. Dann ist zwar mehr Geld vorhanden. Das
eigentliche Problem, das in der Struktur liegt, wird aber
nicht gelöst. Deswegen müssen wir uns über die Struktur
unterhalten und fragen, wie man Krisenfälle frühzeitig
erkennen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sollten nicht noch anderes mit hineinnehmen, ob-
wohl wir genau wissen – der Kollege Krüger hat zu
Recht darauf hingewiesen –, dass das in den Bereichen
Management, Risikokontrolle und beim Zusammenfüh-
ren von Informationen in Krisenlagen dann noch eher zu
Problemen führen kann, weil diese Strukturen eine hohe
Komplexität haben und undurchsichtig sind. Ich glaube,
das führt uns insgesamt nicht weiter.

Interessant ist, dass in der Vergangenheit eigentlich
immer die Prüfungseinrichtungen der Sicherungsfonds
die Probleme aufgedeckt haben und nicht die Aufsicht,
die oben drüber steht. Auch das ist ein interessantes Phä-
nomen, das man sich genauer anschauen muss.

Auf jeden Fall ist die Entschädigung bei Phoenix ein
Beispiel für unklare Zuständigkeiten. Deswegen brau-
chen wir eine Reform. Wir müssen für die Zukunft auf-
gestellt sein. Es geht um den Finanzplatz Deutschland,
es geht um Sicherheit und um das Vertrauen der Anlege-
rinnen und Anleger.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613919900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Ti-
tel „Konsequenzen aus dem Entschädigungsfall Phoenix
Kapitaldienst GmbH“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7645, den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5786 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU,
SPD und der Linken gegen die Stimmen der FDP bei
Enthaltung der Grünen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Vierter Bericht über die Entwicklung der Pfle-
geversicherung
– Drucksache 16/7772 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Hilde
Mattheis, SPD-Fraktion, das Wort.


Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1613920000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Gesundheitsministerin hat hier schon in der letzten Wo-
che zum Vierten Bericht über die Entwicklung der Pfle-
geversicherung Stellung genommen. Ich möchte mich an
dieser Stelle dafür bedanken. Der Bericht enthält grund-
legende Informationen für die geplante und auf den par-
lamentarischen Weg gebrachte Reform der Pflegeversi-
cherung; dies hat sich nicht zuletzt in der elfstündigen
Anhörung zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz ge-
zeigt.

Prinzipiell bestätigt der Bericht, dass die Pflegeversi-
cherung ein wichtiger Baustein im System der sozialen
Sicherheit ist. Er listet auf, bei welchen gesetzgeberi-
schen Maßnahmen Aussagen des Dritten Berichtes von
2004 aufgegriffen und umgesetzt worden sind. Im Be-
richt wird anhand statistischer Erhebungen verdeutlicht:
Bei allen positiven Aspekten dieses Versicherungszwei-
ges brauchen wir Leistungsverbesserungen, eine Reform
der Strukturen und die Stabilisierung der Finanzen.

Die Solidarität mit Pflegebedürftigen und der Wunsch
nach Erhalt der Würde in dieser Lebensphase waren
wichtige Beweggründe für den Aufbau der Pflegeversi-
cherung. Die Versicherung sollte von Sozialhilfe unab-
hängig machen. Das ist gelungen, denn von 1994 bis
2000 sind die gesamten Bruttoausgaben der Träger der
Sozialhilfe für die Hilfe zur Pflege von 9,1 Milliarden
Euro auf 2,9 Milliarden Euro zurückgegangen. Die Pfle-
geversicherung hat also zu einer deutlichen Entlastung
der Träger der Sozialhilfe beigetragen und hat dafür ge-
sorgt, dass Pflegebedürftige nicht mehr Bittsteller sind.


(Beifall bei der SPD)


Allerdings ist in den letzten Jahren des Berichtszeit-
raums ein leichter Anstieg der Sozialhilfebedürftigkeit
zu verzeichnen. Ebenfalls ist die Zahl derjenigen ange-
stiegen, die ambulant oder stationär gepflegt werden,
und zwar um 2,2 Prozent bzw. 7,3 Prozent. Vor dem
Hintergrund dieser Entwicklung und unter Berücksichti-
gung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ ist erst-
mals seit 1995 eine deutliche Leistungsverbesserung ge-
plant. Der Ausbau der Infrastruktur soll beschleunigt
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber nicht finanziert!)


Die Leistungsansprüche in den Pflegestufen der am-
bulanten Pflege und in Pflegestufe III der stationären
Pflege sowie für Härtefälle werden erhöht. Außerdem
werden Menschen mit eingeschränkter Alltagskompe-
tenz einen Anspruch auf Betreuung in Höhe von bis zu
200 Euro erhalten.


(Beifall der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD])


Diese Pauschale wird zusätzlich zu den Leistungen für
die ambulante Pflege gezahlt. Sie wird benötigt, da das
Pflegegeld einen Anteil von 23,5 Prozent an den Leis-
tungsausgaben in der ambulanten Pflege ausmacht und
damit vor den Ausgaben für die Pflegesachleistungen
liegt, die mit 14,1 Prozent zu Buche schlagen. So kann
das Ziel einer deutlichen Entlastung der pflegenden An-
gehörigen erreicht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Anzahl der Pflegeeinrichtungen ist gestiegen.
11 000 ambulante Pflegedienste betreuen 472 000 Pflege-
bedürftige, und 9 400 Pflegeheime bieten 676 000 Men-
schen Heimat. Grundsätzlich ist zwar zu bemerken, dass
die Länder für den Aufbau der Pflegeinfrastruktur zu-
ständig sind, aber natürlich ist der Grundsatz „ambulant
vor stationär“ im SGB XI verankert und daher zu unter-
stützen.

Laut Bericht sind 40,3 Prozent der Menschen, die sich
für eine stationäre Pflege entscheiden, in Pflegestufe I,
40,2 Prozent sind in Pflegestufe II und 19,6 Prozent in
Pflegestufe III. Diese Zahlen verdeutlichen, dass der
Ausbau der Pflegeinfrastruktur vielen Menschen ermög-
lichen würde, weiter in ihrer Wohnung zu bleiben, die
zum jetzigen Zeitpunkt oftmals deshalb in eine statio-
näre Einrichtung gehen, weil sie die Alternativen nicht
kennen.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!)


Um eine bessere Beratung, Vernetzung und Koordi-
nierung zu erreichen, sollen gerade für Menschen, die
noch nicht eingestuft sind, als erste Anlaufstelle Pflege-
stützpunkte eingerichtet werden,


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Hilde Mattheis
die genau an der Schwäche dieses Systems ansetzen und
bei der Beantwortung einfacher W-Fragen helfen: Wo
muss ich hingehen, wenn ich die Wohnung an die neue
Situation anpassen muss? Wie beantrage ich eine Pflege-
stufe? Welche Hilfsdienste gibt es? Wer ist für welche
Unterstützung zuständig? – Das alles sind Fragen, für
deren Beantwortung die Menschen heute oft von Pontius
zu Pilatus laufen und vor denen sie eventuell kapitulie-
ren.

Wer am Montag und am Mittwoch bei den Anhörun-
gen zugehört hat, hat die breite Unterstützung für dieses
Vorhaben von Betroffenenverbänden und dem Verbrau-
cherschutz gehört.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht zugehört! – Heinz Lanfermann [FDP]: Wo sind Sie gewesen, Frau Kollegin? Lesen Sie die Zeitungen, dort steht genau das Gegenteil!)


– Ich war dort. Die Zeitung schreibt nicht unbedingt das,
was das Protokoll offenbaren wird. Gemach, liebe Kolle-
gen!


(Heinz Lanfermann [FDP]: Die Stützpunkte sind am Montag versenkt worden, Frau Kollegin!)


Ich bin mir sicher, dass Sie, wenn Sie das im Protokoll
nachlesen, Ihr Urteil revidieren werden.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Ich habe schon zugehört! Sie scheinen nicht dabei gewesen zu sein! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Wenn Sie, Herr Zylajew, auf die Internetseite des
Landkreises Siegen-Wittgenstein – der Landrat gehört
der Union an – gehen, dann werden Sie feststellen, dass
auch Kommunen mit einer schwarzen Regierung durch-
aus erkennen – auch der Kämmerer erkennt das –


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Kämmerer besonders!)


– ja –, dass Pflegestützpunkte im Prinzip dazu beitragen,
nicht nur den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu ver-
wirklichen, sondern ein Stück weit auch die Haushalte
zu schonen.


(Beifall bei der SPD)


Mit der Zahl der Pflegebedürftigen ist auch die Zahl
der in der Pflege Beschäftigten gestiegen. Im Bericht
wird offenbar, dass wir in diesem Bereich sehr viel tun
können und wollen, nicht zuletzt – Entschuldigung, die
Kollegen werden sich jetzt vielleicht wieder etwas
echauffieren – durch einen Mindestlohn für in der Pflege
Beschäftigte.


(Beifall bei der SPD)


Auch das ist ein Punkt, den wir weiter im Blick haben.

Es geht nicht zuletzt um die Finanzen. Auch da be-
ziehe ich mich auf die Anhörung. Nicht alle Sachver-
ständigen sind neutral; das wissen wir ja. Das betrifft vor
allen Dingen einen von der FDP benannten, der heute in
der Zeitung verkündet, dass die Beitragssätze vielleicht
auf bis zu 7 Prozent steigen. Dazu muss ich sagen: Diese
Auftragsarbeiten von Versicherungsunternehmen und
Banken tragen nicht unbedingt zur Seriosität bei.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was?)


Wir haben uns geeinigt, dass durch eine Erhöhung des
Beitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte die Pflegeversi-
cherung bis 2014, 2015 eine gesicherte Finanzierung hat.
Auch das wurde von Sachverständigen bestätigt.

Es ist kein Geheimnis und wird Sie nicht erstaunen,
dass unsere Idee einer Bürgerversicherung nach wie vor
ein Ziel für uns ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Genauso haben wir den Ausgleich der privaten Versiche-
rung an die soziale Pflegeversicherung weiter im Blick.
Dazu muss ich sagen, dass uns nicht zuletzt der Sachver-
ständige, der von der CDU/CSU benannt worden ist, un-
missverständlich gesagt hat, dass das durchaus möglich
ist und er sich nicht sicher ist, ob dieses Vorhaben ver-
fassungswidrig ist.


(Beifall bei der SPD)


In vielen Punkten des Vierten Berichts über die Entwick-
lung der Pflegeversicherung sehen wir Diskussionsbe-
darf; das ist klar.

Mein Fazit an dieser Stelle lautet: Mit dem Pflege-
Weiterentwicklungsgesetz leiten wir richtige und wich-
tige politische Schritte aus diesem Bericht ab. Wir haben
wichtige Punkte wie die Bürgerversicherung, den
Finanzausgleich, die bezahlte Freistellung und die Über-
arbeitung des Pflegebegriffs im Blick und wissen, dass
es dabei immer um die Lebensqualität der Menschen
geht, die es zu verbessern gilt.

Danke für das Zuhören.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613920100

Das Wort hat nun Heinz Lanfermann, FDP-Fraktion.


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1613920200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Natürlich beginnt jede Politik mit dem Erkennen der
Realität, Frau Kollegin Mattheis. Ich glaube, Sie hätten
in der Anhörung besser wach bleiben und zuhören sol-
len.


(Beifall bei der FDP – Hilde Mattheis [SPD]: Ach, Herr Lanfermann, was soll denn das? Das müssen Sie gerade sagen! – Mechthild Rawert [SPD]: Da lächelt ja sogar Ihr Kollege Bahr!)


Im Hinblick auf die im vorliegenden Bericht erwähnte
Frage der Pflegestützpunkte will ich nur den Sachver-
ständigen Professor Thüsing erwähnen, der sinngemäß
gesagt hat: Was gewünscht wird, geht nicht, und was ge-
hen würde, hilft nicht.






(A) (C)



(B) (D)


Heinz Lanfermann

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da hat er recht!)


Die Leistungsgewährung aus einer Hand, durch die
die von Ministerin Schmidt eindrucksvoll beschriebenen
Massenwanderungen von Pontius zu Pilatus beendet
werden sollten, kann es aus den verschiedensten prakti-
schen und rechtlichen Gründen gar nicht geben. So kann
der bei den Pflegekassen angestellte Berater zwar für
den Pflegebedürftigen einen individuellen Versorgungs-
plan aufstellen, der auch die Sozialleistungen enthält, die
ihm sinnvoll erscheinen. Die Sozialhilfeträger haben
aber in der Anhörung deutlich gemacht, dass die Pflege-
berater nicht für sie verbindlich Leistungen bewilligen
können; Frau Kollegin Mattheis, das haben doch wohl
auch Sie gehört. Die Kompetenz der Pflegeberater bleibt
vielmehr auf die Leistungen der Pflegeversicherung be-
schränkt.


(Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Deshalb sollen sie doch zusammenarbeiten!)


Auch bei der Bewilligung von Leistungen der Pflege-
versicherung und insbesondere der Krankenversicherung
gibt es einfache, aber wirkungsvolle Hürden. Stellen Sie
sich folgenden einfachen Fall vor: Ein Pflegebedürftiger
wird in einem Pflegestützpunkt von einem Berater der
Krankenkasse und damit wohl auch der Pflegekasse A
beraten, ist selbst aber bei der Krankenkasse B versi-
chert. Mit der Beratung und vor allen Dingen mit der
Leistungsbewilligung könnte die Kasse A Einfluss auf
die Ausgaben der Kasse B nehmen. Das wollen die aber
nicht, und das werden sie auch nicht akzeptieren. Es ist
gar nicht möglich, zu garantieren, dass die Bearbeitung
durch einen Mitarbeiter der jeweils zuständigen Kasse
erfolgt.

Schon an diesem einfachen Beispiel wird deutlich,
was das wahre Ziel dieser Aktion ist. Funktionieren kann
der Schmidt’sche Vorschlag der Pflegestützpunkte am
Ende nämlich nur im Rahmen der von ihr angestrebten
Einheitskasse.


(Beifall bei der FDP)


Ich sage Ihnen: Es werden sogar Schwierigkeiten provo-
ziert, damit man später sagen kann: Seht mal, es würde
ja gehen. Wir könnten diese Probleme überwinden,
wenn wir nur eine Einheitskasse hätten.

Mit dem Aufbau von bis zu 4 100 Stützpunkten im
gesamten Bundesgebiet, dessen Kosten in dreistelliger
Millionenhöhe den Großteil der durch die Beitrags-
satzerhöhungen erzielten Mehreinnahmen verschlingen
werden, werden vielerorts Doppelstrukturen geschaffen.
Das haben uns diejenigen berichtet, die landauf, landab
viele Beratungen durchführen. Dass Sie die Pflegestütz-
punkte im vorliegenden Bericht unter „Maßnahmen zur
Entbürokratisierung“ aufführen, ist eine reine Realsatire.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ja! Das ist wahr! Aber eine schlechte!)


Meine Damen und Herren, wenn ein Stützpunkt er-
richtet wird – auch das haben uns die Sachverständigen
bestätigt –, werden viele vor Ort bereits existierende Be-
ratungs- und Koordinierungsangebote die Segel strei-
chen müssen. Damit wird der Pflegeberater zu einem
Beratungsmonopolisten, der mit der Entscheidung, bei
welchem Anbieter der Versorgungsplan umgesetzt wird,
natürlich auch Einfluss auf die Marktchancen der vor Ort
vorhandenen Leistungsanbieter nehmen kann. Über die
Pflegekassen gelingt so der Einstieg in die planwirt-
schaftliche Staatspflege.

Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf, der wirklich be-
merkenswert ist, ansieht, ist all dies ziemlich durch-
schaubar. Mit keinem Wort wird die Ausgangslage, wel-
che Beratungsangebote es eigentlich gibt, dargestellt. Es
wird eine Problemlösung angeboten, ohne dass das Pro-
blem auch nur im Geringsten beschrieben wird. Es wer-
den keinerlei Zuschreibungen von Kompetenzen aufge-
führt. Die Frage, wer in welchem Fall über wessen
Gelder verfügen soll, bleibt weitestgehend offen.


(Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Deshalb hätten Sie den Pflegebericht, über den wir heute Abend beraten, lesen sollen!)


Welche Größe diese Stützpunkte haben sollen, welche
Kosten dort entstehen, wer das – abgesehen von der An-
schubfinanzierung, die nicht viel bringt – bezahlen soll,
all das bleibt offen.

Leistungen aus einer Hand wurden versprochen.
Kaum ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Betreuung der Arbeitslosen in den Argen ergangen, wird
zurückgerudert und erklärt, es solle lediglich beraten und
koordiniert werden. Wenn aber nur beraten und koordi-
niert wird, kann man nichts entscheiden. Wenn derje-
nige, der eigentlich entscheiden soll, nur unterschreiben
darf, was ein anderer aufschreibt, ist seine Kompetenz
ausgehöhlt; auch das funktioniert nicht.

Die Ministerin schwankt von einer Aussage zur ande-
ren. Sie hat hier kürzlich sogar behauptet, nicht die ein-
zelnen Pflegekassen würden die Berater bezahlen, diese
würden vielmehr aus einem Topf bezahlt, gewisserma-
ßen aus einem, um dieses schöne Wort anzubringen,
Pflegekassenberaterfonds oder Ähnlichem – auch so et-
was werden Sie sich noch einfallen lassen!


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da ist er wieder, der Fonds!)


Sie werden dann noch darüber streiten müssen, wer von
Ihnen, meine Damen, zur Pflegestützpunktbeauftragten
ernannt wird, am besten im Range einer Parlamentari-
schen Staatssekretärin.


(Lachen bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen mit diesem Ge-
setzentwurf!

Danke schön.


(Beifall bei der FDP – Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Zum Pflegebericht hat er überhaupt nichts gesagt!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613920300

Nun hat Kollege Willi Zylajew, CDU/CSU-Fraktion,

das Wort.


(Mechthild Rawert [SPD]: Nun sagen Sie ein bisschen mehr, als Herr Lanfermann geboten hat! – Gegenruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Das wird jetzt noch schlimmer! Warten Sie es ab! – Heiterkeit)



Willi Zylajew (CDU):
Rede ID: ID1613920400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will

mich an der Tagesordnung orientieren und zum Vierten
Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung
Stellung nehmen. Ich halte fest, dass dieser Bericht deut-
lich macht: Die Blüm’sche Pflegeversicherung hat sich
bewährt, sie ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Was die Herren Blüm und Dreßler und kluge Liberale
1994/95 auf den Weg gebracht haben, war gut, ist gut
und – ich sage dies mit Blick auf die Reform – bleibt gut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Pflege ist sicher!)


1995 haben die Menschen praktisch von einem Tag auf
den anderen in Diensten und Einrichtungen eine verläss-
liche, eine kalkulierbare, eine auskömmliche Leistung
und Hilfe bekommen. Dies hat sich bewährt.

Dies ist auch heute noch so; der Bericht belegt das.
Durch diese Beständigkeit sind im gesamten Bundesge-
biet neue Einrichtungen und Dienste entstanden. Die
Pflegeinfrastruktur, die wir in der Bundesrepublik
Deutschland haben, ist vorzüglich. Der Bericht macht
deutlich, wie gut sich die Angebote entwickelt haben:
Von 2001 bis 2005 ist die Zahl der stationären Einrich-
tungen um 15 Prozent gestiegen. In diesem Zeitraum ist
die Zahl der Versorgten um 12 Prozent gewachsen, die
Zahl der Beschäftigten um 14,9 Prozent. Ich will darauf
hinweisen, dass dies viel über die Qualität der Pflege
aussagt.

Nicht anders das Bild im ambulanten Bereich: Von
2001 bis 2005 ist die Zahl der in Einrichtungen Betreu-
ten um 8,5 Prozent gestiegen, die Zahl der Beschäftigten
um 13,1 Prozent. Entscheidend ist für uns, dass laut Be-
richt die Zahl der examinierten Kräfte um 50,4 Prozent
angestiegen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Zahlen machen die Qualität der Pflegeversiche-
rung deutlich. Ich will eine weitere Zahl nennen:
300 000 Mitarbeiter mehr als 1995 sind heute in der
Pflege beschäftigt. Das ist gut und richtig, und davon
profitieren die Menschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE LINKE])

Frau Ausschussvorsitzende, trotz dieser guten Zahlen
müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es Reformbedarf
gibt. Dieser Reformbedarf ergibt sich schon daraus, dass
der Anteil der älteren Generation an der Gesamtbevölke-
rung steigt.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Seit Jahren gibt es Reformbedarf!)


– Wir haben in der Tat seit einigen Jahren Reformbedarf,
Kollege Bahr. Dazu werde ich nachher noch etwas sa-
gen.

Trotz der wirtschaftlichen Schwäche von 1999 bis
2005 wurden die Menschen – dies müssen wir zur
Kenntnis nehmen – gut versorgt. Die Blüm’sche Pflege-
versicherung hat trotz der pflegepolitischen Nullrunden
in den Jahren der Regierung von Schröder, Lafontaine,
Clement und Fischer eine beständige und verlässliche
Versorgung der Menschen ermöglicht. Die Qualität der
Pflege in Deutschland ist gut. Ich will daran erinnern,
dass es vorher so war, dass es in finanzstarken Gebiets-
körperschaften gute Leistungen gab, in finanzschwachen
weniger gute oder überhaupt keine. Heute ist dies an-
ders. Wir haben eine positive Gesamtentwicklung.

Aus den über 150 Seiten des Berichts wird allerdings
deutlich, dass die Bearbeitung der Anträge auf Einstu-
fung in die Pflege sowohl bei den Versicherungen als
auch bei den medizinischen Diensten zu lange dauert.
30,4 Prozent der Anträge werden in vier Wochen erle-
digt. Für den Rest brauchen sie bis zu acht Wochen und
länger. Dies ist nicht hinnehmbar und aus unserer Sicht
unmenschlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Margrit Spielmann [SPD])


Im stationären Bereich werden 43,1 Prozent der An-
träge erst nach acht Wochen und länger beschieden. Wir
halten das für unmöglich; denn hieraus resultiert im End-
effekt doch die schlechte Versorgung, die die MDKs auf
der anderen Seiten kritisieren.


(Dr. Margrit Spielmann [SPD]: So ist es!)


Ich denke: Die Krankenkassen und die MDKs zahlen die
Gehälter pünktlich aus, dann sollen sie bitte auch die Be-
scheide pünktlich herausgeben und die Leistungen
pünktlich zahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir werden dies im Rahmen der Reform ganz eindeu-
tig ändern und eine Zeit festschreiben. Die Menschen
sollen wissen, dass sie einen Anspruch auf einen Be-
scheid in einer angemessenen Zeit haben. Damit leisten
wir einen Beitrag zur Qualitätssteigerung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Optimierungsbedarf gibt es eindeutig auch bei der
Reha. Es ist leicht, „Reha vor Pflege“ zu sagen, aber
dann müssen die Krankenkassen und die MDKs die
Reha-Maßnahmen auch anordnen und sich sofort nach






(A) (C)



(B) (D)


Willi Zylajew
einem gesundheitlichen Einbruch für eine Behandlung
positionieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch hier werden wir einiges tun. „Reha vor Pflege“ ist
unser Ziel. Damit werden wir uns durchsetzen.

Ich sage Ihnen ganz eindeutig, dass es natürlich auch
Überlegungen gibt, über die wir in der Koalition noch
lange diskutieren müssen. Kollegin Mattheis, ich habe
zur Kenntnis genommen, was bei der Propagandaveran-
staltung im Ministerium am letzten Freitag geschehen
ist. Ich glaube, Sie verwechseln das Ergebnis dieser Ver-
anstaltung mit dem Ergebnis der Veranstaltung am Mon-
tag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Wir können Montag und Freitag auseinanderhalten! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Frau Mattheis ist noch in der letzten Woche!)


Wäre mein ältester Enkelsohn Jakob am Montag dabei
gewesen, dann würde er sagen: Opa, Schiffchen ver-
senkt. – Das gilt für die Stützpunkte und Fallmanager
ganz eindeutig.


(Mechthild Rawert [SPD]: Na ja, nicht zu große Worte!)


Es gibt nun niemanden mehr, der dafür ist. Von der
AOK über die IKK, die BEK und alle Kassen, die vertre-
ten waren, bis hin zu den kommunalen Spitzenverbän-
den: Alle haben bescheinigt, dass wir die Stützpunkte in
dieser Form nicht benötigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Warum werden in dem Bericht denn dann die Pflegestützpunkte begrüßt?)


– Ich habe das Lesen in der Schule gelernt. Der Bericht
enthält Informationen über eine Situation von 2001 bis
2005, die wir zu bewerten haben. In dieser Zeit gab es
keine Stützpunkte in der vom Ministerium gewünschten
Form.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber das geplante Vorhaben wird ja begrüßt!)


Insofern gehört das in die Abteilung Poesie.


(Heiterkeit des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ CSU])


Man muss einfach zugestehen, dass so etwas auch ein-
mal in einen Bericht hineinkommt. Wir müssen damit le-
ben und werden das auch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hilde Mattheis [SPD]: Das war jetzt nicht fair!)


Wir muten den Beitragszahlern eine Steigerung der
Beitragslast um 2,5 Milliarden Euro zu. Für uns als
CDU/CSU-Fraktion ist eines wichtig: Wir wollen, dass
diese 2,5 Milliarden Euro komplett, also ohne jeden Ab-
zug, am Pflegebett, im Pflegebad, in der Wohnung und
bei der ambulanten Versorgung ankommen. Das ist un-
ser Ziel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Wir wollen noch geeignete Strukturen dazu!)


Wir wollen keine neuen bürokratischen Strukturen
schaffen. In der Pflegeversicherung haben wir eh zu
viele bürokratische Vorgaben. Wir werden dort so viel,
wie uns möglich ist, ausdünnen.

Wir sind sicher, dass es unsere Aufgabe ist – Kollegin
Mattheis, hier sind wir doch einer Meinung –, etwas für
die Pflegebedürftigen zu tun und keine neuen behördli-
chen Pflegestrukturen zu schaffen. Ich denke, wir alle
werden ein Stück weit an diesem Ziel arbeiten, sodass
wir zu einem guten Ergebnis kommen. Der nächste Pfle-
gebericht wird deutlich machen, dass das, was Herr
Blüm 1995 begonnen hat, von Wolfgang Zöller und An-
nette Widmann-Mauz in diesem Jahr fortgesetzt wurde.
Darauf können wir alle dann gemeinsam stolz sein.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613920500

Das Wort hat nun Kollege Ilja Seifert, Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613920600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da-

men und Herren auf der Tribüne! Die Ministerin sprach
am Mittwoch vergangener Woche über den Pflege-
bericht und berichtete aus dem Kabinett. In dieser Wo-
che hatten wir zwei Tage Anhörung zur Pflegeversiche-
rung. Jetzt gibt es noch diese Debatte im Bundestag.
Man könnte fast meinen, dass wir über etwas Wichtiges
reden.


(Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Das machen wir doch auch!)


Wichtig ist die Pflege. Aber die vorliegenden Papiere
sind alles andere als wichtig. Sie sind so dünn, liebe Kol-
legin Spielmann, dass es kein Wunder ist, dass wir erst
zu dieser späten Stunde darüber reden, wenn kein
Mensch mehr diese Debatte am Fernseher verfolgen
kann, weil sie gar nicht übertragen wird.

Welche Fakten gibt es denn? Uns liegt ein schöner
Bericht vor, in dem zum Beispiel steht,


(Willi Zylajew [CDU/CSU]: In der Abteilung Poesie!)


angesichts der steigenden Beschäftigtenzahlen sei
grundsätzlich festzustellen, dass derzeit kein genereller
Fachkräftemangel in der Altenpflege bestehe. Wo leben
Sie denn? Haben Sie sich einmal das richtige Leben an-
geschaut? Da fehlen die Fachkräfte hinten und vorne,
rechts und links und oben und unten. Dass die Zahl der
Beschäftigten im Pflegebereich insgesamt steigt, liegt
daran, dass es viel mehr Betriebe mit mehr Beschäftigten






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
gibt, die zum Beispiel als Hausmeister tätig sind, die
aber nicht am Pflegebett oder an der Badewanne stehen,
lieber Kollege Zylajew.


(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Bei allem Respekt, Herr Kollege, das stimmt nicht!)


Noch etwas. Sie wollen, dass jeder Euro am Pflege-
bett und an der Badewanne ankommt. Ich hingegen will,
dass jeder Euro bei den Menschen ankommt. Das Bett
hat nichts vom Geld.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist ein ganz entscheidender Unterschied, ob ich von
den Menschen her denke oder von den Betten. Das är-
gert mich an Ihrer Argumentation jedes Mal. Sie denken
von den Strukturen und vom Geld her, nicht aber von
den Menschen her.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist doch an den Haaren herbeigezogen und dann gespalten!)


– Ich lese doch Ihre Papiere und höre Ihre Reden. Spra-
che ist verführerisch und auch verräterisch.

Zurück zum vorliegenden Pflegebericht. Wer die
Pflegesituation wirklich verbessern will, muss mehr
Menschen dazu bringen, Arbeit in der Pflege zu leisten.
Wenn man das erreichen will, muss man diese Arbeit
aufwerten, und zwar sowohl moralisch als auch finan-
ziell.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Man kann diese physisch und psychisch schwere Arbeit
nicht nebenbei leisten. Man muss die Menschen, die
diese Arbeit leisten, ordentlich bezahlen – das ist zurzeit
nicht der Fall – und ihnen Aufstiegschancen und die Per-
spektive geben, eine Auszeit zumindest in Form einer
Supervision zu nehmen. Das alles ist stark unterentwi-
ckelt. Wenn zunehmend weniger Menschen an den Um-
schulungen der Bundesagentur für Arbeit teilnehmen,
um sich für eine Tätigkeit im Pflegebereich ausbilden zu
lassen, wird der Fachkräftemangel bald so groß sein,
dass sich die Zahl gravierender Pflegefehler weiter erhö-
hen wird. Es kann doch nicht sein, dass Dekubitus und
andere Dinge massenhaft um sich greifen.

Komischerweise – das ist der letzte Punkt, den ich
hier ansprechen kann – ist in Ihrem Bericht davon die
Rede, dass 10 Prozent schlecht versorgt werden. Wieso
spricht der MDS von 30 Prozent und mehr? Lassen Sie
uns zumindest die Fakten einmal genau ansehen. Selbst
in Ihrem Bericht lese ich, dass zu den Pflegeproblemen
freiheitseinschränkende Maßnahmen – die Leute werden
ans Bett gefesselt – gehören, dass die Inkontinenzversor-
gung nicht in Ordnung ist, dass die Leute also nicht zur
Toilette gebracht werden. Wenn diese Dinge immer noch
nicht abgestellt sind, dann braucht niemand von einem
tollen Bericht und einer tollen Pflegeversicherung zu
sprechen. Wir haben ein großes Problem, und das muss
endlich gelöst werden.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613920700

Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! In dem zur Debatte stehenden Vierten Bericht zur
Entwicklung der Pflegeversicherung ist unter anderem
ein Kapitel zur Pflegereform enthalten. Deshalb nehme
ich mir heute in meiner relativ kurzen Redezeit die Frei-
heit, diese Reform anzusprechen.

Gestern ist die öffentliche Anhörung zum Pflege-Wei-
terentwicklungsgesetz zu Ende gegangen. Ich muss sa-
gen, ich war offensichtlich auf der gleichen Veranstal-
tung wie Frau Kollegin Mattheis.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann waren Sie beide auf der falschen!)


Von „Treffer, versenkt“, lieber Willi Zylajew, kann also
wirklich keine Rede sein. Wir befinden uns mit unseren
Schiffchen hier wohl eher im Auge des Pflegetaifuns.

Offen gesagt: Die Anhörung war alles andere als ein
Erfolg für diese Koalition.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann waren Sie doch auf der gleichen Veranstaltung wie wir! – Gegenruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]: Na, sehen Sie mal!)


Thema nachhaltige und gerechte Finanzierung: Die
Finanzierungsmaßnahmen der Pflegeversicherung rei-
chen gerade einmal in die nächste Wahlperiode hinein.
Das wurde von allen Experten und Verbänden bestätigt.
Mit sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit hat das
nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das sagte auch Herr Raffelhüschen! – Hilde Mattheis [SPD]: Sie haben die Aussagen ganz schön entstellt!)


Thema Pflegestützpunkte: Ich sage Ihnen ganz klar:
Wir Grünen werden nicht in den Kanon derer einstim-
men, die hier freudig das Lied vom Ende der Pflege-
stützpunkte singen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613920800

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zyla-

jew?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr gern.


Willi Zylajew (CDU):
Rede ID: ID1613920900

Frau Kollegin Scharfenberg, wären Sie bereit, zur

Kenntnis zu nehmen, dass der Berichtszeitraum 2001 bis
2005 genau Ihre Regierungszeit abdeckt?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist richtig. Aber wir befinden uns im Moment in
der Reformphase. Da müssen wir nach vorn schauen und
Dinge, die zu verbessern sind, verbessern.


(Lachen bei der CDU/CSU – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Man muss aber auch gucken, wo man herkommt!)


Das ist der Sinn der Reform. Davor die Augen zu ver-
schließen, nützt nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613921000

Kollege Zylajew möchte noch einmal nachfragen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke Ihnen, dass Sie meine Redezeit so verlän-
gern.


Willi Zylajew (CDU):
Rede ID: ID1613921100

Frau Kollegin Scharfenberg, sind Sie mit mir glück-

lich darüber, dass die Regierung, die die aus Ihrer Sicht
unguten Entwicklungen 2001 bis 2005 zu verantworten
hat, bei dieser Reform nicht mehr mitgestalten kann?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann man mit einem einfachen Ja beantworten!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, darüber bin ich nicht glücklich. Ich denke, die
damalige Koalition würde, wäre sie noch heute an der
Regierung, zu einem leichteren und letztendlich für alle
Betroffenen, für alle Nutzerinnen und Nutzer besseren
System finden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben wir die letzten vier Jahre auch immer gehört!)


Zurück zum Thema Pflegestützpunkte. Wir fallen
also nicht in den Chor der Unkenrufe ein, die von der
rechten Seite des Plenarsaals kommen. Wir Grünen ha-
ben schon, als der erste Entwurf des Reformgesetzes
kursierte und Pflegestützpunkte erwähnt wurden, gesagt,
dass wir diesen Ansatz richtig finden.


(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Dazu stehen wir; das finden wir auch weiterhin. Der An-
satz ist richtig; aber die Ausgestaltung und die Aufgaben
der Stützpunkte und Pflegeberater sind es, die dringend
überarbeitet werden müssen. Die Stützpunkte und die
Pflegeberater müssen unabhängig und neutral sein.


(Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Im bisherigen Konzept sind sie es – das müssen wir ganz
klar sagen – definitiv nicht. Das kann die Ministerin so
oft behaupten, wie sie möchte; sie schafft es nicht, sie
neutral zu reden.
Selbst die Ärzte-Zeitung – bei der wir es nicht unbe-
dingt mit einem linksliberalen Blatt zu tun haben – vom
gestrigen Mittwoch stellt fest – ich zitiere –:

Angesichts der unterschiedlichen Interessen der
Akteure im Milliardenmarkt Pflege und der Ten-
denz von Politikern, die steigenden Sozialausgaben
zunehmend restriktiv zu steuern, kann die Lösung
nur heißen: Ja zu den Stützpunkten, aber nur mit
unabhängigen Patientenanwälten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch Pflegebedürftige verdienen Fairness – diese
beginnt mit einer unabhängigen Beratung.

Der Aufbau der Stützpunkte darf nicht nur auf das
Feld der Beratung beschränkt werden. Beratung ist ein
wichtiger, aber nur kleiner und kurzfristig wirkender Teil
dessen, was die Betroffenen letztendlich brauchen. Sie
brauchen darüber hinaus langfristig wirksame, individu-
elle Hilfen und Begleitung. Sie brauchen ein wirkliches
Fallmanagement, das in ihrem Interesse handelt. Aber
das braucht Unabhängigkeit, Vernetzung und Koordina-
tion. Diese Bedingungen erfüllen die Stützpunkte und
Berater bisher nicht. Das ist in der Anhörung mehr als
deutlich geworden.

Nun ein Wort zu den Kollegen der Union.


(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Und Kolleginnen!)


Ihr absurdes Modell der Beratungsgutscheine erfüllt das
im Übrigen alles nicht und bringt somit keinen Fort-
schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die wohl wichtigste Aufgabenstellung, die sich aus der
Anhörung für uns ergibt, ist es, die Situation der Pflege-
bedürftigen und ihrer Angehörigen zu verbessern. Dazu
müssen wir uns die Frage stellen, was diese Menschen
– also auch wir, unsere Kinder, unsere Eltern oder unsere
Schwiegereltern – brauchen und wie wir ihnen und uns
zu mehr Selbstbestimmung verhelfen können – und
nicht, was parteipolitisch gerade am besten in den Kram
passt.

Wir befassen uns hier nicht mit Theorie, sondern mit
der Lebensrealität, einer Lebensrealität, die viele Men-
schen in diesem Land, im Übrigen auch uns selbst, be-
trifft.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613921200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7772 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Arbeit familienfreundlich gestalten – Verein-
barkeit von Familie und Beruf für Mütter und
Väter lebbar machen

– Drucksache 16/7482 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jörn Wunderlich das Wort für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613921300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Familienfreundliche Arbeitswelt – das klingt
toll. Darüber wird in letzter Zeit viel gesprochen. Die
Arbeitswelt tatsächlich familienfreundlich umzugestal-
ten, ist eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben im Rah-
men der Familienpolitik. Der Wandel der Familienfor-
men, der Wandel der gesellschaftlichen Rolle von
Frauen und Männern und der Wandel der Arbeit selbst
machen ein Umdenken nötig. Das darf nicht vom Entge-
genkommen einzelner Betriebe abhängig gemacht wer-
den.


(Ina Lenke [FDP]: Wir haben doch Schutzgesetze!)


– Hören Sie mir doch einmal zu, Frau Lenke!


(Ina Lenke [FDP]: Ich kenne doch Ihren Antrag!)


Es gibt Betriebe, die familienfreundlich sind. Das
muss man unumwunden anerkennen. In meinem Nach-
barort befindet sich auch einer. Das ist ganz toll. Aber
nur 78 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Betrieben
mit Betriebsrat, und nur 8 Prozent dieser Betriebe verfü-
gen über eine Vereinbarung, die Familie und Beruf be-
trifft. Diese Zahlen stehen in einer Informationsschrift
des Bundesministeriums.

In unserem Antrag sind drei wesentliche Forderungen
enthalten: Kündigungsschutz für Eltern ausweiten, Be-
rufsrückkehr fördern und Gestaltung der Arbeitszeit er-
möglichen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum ersten Punkt. Es ist völlig klar, dass Vereinbar-
keit von Familie und Beruf nur möglich ist, wenn eine
qualitativ hochwertige und eine für Eltern möglichst bei-
tragsfreie Ganztagsbetreuung zur Verfügung steht. Die
Initiativen hinsichtlich des Krippenausbaus sind zu be-
grüßen. Aber sie gehen nicht weit genug. Zum Krippen-
ausbau muss auch das Elterngeld hinzukommen. Aber
auch das reicht noch nicht. Es ist nur konsequent, wenn
wir den Kündigungsschutz und gemäß unserem Antrag
auch die Elternzeit ausweiten, die man zumindest bis zur
Einschulung gesplittet nehmen können sollte. Dann ist
es natürlich nur logisch, einen entsprechenden Kündi-
gungsschutz einzufordern, wie es ihn bei der gegenwär-
tigen Elternzeitregelung gibt.

Für Gewerkschaften und Betriebsräte liegt in dem
Thema auch die Chance, eine Stärkung der Arbeitneh-
merrechte zu erreichen; denn wir brauchen eine Stär-
kung tariflicher, sozialer und arbeitsrechtlicher Stan-
dards.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist auch Aufgabe des Gesetzgebers, diese Gestal-
tungsmöglichkeiten zu erweitern und kollektive Lösun-
gen zu stärken. Allein ein Appell reicht da nicht aus.


(Ina Lenke [FDP]: Es geht auch so! Sie diskriminieren den Mittelstand!)


Mein Gott, was haben wir schon alles für Appelle ge-
habt. Dann heißt es immer: Toll, die Appelle waren er-
folgreich. – Es funktioniert aber nicht. Es geht nämlich
nicht überall so. Das Betriebsverfassungsgesetz ruft Be-
triebsräte ausdrücklich dazu auf, die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf zu fördern, doch nur circa ein Drittel
der Betriebsräte befasst sich mit familienfreundlichen
Maßnahmen. Das ist das Ergebnis der Appelle.

Zweiter Punkt: Berufsrückkehr fördern. Für Familien
mit Kindern und vor allem für Alleinerziehende ist der
Alltag ein schwieriger Balanceakt. Viele kapitulieren
dann vor der letztlich doch noch vorherrschenden Fami-
lienunfreundlichkeit in der Arbeitswelt und verlieren
dann auch manchmal ihren Arbeitsplatz. Vor allen Din-
gen junge Mütter müssen mit dem Risiko leben, dass ih-
nen nach der Elternzeit der Wiedereinstieg in den Beruf
entweder erschwert oder verwehrt wird und dass sie mit
angeblich familienfreundlichen Minijobs – das ist ein
beliebtes Spiel – abgespeist werden. Deswegen fordern
wir eine Arbeitsplatzgarantie, die eine Rückkehr auf den
gleichen oder zumindest einen vergleichbaren Arbeits-
platz ermöglicht,


(Beifall bei der LINKEN)


und während der Elternzeit eine weitere Teilhabe am be-
trieblichen Geschehen durch betriebliche Weiter- und
Fortbildungsmaßnahmen oder möglicherweise sogar
durch die Übernahme kurzer Vertretungen im Betrieb.


(Kerstin Griese [SPD]: Das ist doch schon alles möglich! Diese Gesetze haben wir schon längst gemacht!)


– Die CDU hat bei ihrer Wiesbadener Erklärung ja bei
uns abgeschrieben. Warum sie das macht, wenn es das
alles schon gibt, Frau Griese, verstehe ich nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Dritter Punkt: Gestaltung von Arbeitszeit ermögli-
chen. Kinder brauchen Zeit. Zeit spielt in Familien mit
Kindern eine ganz wichtige Rolle. Erwerbstätige Eltern
und Pflegende benötigen mehr Zeitautonomie. Das ist in






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Wunderlich
der zurückliegenden Familienpolitik kaum beachtet wor-
den. Dieser Fakt ist vielmehr sträflich vernachlässigt
worden. Der Siebte Familienbericht stellt dazu fest, dass
viele Eltern die Balance zwischen Familie und Erwerbs-
arbeit als unbefriedigend empfinden. 78 Prozent der Be-
schäftigten, die in Elternzeit sind, wünschen sich Teil-
zeitangebote, zeitlich begrenzt. Vorschläge erhalten nur
29 Prozent.

Wie es vor Ort aussieht, will ich Ihnen einmal schil-
dern. Ich habe vor ein paar Tagen einen Brief einer jun-
gen, alleinerziehenden Mutter aus Schleswig-Holstein
bekommen. Sie hat einen dreijährigen Sohn und arbeitet
in einem großen Baumarkt, dessen Namen ich an dieser
Stelle nicht nennen will. Nach Ende der Elternzeit wollte
sie mit einer 30-Stunden-Woche wieder anfangen, täg-
lich in der Zeit zwischen 8.30 Uhr und 14.30 Uhr und an
maximal zwei Samstagen monatlich. Das war mit dem
Betrieb nicht hinzukriegen. Seit über einem Jahr klagt
sie sich jetzt wegen dieser Arbeitszeitregelung durch die
Instanzen. Mal bekam sie recht, dann wurde das erst-
instanzliche Urteil vom Landesarbeitsgericht aufgeho-
ben, dann bekam sie wieder recht. Inzwischen ist das in
der Revision beim Bundesarbeitsgericht. Im Dezember,
sagte der Betrieb – das ist der letzte Sachstand, den sie
mir mitgeteilt hat –, brauche sie eine Woche nicht zu ar-
beiten. Man stellte sie wegen einer einstweiligen Unter-
sagung nicht ein. Aber für diese Zeit bekam sie auch
kein Geld. Jetzt muss sie wahrscheinlich auch noch den
Lohn einklagen. Das ist die Kehrseite von familien-
freundlichen Betrieben.


(Ina Lenke [FDP]: Aber nicht der Alltag!)


– Das ist der Alltag. – Und vom Betriebsrat hat sie auch
keine Unterstützung bekommen.

Die Gestaltung der Arbeitszeit muss eben stärker den
Interessen der Beschäftigten gerecht werden. Die Ar-
beitszeit muss verkürzt und auf Männer und Frauen
gleichmäßiger verteilt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Teilzeitarbeit darf nur noch aus dringenden betrieblichen
Gründen verweigert werden.

Der CDU kann ich nur sagen: Unterstützen Sie unse-
ren Antrag! Er deckt sich ja weitestgehend mit Ihrer
Wiesbadener Erklärung. Insbesondere Punkt 7 der Wies-
badener Erklärung ist ja im Grunde bei uns abgeschrie-
ben, Herr Singhammer. Deswegen können Sie unseren
Antrag völlig ideologiefrei unterstützen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613921400

Ich erteile das Wort Kollegin Eva Möllring, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Eva Möllring (CDU):
Rede ID: ID1613921500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Herr Kollege Wunderlich, sieben Jahre
Kündigungsschutz pro Kind, Berufsrückkehr in verbes-
serte Positionen und freie Wahl der Arbeitszeit – Sie bie-
ten Eltern hier ein tolles Kaleidoskop und vergessen da-
bei, dass auch Mütter und Väter sich im Wettbewerb des
Berufslebens befinden. Wir müssen deshalb aufpassen,
dass wir ihnen mit solchen Vorschlägen nicht mehr
Chancen vermasseln als eröffnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Flexible Arbeitszeit ist tatsächlich ein entscheidender
Faktor für Eltern, wenn es darum geht, Beruf und Fami-
lie zu vereinbaren.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Nein, Frau Möllring!)


Das ist völlig klar und durch viele Studien über Jahre be-
legt. Die Hans-Böckler-Stiftung, liebe Kollegen von der
SPD, hat in einer aktuellen Umfrage festgestellt, dass El-
tern sich kürzere Arbeitszeiten wünschen und durch-
schnittlich mit einer Wochenarbeitszeit zwischen 20 und
29,5 Stunden am zufriedensten sind. Deshalb, Frau
Lenke, kann ich mich Ihnen hier ausdrücklich nicht an-
schließen, wenn Sie wie in der letzten Woche die Teilzeit
verteufeln und Frauen rügen, die Teilzeit arbeiten.


(Ina Lenke [FDP]: Habe ich doch gar nicht!)


– Doch.


(Ina Lenke [FDP]: Gleichstellungsgesetz!)


Wir sollten nicht so tun, als könnte man einige Kinder
erziehen, gleichzeitig von morgens bis abends im Beruf
arbeiten, die Schwiegereltern pflegen, Wohnung oder
Haus in Schuss halten und Ehrenämter pflegen. Stattdes-
sen muss die Arbeit auf mehrere Schultern verteilt wer-
den. Eine der Lösungen ist, zumindest vorübergehend
die berufliche Arbeitszeit zu reduzieren; das ist völlig
richtig. Damit dies möglich ist, haben wir seit Jahren die
gesetzlichen Grundlagen insbesondere im Arbeitszeitge-
setz, im Teilzeitgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz
geschaffen. Arbeitnehmer können ihre Arbeitszeit ver-
kürzen, sie haben ein Initiativrecht zur Gestaltung der
Arbeitszeit, und sie können von Nachtarbeit auf Tagesar-
beit umstellen. Arbeitgeber dürfen diese Wünsche nur
ablehnen – hören Sie zu, Herr Wunderlich, falls Sie das
noch nicht wissen –, wenn gravierende betriebliche
Gründe entgegenstehen. Genau das, was Sie beantragt
haben, steht also bereits im Gesetz. Sie laufen der Ent-
wicklung leider ein paar Jahre hinterher.

Dass Sie hier als Richter Richterschelte betreiben,
Herr Wunderlich, ist Ihre Sache. Ich schließe mich dem
ausdrücklich nicht an. Sie wissen, dass wir als Gesetzge-
ber die Unabhängigkeit der Richter nicht reglementieren
und angreifen dürfen.

Das eigentliche Problem ist aber doch, dass viele El-
tern befürchten, beruflich zurückzufallen, wenn sie diese
Instrumente tatsächlich nutzen. Deshalb geht es darum,
dass diese Rechte in den Betrieben wirklich akzeptiert
sind und mit einer echten Überzeugung begleitet wer-
den. Was wir deswegen dringend ändern müssen, ist die
Philosophie in den Unternehmen. Gerade auf diesem






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Eva Möllring
Feld, lieber Herr Wunderlich, hat die Bundesregierung
in den letzten zwei, drei Jahren nun wirklich eine un-
glaubliche Fülle von Erfolgen erzielt und nicht nur Sprü-
che gemacht und Forderungen gestellt.


(Kerstin Griese [SPD]: In den letzten sieben Jahren!)


– Sie können gern sagen, Frau Griese, was Sie vorher ge-
macht haben. Ich konzentriere mich auf die letzten zwei,
drei Jahre, weil in dieser Zeit wirklich enorm viel pas-
siert ist. Ich nenne als Beispiele nur das Unternehmens-
netzwerk „Erfolgsfaktor Familie“, bei dem inzwischen
– hören Sie zu – 1 300 Unternehmen Informationen und
Erfahrungen über familienfreundliche Maßnahmen aus-
tauschen, und die Lokalen Bündnisse für Familien.


(Renate Gradistanac [SPD]: Auch von Renate Schmidt!)


– Daran sind Sie nicht ganz unschuldig, aber inzwischen
sind dank der Propaganda 360 Kommunen dabei. – In
diesen Bündnissen engagieren sich 2 200 Unternehmen.
Des Weiteren nenne ich das Audit „Beruf & Familie“,
mit dem inzwischen 530 Unternehmen für familien-
freundliche Maßnahmen ausgezeichnet wurden.


(Zuruf von der SPD: Von der Hertie-Stiftung!)


– Das werden Sie uns jetzt nicht wegnehmen wollen,
meine lieben Kolleginnen von der SPD.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das geht nicht!)


Das Bewusstsein für familienfreundliche Berufe
wächst also stetig, und das ist der entscheidende Punkt.
Die Philosophie in den Unternehmen ändert sich wirk-
lich. Heute sind viele Betriebe stolz darauf, familien-
freundlich zu sein – das war übrigens vor drei Jahren
noch nicht so –, und das ist der richtige Weg.

Es muss an dieser Stelle aber auch gesagt werden,
Herr Wunderlich, dass es Grenzen bei dem gibt, was ein
Betrieb leisten kann. Eltern können natürlich nicht kom-
men und gehen, wann sie wollen. Das wissen sie, und
das liegt auch gar nicht in ihrem eigenen Interesse, weil
sie dann nämlich als unzuverlässig gälten.

Das Gleiche gilt für den Kündigungsschutz. Ein Kün-
digungsschutz, bis das jüngste Kind sieben Jahre alt ist,
Herr Wunderlich, hört sich vielleicht traumhaft an, hat
aber mit der Realität nicht viel zu tun. Bei zwei, drei
Kindern sind das zehn bis 15 Jahre. Wer kann nach die-
ser langen Zeit noch ohne Weiteres in den alten Beruf
einsteigen?


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Christa Müller hat diesen Antrag formuliert! – Gegenruf des Abg. Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dann wäre er aber besser geworden!)


Der Trend verläuft da genau entgegengesetzt. Die jungen
Leute wollen früh den Kontakt zum Arbeitsplatz wieder
aufbauen. Deswegen glaube ich eher, dass Sie den Eltern
mit einer so langen Kündigungsfrist einen Bärendienst
erweisen und riskieren, dass man junge Leute, die sich
Kinder wünschen, nicht einstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Richtig ist, dass während der dreijährigen Elternzeit
ein Kündigungsschutz besteht und die Eltern wieder auf
einen Arbeitsplatz zurückkehren können, der gleich be-
zahlt wird. Dies schafft Sicherheit, wenn man sich für
Kinder entscheidet und in der frühen Phase viel Zeit für
sie aufbringt. Ich glaube allerdings nicht, dass wir die
Betriebe grundsätzlich verpflichten können, den Arbeits-
platz drei Jahre lang freizuhalten oder die Person, die bis
zur Rückkehr als Vertretung eingesetzt wird, einfach
wieder auszutauschen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Oder einen vergleichbaren Arbeitsplatz!)


– Ja. – Das kann auch eine Mutter oder ein Vater sein,
die bzw. der nach der Familienphase wieder in den Beruf
zurückgekehrt ist. Wir würden damit einen Arbeitneh-
mer gegen den anderen ausspielen.


(Ina Lenke [FDP]: Genau! Da hast du recht!)


– Danke.

Die entscheidenden Faktoren für eine erfolgreiche
Rückkehr an den Arbeitsplatz sind der Kontakt mit dem
Arbeitgeber in der Familienzeit und die betriebliche
Weiterbildung. In diesem Punkt bin ich völlig Ihrer Mei-
nung. Das habe ich in meiner letzten Rede im Bundestag
vor einer Woche schon ausführlich erörtert, sodass ich
das nicht weiter vertiefen muss.

Letztlich muss im konkreten Fall die Balance zwi-
schen den Bedürfnissen der Mütter und Väter und den
Notwendigkeiten am Arbeitsplatz gefunden werden. Ich
bin felsenfest davon überzeugt, dass dabei das zuneh-
mende Engagement gerade von Vätern für ihre Kinder
eine große Hilfe sein wird.

Seit 1991 hat sich die Teilzeitquote von Vätern fast
vervierfacht; überraschend viele Väter nehmen die El-
ternzeit in Anspruch. Nach meiner Überzeugung wird
diese Entwicklung erheblich dazu beitragen, dass Ar-
beitgeber mehr Rücksicht auf Familien nehmen, ohne
dass Eltern Nachteile befürchten müssen. Deshalb bin
ich der Meinung, dass wir gerade das Engagement der
Väter weiter stärken müssen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613921600

Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1613921700

Meine Damen und Herren! Frau Möllring, ich finde

es sehr putzig, wie Sie mit der Kritik am Bundesgleich-
stellungsgesetz, das Frauen helfen soll, Erwerbstätigkeit
und Kinder miteinander zu vereinbaren, umgehen.






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
Durch dieses Schutzgesetz sind mittlerweile 91 Prozent
der Frauen und damit nur 9 Prozent der Männer in Teil-
zeit tätig.


(Dr. Eva Möllring [CDU/CSU]: Das ist falsch!)


Dieses Bumeranggesetz hilft Frauen nicht. Vielmehr ha-
ben sie die gesellschaftliche Arbeit noch zusätzlich zu-
geteilt bekommen. Man muss beides sehr unterschied-
lich behandeln. Insofern ist das ungerecht.

Sie sollten endlich die Frauen diskriminierende
Steuerklasse V – die meisten Frauen haben diese Steuer-
klasse eingetragen – abschaffen.


(Beifall bei der FDP, der SPD und der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Stattdessen haben Sie eine entsprechende Änderungsre-
gelung, für die wir uns alle eingesetzt haben, aus dem
Jahressteuergesetz herausgenommen. Die Frauen sollen
erfahren, wer dies zu verantworten hat.

Herr Wunderlich, es ist sehr wunderlich, wie Sie den
von Ihnen eingebrachten Antrag weichspülen. Die politi-
schen Forderungen in Ihrem Antrag sind überzogen und
irreal. Ihre Vorschläge stammen aus der Wunschkiste
und sind weit von der deutschen Wirklichkeit und den
Erwartungen der Frauen, die sie auch an die Politik ha-
ben, entfernt. Fragen Sie die Frauen selbst! Ich habe sie
am Infostand zur Landtagswahl in Niedersachsen ge-
fragt, ob sie sechs Jahre zu Hause bleiben wollen.

Derzeit gibt es in der Elternzeit einen dreijährigen
Kündigungsschutz. Darauf haben wir alle uns geeinigt,
und das ist auch gut und richtig. Wie Sie wissen, wollen
diese Frauen aber schon vor Ablauf dieser drei Jahre in
den Beruf zurückkehren – deswegen investieren wir
schließlich Geld in den Ausbau der Krippenplätze –,
weil sie Karriere machen und auf eine gute Rente hinar-
beiten wollen und weil sie Interesse an der Arbeit haben.
Sie wollen beides miteinander vereinbaren. Insofern sind
Ihre Vorschläge kontraproduktiv.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Frau Lenke, sie sollen nicht sechs Jahre zu Hause bleiben! Das haben sie nicht verstanden!)


Ihre Vorschläge, Herr Wunderlich – ich habe mich
ausführlich mit ihnen befasst –, sind Einstellungshinder-
nisse für Frauen, die ins Berufsleben zurückkehren. Sie
sind ein Bumerang für Frauen mit Kindern. Wenn Ihre
Vorschläge umgesetzt würden, würden sie massiv die
Chancen für den Wiedereinstieg von Frauen in den Be-
ruf verschlechtern. Bei so vielen Schutzgesetzen, die zu
berücksichtigen sind, bis ein Kind zwölf Jahre alt ist,
stellen die Unternehmer lieber Männer ein. Das ist nicht
unser Ziel. Ich hoffe, dass wir uns darin gegen die Lin-
ken einig sind.


(Beifall bei der FDP)


Sie halten mit Ihrer verfehlten Politik Frauen von ei-
ner kontinuierlichen Erwerbsbiografie ab, Sie halten sie
davon ab, eigene Rentenansprüche zu erwerben und ein
existenzsicherndes Gehalt zu erzielen. Sie können einem
Betrieb nicht zumuten, einer Frau ohne weitere Fortbil-
dung ein höheres Gehalt zu zahlen, wenn sie nach sechs
Jahren wieder einsteigt. Das geht nicht. Ich glaube, die
Frauen werden in dieser Beziehung nicht hinter Ihnen
stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Neben Ihrer Forderung, dass ein Arbeitsplatz in ei-
nem Betrieb künftig sechs Jahre freigehalten werden
soll, erheben Sie die Forderung, dass ein Arbeitnehmer
mit Kindern zwölf Jahre lang seine tägliche Arbeitszeit
selbst bestimmen kann. Die Frauen sollen zwölf Jahre
lang bestimmen, wann sie morgens kommen und wann
sie abends gehen. Das steht in dem Antrag der Linken.
Wenn Überstunden anfallen, soll der Arbeitgeber auch
noch die Kinderbetreuungskosten zahlen. Das wird sehr
lustig. Wir haben andere Regelungen, zum Beispiel die
steuerliche Absetzbarkeit. Man kann auch Zahlungen
des Arbeitgebers lohnsteuerfrei und sozialversicherungs-
frei gestalten. Es gab Zwischenrufe der Damen von der
SPD – ich glaube, von Frau Griese – mit dem Tenor: Wir
haben schon vieles. – Ihre überzogenen Forderungen
brauchen wir nicht.

Manche von Ihnen – nicht die Jungen von den Lin-
ken – haben in der ehemaligen DDR gelebt. Auch ich
hatte meine Verbindungen zur DDR, keine verwandt-
schaftlichen, aber solche über die Kirche. Ich kann mich
sehr gut daran erinnern, wie die Frauen dort behandelt
worden sind. Es hat nicht immer nur gute Regelungen
gegeben, und wir wollen andere.

Wir haben den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, wir
haben den gesetzlichen Mutterschutz, wir haben die Ar-
beitsbefreiung bei Krankheit von Kindern, wir haben das
Kündigungsschutzgesetz, das Elternzeitgesetz, das
Recht auf Fortbildung, und wir haben das Arbeitszeitge-
setz. Ich habe garantiert noch viele Schutzgesetze ver-
gessen. Ich habe aber nur fünf Minuten Zeit, und deshalb
kann ich das nicht wie Frau Möllring zehn Minuten aus-
weiten.


(Dr. Eva Möllring [CDU/CSU]: Ich habe meine Redezeit unterschritten!)


Das heißt, wir haben Gesetze, die das Leben mit Kindern
erleichtern. Wir werden – da sind wir uns alle einig, auch
die Linken – die Bewegungsspielräume von Müttern und
Vätern, die Familie und Beruf miteinander vereinbaren
wollen, ausweiten und mehr Krippenplätze schaffen. Wir
alle wollen dafür mehr Geld geben. Sie verkünden den
Menschen eine heile Welt.

Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Sie
behaupten, wo kein Betriebsrat ist, würden die Mütter-
rechte mit Füßen getreten – ich sage das einmal sinnge-
mäß –, ich aber sage Ihnen: Viele mittelständische Un-
ternehmen geben alles, um qualifizierte Frauen am
Arbeitsplatz zu halten. Deshalb verwahre ich mich dage-
gen, dass Sie solche Aussagen machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie haben nicht zugehört, Frau Lenke!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613921800

Das Wort hat nun Kollegin Helga Lopez, SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Helga Lopez (SPD):
Rede ID: ID1613921900

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ihr

Antrag, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, in
Ehren, aber zustimmen können wir dem nicht.


(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])


Wir haben überdeutlich gehört, woran das liegt. Wir hal-
ten Ihren Antrag für äußerst kontraproduktiv. Hätten wir
Vollbeschäftigung, könnten wir uns über Ihren Antrag
durchaus sachlich und in aller Ruhe unterhalten. Aber
die haben wir nicht. Deswegen bin ich der absoluten
Überzeugung, dass Ihr Antrag nur zu einem führen
würde: In jedem Auswahlverfahren hätten künftig El-
tern, insbesondere Frauen, auch junge Frauen, die noch
nicht Mütter sind, keine Chancen mehr auf Beschäfti-
gung.


(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD] sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Ich bin fast geneigt, zu sagen, dass ich nicht verstehen
kann, dass ausgerechnet die Linke mit einem Antrag
schlechtere Chancen für Frauen will.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich verstehe das schon!)


Arbeitgeber sind immer dann zu Zugeständnissen bereit,
wenn sie einen Arbeitnehmer brauchen. Sie machen kei-
nerlei Zugeständnisse, wenn sie aus einem Pool von vie-
len Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auswählen
können. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Deswegen
ist der Antrag kontraproduktiv, und deswegen werden
wir ihm nicht zustimmen.


(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Wir haben hier gehört, welch immense Anstrengun-
gen die Große Koalition und zuvor Rot-Grün in den letz-
ten Jahren unternommen haben, um Maßnahmen zu tref-
fen, die alle dem Ziel der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf dienlich sind. Es gibt in der Tat noch viel zu tun.
Ich komme gleich darauf zurück.

Im Jahre 1975, als ich Mutter wurde, war von Flexibi-
lität keine Rede. Ich war schon verbeamtet, hatte aber
keinerlei Möglichkeit, Teilzeit arbeiten zu gehen. Ich
hatte acht Wochen, höchstens zwölf Wochen Mutter-
schaftsurlaub. Das war’s. Dann musste ich ganztags ar-
beiten gehen. Ich fand keinerlei Einrichtung bis zum
Ende der Grundschulzeit, in die ich mein Kind zur Be-
treuung hätte geben können. Ich musste eine Tagesmut-
ter suchen. Zum Glück habe ich eine hervorragende Ta-
gesmutter gefunden. Für sie musste ich ein Viertel
meines Gehalts aufwenden, aber ich konnte in Ruhe, mit
gutem Gewissen arbeiten gehen; denn ich wusste mein
Kind gut betreut. Die Betonung liegt hier auf „gut“. Ge-
nau an der Stelle haben wir noch zu tun.
Ich komme aus dem Bundesland Hessen. Hessen hat
für Kinderbetreuungseinrichtungen die Personalmindest-
standards gesetzt; andere Bundesländer haben in anderen
Bereichen Standards gesetzt. Die Personalstandards wa-
ren in Hessen also einmal gut. Vor einigen Jahren ist der
Mindestpersonalschlüssel auf 1,5 Fachkräfte pro Gruppe
heruntergesetzt worden. Eine Gruppe umfasst in Hessen
25 Kinder über drei Jahre oder 15 Kinder in altersge-
mischten Gruppen mit unter Dreijährigen.


(Ina Lenke [FDP]: Das geht nicht!)


1,5 Fachkräfte, inklusive Vor- und Nachbereitung und
ohne Kompensation für krankheits- oder kurbedingten
Ausfall oder für Weiterbildungsmaßnahmen. Faktisch
bedeutet das, dass tatsächlich nur eine Kraft pro Gruppe
zur Verfügung steht. Ich sage ganz deutlich: Hier gilt es
anzusetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Qualität und frühkindliche Bildung – das sind unsere
Aufgaben. Die müssen wir angehen. Wir werden darüber
mit den Ländern zu reden haben; wir als Bund haben
aber auch dafür Sorge zu tragen, dass wir nicht nur über
frühkindliche Bildung reden, sondern sie auch mit Leben
erfüllt wird.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: In Sachsen wird es schon gemacht!)


Dafür werden wir uns einsetzen, für Ihren Antrag nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613922000

Das Wort hat nun Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/

Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613922100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Herstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist
eine zentrale Herausforderung, gesellschaftlich wie öko-
nomisch. Hier wurde unter Rot-Grün ja auch schon eine
ganze Reihe von Verbesserungen auf den Weg gebracht.
Ein Beispiel dafür ist die Einführung von Elternzeit. Ein
zweites Beispiel dafür ist – es freut mich besonders, dass
Sie, Frau Möllring, das erwähnt haben – die Umsetzung
des Anspruchs auf Teilzeitarbeit. Das freut mich des-
halb, weil Ihre Fraktion damals dagegen war. Ich kann
mich noch erinnern, wie in den Debatten mit dem Argu-
ment polemisiert wurde,


(Dr. Eva Möllring [CDU/CSU]: Ich nicht!)


dass dadurch viele Arbeitsplätze verloren gingen. Heute
loben ausgerechnet Sie den Anspruch auf Teilzeitarbeit.
Man kann immer dazulernen. An diesem Punkt zeigt
sich, dass Sie von Rot-Grün tatsächlich etwas dazuge-
lernt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz
Ein anderer Baustein ist natürlich – ich gebe es zu –
das Elterngeld. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass
auch das unter Rot-Grün zustande gekommen wäre,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie hatten sieben Jahre Zeit!)


wenn auch in manchen Punkten in anderer Form.

Ein ganz besonders wichtiger Baustein aber ist das
Tagesbetreuungsausbaugesetz. Hätte es damals nicht so
erheblichen Widerstand im Bundesrat gegen den Ausbau
der Betreuungsangebote für unter Dreijährige gegeben,
wären wir heute um einiges weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir hätten jetzt nicht nur einen konditionierten Rechts-
anspruch auf Kinderbetreuung, sondern würden längst
schon die notwendige Qualitätsdebatte führen. Wir hof-
fen jetzt, dass es womöglich bis 2013 einen allgemeinen
Rechtsanspruch gibt.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir haben das Geld herbeigeschafft! Erst muss die Wirtschaft laufen, dann ist das Geld da!)


– Herr Singhammer, hören Sie zu! Sie machen immer
Versprechungen, aber wo bleiben die entsprechenden
Gesetzentwürfe?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns ein Gesetz-
entwurf vorliegt, anhand dessen das Ganze besprochen
werden könnte. Im Ausschuss sagt die Ministerin, der
werde irgendwann einmal kommen. „Irgendwann“ ist
mir aber zu unbestimmt.

Auch wenn Sie hier noch so häufig „Wir gewährleis-
ten die Finanzierung“ sagen, weiß ich nicht, was Sie an
Finanzmitteln zur Verfügung stellen. Ich weiß auch
nicht, was die Länder zur Verfügung stellen. Es wird
zwar viel geredet; aber von den Ländern hört man ver-
dammt wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Genau gesagt, hört man von Länderseite gar nichts. Be-
geisterung für die Sache klingt etwas anders. Das, was
Sie hier zeigen, ist alles andere als Begeisterung.

Bereitstellung von Betreuungsmöglichkeiten – ja, das
ist eine Grundlage für die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie. Zur Vereinbarkeit gehört aber noch mehr, zum
Beispiel Änderungen beim Steuer- und Sozialrecht. Ei-
nen Punkt haben Sie schon genannt: die Reform der
Steuerklassen III und V. Dieses Thema ist von dieser Re-
gierung zwar bereits angesprochen worden, aber passiert
ist nichts. Eine solche Reform wäre eine notwendige Än-
derung der Rahmenbedingungen und damit ein Anreiz
zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Ähnlich ist es übrigens beim Ehegattensplitting und
– da können Sie hier noch so viel lavieren – mit dem Be-
treuungsgeld.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD] und Ina Lenke [FDP])


Gerade das Betreuungsgeld ist kein Anreiz, erwerbstätig
zu werden, und kein Anreiz, Beruf und Familie zu ver-
einbaren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD] und der Abg. Ina Lenke [FDP] – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber für Wahlfreiheit!)


Sie wollen, dass Mütter zu Hause bleiben. Sie halten an
alten Rollenbildern fest. Die von Ihnen erwünschte Pra-
xis wird auf dem Rücken der Frauen ausgetragen. Ihr
Appell ist: Mütter, bitte, bleibt zu Hause! – Inzwischen
gibt sogar Ihre Fraktion zu, dass die Erwerbstätigkeit
von Frauen das beste Instrument im Kampf gegen Fami-
lienarmut ist. Trotzdem wollen Sie, dass Mütter zu
Hause bleiben.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Selbstverständlich! Wer es will, soll es können!)


Dass Mütter zu Hause bleiben, hat Auswirkungen auf
das gesamte Arbeitsleben, auf die Sozialversicherung,
auf die Krankenkassenbeiträge, auf die Rente, auf die so-
ziale Sicherung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])


Angesichts der Kürze meiner Redezeit möchte ich
schnell noch auf den Antrag der Linken eingehen. Sie-
ben Jahre Elternzeit, also sieben Jahre zu Hause zu blei-
ben, das fällt den Eltern auf die Füße.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)


Eltern, die sieben Jahre zu Hause bleiben, bleiben dem
Erwerbsleben und damit den Beitragszahlungen in die
Rentenversicherung fern. Eine Elternzeit von sieben Jah-
ren hat nichts mit der Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf zu tun. Ihr Vorschlag ist nichts anderes als ein Anti-
vereinbarkeitsvorschlag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)


Rückkehr in den Beruf aus Elternzeit und längerer Fa-
milienphase sind übrigens zweierlei. Rot-Grün hat ge-
rade für die Berufsrückkehrer hervorragende BA-Pro-
gramme geschaffen. In diesem Bereich haben wir die
größten Erfolge erzielt. Was uns fehlt, sind Betreuungs-
angebote,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Und das Betreuungsgeld!)


Qualifikationsangebote für Frauen und sozialrechtliche
Änderungen im Hinblick darauf, dass sich die Arbeit
von Frauen rentiert.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz
Ihr Antrag mag plakativ sein; aber das, was durch ihn
erreicht werden soll, wird mit den meisten Vorschlägen
nicht erreicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1613922200

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Dieter

Steinecke, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dieter Steinecke (SPD):
Rede ID: ID1613922300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
einen Antrag, der schon von seiner Grundannahme her
falsch ist. Ich darf die ersten beiden Sätze wörtlich zitie-
ren:

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf beginnt
am Arbeitsplatz.

Sehr richtig. – Weiter im Zitat:

Das wurde von der Familienpolitik viel zu lange
vernachlässigt.

Diese Aussage hingegen ist falsch und wurde wider bes-
seres Wissen getroffen. Ich möchte den Autorinnen und
Autoren dieses Antrags nämlich nicht unterstellen, dass
sie die erfolgreiche sozialdemokratische Politik für eine
bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben
übersehen haben.

Ich möchte hier zunächst auf den umfassenden Auf-
bau der Tagesbetreuung eingehen. Jedes Kind ab drei
Jahren hat einen gesetzlichen Anspruch auf einen Be-
treuungsplatz. Wir haben die Grundlage dafür gelegt,
dass ab 2013 auch die Allerjüngsten einen solchen An-
spruch haben und dass ein umfassendes und qualitativ
hochwertiges Betreuungsangebot flächendeckend zur
Verfügung steht.

Die Betreuung – das ist uns klar – darf natürlich nicht
mit dem Tag der Einschulung der Kinder enden. Daher
setzen wir auf Ganztagsschulen und fördern den Ausbau
von entsprechenden Angeboten durch das Investitions-
programm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ des Bun-
des mit insgesamt 4 Milliarden Euro, obwohl wir wis-
sen, dass Bildung eigentlich Ländersache ist. Diesen
Hinweis gestatte ich mir im Hinblick auf die bevorste-
henden Landtagswahlen in Hessen und in meinem Hei-
matland Niedersachsen. In beiden Ländern haben sich
die jeweiligen Landesregierungen, die am Sonntag zur
Abwahl stehen,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


gerade was Zukunftsinvestitionen in Bildung und Be-
treuung angeht, wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. In
Niedersachsen wurden die Bundesmittel gern genom-
men. Dann wurde reichlich in Beton investiert, die erfor-
derlichen Lehrerstunden aber nicht zur Verfügung ge-
stellt. Das hätte ja auch den eigenen Haushalt belastet.
Diese „Ganztagsschule light“ wollen wir nicht; das
reicht uns nicht aus.


(Beifall bei der SPD)


Wir wissen freilich, dass ein umfangreiches Betreu-
ungsangebot nicht die einzige Voraussetzung für eine
gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist. Das wis-
sen wir nicht erst seit gestern: Bereits im Jahre 2003 hat
die damalige sozialdemokratische Familienministerin
Renate Schmidt unter dem Dach „Allianz für die Fami-
lie“ Initiativen gebündelt, damit zwischen Familie und
Arbeitswelt eine gute Balance hergestellt werden kann.
Starke Partner aus Wirtschaft, Verbänden und Politik set-
zen sich öffentlich und beispielhaft für eine neue Unter-
nehmenskultur und Gestaltung der Arbeitswelt ein. Die
„Allianz für die Familie“ basiert auf dem Konsens, dass
unsere Gesellschaft mehr Kinder, unsere Wirtschaft qua-
lifizierte Arbeitskräfte und unsere Kinder eine frühe För-
derung brauchen.


(Beifall bei der SPD)


Die familienfreundliche Arbeitswelt liegt also durch-
aus im Trend. Dass sich ein Mentalitätswechsel vollzieht,
zeigt auch das Projekt „Erfolgsfaktor Familie. Unterneh-
men gewinnen“. Dieses Unternehmensnetzwerk, dem
sich bislang 850 Betriebe unterschiedlichster Größe an-
geschlossen haben, gibt Informationen über familienbe-
wusste Personalpolitik. Die Palette familienfreundlicher
Maßnahmen reicht von der flexiblen Arbeitszeitgestal-
tung über Eltern-Kind-Büros bis zur Notfallbetreuung.

Ein weiterer Baustein sind die lokalen Bündnisse für
Familie, die ebenfalls auf eine Initiative von Renate
Schmidt zurückgehen. Mittlerweile gibt es bundesweit
mehr als 450 solcher Bündnisse, die an mehr als
660 Standorten tätig sind und die Wohnorte von mehr als
der Hälfte aller Menschen in unserem Land abdecken.

Wir Sozialdemokraten haben umfangreiche Maßnah-
men für ein kinderfreundliches Deutschland angepackt
und in den Koalitionsverhandlungen dafür gesorgt, dass
diese erfolgreiche Politik fortgesetzt wird.

Abschließend stelle ich fest: Natürlich sind die Le-
benslagen junger Eltern und Mütter nicht frei von Pro-
blemen. Selbstverständlich gibt es noch viel zu tun, da-
mit Familienleben und Arbeitsleben in Deutschland
noch besser in Einklang gebracht werden können. Ich
habe aufgezeigt: Wir Sozialdemokraten beschreiten seit
Jahren einen erfolgreichen Weg, und wir werden ihn
weitergehen. Dafür brauchen wir gute Ideen und Durch-
setzungskraft. Was wir nicht brauchen, sind Anträge wie
den, über den wir heute sprechen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613922400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7482 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Den Klimawandel wirksam durch Urwald-
schutz bekämpfen – Agrarüberschüsse in den
Erhalt der Urwälder investieren
– Drucksache 16/7710 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Cornelia Behm von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613922500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorge-
legt, der darauf abzielt, die Agrarüberschüsse der EU
dem Urwaldschutzprogramm der Weltbank zum Teil zur
Verfügung zu stellen. Das ist nicht einfach nur eine gute
grüne Idee, sondern wichtig und begründet. Es gibt einen
Sachzusammenhang. Ich will Ihnen gerne erläutern, wa-
rum ich das so sehe.

Unser Planet ist zu etwa 30 Prozent mit Wald bedeckt.
Das entspricht knapp 4 Milliarden Hektar. Die ausge-
dehntesten Waldgebiete sind die borealen Wälder in
Finnland, Sibirien und Kanada. Sie machen immerhin
1,4 Milliarden Hektar, also ein Drittel der Gesamtwald-
fläche, aus.

Hinzu kommen die tropischen Regenwälder – in der
Debatte wird immer wieder über sie gesprochen – in
Mittel- und Südamerika, in West- und Zentralafrika so-
wie in Südostasien. 1950 schätzte man die Flächengröße
der tropischen Regenwälder auf 16 bis 17 Millionen
Quadratkilometer. 1982 ergaben die Schätzungen eine
Fläche von 9,5 Millionen Quadratkilometern. Drei Jahre
später betrug die Fläche 1 Million Quadratkilometer we-
niger. So ging es immer weiter bergab.

Wald ist der größte CO2-Speicher, insbesondere auf-
grund der hohen Produktivität der Tropenwälder. Der
Wald ist das größte Landökosystem mit der größten Ar-
tenvielfalt. Allein im tropischen Regenwald leben zwei
Drittel der landgebundenen Arten. Das sind gute Gründe,
die Waldökosysteme zu schützen und sie, wenn man sie
nutzt, nachhaltig zu bewirtschaften.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Waldvernichtung, der Raubbau am Wald, hält an,
trotz früher Erkenntnisse; ich erinnere an die Enquete-
Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ und an den
Bericht „Schutz der tropischen Wälder“ von 1990. Die
Hauptursachen für die Waldvernichtung sind der illegale
Holzeinschlag und die Umwandlung in Acker- und Wei-
deflächen. Zurzeit befinden sich 1,4 Milliarden Hektar
rechtmäßig unter dem Pflug. Die Flächenreserve in
Nord- und Lateinamerika beträgt 5 Prozent und ist damit
sehr gering. Der Druck auf die Fläche ist ungeheuer
groß. Ich verweise auf den Artikel von Emilio Rappold,
der heute von dpa veröffentlicht wurde: „Gier nach
Fleisch und Soja tötet den Amazonas-Urwald in Rekord-
tempo.“

Man muss die Waldvernichtung verhindern. Aber
wie?

Erstens. Wir haben ein Urwaldschutzgesetz vorgelegt,
um den Handel mit illegal eingeschlagenem Holz zu ver-
bieten. Die Umsetzung wäre ein Weg gewesen, Waldver-
nichtung zu verhindern. Sie haben das abgelehnt. Eine
entsprechende Regelung fehlt noch immer.

Zweitens. Waldvernichtung kann verhindert werden
durch Unterschutzstellung, also durch die Schaffung von
Nationalparks mit Nutzungseinschränkungen bzw. -ver-
boten. Weltweit gibt es in rund 120 Ländern mehr als
2 200 Nationalparks. Ich möchte einen Vergleich anstel-
len: Deutschland hat 2,6 Prozent des Bundesgebietes un-
ter Schutz gestellt und 13 Nationalparks geschaffen. In
Kanada gibt es immerhin 43 Nationalparks. Das arme
Tansania hat ein Viertel der Landesfläche unter Schutz
gestellt. Brasilien hat Ende 2006 das größte Urwald-
schutzgebiet der Erde geschaffen; es umfasst 16 Millio-
nen Hektar und ist damit fast halb so groß wie Deutsch-
land.

Der gewaltige Nutzungsdruck auf die Fläche erfordert
aber nicht nur die Ausweisung von Schutzgebieten, son-
dern auch deren Sicherung. Wälder müssen nachgefors-
tet und neu begründet werden. Es müssen finanzielle
Anreize für die Flächenbesitzer geschaffen werden, da-
mit der Raubbau eingedämmt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dafür brauchen diese armen Länder Geld. Es ist nur ge-
recht, dass die Industrieländer als Beitrag zum interna-
tionalen Klima- und Biodiversitätsschutz gewisse Kom-
pensationszahlungen an diese Länder leisten; denn die
Industrieländer verschmutzen die Umwelt, sie importie-
ren Futter und andere Agrarprodukte in einer Größen-
ordnung, die den Druck auf die Flächen weiter erhöht,
und sie selbst haben kaum noch Urwälder. Ich erinnere
daran, dass es in Deutschland keine Urwälder mehr gibt
und nur 2,6 Prozent der Fläche unter Schutz gestellt
sind.

Wenn Sie sich fragen, warum gerade nicht ver-
brauchte Haushaltsmittel der Agrarpolitik dafür verwen-
det werden sollen, dann möchte ich auf den folgenden






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Behm
Sachzusammenhang verweisen: 10 Prozent der Treib-
hausgasemissionen, die die globale Erwärmung antrei-
ben, kommen aus der Landwirtschaft. Es muss alles da-
für getan werden, dass die globale Erwärmung unter
2 Grad bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es muss alles dafür getan werden, dass die Artenvielfalt
nicht weiter so rasant abnimmt.

Jeder muss dazu den Beitrag leisten, den er zu tragen
imstande ist. Die EU kann leisten, was wir in unserem
Antrag gefordert haben, nämlich 200 Millionen Euro – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613922600

Kollegin Behm, diese Erläuterung müssen wir auf die

nächste Beratung verschieben. Sie müssen bitte zum
Schluss kommen.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613922700

Ich komme zum Schluss. – Die EU kann der Forest

Carbon Partnership Facility 200 Millionen Euro Rest-
mittel aus dem Agrarhaushalt 2007 zur Verfügung stel-
len; denn so besteht immerhin die Chance, dass die är-
meren Länder mit ihrem großen Reichtum an Urwäldern
ihren Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613922800

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Cajus

Julius Caesar das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Cajus Julius Caesar (CDU):
Rede ID: ID1613922900

Verehrte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Der Erhalt unserer Urwälder ist von herausragen-
der Bedeutung. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir alle
dafür kämpfen und uns dafür einsetzen, und zwar über
Parteigrenzen und auch über Ländergrenzen hinweg. Es
ist ein Herzensanliegen der Union und auch mein persön-
liches Herzensanliegen – das habe ich schon in der Ver-
gangenheit von hier aus in diesem Hause vorgetragen –,
dass wir dieser Waldvernichtung Einhalt gebieten. Des-
halb setze ich auf Sie alle, dass wir gemeinsam dafür
kämpfen, dieses Ziel zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Heute!)


Die Zerstörung schreitet maßgeblich voran. Die Be-
deutung der Urwälder ist groß. Dort kommen rund
3 500 Arten vor und sehr viele weitere Pflanzenarten.
Dies ist für die Artenvielfalt von großer Wichtigkeit.
Aber wir müssen auch feststellen, dass rund 1 000 Arten
vom Aussterben bedroht sind. Wir stellen fest, dass jähr-
lich rund 13 Millionen Hektar Tropenwald zerstört wer-
den. Das heißt, der Wald verschwindet vollständig. Nur
rund die Hälfte dieser Fläche wird wieder bepflanzt und
davon nur ein Teil als Wald, ein Großteil mit Palmöl-
plantagen, die dazu dienen, den Ertrag zu steigern, aber
unter dem Gesichtspunkt der Biodiversität einen deutlich
geringeren Wert haben. Der Ertrag dieser Plantagen liegt
jedenfalls sehr hoch. Vieles wird nicht weiter genutzt.
Nach einer vorübergehenden landwirtschaftlichen Nut-
zung wird die Fläche ausgelaugt, der Feinboden ver-
schwindet durch Erosion. Es bleibt nur noch brauner Bo-
den. Das Gebiet wird zur Steppe, und die Wüste schreitet
voran. Diese Beispiele zeigen: Wir müssen dies verhin-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Angebot liegt auf dem Tisch!)


Ich habe ein Bild aus Indonesien mitgebracht.


(Der Redner hält ein Bild hoch)


Dort sieht man, wie zerstörerisch die Wirkung einer sol-
chen Vorgehensweise ist und dass dringender Hand-
lungsbedarf an dieser Stelle gegeben ist.

Betrachten wir einmal einige Länder. In der Elfen-
beinküste sind von ursprünglich 15 Millionen Hektar
noch rund 3 Millionen Hektar Tropenwald vorhanden. In
Indonesien, das die größten Waldvorkommen hat, ist in
den letzten Jahren noch etwa die Hälfte übrig geblieben
und die teilweise nicht einmal im Urzustand. Hinzu
kommt, dass in Madagaskar 80 Prozent vernichtet wur-
den und nur noch 20 Prozent vorhanden sind. In Nigeria
haben wir 90 Prozent des Regenwaldes verloren.

Wir stellen den Klimaschutz vorne an; er ist von gro-
ßer Bedeutung. Diese Bundesregierung hat bei den Ver-
handlungen auf internationaler Ebene Herausragendes
geleistet und die nationalen Ziele als Vorbildfunktion vo-
rangestellt. Ich denke, wir können uns sehen lassen. Wir
danken unserer Bundeskanzlerin, Angela Merkel, wir
danken dem Umweltminister und auch der Bundesregie-
rung dafür, dass sie hier so aktiv waren und so viel um-
gesetzt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich denke, dass es wichtig ist, dass man die Verhält-
nismäßigkeit des Einsatzes der finanziellen Ressourcen
sieht. Angesichts der Zerstörung der Regenwälder müs-
sen wir schauen, dass wir uns international mehr enga-
gieren; denn auch mit geringeren finanziellen Ressour-
cen ist in Projekten letztendlich viel zu erreichen.

In Indonesien – dort gibt es etwa 20 Millionen Hektar
Torfregenwald – werden in einen Hektar etwa 4 000 Ton-
nen reiner Kohlenstoff gespeichert. In den Wäldern in
Deutschland sind es ungefähr 150 Tonnen pro Hektar.
Auch das zeigt die große Bedeutung.

Wir sehen die zerstörerischen Kanäle. Zunächst ein-
mal wird der Torfregenwald trockengelegt. Dann erfolgt
durch kilometerlange Kanalsysteme die Entwässerung.
Dann entstehen Brände. Wir haben der Medienbericht-
erstattung entnehmen können, dass bei den Bränden auf
Borneo so viel CO2 freigesetzt wurde, wie Deutschland
im Rahmen des Kioto-Protokolls in den letzten zehn Jah-
ren eingespart hat. Daran erkennt man die große Bedeu-
tung der Maßnahmen zum Schutz der Wälder. Wir alle
sind aufgerufen, hier aktiv zu werden.






(A) (C)



(B) (D)


Cajus Caesar

(Beifall bei der CDU/CSU – Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie? Jetzt kommt es!)


Ihr Antrag „Den Klimawandel wirksam durch Ur-
waldschutz bekämpfen – Agrarüberschüsse in den Erhalt
der Urwälder investieren“ geht im Bereich des Urwald-
schutzes in die richtige Richtung. Natürlich muss man
darauf achten, dass man Geld nicht zweimal verteilen
kann. Die Mittel, die im Jahr 2007 für die Landwirt-
schaft bereitgestellt wurden, sind aufgrund entsprechen-
der Beschlüsse bereits im Rahmen von Projekten gebun-
den. Die Experten und die Verantwortlichen sagen, dass
im Jahre 2008, wenn man seriös handelt, keine zusätzli-
chen Gelder zur Verfügung stehen werden. Denn es ist
so: Wenn man das Budget überschreitet, dann sind diese
Gelder durch nationale Mittel abzudecken. Wenn man
Anträge formuliert und einbringt, dann muss man auch
seriöse Finanzierungsvorschläge machen. Da Sie das in
Ihrem Antrag nicht getan haben, können wir ihm nicht
zustimmen.

Ich darf an dieser Stelle sagen: Die Bundesregierung
hat auch im Haushalt 2008 entsprechende Akzente ge-
setzt. Für den Tropenwaldschutz stehen in diesem Haus-
halt 125 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 40 Mil-
lionen Euro stehen für den Schutz der biologischen
Vielfalt zur Verfügung; in den Jahren 2009 und 2010
wird dieser Betrag um jeweils 15 Millionen Euro jähr-
lich aufgestockt. Das sind, wie ich denke, Aktivitäten
der Bundesregierung, die man würdigen sollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Uns ist wichtig, im Interesse unserer Kinder bzw. der
zukünftigen Generationen tätig zu werden. Deshalb hat
die Bundesregierung aus Union und SPD richtungswei-
sende Beschlüsse gefasst. So werden auch für internatio-
nalen Maßnahmen in diesem Bereich Gelder zur Verfü-
gung gestellt, und zwar aus dem Erlös des Handels mit
den Emissionsrechten. Für Maßnahmen, die nicht auf
nationaler, sondern auf internationaler Ebene durchge-
führt werden, stehen über 100 Millionen Euro zur Verfü-
gung. Das muss man auf all die Ansätze, die ich gerade
genannt habe, noch draufsetzen. Wenn man das tut, stellt
man fest: In finanzieller Hinsicht gehen wir weit über die
in Ihrem Antrag formulierten Forderungen hinaus. Ich
denke, der Weg der Bundesregierung ist richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich darf auf weitere Aktivitäten hinweisen. Nach der
diesjährigen CBD-Konferenz übernimmt Deutschland
für zwei Jahre ihren Vorsitz. Wir werden uns für die bio-
logische Vielfalt in diesem Bereich maßgeblich einset-
zen. Die Koalitionsfraktionen werden mit Blick auf
diese Konferenz ganz konkrete Vorschläge erarbeiten
und einen entsprechenden Antrag auf den Tisch legen.
Wir können aktuell bereits Erfolge vorweisen, zum Bei-
spiel die Selbstverpflichtung der Holzwirtschaft im Rah-
men des EU-Aktionsplans FLEGT.

Es kommt darauf an, dass Kontrollmechanismen ent-
wickelt werden, die dazu beitragen, dass die Maßnah-
men, die wir bereits eingeleitet haben, umgesetzt wer-
den. Es ist wichtig, dass konkrete Vorschläge entwickelt
werden – ich nenne beispielsweise den Vorschlag des Er-
werbs von Konzessionen –, um eine nachhaltige Bewirt-
schaftung sicherzustellen. Denn die Menschen vor Ort
brauchen diese Einnahmen, um überleben zu können.
Wir müssen die Menschen, die vor Ort leben und arbei-
ten, mit einbeziehen. Das ist eine wichtige soziale Kom-
ponente. Darüber hinaus müssen wir für eine nachhaltige
Bewirtschaftung der Wälder mit schützenswerten Kern-
zonen eintreten. Das ist der richtige Weg, den Union und
SPD gemeinsam vorschlagen, weitergehen und erfolg-
reich zu Ende gehen werden.

Es ist sehr wichtig, der Tropenwaldvernichtung Ein-
halt zu gebieten. Ich denke, ich darf sagen: Wir treten
gemeinsam für die Erhaltung des Urwaldes ein. Wir wol-
len eine nachhaltige Entwicklung, um die Lebensgrund-
lagen für die zukünftigen Generationen zu sichern. Die
Union und die Koalition sind auf dem richtigen Weg.
Wir werden erfolgreich sein.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613923000

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1613923100

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich will nahtlos an das anknüpfen, was
Herr Caesar zuletzt gesagt hat: Ich bin angesichts der
Aufgaben, vor denen wir stehen, sehr dafür, Gemein-
samkeiten herauszustellen. Man muss dennoch genau
hinschauen, was in einem Antrag steht und welche Ziel-
setzungen damit verbunden sind.

Die FDP hat sich für Klimaschutz in besonderer
Weise eingesetzt; die Aktivitäten meiner Kollegin Chris-
tel Happach-Kasan im federführenden Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sind ja
bekannt. Wir haben einen Antrag eingebracht, die Wäl-
der als CO2-Senken anzuerkennen. Wir sind sehr daran
interessiert, Ökowaldsysteme zu schützen. Wir haben
darüber hinaus ein Positionspapier für Klimaschutz
durch effektive Landwirtschaft entwickelt. Gesichts-
punkte der Nachhaltigkeit sind uns also nicht fremd.

Lieber Kollege Caesar, Sie haben ein Bild von Indo-
nesien gezeigt. Ich will hier keinen Bruch zwischen uns
beiden herstellen, muss aber sagen: Gerade Sie als
Große Koalition müssen sich fragen, ob Sie Indonesien
mit Ihrer Politik der Biokraftstoffquote, mit dem Bei-
mischungszwang, helfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass der Beimischungszwang dazu führen
wird, dass der Raubbau in diesen Regionen voranschrei-
tet, weil sich die Kleinen vor Ort gegen die Großen – ge-
gen die, die in Europa die Ölpolitik bestimmen – nicht
wehren können.






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Michael Goldmann
Lassen Sie mich jetzt etwas zu den Grünen sagen. Die
Grünen haben bis jetzt für sich in Anspruch genommen
– wir haben sie dabei begleitet; später haben das auch
die Sozialdemokraten und dann auch die CDU/CSU ge-
tan –, den deutschen Bauern, den europäischen Bauern
mit einer verlässlichen Politik Planungssicherheit zu ge-
ben. Minister Seehofer hat gestern im Ausschuss noch
einmal deutlich gemacht, dass wir daran festhalten wol-
len. Das heißt, die Mittel, die die europäische Ebene für
die Landwirtschaft, aber auch für den ländlichen Raum
bereitstellt, stehen bis 2013 nicht zur Disposition.


(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden über Restmittel!)


Deshalb ärgert es mich, liebe Cornelia Behm, wenn
von Frau Künast ein Gastbeitrag zu lesen ist, in dem sie
erklärt, die Agrarsubventionen – die den größten Posten
im EU-Haushalt ausmachen – gehörten endlich abge-
schafft, während die Grünen im Ausschuss einen Antrag
nach dem anderen stellen – zuletzt den Antrag auf
Drucksache 16/7709 zum „Gesundheitscheck der euro-
päischen Agrarpolitik“ –, in dem sie mehr Geld für Kli-
maschutz fordern, in dem sie mehr Geld für den ländli-
chen Raum fordern, in dem sie mehr Geld für ein
Wassermanagement und ähnliche Dinge fordern, in dem
sie eine Erhöhung der Modulationsmittel fordern. Das ist
nichts anderes als ein Umschichten von sogenannten
Subventionen. Den Grünen fehlt es in diesem Fall an je-
der Form von Glaubwürdigkeit. Das ist außerordentlich
bedauerlich.


(Beifall bei der FDP)


Liebe Cornelia Behm, ich bin dafür, wie Herr Caesar
es aufgezeigt hat, etwas für den Urwald und die Ökosys-
teme zu tun. Das ist gar keine Frage. Aber es kann nicht
angehen, dass wir ausgerechnet jetzt, wo endlich ein
bisschen Spielraum für die Landwirtschaft entsteht, wo
die Milchbauern anfangen, aufzuatmen, weil sie erstmals
in der Lage sind, mit Grünland – das, nebenbei gesagt,
eine hervorragende Ökobilanz hat – Ertrag zu erwirt-
schaften, ihr diesen gleich wieder nehmen. So kann Poli-
tik in diesem Bereich nicht betrieben werden.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


Wie gesagt, es ärgert mich, wenn jetzt im Rahmen der
Grünen Woche in der Presse zu lesen ist, was Frau Kün-
ast sagt, und ihr im Ausschuss genau das Gegenteil da-
von fordert. Das ist wirklich nicht glaubwürdig, das
schadet unserer gemeinsamen Sache.

Lassen Sie uns gemeinsam den Weg beschreiten, wie
Herr Caesar das beschrieben hat, wirkliche Hilfe zu ge-
währen! Lassen Sie uns aber auch den heimischen Land-
wirten Planungssicherheit geben! Wir sind im Moment
gerade dabei, die Idee der regionalen Vermarktung, die
Idee der ökologischen Agrarwirtschaft weiter zu veran-
kern. Dafür brauchen die Landwirte in Deutschland ver-
lässliche Rahmenbedingungen. Im Grunde genommen
seid ihr Grünen doch die Miterfinder der Kulturland-
schaftsprämie, mit der bis 2013 umgeschichtet wird:
dass nicht mehr die Produktion gefördert wird, sondern
das gute fachliche Tun auf der Fläche. Cross Compliance
ist doch nichts anderes als praktizierter Umweltschutz,
praktizierter Naturschutz und praktizierter Verbraucher-
schutz.


(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht nicht!)


Ich bitte euch sehr, in diesen Fragen nicht dauernd Wi-
dersprüche in den Raum zu stellen, sondern eine Linie
zu fahren, die uns gemeinsam voranbringt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613923200

Das Wort hat der Kollege Heinz Schmitt aus der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Cajus Caesar [CDU/CSU])



Heinz Schmitt (SPD):
Rede ID: ID1613923300

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Durch die Vorreden haben
wir uns schon über den Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen informieren können. Ich denke, dem in dem Antrag
genannten Ziel können wir alle zustimmen, insbesondere
die Fachpolitiker, die sich mit der Klimapolitik und dem
Schutz der Vielfalt des Lebens, also der Biodiversität,
beschäftigen. Beide Themen gehören unmittelbar zu-
sammen. Ohne Klimaschutz gibt es keine Fortschritte
beim Schutz der Biodiversität – und natürlich umge-
kehrt.

Urwälder – in der Regel Tropenwälder – sind von he-
rausragender Bedeutung für das Weltklima. Sie sind rie-
sige Speicher für das Klimagas CO2. Man sagt zum Bei-
spiel auch, das Amazonasgebiet sei die grüne Lunge der
Erde. Urwüchsige Wälder sind auch Schatzkammern der
biologischen Vielfalt.

Es gibt also mehr als einen Grund, diese speziellen
Ökosysteme verstärkt zu schützen. Dennoch werden
diese Waldgebiete in einem atemberaubenden Tempo
zerstört. Während der 30 Minuten, die wir hier debattie-
ren, verschwindet weltweit eine Waldfläche in der Größe
von über 1 000 Fußballfeldern. In einem Jahr verlieren
wir eine Waldfläche in der Größe des Bundeslandes
Bayern, das ja kein kleines Bundesland ist.

Um diese verheerende Entwicklung zu stoppen, müs-
sen wir rasch handeln. Mit welchen Instrumenten dies
geschehen soll, das ist die Frage. Darüber haben wir
heute auch schon gesprochen.

Gerade beim Schutz der Tropenwälder handelt
Deutschland vorbildlich. Deutschland ist an verschiede-
nen Projekten beteiligt, zum Beispiel an der Waldpart-
nerschaft für das Kongobecken und am Programm Asia
Forest Partnership. Außerdem unterstützen wir das bra-
silianische Pilotprogramm zur Erhaltung der tropischen
Regenwälder, und wir beteiligen uns am Kampf gegen
den illegalen Holzeinschlag im Rahmen des EU-Ak-
tionsplans FLEGT.






(A) (C)



(B) (D)


Heinz Schmitt (Landau)

Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Es gibt bereits die
feste Zusage, eine ganz neue Initiative unter dem Dach
der Weltbank zu unterstützen. Deutschland hat
40 Millionen Euro für die sogenannte Forest Carbon
Partnership Facility bereitgestellt. Die FCPF – so die
Abkürzung – ist zunächst ein Pilotprojekt. Damit sollen
die Entwicklungsländer unterstützt werden, die ihre
Wälder langfristig schützen und damit Emissionen, die
durch Entwaldung entstehen, vermeiden helfen.

Die Weltbank und die beteiligten Geberländer wollen
mit der FCPF Erfahrungen und Wissen sammeln. Diese
Pilotphase ist vom Jahr 2008 bis zum Jahr 2012 ange-
setzt. Falls die Errichtung dieser Waldpartnerschaft er-
folgreich sein wird, soll daraus mittelfristig ein weltwei-
tes Programm für den Waldschutz entwickelt werden.
Dieses Vorhaben geht mit dem Beschluss der Weltge-
meinschaft auf der Konferenz in Bali einher, wo das
Thema Emissionen durch Entwaldung zu einem zentra-
len Thema der Verhandlungen bis 2009 gemacht wurde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, dass Sie mit Ihrem Antrag einen so hohen Bei-
trag von der EU fordern, geht also an den bereits be-
schriebenen Vorhaben der Weltbank vorbei. Wie gesagt:
Die FCPF ist noch ein Versuch. Das sollte man wissen.
Die benötigten Mittel dafür belaufen sich auf
250 Millionen Dollar für einen Zeitraum von fünf Jah-
ren. Ein großer Betrag davon ist bereits fest zugesagt,
insbesondere aus den EU-Ländern. Es besteht aber ein
weiterer Finanzierungsbedarf. Die in Ihrem Antrag ge-
nannten 200 Millionen Euro sind dabei bei weitem zu
hoch angesetzt. Bevor neue Geldgeber angesprochen
werden, müssen die Einzelheiten dieses neuen Instru-
mentes abschließend geklärt und untersucht werden.

Ein ganz wichtiger Punkt: Es ist auch zu überlegen,
ob eine so wichtige Aufgabe wie der Urwaldschutz ge-
nerell aus ungenutzten Haushaltsmitteln finanziert wer-
den sollte. Der Schutz der Wälder in den Tropen sollte
nicht aus Restposten finanziert werden. Sollte sich die
FCPF bewähren, dann kann man sicherlich auch über
eine ordentliche Finanzierung des Urwaldschutzes durch
die EU nachdenken.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von Bünd-
nis 90/Die Grünen, aus diesen Gründen müssen wir Ih-
ren Antrag ablehnen, so leid es mir persönlich auch tut.
Im Ziel sind wir uns dennoch einig.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613923400

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin

Heike Hänsel das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613923500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Waldschutz ist ein lebenswichtiges, ja überlebenswichti-
ges Thema. Es ist gut, dass das Problem der Entwaldung
in Bezug auf die zunehmende Erderwärmung – auch im
Umfeld von Bali – wieder stärker ins Blickfeld geraten ist.
Indonesien wurde bereits als Beispiel genannt. Aufgrund
großflächiger Abholzungen steht dieses Land mittlerweile
auf Platz drei der Liste mit den weltweit größten Emitten-
ten von klimaschädlichen Gasen. Sollten die bis zu
20 Meter dicken Torfböden unter den Wäldern Zentral-
Kalimantans vollständig trockengelegt werden, würden
50 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent nach und nach
freigesetzt. Das entspricht ungefähr dem 50-Fachen des
CO2-Ausstoßes Deutschlands. Diese Zahlen zeigen ganz
klar: Tropenwaldschutz ist nicht nur Schutz der Biodiver-
sität, sondern immer auch Klimaschutz.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir unterstützen die Grünen bei dem eigentlichen
Ziel ihres Antrags. Aber das vorgeschlagene Instrument
lehnen wir ab. Die Forest Carbon Partnership Facility
der Weltbank, um die es hier geht, ist in unseren Augen
leider der direkte Weg, den Regelwaldschutz in den Han-
del mit Treibhausgaszertifikaten einzubinden. Genau das
halten wir für einen falschen Weg.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Bereits jetzt ist die Bundesrepublik der größte Geber der
PCFC. Das ist kein Wunder; denn das BMZ hat sie über
Jahre mitentwickelt. Von den 100 Millionen Euro kom-
men allein 40 Millionen Euro aus Deutschland. Die Grü-
nen wollen nun, dass die EU noch einmal 200 Millionen
Euro draufpackt. Aber wofür? Zunächst sollen 20 Län-
der fit gemacht werden, damit sie in der Lage sind, den
wirtschaftlichen Wert des Waldes und der Abholzungen
monetär zu erfassen. Im zweiten Schritt sollen ausge-
wählte Länder für vermiedene Abholzungen entlohnt
werden. Das hört sich erst einmal gar nicht so schlecht
an. Doch letztendlich läuft das Ganze darauf hinaus, ver-
miedene Abholzungen in ein Handelssystem mit Treib-
hausgasen einzubeziehen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau!)


Es geht gerade nicht darum, einen Fonds zu bilden, um
großflächig Schutzgebiete zu finanzieren und gegebe-
nenfalls Nutzer zu entschädigen. Eine solche Strategie
würden wir unterstützen. Indonesien hat gerade erst an-
geboten, für 5 bis 15 Dollar pro Hektar dafür zu sorgen,
dass die Entwaldung in Kalimantan unverzüglich ge-
stoppt wird. Ähnliche Angebote der Kompensation ka-
men aus anderen Waldländern. Seltsamerweise hat nie-
mand auf Bali darauf reagiert. Die Weltbank hatte gerade
die PCFC aus dem Hut gezaubert.

Klimapolitisch ist die Einbindung des Tropenwald-
schutzes in Kohlenstoffmärkte im besten Fall ein Null-
summenspiel. Das, was an Abholzung und damit an
Emissionen vermieden würde, würde über den Emis-
sionsrechtehandel automatisch in Europa mehr ausgesto-
ßen. So funktioniert dieser Markt. Der Rückgang der
Entwaldung muss in unseren Augen aber zusätzlich zu
den Reduktionsverpflichtungen der Industriestaaten er-
folgen. Ansonsten verfehlen wir das 2-Grad-Ziel.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Heike Hänsel
Abgesehen davon bestehen jede Menge ungelöste
methodische Probleme. Wie werden beispielsweise
Baseline und Referenzszenario bestimmt? Gehen wir
hier von sinkenden Abholzungsraten wie in Brasilien
oder von steigenden wie in Indonesien aus? Wandern
Abholzungen nach Zertifikatszuteilung einfach in andere
Gebiete? Wer bekommt überhaupt Zertifikate? Was pas-
siert, wenn der Wald zum Beispiel durch Blitzschlag ab-
brennt? Das zusätzliche CO2, das über den Zertifikats-
weg in Europa dann bereits ausgestoßen wurde, bleibt
schließlich mehr als 100 Jahre in der Atmosphäre.

Klar ist: Es ist ein höchst kompliziertes System mit
jeder Menge Manipulationsmöglichkeiten. Wir kennen
das leidlich von den CDM-Projekten. Wir halten deshalb
die direkte Finanzierung von Schutzgebieten, nachhalti-
ges Waldmanagement und gegebenenfalls Nutzerent-
schädigungen für eine bessere Lösung, und zwar immer
unter Einbeziehung der in und von den Wäldern leben-
den Bevölkerung. Wir wissen, dass das kein einfacher
Weg ist. Es ist aber in unseren Augen der bessere Weg.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613923600

Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1613923700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir reden jetzt zum wiederholten Male in dieser Legis-
laturperiode über das Thema Urwaldschutz, auf der
Grundlage verschiedener Anträge und in verschiedenen
Zusammenhängen. Das ist sicherlich gut angesichts der
zeitlichen Dimension der Entwaldung. Manchmal denke
ich aber auch, dass diese Debatten, die wir führen, später
einmal als historische Debatten betrachtet werden, dass
eine Politikergeneration nach uns sich nur noch in
schriftlicher Form darüber informieren kann, über was
wir hier eigentlich geredet haben; denn es kann gut sein,
dass wir in 10 oder 15 Jahren solche Debatten gar nicht
mehr führen können, weil dann das, über das wir hier re-
den, nicht mehr vorhanden ist.

In dem Sinne, Frau Kollegin Hänsel, ist es schon frag-
würdig, wenn Sie hier das Instrument der Forest Carbon
Partnership Facility an sich infrage stellen. Natürlich
wäre es schön, es würde so viel Geld vom Himmel reg-
nen, dass wir alles auf einmal finanzieren könnten. Aber
ich glaube, wenn wir die Möglichkeit haben, über einen
internationalen Fonds die Entwaldung zu stoppen und
der Zerstörung Einhalt zu gebieten, dann ist es auch ge-
rechtfertigt, das in den Kohlenstoffhandel ein Stück weit
einzubeziehen. Wir müssen sehen, dass ein Land wie In-
donesien ganz legal ein Drittel seiner verbleibenden
Waldfläche zur Konversion freigegeben hat, um dort
Palmölplantagen errichten zu können. Das machen die
nicht aus Jux und Tollerei; Indonesien ist ein armes
Land. Die CO2-Emissionen, die daraus entstehen, sind
real; das ist kein theoretisches Rechenspiel. Ich glaube
schon, dass es Sinn machen kann, über CDM und Zerti-
fikatehandel Geld zur Verfügung zu stellen, um das zu
schützen und zu bewahren.

Dass das nicht das Einzige an Geld sein muss, was
wir dorthin geben, da gebe ich Ihnen recht. Deswegen
kommen die Mittel, die die Bundesregierung in einer
Vorreiterrolle zur Verfügung stellt, aus anderen Quellen.
Ich kann als Entwicklungspolitiker an dieser Stelle nur,
wie es die Kollegen vor mir schon getan haben, noch
einmal lobend erwähnen, dass wir seitens des Bundesmi-
nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung jetzt insgesamt fast 1 Milliarde Euro für Kli-
maschutzmaßnahmen in den Entwicklungsländern zur
Verfügung stellen, davon – es wurde schon gesagt –
165 Millionen Euro für Tropenwaldschutz und Schutz
der Biodiversität, und dass wir bei der Forest Carbon
Partnership Facility mit 40 Millionen Euro der größte
Geber sind.

Ich möchte an dieser Stelle aber neben den Klima-
schutzfragen und den Fragen der Biodiversität – die sehr
wichtig sind, weswegen wir auch die Tropenwälder
schützen – auch die Armutsdimension in diese Debatte
einbringen. Denn der Grund, warum auf vielen Tropen-
wäldern ein hoher Druck liegt, ist auch darin zu suchen,
dass die Länder nicht über die Hightechindustrie und die
Wirtschaftskraft verfügen, um auf andere Weise Einnah-
men generieren zu können.

Deswegen, Herr Kollege Goldmann, finde ich es
nicht zielführend und auch nicht lauter, wenn man die
Beimischungspflicht in Deutschland kritisiert und sagt,
dass das dazu führe, dass Tropenwälder abgeholzt wür-
den. Denn man kann das auch so organisieren, dass die
Tropenwälder geschützt werden und trotzdem die Ent-
wicklungsländer Flächen für Biotreibstoffe entwickeln.
Es gibt ganz viele brachliegende Flächen, auf denen das
möglich ist, nicht nur in Indonesien, sondern auch in La-
teinamerika und in Afrika. Darin liegen große Chancen
für die Entwicklungsländer, und gleichzeitig wird bei
uns das Klima geschützt. Wir werden dafür sorgen, dass
hier Zertifizierungssysteme greifen, dass nur Öl aus
nachhaltig angebauter Biomasse eingeführt werden
kann. Ich würde den Entwicklungsländern diese Chance
nicht verwehren wollen.

Auf der anderen Seite müssen wir Geld in die Hand
nehmen, damit die Entwicklungsländer für die Einnah-
men, die ihnen verloren gehen, wenn sie nicht die Wäl-
der abholzen, entschädigt werden. Das haben wir in
Europa schließlich auch gemacht, als wir noch nicht die
Industrie hatten, die wir jetzt haben.

Deswegen sage ich: Lasst uns die Entwicklungsländer
entwickeln, aber ihnen gleichzeitig Hilfestellung geben,
damit der Wald dort nachhaltig geschützt werden kann
und die Menschen davon profitieren können. Denn
Schutzgebiete sind ohne Einbeziehung der Menschen
nicht nachhaltig.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613923800

Kollege Raabe, kommen Sie bitte zum Schluss.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1613923900

Ich komme gerne zum Schluss. – Ich glaube, dass wir

hier seitens der Bundesregierung auf einem guten Weg
sind und dass der Antrag der Grünen an sich in die rich-
tige Richtung geht. Aber zur Beschaffung des Geldes
haben wir viele Möglichkeiten. Wir sollten parteiüber-
greifend alle gemeinsam dafür sorgen, dass es zusam-
menkommt.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613924000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7710 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz beraten werden soll. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Trennungsübernachtungsgeld während Aus-
landseinsatz weiterzahlen

– Drucksache 16/7002 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Haushaltsausschuss

Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden der fol-
genden Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben
werden: Robert Hochbaum für die Unionsfraktion, Rolf
Kramer für die SPD-Fraktion, Birgit Homburger für die
FDP-Fraktion, Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke
und Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7002 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Die Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln

– Drucksache 16/7748 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss

1) Anlage 4
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen, wo-
bei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten
erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613924100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Neuaufbruch in der Politik für Menschen mit Behin-
derungen hin zur Teilhabe und Selbstbestimmung hat
unter Rot-Grün begonnen. Im Sozialrecht fand dieser
Neuaufbruch sogar die Unterstützung aller Fraktionen.
Das Sozialgesetzbuch IX war und ist gut. Es wurde viel-
fach bejubelt und gepriesen. Aber irgendwann ist die
Zeit des Schulterklopfens auch einmal vorbei, und man
muss wieder anfangen, die Ärmel hochzukrempeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist doch auffällig, dass es seit den aktiven Zeiten
von Rot-Grün gerade im Bereich des Sozialrechts für
Menschen mit Behinderungen keine Fortschritte mehr
gegeben hat. Dies gilt, obwohl in der Eingliederungs-
hilfe für Menschen mit Behinderungen – und nicht nur
dort – nach wie vor große Strukturprobleme bestehen
und die quantitative Entwicklung ganz eindeutig ist.

Noch immer sind die drei großen institutionellen Blö-
cke, nämlich Sonderschule, Wohnheim und Werkstatt für
Menschen mit Behinderungen, prägend für die große
Mehrheit der Menschen mit hohem Unterstützungsbe-
darf. Die Zahlen sind alarmierend: Im Bereich des statio-
nären Wohnens stieg trotz großer Anstrengungen, die
ambulanten Angebote auszubauen, die Zahl der Plätze
von 164 000 im Jahr 2000 auf nunmehr 195 000. Bei den
Werkstattplätzen ist die Entwicklung noch viel dramati-
scher: Es gab im Jahr 2000 einen Anstieg von 194 000
auf nunmehr 268 000 mit Zuwachsraten von über
4 Prozent in jedem Jahr.

Damit einher geht natürlich ein entsprechender An-
stieg der Kosten. Auch hier will ich eine Zahl nennen:
Die Nettokosten der Eingliederungshilfe, die von den
Kommunen, den Sozialhilfeträgern getragen werden, be-
laufen sich im Jahr 2006 auf 10,5 Milliarden Euro. Trotz
dieser eindeutigen und hier nur ganz kurz angerissenen
Diagnose verzeichnen wir seit 2005 einen totalen gesetz-
geberischen Stillstand. Bundesregierung und Bundeslän-
der fordern sich wechselseitig zum Handeln auf. Aber
ein greifbares Ergebnis liegt noch nicht vor. Man muss
nicht über hellseherische Fähigkeiten verfügen, um am
Ende dieser Legislaturperiode sagen zu können, dass sie
für Menschen mit Behinderungen verloren gewesen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörg Rohde [FDP] und des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


Markus Kurth
Dies ist umso bedauerlicher, als die Große Koalition
über die entsprechende Mehrheit verfügt, um Struktur-
veränderungen anzuschieben. Aber das Einzige, das sie
gemacht haben, war, den Spielraum des Bundes für
Strukturveränderungen durch die Föderalismusreform
einzuschränken.

Was ist nun aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen zu
tun? Die Voraussetzung für neue Schritte wäre zunächst
die Einsicht in die Notwendigkeit, dass es sich bei Teil-
habeleistungen für Menschen mit Behinderungen um
Nachteilsausgleiche und nicht um Fürsorgeleistungen
handelt.Das Prinzip des Nachteilsausgleichs muss hier
zum bestimmenden sozialrechtlichen Prinzip werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Die zweite Voraussetzung wäre eine konsequente
Orientierung an der personenbezogenen Hilfe statt einer
Organisation von Hilfe entlang existierender Strukturen,
in die sich Menschen mit Behinderungen allzu oft einfü-
gen müssen, ob sie wollen oder nicht.

Was so selbstverständlich klingt, ist leider nicht Wirk-
lichkeit. Erst im Dezember 2007 hat das Hamburger So-
zialgericht entschieden, dass es dem schwerbehinderten
Herrn Hans-Jürgen Leonhard zuzumuten sei, gegen sei-
nen Willen in einem Heim gepflegt zu werden, obwohl
ein medizinisches Gutachten belegt, dass die Pflege in
diesem Heim möglicherweise lebensverkürzend ist.
Nach Meinung des Gerichts wäre eine Unzumutbarkeit
der Versorgung in einer stationären Einrichtung nur ge-
geben, wenn Herr Leonhard durch die Pflege in konkre-
ter Lebensgefahr schweben würde. Dieses Urteil ist ein
Skandal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Dieses Beispiel sollte uns nicht nur als Gesetzgeber zu
denken geben und zum Handeln auffordern, sondern es
sollte uns auch als Menschen anrühren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Denn jeder und jede von uns kann durch einen Unfall
oder eine Krankheit in die gleiche Situation wie dieser
Herr Leonhard kommen.

Deswegen müssen, aufbauend auf den genannten
Prinzipien, die Schritte umgesetzt werden, die wir in un-
serem Antrag vorschlagen: Wir brauchen die Nichtan-
rechnung von Einkommen und Vermögen etwa bei der
Inanspruchnahme ambulanter Leistungen. Wir müssen
Bürokratie abbauen. Wir müssen endlich die über
60 verschiedenen Berechnungsverfahren in der Einglie-
derungshilfe vereinheitlichen und für die Menschen mit
Behinderung transparent machen. Wir müssen die zahl-
reichen verstreuten finanziellen Nachteilsausgleiche, die
es jetzt schon gibt, in einem einheitlichen Teilhabegeld
zusammenfassen.
All das sind machbare und pragmatische Schritte. Ich
hoffe, dass wir das unvoreingenommen gemeinsam in
den Ausschüssen beraten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich hoffe, dass wir uns alle an Art. 19 der UN-Konven-
tion über die Rechte der Menschen mit Behinderungen
orientieren, die die Bundesregierung ja unterzeichnet
hat. Dort heißt es – Frau Präsidentin, ich komme gleich
zum Schluss –:

Die Vertragsstaaten … anerkennen das gleiche
Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit glei-
chen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in
der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame
und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Be-
hinderungen den vollen Genuss dieses Rechts … zu
erleichtern …

Wenn wir uns diese – bald völkerrechtlich verbindliche –
Zielsetzung zu eigen machen, bleibt eigentlich nicht viel
anderes, als dem Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen zu
folgen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613924200

Das Wort hat der Kollege Hubert Hüppe für die

Unionsfraktion.


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1613924300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema
„Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Men-
schen mit Behinderungen“. Dieser Antrag enthält einige
Punkte, die ich sehr sympathisch finde. Es gibt ein paar
Punkte, die ich nicht ganz so gut finde; auch das gebe ich
zu. Andere finde ich wünschenswert, aber sehr schwierig
in der Umsetzung, weil sie – das wurde vom Kollegen
Kurth gerade gesagt – kostenintensiv sind.

Aber der eigentliche Fehler an diesem Antrag ist, dass
er viel zu spät kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Sie tun nichts, und unser Antrag kommt zu spät?)


– Es wäre mir zu billig, jetzt zu sagen: Das hättet ihr in
der Zeit machen können, als ihr regiert habt. – Doch da-
rum geht es gar nicht, wenngleich das natürlich zutrifft.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Viel entscheidender ist, dass wir zu der Zeit, als Rot-
Grün an der Regierung war, noch keine Föderalismusre-
form hatten und es jetzt wesentlich schwieriger ist – das
muss man einfach so sagen; darüber waren wir uns im
Haus doch auch eigentlich weit und breit einig –, Ge-






(A) (C)



(B) (D)


Hubert Hüppe
setze zu machen, die dazu führen, dass den Kommunen
und den Ländern zusätzliche Kosten entstehen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613924400

Kollege Hüppe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kurth?


Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1613924500

Ja, gern.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613924600

Herr Hüppe, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,

dass die Föderalismusreform mit den Stimmen der Frak-
tion der CDU/CSU – möglicherweise auch mit Ihrer
Stimme – und mit den Stimmen der SPD-Fraktion, mit-
hin von der jetzt regierenden Großen Koalition, be-
schlossen wurde?


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie war ja auch richtig! – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Die war schlecht! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1613924700

Nein, ich habe das nicht kritisiert. Ich habe gesagt,

wir seien uns im Großen und Ganzen einig gewesen,
dass es richtig ist.

Wenn Sie Ihre grünen Fraktionen in den Stadt- und
Gemeinderäten fragten, ob sie es richtig fänden, dass nur
noch Gesetze beschlossen werden, deren Kosten der
Bund trägt und nicht die Gemeinden, dann würden Sie
bei Ihren grünen Kolleginnen und Kollegen auf kommu-
naler Ebene große Zustimmung ernten, lieber Kollege
Kurth.

Meine Damen und Herren, wir bestreiten überhaupt
nicht, dass eine Weiterentwicklung der Eingliederungs-
hilfe notwendig ist. Wir müssen sie wirklich zukunftssi-
cher machen: nicht nur, weil die Kostenseite zu beachten
ist, sondern auch, weil in vielen Bereichen die Eingliede-
rungshilfe nicht mehr einer modernen Politik für Men-
schen mit Behinderung im Hinblick auf gesellschaftliche
Teilhabe entspricht. Weil dies so ist, sind viele Punkte in
dem Antrag auch richtig.

Tatsache ist, im Jahre 2006 bezogen 643 000 Men-
schen Leistungen der Eingliederungshilfe. Die Zahl der
Leistungsempfänger steigt beständig; natürlich steigen
damit auch die Kosten. Dies hat zwei Gründe. Der erste
Grund ist ein historischer: Bis 1945 wurden Menschen
mit Behinderungen systematisch im NS-System erfasst
und ermordet. Sie waren im Übrigen – das darf man
auch angesichts des morgigen Datums sagen – die ersten
Opfer des Massenmordes der Nazis. Der zweite Grund
ist, dass der medizinische Fortschritt Gott sei Dank dazu
geführt hat, dass gerade Menschen mit Behinderungen
eine deutlich höhere Lebenserwartung haben, als dies
noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Das heißt,
liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns noch we-
sentlich mehr Gedanken darüber machen müssen, wie
das Hilfesystem angepasst werden muss.
Was passiert mit den Menschen, die die Werkstätten
verlassen, weil sie ins Rentenalter kommen? Wir sind si-
cherlich alle der Auffassung, dass sie nicht im Pflege-
heim, sondern in Einrichtungen der Eingliederungshilfe
landen sollten.


(Silvia Schmidt [Eisleben] [SPD]: Nicht in Einrichtungen, sondern zu Hause!)


– Das wäre noch viel besser, Frau Kollegin; das gebe ich
zu. Aber einige Menschen mit Behinderungen, die jetzt
in Rente gehen, kommen leider in Pflegeheime. Mir
wäre es lieber, sie bekämen Hilfen der Eingliederungs-
hilfe.

Was geschieht mit den sterbenden Menschen mit so-
genannter geistiger Behinderung? Ich mag diesen Be-
griff nicht; aber er steht immer noch in den Gesetzen.
Haben sie geeignete Zugänge zur Palliativmedizin oder
zu Hospizen? Über diese Fragen haben wir uns vor eini-
gen Jahren noch keine Gedanken gemacht. Jetzt aber
müssen wir uns dringend darum kümmern.

Natürlich müssen wir uns auch fragen, wie wir mit
der Kostenentwicklung umgehen. Insofern bin ich den
Grünen dankbar, dass sie an einer Stelle offen gesagt ha-
ben, egal, wie sehr die Kosten steigen, solange der Bund
sich daran beteiligt, sei alles in Ordnung. Tatsächlich
brauchen wir aber echte Strukturreformen. Wenn heute
der Landkreistag und andere lautstark über die hohen
Kosten der Eingliederungshilfe klagen, dann ist dies
zwar richtig; andererseits muss man auch wissen, dass
durch die Pflegereform die Sozialhilfe bei der Hilfe zur
Pflege erheblich entlastet worden ist. Dies wird selten
erwähnt, wenn man das Thema Sozialhilfekosten an-
spricht.

Die Reform der Eingliederungshilfe bleibt für die
CDU/CSU-Fraktion ein zentrales Thema. Wir stehen
zum Koalitionsvertrag. Dort haben wir gesagt, dass wir
diese Reform mit den Gemeinden und den Ländern, aber
vor allen Dingen auch – das ist mir sehr wichtig – mit
den Betroffenen und ihren Verbänden gestalten wollen.
Letztere wissen am ehesten, wie man die Probleme lösen
kann und wie die besten Hilfen aussehen. Menschen mit
Behinderungen sind die Experten, wenn es um Behin-
dertenpolitik geht.

Darüber muss man aus meiner Sicht wirklich ergebnis-
offen reden. Ich habe manchmal das Gefühl, dass dies
nicht so ist und dass manchmal auch interessengeleitet
argumentiert wird. Wenn ich von ergebnisoffen spreche,
dann bedeutet dies auch, lieber Kollege Kurth, dass die
im Antrag vorgeschlagenen Änderungen ernsthaft ge-
prüft werden müssen. Deswegen werden wir uns in den
Ausschüssen damit auseinandersetzen.

Es gibt aber auch viele Punkte, in denen wir schon ei-
nen Konsens erzielt haben. Erstens muss die ambulante
Hilfe Vorrang haben, und zwar nicht, weil sie für billiger
gehalten wird – sie kann durchaus auch teurer sein –,
sondern weil es dem Anspruch auf Teilhabe in der Ge-
sellschaft entspricht, der aus meiner Sicht eher gewähr-
leistet werden kann, wenn man in der gewohnten Umge-
bung statt in einer Heimeinrichtung leben kann.






(A) (C)



(B) (D)


Hubert Hüppe
Aus meiner Sicht ist dafür notwendig, dass wir die
Umwelt in unseren Städten und Gemeinden barrierefrei
gestalten und dass Unterstützungsangebote geschaffen
werden. Man kann die Menschen schließlich nicht ein-
fach auf der Straße sich selbst überlassen, wie es zum
Beispiel in den Vereinigten Staaten passiert ist. Dort hat
man unter dem Motto der Gleichberechtigung alle aus
den Einrichtungen entlassen. Die sind dann unter den
Brücken gelandet, weil sich niemand mehr um sie ge-
kümmert hat. Das ist nicht unsere Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zweitens – darin sind wir uns ebenfalls einig – ist
nicht der Sitz der Leistungserbringer entscheidend. Das
Spannungsverhältnis zwischen überörtlichem und örtli-
chem Sozialträger soll aufgelöst werden – das wird im
Antrag gefordert –, um eine Kostenverschiebung zu ver-
meiden, die nicht an den Interessen der Betroffenen
orientiert ist, sondern derjenigen, die versuchen, die
Kosten wegzudrücken. Ich glaube, dass es einige Fehl-
entwicklungen gibt, die wir relativ schnell beseitigen
sollten.

Ich will zum Schluss zwei Fälle schildern, die mich
sehr beeindruckt haben. In meinem Landkreis Unna gibt
es einen heilpädagogischen Kindergarten nur für behin-
derte Kinder, die aus den anderen Städten in diesem
Kreis dorthin gefahren werden müssen. Die Kosten wer-
den vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe getragen.
Wenn man aber das Kind in einem Regelkindergarten
unterbringen kann, dann trägt der Landschaftsverband
nur seinen Trägeranteil. Interessant ist dabei, obwohl das
kostengünstiger ist, weil die Kosten für die Fahrt von
den Städten in die Kreisstadt entfallen, dass die Eltern
den Kindergartenbeitrag zahlen müssen.

Ich finde es im Übrigen nicht falsch, dass die Eltern
einen Kindergartenbeitrag zahlen, aber sie müssten ihn
gegebenenfalls auch in der Behinderteneinrichtung zah-
len. Denn ich glaube, dass behinderte und nichtbehin-
derte Kinder auch in diesem Punkt gleich behandelt wer-
den müssen. Es kann aber nicht sein, dass derjenige, der
eine Sondereinrichtung besucht, nichts zahlen muss, und
derjenige, der sein Kind in einem Regelkindergarten un-
terbringt, schlechter behandelt wird. Das ist meiner Mei-
nung nach unter dem Gesichtspunkt der Integration nicht
richtig und entspricht nicht dem Bild, das ich von einer
modernen Behindertenpolitik habe.

Ich würde gerne auch auf das zweite Beispiel einge-
hen, aber ich sehe schon die rote Lampe.


(Jörg Rohde [FDP]: Die rote Laterne! – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Besser als die rote Laterne! – Heiterkeit)


– Nein, dafür ist ein anderer Kollege zuständig, der
schon einmal eine mitgebracht hat.

Wir werden diesen Antrag gründlich prüfen. Das ist
dem Kollegen Kurth klar. Es wird ein sehr schwieriger
Weg. Die Union hat sich aber, denke ich, dadurch ausge-
zeichnet – das gilt im Übrigen auch für die anderen Frak-
tionen; das muss man ihnen zugestehen –, dass wir in der
Behindertenpolitik sachorientierte Entscheidungen ge-
troffen haben. Wir haben auch damals in der Opposition
wichtigen Entscheidungen zugestimmt, als es um das
SGB IX und das Bundesgleichstellungsgesetz ging.


(Zuruf von der SPD: Richtig!)


Wir sollten uns unabhängig von den Fraktionsgrenzen
für das entscheiden, was richtig ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613924800

Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1613924900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Die Kollegen Kurth und Hüppe haben die
aktuelle Situation zutreffend beschrieben und Beispiele
genannt. Deswegen werde ich mich in meinen Ausfüh-
rungen auf den Stand der Beratungen konzentrieren. Ich
freue mich, dass durch die Initiative der Grünen heute
das Thema Eingliederungshilfe auf die Tagesordnung
des Deutschen Bundestages gekommen ist. Es ist aber
sehr schade, dass es dazu immer wieder der Oppositions-
fraktionen im Parlament bedarf; denn eigentlich, werte
Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition,
müsste die Initiative von Ihnen ausgehen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben im Koalitionsvertrag die Weiterentwicklung
der Eingliederungshilfe versprochen. Getan hat sich aber
bis auf viel zerschlagenes Porzellan bei der Behinderten-
beauftragten nichts.

Um Ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, zi-
tiere ich die entsprechende Passage aus dem schwarz-
roten Koalitionsvertrag:

Die Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbst-
hilfe und Selbstbestimmung ist eine gesellschaftli-
che Aufgabe. Gemeinsam mit den Ländern, Kom-
munen und den Verbänden behinderter Menschen
werden wir die Leistungsstrukturen der Eingliede-
rungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig
ein effizientes und leistungsfähiges System zur Ver-
fügung steht. Dabei haben der Grundsatz „ambulant
vor stationär“, die Verzahnung ambulanter und sta-
tionärer Dienste, Leistungserbringung „aus einer
Hand“ sowie die Umsetzung der Einführung des
Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert.
Wir wollen, dass die Leistungen zur Teilhabe an
Gesellschaft und Arbeitsleben zeitnah und umfas-
send erbracht werden. Hierzu bedarf es der effekti-
ven Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, das war
Ende 2005. Jetzt haben wir bereits Anfang 2008, und ich
frage Sie heute: Was haben Sie davon umgesetzt?


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Nichts!)







(A) (C)



(B) (D)


Jörg Rohde
Die Antwort ist beschämend: Nichts. Der Versuch der
Verbändebeteiligung ist bereits im Ansatz gescheitert,
nachdem die Behindertenbeauftragte den Verbänden ver-
kündet hat, substanzielle Änderungen stünden in dieser
Legislaturperiode ohnehin nicht mehr auf der Tagesord-
nung.

Auch mit Ländern und Kommunen scheint es keinen
Dialog zu geben; sonst hätte Ihnen die Arbeits- und So-
zialministerkonferenz der Bundesländer nicht im No-
vember letzten Jahres mit 16 : 0 Stimmen ein Ultimatum
gesetzt, bis zur nächsten Konferenz im November dieses
Jahres endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen. Es ist
kein Wunder, dass die Länder langsam nervös werden;
denn – wir haben es eben schon gehört – die Ausgaben
der Kreise und Kommunen für die Eingliederungshilfe
steigen seit Jahren kräftig. So verwundert es auch nicht,
dass aus den Ländern Rufe nach einer Beteiligung des
Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe lauter
werden, wie zuletzt von der Arbeits- und Sozialminister-
konferenz, wie schon erwähnt, im vergangenen Novem-
ber.

Völlig zu Recht wird im Koalitionsvertrag festge-
stellt, dass die Unterstützung von Selbstständigkeit,
Selbsthilfe und Selbstbestimmung eine gesellschaftliche
Aufgabe ist, die nach Auffassung der FDP auch die fi-
nanzielle Solidarität zwischen Bund, Ländern und Ge-
meinden erfordert. Mit dieser Aufgabe dürfen die Kreise
und Kommunen nicht alleine gelassen werden.


(Beifall bei der FDP)


In welcher Form das zu geschehen hat, muss eingehend
geprüft werden. Die FDP im Deutschen Bundestag ist
noch nicht festgelegt. Klar ist aber, dass diese Mammut-
aufgabe keinen Aufschub mehr duldet; denn die Weiter-
entwicklung der Eingliederungshilfe ist nicht nur eine
sozialrechtliche Frage, sondern auch eine gesellschaftli-
che Aufgabe. Es geht um Menschen und deren Chancen
auf Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft.
Diese Aufgabe darf man nicht auf die lange Bank schie-
ben; denn jeder vergeudete Tag ist eine vergeudete
Chance für viele Behinderte in Deutschland.


(Beifall bei der FDP)


Mit dem Antrag der Linken zu einem Nachteilsaus-
gleichsgesetz, den heute zur Beratung stehenden Vor-
schlägen der Grünen für die Weiterentwicklung der Ein-
gliederungshilfe sowie den Empfehlungen der Arbeits-
und Sozialministerkonferenz stehen bereits mehrere Mo-
delle für eine Weiterentwicklung einer teilhabeorientier-
ten Politik für Menschen mit Behinderungen im politi-
schen Raum. Auch die FDP wird sich mit eigenen
Vorschlägen in die Debatte einbringen. Wir befinden uns
seit Monaten im Gedankenaustausch mit allen Akteuren
der Eingliederungshilfe.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit Monaten?)


Das Führen einer Diskussion setzt aber voraus, dass
die Bundesregierung überhaupt erst einmal in die De-
batte über die Eingliederungshilfe eintritt. Den Hand-
lungsbedarf dafür zeigt der mehr als schleppende Start
des trägerübergreifenden Persönlichen Budgets ein-
drucksvoll auf. Die Bedarfsermittlung, die Leistungsge-
währung sowie die Leistungserbringung hinken dem
fortschrittlichen und zu begrüßenden Ansatz des Persön-
lichen Budgets weit hinterher. Wenn das Budget ein Er-
folg werden soll, müssen jetzt geeignete Rahmenbedin-
gungen dafür hergestellt werden. Wir wissen alle, dass
diese Aufgabe ein sehr großer Brocken ist. Umso wichti-
ger ist es, dass die Große Koalition jetzt mit der Reform
der Eingliederungshilfe beginnt; denn das Ende der Le-
gislaturperiode rückt immer näher, und die Erfahrung
lehrt uns, dass in Wahlkampfzeiten keine heißen Eisen
mehr geschmiedet werden.

Ich möchte zum Abschluss meiner Rede noch hinzu-
fügen: Das ist eine der ganz wenigen Debatten zur Be-
hindertenpolitik. Wir haben noch 13 Minuten; ich habe
die Rednerliste gesehen. Es ist kein Redner der Bundes-
regierung da. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir die
Position der Bundesregierung zum Thema Eingliede-
rungshilfe und eine Mitteilung zum Stand der Beratun-
gen innerhalb der Bundesregierung zu hören bekommen.


(Beifall bei der FDP)


Wenn ich recht gesehen habe, ist auch die Behinder-
tenbeauftragte nicht da.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo ist sie denn?)


Es ist sehr schade, dass wir den Dialog nicht in diesem
Parlament führen können; denn die Beratungen für die
Gesetze sollen doch im Plenum stattfinden. Ich finde es
bedauerlich; aber wir werden dann eben in den Aus-
schüssen die Details beraten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613925000

Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1613925100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Rohde, ich
möchte gleich am Anfang die Behindertenbeauftragte
entschuldigen. Wie Sie wissen, werden manche Termine
sehr langfristig vereinbart. So kommt es zu Terminkolli-
sionen. Ich bitte hier einfach um Verständnis. Sie ist, wie
ich glaube, bei Verbänden im Brandenburgischen.

Ich möchte noch einmal auf den einen oder anderen
Punkt eingehen. Wir sind uns ja generell einig hier im
Hause. Wir haben alles gemeinsam gestaltet. Wir alle
wollen, wie ich glaube, dasselbe. Es gibt nur wenige Un-
terschiede dabei.

Von einem gesetzgeberischen Stillstand kann man
nicht wirklich reden, Markus. Ich erinnere nur an die Ge-
sundheitsreform SGB V im Bereich der häuslichen
Krankenpflege. Auch die Länder und die Kommunen
haben ja Verantwortung im Rahmen der Daseins-






(A) (C)



(B) (D)


Silvia Schmidt (Eisleben)

vorsorge, die sie auch teilweise wahrgenommen haben;
das wissen wir alle.

Ein anderer Punkt, den du, Markus, sehr treffend an-
gesprochen hast, betrifft den Bereich der Schulen. Hier
müssten die Länder handeln; das vermisst man zum Teil.
So sollten sie nämlich versuchen, Kindern mit Behinde-
rungen einen Besuch von normalen Schulen zu ermögli-
chen. Europaweit liegt der Prozentsatz bei 80 Prozent,
bundesweit liegt er bei 15 Prozent. Damit stellen wir uns
wirklich ein ausgesprochen schlechtes Zeugnis aus. Ich
war bei der Stiftung Pfennigparade in München. Sie hat
insoweit etwas auf den Weg gebracht, als sie ihre Son-
derschulen, für Körperbehinderte und auch für alle ande-
ren Kinder der Stadt München öffnete. Und es funktio-
niert.

Kostenintensiv ist ein Begriff, der mir, wenn er be-
nutzt wird, immer etwas wehtut. Wenn ich miterleben
muss, dass eine Gesellschaft es nicht fertigbringt, Men-
schen zu unterstützen, die ihre Unterstützung brauchen,
und ständig nur von Kosten redet, wird mir teilweise
schwindlig. Es gibt aber auch andere Beispiele. So hat
Unna aufgezeigt – das Beispiel ist vorhin erwähnt wor-
den –, wie man mit einfachsten Instrumenten wie einer
Wohnberatung in hervorragender Weise Kosten bei der
Pflegeversicherung, der Krankenversicherung, der Ein-
gliederungshilfe und der Altenhilfe sparen kann. Vor
diesem Hintergrund frage ich mich ernsthaft, warum wir
immer noch so den Schwerpunkt auf den stationären Be-
reich legen.

Lieber Kollege Hüppe, Sie haben gerade älter wer-
dende Behinderte angesprochen. Bei unseren Woh-
nungsbaugesellschaften stehen viele Wohnungen leer.
Wir müssen keine neuen Einrichtungen bauen, sondern
im Rahmen unserer gesetzgeberischen Möglichkeiten
dafür sorgen, dass verstärkt barrierefreier Wohnraum ge-
schaffen wird. Alles andere wäre albern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Kein Widerspruch!)


– Ich weiß das. Ich denke, wir sind uns da einig. Das
Entscheidende hierbei ist ja vor allen Dingen, dass keine
neuen Kosten auf uns zukommen.

Liebe Kollegen, wir haben gemeinsam, auch mit den
Betroffenen sowie den Leistungserbringern und den
Kostenträgern, das SGB IX geschaffen. Hiermit gibt es
nun ein Instrument, das der medizinischen Rehabilita-
tion, der Selbstbestimmung und der Teilhabe dient. Am
Leben in der Gemeinschaft sollte jeder einzelne Mensch
mit Behinderungen teilnehmen können. Das war unser
Grundanliegen. Dies haben wir in Gesetzesform gegos-
sen.

Was ist passiert? Das SGB IX zeigt nicht die Erfolge,
die wir uns vorgestellt haben.


(Rolf Stöckel [SPD]: Das stimmt!)


Ich denke nur an das Wunsch- und Wahlrecht in § 9. Das
Beispiel des behinderten Herrn Leonhard, das du, Mar-
kus, gesagt hast, zeigt doch ganz eindeutig: Hier wird
dem Wunsch- und Wahlrecht einfach nicht nachgegeben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle sollten uns
noch einmal gemeinsam an das entsprechende Sozialamt
wenden und deutlich machen, dass das, was dort ge-
schieht, einfach ein Skandal ist und sich gegen die Men-
schenwürde richtet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen uns auch fragen, wieso es an der Umset-
zung des SGB IX hapert. Eigentlich wissen wir es doch.
Im Grunde genommen muss man jedem recht geben, der
sagt: Die Leistungs- und die Kostenträger haben kein In-
teresse daran, den Menschen mit Behinderungen das
Wunsch- und Wahlrecht zu gewähren. Die Menschen
mit Behinderungen könnten ja den Wunsch äußern, wo-
anders zu leben als dort, wo sie jetzt leben.

Neulich hat sich eine Sozialdezernentin an mich ge-
wandt und gefragt: Frau Schmidt, wann geht es denn mit
dem Persönlichen Budget los? Wir sollten immer vor
Augen haben, dass die Bundesregierung in Person von
Karin Evers-Meyer durch die Lande reist und ständig
predigt, dass die Einführung des Persönlichen Budgets
für Menschen mit Behinderungen ein Weg ist, den wir
einschlagen sollten. Ich glaube, das müssen wir als Ab-
geordnete genauso tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ein ganz wesentlicher Bestandteil sind natürlich auch
unsere berühmt-berüchtigten Servicestellen. Diese Stel-
len arbeiten noch gar nicht so, wie wir es wollen. Die be-
hinderten Menschen werden weiterhin von A nach B ge-
schickt und erhalten ihre Leistungen nicht aus einer
Hand.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen wir schon seit Jahren! Das ist doch nicht neu!)


Warum existieren die Servicestellen noch nicht? Man hat
wohl keine Lust, behinderten Menschen Selbstbestim-
mung zuzubilligen. Das muss natürlich geändert werden.
Das wissen wir. Ich möchte gern einmal das BMAS zi-
tieren:

Das Kernproblem ist nicht das geltende Recht,

– Markus, das weißt du. –

sondern das Festhalten von Leistungsträgern und
Leistungsanbietern an verfestigten, interessengelei-
teten Sicht- und Verfahrensweisen und natürlich
auch eine eiskalte Sparwut.

Genau das ist unser Problem.


(Beifall der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD])


Daher sollten wir uns noch einmal zusammensetzen.

Dass das notwendig ist, hat auch der Antrag der
Grünen deutlich gezeigt. Ich verweise auf den Fall






(A) (C)



(B) (D)


Silvia Schmidt (Eisleben)

Leonhard. Dabei geht es um SGB XII § 13. Dort steht:
Ambulanten Leistungen der Sozialhilfe ist nur so lange
Vorrang zu gewähren, solange sie nicht mit unzumutba-
ren Mehrkosten verbunden sind. In diesem Paragrafen
ist aber auch geregelt, dass die Versorgung zumutbar
sein muss. Das war im Fall Leonhard überhaupt nicht so.
Man hat sich über das Kriterium der Zumutbarkeit hin-
weggesetzt. Man hat billigend in Kauf genommen – das
Gutachten hat es aufgezeigt –, dass das Leben dieses
Mannes automatisch verkürzt wird, wenn er in eine Ein-
richtung kommt. Ich muss noch einmal sagen: Das ist
skandalös.


(Beifall bei der SPD)


Der berechtigte Bedarf eines Einzelnen, das Wunsch-
und Wahlrecht, muss nicht nur im Persönlichen Budget
Ausdruck finden; vielmehr muss dieser Bedarf, egal wie
klein er ist, uns dazu veranlassen, der Menschenwürde
eines jeden Einzelnen auch gerecht zu werden. Wenn wir
das Wunsch- und Wahlrecht nicht im Gesetz aufnehmen,
sondern immer wieder beiseiteschieben – ich verweise
auf das, was im SGB IX steht; dort heißt es, dass es bei
der Budgetverteilung keine Mehrkosten geben dürfe –,
dann brauchen wir uns mit Selbstbestimmung und dem
Gedanken der Teilhabe überhaupt nicht mehr auseinan-
derzusetzen.

Wir müssen die Bereiche SGB IX – das Budget darf
die vorhergehenden Kosten nicht übersteigen –,
SGB XII § 13 aufgreifen und ändern. Dazu hätten wir
hier im Deutschen Bundestag im Rahmen der Großen
Koalition die Möglichkeiten. Darauf wurde zu Recht
hingewiesen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Sie auch!)


– Nein, lieber Ilja.

Wir müssen vor allen Dingen den schwerstmehrfach-
behinderten Menschen gegenüber im Deutschen Bun-
destag Rechnung tragen. Wir müssen klarstellen: Ihr
habt genauso wie jeder andere Mensch die Möglichkeit,
da zu leben, wo ihr leben möchtet, egal wie hoch euer
Budget ist. Ich kann Ihnen versichern – das zeigen die
Evangelische Stiftung Alsterdorf, der große Träger
Hephata und das Johanneswerk –: Man ambulantisiert;
man nimmt schwerstmehrfachbehinderte Menschen aus
den Einrichtungen heraus, ohne dass das höhere Kosten
nach sich zieht. Das sollten wir uns einfach einmal auf
der Zunge zergehen lassen, und wir sollten nicht immer
diese kleinkarierten Kostenberechnungen durchführen.

Ich möchte jetzt nicht über die Teilhabe am Arbeitsle-
ben diskutieren. Markus, wie wir wissen, müssen auch
da Veränderungen stattfinden. Es darf nicht mehr so sein,
dass Menschen automatisch in geschützte Werkstätten
kommen. Aber es ist auch eine Frage der Ausgleichsab-
gabe: Was passiert tatsächlich mit der Ausgleichsab-
gabe?

Ich komme auf mein Petitum zu sprechen. Heute
wurde noch einmal über die Pflegestützpunkte disku-
tiert. Wir reden hier immer über vernetzte Strukturen.
Übrigens haben BMJ und BMI bestätigt – das können
Sie gerne nachlesen –, dass die im Zusammenhang mit
den Pflegestützpunkten getroffene Regelung nicht ver-
fassungswidrig ist. Gerade Menschen mit Behinderun-
gen verzichten oft auf Pflegegeld. Häufig wissen sie
überhaupt nicht, welche Möglichkeiten es im Rahmen
der Pflegeversicherung gibt. Für diese Menschen ist es
ein großer Vorteil, dass sie nur noch eine einzige Anlauf-
stelle haben, von der sie ihre Informationen bekommen.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das haben wir bei den gemeinsamen Servicestellen auch geglaubt!)


Ich glaube, das ist der wesentliche Punkt.

Auch ich war bei der Anhörung. Es war nicht unbe-
dingt so, dass man gesagt hat: Pflegestützpunkte sind
schlecht. Ganz im Gegenteil: Die Aktion Psychisch
Kranke hat sich positiv über die Pflegestützpunkte geäu-
ßert. Die AWO hat sich positiv geäußert. Herr Schiffer
vom VdAK hat sich positiv geäußert. Viele Einzelsach-
verständige haben sich positiv geäußert. Wenn man dem
endlich einmal folgt und vernetzte Strukturen schafft,
und zwar im Rahmen der Pflegestützpunkte in Koopera-
tion mit den Servicestellen, dann stärken wir die Ser-
vicestellen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613925200

Kollegin Schmidt, Sie müssen die Lektüre des Anhö-

rungsprotokolls verschieben und zum Schluss kommen.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1613925300

Ich bedanke mich ganz herzlich und freue mich sehr

auf eine interessante Diskussion im Ausschuss.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613925400

Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613925500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Dies ist eine klassische Situa-
tion, an der sich zeigen lässt, dass ein Ziel auf verschie-
denen Wegen erreicht werden kann. Heute diskutieren
wir über einen Antrag der Grünen, nach dem die Einglie-
derungshilfe aus dem Bereich der Sozialhilfe herausge-
nommen und in einem eigenständigen Gesetz geregelt
werden soll. Die Linke hat vor einem Jahr einen Antrag
eingebracht – Herr Rohde hat es schon erwähnt –, mit
dem sie ein Nachteilsausgleichsgesetz für Menschen mit
Behinderungen auf den Weg bringen will, das eine ähnli-
che Wirkung hätte. Es gäbe noch einen dritten Weg: Wir
könnten das SGB IX endlich zum Leistungsgesetz um-
formen, womit in etwa das gleiche Ziel erreicht werden
kann.

Was passiert aber in Wirklichkeit? Die Regierungs-
koalition schickt ihre behindertenpolitische Sprecherin
bzw. ihren behindertenpolitischen Sprecher vor. Die sa-
gen: Alles dufte, wir sind auf eurer Seite. Ich befürchte,
dass ihr bei der Abstimmung mit euren Fraktionen gegen
den vorliegenden Antrag stimmen werdet.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
Lasst uns deshalb mal Butter bei die Fische geben.
Herr Kurth und die Grünen schlagen im Grunde genom-
men vor, die Eingliederungshilfe von der Nachrangigkeit
zu befreien und die Bedürftigkeitsprüfung abzuschaffen.
Wunderbar, das ist ganz prima. Der Einwand wird aber
lauten, dass die Nachrangigkeit das Hauptmerkmal der
Sozialhilfe ist. Deswegen befürchte ich, dass wir auf die-
sem Weg nicht dahin kommen werden, wohin wir kom-
men wollen. Grundsätzlich würde ich gerne mit Ihnen
gehen, wenn Sie schon nicht unserem Antrag zum Nach-
teilsausgleichsgesetz folgen, der wesentlich weiter geht.
Das ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613925600

Kollege Dr. Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Kurth?


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613925700

Aber gerne.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613925800

Bitte.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613925900

Kollege Seifert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-

men, dass das Nachrangigkeitsprinzip bei der Eingliede-
rungshilfe bereits jetzt an vielen Stellen ganz anders ge-
regelt ist als bei der Hilfe zum Lebensunterhalt?


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Kann man mit Ja oder Nein beantworten!)


Das ist im Übrigen begründet; denn die Hilfe zum Le-
bensunterhalt betrifft prinzipiell jede Person. Sind Sie
bereit, mir zuzustimmen, dass eine Behinderung einen
besonderen Nachteil darstellt und insofern die Verände-
rungen beim Nachrang, die im geltenden Sozialrecht be-
stehen, gerechtfertigt sind und von Rot-Grün vorgenom-
men worden sind?


(Beifall bei der SPD)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613926000

Selbstverständlich kenne ich die Rechtslage, lieber

Kollege Kurth. Selbstverständlich weiß ich das. Ich
finde euren Vorschlag ja gut. Ich befürchte nur, dass die
Gegenargumente durchschlagend sein werden.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Nein! Das ist jetzt schon so!)


Wenn wir die gemeinsam ausräumen können, dann habt
ihr mich auf eurer Seite. Wenn wir einen Schritt in die
richtige Richtung gehen können, selbst wenn er mir zu
kurz ist, gehe ich doch gerne mit.


(Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Ich befürchte, Sie machen das nicht!)


– Ich rolle mit, wenn Ihnen das lieber ist. Das ist kein
Problem.

Kommen wir zum Thema zurück. Wir brauchen für
Menschen mit Behinderungen ein Gesetz, in dem klar
definiert wird, dass behinderungsbedingte Nachteile aus-
zugleichen sind. Das ist das Thema. Darum geht es. Wir
wollen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die glei-
chen Chancen wie andere haben. Lieber Markus Kurth,
ich möchte nicht nur, dass Art. 19 der UNO-Konvention
für Menschen mit Behinderungen umgesetzt wird, son-
dern dass die gesamte UNO-Konvention in nationales
Recht umgesetzt wird. Diese Konvention, die die Bun-
desregierung unterschrieben hat und angeblich so stark
unterstützt – wollen wir einmal sehen, wie es bei der Ra-
tifizierung aussieht –, sagt nämlich verbindlich, dass die
Staaten dafür zu sorgen haben, dass Menschen mit Be-
hinderungen in ihnen gut leben können, und nicht, dass
sich die behinderten Menschen den Strukturen in den
Staaten anpassen müssen. Das ist ein wirklicher Paradig-
menwechsel. Wenn wir das umgesetzt haben, dann ha-
ben wir wirklich etwas erreicht.


(Beifall bei der LINKEN – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Dann könnte Rot-Rot in Berlin ja eine Menge machen!)


Wenn wir die UNO-Konvention tatsächlich ratifizieren
und umsetzen, sind wir auf einem guten Weg. Dann
kommen wir zusammen.

In dieser konkreten Situation liegen dem Bundestag
zwei Anträge vor – der Kollege Rohde von der FDP hat
einen dritten angekündigt –, über die in den Ausschüssen
geredet werden muss. Lasst uns eine vernünftige Anhö-
rung veranstalten, um die Sachverständigkeit der Exper-
ten in einer eigenen Sache tatsächlich zu nutzen. Liebe
Silvia Schmidt, in diesem Punkt sind wir einer Meinung.
Lasst uns die Experten anhören und fragen, was an den
Anträgen gut ist, wo es Nachbesserungsbedarf gibt und
wo noch etwas fehlt. Lasst uns dann gemeinsam – in die-
ser Diskussionrunde waren Gemeinsamkeiten zu erken-
nen – ein Gesetz verabschieden, mit dem behinderungs-
bedingte Nachteile tatsächlich bekämpft werden können.
Ob das Gesetz am Ende SGB IX oder sonst wie heißt, ist
mir wurscht. Wichtig ist nicht, was darüber steht, son-
dern der Inhalt des Gesetzes.

Was das anbelangt, haben wir gemeinsam noch viel
zu tun. Ich freue mich darauf. Wenn die Einigkeit so
groß ist wie jetzt in der Debatte, werden wir noch in die-
ser Legislaturperiode ein tolles Ziel erreichen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613926100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7748 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Birgitt Ben-
der, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen

– Drucksachen 16/4852, 16/5674 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Johannes Pflug
Harald Leibrecht
Wolfgang Gehrcke
Marieluise Beck (Bremen)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Birgitt
Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Menschenrechte in Zentralasien stärken

– Drucksachen 16/2976, 16/5588 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Johannes Jung (Karlsruhe)

Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck (Köln)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staats-
minister Gernot Erler.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1613926200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zentralasien ist eine faszinierende Weltregion mit fünf
Ländern, annähernd 60 Millionen Menschen, einer stau-
nenswerten Geschichte und Kultur, einer Vielfalt an
Landschaften und Naturschönheiten und erheblichen
Ressourcen und Reichtümern.

Andere Mächte haben sich schon ab Mitte der 90er-
Jahre dieser Region stärker zugewandt. Die EU hat dies
aus verschiedenen Gründen sehr spät getan. Sie hat sich
eine Zeit lang nur begrenzt mit den zentralasiatischen
Staaten beschäftigt. Das hat sich während der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des vergan-
genen Jahres geändert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben uns sehr intensiv mit dieser Region beschäf-
tigt. Im Ergebnis haben wir im Einvernehmen mit den
Partnerländern im Juni 2007 die EU-Zentralasienstrate-
gie beschließen können und erhebliche Mittel – die ge-
planten Mittel wurden verdoppelt – für die Umsetzung
dieser Strategie bereitstellen können.

Man kann also sagen – das wird international aner-
kannt –: Die EU-Zentralasienstrategie ist unser Kind.
Wir wollen das Kind aber nicht ins Internat stecken, son-
dern uns selbst um das Wachstum und Gedeihen dieses
Kindes kümmern. Wir wissen, dass andere Präsident-
schaften andere Schwerpunkte setzen. Wir wollen da am
Ball bleiben.


(Beifall bei der SPD)


Schon im Juni dieses Jahres ist eine erste Revision der
Bemühungen vorgesehen. Bis dahin ist es möglich und
auch nötig, konkrete Projekte zu definieren. Wir sind da-
bei vorangekommen und haben einige sichtbare Schwer-
punkte im Kopf. Dazu einige Stichpunkte: Rechtsstaat
einschließlich Menschenrechtsdialog, Bildung, Wasser-
und Energieverbundsystem in der Region, Grenz-
management und Drogenbekämpfung. Ich kann all das
hier gar nicht ausbreiten, sondern möchte mich auf den
Bereich Rechtsstaat und Menschenrechte konzentrieren.
Hier sind wir mit einem Rechtsberatungszentrum in
Taschkent gut vorbereitet.

Ganz entscheidend ist der Menschenrechtsdialog.
Dieser ist ja auch Thema der hier vorgelegten Anträge.
Wir haben uns von vornherein intensiv mit Usbekistan
beschäftigt, weil ja hier durch die tragischen Ereignisse
vom Mai 2005 in Andischan ein großes Problem vorlag.
Wir haben mit den Usbeken einen strukturierten, nach-
haltigen Menschenrechtsdialog vereinbaren können,
dessen erste Runde am 9. Mai 2007 stattgefunden hat
und der im Mai dieses Jahres fortgesetzt werden soll.
Wir werden die Menschenrechte auch in weiteren Bera-
tungen mit Usbekistan zum Gegenstand machen. Wir
konnten mit Usbekistan zudem ein Expertenseminar
zum Thema „Liberalisierung der Medien“ vereinbaren.

Man kann sagen, dass allein die Aufnahme dieses Dia-
logs schon ein wichtiges Ergebnis und ein Erfolg der
Zentralasienstrategie der EU ist. Es gibt auch konkrete
Fortschritte: die Abschaffung der Todesstrafe, die Ein-
führung des Habeas-Corpus-Prinzips und Korrekturen in
einer ganzen Reihe von Einzelfällen. Das ist natürlich
nur ein Anfang, der weitergeführt werden muss.

Wir müssen aber nicht nur mit Usbekistan vorankom-
men, sondern natürlich auch mit den vier anderen Staa-
ten. Mit Turkmenistan ist schon ein Ad-hoc-Dialog über
Menschenrechte begonnen worden.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613926300

Herr Staatsminister, Sie können natürlich weiterre-

den, aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass
Sie jetzt auf Kosten der Redezeit Ihrer Kolleginnen wei-
tersprechen.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1613926400

Genau das will ich nicht machen. Ich wollte gerade

sagen, dass ich jetzt nicht mehr auf die anderen mögli-
chen Leuchtturmprojekte eingehen werde, sondern nur
noch einmal versichern möchte, dass wir unser Engage-
ment, wirklich sichtbare, konkrete Projekte zu entwi-
ckeln, fortsetzen werden und mit der EU-Kommission
und dem Sonderbeauftragten Pierre Morel gern zusam-
menarbeiten.






(A) (C)



(B) (D)


Staatsminister Gernot Erler
Ich freue mich, dass zu so später Stunde so viele Kol-
leginnen und Kollegen Interesse für dieses wichtige
Thema zeigen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613926500

Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1613926600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die vor etwas mehr als einem halben Jahr vor-
gelegte Zentralasienstrategie der Europäischen Union
war überfällig. Wir als FDP-Fraktion begrüßen, dass es
so etwas gibt und dass es ein umfassender Ansatz ist, der
verschiedene Themenbereiche umfasst, beispielsweise
auch strategische Interessen wie die Energieversorgung.
Eine Komponente ist die Nabucco-Pipeline, die explizit
dazu beiträgt, dass wir uns bezüglich unserer Energielie-
feranten diversifizieren.

Die Zentralasienstrategie umfasst auch Projekte in
den Bereichen Bildung und Umwelt, Bekämpfung der
organisierten Kriminalität und des Menschenhandels,
aber insbesondere auch der Förderung des Rechtsstaates
und der Menschenrechte. Diese politischen Ziele teilen,
glaube ich, wir alle in diesem Hause. Es ist zunächst ein-
mal festzuhalten, dass es ein großer Fortschritt ist, dass
es eine EU-Strategie zu diesem Thema gibt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Instrumente, die zur Verfügung stehen, sind viel-
fältig. Eine enge politische Kooperation, Treffen auf
Ministerebene in regelmäßigen Abständen und Men-
schenrechtsdialoge sind vorgesehen. Ein eigener Sonder-
beauftragter der Europäischen Union wurde eingesetzt.
Wir haben Ziele und Instrumente. Nichtsdestotrotz ist es
richtig, wenn die Grünen heute sagen: Das, was wir ver-
abschiedet haben, muss mit Leben gefüllt werden; denn
Ziele und Instrumente müssen effektiv zur Wirkung ge-
bracht werden, sodass wir Fortschritte erzielen.

Uns als FDP-Fraktion ist die Verbindung von Werten
und Interessen wichtig. Warum? Weil eine gewisse Über-
einstimmung von Grundwerten den Rahmen für die Mög-
lichkeiten einer Zusammenarbeit steckt. Wenig Überein-
stimmung von Werten bedeutet, dass es auch wenige
Möglichkeiten für Kooperation gibt. Eine hohe Überein-
stimmung hinsichtlich der Werte erweitert die Koopera-
tionsmöglichkeiten. Hierfür sind in vielen zentralasia-
tischen Staaten natürlich noch große Fortschritte nötig.

Das Stichwort Rechtssicherheit ist ein Beispiel. Pacta
sunt servanda – dieser Grundsatz ist für uns wichtig. Nur
die Stabilität und Verlässlichkeit eines Rechtssystems
sind Garant dafür, dass wir im Energiebereich und im
wirtschaftlichen Bereich mit den zentralasiatischen Staa-
ten zusammenarbeiten können. Effektiver Rechtsschutz
ist notwendig. Sicherheit setzt voraus, dass es kein Will-
kürstaat ist, der eine trügerische Form von Stabilität ga-
rantiert, aber im Kern höchst fragil ist. Deswegen ist das
Existieren eines Rechtsstaats Garant dafür, dass diese
Staaten stabil und sicher sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der Menschenrechtsschutz wird in der EU-Zentral-
asienstrategie sehr betont; das ist wichtig. Denn in allen
fünf Ländern Zentralasiens gibt es im Hinblick auf Men-
schenrechte und Demokratie Probleme. Allerdings muss
man differenzieren. Diese Probleme sind nicht in allen
fünf zentralasiatischen Staaten gleichermaßen ausge-
prägt. Generell finden wir in all diesen Staaten ein
schwieriges Arbeitsumfeld für Nichtregierungsorganisa-
tionen vor, insbesondere in Turkmenistan und Usbekis-
tan.

Was sich in Usbekistan in den Folterkellern des Staa-
tes abspielt, ist geradezu abscheulich und gehört zum
Schlimmsten, was in Sachen Folter auf der ganzen Welt
passiert. Im letzten Jahr hat dieser Staat der VN-Men-
schenrechtskommissarin Louise Arbour übrigens einen
Besuch verweigert; auch das ist bemerkenswert.

Nahezu alle zentralasiatischen Staaten haben Pro-
ble
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1613926700
Das ist mehr als nur ein Problem. Dort ist da-
mals ein schweres Verbrechen begangen worden. Das
hat es in dieser Form in keinem anderen zentralasia-
tischen Staat gegeben. Insofern ist die Feststellung, dass
Usbekistan für uns ein ganz besonders schwieriger Part-
ner ist, richtig.

Ich glaube, es muss daran festgehalten werden, dass
die internationale Staatengemeinschaft das, was in
Andischan passiert ist, unabhängig überprüft und dass
daraus Konsequenzen gezogen werden. Was bisher pas-
siert ist, ist völlig unzureichend. Von der usbekischen
Regierung müssen immer wieder weitere Anstrengungen
eingefordert werden.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Angelika Graf [Rosenheim] [SPD])


Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht – so geht
es in Deutschland vielen –, dass die Sanktionen gegen
dieses Land, die insbesondere aus Reisebeschränkungen
bestanden, ausgerechnet unter deutscher Ratspräsident-
schaft und kurz vor der Veröffentlichung der EU-Zen-
tralasienstrategie gelockert worden sind. Dafür muss
man triftige Gründe anführen. Alleine das Sich-Einlas-
sen auf einen Menschenrechtsdialog ist doch noch kein
Erfolg. Das ist erst die Voraussetzung für künftige Er-
folge.

Man muss sich einmal überlegen, welches Signal
man an alle Länder in dieser Region sendet, wenn man
eine Sanktion, die im Zusammenhang mit dem Massa-
ker verhängt wurde, das in Andischan begangen wor-
den ist – hier sind keine Fortschritte festzustellen –, be-
reits bei einem solch geringen Zugeständnis wie der
Bereitschaft, miteinander zu reden, lockert. Das hat






(A) (C)



(B) (D)


Florian Toncar
nicht die Zustimmung der FDP gefunden. Ich glaube,
dadurch hat die deutsche Menschenrechtspolitik ein
gutes Stück ihrer Glaubwürdigkeit verloren.


(Beifall bei der FDP)


Wünschenswert wäre, dass die Staaten, die für reale
Verbesserungen sorgen, auch etwas davon haben. Das
wäre der Ansatz der Liberalen im Bundestag.

Zu den Anträgen der Grünen möchte ich sagen: Sie
sind fundiert,


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie immer, Herr Kollege!)


und wir erkennen ein hohes Maß an inhaltlicher Über-
einstimmung. Das möchte ich an dieser Stelle betonen.
Jeder kann erahnen, warum ich das tue. In der letzten
Woche habe ich nämlich etwas anderes gesagt. Dieses
Mal stimmen wir Ihren beiden Anträgen zu. Ich glaube,
sie sind Beispiele dafür, wie man diese Strategie tatsäch-
lich mit Leben füllen kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613926800

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Holger

Haibach das Wort.


Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1613926900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden
wahrscheinlich nie erfahren, wer hinter der Ermordung
des usbekischen Journalisten Alisher Saipov und hinter
dem brutalen Raubüberfall auf den deutschen Journalis-
ten Marcus Bensmann steckt. Unabhängig davon, ob es
sich bei diesen beiden Vorfällen um bloße Gewalttaten
ohne jeden Hintergrund handelt oder ob es, wie manch-
mal vermutet wird, Verbindungen zum Beispiel zum us-
bekischen Geheimdienst gibt, steht fest: Das Leben für
Journalisten – allerdings nicht nur für Journalisten – ist
in Zentralasien gefährlich. Diese Taten müssen ganz
deutlich verurteilt werden; ich glaube, das kann ich im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen sagen. Denn die
Pressefreiheit ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zentralasien hat schon sehr früh, seit Beginn der 90er-
Jahre, eine wichtige Rolle in der deutschen Außenpolitik
gespielt. Da manchmal so getan wird, als sei das ganz
neu, möchte ich darauf hinweisen: Die Regierung von
Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher war eine der
ersten Regierungen weltweit, die die zentralasiatischen
Staaten nach ihrer Unabhängigkeit anerkannt und diplo-
matische Beziehungen zu ihnen aufgebaut hat. Insofern
war es konsequent und begrüßenswert, dass die Bundes-
regierung diesen Faden wieder aufgenommen und Zen-
tralasien zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Außen-
politik und der deutschen Ratspräsidentschaft gemacht
hat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es ist völlig klar – das hat auch der Staatsminister an-
gesprochen –, dass wir in Zentralasien mannigfaltige In-
teressen und Einflussmöglichkeiten haben. Wir müssen
unsere Interessen verfolgen und unsere Einflussmöglich-
keiten nutzen; denn diese Region ist für uns wichtig.
Zentralasien hat für Deutschland und für die Europäi-
sche Union, wenn es um die Frage der Sicherheit geht,
eine wichtige Bedeutung. Die zentralasiatischen Staaten
sind nicht nur Nachbarn Afghanistans. Usbekistan ist für
uns auch insofern wichtig, als wir mit Termes einen
Bundeswehrstützpunkt haben, der für unseren ISAF-
Einsatz dringend notwendig ist. Auch die Niederländer
wickeln Flüge über diesen Stützpunkt ab. Im Übrigen
will ich darauf hinweisen, dass die Franzosen Ähnliches
in Duschanbe haben. Es wird ja immer der Eindruck er-
weckt, wir seien die einzigen, die sich in dieser Region
aufhalten. Doch das ist definitiv falsch. – Das war der
erste Punkt.

Der zweite Punkt: Wir brauchen diese Länder auch
bei der Drogenbekämpfung und im Kampf gegen den
Terrorismus. Zentralasien, insbesondere Turkmenistan,
hat sehr große Erdgasvorkommen. Auch deshalb haben
wir ein großes Interesse daran, diese Länder auf unsere
Seite zu bekommen; der Kollege Toncar hat schon da-
rauf hingewiesen. Es ist natürlich eine Frage, wie wir un-
sere Energiesicherheit gewährleisten, da wir in Zukunft
– weil unsere eigenen Ressourcen abnehmen, aber viel-
leicht auch deshalb, weil wir politische Entscheidungen
treffen, die heute aber nicht zu diskutieren sind – noch
stärker von Importen aus dem Ausland abhängig wer-
den. Auch deswegen ist eine Region wie Zentralasien
von entscheidender Bedeutung. Auch deshalb haben wir
große Interessen in dieser Region.

Wir haben ein Interesse daran, dass sich diese Staaten
auf die Dauer stabil entwickeln, damit wir wirtschaftlich
gut zusammenarbeiten können, aber auf der Basis von
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Genau da beginnt
das Problem. Denn es handelt sich bei all diesen Staaten
im Hinblick auf die Achtung der Menschenrechte, um es
ganz vorsichtig zu formulieren, nicht gerade um Muster-
knaben; auch darauf ist schon hingewiesen worden.

Bei einer solchen Zentralasienstrategie gibt es zwei
Probleme. Das erste ist: Es handelt sich um sehr unter-
schiedliche Staaten. Auf der einen Seite stehen relativ
weit entwickelte Länder wie Kasachstan, auf der ande-
ren Seite Länder wie Turkmenistan, das gerade erst da-
mit begonnen hat, sich zu öffnen. Mit der Abordnung
des Menschenrechtsausschusses – die Kollegin Graf war
auch dabei – waren, wenn man von der Kollegin Wege-
ner absieht, die kurz vor uns da war, seit Jahren die ers-
ten Abgeordneten des Deutschen Bundestages in dieser
Region, in diesem Land. Das zeigt sehr deutlich, wie ab-
geschlossen dieses Land ist und dass es mit einem Land
wie Kasachstan nicht vergleichbar ist.

Das zweite Problem ist, die unterschiedlichen Interes-
sen vernünftig in Einklang zu bringen. Da ist die Frage
der Energiesicherheit, da ist die Frage der Stabilität, da
ist die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, da ist






(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach
der Kampf gegen den Terrorismus, und natürlich müssen
wir für Demokratie und Menschenrechte eintreten. Das
alles sind sehr schwierige, nicht einfach in Einklang zu
bringende Interessen.

Deshalb muss man schauen: Wie greift die Zentral-
asienstrategie? Ich finde es richtig, dass in der Zentral-
asienstrategie die Menschenrechte einen so prominenten
Platz einnehmen. Ich finde es auch richtig, dass man ver-
sucht, das miteinander zu verbinden. Jetzt, nachdem ei-
nige Zeit vergangen ist, kann man einmal schauen, wo
wir an der Stelle stehen. Wir müssen – bei allem, was zu
Recht über die Fortschritte wie den Menschenrechtsdia-
log mit Usbekistan, den Ad-hoc-Dialog mit Turkmenis-
tan gesagt worden ist – sicherlich feststellen, dass wir
nicht so weit sind, wie wir gerne wären.

Deswegen stellt sich die Frage, wie wir uns ausrich-
ten, wenn es in Zukunft um die Aufhebung der Sanktio-
nen gegen Usbekistan geht. Diese Frage ist von großer
Bedeutung. Meine persönliche Meinung ist, dass es zum
jetzigen Zeitpunkt – diese Frage steht ja demnächst an –
ein falsches Zeichen wäre, weiterhin darauf zu drängen,
die Sanktionen zu lockern; denn so groß sind die Fort-
schritte beileibe nicht, dass wir das zulassen könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir würden auch deshalb ein falsches Zeichen setzen,
weil von einer solchen Entscheidung eine Sogwirkung
auf andere Länder ausgeht. Wenn wir hier zu nachgiebig
sind, werden wir unsere Ziele nicht erreichen. Ich ver-
hehle nicht, dass es Fortschritte gibt, zum Beispiel die
Abschaffung der Todesstrafe in Usbekistan. Aber ich
glaube nicht – gerade vor dem Hintergrund, was wir von
Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights
Watch hören –, dass das ausreicht, um davon sprechen
zu können, dass wir dort schon gute Verhältnisse hätten.

Die zweite Frage ist: Setzen wir die notwendigen Mit-
tel ein? Die EU investiert 750 Millionen Euro in ihre
Zentralasienstrategie. Das ist sehr viel Geld; aber man
darf sich nichts vormachen: Das ist wesentlich weniger,
als ein Land wie China an dieser Stelle investiert. Wenn
wir das wirklich ernst meinen, wenn wir dort wirklich
investieren wollen und wenn wir neben Russland, China
und übrigens auch der Türkei, die dort eine sehr große
Rolle spielt, wirklich ernst genommen werden wollen,
dann stellt sich natürlich die Frage, ob das wirklich ge-
nug ist und ob wir da die richtigen Prioritäten setzen.

Der dritte Punkt, der in diesem Zusammenhang aus
meiner Sicht ausgesprochen wichtig ist, ist die Frage, ob
wir es schaffen, alle Punkte, die in der EU-Zentral-
asienstrategie genannt sind, wirklich miteinander zu ver-
binden. Machen wir unsere wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und die Zusagen auf den verschiedensten Gebieten
wirklich davon abhängig, dass Fortschritte bei der
Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie erzielt werden?

Orientiert sich der Menschenrechtsdialog an nach-
vollziehbaren Zielen? Ich bin immer für Dialog; denn
ohne Dialog wird man nichts erreichen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich bin aber gegen Dialog als Feigenblattveranstaltung.


(Beifall der Abg. Angelika Graf [Rosenheim] [SPD])


Es kann nicht sein, dass der Dialog sozusagen dafür her-
halten muss, dass wir sagen können, einmal darüber ge-
redet zu haben, während wir ansonsten weiterhin einfach
„business as usual“ betreiben. Ich denke, das kann und
darf es nicht sein.

Die beiden Anträge der Grünen, die uns heute vorlie-
gen, bieten aus meiner Sicht wichtige Ansätze. Beson-
ders gefällt mir, dass die starke Rolle der OSZE in dieser
Region betont wird. Die OSZE und ODIHR machen dort
eine wirklich wichtige Arbeit, und sie verdienen unsere
volle Unterstützung – gar keine Diskussion.

Mir fehlen in den Anträgen aber einige Punkte, zum
Beispiel der Zugang des IKRK zu den Gefängnissen – in
Usbekistan, aber auch in anderen Ländern. Einer der bei-
den Anträge ist schon etwas älter. Das merkt man ihm
auch an. Deswegen werden wir ihm nicht nähertreten
können, obwohl ich, wie gesagt, viele wichtige Punkte
darin finde.

Ich komme zum Schluss. Es gibt eine Ausarbeitung
vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundes-
tages über die Zentralasienstrategie der EU. Ich finde, in
dem Ausblick in dem Papier wird das so gut zusammen-
gefasst, dass man es nicht besser zusammenfassen kann.
Dort heißt es:

Die EU befindet sich in ihren Außenbeziehungen
zweifellos in einem grundsätzlichen Dilemma, das
die neue Zentralasien-Strategie deutlich aufzeigt:
Heute werden die meisten Staaten der Welt immer
noch von diktatorischen bzw. halbdiktatorischen
Regimes beherrscht. Andererseits ist die EU in ei-
ner globalisierten Welt zunehmend von ausländi-
schen Partnern abhängig. Was bleibt, ist ein oftmals
schwieriger Balanceakt zwischen dem legitimen In-
teresse an Rohstoffen und Absatzmärkten auf der
einen und dem Bekenntnis und der Förderung de-
mokratischer Werte auf der anderen Seite. In der
Zentralasien-Strategie hat die Kommission den
Menschenrechten … einen relativ breiten Platz ein-
geräumt. Jetzt bleibt abzuwarten, wie dieser mit ei-
nem konstruktiven politischen Dialog ausgefüllt
wird.

Dabei wünsche ich der Kommission und auch der
Bundesregierung viel Erfolg.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613927000

Die Rede des Kollegen Michael Leutert für die Frak-

tion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1)

1) Anlage 5






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte von diesem Platz aus zunächst Marcus
Bensmann, den wir alle als sehr unbeugsamen Bericht-
erstatter aus der Region kennen, nach dem brutalen
Überfall unsere guten Genesungswünsche überbringen.
Wir hoffen, dass die Hintergründe dieses Überfalls auf-
geklärt werden können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir diskutieren heute zum ersten Mal über die EU-
Zentralasienstrategie. Dass die Anträge zum Teil etwas
veraltet sind, hat etwas damit zu tun, dass die Koalition
in diesen Punkten nicht wirklich sehr diskussionsfreudig
ist. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, dass man
noch nicht sehr weit über die Projekte und Vorhaben hi-
naus ist, die in dem Papier beschrieben sind. Der Staats-
minister hat eben gesagt, dass man viele Ideen im Kopf
hat. Das bezeichnet das Dilemma: Das Umsetzen vom
Kopf in die Hände, also in die Tat, lässt doch noch sehr
zu wünschen übrig. Schon im Frühjahr soll eine erste
Überprüfung stattfinden. Insofern wird es langsam Zeit,
darüber zu sprechen, was nun konkret passieren soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja, wir haben im Bereich der Energie eigene Interes-
sen an dieser Region, aber eben nicht nur, weil wir mit
Ressourcen aus dieser ressourcenreichen Region ver-
sorgt werden wollen. Wir wollen auch, dass diese
Region nicht all die Fehler wiederholt, die wir als Indus-
trienation mit der klima- und ökologieschädigenden Ver-
wendung von Ressourcen begangen haben.

Insofern gibt es ein beidseitiges Interesse. An uns be-
steht der Wunsch, dass wir etwas von dem vermitteln,
was wir in den letzten Jahren in Bezug auf die Nachhal-
tigkeit und hinsichtlich vernünftiger Grundsätze für
nachhaltiges Wirtschaften im Bereich der Ressourcen-
nutzung gelernt haben. Das liegt auch in unserem eige-
nen Interesse, weil wir alle wissen, dass wir der Klima-
katastrophe nur gemeinsam mit den zentralasiatischen
Ländern begegnen können. Wir sollten im Interesse die-
ser Region mit dem, was wir anzubieten haben, in den
Wettlauf mit der Shanghai Corporation und den Angebo-
ten Russlands und Chinas, die bei angepassten und nach-
haltigen Ansätzen nicht so weit sind, eintreten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Das Gleiche gilt für den Wasserbereich. Jeder weiß,
dass Wasser das zentrale Problem dieser Region sein
wird. Der Aralsee ist faktisch schon tot. Das ist ein Me-
netekel dafür, was diese Region erwartet, wenn es nicht
gelingt, zu einem klugen und gemeinsamen Wasserma-
nagement zu kommen. Statt des Baus riesiger und zer-
störerischer Staudämme sind nachhaltiges und angepass-
tes Denken sowie entsprechende Technologien und
Pläne gefragt. Wir sollten auch hier Angebote machen
und nicht nur als mögliche Nutznießer im eigenen Inte-
resse agieren.

Zu den Menschenrechten: Die schwierige Auseinan-
dersetzung, die wir führen und die wir alle kennen, wird
nicht zu gewinnen sein, wenn wir nur auf die ethische
Verpflichtung verweisen. Wir müssen vielmehr in der
Auseinandersetzung belegen, dass offene Gesellschaf-
ten, Demokratie, Redefreiheit und Medienfreiheit
Grundlagen für die Prosperität von Gesellschaften sind.
Die zentralasiatischen Staaten werden ihre eigenen
Kräfte nicht freisetzen können, werden die Korruption
nicht bekämpfen können, werden keine neugierigen jun-
gen Menschen und keine jungen Eliten hervorbringen
können, wenn sie ihrer Bevölkerung keine Freiheit ge-
ben. Das ist die Botschaft, die wir zu übermitteln haben.
Es liegt auch im Interesse dieser Gesellschaften, den
Weg von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Freiheit und
Wahrung der Menschenrechte zu gehen; denn nur so
können diese Länder nach der langen und schweren
Sowjetzeit ihre eigenen Fähigkeiten und Potenziale ent-
wickeln. Dazu muss diese Region, die einst kulturell so
reich war – das können wir noch heute spüren – und die
gerade wegen ihrer Geschichte mit viel Respekt von uns
betrachtet wird, wieder an demokratisches und freiheitli-
ches Denken anknüpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, dass wir die dafür notwendige Auseinan-
dersetzung – obwohl sie manchmal sehr direkt ist – in
gegenseitigem Respekt führen werden.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613927100

Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1613927200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1613927300

Die brisante Situation in Zentralasien wurde lange – ich
meine: zu lange – von der EU kaum wahrgenommen.
Erst Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft ge-
nutzt, eine EU-Zentralasienstrategie entworfen und da-
mit die Chance begründet, dem Druck von China, Russ-
land und anderen etwas entgegenzusetzen und die
Region nach Europa zu öffnen.

Die Länder Zentralasiens befinden sich seit dem Zu-
sammenbruch der Sowjetunion in einer schwierigen
Transformationsphase. Sie sind sich untereinander zum
Teil spinnefeind. Korruption, Willkür und Gewalt be-
stimmen in weiten Teilen der Region das tägliche Leben.
Das Massaker von Andischan im Mai 2005 und der feh-
lende Wille der usbekischen Regierung, eine lückenlose
Aufklärung zu ermöglichen, sind nur ein Teil im Puzzle
der Probleme. Die ungleiche Verteilung der Energiere-
serven und insbesondere der Wasserreserven ist zusätzli-






(A) (C)



(B) (D)


Angelika Graf (Rosenheim)

cher Sprengstoff für die Zukunft. Hinzu kommt, dass ein
Großteil der Bevölkerung Zentralasiens jünger als
25 Jahre ist und die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist.

Ich bin der festen Überzeugung, dass nur der Aufbau
rechtsstaatlicher Strukturen, Investitionen in Bildung
und Ausbildung der jungen Leute und die Berücksichti-
gung der Umweltbelange auf Dauer zur Stabilisierung
der Region beitragen werden. Deshalb begrüße ich die
während der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands er-
folgte Aufnahme eines institutionalisierten Menschen-
rechtsdialoges sehr. Am 19. Mai 2008 wird die nächste
Sitzung stattfinden.

Sehr begrüßenswert ist auch, dass Kirgisistan im
Sommer 2007 und Usbekistan zum 1. Januar 2008 nach
einem Moratorium die Todesstrafe abgeschafft haben.
Aber es liegt zweifellos noch viel Arbeit vor den Akteu-
ren. Herr Haibach hat schon deutlich beschrieben, was
bezüglich der Sanktionen notwendig ist. Ich kann ihm da
nur zustimmen.

Die verstärkte Zusammenarbeit der EU mit den Län-
dern Zentralasiens gibt aber auch Hoffnung für eine ge-
meinsame friedliche Entwicklung in der gesamten Re-
gion. Das ist gut für jeden, der sich wirtschaftlich in
Zentralasien engagieren möchte. Auch wenn man rein
ökonomischen Rationalitäten den Vorrang gibt, so ver-
steht es sich doch von selbst: Der zuverlässigste Koope-
rationspartner ist der, der sich an den Prinzipien der
Rechtsstaatlichkeit orientiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der kreativere und innovativere Kooperationspartner ist
der, bei dem die Menschen geistige und räumliche Frei-
heit zur Entwicklung haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der erfolgreichere Kooperationspartner ist der, der sei-
nen Bürgern die Möglichkeit gibt, zu wählen, welches
Leben, auch in politischer Hinsicht, sie führen wollen.

Ich sage das hier mit so viel Bedacht und so viel
Herzblut, weil unser verehrter Wirtschaftsminister die
Region demnächst mit einer Delegation mit 80 Teilneh-
mern besuchen wird. Ich gehe fest davon aus, dass es da
im Sinne unserer Zentralasienstrategie nicht nur um die
Pipelines geht.


(Beifall des Abg. Christoph Strässer [SPD])


Der Menschenrechtsausschuss wird in Zentralasien
weiterhin zugegen sein. Wir werden diese Region im Fo-
kus behalten und dies auch durch weitere Besuche deut-
lich machen.

Was das Abstimmungsverhalten betrifft, hat Herr Hai-
bach schon das Nötige gesagt.


(Holger Haibach [CDU/CSU]: Wir teilen uns in der Großen Koalition die Themen!)


– So ist das.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613927400

Das Wort hat die Kollegin Hedi Wegener für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hedi Wegener (SPD):
Rede ID: ID1613927500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Da-

men! „Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“,
so lautet der Titel des Antrags. Der Antrag ist schon ein
bisschen älter; Sie haben es erwähnt. In der Zwischen-
zeit ist eine Menge getan worden. Herr Erler hat das sehr
dezidiert ausgeführt. Viele im Auswärtigen Amt und vor
allen Dingen Sie sind mit viel Herzblut dabei.


(Beifall bei der SPD)


Um die Strategie mit Leben zu füllen, habe auch ich
meinen Teil beigetragen. Ich habe die Botschaften der
zentralasiatischen Länder auf diese Debatte aufmerksam
gemacht. Ich freue mich sehr, dass Sie meiner Anregung
gefolgt sind und auf der Tribüne an dieser Debatte teil-
nehmen. Herzlich willkommen in diesem Hohen Haus!


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Debatte ist nämlich auch für Sie. Ich spreche Sie
in meiner weiteren Rede direkt an.

Nutzen Sie die Bereitschaft der Europäischen Union!
Nutzen Sie die Bereitschaft Deutschlands zu einer engen
Zusammenarbeit!

Ich weiß sehr wohl, dass Sie in Ihrer Unabhängigkeit
bisher ein unterschiedliches Tempo vorgelegt haben,
dass Sie das auch weiterhin tun und dass sich Ihre Län-
der sehr verschieden entwickeln, auch deshalb, weil die
Länder verschieden sind, weil sie ihre Eigenarten und
Besonderheiten behalten wollen und auf ihre Geschichte
Wert legen. Das sollen sie auch. Die Strategie berück-
sichtigt die Unterschiede zwischen den Einzelnen und
setzt gleichzeitig auf die Gemeinsamkeiten.

Sie wünschen sich starke bilaterale Beziehungen zur
EU, aber am liebsten eigentlich zu jedem einzelnen
Land, sehr gerne auch zu Deutschland. Das Modell Eu-
ropa imponiert Ihnen. Dennoch ist Ihnen das Einstehen
füreinander – der stärkeren Länder für die schwächeren,
der wohlhabenden für die weniger wohlhabenden – doch
noch ziemlich fremd und geht Ihnen ein bisschen zu
weit. Aber gemeinsam sind Sie stärker. Gemeinsam kön-
nen Sie mehr bewegen, und gemeinsam können Sie auch
mehr Probleme lösen, zum Beispiel die Probleme Was-
ser, Drogenhandel, Terrorismus, Umwelt und Korrup-
tion. Unsere Kollegen in den Parlamenten und Ihre Prä-
sidenten müssten eigentlich schlaflose Nächte haben ob
der Probleme, die Ihre Länder haben.

Sorgen habe ich auch, zum Beispiel hinsichtlich der
Logistik in Ihren Ländern: Wie komme ich eigentlich
von einem Staat in den anderen? Wie überwinde ich
Grenzprobleme? Wie kann ich als Unternehmerin die
großen Zollschwierigkeiten in Ihren Ländern überwin-
den? Zu nennen sind aber auch die Armut in Tadschikis-
tan, die kalten Winter in Kirgisistan, die Energieversor-






(A) (C)

Hedi Wegener

gungsprobleme, die mangelnde Pressefreiheit in
Usbekistan sowie – es wurde schon erwähnt – der bru-
tale Überfall auf einen deutschen Journalisten. Das alles
macht uns doch wirklich Sorgen.

Bei aller Kritik, die Sie von uns gehört haben, haben
Sie in Deutschland große Fans Ihrer Region. Es gibt
viele Deutschstämmige, die ein starkes Bindeglied zwi-
schen unseren Ländern sind. Das können Sie nutzen. Die
Rechtsstaatlichkeit ist das Wichtigste, was Sie in Ihren
Ländern erreichen müssen. Deshalb helfen wir Ihnen
gerne. Es sind noch viele Anstrengungen erforderlich.
Deutschland ist dazu bereit. Die Strategie wird Sie dabei
unterstützen.

Bolschoe Spasibo – recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613927600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Die EU-Zentralasienstrategie mit Leben füllen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5674, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4852 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-

empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der antragstellen-
den Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FDP-Frak-
tion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18 b: Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Menschenrechte in Zentralasien stärken“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5588, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/2976 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der
Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men der übrigen Fraktionen angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 25. Januar 2008,
11 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.